Kerstin Oschatz Intuition und fachliches Lernen
Kerstin Oschatz
Intuition und fachliches Lernen Zum Verhältnis von e...
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Kerstin Oschatz Intuition und fachliches Lernen
Kerstin Oschatz
Intuition und fachliches Lernen Zum Verhältnis von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-18082-3
Danksagung
Von Herzen bedanke ich mich bei meiner Doktormutter Prof. Dr. Rosemarie Mielke und meinem Doktorvater Prof. Dr. Ulrich Gebhard. Diese Doktorarbeit ist in der anregenden Atmosphäre ihrer Forschungsgruppe entstanden. Ihre immerwährende Unterstützung und kritische Auseinandersetzung mit meinen Gedanken war eine Bereicherung. Nicht zuletzt durch die Kombination ihrer beiden Perspektiven auf meine Forschung habe ich unschätzbar viel gelernt. Auch bei meinem Kollegen Dr. Arne Dittmer möchte ich mich für die vielen anregenden Gespräche und kritischen Diskussionen bedanken. Vor allem meiner Freundin und Kollegin Dr. Simone Abels danke ich von Herzen. Sie hat mir zu jeder Zeit zur Seite gestanden und mich in jeder Hinsicht unterstützt. Mein Dank gilt auch meinen „Versuchsleitern“ Joannis Stassinopoulus, Felix Bracht, Enrico Sampaio und Jenny Ullrich für ihre Mitarbeit und freundschaftliche Teilhabe an meiner Forschung. Bis zu diesem Buch war es zuweilen ein langer Weg und ich danke meinen Eltern für ihren fortwährenden Zuspruch und ihre Unterstützung in dieser Zeit. Mein besonderer Dank gilt meiner Freundin Nina Pahl, die ihren Sommer damit verbrachte, jedes Kapitel dieses Buches Korrektur zu lesen und nicht müde wurde, meine Zeilen zu glätten. Auch bei meinem Bruder Robert Oschatz bedanke ich mich herzlich für die liebevolle Unterstützung und Verköstigung in den letzten Wochen vor der Abgabe meiner Doktorarbeit. Mein aufrichtiger Dank gilt Karl Grant, der den Weg zu diesem Buch mit mir gegangen ist und immer an mich geglaubt hat. Lange Abschnitte dieses Buches sind in der Stille seines Hauses entstanden. Sein Verständnis und seine Ruhe waren eine große Quelle der Kraft.
5
Inhalt
Abbildungen .....................................................................................................13 Tabellen .............................................................................................................16 Einleitung ..........................................................................................................17 Problemhorizont .................................................................................................19 Ziel der Arbeit ....................................................................................................22 Gliederung der Arbeit ........................................................................................23 1
Epistemische Überzeugungen – Implizite Vorstellungen zu Wissen und seiner Genese ...................................................................................25
1.1
Die Forschung zur persönlichen Epistemologie...................................28
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4
Konzeptionen epistemischer Überzeugungen ......................................29 Was zählt zu den epistemische Überzeugungen? – Zum Status von Lernüberzeugungen und Persönlichkeitsmerkmalen ...........................30 Persönlichkeitsmerkmale und epistemische Überzeugungen...............32 Das epistemische Motiv .......................................................................33
1.2
Implizite persönliche Epistemologie und Metakognition ....................34
1.2.1 1.2.2
Der stille oder intuitive Charakter epistemischer Überzeugungen .......34 Epistemische Überzeugungen als Teil einer impliziten metakognitiven Theorie .......................................................................36
1.3
Wirkungen epistemischer Überzeugungen in Lernprozessen ..............40
1.3.1 1.3.2
Auswirkungen auf Verstehen und Lernleistung ...................................40 Einfluss auf Prozesse der Informationsverarbeitung ............................41
7
1.4
Determinanten persönlicher Epistemologie – Reifung und soziale Konstruktion ........................................................................................43
1.5
Determinanten persönlicher Epistemologie – Die Bedeutung des Kontextes .............................................................................................47
1.5.1 1.5.2 1.5.3
Kontextabhängige Muster epistemischer Vorstellungen......................48 Soziale Unterstützung als Kontextfaktor .............................................52 Domänenspezifische epistemische Überzeugungen.............................55
1.6
Persönliche Epistemologie und Nature of Science – Epistemische Überzeugungen zu Naturwissenschaften .............................................58
1.6.1 1.6.2
Die Bedeutung epistemischer Überzeugungen für die naturwissenschaftliche Bildung ...........................................................59 Die Forschung zu Nature of Science....................................................61
1.7
Resümee ...............................................................................................67
2
Alltagsphantasien – Implizite Vorstellungen zum Menschen und der Welt und ihre Bedeutung beim Lernen ..........................................70
2.1
Alltagsvorstellungen und Alltagsphantasien – Eine Verortung im Kontext der Schülervorstellungen ........................................................71
2.2
Die Dimensionen des Konzeptes Alltagsphantasien ............................73
2.3
Welt- und Menschenbilder – Die Kerne der Alltagsphantasien ...........75
2.3.1 2.3.2 2.3.3
Alltagsphantasien zur Gentechnologie.................................................77 Alltagsphantasien zum Experimentieren..............................................81 Der narrative Charakter der Alltagsphantasien ....................................83
2.4
Implizite Vorstellungen in Verarbeitungsprozessen ............................84
2.4.1 2.4.2
Zwei Prozesse des Denkens .................................................................84 Automatische Verarbeitung im kognitiven Netzwerk ..........................86
2.5
Die Integration der inhaltlichen und prozeduralen Dimension ............89
2.6
Zur Wirkung von Alltagsphantasien ....................................................90
2.6.1
Alltagsphantasien als subjektive und heuristische Zugänge zum Lerngegenstand ....................................................................................92 Effekte der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien ......................93
2.6.2 8
2.7
Alltagsphantasien als Spuren einer impliziten Theorie der Realität ....95
2.7.1 2.7.2
Sinnverlangen beim Lernen .................................................................98 Didaktische Implikationen .................................................................100
3
Komponenten einer kulturell bedingten impliziten Theorie der Realität – Eine systematische Verortung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien ..............................................102
3.1
Zusammenhänge zwischen epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien ...............................................................................104
3.2
Implizite kulturell erworbene Vorstellungen .....................................105
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4
Die kulturelle Bedingtheit von epistemischen Überzeugungen .........106 Die kulturelle Bedingtheit von Alltagsphantasien .............................108 Kulturelles Wissens als komplexer Konsens .....................................110 Implicit culture und tacit communication – Unbewusste Prozesse in der Bildung kulturellen Wissen ..................111
3.3
Implizites Wissen und seine Bedeutung für die Enkulturation ..........113
3.3.1 3.3.2 3.3.3
Was ist implizites Wissen? ................................................................114 Zentrale Befunde zum impliziten Wissen ..........................................115 Was ist implizit an implizitem Wissen? .............................................117
3.4
Die Erweiterung der impliziten Theorie der Realität .........................120
3.4.1 3.4.2
Die implizite Theorie der Realität als subjektive Theorie..................120 Epistemische Überzeugungen als Teil der impliziten Theorie der Realität ...............................................................................................122 Wie beeinflusst die implizite Theorie der Realität die individuelle Erfahrung? – Eine Übertragung von Erkenntnissen aus der Selbstkonzeptforschung .....................................................................125
3.4.3
3.5
Inhaltliche Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien ........................................................................131
3.5.1 3.5.2
Alltagsphantasien – Transportvehikel epistemischer Überzeugungen ..................................................................................132 Anhand von Alltagsphantasien epistemische Prozesse aufzeigen......140
3.6
Lernen als Verarbeitungsprozess .......................................................143
9
3.6.1 3.6.2 3.6.3 3.6.4 3.6.5 4
Die Theorie der Laienepistemologie ..................................................144 Die Fähigkeit zur Auseinandersetzung – Wirkpunkt der Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess ......................................145 Die Motivation zur Auseinandersetzung – Wirkpunkt der epistemischen Überzeugungen im Verarbeitungsprozess ..................147 Alltagsphantasien als Heuristiken im Lernprozess ............................150 Effekte der Reflexion von Alltagsphantasien auf die persönliche Epistemologie ....................................................................................153 Fragestellung .........................................................................................157
4.1
Untersuchungshypothesen – Studie I .................................................158
4.2
Untersuchungshypothesen – Studie II................................................160
5
Studie I...................................................................................................161
5.1
Methode der Studie I ..........................................................................162
5.1.1 5.1.2
Voruntersuchungen ............................................................................162 Experimentelle Hauptuntersuchung ...................................................167
5.2
Ergebnisse der Studie I ......................................................................175
5.2.1 5.2.2
Vergleichbarkeit der Gruppen ............................................................175 Unterschiede zwischen den Gruppen .................................................176
5.3
Interpretation – Studie I .....................................................................192
5.3.1 5.3.2
Wen spricht die Reflexion von Alltagsphantasien an?.......................193 Welche Effekte hat die Reflexion der Alltagsphantasien im Lernprozess? ......................................................................................194 Erklärung des Irritationseffektes ........................................................195
5.3.3 6
Studie II .................................................................................................197
6.1
Methode – Studie II ...........................................................................198
6.1.1 6.1.2
Voruntersuchungen ............................................................................200 Experimentelle Hauptuntersuchung ...................................................200
6.2
Ergebnisse der Studie II .....................................................................208
10
6.2.1 6.2.2
Vergleichbarkeit der Gruppen ............................................................208 Unterschiede zwischen den Gruppen .................................................209
6.3
Interpretation Studie II .......................................................................227
6.3.1 6.3.2
Wen spricht die Reflexion von Alltagsphantasien an?.......................228 Welchen Effekt hat die Reflexion der Alltagsphantasien auf die Aktivierung der persönlichen Epistemologie? ...................................229 Welche Auswirkung hat die Reflexion der Alltagsphantasien auf den Verarbeitungsprozess? ................................................................230
6.3.3 7
Auf dem Wege zu einer impliziten Theorie der Realität – Diskussion der Ergebnisse ...................................................................233
7.1
Epistemische Überzeugungen beeinflussen die Reflexion der Alltagsphantasien ...............................................................................235
7.1.1 7.1.2
Ergebnisse zur Moderatorfunktion epistemischer Überzeugungen ....236 Der Irritationseffekt ...........................................................................237
7.2
Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich auf die Aktivierung epistemischer Überzeugungen aus .....................................................238
7.2.1 7.2.2
Die Ergebnisse zur Veränderung der Aktivierung epistemischer Überzeugungen ..................................................................................239 Nachdenklichkeit als Folge der Reflexion von Alltagsphantasien .....241
7.3
Die Wirkung des epistemischen Motivs ............................................243
7.3.1 7.3.2
Ergebnisse in Abhängigkeit vom epistemischen Motiv .....................244 Möglichkeiten des Einwirkens auf die epistemische Motivation .......245
7.4
Die Bedeutung des sozialen Austausches ..........................................247
7.4.1 7.4.2 7.4.3
Sozialer Austausch stimuliert mannigfache Perspektiven..................247 Sozialer Austausch entlastet bei Komplexität ....................................248 Soziale Interaktion als einzige Ursache der Effekte? .........................249
7.5
Didaktische Implikationen .................................................................249
7.5.1 7.5.2 7.5.3 7.5.4
Die Förderung von Nachdenklichkeit ................................................250 Nachdenklichkeit durch Irritation ......................................................251 Epistemisch anregende Lernkontexte schaffen ..................................253 Lernen über Denkprozesse .................................................................254 11
7.6
Kritik am forschungsmethodischen Vorgehen ...................................255
7.6.1 7.6.2 7.6.3
Ökologische Validität ........................................................................255 Problem der Erfassung impliziter Vorstellungen ...............................258 Problem der Erfassung epistemischer Überzeugungen ......................260
7.7
Implikationen für die Forschung – Neue Perspektiven ......................261
7.7.1 7.7.2
Implikationen für die Forschung zu epistemischen Überzeugungen 262 Implikationen für die Forschung zu Alltagsphantasien......................266
7.8
Forschungsausblick ............................................................................270
Literatur..........................................................................................................275 Über das OnlinePlus Angebot des VS Verlags können Sie den Anhang einsehen: www.vs-verlag.de/buch/978-3-531-18082-3.
12
Abbildungen
Abbildung 5.1: Abbildung 5.2: Abbildung 5.3: Abbildung 5.4: Abbildung 5.5: Abbildung 5.6: Abbildung 5.7:
Abbildung 5.8: Abbildung 5.9: Abbildung 5.10:
Abbildung 5.11:
Abbildung 5.12:
Versuchplan der Studie I ............................................167 Beispielitem der Subskala Experten ...........................169 Beispielitem der Subskala Wahrheit ...........................169 Beispielitem der Subskala Vielfalt .............................170 Beispielitem der Skala Need for Cognition ....................................................................170 Das Circumplex-Modell affektiver Zustände und die verwendeten Operationalisierungen .................................................172 Darstellung des Interaktionseffektes, Mittelwerte der Transferaufgabe getrennt nach Versuchsgruppe, Kontrollgruppe und Need for Cognition .....................178 Lineare Regressionsgrade der Versuchsgruppe ..........................................................179 Lineare Regressionsgrade der Kontrollgruppe ...........................................................180 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit epistemischen Überzeugungen (Skala Experten) für das Abschneiden in der Transferaufgabe ....................181 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit epistemischen Überzeugungen (Skala Experten) für das Abschneiden in den MultipleChoice-Aufgaben ........................................................182 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit epistemischen
13
Abbildung 5.13:
Abbildung 5.14:
Abbildung 5.15: Abbildung 5.16: Abbildung 5.17:
Abbildung 6.1: Abbildung 6.2: Abbildung 6.3:
Abbildung 6.4:
Abbildung 6.5:
14
Überzeugungen (Skala Vielfalt) für das Abschneiden in der Transferaufgabe ..........................185 Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in der Transferaufgabe ..........................................................186 Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in den Multiple-Choice-Aufgaben .........................................187 Lineare Regressionsgrade der Kontrollgruppe ...........................................................188 Lineare Regressionsgrade der Versuchsgruppe ..........................................................189 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in der Transferaufgabe ..........................................................190 Versuchplan der Studie II ...........................................201 Beispiel für eine Meinungskontroverse mit drei Antwort-Items des FREE (nach Krettenauer 2005) .......................................................204 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den W-Wert ........................................214 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den D-Wert .........................................215 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem
Abbildung 6.6:
Abbildung 6.7:
Abbildung 6.8: Abbildung 6.9:
Abbildung 6.10:
epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den W-Wert der naturwiss. Skala ..........................................................218 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den standardisierten DWert der naturwiss. Skala ...........................................219 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den D-Wert der naturwiss. Skala ..........................................................220 Darstellung des Interaktionseffektes, Mittelwerte der Transferaufgabe getrennt nach Versuchsgruppe und NfC .....................223 Darstellung des Interaktionseffektes, Mittelwerte der Transferaufgabe getrennt nach Versuchsgruppe 2, Kontrollgruppe und Need for Cognition .....................225 Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in der Transferaufgabe ..........................................................227
15
Tabellen
Tabelle 3.1: Tabelle 5.1: Tabelle 5.2: Tabelle 5.3: Tabelle 5.4:
Tabelle 6.1: Tabelle 6.2: Tabelle 6.3: Tabelle 6.4: Tabelle 6.5: Tabelle 6.6: Tabelle 6.7:
16
Zusammenhänge von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen ............................133 Alltagsphantasien im Paarvergleich............................163 Skalenwerte der Alltagsphantasien von Studierenden und SchülerInnen ..................................164 Reihenfolge der Fragebögen in der Studie I .......................................................................175 Korrelationen zwischen den Skalen der epistemischen Überzeugungen (Experten, Vielfalt, Wahrheit) und dem epistemischen Motiv (NfC) ........................................192 Ablauf des 1. Interventionszeitpunktes .......................207 Ablauf des 2. Interventionszeitpunktes .......................207 Ablauf des Messzeitpunktes .......................................208 Interne Konsistenzen der einzelnen FREE-Subskalen.........................................................211 Mittelwert der FREE-Subskala Naturwiss. Items in Abhängigkeit vom Need for Cognition .....................................................216 Mittelwerte (Standardabweichungen in Klammern) der Aufgaben getrennt nach Versuchsgruppe ..........................................................221 Mittelwert der Transferaufgabe in Abhängigkeit vom Need for Cognition ......................223
Einleitung
“Perhaps the most compelling aspect of intuition (…) is that the individual has a sense of what is right or wrong, a sense of what is the appropriate or inappropriate response to make in a given set of circumstances, but is largely ignorant of the reasons for that mental state. (…) To have an intuitive sense of what is right and proper, to have a vague feeling of the goal of an extended process of thought, to „get the point“without really being able to verbalize what it is that one has gotten, is to have gone through an implicit learning experience and have built up the requisite representative knowledge base to allow for such judgment” (Reber 1989, 232f.).
Intuitionen sind bedeutsame Bestandteile unseres täglichen Denken und Handelns. Ihre Quellen bleiben uns jedoch meistens verborgen. Reber (1989) führt das Phänomen der Intuition auf implizit vorliegendes und wirkendes Wissens zurück. Solches implizites Wissen und seine Bedeutung für menschliches Denken wird seit den letzten Jahrzehnten stark beforscht und steht im Zentrum vieler moderner psychologischer Ansätze (Schneider & Shiffrin 1977, Reber 1989, Epstein 1994, Smith & Decoster 2000, Strack & Deutsch 2004). Die Theorien und Befunde öffnen den Blick für die Bedeutung automatischer und unbewusster Prozesse in der menschlichen Kognition. Diese Forschungen gehen soweit, dass Bargh von einer Demystifizierung der unbewussten Kontrolle höherer mentaler Prozesse spricht (Bargh 2005, 41). Sie bieten Erklärungen, warum Vorurteile sich schwer abbauen lassen (Farnham et al. 1999), wie Heuristiken und Intuitionen menschliches Urteilen beeinflussen (Kahneman & Tversky 1973) oder weshalb die Enkulturation und Sozialisation eine nachhaltige Bedeutung für die psychische Konstitution eines Menschen haben (Epstein 1994, Haidt 2001, Hofstede 1993). Kultur und Sozialisation sind Quellen festgelegter und immer wiederkehrender Interpretationsroutinen im Umgang mit der Umwelt. Die mit ihnen vermittelten Blickwinkel auf den Menschen und die Welt werden von heranwachsenden Individuen soweit verinnerlicht, dass sie automatisiert werden (Fiske 2000). Das bedeutet, sie können unkontrolliert und außerhalb bewusster Kontrolle aktiviert werden und lassen sich als implizites Wissen verstehen. Treten Ergebnisse dieser automatisierten Denk-
17 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
prozesse ins Bewusstsein, können sie als Intuition oder „Bauchgefühl“ erlebt werden. Auf diese Weise erfolgt die Enkulturation eines Menschen. Aus kulturtheoretischer Perspektive wird angenommen, dass sich das kulturelle Verständnis vor allem in impliziten Deutungsmustern und Perspektiven äußert (LeVine 1984, Haidt 2001). Automatische und unbewusste Erfahrungskomponenten begleiten zielorientierte und bewusste Denkprozesse permanent (Perrig et al. 1993, Hassin 2005). Neue Erfahrungen werden ständig automatisch vor dem Hintergrund verinnerlichter Welterklärungsmuster abgeglichen (Epstein 1994). Dies betrifft auch Lernprozesse. Im schulischen Lernen wird von den psychologischen Erkenntnissen zu implizitem Wissen und der Bedeutung von Intuitionen jedoch wenig Gebrauch gemacht. Lernprozesse werden eher über das reflektierte Nachdenken angestoßen und abgewickelt. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es deshalb, die Bedeutung impliziter, kulturell bedingter Vorstellungen in Lernprozessen zu untersuchen. Zentrale Annahme ist, dass verinnerlichte kulturbedingte Perspektiven auf den Menschen und die Welt Funktionen der Orientierung und Bewertung in der Auseinandersetzung mit Lerngegenständen haben. Dies könnte Potential zur Unterstützung von Lernen bergen. Kernstück der vorliegenden Arbeit bildet die Konzeption eines adaptiven Systems von Welterklärungsmustern, einer impliziten Theorie der Realität. Grundannahme ist, dass Menschen automatisch ein subjektives Modell zum Aufbau und zur Ordnung der Welt generieren, das der Orientierung des Individuums dient. Diese implizite Theorie der Realität besteht aus den Perspektiven auf den Menschen und die Welt, die Individuen im Laufe ihrer Sozialisation und Enkulturation erwerben und verinnerlichen (Epstein 1994). Vor ihrem Hintergrund werden alle Erfahrungen eingeordnet und gedeutet. Die Entwicklung dieser impliziten Theorie der Realität beruht auf der Integration zweier Konzepte zu impliziten, kulturell bedingten Vorstellungen aus der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung und der psychologischen Lernforschung. (1) Epistemische Überzeugungen bezeichnen implizite Vorstellungen und Überzeugungen zur Genese und Konstitution von Wissen (Jehng et al. 1993). Sie sind für die pädagogische Praxis relevant, da sie als sozial geteilte Intuitionen zu Wissen und Wissenserwerb Einfluss auf die Verarbeitung von Informationen nehmen und damit das Lernen von Individuen beeinflussen (Schommer 1993, Klaczynyski 2000, Kardash & Scholes 1996). (2) Mit dem Konzept der Alltagsphantasien werden implizite, sozial erworbene Vorstellungen gefasst, die Aspekte des Welt- und Menschenbildes 18
eines Individuums transportieren (Gebhard 2007, 2003). In Form von Intuitionen, affektiven Reaktionen oder spontanen Assoziationen werden Alltagsphantasien und damit auch Welt- und Menschenbilder beim Lernen explizit. Diese subjektiven Resonanzen und ihre Bedeutung für Lernen stehen im Fokus des Forschungsprogramms und didaktischen Konzeptes Alltagsphantasien. Im Rahmen der Forschungen zu Nature of Science und Alltagsvorstellungen von SchülerInnen und Lehrenden werden beide Konzepte in den Didaktiken der Naturwissenschaft beforscht (zu Nature of Science vgl. McComas et al. 1998, Driver et al. 1996, Lederman et al. 2002; zu Alltagsvorstellungen vgl. Gebhard 2009, Born 2007). Die vorliegende Arbeit liegt somit an der Schnittstelle von pädagogischer Psychologie und naturwissenschaftsdidaktischer Forschung. Problemhorizont Mit der Betrachtung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien als implizite, kulturell bedingte Vorstellungen und der Konzeption einer impliziten Theorie der Realität wird in dieser Arbeit einerseits auf Anforderungen an den naturwissenschaftlichen Unterricht in Deutschland reagiert; zum anderen wird hierdurch auf Forderungen der Forschung zu epistemischen Überzeugungen eingegangen, die eine stärkere Vernetzung und Einbettung epistemischer Überzeugungen in Modelle mit anderen mentalen Komponenten vermissen. Epistemische Überzeugungen haben eine zentrale Rolle im Bildungsauftrag naturwissenschaftlichen Unterrichtes: Reflektierte Vorstellungen zur Genese und Konstitution von naturwissenschaftlichem Wissen zu entwickeln, bildet die Grundlage für eine angemessene Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Themen (Höttecke 2001). Ein Ziel naturwissenschaftlicher Grundbildung1 besteht darin, Lernenden neben der Kenntnis naturwissenschaftlichen Wissens und Einsicht in ihre Methoden vor allem Einsicht in das Wesen der Naturwis1 Naturwissenschaftliche Grundbildung ist als der Umfang definiert, in dem eine Person naturwissenschaftliches Wissen besitzt und dieses Wissen anwendet, um Fragestellungen zu identifizieren, neue Kenntnisse zu erwerben, naturwissenschaftliche Phänomene zu erklären und aus Beweisen Schlussfolgerungen in Bezug auf naturwissenschaftliche Sachverhalte zu ziehen; in dem eine Person die charakteristischen Eigenschaften der Naturwissenschaften als eine Form menschlichen Wissens und Forschens versteht; erkennt, wie Naturwissenschaften und Technologie unsere materielle, intellektuelle und kulturelle Umgebung prägen und sich mit naturwissenschaftlichen Themen und Ideen als reflektierender Bürger auseinandersetzt (OECD 2007).
19
senschaften und Reflexionsvermögen im Umgang mit Naturwissenschaft zu vermitteln (OECD 2007). Menschen sind zu allen Zeiten in ihrem privaten wie professionellen Leben – in ihrer Verantwortung etwa als Eltern, Lehrende oder Bürger – gefordert, Informationen aufzunehmen, zu bewerten und zu integrieren. In jeder dieser Situationen beeinflussen epistemische Überzeugungen den Umgang mit Wissen. Die Auseinandersetzung und Beurteilung naturwissenschaftlicher Informationen zu zentralen Themen des Lebens nimmt dabei stetig zu. In diesem Zusammenhang sind Schlagworte wie Stammzellforschung, Fortpflanzungstechnologien, künstliches Koma, Ernährung oder Mediennutzung zu nennen. Um die Entwicklung epistemischer Überzeugungen zu fördern, bedarf es Kenntnisse dazu, wie epistemische Überzeugungen in Lernprozesse eingehen und wirken, wie sie sich entwickeln und mit welchen anderen mentalen Komponenten sie in Verbindung stehen (vgl. Pintrich & Hofer 1997). Da epistemische Überzeugungen nicht in einem Vakuum wirken, sondern die Gedanken, Aktionen und Motivationen eines Lernenden das Zusammenlaufen multipler Systeme repräsentieren, bedarf es nach Schommer-Aikins (2004) eines Rahmenmodells für epistemische Überzeugungen, das viele andere Aspekte von Kognition und Affekt einbezieht. „The need for an embedded systemic model of epistemological beliefs, that is, a model that includes many other aspects of cognition and affect, comes from the assumption that epistemological2 beliefs do not function in a vacuum. Indeed, at any given moment, learners’ thoughts, actions, or motivations represent the convergence of multiple systems” (Schommer-Aikins 2004, 23).
In der vorliegenden Arbeit wird durch die implizite Theorie der Realität ein solches Rahmenmodell konzeptionalisiert. Moderner naturwissenschaftlicher Unterricht hat das Ziel, junge Menschen auf ein Leben im Kontext von Wissenschaft und Technologie vorzubereiten (European Commission 2007, Bybee 1997). Lernende können Naturwissenschaft als Teil ihrer Wirklichkeit erleben und beim Lernen den Anschluss der 2
Die Begriffe epistemologische Überzeugungen und epistemische Überzeugungen werden in der Literatur nahezu synonym gebraucht. Persönliche Epistemologie ist eine persönliche Theorie über Wissen. Epistemische Überzeugungen sind Überzeugungen über Wissen. Der Begriff epistemologische Überzeugung meint das Gleiche, würde sich der Ableitung des Wortes nach jedoch auf Überzeugungen zum Metawissen über Epistemologie beziehen. Im Folgenden wird in Anlehnung an Hofer (2004) die Bezeichnung epistemische Überzeugungen verwendet.
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naturwissenschaftlichen Thematiken an ihre subjektive Lebenswirklichkeit herstellen. PISA 2006 zeigte zwar eine positive Entwicklung der naturwissenschaftlichen Kompetenz deutscher SchülerInnen, viele der kompetenten Jugendlichen haben allerdings wenig Interesse an den Naturwissenschaften. Sie zeigen eine relativ geringe Motivation, einen naturwissenschaftsbezogenen Beruf zu ergreifen. Deutschland belegt hier unter den OECD-Staaten den fünftletzten Rang (Prenzel et al. 2007, 122, 143). Die genauen Analysen zeigen, dass die Vorstellung später in einem naturwissenschaftsbezogenen Beruf tätig zu sein, daran gekoppelt ist, ob Jugendliche das Gelernte als relevant und nützlich ansehen (Schreiner & Sjøberg 2007). Stärkeres Interesse zeigen die Lernenden, wenn im Unterricht mehr Anwendungsbezüge zur Lebenswelt hergestellt werden (Prenzel et al. 2007). Hiermit wird ein zentrales Problem naturwissenschaftlichen Unterrichtes berührt. In zahlreichen Studien zum Interesse an Biologieunterricht wurde bereits gezeigt, dass das Interesse an Naturwissenschaften im Verlauf der Schulzeit kontinuierlich zurückgeht (Kattmann 2000, Vogt et al. 2000, Upmeier zu Belzen & Vogt 2001). Um im Unterricht persönlichkeitswirksame Bildungsprozesse zu ermöglichen, müssen sich Lernende nach Combe & Gebhard (2009, 550) in ihrer Auseinandersetzung in eine sich fortentwickelnde Wechselwirkung mit dem Lerngegenstand (als Objekt der Erfahrung) begeben, die einen Wandel der Beziehung zum Gegenstand zur Folge hat. Lerngegenstände müssen dabei als sinnvoll interpretiert werden können. Naturwissenschaften für Lernende persönlich bedeutsam zu machen, rückt mit den jüngsten Ergebnissen von PISA 2006 abermals in den Fokus der Bildungsbestrebungen. Der didaktische Ansatz Alltagsphantasien zielt auf ein vertiefendes Verständnis der individuellen Aneignungs- und Bewertungsprozesse in der Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten. Die zentrale These des Ansatzes ist, dass durch die explizite Reflexion der eigenen Alltagsphantasien Lernprozesse ermöglicht werden, die von Lernenden als subjektiv bedeutsam empfunden werden (Gebhard 2003b, 51). Durch die Integration der Alltagsphantasien in eine implizite Theorie der Realität kann diese Bedeutungskonstituierung verständlich gemacht werden: Die Konstruktion einer subjektiven „Welterklärungstheorie“ wird als menschliches Grundbestreben verstanden. Menschen bedürfen ihrer impliziten Theorie der Realität, um sich an ihre Umwelt zu adaptieren. Da mit Alltagsphantasien Aspekte des Welt- und Menschenbildes einer Person transportiert werden, können sie als Zugang zu den Welterklärungsmustern des Individuums verstanden werden. Werden SchülerInnen darin unterstützt Lerngegenstände in ihre subjek21
tiven Welterklärungsmuster einzubetten, könnte Naturwissenschaft von Lernenden als persönlich bedeutsam erlebt werden. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Pluralisierung kultureller Hintergründe der Lernenden an deutschen Schulen3 eröffnet die Annahme einer impliziten Theorie der Realität neue Perspektiven auf die Bedeutung kulturellen Wissens. Nach Hennings & Mielke (2007, 240) können kulturelle Unterschiede zu unterschiedlichen Bedeutungskonstruktionen führen: „Bikulturell aufgewachsene Kinder bringen einen anderen Erfahrungshintergrund mit als (…) monokulturelle Kinder, wenn sie im Unterricht Bedeutung konstruieren“. Die Berücksichtigung individueller Perspektiven auf den Menschen und die Welt nimmt also mit zunehmender kultureller Diversität für den Umgang mit Lerngegenständen an Bedeutung zu. In Deutschland scheinen die Anforderungen an naturwissenschaftlichen Unterricht durch zunehmende kulturelle Diversität der Schülerschaft groß. Den Ergebnissen von PISA 2006 zufolge ist der mittlere Kompetenzunterschied in den Naturwissenschaften zwischen Jugendlichen ohne und solchen mit Migrationshintergrund in keinem anderen OECD-Mitgliedsstaat größer als in Deutschland (Prenzel et al. 2007, 28). Besonders Jugendliche, deren beide Elternteile im Ausland geboren wurden, weisen ein sehr niedriges naturwissenschaftliches Kompetenzniveau auf. In diesem Zusammenhang bekommt die Bedeutsamkeit kultureller Vorstellungen eine neue Brisanz. Da aus kulturtheoretischer Perspektive angenommen wird, dass sich das kulturelle Verständnis vor allem in impliziten Deutungsmustern und Perspektiven äußert (Fiske 2000, Haidt 2001), lohnt es sich, diese impliziten Interpretationsroutinen zu untersuchen. Ziel der Arbeit Vor diesem Hintergrund ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, der Bedeutung und Wirksamkeit impliziter, kulturell bestimmter Vorstellungen beim Lernen nachzugehen. Aufgrund der Annahme, dass epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien eingebettet in den übergeordneten Rahmen einer impliziten 3 Kulturelle Diversität ist ein Charakteristikum moderner Gesellschaften und ihrer Bildungsinstitutionen. Allein 4,4 Millionen Menschen wanderten in Jahr 2008 dauerhaft in einen der 30 Mitgliedstaaten der OECD ein (OECD 2010). In Deutschland hatten in der Gruppe der fünfzehnjährigen Schüler und Schülerinnen im Jahre 2006 etwa 20 Prozent mindestens ein Elternteil, das nicht in Deutschland geboren wurde (Prenzel et al. 2007).
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Theorie der Realität miteinander in Beziehung stehen, wird ihr Zusammenwirken beim Lernen in experimentellen Studien empirisch untersucht. Dies dient dazu, weitere Informationen darüber zu gewinnen, wie die implizite Theorie der Realität im Unterricht zur Unterstützung von Lernprozessen einbezogen werden kann. Insgesamt soll mit der vorliegenden Arbeit zu einem besseren Verständnis für die Wirksamkeit von impliziten kulturell bedingten Vorstellungen im Umgang mit naturwissenschaftlichen Inhalten beigetragen werden. Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen sind als die sichtbaren Spitzen einer impliziten Theorie der Realität zu verstehen, die wie der Fuß eines Eisbergs versteckt unter der Wasseroberfläche liegt. Lehrenden werden durch Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen Einblicke in die subjektiven Welterklärungsmuster von Lernenden gewährt. Welches Potential diese Einblicke zur Unterstützung von Lernen bieten, wird in dieser Arbeit theoretisch und empirisch untersucht. Gliederung der Arbeit Vor dem Hintergrund dieser Zielformulierung erfolgt im ersten Kapitel eine systematische Erarbeitung der zentralen Perspektive auf epistemische Überzeugungen als implizite, kontextabhängige und sozial erworbene Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb. Das didaktische Konzept und Forschungsprogramm Alltagsphantasien wird im zweiten Kapitel eingeführt. Dabei liegt der besondere Fokus auf der Funktion der Alltagsphantasien für Individuen. Beide Konzepte werden im dritten Kapitel systematisch miteinander in Beziehung gesetzt. Dabei werden kulturtheoretische und kognitionspsychologische Erkenntnisse integriert, um sowohl die kulturelle Bedingtheit als auch den impliziten Charakter von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien aufzuschlüsseln. Beide Konzepte werden in eine implizite Theorie der Realität eingebettet und in ihrer Funktion beim Lernen theoretisch betrachtet. Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen werden dabei unterschiedlichen Wirkdimensionen der impliziten Welterklärungsmuster im Lernprozess zugeordnet. Zudem werden die inhaltlichen Zusammenhänge von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen hermeneutisch analysiert. Zusätzlich wird der Frage nachgegangen, in welcher Weise epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien auf die Verarbeitung von Informationen im Lernprozess einwirken. Aus diesen Überlegungen heraus werden Hypothe-
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sen zu den Wechselwirkungen von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in Lernkontexten abgeleitet. Da epistemische Überzeugungen Einfluss auf die Art und Weise von Denkprozessen nehmen, ist es möglich, dass Lernende in Abhängigkeit ihrer epistemischen Überzeugungen unterschiedlich auf die Reflexion ihrer Alltagsphantasien reagieren. Andererseits könnte sich die Reflexion von Alltagsphantasien auf die Aktivierung epistemischer Überzeugungen auswirken. Zu der empirischen Erforschung dieser Wechselwirkungen wurden zwei laborexperimentelle Studien entwickelt und mit insgesamt 230 Studierenden durchgeführt. Die Darstellung der Studien sowie ihrer Ergebnisse erfolgt im fünften und sechsten Kapitel. Abschließend werden die Befunde im siebten Kapitel diskutiert und im Hinblick auf ihre Bedeutung für die Forschung und didaktischen Implikationen ausgeführt.
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1 Epistemische Überzeugungen – Implizite Vorstellungen zu Wissen und seiner Genese
Epistemische Überzeugen bezeichnen Vorstellungssysteme, die den Umgang mit Wissen bestimmen und damit das Denken beeinflussen: Wie ein Individuum Wissen begegnet, ob es einer Aussage traut, sie überdenkt, sie verwirft oder für logisch erklärt, beziehungsweise sie überhaupt als fragwürdig erkennt, oder welche Kriterien Personen nutzen um Wissen zu prüfen, hängt mit ihren epistemischen Vorstellungen zusammen. Die umfassende Auseinandersetzung, die Verarbeitung, Überprüfung und Bewertung von Wissen wird maßgeblich durch die Vorstellungen eines Individuums zu Wissen und seiner Genese beeinflusst. Epistemische Überzeugungen bezeichnen dabei Ideen zu der Wahrheit und Sicherheit von Wissen sowie zu den Quellen und Rechtfertigungen dieses Wissens, wie etwa die Überzeugung „Es ist möglich, die Wahrheit über fast alles herauszubekommen.“ (Gerber 2004, 81). Die Forschung zu epistemischen Überzeugungen lässt sich in drei parallele Linien unterteilen: Zum einen wurde untersucht, wie Individuen ihre Bildungserlebnisse interpretieren. Diese Forschung folgt vor allem Perry (1968), der bereits in den 1950er Jahren untersuchte, wie Studenten ihren Wissenserwerb verstehen und wie sich ihre epistemischen Überzeugungen verändern. Zum anderen besteht eine Forschungstradition zu der Frage, wie epistemische Überzeugungen Denken und Entscheidungsprozesse beeinflussen. Dabei untersuchten King & Kitchener (2004) den Einfluss epistemischer Überzeugungen auf „reflective judgments“ und die Fähigkeiten des Argumentierens. In einer weiteren Linie der Forschung werden epistemische Überzeugungen als ein System von mehr oder weniger unabhängigen Überzeugungen verstanden und ihre Einflüsse auf Verstehen und Lernen im Schul- oder Hochschulunterricht untersucht. Schommer (1990, 2004) entwickelte hierzu einen Fragebogen zur quantitativen Erfassung epistemischer Überzeugungen. Bisher wurden epistemische Überzeugungen in der Forschung vor allem im Hinblick auf ihren Einfluss auf Lernerfolg und Verständnis diskutiert. Damit verbunden erfolgt der Großteil der Forschung zur Struktur epistemischer Überzeugungen (Sind epistemische Überzeugungen domänenspezifisch oder domä25 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
nenübergreifend organisiert?) sowie auf einer inhaltlichen und normativen Ebene in Bezug auf den Grad ihrer Sophistizierung (Sind epistemische Überzeugungen in ihrer inhaltlichen Ausprägung reif oder unreif und welche Einflüsse hat dies auf Lernen und Verstehen?). Derzeit wird im Forschungsdiskurs die ungenügende Organisation und Vernetztheit der Forschung zur persönlichen Epistemologie bemängelt. Hofer & Pintrich (1997, 89) zufolge besteht wenig Übereinkunft über das Konstrukt; die Dimensionen, die es beinhaltet; und wie diese Überzeugungen mit anderen Konstrukten zu Kognition und Motivation verknüpft seien. Die bisher beforschten Aspekte sind zentral, dienen jedoch nicht dazu epistemische Überzeugungen als mentale Komponenten des Lernprozesses mit anderen Konstrukten in Verbindung zu setzen. Epistemische Überzeugungen sind als wichtige Komponenten in Lernprozessen erkannt worden. Um zu erforschen, wie diese Überzeugungen sich entwickeln und wie sie beeinflusst werden, ist es wichtig, zu erkennen, wie sie mit anderen mentalen Komponenten zusammenhängen. Nach Schommer-Aikins (2004) bedarf es eines Rahmenmodells für epistemische Überzeugungen, das viele andere Aspekte von Kognition und Affekt einbezieht. Ihr zufolge braucht die Forschung ein solches Rahmenmodell, da epistemische Überzeugungen nicht in einem Vakuum wirken, sondern die Gedanken, Aktionen und Motivationen eines Lernenden das Zusammenlaufen multipler Systeme repräsentieren. „The need for an embedded systemic model of epistemological beliefs, that is, a model that includes many other aspects of cognition and affect, comes from the assumption that epistemological beliefs do not function in a vacuum. Indeed, at any given moment, learners’ thoughts, actions, or motivations represent the convergence of multiple systems” (Schommer-Aikins 2004, 23).
Die vorliegende Arbeit soll dazu beitragen, epistemische Überzeugungen in ein übergeordnetes Modell zu integrieren und in Beziehung zu anderen Konzepten zu setzen, die wichtige Charakteristika mit epistemischen Überzeugungen teilen. Dazu wird der Fokus auf zentrale Aspekte der epistemischen Überzeugungen gerichtet, die bisher im Gros der Forschung eher im Hintergrund standen: Die persönliche Epistemologie eines Individuums wird in dieser Arbeit als implizite, kontextabhängige und sozial erworbene Wissensstruktur vorgestellt, die Lernprozesse beeinflusst. In Übereinstimmung mit Jehng et al. (1993, 24) werden epistemische Überzeugungen als „socially shared intuitions about the nature of knowledge and learning“ gefasst. Ausgehend von diesem Standpunkt lassen sich Brücken von den epistemischen Überzeugungen zu Systemen von
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Überzeugungen und Vorstellungen schlagen, die ebenfalls in Lernprozessen eine Rolle spielen und die gleichen Charakteristika „Implizitheit“ und „soziale Bedingtheit“ tragen. Dies wird in dieser Arbeit am Beispiel des didaktischen Konzeptes der Alltagsphantasien ausgeführt. Ziel des folgenden Kapitels ist es deshalb aus den bestehenden theoretischen Erkenntnissen herauszuarbeiten, dass epistemische Überzeugungen (1) implizit vorliegen, (2) Lernprozesse beeinflussen (3) sozial erworben werden und (4) kontextabhängig aktiviert werden. Im Folgenden wird kurz die Struktur dieses Kapitels ausgeführt: Um den Leser im Feld zu orientieren, beginnt das Kapitel mit einem kurzen Überblick zu der Forschung zu epistemischen Überzeugungen, in dem alle wichtigen und grundlegenden Perspektiven eingeführt und verknüpft werden. Dabei stehen vor allem gängige Konzeptionen sowie das Problem der Abgrenzung epistemischer Überzeugungen gegen Persönlichkeitsmerkmale und Lernüberzeugungen im Mittelpunkt. Danach werden die oben genannten zentralen Aspekte epistemischer Überzeugungen herausgearbeitet. (1) Epistemische Überzeugungen weisen die Charakteristika impliziten Wissens auf, das in Lernprozessen als intuitives Wissen Bewusstheit erlangen kann. Epistemische Überzeugungen sind also potentiell bewusstseinsfähig. Sie sind jedoch so stark verinnerlicht, dass sie auf das Denken eines Individuums einwirken, ohne in dessen Bewusstsein zu gelangen. Die meisten Ansätze zu epistemischen Überzeugungen thematisieren den impliziten Charakter epistemischer Überzeugungen kaum oder setzen ihn als gegeben voraus, ohne ihn genauer einzuordnen. Im Kapitel 1.2 wird daher dem impliziten Charakter epistemischer Überzeugungen genauer nachgegangen, indem die Theorie von Hofer (2004) zur persönlichen Epistemologie als Teilbereich der Metakognition herangezogen und in Beziehung zu weiteren Ansätze zum impliziten Charakter der persönlichen Epistemologie gesetzt wird. (2) Beim Lernen sind epistemische Vorstellungen bedeutsam, da sie Einfluss auf Prozesse der Informationsverarbeitung und Strategien des Lernens nehmen. An die inhaltliche Dimension ist eine prozedurale Auswirkung gebunden. Die inhaltliche Ausrichtung wirkt sich auf die konkrete Form der Verarbeitung von Wissen aus. Im Kapitel 1.3 wird diese „Management“-Funktion epistemischer Überzeugungen für das Denken und Verstehen eines Individuums ausgeführt, indem bestehende Befunde zum Einfluss epistemischer Überzeugungen auf Lernen und Verstehen sowie zu ihrer Rolle in Verarbeitungsprozessen integriert werden. (3) Für die in dieser Arbeit gewählte Perspektive ist zentral, dass die persönliche Epistemologie als sozial erworbene Wissensstruktur verstanden wird. 27
Baxter Magolda (2002, 2001) fasst epistemische Überzeugungen und die Strukturen, die sie begründen, als sozial konstruierte Entitäten, die einen Beitrag zur Sinnstiftung in Lernprozessen leisten. Der Abschnitt 1.4 dieses Kapitels dient dazu die Determinanten der persönliche Epistemologie und ihrer kulturellen und sozialen Verwurzelung zu skizzieren. (4) Zahlreiche Befunde zeigen, dass sich die epistemischen Überzeugungen von Individuen für unterschiedliche Domänen (etwa Schulfächer) unterscheiden können. Selbst innerhalb eines Bereiches zeigen Lernende häufig vermeintliche Inkonsistenzen in ihrer persönlichen Epistemologie. Eine plausible Erklärung dieser Phänomene besteht in der besonderen Bedeutung des Kontextes: Demnach umfasst die persönliche Epistemologie eines Menschen verschiedene Ausprägungen von epistemischen Vorstellungen, die je nach Kontext aktiviert werden (Hammer & Elby 2002). Gestützt wird diese Perspektive auch durch Befunde zur Bedeutung sozialer Unterstützung für das Denken auf hohem epistemischen Niveau (Kitchener & Fischer 1990). Die Bedeutung des Kontextes für die Reife epistemischer Überzeugungen und die pädagogischen Implikationen, die aus dieser Perspektive erwachsen, sind Gegenstand des Kapitels 1.5. Anschließend an die Bedeutung von Kontext und Domäne wird die Forschung zu epistemischen Überzeugungen mit der fachdidaktischen Forschung zu Nature of Science (NOS) in Beziehung gesetzt. Epistemische Überzeugungen haben eine besondere Bedeutung im naturwissenschaftlichen Unterricht. Die Forschung zu NOS und epistemischen Überzeugungen erfolgt vor dem Hintergrund des naturwissenschaftlichen Bildungsanspruches. In diesem abschließenden Teil des Kapitels wird das Thema dieser Arbeit auf der Ebene der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung eingeordnet, um den Anschluss an ein Konzept der Naturwissenschaftsdidaktik, das didaktische Konzept der Alltagsphantasien, vorzubereiten. 1.1 Die Forschung zur persönlichen Epistemologie Epistemisches Wissen4 umfasst die Kognitionen eines Individuums bezüglich der Natur von Wissen und der Art und Weise wie dieses Wissen erworben wird 4 Terminologie: Epistemologie als philosophische Disziplin beschäftigt sich mit den Ursprüngen, der Natur, den Grenzen, Methoden und der Rechtfertigung von menschlichem Wissen. Wissenschaftler im Bereich der persönlichen Epistemologie haben diese philosophischen Terminologien übernommen um psychologische Konstrukte zu beschreiben. Die Folge sind Ambiguität und mangelnde Präzision in der Bezeichnung der Konstrukte: Die Begriffe epistemologische Überzeugungen und epistemische Überzeugungen werden in der Literatur nahezu synonym gebraucht. Persönliche
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(Kitchener 1983). Die persönliche Epistemologie gilt als ein Aspekt von metakognitiven Denkprozessen, der häufig in Wissenskonstruktionsprozessen aktiviert wird (Hofer 2004, 43). Diese Form von Vorstellungen steht in den letzten Jahrzehnten verstärkt im Fokus des Forschungsinteresses, da angenommen wird, dass epistemische Vorstellungen in einem engen Zusammenhang zum Verstehen und Lernerfolg von Individuen stehen (Schommer 1990, 1994, 1998, Ryan 1984 u. a.). Nach Hofer (2004, 43) sind epistemische Überzeugungen essentiell für Konstruktionsprozesse von Wissen: Wenn eine Person beginnt, sich Wissen zu einem Thema aufzubauen, laufen eine Reihe von kognitiven Prozessen ab. Sie wird entscheiden, ob sie Vertrauen in die Quelle der neuen Information hat, weitere Informationsquellen aussuchen und ihr eigenes Verständnis überwachen. Sie wird Bewertungen des Wissens vornehmen, das sie ansammelt und bestimmen müssen, wie sie mit Beweisen umgeht, wie sie ihre eigenen Erlebnisse mit Expertenwissen vereinbart und auch, wann sie genug Informationen gesammelt hat und den Wissenssuchprozess zu einem Abschluss führt. Alle diese Entscheidungen involvieren epistemische Überzeugungen. Die Entscheidungsprozesse laufen größtenteils unbewusst ab und lassen sich lediglich an den Handlungen des Individuums ablesen. 1.1.1 Konzeptionen epistemischer Überzeugungen Traditionell wird persönliche Epistemologie in zwei Weisen konzeptionalisiert, entweder als ein kognitiver Entwicklungsprozess oder als ein System von Überzeugungen. Frühe Studien betrachteten vor allem die Entwicklung der epistemischen Überzeugungen. Perry (1968, 1981, 1985) nahm an, dass Studierende festgelegte entwicklungsbedingte Stufen von epistemischen Überzeugungen durchlaufen. Seinem Modell zufolge herrscht in den frühen Stadien eine sogenannte „dualistische“ Perspektive vor: Die Studierenden sehen Wissen als entweder richtig oder falsch an und glauben an allwissende Autoritäten, die die wahren Antworten kennen. Erreichen die Studierenden die späten Stadien, realisieren sie, dass es multiple Ausprägungen und Ausdeutungsmöglichkeiten von Epistemologie ist eine persönliche Theorie über Wissen. Epistemische Überzeugungen sind Überzeugungen über Wissen. Der Begriff epistemologische Überzeugung meint das Gleiche, würde sich der Ableitung des Wortes nach jedoch auf Überzeugungen zum Metawissen über Epistemologie beziehen. Im Folgenden wird in Anlehnung an Hofer (2004) die Bezeichnung epistemische Überzeugungen verwendet.
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Wissen gibt und Menschen zu bestimmten Zeiten zu einer Form von Ideen tendieren oder starke Verbindlichkeiten zur Übernahme bestimmter Positionen führen. Sie erkennen, dass die Zuordnung zu Positionen mit der Übernahme von Verantwortung für die damit vertretenen Ideen und Perspektiven auf die Welt einhergeht. Über die Art und Weise der Organisation epistemischer Überzeugungen besteht in der Forschung jedoch Uneinigkeit. Während in der Tradition um Perry (1985) davon ausgegangen wird, dass die persönliche Epistemologie unidimensional ist und sich in einer festen Progression von Stufen entwickelt, nimmt Schommer (1990, 498) an, dass die persönliche Epistemologie ein Überzeugungssystem darstellt, das aus verschiedenen mehr oder weniger unabhängigen Dimensionen zusammengesetzt ist. Ihr zufolge seien Überzeugungen zur Natur von Wissen zu komplex um in einer einzigen Dimension inbegriffen zu sein. Schommer nimmt daher mindestens fünf Dimensionen an: Vorstellungen zur Struktur, Sicherheit, Quelle des Wissens und zur Kontrolle und Schnelligkeit von Wissenserwerb. In jüngeren Theorien werden epistemische Überzeugungen Theorie-ähnlich konzeptionalisiert (Hofer 2004)5 oder als Netzwerk epistemologischer Ressourcen verstanden (Hammer & Elby 2002), die in unterschiedlichen Kontexten aktiviert werden und in variierenden Kombinationen miteinander verbunden sind. Diese Konzeption wird in Kapitelteil 1.5 genau dargestellt und ihre Bedeutung für die pädagogische Praxis ausgearbeitet. 1.1.2 Was zählt zu den epistemische Überzeugungen? – Zum Status von Lernüberzeugungen und Persönlichkeitsmerkmalen Auch über die Grenzen der zum Konstrukt der persönlichen Epistemologie zugehörigen Vorstellungen besteht Uneinigkeit: „If researchers are attempting to look at the bigger picture, they need to include beliefs about learning. An even more encompassing picture will include other beliefs, for example beliefs about self and beliefs about domains” (Schommer-Aikins 2002, 110). Schommer zufolge sind Überzeugungen zum Lernen und selbstkonzeptrelevante Überzeugungen in den Bereich der epistemischen Überzeugungen mit einzubeziehen. Andere, wie etwa Hofer & Pintrich (1997) fordern dagegen die 5 Hofer und Pintrich (1997, 117) konzeptionalisieren ihren Strukturansatz persönlicher Epistemologie in Form einer Theorie bewusst in Anlehnung an die Forschung zu Conceptual Change um einen Kompromiss zwischen Entwicklungstheorien und unabhängigen Dimensionen zu erzielen (dessen empirische Evidenz bisher jedoch noch fehlt).
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Trennung wissensbezogener Überzeugungen von Lernüberzeugungen. Hofer & Pintrich (1997, 112) unterscheiden dazu sechs Dimensionen von Überzeugungen zu Wissen und Lernen. Von diesen bestimmen sie jedoch nur vier als zentrale Dimensionen epistemischer Überzeugungen, die sich in zwei übergreifenden Kernkomplexen organisieren lassen: 1. Vorstellungen zur Nature of knowledge, der „Natur des Wissens“, umfassen Vorstellungen bezüglich der Beschaffenheit des Wissens, wie zur Sicherheit oder Einfachheit von Wissen. Diese Dimensionen spannen sich zwischen den beiden Extrempolen der sogenannten „absolutistischen“ Positionen, nach denen Wissen als sicher und absolut anzusehen ist, hin zu den „relativistischen“ Positionen, nach denen Wissen als relativ, konstruiert und kontextabhängig verstanden wird. 2. Vorstellungen zu den Quellen von Wissen und der Wissensbegründung gehören dagegen dem Komplex der Nature of knowing, der „Natur des Wissens als Prozess“, an. Die hier einbegriffenen Vorstellungen beschreiben den Prozess der Wissensgenese und des Wissen als Tätigkeit. Die Vorstellungen reichen von Überzeugungen, dass Wissen von Autoritäten weitergegeben wird hin zu Vorstellungen von der selbstständigen Konstruktion von Wissen durch das Individuum. Außerhalb dieser beiden Kernkomplexe persönlicher Epistemologie stellen Hofer & Pintrich (1997, 113) die beiden weiteren, jedoch peripheren Dimensionen zu Lernen und Lehren sowie Intelligenz, bestehend aus Nature of learning and instruction und Nature of intelligence. Da diese Dimensionen jedoch lediglich in zwei großen Konzepten zur persönlichen Epistemologie berücksichtigt werden, erachten es Hofer & Pintrich (1997) für sinnvoll, das Konstrukt der epistemischen Überzeugungen auf die beiden ausgeführten Kerndimensionen zu begrenzen.6 Tatsächlich seien Vorstellungen zu Lernstrategien und Lehren oder zu Intelligenz jedoch eng mit dem Prozess der Wissensgenerierung verbunden und im kognitiven Netzwerk eng verknüpft (Hofer & Pintrich 1997, 116). Sie bemängeln die ungenügende Organisation und Vernetztheit der Forschung zur persönlichen Epistemologie. Es bestehe wenig Übereinkunft über das Konstrukt, die Dimensionen, die es beinhalte, ob epistemische Überzeugungen domänenunabhängig oder domänenübergreifend organisiert seien und wie diese Über6 Die Konzeption von Baxter Magolda (2002) beinhaltet Aspekte zur Rolle des Lernenden und seiner Evaluation des Lernens sowie dessen Wahrnehmung der Rolle von Peers und des Lehrenden. Auch Schommer berücksichtigt in ihrem Ansatz die Aspekte „Schnelligkeit des Lernens“ und „Angeborene Fähigkeit“.
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zeugungen mit anderen Konstrukten zu Kognition und Motivation verknüpft seien, bemerken Hofer & Pintrich (1997, 89). 1.1.3 Persönlichkeitsmerkmale und epistemische Überzeugungen Dieser Hinweis von Hofer & Pintrich (1997) macht deutlich, dass epistemische Überzeugungen eingebunden in andere, etwa kulturell geprägte Vorstellungen oder Charakteristika des Individuums wirken. Dieser Punkt berührt die unklare Abgrenzung von erworbenen Überzeugungen und Persönlichkeitsmerkmalen oder Selbstkonzeptmerkmalen innerhalb der persönlichen Epistemologie, die von verschiedenen Forschern auf unterschiedliche Weise gehandhabt wird: Nach Klaczynski sind Epistemic beliefs (2000, 1350) metakognitive Dispositionen, die stark mit Persönlichkeitsmerkmalen, wie Offenheit, Reflektiertheit und der Bereitschaft eigenes Wissen zu prüfen, zusammenhängen. Deshalb verwendete Klaczynski zur Erhebung der Ausrichtung der persönlichen Epistemologie die Instrumente Need for Cognition (misst die Freude am Denken), die Belief-Defensiveness-Skale (erfasst die Offenheit für die Revision von Überzeugungen), den Test Need for Cognitive Closure (erhebt die Tendenzen unsichere Zustände von Wissen zu vermeiden), sowie die Head or Heart-Skale (erfasst das Ausmaß, mit dem ein Individuum sich auf rational oder intuitiv erworbenes Wissen verlässt). Auch Hofer (2004, 48) verweist auf die Nähe von epistemischen Überzeugungen zur Einfachheit und Sicherheit von Wissen und Persönlichkeitsmerkmalen, wie dem Need for Cognition. Auch Selbstkonzepte, wie self as knower oder self as thinker, hängen ihrer Meinung nach eng mit der persönlichen Epistemologie einer Person zusammen. Dass Persönlichkeitsmerkmale die epistemischen Überzeugungen eines Individuums beeinflussen können, scheint einleuchtend: Eine Person, die Angst vor Unsicherheiten und demzufolge ein starkes Sicherheitsbedürfnis hat, könnte durchaus Unbehagen und damit eine eingeschränkte Bereitschaft zeigen, sich mit unlösbaren Problemen oder unklaren Thematiken zu beschäftigen. Dagegen empfindet ein Mensch mit weniger ausgeprägtem Sicherheitsbedürfnis die Auseinandersetzung mit kontroversen Themen eventuell als anregend.7 7 Umgekehrt kann davon ausgegangen werden, dass auch die epistemischen Überzeugungen auf das Selbstverständnis einer Person zurückwirken. Die Vorstellung von der Konstruktion allen Wissens und Überzeugungen zur Veränderlichkeit von Wissen und dem Gebot ständiger Überprüfung von Wissen, verändert das Selbstverständnis einer Person dahingehend, dass sie eher geneigt ist, ihre eigenen Überzeugungen zu hinterfragen und Informationen kritisch zu überprüfen (Klaczynski
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1.1.4 Das epistemische Motiv In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass neben den inhaltlich spezifizierten epistemischen Überzeugungen zumindest eine personenspezifische Disposition als Aspekt der persönlichen Epistemologie integriert werden sollte: Personen differieren in ihrer Bereitschaft zum Nachdenken und in ihrer Freude am Denken. Epistemische Überzeugungen von höherem Sophistizierungsgrad betonen die Bedeutung des eigenen Denkens sowie die Unsicherheit und Veränderlichkeit von Wissen, das immer wieder eine Überprüfung erfordert. Die Bereitschaft zum Nachdenken ist in diesem Zusammenhang folglich eine zentrale volitionale Komponente. Diese Komponente persönlicher Epistemologie ist nicht an inhaltliche Überzeugungen oder kulturelle Aspekte gebunden, sondern bezeichnet ein Persönlichkeitsmerkmal des Individuums, das im Folgenden als epistemisches Motiv bezeichnet werden soll. Das von Cacioppo & Petty (1982) eingeführte Konstrukt des Need for Cognition ist meiner Ansicht nach als ein solches epistemisches Motiv zu verstehen. Personen mit einem hohen Bedürfnis nach Kognition haben Freude am Denken und zeigen eine hohe Bereitschaft, sich durch Nachdenken mit Problemen auseinanderzusetzen. Personen mit einem geringen Bedürfnis nach Kognition neigen eher dazu anstrengende kognitive Aktivitäten zu meiden. Das epistemische Motiv bezeichnet somit eine volitionale Komponente persönlicher Epistemologie. Die Bedeutung des epistemischen Motivs für die Möglichkeiten der Einwirkung auf epistemischen Überzeugungen wird im Kapitel 3.6.5 genauer ausgeführt. Da davon ausgegangen werden muss, dass epistemische Überzeugungen mit einer Fülle von persönlichen Überzeugungen zusammenhängen, führt SchommerAikins in ihren jüngeren Publikationen den Begriff der „epistemically related beliefs“ ein und erfasst damit epistemische Überzeugungen sowie andere Vorstellungen und Persönlichkeitsmerkmale, die die Wahl der Lernstrategien und das Lernverhalten von Individuen beeinflussen (Schommer-Aikins & Easter 2008, 921). Das epistemische Motiv könnte hiernach als „epistemically related disposition“ eingeordnet werden. Nachdem nun kurz zusammengefasst wurde, welche generellen Konzeptionen (Entwicklungsmodell vs. System von Überzeugungen) epistemischer Überzeugungen unterschieden werden und wie sich epistemische Überzeugungen 2000, 1350). The fool doth think he is wise. But the wise man knows himself to be a fool (Shakespeare, As you like it).
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gegen Persönlichkeitsmerkmale und Lernüberzeugungen abgrenzen lassen, werden epistemische Überzeugungen nun anhand der zentralen Charakteristika (1) Implizitheit, (2) Einfluss auf Lernprozesse, (3) kulturelle Erworbenheit und (4) kontextuelle Aktivierung betrachtet. 1.2 Implizite persönliche Epistemologie und Metakognition Ein komplizierter Aspekt epistemischer Überzeugungen ist der Grad ihrer expliziten Ausprägung. In der Forschung besteht Einigkeit darüber, dass Menschen wohl über Vorstellungen zu Wissen und Wissenserwerb verfügen, sich aber nicht permanent über ihre Vorstellungen bewusst sind oder sie explizit benennen können. 1.2.1 Der stille oder intuitive Charakter epistemischer Überzeugungen Die meisten Ansätze zu persönlicher Epistemologie basieren auf der stillen Annahme, Individuen verfügten über epistemische Überzeugungen als deklaratives Wissen, zu welchem sie bewussten, artikulierbaren Zugang hätten (Hammer & Elby 2002). Hofer & Pintrich (1997) verstehen epistemische Überzeugungen etwa als „epistemologische Theorien“, also als umfassend organisierte kognitive Konzepte (damit folgen sie der Forschung zum „conceptual understanding“). Sollten Lernende sich für gewöhnlich nicht ihrer epistemischen Überzeugungen bewusst sein, so könnten sie sich dieser Überzeugungen jedoch in bestimmten Situationen oder nach Aufforderung bewusst werden und über ihren Inhalt in Interviews und durch Fragebögen berichten (Hofer & Pintrich 1997). Von verschiedenen Seiten wird jedoch angezweifelt, ob Personen in Fragebögen tatsächlich direkte Auskunft über ihre epistemischen Vorstellungen geben können (u.a. Hammer & Elby 2002, Trautwein et al. 2004, Bromme 2005, Stahl et al. 2006). Lernende außerhalb der Lernsituation über ihre epistemischen Überzeugungen zu befragen, entspräche nach Hammer & Elby (2002) der Frage an einen Golfer, ob er beim Schwingen des Golfschlägers vor einem Schlag einatme oder ausatme. Gewöhnlich denke ein Golfer nicht darüber nach und wüsste wahrscheinlich keine Antwort auf diese Frage. Ebenso sei sich das lernende Individuum in seinen Lernprozessen seiner epistemischen Vorstellungen nicht unbedingt bewusst und bemerke nicht, wie diese Überzeugungen zu Wissen und Lernen seine Lernstrategien und Verarbeitungsprozesse beeinflussen. 34
Andererseits sind Menschen durchaus in der Lage epistemische Vorstellungen zu artikulieren. Wie dieses artikulierte Wissen jedoch in der Situation des Lernprozesses wirkt und inwieweit es die tatsächlichen Einfluss nehmenden Vorstellungen offenlegt, ist unklar, geben Hammer & Elby (2002) zu bedenken. Die meisten Ansätze, die epistemische Überzeugungen als implizite Vorstellungen konzipieren, führen diesen impliziten Charakter kaum aus: Jehng et al. bezeichnen epistemische Überzeugungen als „socially shared intuitions about the nature of knowledge and learning“ (Jehng et al. 1993, 24, vgl. auch Urhahne & Hopf 2004, 72). Songer & Linn (1991, 762) betrachten epistemische Überzeugungen ebenfalls als intuitive Überzeugungen, und geben zur Erläuterung an, dass diese aus dem aktiven Erleben und damit aus Handlungs- und Beobachtungswissen erwachsen. Pirttilä-Backmann & Kajanne (2001) untersuchen die Entwicklung vom „implicit epistemologies“ ohne jedoch den impliziten Charakter genauer zu bestimmen. Auch nach Hammer & Elby (2002, 172) reflektieren Lernende typischerweise nicht explizit über die Natur von Wissen und Lernen etwa im naturwissenschaftlichen Unterricht, sondern konzentrieren sich in diesen Kontexten auf die Phänomene und Konzepte, mit denen sie umgehen. Sie zweifeln an, inwieweit epistemische Überzeugungen bewusster Reflexion und Artikulation zugänglich sind und gehen von einer „tacit epistemology“, also einer stillen oder impliziten persönlichen Epistemologie aus (Hammer & Elby 2002, 174). Dabei bezeichnen sie epistemisches Wissen auch als informell: “…epistemology as a category of informal knowledge that might play a role in students’ knowledge, reasoning, study strategies and participation“(Hammer & Elby 2002, 169). Dieses informelle Wissen wirkt unkontrolliert. Ihrem Ansatz zufolge bestimmen Lernsituation und Kontext – wie z. B. das Fach, der Lehrstil der Lehrperson – welche epistemischen Überzeugungen aktiviert werden (s.u., Kapitel 1.5 zu Kontext). Die Aktivierung der Vorstellungen erfolgt dabei automatisch, ohne dass das Individuum kontrollierten Einfluss auf die in der Situation aktivierten Vorstellungen und Überzeugungen nehmen könnte. Die in Lernsituationen wichtigen epistemischen Vorstellungen wirken also aufgrund ihres informellen Charakters kontextabhängig. Die vielfältigen Begriffe intuitiv, implizit, tacit oder informal zeigen einerseits die vielfältigen Versuche, den besonderen Charakter epistemischer Überzeugungen sprachlich zu markieren, die als Vorstellungen im Lernprozess außerhalb expliziter Reflexion auf einer nicht bewussten Ebene Einfluss nehmen. Auf der anderen Seite spiegeln sie auch den mangelnden Konsens und die bestehenden Unklarheiten über das tatsächliche Phänomen. In dieser Arbeit wird der Standpunkt vertreten, dass es sich bei epistemischen Überzeugungen um 35
implizite Vorstellungen handelt, die dem Individuum in Form von intuitivem Wissen bewusst werden können. 1.2.2 Epistemische Überzeugungen als Teil einer impliziten metakognitiven Theorie Eine nähere Bestimmung des mentalen Status epistemischer Überzeugungen lässt sich aus Hofers (2004) Verständnis epistemischer Überzeugungen als einer Form von Metakognition ableiten. Hofer integriert die Dimensionen Nature of knowledge und Nature of knowing (siehe Kapitel 1.1.2) in Ansätze, die Metakognition als ein multidimensionales Konstrukt auffassen. 1.2.2.1 Drei Dimensionen epistemischer Metakognition Pintrich et al. (2000) haben ein Modell der Metakognition mit drei Komponenten entworfen. Die erste Komponente ist die Dimension des metakognitiven Wissens (1). Diese Komponente ist nach Pintrich et al. (2000) eher statisch und beinhaltet das Wissen eines Individuums bezüglich Kognition und Strategien, Wissen zu den Charakteristika von Aufgaben, die die Kognition beeinflussen, sowie Wissen über das Selbst als Lernender oder Denker. Hofer (2004) ordnet die epistemischen Überzeugungen des Komplexes der Nature of knowledge dieser ersten Komponente metakognitiven Wissens (1) zu. Wissen über Kognitionen und Strategien wird damit um Vorstellungen zur „Sicherheit und Einfachheit von Wissen“ ergänzt. Metakognitives Wissen ist nicht unbedingt für das Individuum benennbar: Kinder demonstrieren häufig eine routinierte Verwendung von metakognitivem Wissen, ohne in der Lage zu sein, dieses Wissen zu beschreiben. Metakognitives Wissen braucht also nicht bewusst vorzuliegen, um nützlich zu wirken. Schraw & Moshman (1995, 354) gehen dennoch davon aus, dass bewusster Zugriff auf dieses Wissen Denken und Selbstregulation vereinfachen. Auf der zweiten Dimension der Metakognition findet sich die Komponente des metakognitiven Beurteilens und Monitoring (2). Diese Dimension ist prozessorientiert und beinhaltet Aspekte wie das Einschätzen von Aufgabenschwierigkeit, das Überwachen von Verstehen und Lernen und das Abschätzen der eigenen Lernfähigkeiten. In dieser Komponente können Fragen wie „Weiß ich das?“ eingeordnet werden. Nach Hofer (2004) wäre hier deshalb die verwandte epistemische Fragestellung „Wodurch weiß ich das?“ zuzuordnen. Damit würde der zweite Komplex epistemischer Überzeugungen, der Komplex Nature of 36
knowing mit Vorstellungen zu den „Quellen und der Begründung des Wissens“ hier zugeordnet. Die dritte Komponente des Modells der Metakognition von Pintrich et al. (2000) umfasst die Selbstregulation und Kontrolle der Kognition und des Lernens (3). Dies bezieht sich auf Aspekte wie das Planen, die Strategieauswahl, die Bereitstellung von Ressourcen und die volitionale Kontrolle kognitiver Prozesse. Diese dritte Komponente beinhaltet demnach die regulativen Aspekte von Wissen: Volition, Interesse, Motivation, Denkdispositionen, intellektuelle Werte und Überzeugungen spielen eine Rolle, wenn eine Person sich ein Verständnis von einem Thema aufbaut und überlegt, wie sie vorgehen will. Metakognitive Kontrollprozesse sind hoch automatisierte kognitive Prozesse, die deshalb kaum bewusst zugänglich sind. Zudem wird davon ausgegangen, dass sie sich außerhalb bewusster Reflektion entwickeln (Schraw & Moshman 1995, 356). Das von mir im ersten Teil dieses Kapitels (siehe 1.1.2) eingeführte epistemische Motiv als volitionale Komponente persönlicher Epistemologie wäre dieser dritten metakognitiven Dimension zuzuordnen. Personen mit einem ausgeprägten epistemischen Motiv haben Freude am Denken und zeigen eine hohe Bereitschaft, sich durch Nachdenken mit Problemen auseinanderzusetzen. Es ist naheliegend, dass eine solche „epistemische Bereitschaft“ Einfluss auf die Regulation von Denkprozessen nehmen könnte. 1.2.2.2 Wann ist Metakognition implizit? Nach Schraw & Moshman (1995) lassen sich die soeben einzeln betrachteten metakognitiven Komponenten in einer „Theorie der Metakognition“ integrieren, deren Organisationsstufe mit dem kognitiven Verhalten zusammenhängt.8 Schraw & Moshman (1995, 357) machen dabei den Grad der Bewusstheit zum Einordnungskriterium für die Organisationsstufe der Theorie und skizzieren drei ineinander übergehende Varianten (1995, 358). (1) Sogenannte „tacit theories“ gehen von einem impliziten und unreflektierten metakognitiven Wissen aus, das ohne bewusste Reflexion entstanden ist. Als Beispiele gelten die Befunde von Dweck & Leggett (1988) zu den impliziten Theorien von Kindern zur Angeborenheit von Intelligenz, oder die Untersu8 Die Annahme einer „Theorie“ metakognitiven Wissen impliziert (wie bei Hofer & Pintrich 1997 s.o.) eine Struktur, die eine Integration seines metakognitiven Wissens für das Individuum möglich macht und Erklärungen und Voraussagen über kognitives Verhalten erlaubt.
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chungen von Sternberg & Caruso (1985) zum Einfluss von impliziten Theorien über das eigene Wissen bei Erwachsenen. Diese rein implizite Metakognition kann nur begrenzt leitend und erklärend wirken. Kinder hätten demzufolge Schwierigkeiten, ihr Wissen über Gedächtnis und Lernstrategien zu nutzen, da dieses Wissen nur implizit vorliegt und sie es noch nicht in eine explizite Theorie integriert haben. (2) Die zweite Stufe bilden dann „explicit informal theories“. Damit bezeichnen Schraw & Moshman (1995, 359) fragmentarisch bewusste Vorstellungen und Überzeugungen zu Wissen, die vom Individuum noch nicht in eine einheitliche explizite Theorie integriert wurden. Dabei wird angenommen, dass einfache explizite informale Theorien erst einmal nur in einzelnen Domänen Bewusstheit erreichen, so dass zunächst nur „Inseln“ bewusster Metakognition entstehen. (3) Explizite formale metakognitive Theorien bestehen letztendlich aus hochgradig systematisierten Vorstellungen, etwa über Epistemologie. Sie beinhalten explizite theoretische Strukturen, wie sie im Studium an der Hochschule oder Universität vermittelt werden. Aus diesem Grund sind sie nach Schraw & Moshman auch eher selten und markieren das Ende des Organisationskontinuums (1995, 361). Nach dieser Perspektive ist also davon auszugehen, dass metakognitives Wissen zumeist implizit vorliegt und wirkt. Explizites metakognitives Wissen wird äußerst selten erreicht und es ist unwahrscheinlich, dass es in Situationen hoher Aufmerk-samkeit für die Inhalte (etwa im Unterricht) explizit den Lernprozess beeinflusst. Wird epistemisches Wissen als metakognitives Wissen konzeptionalisiert, dann ist davon auszugehen, dass es (in Übereinstimmung mit der Perspektive von Hammer & Elby (2002) oder Jehng et al. (1993) vornehmlich implizit oder informell vorliegt. Denn auch bei teilweise bestehendem Bewusstsein in Form einer expliziten informellen oder formellen metakognitiven Theorie epistemischer Vorstellungen ist anzunehmen, dass epistemische Überzeugungen in Lernsituationen nicht immer bewusst mitlaufen, sondern implizit auf den Lernprozess einwirkt. Die von Schraw & Moshman (1995) erläuterten Abstufungen könnten darüber hinaus erklären, wieso epistemische Überzeugungen dennoch artikuliert werden können und sich in einzelnen Domänen unterscheiden. Verfügen Individuen über „explicit informal epistemic theories“ hat das Individuum reiferes „Inselwissen“ etwa für den Bereich der Erkenntnisbildung in der Sozialwissenschaft gebildet, die es noch nicht auf Naturwissenschaften übertragen kann.
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Bemerkenswert an dem Ansatz von Schraw & Moshman (1995) ist die Annahme, dass eine metakognitive Theorie ein Subset der Theory of Mind9 darstellt (Schraw & Moshman 1995, 357). Der Begriff Theory of Mind bezeichnet nach Wellman (1990, 2) die Vorstellungen von Menschen über Bewusstseinsvorgänge in anderen Personen und die Fähigkeit, Annahmen über diese Vorgänge zu machen. Mit der Zuordnung der Metakognition in diesen Bereich wird metakognitivem und epistemischem Wissen Bedeutung in zwischenmenschlichen Verstehensprozessen und für soziales Verhalten zugewiesen. Vor diesem Hintergrund kann auch die Ausbildung reifer epistemischer Überzeugungen und eines Bewusstseins für diese Vorstellungen bei Lehrenden und der Einfluss dieses Wissens auf ihren Umgang mit SchülerInnen in einen neuen Zusammenhang gestellt werden: Die Ausbildung einer sophistizierten persönlichen Epistemologie und eines Bewusstseins für epistemische Vorstellungen würde demnach bei Lehrenden die Fähigkeit zum Verständnis der Bewusstseinsvorgänge von anderen Menschen, also etwa denen der Lernenden, stärken. Nachdem nun der implizite Charakter epistemischer Überzeugungen anhand verschiedener Konzeptionen hergeleitet wurde, werden im nächsten Teil dieses Kapitels die Auswirkungen epistemischer Überzeugungen auf das Lernen in den Blick genommen: Vorstellungen zu Wissen und seiner Genese sind deshalb so bedeutsam, da sie Einfluss auf Prozesse des Lernens und der Informationsverarbeitung nehmen. An die inhaltliche Dimension epistemischer Überzeugungen ist also eine prozedurale Auswirkung gebunden, die epistemische Überzeugungen für Pädagogen und Psychologen interessant macht. Diese Wirkungsweise epistemischer Überzeugungen steht in den folgenden Ausführungen im Mittelpunkt.
9 Wellman (1990) zufolge haben alle Menschen „alltagspsychologische“ oder naive Vorstellungen über mentale Vorgänge und über den „Geist“ anderer Menschen. Vorstellungen über die Natur von Gedanken, Überzeugungen, Wünschen und Plänen oder von Phantasie zählen zu Inhalten einer Theory of mind ebenso wie Konzeptionen der Gegenüberstellung von Körper und Geist oder der Freiheit von Gedanken. Erst die Annahme einer mentalen Aktivität und einer mentalen Welt, die individuell und von außen nicht erkennbar ist, jedoch dem Handeln und Denken eines jeden Menschen zugrunde liegt, ermöglicht es Menschen andere Menschen zu verstehen, also Gefühle, Bedürfnisse, Ideen, Absichten, Erwartungen und Meinungen anderer zu vermuten (Wellman 1990, 5).
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1.3 Wirkungen epistemischer Überzeugungen in Lernprozessen Es ist davon auszugehen, dass epistemische Überzeugungen vornehmlich implizit die Wissenskonstruktion beeinflussen. Epistemische Überzeugungen werden in Prozessen des Lernens, also des Wissensauf- oder Umbaus demnach meist außerhalb der willentlichen Kontrolle des Lernenden aktiviert und beeinflussen das Denken und das Vorgehen beim Lernen. 1.3.1 Auswirkungen auf Verstehen und Lernleistung Untersuchungen von Schommer (1998, 1993) spezifizieren den Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen und Lernverhalten. Schommer et al. fanden Zusammenhänge zwischen epistemischen Überzeugungen und Verstehen, dem Überwachen des eignen Verstehens, Lernstrategien und Textinterpretation. Je stärker Lernende an die Komplexität von Wissen und an graduelles Lernen glauben, desto wahrscheinlicher sind sie erfolgreich im Verstehen und im Monitoring ihres eigenen Verstehens. Je stärker Lernende eine Vorstellung von graduellen Lernprozessen hegen, desto höher ist ihr Grade Point Average (GPA, Durchschnitt der Notenpunkte in den USA, ähnlich dem deutschen Numerus Clausus) (Schommer 1993, 410; Schommer-Aikins 2002, 6). Je weniger reif die epistemischen Überzeugungen einer Person sind, desto mehr Schwierigkeiten lassen sich beim Lernen feststellen: Der Glaube an quick learning („Lernen erfolgt schnell oder gar nicht.“) geht mit einer Tendenz zur starken Vereinfachung von Zusammenhängen und Überschätzen des eigenen Verständnisses einher (Schommer 1990, 503). Je stärker Individuen etwa davon ausgehen, dass Wissen als isolierte Fakten charakterisiert werden kann, desto mehr Schwierigkeiten haben sie beim Verständnis von Mathematik, naturwissenschaftlichen Konzepten und Fremdsprachen. Die Schwierigkeiten manifestieren sich in der zu starken Vereinfachung von Informationen und mangelndem Monitoring des eigenen Verständnisses (Schommer et al. 1992, 441; Schommer 1998, 553). Untersuchungen von Ryan (1984) zeigten, dass stärker „dualistisch“ (bezeichnet die Tendenz zur einfachen Unterteilung der Welt nach dualistischen Prinzipien, wie Wahr und Falsch) ausgerichtete Studierende stärker dazu neigen, vereinzelte Fakten zu nennen, wenn sie nach ihrem Verständnis eines Buchkapitels gefragt werden. Stärker „relativistisch“ (bezeichnet hier die Tendenz Wissen als veränderbar und relativ zu betrachten) ausgerichtete Studierende nutzen zum Darlegen ihres Verständnisses eher komplexere Zugriffe auf den 40
Text, die den Kontext berücksichtigen, wie Umschreibungen oder Anwendungen des Gelesenen (Ryan 1984, 256). Die Wahl der Kriterien für das Bemessen des eigenen Verstehens steht zudem mit der Qualität des Lernens in Verbindung und spiegelt sich in der Note der Studierenden für den jeweiligen Kurs. Urhahne & Hopf (2004, 82) fanden einen positiven Zusammenhang zwischen der Fähigkeit den Gewinn naturwissenschaftlicher Erkenntnisse begründen zu können und dem Bewusstsein für die Veränderlichkeit von Wissen in den Naturwissenschaften einerseits, fachlichem Interesse, Leistungsmotivation und fachspezifischem Selbstkonzept sowie dem Einsatz kognitiv anspruchsvoller Lernstrategien andererseits. Untersuchungen von Schommer ergaben zudem, dass Überzeugungen zur Einfachheit und Sicherheit von Wissen die Bereitschaft von Erwachsenen beeinflussen können, tief und reflektiert über kontroverse, komplexe Themen des alltäglichen Lebens nachzudenken (Schommer 1998, 558). Die Ergebnisse zeigen, dass je mehr die Erwachsenen an komplexes und vorläufiges Wissen glaubten, sie desto mehr multiple Perspektiven schätzen konnten und bereit waren, ihr Denken zu verändern, ultimative Entscheidungen zurückzuhalten, bis alle Informationen vorlagen und eine komplexe, vorläufige Natur von alltäglichen Angelegenheiten anzunehmen. 1.3.2 Einfluss auf Prozesse der Informationsverarbeitung Auch auf der Ebene der Informationsverarbeitung nimmt die persönliche Epistemologie eines Menschen Einfluss auf Prozesse der Organisation von Wissen. Epistemische Überzeugungen beeinflussen die Ausnutzung individueller Kapazitäten bei Informationsverarbeitungsprozessen und die Wahl der Formen der Auseinandersetzung mit Wissen (vgl. Klaczynski 2000, Schommer 1992). Sie legen sozusagen die Schienen für die Richtung der Perspektive, den Verlauf und die Art der Herangehensweise an neue Inhalte: Nach Klaczynski haben epistemische Überzeugungen entscheidenden Einfluss auf die Bereitschaft sich auf reflektivem Weg und damit unter Aufwendung kognitiver Kapazitäten mit Informationen, Inhalten oder Problemen auseinanderzusetzen (Klaczynski 2000, 1350). Nach Zwei-Prozess-Modellen der Informationsverarbeitung sind Menschen in der Lage kognitive Inhalte entweder bewusst oder automatisiert zu aktivieren (Schneider & Shiffrin 1977) und sowohl impulsiv als auch reflektiv weiterzuverarbeiten. Parallel dazu werden in dem Zwei-Prozess-Modell der heuristischen und systematischen Verarbeitung von Informationen (Chaiken 1980, 752) 41
Verarbeitungsprozesse im Hinblick auf die Verwendung von Informationen untersucht. Dieses Modell wird kurz vorgestellt, da epistemische Überzeugungen Einfluss darauf nehmen, welche der dargestellten Prozesse ablaufen. Systematische Informationsverarbeitung lässt sich mit reflektiver Verarbeitung gleichsetzen. Der reflektive Modus arbeitet kontrolliert und beansprucht kognitive Kapazität. Gedächtnisinhalte werden auf der Basis von logischen und semantischen Verknüpfungen intentional aktiviert. In der Auseinandersetzung mit Informationen bedeutet dies die systematische Abwägung aller gegebenen Informationen. Wie bei dem genauen Studieren eines Artikels (oder bei einer Kaufentscheidung) werden alle Vor- und Nachteile einbezogen und für die Entscheidung erwogen (Chaiken 1980). Heuristische Verarbeitung läuft dagegen eher schnell und unkontrolliert ab und greift auf spontan aktualisierte Faustregeln oder Intuitionen zurück. Menschen fokussieren dabei eine Teilmenge der verfügbaren Information (etwa in einer problematischen Situation), die sie befähigt, bestimmte verinnerlichte einfache Regeln, Schemata oder kognitive Heuristiken zu nutzen, um ihre Entscheidungen und Urteile zu formulieren. Die Informationsverarbeitung gleicht dem Überfliegen eines Artikels (oder eines Kaufgegenstandes): Es werden nur ein paar Informationen fokussiert, auf deren Basis eine Entscheidung getroffen wird. Intuitionen können dabei als Heuristiken verwendet werden und die systematische Auseinandersetzung abkürzen (Chaiken & Trope 1999). Bedeutsam ist nun, dass je weniger reif bzw. aufgeschlossen die epistemischen Überzeugungen einer Person ausgerichtet sind, desto wahrscheinlicher greift sie bei der Verarbeitung von Informationen auf Heuristiken und weniger aufwendige Prozesse der Verarbeitung zurück (Klaczynski 2000). Die Folge ist eine stärkere Abhängigkeit von den eigenen, bereits vorhandenen Vorstellungen, Bewertungen und Emotionen bei der Auseinandersetzung mit neuem Wissen oder Problemstellungen in Bezug auf die Aktivierung der kognitiven Verarbeitungsmodi (zur genaueren Darstellung siehe Kapitel 4.5). Ergebnisse von Kardash & Scholes (1996) veranschaulichen diese Zusammenhänge: In einer Studie zum Umgang mit gegensätzlichen Informationen zeigten sie (Kardash & Scholes 1996, 269), dass Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen und einem hohen epistemischen Motiv (Need for Cognition, Konstrukt misst die Bereitschaft nachzudenken und die Freude am Denken, Cacioppo & Petty 1982) in der Lage waren, in akkurater Weise die unsichere und gegensätzliche Natur des präsentierten Wissenstandes wiederzugeben. Personen mit weniger reifen epistemischen Überzeugungen und einem geringen epistemischen Motiv (impliziert eine geringe Bereitschaft zum Umgang mit Unsicherheiten) tendierten eher dazu, die Gegensätzlichkeiten zu ignorieren. Sie 42
gaben nur die Informationen wieder, die ihrer eigenen Meinung entsprachen und demonstrierten damit eine „unausgewogene Verarbeitung“ der gegebenen Informationen. Die vorgestellten Befunde zu den Zusammenhängen epistemischer Überzeugungen mit Lernen und Verstehen sowie mit spezifischen Formen der Informationsverarbeitung lassen sich integrieren: Die unmittelbaren Auswirkungen der persönlichen Epistemologie eines Individuums auf sein Verstehen und seine Lernergebnisse sind den dargelegten Ergebnissen zufolge vermutlich über Prozesse der Informationsverarbeitung vermittelt. Systematische Verarbeitung von Informationen resultiert in einer besseren Organisation des gelernten Wissens und einer mehrfachen Absicherung der verarbeiteten Inhalte. Mit dieser „genaueren“ und deshalb intensiveren und aufwendigeren Verarbeitung verstärkt sich die Chance für ein erfolgreiches Monitoring des eigenen Verständnisses, das den Grundstein für Verstehen und damit für nachhaltiges Lernen darstellt. In dieser Arbeit wird deshalb postuliert, dass epistemische Überzeugungen eine Art Management-Funktion für das Verstehen haben, indem sie Informationsverarbeitungsprozesse beeinflussen. Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen sind demnach stärker geneigt Informationen systematisch zu verarbeiten und dementsprechend gründlicher zu durchdenken. Reife epistemische Überzeugungen gehen mit einer stärkeren Tendenz zum Nachdenken einher. Hier besteht also eine direkte Brücke zwischen der persönlichen Epistemologie eines Individuums und seiner Nachdenklichkeit. Dies ist ein zentrales Thema dieser Arbeit, das in Kapitel 3.5.2 behandelt wird. Im folgenden Abschnitt geht es nun um die Ursprünge und Determinanten der epistemischen Vorstellungen und um die Erkenntnisse, die zu den Möglichkeiten ihrer Aktivierung und Veränderung bestehen. 1.4 Determinanten persönlicher Epistemologie – Reifung und soziale Konstruktion Um sich in einer unsicheren Welt orientieren zu können und nicht in Verzweiflung zu geraten ist es nach Perry (1985, 1981) notwendig für menschliche Individuen, analytische und synthetisierende Fähigkeiten des kontextuellen Denkens auszubilden. Ihm zufolge haben Individuen zum einen den Drang nach Weiterentwicklung, zum anderen aber auch das Bedürfnis nach Konsolidierung bisher gemachter Erfahrungen und werden in der Entwicklung ihrer intellektuellen Fähigkeiten durch diese beiden gegenläufigen Bedürfnisse gesteuert. Diese 43
Position ist stark an Piagets Äquilibrationsbestreben orientiert. Mit ihr wird eine von innen und außen gesteuerte, maßgeblich auf internen Reifungs- und Ausgleichsprozessen des Individuums und Stimulations-angeboten aus der Außenwelt basierende Weiterentwicklung der epistemischen Überzeugungen angenommen. Unterstützt wird diese Perspektive durch Befunde, die einen Zusammenhang der Reife epistemischer Überzeugungen mit dem Alter zeigen (Schommer 1990). Gleichzeitig indizieren Schommers (1990) Befunde aber auch einen Zusammenhang der Reife epistemischer Überzeugungen mit der Dauer der Beschulung. Dieser zweite Befund deutet in Richtung einer Abhängigkeit epistemischer Überzeugungen von äußeren Faktoren. Lernprozesse, Sozialisationsund Enkulturationsprozesse rücken hierdurch in den Fokus. Verschiedene Untersuchungen zeigen Unterschiede in der Ausprägung der epistemischen Überzeugungen in Abhängigkeit vom Geschlecht und sozialem Umfeld. Belenky et al. (1986) waren die ersten, die eine Unterscheidung zwischen seperate knowing (absondernd wissen) und connected knowing (verbindend wissen) einführten. Seperate knowing bezeichnet die Tendenz, neues Wissen zunächst anzuzweifeln und zu hinterfragen, um in einem zweiten Schritt neue Ideen anzuerkennen. Connected knowing stellt dagegen einen stärker emphatischen Ansatz dar, indem neue Perspektiven zunächst nachempfunden und durchdrungen werden, um sie anschließend zu evaluieren. Clinchy (2002) zeigte in der Tradition von Belenky, dass diese beiden Arten des Wissenvollzugs in den USA genderverknüpft sind: US-amerikanische Männer neigen eher zu seperate knowing, während Frauen eher zu connected knowing tendieren. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Unterscheidung kulturübergreifende Geltung hat, sondern unterstreicht die Abhängigkeit der Entwicklung der persönlichen Epistemologie von Sozialisationsprozessen. Clinchy (2002) nimmt überdies an, dass „Fortgeschrittene Denker“ beide Denkvollzüge beherrschen. Auch nach Anderson (1984) sind epistemische Überzeugungen weniger ein Ergebnis kognitiver Reifungsprozesse als vielmehr ein Produkt der heimischen und formalen Erziehung. Anderson zufolge erwerben Kinder nicht nur Erfahrungen, sie erwerben Interpretationen von Erfahrungen. Er geht aus, dass die Überzeugungen über Wissen, die ein Kind erwirbt, beeinflusst sein werden von denen der Eltern. Elterliche Überzeugungen über Wissen werden abhängig sein von Bildungs- und beruflichem Status. „Children not only acquire experience, they acquire interpretations of experience. It stands to reason that the beliefs about knowledge that a child develops will be influenced by those of his parents. Parents' beliefs about knowledge will be condi-
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tioned by educational and occupational status (…) Later, teachers become mediators of experience” (Anderson 1984, 9).
Schommer (1990, 501) fand einen Zusammenhang zwischen den epistemischen Überzeugungen von SchülerInnen und ihrem persönlichen Hintergrund, wie Alter und Geschlecht, Klassenstufe und verbaler Ausdrucksfähigkeit, Bildungsatmosphäre und Möglichkeiten (z.B. Bildungsgrad und Abschlüsse der Eltern), Ermutigung zu Unabhängigkeit (z.B. eigene Meinung ausdrücken, elterliche Entscheidungen hinterfragen) und der Einhaltung von Regeln (z.B. familiäre Strenge in Bezug auf Regeln und Religion). Je höher der Bildungsgrad der Eltern und je höher ihre Erwartungshaltung an ihre Kinder, in Bezug darauf Verantwortung zuhause zu übernehmen sowie Verantwortung für ihr eigenes Denken zu übernehmen, desto wahrscheinlicher ist es, dass Kinder ein weltgewandtes, reifes System epistemischer Überzeugungen entwickeln (Schommer 1990, 503). Ebenso nimmt die Zeit, die eine Person in Bildungsinstitutionen verbracht hat, Einfluss auf die Reife ihrer epistemischen Vorstellungen. Die Ursprünge epistemischen Wissens werden in Religion und Kultur gesucht. Schommer zufolge unterscheiden sich Kulturen in Überzeugungen, Normen und Verhalten. Sie nimmt an, dass kulturelle Unterschiede in der persönlichen Epistemologie sehr wahrscheinlich zu Unterschieden in kognitiven Bereichen, wie der Auswahl von Lernstrategien, führen und damit Lernerfolg und Bildungsgänge beeinflussen (Schommer-Aikins & Easter 2008, 920). Pai & Adler (2001) gehen davon aus, dass Migrantenkinder in den USA deshalb Schwierigkeiten im amerikanischen Schulsystem haben, weil sich ihre Wahrnehmung von Lernen von der US-amerikanischen Wahrnehmung unterscheidet. Amerikanische Schulen bauen auf dem Prinzip des Lernens durch persönliche Beteiligung und aktive Kommunikation auf. Das Motiv zum Lernen sei die individuelle Leistung. Menschen aus so genannten „shared function cultures“ (Asiaten, Afrikaner, Lateinamerikaner, Indianer) dagegen glauben, so Pai & Adler (2001), dass Lernen durch Gelehrigkeit mit einer Betonung auf Beobachtung und Nachahmung erfolgt. Das Motiv zum Lernen sei die Gruppenleistung. Vor diesem Hintergrund ist zu bedenken, dass der Endpunkt epistemischer Reife derzeit in formal abstraktem Denken gesehen wird, dass ein normatives zu erreichendes Element und Charakteristikum westlicher Kulturen darstellt. Die existierenden Modelle zu epistemischen Überzeugungen nehmen eine Höherentwicklung zu einem verstärkten Individualismus des Denkens und einer Befreiung von dem Diktat von Autoritäten an. Es ist denkbar, dass in stärker kollektivistisch ausgerichteten Kulturen, in denen die Perspektive auf das Selbst 45
interindividuelle Implikationen hat, sich die persönliche Epistemologie hin zur Akzeptanz von Konsens anstatt in Richtung auf unabhängiges Denken hin entwickeln könnte (Hofer & Pintrich 1997, 130). Kulturvergleichende Studien zu der Entwicklung epistemischer Überzeugungen liegen bisher jedoch wenig vor (vgl Kapitel 3.2.1). Schommer-Aikins & Easter (2008, 926) fanden Unterschiede in der schulischen Performanz und den epistemischen Überzeugungen von European Americans und Asian Americans. Europäischstämmige Amerikaner waren besser dazu in der Lage, zentrale Ideen aus Texten zu extrahieren, Lernstrategien anzuwenden sowie erfolgreicher darin sich auf Leistungstests vorzubereiten. Schommers Untersuchungen indizieren, dass epistemische Überzeugungen und Geschlecht als Ursache für die kulturellen Unterschiede gelten können. Während europäischstämmige Amerikaner stärker an graduelles Lernen und komplexes Wissen glauben, gehen asiatischstämmige Amerikaner eher von schnellem Lernen aus (Schommer-Aikins & Easter 2008, 927). Auch die Ursprünge metakognitiver Theorien werden in der jeweiligen Kultur gesehen, die durch Lernprozesse internalisiert wird. Sozial geteilte Konzepte zur Natur von Wissen werden Kindern durch informelle Erfahrung und formelle Erziehung vermittelt. Die offensichtlichste Form des Lernens erfolgt als direkte Lehre von kognitiven Fertigkeiten und der Koordination dieser Lernstrategien (vgl. Pressley et al. 1992, 11). Aber auch soziales Lernen innerhalb der Peergroup wird von Schraw & Moshman (1995, 364) zur Entwicklung der Metakognition betont, da kollektive Nachdenkensprozesse häufiger erfolgreiche Problemlösestrategien hervorbringen als individuelles Nachdenken, weil eigene Konzepte durch die Diskussion mit anderen geklärt werden. Nach Baxter Magolda (2002) sind epistemische Überzeugungen und die Strukturen, die sie begründen, sozial konstruiert und leisten einen Beitrag zur Sinnstiftung in Lernprozessen: „The meaning we make of our experience depends partially on our initial epistemic assumptions, partially on the nature of dissonance, we experience when we encounter others with different assumptions, and partially on the context in which the dissonance occurs” (Baxter Magolda 2002, 91).
Sinn und Bedeutung werden also anhand der Bewertung von Informationen durch bereits bestehende Vorstellungen und durch Überzeugungen bezüglich des Verständnisses und des Umgangs mit Wissen gesteuert und konstruiert. Gleichzeitig ist der Wirkungsgrad dieser Vorstellungen sowie die Art und Wei-
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se, wie neue Informationen eingeordnet und „verstanden“ werden, abhängig vom Kontext und von situativen Faktoren. Epistemisches Wissen wird im Laufe des Lebens sozial erworben und durch Auseinandersetzung mit der Umwelt und Konfrontation mit neuem Wissen weiterentwickelt. Epistemische Überzeugungen gelten demnach als implizite, sozial konstruierte Vorstellungen in menschlichen Verarbeitungs-prozessen. Damit sind bereits die zentralen Charakteristika epistemischer Überzeugungen genannt, die sie mit den impliziten und kulturell bestimmten Vorstellungen des didaktischen Konzeptes der Alltagsphantasien teilen. Das Verhältnis dieser beiden Konzepte wird Gegenstand der nächsten Kapitel sein. Die Frage, inwieweit epistemische Überzeugungen einen kognitiven Reifungsprozess durchlaufen und welchen Anteil die Auseinandersetzung mit Wissen an ihrer Entwicklung hat, kann anhand des derzeitigen Forschungsstandes nicht befriedigend beantwortet werden. Die aktuelle Forschung beschäftigt sich dafür intensiv mit der situationsabhängigen Ausrichtung epistemischer Überzeugungen, also wie stark epistemische Überzeugungen durch den Kontext oder den Rahmen der Situation oder etwa des Faches bestimmt werden. Da hier Möglichkeiten zur pädagogischen Einwirkung auf die Ausrichtung der persönlichen Epistemologie gesehen werden, sind Befunde zur Kontextabhängigkeit Mittelpunkt des folgenden Teils dieses Kapitels. 1.5 Determinanten persönlicher Epistemologie – Die Bedeutung des Kontextes Die von Baxter Magolda (2002) angesprochene Bedeutung des Kontextes ist ein ungeklärtes Problem in der Forschung zur persönlichen Epistemologie. Inwieweit die äußere Situation, wie das Lernumfeld oder Fach, aber auch die Unterrichtsführung durch den Lehrenden oder die persönliche Expertise des Individuums als Laie oder Experte in einem Fach auf die Art der epistemischen Überzeugungen einwirken, ist umstritten. Epistemische Überzeugungen sind sowohl allgemein als auch bereichsspezifisch untersucht worden. Bisher besteht Unklarheit in den Ansätzen, ob epistemische Vorstellungen ein bereichsübergreifendes Konstrukt darstellen oder ob sie domänenabhängig variieren. Dabei lassen sich auch Domänen wie etwa Naturwissenschaft oder Geisteswissenschaften als Kontextfaktoren verstehen, die auf epistemische Überzeugungen einwirken. Die Bedeutung des Kontextes in diesem weiten Sinne wird im Folgenden betrachtet, indem zentrale Forschungsergebnisse integriert werden.
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1.5.1 Kontextabhängige Muster epistemischer Vorstellungen Nach Hammer & Elby (2002) trägt der Kontext der Lernsituation entscheidend dazu bei, welche Ausprägung die epistemischen Überzeugungen eines Individuums haben. Ihnen zufolge wäre es merkwürdig anzunehmen, dass die Überzeugungen zu der Sicherheit von Wissen nicht abhängig wären davon, ob der Kontext eine philosophische Diskussion, eine wissenschaftliche Debatte oder ein alltäglicher Austausch von Informationen wäre. „There must be at least some variation with context, even holding the putative topic fixed. It would be strange to suppose that the belief a subject would express about the certainty of knowledge would not depend, for example, on whether that context is a philosophical discussion, a scientific debate, or an everyday exchange of information” (Hammer & Elby 2002, 173).
Ihrer Ansicht nach liegt das Problem der für die Forschungslandschaft üblichen Perspektive auf die persönliche Epistemologie von Lernenden in der Konzeption von epistemischen Überzeugungen als elementare Komponenten. Nach dieser Perspektive korrespondiert jede epistemische Überzeugung mit einem Gedächtnisinhalt oder „a unit of cognitive structure“, die ein Individuum entweder besitzt oder nicht (Hammer & Elby 2002, 170). Diese Blickweise auf die persönliche Epistemologie als aufgebaut aus „units“ nennen Hammer & Elby (2002) „the unitary perspective“. Sie liegt vielen Ansätzen zu epistemischen Überzeugungen zugrunde, die diese als Theorien oder Eigenschaften verstehen (vgl. Ansätze von Schommer, Hofer & Pintrich 1997). Die Vorstellungen werden als kleine Einheiten, quasi als kognitive „Atome“ der persönlichen Epistemologie begriffen (Louca et al. 2004, 58). Analog zu der Strategie der Hervorhebung und Konfrontation von „Misconceptions“ der Conceptual Change Forschung folgt daraus, dass unreife epistemische Überzeugungen destabilisiert und dann verändert werden müssen, um eine reifere persönliche Epistemologie zu erwirken. Wissenschaftler, wie Smith et al. (1994, 116) haben dies innerhalb der Forschung zu Conceptual Change kritisiert, da diese vermeintlich konstruktivistische Perspektive keine produktiven Ressourcen zur Konstruktion reiferer Überzeugungen anbietet. Es bleibt unklar, woraus Lernende ihre neuen „reiferen“ Vorstellungen aufbauen. Empirisch zeigen sich Inkonsistenzen in den Vorstellungen von Lernenden innerhalb und auch zwischen verschiedenen Domänen, dies wird in Anschnitt 1.5.3 genauer erläutert. Dies stützt die beschriebene Kritik an den bestehenden Konzeptionen der Conceptual Change Forschung: Stabile Vorstellungen mit
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entsprechenden kognitiven Korrelaten anzunehmen, würde Konsistenz innerhalb der gezeigten Vorstellungen von Lernenden auch in unterschiedlichen Kontexten erwarten lassen. Wird dagegen angenommen, dass Vorstellungen evolvieren – sich also weiterentwickeln können, bedeutet dies nach diSessa (1998) eine den Vorstellungen zugrundeliegende Struktur aus feineren Elementen anzunehmen. 1.5.1.1 Epistemologische Ressourcen – Die Grundbausteine der persönlichen Epistemologie Hammer & Elby gehen in ihrem Ansatz zur Struktur der persönlichen Epistemologie davon aus, dass Vorstellungen und Überzeugungen zu Wissen und Lernen in Abhängigkeit vom Kontext (etwa der Situation oder dem Schulfach) variieren (2002, 173). Ihnen zufolge besteht die persönliche Epistemologie einer Person aus einer Fülle von einzelnen Bausteinen, den epistemischen Ressourcen. Diese umfassen verschiedene Ausprägungen von epistemischen Vorstellungen, die je nach Kontext aktiviert werden. Welche Art der persönlichen Epistemologie in einem Zusammenhang wirksam wird, ist damit kontextabhängig. Lernende, die von einem Biologieunterricht kompliziertes Faktenlernen und das Nachvollziehen von Prozessen erwarten, halten die Wissenschaft der Biologie vielleicht für formal, absolut und vermittelt durch Autoritäten. Entspricht der Unterricht jedoch nicht diesen Erwartungen, sondern lassen sich die Lernenden in hitzige Debatten engagieren, in denen sie ihre eigene Perspektive verteidigen, dann spiegelt sich darin nach Hammer & Elby (2002, 174) kein plötzlicher globaler Wandel ihrer epistemischen Überzeugungen, sondern eine lokale Veränderung des Kontexts im Klassenraum, der in Lernenden einen produktiveren epistemischen Modus aktiviert. Hammer & Elby (2002, 174) zufolge muss eine adäquate Theorie persönlicher Epistemologie diese produktiven epistemischen Ressourcen und die kontextuelle Bedingtheit ihrer Aktivierung berücksichtigen. Die von Hammer & Elby (2002) postulierten „Epistemischen Ressourcen“ sind keine festgefügten Überzeugungen, die in Theorien oder Systemen organisiert sind. Hammer & Elby lehnen sich bei ihrer Konzeption vielmehr an die Überlegungen diSessas (2002) zu den Grundkomponenten von Konzepten an. Diese Überlegungen zu den „phenomenlogical primitives“ den sogenannten pprims werden im Folgenden kurz ausgeführt. DiSessa nimmt an, dass die von Lernenden selbst erzeugte Kausalität über die Welt aus einem reichen System von Elementen besteht, die nur in geringem Maße organisiert sind. Diese Elemente nennt er „phenomenological primitives“ kurz p-prims. Diese aus der erlebten Erfahrung stammenden Grundbausteine zur 49
Erklärung der Welt sind relativ einfach strukturiert und normalerweise von allgemeinen Erlebnissen abstrahiert. Ein Beispiel wäre die Erfahrung, dass bestimmte Effekte durch eine anhaltende Ursache aufrecht erhalten werden, wie etwa das Erlebnis, dass eine Glühbirne Strom braucht um Licht zu geben. Hieraus entwickelt sich ein Erklärungsmuster „Kräfte aufrechterhalten“, das auch in anderen Zusammenhängen als Erklärung herangezogen wird. Andere Erfahrungen zeigen dem Individuum indessen, dass das Ausschlagen eines Hammers eine Glocke zum Klingen bringen kann und in einer Vorstellung „Kräfte aktivieren“ resultiert. Diese p-prims erklären, wieso Lernende annehmen, dass sich ein Tisch nur bei anhaltender Kraft über den Boden bewegt (schieben), während sich ein Ball auch ohne weitere Krafteinwirkung (werfen) weiterbewegt, obwohl sie sich aus der wissenschaftlichen Perspektive mit dem gleichen Phänomen beschäftigen. P-prims koordinieren also Lernprozesse und sind nach diSessa et al. (2002) besonders prominent in frühen Stadien des Lernens. In verschiedenen Situationen werden verschiedene p-prims angetriggert und Lernende benehmen sich dann aus der Sicht des Lehrenden, als ob ihre Konzepte von Kontext zu Kontext variieren. Nach Hammer & Elby (2002, 176) bietet diSessas Ansatz eine theoretische Struktur, die die Kontextsensitivität des Denkens von Lernenden erklärt, da verschiedene p-prims in bestimmten Kontexten mehr oder weniger wahrscheinlich aktiviert werden. Die Entwicklung hin zu einem reiferen Verständnis geht nach dieser Konzeption auf eine Modifizierung der Aktivierung bestimmter pprims in bestimmten Situationen zurück. Hammer & Elby (2002) nehmen für die Konstitution persönlicher Epistemologie eine ähnliche Konstruktion an. Sie gehen davon aus, dass Menschen von klein auf Erfahrungen zum Wissen und seiner Genese machen. Damit verfügt jeder Mensch über eine Fülle epistemischer p-prims. Diese entstammen ebenfalls der erlebten Erfahrung und sind relativ einfach strukturiert und normalerweise von allgemeinen Erlebnissen abstrahiert: So verfügen schon kleine Kinder über Vorstellungen zu Wissen und gehen davon aus, dass Wissen von Autoritäten, wie etwa den Eltern, weitergegeben wird („Vermitteltes Wissen“). Gleichzeitig verfügen sie auch über Vorstellungen, um zu verstehen, dass bestimmtes Wissen ausgedacht ist oder abgeleitet wird. So denken sich bereits junge Kinder Namen für ihre Puppen aus oder machen Annahmen über die Vorhaben von Erwachsenen („Konstruiertes Wissen“).10 Diese epistemischen Miniannahmen sind Grundbausteine zur Erklärung 10
Hammer & Elby nehmen verschiedene Quellen für epistemische p-prims (also zum Verständnis der Natur von Wissen und seinen Ursprünge) an, beginnend mit der Auffassung von „Wissen als Stoff“. Dabei kann Wissen „als propagierter Stoff“ verstanden werden, also Wissen, das eine Person
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der Welt, die in bestimmten Situationen abhängig vom Kontext aktiviert werden. 1.5.1.2 Entwicklung als Veränderung von Aktivierungsmustern Das Rahmenmodell von Hammer & Elby (2002) schreibt sowohl Experten oder Erwachsenen als auch Novizen oder Kindern epistemische Überzeugungen zu (im Gegensatz zu Entwicklungsmodellen, wie etwa dem von Perry (1968), die epistemische Überzeugungen erst ab dem Studierendenalter konstatieren und untersuchen). Dabei werden die komplexen Vorstellungen von Experten als aufgebaut aus den feinkörnigen Ressourcen verstanden, die sich bereits bei Novizen oder Kindern finden lassen (Louca et al. 2004, 59). Die epistemischen Ressourcen von Kindern verstehen sie als implizit, kaum artikuliert und sensibel für kontextbedingte Veränderungen. Gerade die implizite Ausprägung epistemischer Überzeugungen hat also eine ausgeprägte Abhängigkeit von situativen Aspekten zufolge. Vor diesem Hintergrund nehmen Hammer & Elby (2002) an, dass Vorstellungen zu Wissen in ihren Grundzügen bereits im Kindesalter in multiplen Ausprägungen bestehen. Wie reif sich die persönliche Epistemologie eines Menschen in einem bestimmten Kontext darstellt, hängt dagegen davon ab, welche dieser „epistemischen Ressourcen“ aktiviert sind. Was also in der Literatur als unreife epistemische Vorstellung beschrieben wird, wie die Überzeugung „Wissen wird durch Autoritäten erlangt“, interpretieren Hammer & Elby (2002) als eine zu starke Aktivierung von epistemischen Ressourcen, wie der Vorstellung „Wissen ist ein propagierter Stoff“. Entwicklung und Lernen besteht nun folglich in Veränderungen der Aktivierung der einzelnen Komponenten und nicht in der Ersetzung oder Umarbeitung der einzelnen Elemente (Hammer & Elby 2002, 176; vgl. Hammer & Elby 2003, Hutchison & Hammer 2010). Pädagogische Bestrebungen zur Unterstützung der Ausbildung reiferer epistemischer Vorstellungen sollten daher als dadurch erlangt, dass jemand anderes es ihr vermittelt hat. Wissen kann aber auch „als freie Eingebung“ entstehen, oder es gibt Vorstellungen von „Wissen als produziertem Stoff“. Eine Vorstellung von „Wissen als direkter Wahrnehmung“ entsteht aus der unmittelbaren Sinneserfahrung: „Ich weiß, dass etwas da ist, weil ich es sehen kann.“ (Louca et al. 2004, 58). Auch verfügen Kinder über das Konzept von „inhärentem Wissen“, etwa wenn sie wissen, dass etwas in der Farbe Rot leuchtet. Eine weitere Kategorie bilden Ressourcen zum Verständnis von epistemologischen Aktivitäten und Formen, nämlich Auffassungen davon „etwas herausfinden“, „etwas schätzen“, „Ideen sammeln“ oder „überprüfen“. Die letzte Kategorie besteht aus Quellen zum Verständnis von Haltungen bezüglich Wissen wie „Zweifeln und Akzeptieren“ (Hammer & Elby 2002, 177).
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Modifizierung der Aktivierungsmuster der einzelnen Ressourcen verstanden werden, und nicht als Widerlegung bestehender Theorien (Hammer & Elby 2002, 180). Dies ist eine bedeutsame Perspektive auf den durchaus normativen Umgang mit epistemischen Überzeugungen in der Forschung: Die einzelnen epistemischen Ressourcen werden ihrer Funktionalität für das Individuum anerkannt. Nicht die vermeintlich „richtigen“ Vorstellungen stehen im Fokus sondern die „richtigen“ Aktivierungen. Aus dieser Perspektive ist es an Lehrenden Lernumgebungen und Kontexte zu schaffen, in denen die Aktivierung förderlicher epistemischer Ressourcen und damit die Verstärkung eines weltgewandten Systems epistemischer Überzeugungen unterstützt werden. In einem solchen Zusammenhang spielt auch die epistemische Ausrichtung von Lehrenden und ihre Haltung gegenüber den Lernenden und dem Lehren an sich eine tragende Rolle. 1.5.2 Soziale Unterstützung als Kontextfaktor Eine ergänzende Perspektive auf die Bedeutung von individuumsexternen sozialen Faktoren für epistemische Überzeugungen bieten die Untersuchungen von King und Kitchener. King & Kitchener (2004) nehmen in Anlehnung an die Skill Theory von Fischer (1980) an, dass in Personen epistemische Überzeugungen unterschiedlichen Reifegrades in Abhängigkeit von den umgebenden Bedingungen aktiviert werden. Der besondere Fokus liegt dabei auf dem sozialen Kontext und damit auf der Unterstützung und Anregung von Denkprozessen durch andere Menschen oder Produkte ihres Geistes. Um diesen Zusammenhang verständlich darzustellen, wird an dieser Stelle die Skill Theory von Fischer kurz skizziert. 1.5.2.1 Die Bedeutung des Kontextes in der Skill Theory In seiner Skill Theory konzeptionalisiert Fischer die kognitive Entwicklung (Kognition, Intelligenz, Lernen, Problemlösen) unter besonderer Berücksichtigung von Kontextfaktoren.11 Dabei verfügt keine Person über eine Fähigkeit 11
Kognition bezeichnet nach Fischer den Prozess, durch den ein Organismus operante, d.h. wirksame Kontrolle über die Quellen der Variation seines eigenen Verhaltens ausübt. Skills vereinen Organismus und Situation in sich, denn der Organismus kontrolliert seine Handlungen oder Aktionen immer in einem bestimmten Kontext. Für Fischer sind Person und Kontext in der psychischen Entwicklung zu gleichen Teilen maßgeblich (Fischer et al. 1993, 93): Kontext hat nicht nur Einfluss
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unabhängig von einem Kontext, sondern Fähigkeiten bedürfen des Zusammenwirkens von Person und Kontext. Verändert sich der Kontext, dann muss die Fähigkeit (Skill) an die neue Situation angepasst werden. Dabei modelliert Fischer den Kontext in seinen Untersuchungen als Situationen sozialer Interaktion und Unterstützung und lehnt sich damit eng an Vorstellungen von Wygotski (1987) an, demzufolge jede Tätigkeit, die Menschen lernen alleine auszuführen, zunächst von außen sozial unterstützt und dann internalisiert wird. Nach Fischers Studien zu den Auswirkungen „sozialer Unterstützung“ auf die Performanz von Individuen wächst Kompetenz abrupt, wenn Unterstützung geboten wird und sinkt wieder ab, wenn diese entzogen wird. Als unterstützende Bedingungen oder Support gelten in seinen Experimenten dabei Bedingungen, in denen das Individuum durch eine andere Person angeregt wird, auf einem höheren Komplexitätsniveau zu denken, oder über Gedächtnishilfen und Hinweise an diese komplexen Überlegungen erinnert wird (Fischer & Pruyne 2003, 170). Die Effekte einer solchen Form von sozialer Unterstützung sind dramatisch und produzieren scharfe Veränderungen in den Kompetenzlevels etwa von Kindern. Sie rufen Performanzen hervor, die weit über dem liegen, wozu die Kinder zuvor alleine in der Lage waren. Wird die soziale Unterstützung in anschließenden Untersuchungen wieder entzogen, fallen die Kinder auf ihr zuvor gezeigtes Komplexitätsniveau in ihren Performanzen zurück. Fischer et al. (1993) unterscheiden deshalb das functional und das optimal level of competence. Den funktionalen Level zeigen Personen besonders bei spontanem Verhalten (Low support context), während komplexeres Verhalten des optimalen Levels besonders unter Bereitstellung von Unterstützung gezeigt wird (High support context). Das Intervall zwischen den beiden Levels bezeichnet die Entwicklungsspanne (Developmental range) einer Person (Fischer et al. 1993, 99). 1.5.2.2 Nachdenklichkeit als Auswirkung sozialer Unterstützung epistemischen Urteilens Unterschiede in der Entwicklungsspanne zwischen optimalem und funktionalem Level zeigen sich bei Erwachsenen auch zu epistemischen Überzeugungen und wurden von Kitchener & Fischer (1990) in einer Studie zum reflektierten Urteiauf Verhalten, sondern ist Teil des Verhaltens. Werden die kontextuellen Bedingungen verändert, werden andere Fähigkeiten vom Organismus erfordert und genutzt. Skills bezeichnen dabei Fähigkeiten wie etwa Rad zu fahren, einen Motor zu reparieren, Freunden zuzuhören oder Varianzanalysen durchzuführen (Fischer et al. 1993, 96).
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len (Reflective Judgement) untersucht. Dabei wurden Studierenden im Alter von 14 bis 28 Jahren Dilemmata mit zwei gegensätzlichen Meinungen präsentiert, und sie wurden gebeten, ihre Position dazu zu formulieren und ihre Ermessensgrundlagen hierfür zu erklären – also Aufgaben zu lösen, bei denen ihre epistemischen Überzeugungen eine wesentliche Rolle spielen. In der Versuchsbedingung des unterstützenden Kontexts bekamen die Versuchspersonen für jedes Dilemma zudem prototypische Antworten anderer Personen, die auf höheren Niveaus angesiedelt waren, als die jeweilige Versuchsperson bisher selbst in der Lage war zu produzieren. Diese prototypischen Antworten beinhalteten also Überlegungen zum Umgang mit Wissen, die auf sophistizierteren epistemischen Überzeugungen beruhen, als zuvor von den Versuchspersonen gezeigt wurden. Diese Statements sollten die Versuchspersonen in ihren eigenen Worten erklären und alternative Argumentationen auf demselben Niveau entwickeln. Personen wurden dabei mit Statements zu den Problemen konfrontiert, die auf gestaffelten Ebenen über ihrem eigenen Reflexionsniveau liegen. Die Statements, die die Versuchspersonen zu erfassen in der Lage sind, indizieren den optimalen Level „epistemischer Kompetenz“ der Versuchspersonen. Auch hier zeigte sich ein deutlicher Unterschied in optimalem und funktionalem Level der Kompetenz von bis zu eineinhalb Stufen (Fischer et al. 1993, 107). Die Auseinandersetzung mit den Gedanken eines anderen Menschen befähigte die Studierenden also, die Probleme auf höheren Komplexitätsniveaus zu durchdenken, als sie zuvor alleine produzieren konnten. Das „Nach“-Denken der Argumente einer anderen Person und daran angelehnte eigene Argumentieren ließ sie damit für die begrenzte Zeit der gebotenen Unterstützung ein höheres Niveau epistemischer Auseinandersetzung erreichen. Offenbar wurden die Studierenden durch das Nachvollziehen der Argumentationsfiguren und Gedanken anderer Personen dazu angeregt, sich auf eine epistemisch komplexere Weise mit dem Problem auseinanderzusetzen – sie wurden sozusagen zur „Nachdenklichkeit“ angeregt. Fischer zufolge zeigt das Komplexitätsniveau, das sie mit Unterstützung zu erreichen in der Lage waren, das Potential und die Richtung ihrer weiteren Entwicklung. Die Überlegungen zur Developmental range und dem damit verbundenen Entwicklungspotential eines Individuums steht in Verwandtschaft mit der von Wygotski (1987) beschriebenen „Zone der nächsten Entwicklung“. Hiermit bezeichnet Wygotski die Distanz zwischen dem aktuellen Entwicklungsstand eines Kindes und der nächsthöheren Ebene. Das aktuelle Entwicklungsniveau drückt sich in der Fähigkeit aus, selbständig Probleme zu lösen. Die nächsthöhe-
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re Ebene ist das Potential, das ein Kind entwickelt, wenn es unter Anleitung einer fähigeren Person ein Problem löst: „Was das Kind heute in Zusammenarbeit und unter Anleitung vollbringt, wird es morgen selbständig ausführen können…Wenn wir also untersuchen, wozu das Kind selbständig fähig ist, untersuchen wir den gestrigen Tag. Erkunden wir jedoch, was das Kind in Zusammenarbeit zu leisten vermag, dann ermitteln wir damit seine morgige Entwicklung“ (Wygotski 1987, 83).
Nach Kitchener & Fischer (1990, vgl. auch Kitchener et al. 1993) können Individuen also auch in Bezug auf ihre epistemischen Überzeugungen sowohl auf einem funktionalen Level als auch auf einem optimalen Level persönlicher Epistemologie operieren, je nachdem wie sehr der soziale Kontext Unterstützungen ihrer Denkprozesse bereitstellt oder (nach Hammer & Elby 2002) welche Muster epistemischer Ressourcen aktiviert werden. Den Überlegungen von Hammer & Elby (2002) sowie Kitchener & Fischer (1990) zufolge spielen der Kontext und die Anforderungen der Situation also eine maßgebliche Rolle für die Ausprägung epistemischer Überzeugungen. Ihre Konzeptionen bieten Erklärungsmöglichkeiten für die in der Forschung häufig festgestellten Unterschiede in der Reife der epistemischen Überzeugungen, die eine Person in unterschiedlichen Zusammenhängen, etwa wissenschaftlichen Domänen zeigt (siehe Kapitel 1.5.3). Außerdem bieten beide Perspektiven Ansatzpunkte zur Unterstützung der Entwicklung einer weltgewandten und reflektierten persönlichen Epistemologie. Maßgeblich hierfür scheint die kognitive Stimulation und unterstützende Förderung der Individuen durch die Situation und den Lehrenden. 1.5.3 Domänenspezifische epistemische Überzeugungen Ein letzter Baustein in der Betrachtung des Kontextes für die Ausprägung epistemischer Überzeugungen, sind die Untersuchungen zu domänenspezifischen epistemischen Überzeugungen. Während sich in der Psychologie zumeist mit domänenübergreifenden allgemeinen Kognitionen zu Wissen und Wissenserwerb beschäftigt wird, werden in den Ansätzen anderer Forschungsdisziplinen domänen- bzw. disziplinspezifische epistemische Vorstellungen untersucht. Diesen Ansätzen liegt die Perspektive zugrunde, dass, ebenso wie Disziplinen in ihren Methoden der Wissensgenese variieren, auch Individuen unterschiedliche Vorstellungen über Wissen in diesen Disziplinen entwickeln.
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Untersuchungen von Jehng et al. (1993, 32) zufolge neigen Studierende von Sozial- und Geisteswissenschaften weniger als Studierende der Betriebsund Naturwissenschaften dazu, Wissen als sicher und stabil anzusehen. Während diese Untersuchungen Studierende unterschiedlicher Disziplinen miteinander vergleichen, fokussieren andere Untersuchungen die Wahrnehmung unterschiedlicher Disziplinen innerhalb einer Person. Nach Hofer (2000, 400) sehen Studierende Wissen in den Naturwissenschaften als sicherer und weniger veränderbar an als etwa in der Psychologie und neigen in psychologischen Kontexten stärker dazu, persönliches Wissen und eigene Erfahrungen als Grundlage für Erklärungen zu akzeptieren. Autoritäten und Experten gelten in den Naturwissenschaften stärker als Quelle des Wissens als in der Psychologie, außerdem wird das Erreichen der „Wahrheit“ durch Experten in den Naturwissenschaften mehr als in der Psychologie als möglich angesehen. Unklar ist bisher, in welchem Zusammenhang domänenspezifische epistemische Überzeugungen mit allgemeinen epistemischen Überzeugungen stehen. Trautwein et al. (2004) zufolge sind die Untersuchungen von Hofer (2000) und Jehng et al. (1993) in Bezug auf die Güte der eingesetzten Instrumente zur Untersuchung von Fachunterschieden kritisch zu hinterfragen. Die eingesetzten Items ließen den Versuchspersonen häufig einen großen Interpretationsspielraum, da sie oftmals unscharf formuliert seien und „die Untersuchungsteilnehmer selbst entscheiden, ob sie bei den Items an das Einmaleins, an empirische Beobachtungen oder an die Relativitätstheorie denken“ (Trautwein et al. 2004, 190). In ihrer Untersuchung mit theorienspezifischer Abfrage epistemischer Überzeugungen zur Vermeidung von Ambiguitäten bei dem Verständnis der Items, konnten Trautwein et al. (2004, 196) einen signifikanten Effekt allgemeiner epistemischer Überzeugungen auf theoriebezogene Überzeugungen nachweisen. Sie gehen davon aus, dass epistemische Überzeugungen im Sinne einer Mehrebenenkonzeption operationalisiert werden können, d.h. theorienspezifische Überzeugungen können als „Anwendungsfälle“ einer allgemeineren Sicht über Erkenntnismöglichkeiten angesehen werden. Alternativ wäre auch die Perspektive möglich, dass allgemeine epistemische Überzeugungen auf bereichsspezifischen Erfahrungen aufbauen (Trautwein et al. 2004, 196). Die Perspektive Hammer & Elbys (2002) zur kontextspezifischen Aktivierung von aus Erfahrung erwachsenen epistemischen Ressourcen bietet auch in diesem Zusammenhang ein plausibles Erklärungsmuster für die erläuterten Befunde. Die Frage nach der Unterscheidung domänen-übergreifender und domänenspezifischer epistemischer Überzeugungen lässt sich in die Frage nach 56
der Kontextabhängigkeit übersetzen. Die allgemeine Epistemologie eines Individuums wäre ein Konglomerat von aktivierten epistemischen Ressourcen, die als Bausteine aus konkreten Erfahrungen erworben wurden sind. Die Domäne nimmt demnach als Kontextfaktor Einfluss auf das Aktivierungsmuster innerhalb des Pools von erworbenen epistemischen Ressourcen. Die Betrachtung der Ausprägung persönlicher Epistemologie unter dem Aspekt des Kontextes greift weiter als die Unterscheidung nach Domänen und ist deshalb empfindlicher für verschiedene mögliche beeinflussende Dimensionen der Situation und des Gegenstandes. So umfasst Kontext neben der Domäne unter anderem auch Faktoren wie Persönlichkeit und Haltung des Lehrenden, Lernatmosphäre und zeitnahe Erlebnisse. Die domänenspezifische Betrachtung epistemischer Überzeugungen hat jedoch in der Forschung Vorteile der klaren Abgrenzung des Erkenntnisinteresses und Forschungsbereiches. Besonders innerhalb der Naturwissenschaften und der Mathematik bestehen vielfältige Untersuchungen zur persönlichen Epistemologie von Lernenden in Bezug auf das Fach.12 Zusammenfassend für die bisherigen Kapitelteile lassen sich epistemische Überzeugungen als implizite Vorstellungen zu Wissen und Wissenserwerb verstehen, die sich auf einer intuitiven Ebene auf die Verarbeitung von Informationen und damit auf Verstehen und Lernleistung auswirken. Epistemische Überzeugungen gelten dabei als sozial erworben, d.h. die persönliche Epistemologie eines Individuums ist durch sein kulturelles und gesellschaftliches Umfeld bestimmt. Dabei bilden epistemische Überzeugungen keine in sich kohärente und unidimensionale Struktur, sondern die persönliche Epistemologie ist vielmehr als ein komplexes und vielschichtiges Netz epistemischer Ressourcen zu verstehen, die aus lebensweltlichen Erfahrungen im Umgang mit der Umwelt entwickelt wurden. In welcher Konfiguration einzelne Elemente dieses Netzes aktiviert werden, wird durch den Kontext bestimmt. Faktoren wie Lernsituation, Lehrstil und soziale Unterstützung durch das Umfeld wirken sich darauf aus, welche epistemischen Überzeugungen im Lernprozess aktiviert werden. Ein besonderer Kontext beim Lernen stellt dabei die Domäne dar, in der gelernt wird, also etwa das Schulfach. In Anschluss hieran soll abschließend die 12 Dabei unterscheiden sich disziplinspezifische Forschungen in ihrem Fokus stärker als domänenübergreifende Untersuchungen zur persönlichen Epistemologie. Während Untersuchungen epistemischer Überzeugungen in naturwissenschaftlichen Disziplinen Fragen zu den drei Hauptbereichen Experiment, Rolle des Forschers und Fakten beinhalten, umfassen Untersuchungen zu den epistemischen Vorstellungen zur Mathematik Konstrukte, die Motivation und Selbstvertrauen betreffen (Hofer 2002, 11).
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spezifische Forschung zu epistemischen Überzeugungen im Zusammenhang mit der Wissensvermittlung in den Naturwissenschaften erläutert werden. Epistemische Überzeugungen bestimmen das Verständnis und den Umgang mit naturwissenschaftlichem Wissen und haben deshalb eine wichtige Rolle für die Akzeptanz und den Umgang mit Naturwissenschaft. Die Verortung der Bedeutung epistemischer Überzeugungen in der naturwissenschaftlichen Bildung ist an dieser Stelle wichtig, da epistemische Überzeugungen in dieser Arbeit in ihrer Bedeutung als implizite und kulturell bedingte Vorstellungen in naturwissenschaftlichen Lernprozessen untersucht werden. Zudem wird die Forschung zu epistemischen Überzeugungen in der vorliegenden Arbeit mit einem weiteren Forschungskonzept der Naturwissenschaftsdidaktik, dem Konzept der Alltagsphantasien, in Beziehung gesetzt. Die bedeutende Rolle epistemischer Überzeugungen mit Umgang mit naturwissenschaftlichen Inhalten ist in den letzten Jahrzehnten verstärkt in den Fokus der naturwissenschaftsdidaktischen Forschung genommen worden. Die Entwicklung einer sophistizierten und aufgeschlossenen persönlichen Epistemologie ist erklärtes Bildungsziel von Konzepten wie Scientific Literacy. Das folgende Kapitel dient dazu die Bedeutung epistemischer Überzeugungen für den Bildungsanspruch naturwissenschaftlichen Unterrichtes zu fassen sowie die bestehenden Erkenntnisse zu den spezifischen epistemischen Überzeugungen von Lernenden zu Naturwissenschaften darzustellen. 1.6 Persönliche Epistemologie und Nature of Science – Epistemische Überzeugungen zu Naturwissenschaften Die fachdidaktische Forschung untersucht die domänenspezifischen Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb in konkreten fachlichen Kontexten, die in der Naturwissenschaftsdidaktik gemeinhin als individuelle subjektive Ansichten, Auffassungen und Theorien über die Genese, Ontologie, Bedeutung, Rechtfertigung und Gültigkeit von Wissen in den Wissenschaften verstanden werden (Priemer 2006, 160). In der Domäne der Natur-wissenschaften findet ein Großteil der Forschung zu epistemischen Überzeugungen im Forschungsbereich Nature of Science statt. Mit dem Begriff Nature of Science (NoS) oder Natur der Naturwissenschaften (NdN) lässt sich die naturwissenschaftdidaktische Forschung fassen, in der sich mit den Vorstellungen von Lernenden, Lehrenden, der Gesellschaft, aber auch der Wissenschaftler zu der Funktionsweise und Kultur des Systems „Wissenschaft“ beschäftigt wird. Die Forschung zu Nature of Science geht in 58
ihren Grundlagen auf die Theoreme der Wissenschaftsphilosophie, Wissenssoziologie und vor allem der Wissenschafts-theorie und Wissenschaftsethik zurück. Forschungen im Bereich NoS (McComas et al. 1998, 4) umfassen Beschreibungen dessen, was Naturwissenschaft ist, wie Naturwissenschaft funktioniert, wie Natur-wissenschaftler als eine soziale Gemeinschaft operieren und wie die Gesellschaft selbst wissenschaftliche Bestrebungen lenkt und auf sie reagiert. McComas et al. (1998, 5) charakterisieren NoS als einen Forschungsbereich, der Lehrende dabei leiten kann, Naturwissenschaften in einer adäquaten Weise an Lernende zu vermitteln. Höttecke (2001, 7) zufolge beinhaltet Nature of Science Untersuchungen der Vorstellungen Lernender zur Praxis naturwissenschaftlichen Forschens, dem epistemologischen Status naturwissenschaftlicher Wissensbestände und den Naturwissenschaftlern als lebende und arbeitende Menschen. An dieser Stelle wird deutlich, dass Forschung im Bereich NoS und die Forschung zu epistemischen Überzeugungen in den Naturwissenschaften auf breiter Front ineinandergreifen und sich in ihrem Erkenntnisinteresse überlappen. Die Forschung zu den Vorstellungen Lernender und Lehrender in Bezug auf Wissen und die Genese von Wissen in den Naturwissenschaften ist vor dem Hintergrund des naturwissenschaftlichen Bildungsanspruches zu verstehen. 1.6.1 Die Bedeutung epistemischer Überzeugungen für die naturwissenschaftliche Bildung Die Beurteilung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der SchülerInnen in PISA 2006 stützt sich auf das Konzept der naturwissenschaftlichen Grundbildung, die definiert ist als der Umfang, in dem eine Person „naturwissenschaftliches Wissen besitzt und dieses Wissen anwendet, um Fragestellungen zu identifizieren, neue Kenntnisse zu erwerben, naturwissenschaftliche Phänomene zu erklären und aus Beweisen Schlussfolgerungen in Bezug auf naturwissenschaftliche Sachverhalte zu ziehen“ sowie der Umfang, indem eine Person „die charakteristischen Eigenschaften der Naturwissenschaften als eine Form menschlichen Wissens und Forschens versteht; erkennt, wie Naturwissenschaften und Technologie unsere materielle, intellektuelle und kulturelle Umgebung prägen“ und „sich mit naturwissenschaftlichen Themen und Ideen als reflektierender Bürger auseinandersetzt“ (OECD 2007, 13). Für den Erwerb neuer Erkenntnisse sowie für die Einsicht in Naturwissenschaften als eine Form menschlichen Wissens spielen epistemische Überzeu59
gungen eine zentrale Rolle. International wird die naturwissenschaftliche Grundbildung unter dem Begriff der Scientific Literacy diskutiert. Lernende sollen Anteil am gesellschaftlichen Kanon über Wissenschaft und Technik haben und gleichzeitig ein individuelles Verständnis von beidem entwickeln. Wissenschaftliche Lesefähigkeit befähigt Individuen wissenschaftlich signifikante Informationen zu interpretieren und sich in der jeweiligen „Kultur“ einer Wissenschaft, also etwa ihrem Weltbild, ihrer Methodologie und Geschichte zurechtzufinden (Bybee 1997, 44). Das Individuum soll in ein gesellschaftlich verankertes Wissenschaftsverständnis hineinwachsen. Im Zuge dieses „Teilwerdens“ wird der Lernende gleichzeitig unabhängig und mündig, denn er wird in die Lage versetzt, sich eine eigene Meinung zu Prozessen oder Problemen einer wissenschaftlichen Domäne zu bilden. Scientific Literacy ist jedoch kein unumstrittenes Konzept: Shamos (2002) zufolge ist Scientific Literacy ein utopisches Ziel. Seiner Ansicht nach zeigen nach einem Jahrhundert der Bemühungen um die Erreichung von Scientific Literacy lediglich fünf Prozent der erwachsenen amerikanischen Bevölkerung „echte“ Literarität, weshalb Scientific Literacy ein für Shamos unerfüllbarer Mythos ist (Evans 1997, 108). Ihm zufolge sollte das Ziel naturwissenschaftlichen Unterrichtes „Scientific Awareness“, also ein Naturwissenschaftliches Bewusstsein sein, durch welches die Öffentlichkeit zum einen Akzeptanz für die Arbeit von Wissenschaftlern aufbauen soll und zum anderen in die Lage versetzt werden soll, wissenschaftliche Experten als Quelle informierter Meinungen zu sozialen Fragen wissenschaftlichen und technologischen Inhalts zu nutzen (Evans 1997, 116). Andere Rechtfertigungen für die Bedeutung naturwissenschaftlichen Unterrichtes, wie ihr rein intellektueller Wert, ihre Bedeutung im modernen Leben, die Wichtigkeit Naturwissenschaften zu verstehen um als mündiger Bürger entscheidungsfähig zu sein, bezeichnet Shamos als „durchaus vernünftig“, erachtet sie in der Praxis jedoch als sinnlos (Shamos 2002, 46). Ihm zufolge müssen Lernende vor allem verstehen, wie die Menschheit ihr naturwissenschaftliches Wissen erlangte, wie naturwissenschaftliche Gesetze und Fakten etabliert werden und warum Menschen ihnen vertrauen (Shamos 2002, 48). Ein Verständnis dafür, wie Naturwissenschaftler denken und welche Herangehensweise sie im Umgang mit natürlichen Phänomenen wählen, sei vor allem durch Verständnis für naturwissenschaftliche Methoden zu leisten. Shamos lehnt damit das Streben nach umfassender Scientific Literacy ab, nach der „jeder sein eigener naturwissenschaftlicher Experte sein kann“ (Shamos 2002, 63). Diese Perspektive wird in der Fachwelt häufig als pessimistisch und elitär bezeichnet.
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Der anzustrebende Umfang naturwissenschaftlicher Grundbildung ist also umstritten. Beide Positionen rücken jedoch die Entwicklung sophistizierter epistemischer Überzeugungen zur Genese und Konstitution von Wissen in den Naturwissenschaften in das Zentrum naturwissenschaftlicher Bildungsbemühungen. Ein Ziel des naturwissenschaftlichen Unterrichtes besteht also darin, dass SchülerInnen adäquate und damit realitätsnahe Vorstellungen über Naturwissenschaft entwickeln (Höttecke 2001, 7). Um dieses Ziel natur-wissenschaftlicher Bildung zu erreichen, sollte der Unterricht Lernenden ermöglichen, einen Blickwinkel auf die Wissenschaft zu entwickeln, der über naturwissenschaftliche Fachbegriffe, Konzepte und Methoden hinausgeht und ein Verständnis für das Unterfangen „Wissenschaft“ an sich fördert. Sophistizierte epistemische Überzeugungen zu Naturwissenschaften korrespondieren mit einer Einsicht in die Funktionsmechanismen, Arbeits-weisen und Abhängigkeiten des wissenschaftlichen Systems. Daher ist es notwendig als Lernender die Möglichkeit zu bekommen, Einsichten in die Geschichte naturwissenschaftlicher Ideen, die Natur der Naturwissenschaften und die Rolle der Wissenschaft und Technologie in der Gesellschaft sowie im persönlichen Leben zu erlangen. Moore (1988, 445) zufolge müssen Lernende Wissenschaft soweit verstehen, dass sie sich in der modernen Welt „zuhause“ fühlen können. Forschung zu den Vorstellungen von Lernenden zur Funktionsweise von Naturwissenschaft ist Anliegen des Forschungsbereichs Nature of Science. 1.6.2 Die Forschung zu Nature of Science Die Forschung zur Natur der Naturwissenschaften oder Nature of Science vereint verschiedene Disziplinen und Perspektiven in sich. McComas & Olson (1998, 49) zufolge tragen die vier großen Disziplinen Philosophie, Geschichte, Soziologie und Psychologie Einsichten und Perspektiven zu der Natur der Naturwissenschaften bei. Nach Lederman et al. (2002, 498) verweist der Term Nature of Science auf die Epistemologie und Soziologie der Wissenschaft – wobei Wissenschaft als eine Art und Weise des Wissens verstanden werden muss – oder auf die Werte und Überzeugungen, die wissenschaftlichem Wissen und seiner Entwicklung inhärent sind. Dabei weisen Lederman et al. (2002) ausdrücklich darauf hin, dass auch die Auffassungen von der Natur der Naturwissenschaften umstritten und vielschichtig sind. Nicht alle Philosophen oder Wissenschaftler haben denselben Begriff von naturwissenschaftlichen Arbeitsweisen, Mechanismen und Gruppengefügen. Dennoch lassen sich grundlegende, 61
allgemein geteilte Vorstellungen in Bezug auf NoS beschreiben: Naturwissenschaftliches Wissen ist vorläufig, empirisch, theorie-geladen; teilweise ein Produkt menschlicher Folgerungen, Imagination, und Kreativität und sozial sowie kulturell eingebettet (Lederman et al. 2002, 499). Die Forschung zur Natur der Naturwissenschaften lässt sich in drei Bereiche gliedern, die im Folgenden kurz und beispielhaft an einzelnen Studien dargestellt werden. (1) Auf einer deskriptiven Ebene werden verbreitete Vorstellungen von Lernenden zu NoS erfasst. (2) Auf der Ebene des Lernens werden die Zusammenhänge von Vorstellungen zu NoS und Lernerfolg untersucht. (3) Zudem wird untersucht, auf welche Weise die Ausbildung adäquater Vorstellungen zu NoS im Unterricht gefördert werden kann. 1.6.2.1 Vorstellungen zu Nature of Science Die Forschung zu NoS hat besonders die weit verbreiteten Vorurteile und Vorstellungen zur Funktionsweise von Wissenschaft und Stereotype von Wissenschaftlern offenbart und sich mit den Auswirkungen dieser Vorstellungen auf die Auseinandersetzung von Lernenden mit naturwissenschaftlichen Inhalten beschäftigt. McComas (1998, 65) benennt fünfzehn typische „Mythen“ über Naturwissenschaft, die in der Gesellschaft bestehen, wie etwa „Es gibt die eine wissenschaftliche Methode“, „Wissenschaft ist ein einzelgängerisches Streben“, „Naturwissenschaft und ihre Methoden erbringen absolute Beweise“, „Wissenschaftler sind besonders objektiv“ oder „Neues naturwissenschaftliches Wissen wird in der Scientific Community sofort akzeptiert“. Diese Mythen korrespondieren mit epistemischen Überzeugungen zu der Sicherheit und Eindeutigkeit naturwissenschaftlichen Wissens (siehe Kapitel 1.5.3). Im Bereich NoS bestehen vielfältige Untersuchungen zu den Vorstellungen Lernender von Naturwissenschaftlern und naturwissenschaftlichem Arbeiten, dem epistemischen Status naturwissenschaftlichen Wissens sowie naturwissenschaftlicher Wissensproduktion und ihren Bedingungen.13 Besonders die letzten beiden Punkte entsprechen den von Hofer & Pintrich (1997, vgl. Kapitel 1.1.2) 13
Elder (2002, 348) zufolge besteht kein Standardkonzept zur Untersuchung epistemischer Überzeugungen in den Naturwissenschaften, dennoch ließen sich fünf zentrale Konstrukte ausmachen, zu denen Vorstellungen erhoben würden: (1) der Sinn und Zweck von Naturwissenschaft, (2) die Veränderlichkeit von Wissenschaft, (3) die Rolle von Experimenten, (4) die Kohärenz von Wissenschaft und (5) die Quelle naturwissenschaftlichen Wissens.
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benannten Dimensionen epistemischer Überzeugungen zur Beschaffenheit von Wissen, Nature of knowledge (Sicherheit und Wahrheit von Wissen) und zur Wissensbegründung, Nature of knowing (Entstehung und Rechtfertigung von Wissen). Besonders interessant sind Untersuchungen zu dem Bild, das Lernende von Naturwissenschaftlern hegen. Hierin offenbaren sich Perspektiven der Lernenden auf den Menschen. Da dieser Aspekt in einem späteren Kapitel (3.5) aufgegriffen wird, werden Befunde zu Wissenschaftlerstereotypen an dieser Stelle genauer ausgeführt. Viele Studien legen die Existenz eines Wissenschaftlerstereotyps nahe (Solomon 1993, 22; Carey et al. 1989), das unmittelbar mit epistemischen Überzeugungen korrespondiert: Der als intelligent und im Austüfteln von Experimenten als kreativ eingestufte Naturwissenschaftler erfasst in seinen Experimenten eine vorstrukturierte Natur und dokumentiert sie. Derartige Vorstellungen wissenschaftlicher Tätigkeit implizieren die Vorstellung der Existenz wahren und sicheren Wissens über die Natur, welches der Welt über geeignete Experimente quasi nur „entlockt“ werden muss. Gleichzeitig wird der Naturwissenschaftler zum neutralen Datenerfasser reduziert (Höttecke 2001, 9), der objektiv Beobachtungen sammelt und Ergebnisse zusammenfasst. Untersuchungen zur Wahrnehmung der Person des Wissenschaftlers aus dem englischsprachigen Raum (Solomon 1993, 24; vgl. auch Driver et al. 1996, Ryan 1987) legen insgesamt nahe, dass im Alter von 14 Jahren vier Vorstellungstypen von Wissenschaftlern unterschieden werden können: Der verrückte und gefährliche Wissenschaftler, die hilfsbereite Autorität, der Techniker und der intellektuelle Wissenschaftler. Über diese Spannbreite von Vorstellungen hinweg gelten Wissenschaftler jedoch meist als männliche, intelligente, vereinzelt arbeitende Individuen fortgeschrittenen Alters. Die Mehrheit der Studien attestiert SchülerInnen ein naiv-realistisches Wissenschaftsverständnis (Carey et al. 1989, Ryan & Aikenhead 1992), mit dem naturwissenschaftliche Modelle und Theorien als Abbildungen der Realität und damit als sicher und stabil verstanden werden. Die vorläufige Natur wissenschaftlicher Vorstellungen und die Einflüsse historischer und kultureller Gegebenheiten auf Naturwissenschaft werden kaum wahrgenommen. Dass wissenschaftliche Erkenntnisse in dem sozialen Raum einer wissenschaftlichen Gemeinschaft entstehen, die ebenso gruppendynamischen Prozessen (Hierarchien, Konkurrenz), Zeitgeist und Denkstilen unterlegen ist wie jedes andere soziale Gefüge, wird unterschätzt. Nach Driver et al. (1996, 140) sind sich Lernende meist nicht darüber im Klaren, dass außerwissenschaftliche Einflüsse auf wissenschaftliche Forschungen einwirken und natur-wissenschaftliche Erkenntnisse 63
als sozial geprägte Konstrukte von vielen wissenschaftsinternen sowie -externen Faktoren abhängen. 1.6.2.2 Zusammenhänge von Nature of Science und Lernen Ähnlich den Studien zum Einfluss epistemischer Überzeugungen auf das Lernen, legen Studien im Bereich NoS nahe, dass adäquate Vorstellungen zur Natur der Naturwissenschaften mit erfolgreichem Lernen natur-wissenschaftlicher Zusammenhänge einhergehen. Johnson & Peeples (1987, 95) zufolge geht ein gereiftes Verständnis von Nature of Science etwa mit einer stärkeren Akzeptanz der Evolutionstheorie einher. Werden Theorien als veränderbare, jedoch mit wissenschaftlichen Belegen abgesicherte Erklärungsversuche verstanden, erfolge eine vertiefte Auseinandersetzung auch entgegen eigener abweichender (etwa religiös motivierter) Vorstellungen. Songer & Linn (1991, 772) zeigen die Bedeutung eines dynamischen Wissenschaftsverständnisses für die Fähigkeit ein konzeptuelles Verständnis von Themen, wie etwa Thermodynamik, zu entwickeln. Während ein statisches Verständnis naturwissenschaftliches Wissen als eine Ansammlung von Fakten konzipiert, die auswendig gelernt werden müssen, geht eine dynamische Perspektive davon aus, dass Wissen veränderlich ist. Damit einher geht die Überzeugung, dass die Bedeutung wissenschaftlicher Ideen verstanden und die einzelnen Konzepte verknüpft werden müssen. Diese Ergebnisse decken sich mit bereits berichteten Untersuchungen von Schommer (1993) zum Zusammenhang von epistemischen Vorstellungen zur Komplexität von Wissen und dem erfolgreichen Monitoring des eigenen Verstehens (siehe Abschnitt 1.2). In der Studie von Songer & Linn (1991) zeigte eine dritte Gruppe von Lernenden ein gemischtes Wissenschaftsverständnis mit statischen und dynamischen Anteilen. Bell & Linn (2002, 333) gehen deshalb davon aus, dass die Vorstellungen zu NoS als Repertoire von Ideen vorliegen, die in komplexen kognitiven Systemen eingebettet sind und in Abhängigkeit von Situation und Kontext aktiviert werden. Auch diese Konzeption zeigt deutliche Parallelen zum Ansatz der „epistemologischen Ressourcen“ von Hammer & Elby (vgl. Kapitel 1.4.1). Es gibt jedoch auch gegensätzliche Befunde: Bell & Lederman (2003) untersuchten die Zusammenhänge von Vorstellungen zu NoS von Erwachsenen für Entscheidungsprozesse in Bezug auf naturwissenschaftliche und technologische Probleme. Ihren Befunden zufolge spielen vornehmlich soziale, politische und ethische Überlegungen sowie persönliche Werte in den Entscheidungsprozessen 64
eine Rolle, wogegen die Vorstellungen zu NoS kaum Einfluss auf die Entscheidungsprozesse zeigten (Bell & Lederman 2003, 367). Entscheidungsprozesse sind komplexe kognitive Prozesse, für die ein Zusammenwirken von Vorstellungen zu NoS mit anderen Vorstellungen anzunehmen ist. Es bedarf weiterer Erkenntnisse zu dem Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen mit anderen mentalem Komponenten und der Art und Weise ihrer Aktivierung, um die genauen Mechanismen in komplexen kognitiven Prozessen durchschauen zu können. 1.6.2.3 Möglichkeiten der Förderung adäquater Vorstellungen zu Nature of Science Da sich adäquate Vorstellungen zur Natur der Naturwissenschaften offenbar positiv auf das Lernen in den Naturwissenschaften auswirkt, werden auch in der Forschung zu NoS Untersuchungen dazu angestellt, wie sich bestimmte Lehrstrategien oder Unterrichtskonzeptionen auf die Ausprägung der Vorstellungen zu NoS auswirken. Beispielsweise werden hierbei die Einflüsse von Inquiry-Based Science Education (IBSE) auf die Ausprägung der Vorstellungen zu NoS untersucht (Elder 2002). Inquiry-Based Science Education (IBSE) basiert auf dem aktiven Beobachten und Experimentieren der SchülerInnen, die angeleitet durch den Lehrenden selbstständig ihr Wissen entwickeln. Elder (2002, 360) zufolge zeigen die SchülerInnen in Folge dieses Unterrichtes gemischte Vorstellungen zum Wesen der Naturwissenschaften. Sie verstehen wissenschaftliches Wissen als ein sich entwickelndes Konstrukt, das durch Nachdenken und Testen entsteht. Die Lernenden zeigen jedoch wenig Verständnis für die Bemühungen der Wissenschaft Phänomene zu erklären.14
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Elder (2002, 360) untersuchte die Vorstellungen von FünftklässlerInnen in sogenannten „hands-on Science Classrooms“. In diesem Unterricht wird Lernen nach dem Ansatz des Inquiry-BasedLearning organisiert. Inquiry ist dabei definiert als der intentionale Prozess des Diagnostizierens von Problemen, des kritischen Hinterfragens von Experimenten und ihren Alternativen, des Planens von Untersuchungen, des Konstruierens von Vermutungen, der Suche nach Informationen, der Konstruktion von Modellen und Diskussionen mit Gleichaltrigen und des Formulierens von kohärenten Hypothesen (Linn et al. 2004, 4). Elders Studie (2002, 360) offenbart gemischte Vorstellungen bei den untersuchten SchülerInnen: Die Lernenden zeigen geringes Verständnis für die Bemühungen der Wissenschaft Phänomene zu erklären. Der Sinn von Wissenschaft besteht für Lernende demnach eher darin, sich in Aktivitäten wie Projekten oder Beobachtungen zu engagieren. Andererseits verstehen sie wissenschaftliches Wissen als ein sich entwickelndes Konstrukt, das durch Nachdenken und Testen entsteht. Zur Quelle von Ideen schrieben sie sich selbst passive Rollen (aus Büchern,
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Akerson & Hanuscin (2007, 673) zeigten einen positiven Einfluss der expliziten Reflektion der Bedeutung von Scientific Inquiry und NoS bei Lehrenden auf die Reife ihres Verständnisses von NoS sowie auf die Vorstellungen der Lernenden. Dieser explizit reflexive Ansatz intendiert Lernende durch Instruktion, Diskussion und Hinterfragen im Kontext von Aktivitäten, Erforschungen und historischen Beispielen auf relevante Aspekte von NoS aufmerksam zu machen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Entwicklung sophistizierter epistemischer Überzeugungen zentrales Ziel natur-wissenschaftlicher Grundbildung ist. In der Forschung zu Nature of Science werden zur Bedeutung und Entwicklung adäquater Vorstellungen zum Wesen der Naturwissenschaft für das Lernen in den Naturwissenschaften parallele Befunde berichtet, wie sie zu der Bedeutung epistemischer Überzeugungen für Lernprozesse bestehen. Adäquate Vorstellungen zu NoS stehen mit dem erfolgreichen Lernen naturwissenschaftlicher Inhalte in Verbindung. Gleichzeitig weisen die Befunde zu den Vorstellungen von Lernenden über das Wesen und die Funktionsweise von Naturwissenschaften darauf hin, dass SchülerInnnen häufig über wenig adäquate Vorstellungen verfügen. Naturwissenschaftliche Modelle und Theorien werden als wahr und stabil wahrgenommen (Carey et al. 1989, Ryan & Aikenhead 1992). Dies geht mit epistemischen Überzeugungen einher, nach denen naturwissenschaftliches Wissen als sicher und wahr angesehen werden kann (Hofer 2000). Vor diesem Hintergrund besteht also gerade in den Naturwissenschaften großer Bedarf an Erkenntnissen zum Aufbau und der Entwicklung der persönlichen Epistemologie, um Methoden und Unterrichtsarrangements zu entwickeln, die die Entwicklung sophistizierter epistemischer Überzeugungen und adäquater Perspektiven auf Naturwissenschaften unterstützen. Forschungsergebnisse zu NoS weisen in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Lernsituation für die Entwicklung adäquater Vorstellungen zum Wesen der Naturwissenschaften und damit zur Entwicklung reifer epistemischer Überzeugungen hin, die in besonderem Maße durch die Lehrenden und die von ihnen etablierten Kontexte bestimmt wird.
Fernsehen, von Erwachsenen oder MitschülerInnen) und Wissenschaftlern aktive Bemühungen (durch Nachdenken etc.) zu.
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1.7 Resümee Wie in diesem Kapitel umfassend dargelegt wurde, wird die Auseinandersetzung, Verarbeitung, Überprüfung und Bewertung von Wissen maßgeblich durch die epistemischen Überzeugungen eines Individuums beeinflusst. Sie wirken auf die Prozesse der Informationsverarbeitung beim Lernen und beeinflussen in einer Management-Funktion das Denken und Verstehen (Kapitel 1.3.2). Die grundlegenden Entscheidungen zum Umgang mit Informationen erfolgen dabei selten bewusst, denn epistemische Überzeugungen sind den wenigsten Menschen bei ihren tagtäglichen Entscheidungen kontrolliertem Zugriff unterworfen. Vielmehr können epistemische Überzeugungen als sozial geteilte Intuitionen zu Wissen und Wissenserwerb verstanden werden (Jehng et al. 1993). Als sozial erworbene Vorstellungen sind sie kulturell geformt, d.h. es kann angenommen werden, dass Angehörige unterschiedlicher Kulturen voneinander verschiedene persönliche Epistemologien entwickeln. Um epistemische Überzeugungen zu verstehen, müssen sie also im Zusammenhang mit Sozialisation und Enkulturation einer Person betrachtet werden. Dies geschieht im Kapitel 3. Zudem sind epistemische Überzeugungen eng verknüpft mit Überzeugungen zu Lernen und Intelligenz sowie Persönlichkeitsmerkmalen. Eine personenspezifische Disposition wird in der vorliegenden Arbeit als zentral für die persönliche Epistemologie erachtet: Die Bereitschaft zum Nachdenken. Sie wird deshalb als epistemisches Motiv in dieser Arbeit im Zusammenhang mit epistemischen Überzeugungen betrachtet (Kapitel 1.1.2). Dies ist ein erster Schritt epistemische Überzeugungen nicht als isoliert wirkende Systeme von Vorstellungen zu betrachten, sondern sie als interaktive Komponenten von Denkprozessen zu untersuchen. In diesem Zusammenhang wird die Bedeutung des epistemischen Motivs in Kapitel 3 genauer erläutert. Wichtiger Aspekt für das Verständnis epistemischer Überzeugungen als interaktiver Komponenten von Denkprozessen ist der implizite Charakter epistemischer Überzeugungen. Bei der Betrachtung epistemischer Überzeugungen als Bestandteile metakognitiver Theorien (Kapitel 1.2) wurde deutlich, dass epistemische Überzeugungen in Lernsituationen vornehmlich implizit im Lernprozess wirken. Gerade weil epistemische Überzeugungen implizit vorliegen und beim Lernen automatisch aktiviert werden, ohne dass der Lernende sie reflektiert, spielt der Kontext eine besondere Rolle für die Aktivierung epistemischer Überzeugungen. Die Konzeption der „epistemischen Ressourcen“ von Hammer & Elby (2002) leistet einen wichtigen Beitrag, um zu verstehen wie sich die persönliche 67
Epistemologie beim Lernen tatsächlich einschaltet. Als Pool für eine Fülle von einzelnen Bausteinen verändert die persönliche Epistemologie ihre Aktivierungskonfiguration abhängig davon, welche der epistemischen Vorstellungen gerade vom Kontext aktiviert werden. Wie reif sich die persönliche Epistemologie eines Menschen in einem bestimmten Kontext darstellt, ist also bestimmt dadurch, welche der epistemischen Ressourcen aktiviert sind. Um reifere epistemische Überzeugungen etwa zu Naturwissenschaften zu fördern, müssen deshalb nach Hammer & Elby (2002) keine neuen epistemischen Überzeugungen erlernt oder alte Überzeugungen ersetzt werden, sondern neue Muster epistemischer Überzeugungen für den jeweiligen Kontext aktiviert werden. Wird diese neue Aktivierungskonfiguration häufiger in dieser Form in einem naturwissenschaftlichen Kontext abgerufen, dann verinnerlichen die Lernenden ein reiferes Muster epistemischer Überzeugungen im Zusammenhang mit Naturwissenschaften. Es ist damit zentral Lernkontexte zu schaffen, in denen die Aktivierung förderlicher epistemischer Ressourcen und damit die Verstärkung eines weltgewandten Systems epistemischer Überzeugungen gefördert werden. Kitchener & Fischer (1990) haben gezeigt, wie Nachdenken sozial unterstützt werden kann und wie in der Folge Denken auf einem höheren epistemischen Niveau erreicht wurde. Hieran wird in dem folgenden Kapitel angeknüpft, indem ein Konzept und Forschungsprogramm vorgestellt wird, in dem Reflexion und damit die Anregung zum Nachdenken zentraler Bestandteil ist. Das Konzept und Forschungsprogramm Alltagsphantasien beschäftigt sich mit kulturell erworbenen, tief verankerten Vorstellungen zu alltäglichen Phänomenen, die Einfluss auf die Perspektive von Lernenden auf Lerngegenstände und deren Bewertung haben. Wie die epistemischen Überzeugungen werden auch Alltagsphantasien als implizite, kontextabhängige und sozial erworbene Wissensstrukturen verstanden, die Lernprozesse beeinflussen. Ihre Quellen liegen in den in einer Gesellschaft geteilten Mythen und Geschichten, die kulturell typische Welt- und Menschenbilder transportieren. Da diese im alltäglichen Leben ständig präsent sind, werden sie im Laufe der Sozialisation verinnerlicht. Alltagsphantasien gelten daher als Spuren verinnerlichter Welt- und Menschenbilder, die auf einer intuitiven Ebene wirken – also unkontrolliert und automatisch aktiviert und generiert werden und Einfluss auf die Perspektive von Lernenden auf Gegenstände und Phänomene und deren Bewertung haben. Alltagsphantasien und epistemische Vorstellungen weisen folglich bedingt durch ihre verwandte Genese gemeinsame Charakteristika auf, und beide beeinflussen weitgehend unbewusst den Zugang eines Individuums zu einem neuen Phänomen oder Gegenstand. Beide Formen von Wissen stellen Assoziationen 68
dar, die größtenteils unmerklich in das Denken zu einem Gegenstand einfließen und die Perspektive auf den Gegenstand bestimmen. Um diese beiden Konstrukte im weiteren Verlauf dieser Arbeit systematisch miteinander in Beziehung zu setzen, wird im folgenden Kapitel das Konzept der Alltagsphantasien genauer betrachtet.
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2 Alltagsphantasien – Implizite Vorstellungen zum Menschen und der Welt und ihre Bedeutung beim Lernen
Während sich die Forschung zur persönlichen Epistemologie eher auf einem Nebengleis mit dem impliziten Charakter der epistemischen Überzeugungen beschäftigt, entstand in der deutschen Naturwissenschaftsdidaktik ein Konzept, das sich ganz gezielt mit einer Form von impliziten Vorstellungen und ihrer Bedeutung in Lernprozessen auseinandersetzt. Im Fokus stehen dabei solche unbewussten Assoziationen, affektiven Reaktionen und impliziten Vorstellungen, die als „subjektive Resonanzen“ auf einen Lerngegenstand gefasst werden können (Gebhard 2007, 104). Diese Umschreibung bezeichnet damit alle Einfälle, Phantasien, Erinnerungen und Vorstellungen, die als subjektive Komponenten in Lernkontexten eine Rolle spielen und auf einer impliziten Ebene das Lernen beeinflussen. Das Forschungsprogramm und didaktische Konzept Alltagsphantasien konzentriert sich dabei auf jene Vorstellungen, die in der Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand vornehmlich implizit wirken und dabei grundlegende und verinnerlichte Menschen- und Weltbilder transportieren. Es handelt sich um Assoziationen, die durch die Sozialisation und internalisierte kulturelle Vorstellungen beeinflusst sind. Aufgrund ihrer Internalisierung wirken sie meist außerhalb der bewussten Kontrolle, äußern sich etwa in Form von Intuitionen und spielen eine Rolle in der assoziativen Beeinflussung von Lernprozessen. Der Ansatz Alltagsphantasien entwickelt damit bisherige Forschungen zu Schülervorstellung weiter und zielt auf ein vertiefendes Verständnis der individuellen Aneignungs- und Bewertungsprozesse in der Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten. Der Ansatz geht im Wesentlichen auf die Arbeiten von Ulrich Gebhard sowie auf die Hamburger Forschungsgruppe um ihn und Rosemarie Mielke zurück. Der vornehmlich didaktisch ausgerichtete Ansatz stützt sich dabei auf kognitionspsychologische Modelle zur Informationsverarbeitung sowie subjektorientierte Modelle der Vorstellungs- und Interessenforschung (vgl. Strack & Deutsch 2004, Deci & Ryan 1985, Krapp 1992). Aufgrund ihrer
70 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
inhaltlichen Breite und ihres oftmals metaphorischen Charakters werden implizite kulturell beeinflusste Vorstellungen zum Menschen und der Welt im Fachunterricht nicht immer wahr- und ernst genommen (Gebhard & Dittmer 2007, 97). Nach Gebhard tragen sie jedoch für Lernende dazu bei, dem Lerngegenstand seine subjektive Bedeutung zu geben und Lernprozesse in Folge dessen als „sinnerfüllt“ zu erleben (Gebhard 2003b, 33). Die zentrale These ist deshalb, dass durch die explizite Reflexion dieser individuellen Bezüge – also durch eine Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien – Lernprozesse möglich werden, die von Lernenden als subjektiv bedeutsam empfunden werden und aus diesem Grunde ein nachhaltigeres Lernen bewirken (vgl. Gebhard 2003b, 51). Nach Born & Gebhard (2005, 260) ermöglicht die Berücksichtigung von Alltagsphantasien eine Transformation wissenschaftlicher Elemente in das Alltagsdenken, indem Erkenntnisse „dimensioniert“ werden und „objektive Fakten zu Elementen der eigenen Lebenswelt werden können“. Aus der Perspektive dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass Alltagsphantasien als Spuren verinnerlichter Welt- und Menschenbilder gewissermaßen Anteil an einer impliziten persönlichen Theorie des Lernenden zum Aufbau und zur Ordnung der Welt haben. Die Annahme ist, dass sie aus diesem Grund als subjektive Bezüge eine Orientierungsfunktion für die Lernenden übernehmen und hierdurch für die von Gebhard postulierte „Sinnkonstitution“ (2007b, 11) bedeutsam sein können. 2.1 Alltagsvorstellungen und Alltagsphantasien – Eine Verortung im Kontext der Schülervorstellungen Der Ansatz der Alltagsphantasien ist im Rahmen der Forschung zu Schülervorstellungen von Gebhard (vgl. Gebhard 1999, 2000, 2003, 2007) in die didaktische Forschung eingebracht worden. Schülervorstellungen bezeichnen die subjektiven Vorstellungen von Lernenden innerhalb von schulischen Vermittlungsprozessen, die durch einen Lerngegenstand aktiviert werden. Dabei handelt es sich um Vorstellungen und Konzepte, die Menschen erfahrungsbasiert, also in Auseinandersetzung mit der Umwelt, entwickeln (Sinneserfahrungen, Alltagshandlungen, Gespräche, Medien) und zur Erklärung der Phänomene der Welt heranziehen (Duit 1992, 47). Ziele der Forschung zur Schülerperspektive umfassen dabei die Identifikation und Rekonstruktion typischer, teilweise aus wissenschaftlicher Sicht unzutreffender Vorstellungen von Lernenden zu Unterrichtsinhalten sowie die Entwicklung von Strategien und Modellen zum Umgang mit diesen Vorstellungen 71
und zur Planung von Unterricht, wie es etwa mit dem Modell der didaktischen Rekonstruktion angestrebt wird (Kattmann et al. 1997). Die Forschung umfasst dabei vielfältige Untersuchungen sowohl in den Didaktiken als auch in der Lernpsychologie, was sich auch in der Vielfalt der Termini spiegelt (Pfundt & Duit 1994, Duit 1992, 53): Von Ansätzen zu „Fehlvorstellungen“ (misconceptions) oder „Präkonzepten“ der beginnenden Forschung der 70er Jahre wurden zahlreiche Begriffe für Schülervorstellungen als „alternative Frameworks“ oder „mini theories“ bis hin zu jüngeren Ansätzen der Conceptual Change Forschung geprägt. Unter dem Begriff des „Conceptual Change“ (Wandel von Konzepten) wird in der Psychologie und Fachdidaktik die Bedeutung bereits vorhandenen Wissens, seine Anreicherung, Erweiterung und Verknüpfung mit neuen Informationen sowie die Reorganisation und Umstrukturierung von bereits vorhandenen Vorstellungen und Vorstellungssystemen und die Möglichkeiten pädagogischen Einwirkens auf diesen Wandel diskutiert und erforscht (vgl. Strike & Posner 1992, Pintrich 1999, Vosniadou 1999, Stark 2003). Nach Duit (1992) spiegelt die begriffliche Vielfalt im Forschungsfeld der Schülervorstellungen nicht nur die verschiedenen Ansätze und Perspektiven der Forschung wieder, sondern lässt auch die Schwierigkeiten der theoretischen Fundierung erkennen. Mittlerweile hat sich in der deutschen Didaktik der Begriff der „Alltagsvorstellungen“ etabliert, der die Anerkennung der Schülerperspektive akzentuiert: So können die Vorstellungen der Lernenden mitunter fachlich unzutreffend oder vereinfacht sein, müssen aber in ihrer Relevanz und Funktionalität für das Individuum im Alltag in ihrer Berechtigung anerkannt werden. Gebhard versteht Alltagsvorstellungen als urteils- und handlungsrelevante Vorstellungen, die aufgrund dieser Qualität in Lernprozessen anerkannt werden müssen (Gebhard 2007, 103). Nach Kattmann (2003, 120) stehen Alltagsvorstellungen als lebensweltlich gebildete Alternativen zu wissenschaftlichen Vorstellungen in einem aufschlussreichen Spannungsverhältnis zu diesen, da ihre Gegensätze oder Korrespondenzen für das bedeutungsvolle Lernen wissenschaftlicher Konzepte wichtig seien. Nur das „Hineinlernen“ in verfügbare Vorstellungen und bereits erworbenes Wissen ermögliche multidimensionale Perspektiven, da diese Zusammenhänge zwischen Lerninhalten stiften (Kattmann 2003, 127). Alltagvorstellungen sind also als Anknüpfungspunkte im Lernprozess zu verstehen, die Lernende in den Unterricht einbringen und von denen aus sie ihr Spektrum an Vorstellungen weiterentwickeln können (Kattmann 2000, 25). Einher mit diesem Verständnis geht die moderne didaktische Ausrichtung, Schülervorstellungen nicht ersetzen oder umstrukturieren zu wollen, sondern den Lernenden die kontextgebundene Bedeutung von Konzepten und damit 72
auch die unterschiedlichen Bedeutungshorizonte von wissenschaftlichen und lebensweltlichen Vorstellungen verständlich zu machen. In wissenschaftlichen Kontexten können Erklärungsmuster des Alltags an ihre Grenzen reichen. In diesen Zusammenhängen bieten wissenschaftliche Konzepte dann die konsistenteren und plausibleren Einsichten (Duit 1996, 147, Häußler et al. 1998, 182). Alltagsvorstellungen lassen sich zusammenfassend als subjektive Sinnentwürfe des Alltags bezeichnen, die sich in alltäglichen Handlungszusammenhängen bewährt haben und deshalb für das Individuum situationsadäquat und gültig sind. Nach Gebhard (2007) heben sich einige dieser subjektiven Sinnentwürfe nun vor allem dadurch ab, dass sie nicht unbedingt Ergebnisse des reflektiven Nachdenkens sind, sondern sich durch einen vorreflexiven oder vorrationalen Charakter auszeichnen. Um diese Besonderheit sprachlich deutlich zu machen, bezeichnet Gebhard solche Vorstellungen als Alltagsphantasien (2007, 103). 2.2 Die Dimensionen des Konzeptes Alltagsphantasien Der Begriff der Alltagsphantasien fasst zunächst einmal alle Einfälle, Phantasien, Erinnerungen und Vorstellungen, die als subjektive Komponenten in Lernkontexten eine Rolle spielen und häufig auf einer impliziten Ebene die Auseinandersetzungen beeinflussen. Gebhard beschreibt Alltagsphantasien dementsprechend wie bereits eingeführt als „subjektive Resonanzen“ auf einen Lerngegenstand (2007, 104). Diese subjektiven Antworten müssen dabei nicht direkt im Unterrichtsgeschehen zur Sprache kommen, sondern können sich in Form von spontanen Reaktionen auf den Lerngegenstand oder als Intuitionen äußern, die eine bestimmte Bewertung des Lerngegenstandes oder eine bestimmte affektive Reaktion nach sich ziehen. Eine besondere Qualität dieser vorbewussten und subjektiven Vorstellungen ist ihre inhaltliche Valenz: Alltagsphantasien bezeichnen Vorstellungen, die grundlegende Figuren des Selbst- und Weltverständnisses beinhalten, jedoch aufgrund ihrer inhaltlichen Weitläufigkeit und ihres oftmals narrativen und metaphorischen Charakters im Fachunterricht meist ausgeblendet werden (Gebhard & Dittmer 2007, 97). Diese Vorstellungen sind durch die Sozialisation und verinnerlichte kulturelle Bilder und Konzepte beeinflusst und offenbaren damit Aspekte der Enkulturation eines Menschen. Wie bereits angeführt ist der zentrale Gedanke des Ansatzes nach Gebhard (2007, 113), dass „der Einbezug intuitiver Deutungsmuster, Symbolisierungen und Subjektivierungen“ in die reflektierte Beschäftigung mit Gegenständen „die Chance erhöht, dass Lernprozesse 73
von den Subjekten als sinnhaft interpretiert werden können und den Lernprozess vertiefen“. Das Konzept der Alltagsphantasien lässt sich in vier verschiedenen Dimensionen entfalten, die alle aneinander gebunden sind. Aus diesem Grund kann die Unterscheidung der vier Dimensionen möglicherweise künstlich erscheinen, soll an dieser Stelle jedoch der Strukturierung der bestehenden Erkenntnisse dienen: 1. Inhaltliche Dimension Vorstellungen, die sich dem Konzept der Alltagsphantasien zuordnen lassen, sind als Spuren von Welt- und Menschenbildern des Individuums zu verstehen. Diese sind sozial erworbene Perspektiven auf die Welt, die also durch die Sozialisation und das kulturelle Umfeld des Individuums bestimmt sind. 2. Prozedurale Dimension Damit beruhen Alltagsphantasien auf vornehmlich impliziten Vorstellungen und Perspektiven auf den Menschen und die Welt. Die Anteile dieser impliziten Vorstellungen, die in Intuitionen, spontanen Assoziationen oder affektiven Reaktionen in Lernkontexten zutage treten, beruhen auf einer schnellen und automatischen Aktivierungsausbreitung innerhalb des kognitiven Netzwerkes. 3. Wirkdimension Über diese assoziativen Mechanismen nehmen Alltagsphantasien vornehmlich unbemerkt Einfluss auf das Verständnis und die Bewertung von Lerngegenständen. 4. Funktionale Dimension Diese unmittelbare Bedeutungszuweisung vor dem Hintergrund subjektiver Erfahrungs- und Erklärungsmuster dient als Orientierungsrahmen des Individuums. Über den Abgleich und die Ausdeutung umgebender Phänomene mit dem eigenen impliziten Weltverständnis erfolgt die Konstruktion einer „sinnvollen“ Welt, die als vertraut und kohärent empfunden wird. Somit dienen Alltagsphantasien der Orientierung des Individuums in der Welt. Der implizite Charakter einerseits sowie der Transport von Welt- und Menschenbilder andererseits zählen als die beiden zentralen Charakteristika der Vorstellungen, die mit dem Konzept der Alltagsphantasien gefasst werden. Aus ihnen erwächst die besondere Bedeutung dieser Vorstellungen in Lernprozessen: Als implizites, kulturell aufgeladenes Wissen beeinflussen den Alltagsphantasien zugehörige Vorstellungen die Perspektive auf den Lerngegenstand 74
assoziativ und wirken auf die Bewertung des Lerngegenstandes ein. Durch Anerkennung und Berücksichtigung dieser Vorstellungen (etwa durch explizite Reflexion) lassen sich nach Gebhard Lernprozesse in ihrer subjektiven Bedeutung für das Individuum stärken und in ihrer Nachhaltigkeit unterstützen. Im Folgenden wird das Konzept der Alltagsphantasien entlang der vier Dimensionen und unter Einbindung der bestehenden Erkenntnisse entfaltet. Die Ausführung der inhaltlichen Dimension beinhaltet dabei auch die Darstellung bereits rekonstruierter Alltagsphantasien zum Themenbereich der Gentechnik, um die inhaltliche Valenz der Welt- und Menschenbilder zu veranschaulichen. Aus der Perspektive der prozeduralen Dimension werden dann die kognitionspsychologischen Grundlagen impliziten Wissens dargestellt und die Verarbeitungsprozesse erläutert. Die Wirkebene umfasst zum einen Befunde zum persistenten Auftreten von Alltagsphantasien, sowie die bestehenden Ergebnisse der Wirkung ihrer expliziten Reflexion auf Motivation und Lernleistung. Innerhalb der Dimension der Funktionsebene wird dann unter Rückgriff auf die anderen Dimensionen eine Rahmentheorie zur Einordnung der Alltagsphantasien entworfen, die das Gelenkstück zum ersten Kapitel der epistemischen Überzeugungen bildet. Alltagsphantasien können aus dieser Perspektive als Spuren einer impliziten persönlichen Theorie zur Ordnung der Welt, einer impliziten Theorie der Realität von Lernenden verstanden werden. Diese Auffassung bildet die Grundlage für die didaktischen Implikationen des Konzeptes. Zudem bildet sie die Basis für das nächste Kapitel, indem in einem systematischen Vergleich von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien beide Konstrukte miteinander in Beziehung gesetzt werden. 2.3 Welt- und Menschenbilder – Die Kerne der Alltagsphantasien Die inhaltliche Dimension Als Menschenbilder gelten nach Fahrenberg (2004, 305) alle Annahmen und Überzeugungen dazu, „was der Mensch von Natur aus ist, wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele er in seinem Leben haben sollte. Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen oder von den Menschen im Allgemeinen“. Nach Fahrenberg ist das Menschenbild ein Teil der Weltanschauung. Weltbilder schließen an Menschenbilder an und stehen wie ein größerer Rahmen mit ihnen in Verbindung. Sie umfassen Perspektiven auf die Welt und ihre Beziehung zum Menschen. Dazu zählen allgemeine Aussagen über Charakteristika, Wechselbeziehungen, Zusammen75
hänge und Gesetzmäßigkeiten, die den Phänomenen der Welt und der Natur zugeschrieben werden. Nach Oerter (1999a, 1) sind Menschenbilder als sinnstiftende Teilkonstruktionen des Weltbildes zu verstehen. „Menschenbilder sind Konstruktionen oder Konstrukte, die von Laien und Wissenschaftlern als Teil ihres Weltbildes implizit oder explizit entworfen werden, um eine Gesamtorientierung des Urteilens und Handelns zu ermöglichen. (…) Menschenbilder haben im Regelfall handlungsleitende Funktion, d.h. sie beeinflussen Planung, Ausführung und Bewertung des Handelns. (…) Menschenbilder wirken auch dann handlungsleitend, wenn sie den Trägern nicht bewusst sind“ (Oerter 1999a, 1).
Oerter rückt hiermit zwei wichtige Aspekte von Menschen- und Weltbildern ins Zentrum: Jeder Mensch, egal ob Laie oder Experte, generiert diese Konstrukte aus seiner subjektiven Lebenserfahrung. Die eigenen Menschen- und Weltbilder übernehmen eine Orientierungsfunktion für das Individuum und bilden die Grundlage seiner Bewertungen. Überdies betont Oerter (1999a) den häufig impliziten Charakter von Welt- und Menschenbildern, der ihrer strukturierenden Funktion jedoch keinen Abbruch tut. Auch nach Fahrenberg sind individuelle Menschenbilder nicht in jeder Hinsicht bewusst oder verbalisierbar: „Die Überzeugungen sind so selbstverständlich, dass sie im Alltag selten überdacht werden, d.h. latent (implizit, verborgen) sind und nicht durchgehend reflektiert sein können“ (Fahrenberg 2004, 305). Weiter geht Fahrenberg davon aus, dass Menschenbilder eine nützliche, orientierende und adaptive Funktion haben. Auch Detzer zufolge (1999, 99f.) sind Menschenbilder „wichtige konstituierende Elemente des menschlichen Denkens und Handelns“. Er fasst Menschenbilder als komplexitätsreduzierende Modelle vom Menschen, die zur Erklärung bestimmter Verhaltensweisen herangezogen werden. Nach Hagehülsemann (1984, 14f.) strukturieren Menschenbilder die Denkrichtung und vereinfachen die Realität. Er versteht Menschenbilder ebenfalls als „Modelle des Menschen“, die erkenntnisleitende, repräsentierende und selegierende Funktionen übernehmen: Menschenbilder nähmen entscheidenden Einfluss auf die Perspektive, unter der die Phänomene der Wirklichkeit betrachtet und interpretiert würden. Solche „Menschenmodelle“ dienten in einer heuristischen Funktion dazu, die Denkrichtung des Erkennenden zu strukturieren. Nach Hagehülsemann ist also eine erkenntnisleitende Funktion für Menschenbilder charakteristisch (1984, 15). Ihm zufolge enthalten Menschenbilder „…immer auch ein Weltbild, in dem die Stellung des Menschen zu seiner organischen und materiellen Umwelt sowie die Interaktionen innerhalb dieses Feldes thematisiert werden“
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(Hagehülsemann 1984, 21). Deshalb stünden Menschenbilder auch immer mit einem Begriff von Gesellschaft in Verbindung. Teile dieser Perspektiven auf den Menschen und die Welt spiegeln sich in den Vorstellungen, die als „subjektive Resonanzen“ oder Alltagsphantasien in Reaktion auf Lerngegenstände ausgelöst werden. Um dies zu veranschaulichen, sollen an dieser Stelle eine Reihe von Alltagsphantasien vorgestellt werden, die zu verschiedenen Anwendungsgebieten der Gentechnologie erfasst wurden. Anschließend werden exemplarisch an einer einzelnen Vorstellung die transportierten Welt- und Menschenbilder analysiert. 2.3.1 Alltagsphantasien zur Gentechnologie Im Rahmen der Rekonstruktion von Alltagsphantasien konnte auf bestehende methodische Zugänge zur Rekonstruktion von „latenten Sinnstrukturen“ aus empirischen Untersuchungen zur Naturbeziehung von Kindern und Jugendlichen zurückgegriffen werden.15 Zum Themenbereich der Gen- und Fortpflanzungstechnologie wurden durch eine Reihe empirischer Untersuchungen in einer iterativ angewandten Kombination von offenen Gruppendiskussionen16 und standardisierten Fragebögen17 typische Alltagsphantasien bei Jugendlichen
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Die empirische Erhebung der Alltagsphantasien erfolgte qualitativ über ein spezielles Gruppendiskussionsverfahren, das Anregungen aus der Kinderphilosophie aufgreift (Gebhard et al. 1997; Gebhard 1999, 106), da Vorstellungen, Phantasien, Einstellungen und Werthaltungen von jungen Menschen als Ergebnisse sozialer Verständigungsprozesse zu verstehen sind. Dem Ansatz von Matthews (1989) folgend wird eine Diskussion angeregt, indem eine im Ausgang offene Geschichte vorgelesen wird. Verschiedene Positionen zu einem Problem werden in der Geschichte durch ein kontroverses Gespräch zwischen zwei Jugendlichen repräsentiert, die dann von den Kindern diskutiert werden. Die Diskussionen werden wörtlich transkribiert und nach Verfahrensvorschlägen der Grounded Theory (Strauss & Corbin 1996) ausgewertet (vgl. Gebhard 2007, 106; 2004, 29). Dabei werden zunächst über einen Prozess des offenen Codierens Themen und Verläufe der Diskussion identifiziert. Diese werden dann in Form von Ober- und Unterthemen miteinander in Beziehung gestellt. Einzelne, besonders gehaltvolle Passagen des Gespräches werden in Feinanalysen untersucht. Über diese Methode werden zentrale Themen ausgemacht und die Fülle der Aussagen gleichzeitig kondensiert. 16 Gehen auf 38 Gruppendiskussionen mit Jugendlichen der Sekundarstufe II und jungen Erwachsenen (zw. 16 – 23 Jahre) zu verschiedenen Anwendungsgebieten der Gentechnik zurück (Gebhard 2007, 106; 2004, 29). 17 In einer Studie an 586 Jugendlichen katholischer Bildungseinrichtungen wurden die Ängste und Hoffnungen in Bezug auf Gentechnologie sowie zusätzliche Vorstellungen und Phantasien zu einigen ausgewählten Anwendungsbereichen erfasst (Gebhard 1999, 101).
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erhoben. Die Rekonstruktion der Alltagsphantasien erfolgte im Zusammenhang mit gentechnologischen Themen wie etwa Klonen, Pränatale Diagnostik oder Grüne Gentechnik. Vor dem Hintergrund der Befunde der Hamburger Forschungsgruppe kann davon ausgegangen werden, dass in der Auseinandersetzung mit Themen der Gentechnologie ein relativ stabiles Muster von Alltagsphantasien aktiviert wird, dass sich je nach thematischer Akzentuierung in seiner Zusammensetzung und Ausprägung unterscheiden kann (Gebhard & Mielke 2003, 29). Das im Folgenden vorgestellte Set an Vorstellungen kann dabei als gesättigtes Konglomerat angesehen werden. Innerhalb der rekonstruierten Vorstellungen verdichten sich Auffassungen und Ideen zum Menschen und zur Welt. Die „thematischen Kerne“ (vgl. Teltemann 2008) der Alltagsphantasien lassen sich daher als Welt- und Menschenbilder fassen. 1. Das Leben ist heilig Das Leben hat eine eigene Würde, es entfaltet sich nach immanenten Gesetzmäßigkeiten und birgt viele Geheimnisse. 2. „Natur“ als sinnstiftende Idee Natürliches ist gut. Die Natur zeigt uns in unserer orientierungslosen Zeit, was wir tun und lassen sollen. So sollte man der Natur auch nicht ins Handwerk pfuschen. 3. Tod und Unsterblichkeit „Länger leben hat schon seine Vorteile.“ Aber die Vorstellung von Unsterblichkeit macht auch Angst. 4. Heilsvorstellungen Vorstellungen von (andauernder) Gesundheit. 5. Dazugehörigkeit versus Ausgrenzung Man kann im Kreis oder draußen sein. Oder auch am Rand. Mir ist es wichtig, von der Gesellschaft voll und ganz akzeptiert zu werden.
Eine weitere Studie mit knapp 700 Jugendlichen an Schulen aus Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein untersuchte die Zugänglichkeit der bereits rekonstruierten Alltagsphantasien (Vgl. Gebhard 2004, 30; Gebhard & Mielke 2001).
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6. Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen Wissen und Erkenntnis sind janusköpfig: Einerseits kann sich damit der Mensch selbst befreien, andererseits ist das Wissen auch gefährlich und ein Frevel. Aber der Mensch ist eben neugierig. 7. Der Mensch als homo faber Der Mensch hat die Fähigkeit, Sachen zu entwickeln; er ist geistreich, und man muss auch sehen, sonst hätte Gott auch einem Menschen gar nicht die Gabe gegeben, sich das alles zu überlegen und alles umzusetzen. 8. Hybris: Der Mensch als Schöpfer Der Mensch kann sich ein Kind selbst kreieren und hat damit den Schlüssel zur Schöpfung in der Hand. Aber der Mensch darf nicht Gott spielen und mit den Genen spielen. 9. Der Mensch als Maschine Im Grunde ist der Mensch eine Maschine; deshalb sind auch die technischen Möglichkeiten der modernen Biomedizin so segensreich. 10. Perfektion und Schönheit Perfektion als zweischneidiges Schwert: Ambivalenz zwischen Optimierung des Menschen und Langeweile. 11. Individualismus Die Gentechnik bedeutet das Ende des Individualismus. Was ist der einzelne Mensch dann noch wert? 12. Lesbarkeit der Welt: „Sprache der Gene“ Das Genom ist zu lesen wie ein Buch. 13. Homo oeconomicus Geld regiert die Welt. (siehe Gebhard 2004b, 2009) Diese Kategorien stellen kondensierte Exzerpte aus der Breite und Vielfältigkeit der bestehenden Vorstellungen dar. Sie sind in sorgfältigen hermeneutischen Prozessen aus den vielen Hunderten von Schüleraussagen verdichtet worden, rekurrieren jedoch teilweise wortwörtlich auf Aussagen von Jugendlichen.
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Vorstellungen, wie die Furcht vor menschlichen Schöpfungsphantasien oder dem Verlust von Individualität, rühren an zentrale Topoi des christlichen Abendlandes und der deutschen Geschichte und offenbaren damit Aspekte der Enkulturation eines Menschen. Mit solchen Gedanken geben Menschen Einblicke in ihre Perspektive auf die Welt und legen offen, was ihnen wichtig ist und wie sie sich Geschehnisse erklären. Oerter weist darauf hin, dass Menschenbilder sich mit der Geschichte wandeln und für unterschiedliche Kulturkreise verschieden sind (Oerter 1999b, 185). Alltagsphantasien sollten sich somit individuell und kulturabhängig unterscheiden. Es ist zu erwarten, dass die Erhebung dieser subjektiven Vorstellungen zum gleichen Thema in anderen Kulturkreisen andere Vorstellungen aufgrund verschiedener zugrundeliegender Welt- und Menschenbilder erbrächte. Leider liegen bisher keine kulturvergleichenden Untersuchungen zum Konzept der Alltagsphantasien vor. An dieser Stelle sollen exemplarisch an der Alltagsphantasie Der Mensch als homo faber die zugrundeliegenden Welt- und Menschenbildaspekte analysiert werden. Kern der Alltagsphantasie Der Mensch als homo faber ist die Vorstellung vom Menschen als aktivem Veränderer seiner Umwelt. Der vernunftbegabte homo faber gestaltet sich seine Lebenswelt nach seinen Ansprüchen und wird damit als Ausgeburt der Natur zum Gegenüber der Natur, die er sich zu Nutze macht. Diese Idee lässt sich bis in die griechische Antike zur Vorstellung vom Menschen als animal rationale oder zoon logikon zurückverfolgen, das von Aristoteles durch seine Fähigkeit zu denken vom Tier unterschieden wird (Bohlken & Thies 2009). Die Fähigkeit zur vernunftgeleiteten und reflexiven Selbsteinschätzung der Reichweite des eigenen Wissens gilt als Schlüssel für den Erfolg des Menschen. Das manipulative Handeln gehört quasi zu den Grundbedingungen des menschlichen Lebens. Nach Arnold Gehlen ist der Mensch primär als ein handelndes Wesen zu verstehen. „Der Mensch muss erkennen, um tätig zu sein, und muss tätig sein, um morgen leben zu können“ (Gehlen 1997, 51). Nach Gehlen ist der Mensch als ein Mängelwesen zu verstehen, das seine unzureichende Ausstattung mit Instinkten und Schutzpanzern durch die Kreation eines sicheren Raumes – einer „zweiten Natur“ – ausgleichen muss. Da er die Natur an sich anpasst und verändert, ist er als ein Handlungswesen zu verstehen. Die Idee vom homo faber ist somit zentral in der jüngeren philosophischen Anthropologie vertreten. Ein zentrales Mittel zur Überwindung seiner Grenzen ist die Technik für den Menschen. Technologie erweitert den natürlich festgelegten „Funktionsund Aktionsraum“ des Menschen, stellen Berg & Wende (2001, 9) fest. Damit verbunden ist nach Berg & Wende (2001) die Frage, ob die Technik zum Men80
schen gehört und damit quasi sein Schicksal ist: „Und das in einem möglicherweise mehrfachen Sinne: Zunächst als des Menschen Wesen und Bestimmung – schließlich vielleicht als sein Verhängnis“ (Berg & Wende 2001, 9). Damit schließt die Vorstellung vom „Menschen als homo faber“ an die Alltagsphantasie von der Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen an. Der homo faber hat einen Drang nach Erkenntnis und Wissen, nach Veränderung seiner Umwelt. Geraten diese Veränderungen jedoch außer Kontrolle können sie den Menschen bedrohen. Die Konzeption des Menschen als Gegenüber der Natur spiegelt eine Position der klassischen naturphilosophischen Diskussion um die Doppelrolle des Menschen. Der Mensch ist gleichzeitig als Teil und Gegenüber der Natur begreifbar (vgl. Böhme 1989, Bien 1993). Der homo faber steht der Natur gegenüber und instrumentalisiert sie, hat aber gleichzeitig die „naturgegebene“ Gabe für dieses Tun, was seine „Naturwüchsigkeit“ betont. Die Grundfrage der Naturphilosophie „Was ist Natur?“ ist nach Böhme (1989) aus dieser Dialektik der Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit des Menschen zur Natur zu entwickeln. 2.3.2 Alltagsphantasien zum Experimentieren Auch zum Experimentieren wurden Alltagsphantasien rekonstruiert. Hierbei wurde mit Grundschulkindern der zweiten Klassenstufe eine jüngere Altergruppe in den Fokus genommen. Die Untersuchungen stehen jedoch noch am Anfang. Ziel der Untersuchungen besteht darin „die besonderen Reize und den Sinn des Experimentierens aus der Schülerperspektive nachzuvollziehen“ (Gebhard 2007, 110). Wie auch zur Erhebung der Alltagsphantasien zur Gentechnologie wurde bei der Rekonstruktion auf die Methode der Gruppendiskussion in Anlehnung an das Philosophieren mit Kindern zurückgegriffen. Nach praktischen Phasen des Experimentierens zu belebter Natur (Pflanzenwachstum, Müller 2006) und unbelebter Natur (Luft, Murmann et al. 2007) folgten dabei Gruppendiskussionen und Einzelinterviews (zum genauen Vorgehen vgl. Murmann et a. 2007, 84). Dabei lassen sich vor allem vier typische Vorstellungen voneinander unterscheiden, die subjektive Vorstellungen zum Probiercharakter, zur Zufälligkeit und zur emotionalen Erlebnisqualität von Experimenten umfassen.
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1. Experimentieren ist Ausprobieren 2. Experimente machen Spaß, sind spannend und abenteuerlich 3. Fragestellungen sind nicht so wichtig 4. Experimente sind zufällig Experimentieren wird positiv besetzt und folgt dem Lustprinzip: Die Freude daran, dem inneren Drang der Neugierde nachzugehen, steht im Vordergrund. Wissensdrang ist somit nicht unwichtig, sondern zentrale Motivation des Experimentierens. Während Kinder im eigenen Experiment die Fragestellung vernachlässigen, wird für das Experimentieren von Forschern durchaus eine Fragestellung angenommen. Die zentrale Motivation des Wissenschaftlers ist demnach weniger der Spaß, sondern die Entdeckung von etwas Neuem (Murrmann et al 2007, 86). Wissensdrang und Fortschritt haben dabei eine autotelische Berechtigung: Sie sind um ihrer selbst willen wichtig. Das Bild vom neugierigen Menschen rechtfertigt also wissenschaftliche Tätigkeiten. Nach diesen Befunden haben Kinder keine Vorstellungen zu der Zielgerichtetheit wissenschaftlicher Tätigkeit. Sie zeigen jedoch gleichzeitig die Erwartung, dass Experimentieren einem Rezept oder Plan zu folgen hat, der das Gelingen des Experimentes sichert. „Das hat aber in der Regel nur wenig mit Erkenntnisgewinnung oder methodologischen Überlegungen zu tun. Das Rezept dient vor allem der Herbeiführung eines auffälligen Phänomens“ (Combe & Gebhard 2007, 71). Wissenschaftliches Arbeiten wird also bereits mit dem Einhalten einer Abfolge von Schritten assoziiert. Da jedoch die emotionale Komponente der Freude am Ausprobieren und Neugierbefriedigung als Ziel des Experimentierens die Wahrnehmung der Kinder dominiert, werden methodische Ziele wie Reproduzierbarkeit offenbar noch nicht erfasst. Der Mensch gilt in diesen Vorstellungen als neugierig und interessiert. Dieses Menschenbild korrespondiert mit der Vorstellung vom Menschen als aktivem Veränderer seiner Umwelt, die der Alltagsphantasie Der Mensch als homo faber zugrunde liegt. Neugierde und manipulatives Einwirken auf die Umwelt bezeichnen dabei typische Charakteristika des Menschen. Auffällig ist, dass die rekonstruierten Alltagsphantasien zum Experimentieren auch als wenig sophistizierte epistemische Überzeugungen gelesen werden können. Untersuchungen zu den epistemischen Überzeugungen von Kindern haben ebensolche Vorstellungen zum zufälligen Charakter wissenschaftlichen Experimentieren hervorgebracht (vgl. Höttecke 2001, Carey et al. 1989). Die 82
Alltagsphantasien zum Experimentieren bilden also eine Schnittmenge mit den epistemischen Überzeugungen. 2.3.3 Der narrative Charakter der Alltagsphantasien Mit dem ursprünglichen Begriff der „Alltagsmythen“ machte Gebhard den ersten Versuch sprachlich zu markieren, dass die untersuchten subjektiven Vorstellungen Inhalte implizieren, die nicht unbedingt allgemeinverbindlichen kulturellen Systeme entspringen, doch zumindest subkulturell eingebettet sind (2004, 28). Da die Gentechnik den Menschen im „Kern seines Selbstverständnisses“ trifft, ist mit dieser Technologie eine kontrovers geführte Wertediskussion verbunden (Gebhard 1999, 103). Gebhard geht dabei davon aus, dass persönliche und kollektive Geschichten durch die Auseinandersetzung mit der Gentechnologie angestoßen werden (2004, 28). Gerade für naturwissenschaftliche Zusammenhänge sei die „Transformation natur-wissenschaftlicher Erkenntnisse durch Geschichten ins Alltagsbewusstsein“ bedeutsam, da sie diese dimensionieren und ihre Komplexität reduzieren: „Indem Informationen zu Gentechnik in persönliche und kollektive Geschichten eingebaut werden, werden diese Informationen über ihren objektivierenden Gehalt hinausgehend subjektiviert“ (Gebhard 2009, 197). Aus diesem Grund ist der narrative Charakter der Alltagsphantasien nach Gebhard besonders interessant: Die in den Vorstellungen verdichteten Phantasien, Metaphern und Mythen haben erzählerischen Charakter. Metaphern stifteten Sinn und Bedeutung dadurch, dass sie in sozial und biographisch sinnvolle Geschichten integriert sind. Die bewusste Nutzung der persönlichen Narrationen ermögliche eine Verknüpfung von Lerngegenständen mit Elementen der Lebenswelt des Lernenden (Gebhard 2004, 28). Um die narrative Dimension im Zusammenhang mit gentechnischer Forschung zu illustrieren, verweist Gebhard (2009, 198) etwa auf die Aussage des Nobelpreisträgers Walter Gilbert, der die vollständige Sequenzierung des menschlichen Genoms als den „Gral der Humangenetik“ bezeichnete. Hier offenbart sich die Generierung von Phantasien durch die Verknüpfung der biologischen Inhalte mit mythologischen Welt- und Menschenbildern. Gebhard deutet dies als Indiz dafür, dass die Mythen- und Phantasieproduktion ein Phänomen ist, dass einen erheblichen Einfluss auf den Umgang mit Gentechnik (stellvertretend für Naturwissenschaft an sich) hat (2004, 29). In der emotionalen und subjektiven Bedeutsamkeit dieser Phantasien sieht Gebhard auch einen Hauptgrund für die begrenzte Reichweite rationaler Diskur83
se zur Gentechnik. Die Debatte um moderne Biotechnologie wird quasi nur oberflächlich über rational analysierbare Argumente geführt. Im Hintergrund wirken jedoch subjektive und affektiv aufgeladene Vorstellungen, wie die aufgeführten Alltagsphantasien, die implizit Einfluss auf die Bewertung von Gentechnik nehmen und die Perspektive des Individuums nachhaltig bestimmen (vgl. Gebhard 2009, 197, Haidt 2001). Worin die Wirkmechanismen impliziter Vorstellungen bestehen und warum sie so unmittelbar in Denkprozessen wirken, wird im nächsten Abschnitt zur prozeduralen Dimension des Konzeptes Alltagsphantasien differenziert dargestellt. 2.4 Implizite Vorstellungen in Verarbeitungsprozessen Die prozedurale Dimension Alltagsphantasien bezeichnen Vorstellungen vom Menschen und der Welt, die nicht explizit vom Lernenden benannt werden, sondern sich in seinen spontanen Reaktionen und intuitiven Vorstellungen ausdrücken. Die dahinter liegenden Welt- und Menschenbilder sind als implizites Wissen zu verstehen. Implizites Wissen bezeichnet Wissensinhalte, wie Konzepte, Informationen, Kategorisierungsschemata und Handlungsskripte, die einem Individuum nicht explizit zur Verfügung stehen. Vielmehr besteht häufig kein Bewusstsein für diese Konzepte oder Fähigkeiten. Sie entziehen sich der willentlichen Kontrolle des Individuums und darin besteht auch ihr besonderer Vorteil für den Menschen. In der Auseinandersetzung mit neuen Phänomenen können Individuen nämlich auf diese impliziten Konzepte und Schemata zurückgreifen und dadurch relativ unvermittelt reagieren (Gebhard & Mielke 2003, 206). Der Vorteil impliziten Wissens besteht also in der Schnelligkeit seiner Verfügbarkeit. Die verinnerlichten Bilder zum Aufbau und zur Ordnung der Welt und des Menschen in ihr helfen dem Individuum etwa jeden Tag die Wahrnehmungen seiner Umwelt zu kategorisieren und so einen Wust an eingehenden Informationen zu verarbeiten, ohne alles unter Aufwendung bewusster Aufmerksamkeit durchdenken zu müssen. 2.4.1 Zwei Prozesse des Denkens Die Funktionsweise von implizitem Wissen in Denkprozessen lässt sich aus kognitionspsychologischer Perspektive mit sogenannten Zwei-Prozess-Model84
len der Informationsverarbeitung erklären (vgl. Chaiken & Trope 1999). In der modernen kognitiven Psychologie wird Denken als Informations-verarbeitung verstanden. Dabei wird seit den Arbeiten von Schneider & Shiffrin (1977) davon ausgegangen, dass Menschen in der Lage sind, kognitive Inhalte auf zwei Wegen zu verarbeiten: Kognitionen werden entweder bewusst oder automatisiert aktiviert und verarbeitet. Das bedeutet, dass neben dem besonnenen und bewussten Nachdenken, das Menschen kontrollieren können, eine weitere Form der Verarbeitung existiert, die sich der bewussten Kontrolle entzieht. Der Mensch ist also in der Lage Informationen wahrzunehmen und angemessen auf sie zu reagieren, ohne dass er sich mit dem wahrgenommenen Inhalt bewusst auseinander gesetzt hat. Schneider & Shiffrin (1977) nennen diesen Modus der Verarbeitung „automatisch“. Dabei handelt es sich bei dieser Art des Umgangs mit Informationen in unserem Gehirn um die Regel und nicht um die Ausnahme: Der Großteil der menschlichen Informationsverarbeitung verläuft ohne willentliche Kontrolle über unkontrollierte Mechanismen und entzieht sich unserer bewussten Wahrnehmung. Genau genommen wird davon ausgegangen, dass die Verarbeitungskapazität der unbewussten und bewussten Prozesse zusammengenommen 200.000 mal höher ist als die der bewussten Prozesse alleine (Dijksterhuis et al. 2005; Norretranders 1998, 125f.). Mittlerweile bestehen zahlreiche Zwei-Prozess-Modelle, die in ihren zentralen Annahmen übereinstimmen, sich jedoch danach unterscheiden, welche Aspekte der Informationsverarbeitung sie explizieren. Nach Smith & DeCoster (2000) lassen sich die beiden Prozesse über alle Modelle hinweg durch eine Reihe von Merkmalen charakterisieren: (1) Der kontrollierte Prozess basiert auf der Anwendung von Regeln, die symbolisch repräsentiert, logisch und durch Sprache strukturiert sind. Dieser Verarbeitungsprozess kann nur erfolgen, wenn ausreichend kognitive Kapazität und entsprechende Motivation vorhanden sind, um die einzelnen Verarbeitungsschritte mit bewusster Aufmerksamkeit zu verfolgen. (2) Der automatisierte Verarbeitungsmodus operiert auf der Basis von assoziativen Verknüpfungen, die durch Ähnlichkeit und Kontiguität strukturiert sind. Die Verknüpfungen basieren auf einer Vielzahl von Erfahrungen. Bei Verarbeitung in diesem Modus wird lediglich das Ergebnis des Verarbeitungsprozesses bewusst. Strack & Deutsch (2004) zum Beispiel unterscheiden in ihrem ZweiProzess-Modell den reflektiven vom impulsiven Verarbeitungsmodus. Der reflektive Modus entspricht dem intentionalen Nachdenken: In diesem Modus 85
findet eine kontrollierte Verarbeitung statt, bei der hohe kognitive Kapazität gebraucht wird. Beim reflektiven Verarbeiten von Informationen ist das Individuum sich also über seine Denkwege und Schritte im Klaren und kann nachvollziehen, wie es zu seinen Schlussfolgerungen gekommen ist. Komplementär zu dieser aufwendigen Form der Informationsverarbeitung wirkt die rasch ablaufende und assoziative Form des Denkens. Das denkende Individuum merkt in diesem Fall nicht, dass es Informationen aufnimmt und verarbeitet. Über assoziative Mechanismen werden schnell und unkontrolliert Vorstellungen aktiviert, die eng miteinander verknüpft sind. Ergebnisse der assoziativen Denkprozesse treten plötzlich ins Bewusstsein und werden dann als Intuition oder „Bauchgefühl“ erlebt. Dieser Modus braucht minimale kognitive Kapazität und ist deshalb wesentlich „sparsamer“ als der reflektive Modus, da er ohne bewusste Aufmerksamkeit durch das Individuum abläuft. Die assoziative Aktivierung bestimmter Denkinhalte erfolgt durch die Automatisierung der Aktivierung eng verknüpfter Vorstellungen. Die enge Verknüpfung entsteht dadurch, dass Kognitionen – etwa Ideen oder Konzepte – in der Vergangenheit häufiger gleichzeitig aufgetreten sind. Das erleichtert die spätere gleichzeitige Aktivierung (Anderson 1983). 2.4.2 Automatische Verarbeitung im kognitiven Netzwerk Für das Verständnis dieser Prozesse ist es hilfreich, sich die Speicherung bestehenden Wissens im Gehirn in Form von Assoziationsnetzen vorzustellen. Aufgrund der bisherigen Erkenntnisse über die Funktionsweise des Gehirns wird davon ausgegangen, dass das Gedächtnis Informationen in einer Netzwerkstruktur speichert und verarbeitet (Anderson 1983). Die Neuronen im Gehirn sind in so genannten neuronalen Netzwerken organisiert. Denkprozesse können dabei als Aktivierungsmuster innerhalb dieser Netze verstanden werden. Lernprozesse lassen sich als Veränderungen der Netzwerkstruktur konzeptionalisieren. Die Bemühungen Modelle für höhere kognitive Prozesse zu entwickeln und die Frage zu beantworten, auf welche Weise das Gehirn diese Prozesse bewältigen könnte, werden unter dem Begriff des Konnektionismus gefasst (vgl. Pospeschill 2004). Konnektionistische Ansätze gehen von dem allgemeinen Wissen über die Arbeitsweise von Neuronen aus und fragen danach, auf welche Weise sich höhere Funktionen dadurch erzielen lassen, dass Grundelemente von der Art der Neuronen miteinander verknüpft werden. Gegenstand des Konnektionismus ist die Erforschung und Konstruktion adaptiver informationsverarbeitender Systeme. Diese setzen sich aus einer großen Zahl gleichartiger 86
Verarbeitungseinheiten, den Knoten oder „units“ zusammen. Ihr wesentliches Verarbeitungsprinzip ist die Übertragung von Signalen in Form von Aktivierungen über gerichtete Verbindungen, die „connections“ (Pospeschill 2004, 25). Die Units schließen sich wie in kleinen Arbeitsgruppen zu Assoziationsclustern zusammen. Der Ansatz stellt eine grobe Analogie zum Nervensystem dar. Im Nervensystem sind die Zellen in jeder Schicht eines neuronalen Netzwerkes mit vielen Zellen aus der nächsten Schicht verbunden. Im Gehirn ist nicht auszumachen, wo ein Netzwerk endet und ein anderes beginnt. Konnektionistische Netzwerke lassen darüber hinaus viele spezifische Faktoren, wie die verschiedenen Variationen von Neuronen oder temporale Effekte unberücksichtigt (Clark 1997, 54). Entscheidend jedoch ist, dass in neuronalen und konnektionistischen Netzwerken die Information parallel, also durch die gleichzeitige Aktivität vieler Knoten, verarbeitet wird. Die Verknüpfungen sind plastisch, das heißt veränderbar und variieren in ihrer Stärke und Zugänglichkeit in Abhängigkeit davon, wie oft eine Verknüpfung aktiviert bzw. abgefragt wird. Knoten können dabei (wie bereits erläutert) aufgrund von logischen semantischen Verknüpfungen miteinander assoziiert oder basierend auf Kriterien wie Ähnlichkeit und zeitlicher Nähe im Auftreten der assoziierten Merkmale miteinander verbunden sein. Setzt sich ein Mensch mit einer Thematik auseinander, werden in Abhängigkeit von Kontext, Situation und emotionaler Grundstimmung unterschiedliche Informationen bzw. Knoten des Netzwerkes aktiviert. Die Aktivierung kann entweder extern über eingehende Sinneswahrnehmungen oder intern über kognitive Prozesse erfolgen. Ist die Aufmerksamkeit des Individuums auf die aktivierten Knoten gerichtet, ist sich das Individuum auch über diese Denkinhalte bewusst. Die nicht aktivierten Gedächtnisinhalte sind immer unbewusst, sind aber prinzipiell bewusstseinsfähig (Hennings & Mielke 2005, 242). Häufig miteinander aktivierte Neuronen verstärken im neuronalen Netzwerk ihre Verbindungen miteinander, indem mehr Synapsen gebildet werden oder inhibitorische in exzitatorische Synapsen umgewandelt werden. Hierdurch verändert sich das kognitive System und der Mensch lernt. So entstehen etwa beim Üben eines Instrumentes immer wieder neue neuronale Verbindungen und Synapsen.18 18 Ebenso wird in konnektionistischen Netzwerkmodellen über die Stärke der Verknüpfungen zwischen den Knoten die Assoziationsstärke modelliert. Eine der bestehenden Rahmenvorstellungen für solche konnektionistischen Modelle wurde von McClelland & Rummelhart (1986) ausgearbeitet. Sie nennen ihr Rahmenmodell die parallel-distributive Verarbeitung oder kurz PDP (parallel distributed processing). Das PDP-Modell lehnt sich an die Vorstellung an, dass Informationen in Form von Aktivierungsmustern über neuronale Elemente hinweg repräsentiert werden.
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Bezogen auf das Zwei-Prozess-Modell von Strack & Deutsch (2004) lässt sich automatische Informationsverarbeitung als unkontrollierte Aktivierungsausbreitung innerhalb eines Netzwerkes vorstellen. Die Aktivierung eines Inhaltes (symbolisiert durch einen Knotenpunkt im Netzwerk) führt zu einer sich ausbreitenden Aktivierung anderer verknüpfter Knoten. Ein bestimmtes Muster eingehender Reize löst dabei ein bekanntes Aktivierungsmuster im Gehirn aus, das einem automatischen „Erkennen“ der Situation gleichkommt. So kommen automatisierte Reaktionen zustande, wie sie vom Autofahren oder Treppensteigen bekannt sind. Im reflektiven Modus werden dagegen kontrolliert bestimmte Knoten des Netzwerkes aktiviert und unter bewusster Aufmerksamkeit miteinander in Beziehung gesetzt. Dabei besteht über alle Zwei-Prozess-Modelle hinweg Einigkeit darüber, dass automatisierte Prozesse einerseits ursprünglich unbewusst ablaufende Prozesse sein können, andererseits aber auch durch Erfahrungsbildung entstehen können (Gebhard, Martens & Mielke 2004, 158). Implizites Wissen lässt sich also als Assoziationscluster verstehen, das durch Erfahrung erworben werden kann und in einer Situation durch die Aktivierung eines Elementes des Clusters automatisch aktiviert oder ausgelöst wird. Neuere Untersuchungen zu Zwei-Prozess-Modellen betrachten den hohen adaptiven Wert von automatisierten Handlungselementen, Kategorisierungs-schemata und Vorstellungen. Solch automatisiert anwendbares Wissen wird in sehr langwierigen Prozessen erworben, da sich die Verknüpfungen zwischen den einzelnen Knotenpunkten des Gehirns erst langsam bilden. Diese Wissensbestandteile bzw. Assoziationscluster gehen also auf lange und aufwendige Lernprozesse zurück (Hennings & Mielke 2005, 244), in denen bestimmte Elemente immer wieder in räumlicher oder zeitlicher Nähe erlebt und damit auch gemeinsam im Gehirn „abgelegt“ und verknüpft werden. Die intuitiven Reaktionen eines Individuums auf die Umwelt, seine Stereotype, Schemata oder bestimmte Handlungsmuster werden also als Folge mühsamer Lernprozesse langsam automatisiert, ähnlich der Art und Weise wie Menschen auch das Autofahren erlernen. Anfangs erfolgt das Koordinieren von Fahren, Gas geben, in den Rückspiegel Schauen und Bremsen nur unter äußerster Konzentration und bewusster Kontrolle. Nach einiger Zeit werden die Handlungen immer mehr automatisiert bis der Mensch überhaupt nicht mehr „nachdenken“ muss und sogar andere Tätigkeiten parallel ausführen kann, wie sich unterhalten oder nachdenken. Der Erwerb der individuumsspezifischen assoziativen Netzwerke erfolgt also basierend auf Erfahrungen mit der Umwelt oder durch wiederholte Übung in konsistenter Umgebung. Eine bedeutende Quelle immer wiederkehrender Konzepte sind Kultur und Sozialisation. Die Erfahrungen des Individuums in 88
seiner Gesellschaft und in seinem sozialen Umfeld wirken damit maßgeblich auf die Struktur und Inhalte seiner assoziativen Netzwerke ein. Ebenso wie das Autofahren werden bestimmte Interpretationsroutinen im Umgang mit der Umwelt soweit automatisiert, dass das Individuum ihre Bedeutung für sein Verständnis seiner Umwelt gar nicht mehr bemerkt. In der Auseinandersetzung mit einem Lerngegenstand erfolgt demnach immer eine unmittelbare Bedeutungszuweisung durch den automatisierten Rückgriff auf implizite Vorstellungen (vgl. Hennings & Mielke 2005, 252). Vorstellungen, die sich den Alltagsphantasien zurechnen lassen, zeichnen sich durch genau diese Funktion aus. Genauer gesagt sind sie die Anteile impliziter Vorstellungen, die explizit werden, d.h. sie können als explizite Spitze des impliziten Eisbergs verstanden werden. 2.5 Die Integration der inhaltlichen und prozeduralen Dimension In seiner „Cognitive-experiental self-theory“ (CEST) nimmt auch Epstein (1994) zwei sich ergänzende kognitive Systeme für die menschliche Verarbeitung von Informationen an. Er unterscheidet das experientiale (auf Erfahrung beruhende) und das rationale System. Das experientiale System ist als ein holistisches und evolutionär älteres System zu begreifen, dass über assoziative Mechanismen und basierend auf Affekten sehr schnell arbeitet und sich nur langsam verändert. Das phylogenetisch sehr viel jüngere und für den Menschen spezifische rationale System dagegen operiert über logische Verknüpfungen und funktioniert analytisch und bewusst. Verarbeitung in diesem System erfolgt langsamer, jedoch unter bewusster Kontrolle (Epstein 1994, 711). In diesen Komponenten stimmt Epsteins Theorie also mit den gängigen Konzeptionen der Zwei-Prozess-Modelle überein. Das experientiale System kann dem impulsiven oder automatischen Prozessen der Zwei-Prozess-Modelle nach Strack & Deutsch (2004) oder Schneider & Shiffrin (1977) gleichgesetzt werden. Eine Neuerung ist dagegen die Bezugnahme auf die Form von Repräsentationen innerhalb dieser Modi: Epstein schreibt Narrationen einen Einfluss auf das experientiale System zu, da sie emotional einnehmend sind und Erlebnisse in einer Art und Weise repräsentieren, die dem ähnlich sei, wie sie im tatsächlichen Leben erfahren werden. Erzählungen beinhalten nach Epstein eine Verortung in Raum und Zeit, zielorientierte Charakteristika und eine sequenzielle Abfolge der Geschehnisse (1994, 711). Epstein schließt dabei an Bruner (1986) an, der zwei Formen mentaler Repräsentationen, nämlich propositionale und narrative Repräsentationen, unterscheidet. Propositionales Denken ist allgemein, logisch, formal, theoretisch und abstrakt. Narratives Denken ist Geschich89
ten-ähnlich, konkret, spezifisch, persönlich bedeutsam, imaginativ, interpersonal und beinhaltet Charaktere, Orte, Intentionen, Emotionen und Aktionen (Epstein 1994, 713). Damit schlägt Epsteins CEST-Modell eine Brücke zwischen der prozeduralen und der inhaltlichen Dimension der Alltagsphantasien, indem Modi der Informationsverarbeitung mit der Form der mentalen Repräsentation verknüpft werden. Dies passt zu den Ausführungen Gebhards zum narrativen Charakter der Alltagsphantasien (vgl. Kapitel 2.3.3). Als implizites, kulturell bedeutsames Wissen stehen zu den Alltagsphantasien zählende Vorstellungen mit einer Fülle von Geschichten in Zusammenhang, die sowohl selbst erlebte Erfahrungen als auch tradierte überlieferte Erzählungen umfassen, die das Individuum automatisiert und damit verinnerlicht hat. Die besondere Rolle und Verknüpfung erzählerischer Elemente mit der automatischen und assoziativen Verarbeitung entsteht durch ihre Form als emotional besetzte und situativ verortete Kognition. Die Assoziationen sind aufgrund von zeitlicher und räumlicher Nähe miteinander verknüpft und aktivieren einander automatisch. Epsteins Modus des Experientialen verbindet die narrative Dimension mit dem natürlichen, intuitiven Verarbeitungsmodus, der dem extensionalen, logischen Modus gegenübersteht (Kahneman & Tversky 1973). Die emotionale Bedeutsamkeit und der imaginativer Gehalt der Alltagsphantasien lassen sie nach Epsteins Konzept als Komponenten des experientialen Systems verstehen und damit auch ihre verbalisierbaren expliziten Anteile strukturell und inhaltlich dem impulsiven und automatischen Modus zuordnen. 2.6 Zur Wirkung von Alltagsphantasien Die Wirkdimension Folgt man den kognitionspsychologischen Erkenntnissen zu menschlichen Verarbeitungsprozessen, ist davon auszugehen, dass die automatische Informationsverarbeitung permanent aktiv ist. Ergebnisse und Assoziationen dieser automatischen und unwillkürlichen Denkprozesse werden deshalb auch ständig in die bewusst kontrollierte Verarbeitung des reflektiven Systems eingestreut. Jede Auseinandersetzung mit der Umwelt und damit auch jeder Lerngegenstand aktiviert implizite Assoziationscluster, die unser Denken dann assoziativ beeinflussen. In den vorangegangenen Abschnitten wurden Alltagsphantasien als implizite Figuren des Selbst- und Weltverständnisses charakterisiert. Welt- und Menschenbilder einer Kultur werden von den Individuen durch die individuellen Erlebnisse in ihrer Welt und Gesellschaft in Form kleiner Geschichten verinner90
licht. Diese werden automatisch aktiviert, wenn sich das Individuum mit Themen auseinandersetzt, die an diese impliziten Vorstellungen vom Menschen und der Welt geknüpft sind. Diese Konzeption erklärt die erstaunliche Präsenz der subjektiven Vorstellungen oder Alltagsphantasien im Denken. Die rekonstruierten Alltagsphantasien zum Themenbereich der Gentechnologie gehen auf 38 Gruppendiskussionen mit Jugendlichen der Sekundarstufe II und jungen Erwachsenen (zw. 16 – 23 Jahren) zu verschiedenen Anwendungsgebieten der Gentechnik zurück (Gebhard 2007, 106; 2004, 29). In diesen Gruppen-diskussionen zeigte sich wiederholt, dass die Jugendlichen in der selbstgesteuerten Auseinandersetzung mit der Thematik schnell die fachlichen Aspekte vernachlässigen und sich eher mit ihren subjektiven Vorstellungen oder auch Ängsten und Hoffnungen auseinander setzen. Aber auch in der individuellen Auseinandersetzung außerhalb der Gruppe zeigt sich diese Tendenz, wie Fragebogenuntersuchungen zur Erhebung der Assoziationen und Vorstellungen zur Gentechnik zeigen.19 „Jugendliche(n) (sind) alles andere als uninteressiert an Themen (…), die die ganze Gesellschaft betreffen. Die Jugendlichen zeigten sich verantwortungsbewusst und neugierig. (…) Die Teilnehmer (artikulierten) aus dem Stand heraus die ihnen spontan zur Verfügung stehenden Vorstellungen“ fasst Dittmer etwa die Reaktionen der Jugendlichen im Online-Projekt Biotalk zusammen (Dittmer 2006, 142). Die rekonstruierten Vorstellungen treten zudem mit erstaunlicher Konsistenz auf, weshalb etwa auch das vorgestellte Set an dreizehn Alltagsphantasien zur Gentechnik von Gebhard & Mielke (2003, 209) als weitgehend gesättigt gilt. In Übereinstimmung hiermit wird in der Theorie des erfahrungsbasierten Verstehens von Lakoff & Johnsson (2000) davon ausgegangen, dass Individuen in ähnlichen kulturellen Systemen auf der Grundlage ähnlicher Erfahrungen lernen. Aus diesem Grund kann davon ausgegangen werden, dass unterschiedliche Lernende eines kulturellen Hintergrundes über vergleichbare Konzepte und Vorstellungen zu einem Lerngegenstand verfügen. Eine Kultur umfasst ein bestimmtes Repertoire an besonders stark vertretenen Welt- und Menschenbildern. Es ist davon auszugehen, dass Individuen mit ähnlichem kulturellem Hin-
19 Bei 586 Jugendlichen katholischer Bildungseinrichtungen (über die Hälfte im Alter von 17 – 19 Jahren, 80% < 21 Jahre, 46% männlich, 53% weiblich. 55% SchülerInnen, 11% Studierende, 26% Auszubildende) wurden die Ängste und Hoffnungen in Bezug auf Gentechnologie sowie zusätzliche Vorstellungen und Phantasien zu einigen ausgewählten Anwendungsbereichen erfasst (Gebhard 1999, 101). Dazu bekamen die Teilnehmer kurze Statements (z.B. zur Gentherapie, grünen Gentechnik, zu Gentests) vorgelegt und sie wurden aufgefordert, möglichst unzensiert ihre Gedanken, Phantasien und Assoziationen aufzuschreiben.
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tergrund mit hoher Wahrscheinlichkeit auf ähnliche Welt- und Menschenbilder zurückgreifen, diese aber idiosynkratisch bewerten und zusammenstellen. 2.6.1 Alltagsphantasien als subjektive und heuristische Zugänge zum Lerngegenstand Alltagsphantasien als Träger von Welt- und Menschenbildern scheinen also maßgeblich in der Auseinandersetzung mit dem Thema Gentechnik beteiligt zu sein. Aufgrund ihres impliziten Charakters beeinflussen sie Denkprozesse vor allem assoziativ. Dabei lassen sich zwei Wirkrichtungen unterscheiden: Einerseits stellen die den Alltagsphantasien zugehörigen Vorstellungen kreative und subjektiv bedeutsame Zugänge zum Lerngegenstand dar, die von Gebhard in diesem Zusammenhang als „sinnkonstituierend“ betrachtet werden (2005, 55). Nach Born & Gebhard sind lebensweltliche Zugänge zur Welt der Versuch, die Phänomene der Welt kognitiv zu fassen und sie vor dem Hintergrund alltagstheoretischer Annahmen zu verstehen (2005, 255). Aus diesem Grund lohnt es sich sie in der Auseinandersetzung mit Lerngegenständen ernst zu nehmen und aufzugreifen. Auf der anderen Seite können die schnell verfügbaren Assoziationen jedoch auch als „Abkürzungen der Auseinandersetzung“ mit dem Lerngegenstand wirken, die eine bestimmte Perspektive auf den Lerngegenstand induzieren und somit wie eine Einbahnstraße in nur einer Richtung auf den Lerngegenstand zuführen. Ähnlich wie Stereotype oder Schemata können Alltagsphantasien in diesem Sinne als Faustregeln oder Heuristiken verstanden werden, die etwa die kritische Auseinandersetzung mit einem Gegenstandsbereich abkürzen. So zeigen Untersuchungen zur Zugänglichkeit der rekonstruierten Alltagsphantasien, dass diese in unterschiedlichem Maße verfügbar sind. In einer Fragebogenuntersuchung mit knapp 700 Jugendlichen an Schulen aus Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein zur Erfassung der Verfügbarkeit wurden sechs zentrale Vorstellungen ausgewählt (Gebhard 2004, 30; Gebhard & Mielke 2001) und den Jugendlichen in einem vollständigen Paarvergleich zur Beurteilung vorgegeben.20 Während Gentechnik bei vielen Jugendlichen als spontane Reaktion zunächst eher bedrohliche oder zumindest negative Assoziationen auslöst, fällt die 20 Bei einem vollständigen Paarvergleich ist sowohl die Erst- und Zweitnennung als auch die Reihenfolge der Paare bei der Anordnung ausgewogen. Die Vorstellungen wurden mit Hilfe des Programms „paircomp“ (Niketta 1996) angeordnet. Die Probanden hatten insgesamt 15-mal zu entscheiden, „welche der beiden Vorstellungen ihnen eher in den Sinn kam“ (Gebhard 2003c, 153).
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Beurteilung bei der Möglichkeit zu längeren Urteilsprozessen bei den gleichen Jugendlichen deutlich positiver aus (vgl. Gebhard & Mielke 2003). Herrschen bei den spontanen assoziierten Vorstellungen Ängste und Phantasien zum Ende des Individualismus vor, rückt bei Abwägen von positiven und negativen Vorstellungen die Idee der Krankheitsbekämpfung und damit eine auf Chancen ausgerichtete Perspektive auf die Gentechnik in den Vordergrund (Gebhard & Mielke 2003, 214). Alltagsphantasien bergen also wie alle sinnbildlich aufgeladenen Repräsentationen ein suggestives Potential. Auch die mit ihnen zusammenhängenden narrativen Elemente, wie Bilder und Metaphern helfen Wissen schnell zu kategorisieren (Ortony 1975, 48). Die technomorphe Metapher vom Menschen als Maschine suggeriert in ihrer Reduktion von Komplexität unter anderem eine unkomplizierte Anwendung gentechnischer Innovationen. Solche Bilder und Sprachbilder funktionieren nach Gebhard als wichtige kognitive Werkzeuge und Gedächtnishilfen beim Wissenserwerb. Gleichzeitig bergen sie eine Gefahr: Sie wirken suggestiv, indem sie eine Lesart vorgeben und bedürfen aus diesem Grunde der Reflexion. Mit den subjektiven Vorstellungen werden Weltbilder transportiert, die es zu hinterfragen gilt (Gebhard 2005, 57ff.). Gebhard zufolge ist es konstituierender Bestandteil naturwissenschaftlicher Bildung, über naturwissenschaftliche Metaphern und Bilder nachzudenken. Damit wird die Reflexion subjektiver Vorstellungen und der mit ihnen aufgedeckten Bilder und Metaphern notwendiger Bestandteil des didaktischen Ansatzes Alltagsphantasien. Zum einen wird hierdurch die heuristische Qualität dieser Vorstellungen im Sinne ihrer Erkenntnis stimulierenden Perspektiven aufgegriffen und genutzt. Zum anderen wird der Gefahr der Wirkung der subjektiven Vorstellungen als Heuristiken im Sinne von gedanklichen Shortcuts und der manipulativen Wirkung ihrer impliziten Bilder durch eine explizite Reflexion vorgebeugt. Die zentrale These ist, dass die explizite Reflexion assoziativer und intuitiver Vorstellungen die Beschäftigung mit Lerngegenständen in einer Weise vertieft, dass subjektiv bedeutsames, persönlichkeitswirksames Lernen möglich wird (Combe & Gebhard 2007, 62). 2.6.2 Effekte der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien In Interventionsstudien konnte gezeigt werden, dass die explizite Thematisierung von Alltagsphantasien und ihre Einbindung in den Unterricht positive Auswirkungen auf die Motivation sowie auf die Lernleistung haben und damit zwei Effektebenen berühren. Einerseits zeigt sich ein positiver Effekt auf das 93
situative Interesse und die intrinsische Motivation der Lernenden und zudem wird das Gefühl sozialer Eingebundenheit der SchülerInnen gestärkt (Born 2007, Monetha 2009). Vor dem Hintergrund der Selbstbestimmungstheorie der Motivation von Deci & Ryan (1993)21 kann demnach angenommen werden, dass der Unterricht durch die Berücksichtigung subjektiver Sinnentwürfe stärker an der Person ausgerichtet ist. Dürfen Lernende ihre eigenen subjektiven Vorstellungen äußern und mit ihnen auf den Unterricht einwirken, werden das Autonomieerleben sowie das Erleben sozialer Eingebundenheit unterstützt. Andererseits wurde zudem auch das Lernen verbessert: Die Reflexion spontaner Assoziationen zur Gentechnik im Biologieunterricht zeigte nachhaltige Effekte auf das Lernen fachlicher Inhalte zu Genetik und Gentechnik. Besonders in Follow-up Erhebungen zeigten die SchülerInnen, bei denen Alltagsphantasien berücksichtigt wurden, bessere Ergebnisse in Leistungstests zum Unterrichtsstoff (Born 2007, Monetha 2009) und damit ein nachhaltigeres Lernen der im Unterricht behandelten Themen. Diese positive Auswirkung kann nun entweder auf der gesteigerten Lernmotivation beruhen, anderseits ist aber auch eine Erklärung über die induzierten Verarbeitungsmechanismen denkbar. Vor dem Hintergrund der kognitionspsychologischen Annahmen zur Speicherung von Inhalten in einer Netzwerkstruktur lässt sich die explizite Reflexion sonst automatisch aktivierter Assoziationscluster differenziert betrachten. Grundlegend wird in der Lernpsychologie davon ausgegangen, dass das Schaffen von Assoziationen eine Voraussetzung für erfolgreiches Lernen ist. Je reichhaltiger das Netz von bestehenden Assoziationen ist, desto schneller und besser kann neue Information eingefügt und desto effizienter auch wieder abgerufen werden (Anderson 2007, 106). Die explizite Berücksichtigung von Alltagsphantasien könnte eine differenzierte Verknüpfung des Lernstoffes im Gedächtnis zur Folge haben. Als Folge dieser breiten Verknüpfung ist das Gelernte leichter wieder zugänglich und nachhaltiger im Gedächtnis verankert. Andererseits besteht die grundlegende Annahme darin, dass es sich bei den Alltagsphantasien um implizite Vorstellungen handelt, die automatisch im 21
Deci & Ryan (1993) nehmen drei angeborene menschlicher Grundbedürfnisse an, die für das Ausmaß an Motivation ausschlaggebend sind. Diese drei Grundbedürfnisse umfassen das Bedürfnis nach dem Erleben eigener Kompetenz oder Selbstwirksamkeit, das Bedürfnis nach Autonomieerleben sowie das Bedürfnis nach sozialer Eingebundenheit. Nach Deci & Ryan sind motivierte Handlungen qualitativ nach dem Grad ihrer Selbstbestimmtheit zu unterscheiden, die sich über eine Kontinuum von external regulierten (kontrollierten) Handlungen bis zu internal reguliertem (selbstbestimmtem) Verhalten hinstreckt. Dabei gehen Deci & Ryan davon aus, dass die Befriedigung der drei Grundbedürfnisse maßgeblich zum Auftreten intrinsischer Motivation oder zu Internalisation extrinsischer Motivation beitragen (1993, 230).
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Lernprozess aktiviert werden. Die explizite Reflexion bedeutete in diesem Zusammenhang also, dass das Individuum seine Aufmerksamkeit auf diese implizit wirksamen Vorstellungen richten muss. Vor dem Hintergrund der begrenzten kognitiven Kapazitäten sind deshalb auch nachteilige Effekte der expliziten Reflexion denkbar: Die bewusste Auseinandersetzung mit sonst automatisierten Assoziationen wird als sehr aufwendig und kognitiv beanspruchend eingeschätzt und könnte so die Verarbeitung des Lernstoffes beeinträchtigen (vgl. dazu Hennings & Mielke 2005, 251). Zusammenfassend ist zur Wirksamkeit von Alltagsphantasien (auf den Themenbereich der Gentechnik bezogen) also zunächst ihre ausgeprägte Präsenz und ihre inhaltliche Konsistenz als bemerkenswert festzustellen. In der didaktischen Einbindung dieser Vorstellungen in den Unterricht über explizite Reflexion lassen sich positive Effekte auf die Motivation und Lernleistung nachweisen. Darauf aufbauend gehen Born & Gebhard (2005, 267) davon aus, dass die explizite Berücksichtigung von Alltagsphantasien bei der Planung und Gestaltung von Lehr-Lernprozessen in besonderer Weise den Anschluss an die Lebenswirklichkeit der Lernenden gewährleistet, da die Lernenden den Unterrichtsstoff mit ihren eigenen subjektiven Vorstellungen in Beziehung stellen können. 2.7 Alltagsphantasien als Spuren einer impliziten Theorie der Realität Die funktionale Dimension Wie bereits in den Ausführungen zur inhaltlichen Dimension erläutert, werden Menschen- und Weltbildern handlungs- und erkenntnisleitende Funktionen zugeschrieben. Jeder Mensch generiert seine eigenen Perspektiven auf die Welt aus seiner persönlichen Erfahrung und nutzt sie zur Orientierung in der Welt. Nach Scheele & Groeben (1988, 3) lassen sich Menschen- und Weltbilder als subjektive Theorien fassen.22 Sie verstehen die „Kognitionen der Selbst- und Weltsicht als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur, das die zu objektiven Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie erfüllt“. Übereinstimmend hiermit geht auch Epstein von einer impliziten Theorie der Welt aus. Nach Epsteins CognitiveExperiential Self-Theory konstruieren Menschen automatisch ein implizites Modell der Welt, eine „Theory of Reality“. Sie besteht aus zwei großen Kom22 Zur genauen Einordnung der impliziten Theorie der Realität als subjektive Theorie siehe Kapitel 3.4.1
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plexen, einer Theorie über die Welt und einer Theorie über das Selbst sowie verbindenden Propositionen zwischen beiden (Epstein 1994, 715). Weltverständnis und Selbstverständnis hängen demnach eng zusammen und bilden ein „Theoriegebäude“ vor dessen Hintergrund Erlebnisse eingeordnet und gedeutet werden. Diese Theorie besteht nach Epstein nicht zum Selbstzweck, sondern dient dazu, das Leben so lebenswert – d.h. so emotional befriedigend – zu machen wie möglich (1994, 715). Auch Tiere konstruieren nach Epstein ein solches Modell der Welt, allerdings mit dem Unterschied, dass ihre „Theory of Reality“ keine Theorie über das Selbst beinhalte. Annahmen der Theorie, die im rationalen System bestehen, bezeichnet Epstein als „beliefs“ also Überzeugungen. Ihnen gegenüber stehen „implicit beliefs“ oder „Schemata“ im experientialen System. Diese impliziten Schemata, die die Bausteine der impliziten „Theory of Reality“ im erfahrungsbasierten System darstellen, basieren vor allem auf Generalisierungen, die von emotional bedeutsamen Erfahrungen herrühren und die in eine zusammenhänge Theorie integriert werden. Nach Epstein organisieren diese Schemata zusammengenommen ein adaptives System und nehmen Einfluss aufeinander. So entstehen für den Menschen implizite und kulturell bestimmte Interpretationsroutinen im Umgang mit der Umwelt. In Anlehnung an Epstein gehe ich deshalb davon aus, dass jeder Mensch ein eigenes implizites Modell von der Welt und dem Menschen konstruiert, die ich im Folgenden als implizite Theorie der Realität bezeichne. Vor ihrem Hintergrund werden Erlebnisse gedeutet und Informationen verortet. Diese subjektive implizite Theorie der Realität über den Menschen und die Welt spiegelt sich in den Vorstellungen, die als „subjektive Resonanzen“ in Reaktion auf Lerngegenstände ausgelöst werden. Alltagsphantasien lassen sich deshalb als Spuren der impliziten Theorie der Realität und damit der Menschen- und Weltbilder des Individuums beschreiben, die in Form von Intuitionen, affektiven Reaktionen oder spontanen Assoziationen explizit werden und damit in der Unterrichtssituation Sichtbarkeit erlangen. Alltagsphantasien wären also (mit Epstein) als narrative Elemente dieser impliziten Theorie der Realität zur Ordnung der Welt zu verstehen, die auf einer emotionalen und assoziativen Ebene das Denken eines Menschen beeinflussen. Im Einklang mit dieser Konstruktion einer impliziten Theorie der Realität weist Oerter darauf hin, dass Menschenbilder historisch sowie kulturell abhängig sind (1999b, 185). Die Kultur präsentiere dabei Menschenbilder, die das Individuum im Laufe seiner Entwicklung übernehme (Oerter 1999b, 195). Somit verinnerlicht jedes Individuum seine kulturell abhängige Ethnotheorie. „Diese Ethnotheorie vom Menschen kann zwar durch das Individuum modifi96
ziert werden, bildet aber zugleich einen Rahmen, der für die einzelnen so selbstverständlich ist, dass es schwerfällt aus dieser Selbstverständlichkeit des Denkens herauszutreten“ (Hervorhebung im Original, Oerter 1999b, 195). Was Oerter hier als „Selbstverständlichkeit des Denkens“ fasst, bezeichnet ebenfalls den impliziten Charakter der verinnerlichten Theorie über den Menschen. Auch D’Andrade (1984, 116) versteht Kultur vor allem unter ihrem funktionalen Aspekt: Kultur bestehe aus erlernten Systemen von Bedeutung (meaning), die durch Sprache und andere symbolische Systeme kommuniziert werden und repräsentationale, direktive, also richtungweisende, und affektive Funktionen haben. Diese Bedeutungssysteme konstituieren kulturelle Einheiten und eine bestimmte Wahrnehmung der Realität. Durch diese Bedeutungssysteme adaptieren Menschen sich an ihre Umwelt und strukturieren ihre Erlebnisse und Aktivitäten. Im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Thema Gentechnik im Biologieunterricht werden also die Menschen- und Weltbilder aktiviert, die der Lernende in Zusammenhang mit diesem Thema bringt bzw. die in seinem kognitiven Netzwerk verknüpft sind. Ähnlich wie Hammer & Elby (2002) es für die Aktivierung von epistemischen Überzeugungen annehmen, ist auch für die von mir hier eingeführte implizite Theorie der Realität davon auszugehen, dass der Kontext den bestimmenden Faktor dafür bildet, welche Teile dieser impliziten Theorie der Realität eines Individuums aktiviert werden. Nach Hennings & Mielke (2005, 239) ist es interindividuell verschieden und in der Erfahrungsbzw. Lebenswelt des Individuums sowie in der Situation begründet, welche Alltagsphantasien oder unbewussten Prozesse ein Lerngegenstand bei einem Individuum auslöst. Dabei ist anzunehmen, dass eine implizite Theorie der Realität keineswegs in allen Bereichen in sich kohärent und geschlossen sein muss. Sondern Menschen verfügen über höchst unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen von der Welt und ihren Gefügen, so wie von sich selbst. Oerter zufolge werden Menschenbilder „je nach Bedarfslage, Zielsetzung und weltanschaulicher Orientierung konstruiert“ (1999b, 1). Auch nach Gebhard (2004, 27; 2004b, 81) haben Menschen kein intuitiv sicheres Wissen vom „Wert der Natur“, vom „Wert des Lebens“, von „Gut und Böse“ oder vom „Wesen des Menschen“. Menschen verfügen über unterschiedlichste Ideen gleichzeitig, die jeweils unterschiedlichen Erfahrungen und Quellen entstammen und aus unterschiedlichen Gründen und in unterschiedlichen Zusammenhängen (eben abhängig vom kontextuellen Rahmen) aktiviert werden. Gebhard zufolge verfügen Individuen über verschiedenste Vorstellungen mit Erklärungspotential, die „nicht nur ideologiehaltige Muster, sondern zugleich sinnstiftenden Lebensgrundhaltungen, zum Beispiel 97
Vorstellungen über uns selbst und darüber, wie wir leben wollen“ (2004, 27) enthalten. Es ist davon auszugehen, dass die implizite Theorie der Realität mit allen Weltbildern und Menschenbildern, die sie umfasst, in allen Lernprozessen (eigentlich in allen Lebenslagen) und in der Auseinandersetzung mit jeglichen Lerngegenständen eine mehr oder weniger große Rolle spielt. Diese Theorie bildet das Grundverständnis, mit dem alle Erlebnisse und Begebenheiten erklärt werden. Nach Gebhard hat Wissen keine Bedeutung „an sich, sondern der Lernende konstruiert konstruktiv eine Bedeutung, eben eine Interpretation der Wirklichkeit, die es gestattet, diese zu verstehen und sich in ihr zurechtzufinden“ (Hervorhebung im Original, Gebhard 2000, 69). Diese Konstruktion der Bedeutung erfolgt immer vor dem Hintergrund der persönlichen impliziten Theorie der Realität. Alltagsphantasien entsprechen demnach expliziten Zipfeln dieser impliziten Theoriedecke, in die alle Erlebnisse und Phänomene der Welt eingebettet werden. Diese Zipfel gilt es im Unterricht nicht unbeachtet wieder verschwinden zu lassen, sondern zu ergreifen, um dem Individuum bei seiner Einbettung der Lerngegenstände Unterstützung zu leisten. Die Alltagsphantasien sind damit quasi Anzeichen dafür, dass Lernende beginnen, einen Gegenstand überhaupt an ihre implizite Theorie der Realität heranzuführen und damit quasi einen ersten Schritt zur „Einbettung“ des Lerngegenstandes machen. 2.7.1 Sinnverlangen beim Lernen Diese Überlegungen lassen sich mit Gebhards Ausführungen zum „Sinnverlangen an die Realität“ von Menschen verknüpfen (Combe & Gebhard 2007, 13, vgl. auch Combe & Gebhard 2009). Lernen wird dabei als eine Konstruktionsleistung des Individuums verstanden, die durch ein Verlangen nach „Sinn“ angetrieben wird (Gebhard 2003, 207). Dieses „Sinnverlangen“ fasst Gebhard dabei sozusagen als anthropologische Konstante.23 23
Dieses „Sinnverlangen an die Realität“ ist die wesentliche Lernmotivation von Menschen das Gebhard (2003, 210) innerhalb der Motivationstheorie von Deci & Ryan (1993) mit der intrinsischen Motivation in Einklang sieht. Nach Deci & Ryan (1993, 226) repräsentieren intrinsisch motivierte Handlungen „den Prototyp selbstbestimmten Verhaltens. Das Individuum fühlt sich frei bei der Auswahl und Durchführung seines Tuns. Das Handeln stimmt mit der eigenen Auffassung von sich selbst überein. Die intrinsische Motivation erklärt, warum Personen frei von äußerem Druck und inneren Zwängen nach einer Tätigkeit streben, in der sie engagiert tun können, was sie interessiert.“
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Mit dieser Denkrichtung ist ein Lernprozess nun als erfolgreich zu verstehen, wenn sich dabei das Gefühl von subjektivem Sinn einstellt (2003b, 33). Dieses „Sinn finden“ geht dabei nicht auf das Auffinden eines gegebenen Sinns zurück, sondern realisiert sich in der Konstruktion von Sinn durch das Individuum (Combe & Gebhard 2007, 13). Wichtig dabei ist, dass nach Gebhard mit jedem Lerngegenstand, der an Kinder herangetragen wird, auch ihre subjektive Persönlichkeit beeinflusst wird (Gebhard 2003b, 47). Das Sinnverstehen als Aneignung von Lerngegenständen wird dabei als ein „kleines Ereignis der individuellen Biographie“ interpretiert und als ein Aspekt der Identitätsentwicklung angesehen (Born & Gebhard 2005, 257).24 Vor diesem Hintergrund verstehe ich Alltagsphantasien als Reaktionen auf Lerngegenstände, die als Spuren der aktivierten kulturellen Identität eines Individuums interpretierbar sind. Das besondere Augenmerk Gebhards bei der Sinnkonstitution liegt deshalb auf der Beziehung zwischen den Dingen der Welt und dem Individuum. Prozesse des Verstehens setzen nach Decke-Cornill & Gebhard (2007b, 11) die Interaktion zwischen Subjekt und Objekt voraus. Denn sie bedürfen auf der einen Seite des Erfahrungs- und Wissenshorizontes des Verstehenden, auf der anderen Seite wird das Objekt in seiner Struktur im Verstehensprozess erforscht. In sinnvollen Lernprozessen würde deshalb über die einseitige Aufnahme von Informationen hinausgehend der Lerngegenstand mit subjektiver Bedeutung versehen. Genau an dieser Stelle spielen nach Gebhard die symbolische Valenz des Lerngegenstandes und damit die Alltagsphantasien eine zentrale Rolle, da sie als affektive Grundlage des Lernprozesses verstanden werden können (Gebhard 2005, 55). Damit sind die Geschichten, Metaphern, Bilder und Symbole gemeint, die Menschen nutzen, um sich die Welt um sie herum begreifbar zu machen. Gebhard spricht unter Rückgriff auf Blumenberg von der „Lesbarkeit der Welt“: Das Verstehen oder „Lesen der Welt“ erfolgt demgemäß in „den Metaphern, den Bildern, den Welt-bildern des Menschen“ (Gebhard 2005, 56, vgl. auch Born & Gebhard 2005, 258).25 24
Dieser Gedanke fußt in dem Konzept der Bildungsgangtheorie, nach der Bildung und Lebenslauf eng miteinander verknüpft betrachtet werden müssen (Born & Gebhard 2005, 257). 25 Charakteristischerweise komprimieren Metaphern Informationen quasi platzsparend und machen Zusammenhänge begreifbar, die sich sonst schlecht verbalisieren lassen. Hierdurch lässt sich Wissen schnell kategorisieren und verinnerlichen (Ortony 1975, 48). Viele biologische Prozesse und Phänomene werden über Metaphern und Bilder vermittelt, wie der „Abwehrkampf“ des Immunsystems, der Zellkern als „Steuerzentrale“ der Zelle oder DNA als „Kochbuch“. Solche Bilder und Sprachbilder sind nach Gebhard wichtige kognitive Werkzeuge beim Wissenserwerb, da sie Erkenntnis stimulieren. Gleichzeitig bergen sie eine Gefahr: Sie wirken suggestiv, indem sie eine Lesart vorgeben und bedürfen aus diesem Grunde der Reflektion. Symbole transportieren auch Weltbilder, die es zu hinterfragen gilt (Gebhard 2005, 57ff.).
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Ich verstehe „Sinnkonstruktion“ vor dem Hintergrund der kognitionspsychologischen Modelle zudem als einen mit der Wahrnehmung einhergehenden automatischen Interpretationsprozess (siehe 2.4 zu prozeduralen Dimension). Alltagsphantasien sind in diesem Zusammenhang als Spuren dieser automatischen Bedeutungszuweisung zu verstehen (vgl. Hennings & Mielke 2005). 2.7.2 Didaktische Implikationen Gebhard zufolge muss also zwischen den objektiven Erkenntnismethoden und Strukturen der Wissenschaft, die Grundlage der schulischen Lerngegenstände sind, und der inneren subjektiven Bedeutung der Lerngegenstände unterschieden werden. In der Unterscheidung und gleichzeitigen Vermittlung zwischen beiden sieht Gebhard die „genuin didaktische Perspektive“ (2003b, 47). Lehrende könnten sich noch so sehr um subjektiv bedeutungsvolle Lernumgebungen bemühen, etwa indem sie gesellschaftlich und kulturell bedeutsame Themen aufgreifen: Ihre Bemühungen bleiben jedoch fruchtlos, wenn sie die subjektiven Beiträge der SchülerInnen ignorierten oder ablehnten (Gebhard 2003b, 48). Die Tiefe des Lernprozesses hat nach Gebhard mit der Gelegenheit zur Verknüpfung des Lerngegenstandes mit subjektiven Vorstellungen, Phantasien, Bildern und Metaphern – also mit Alltagsphantasien – zu tun (Gebhard 2003b, 51) und führt ihm zufolge dazu, dass Lernende sich in „Kontinuität mit der kulturellen Welt erleben können“ (Combe & Gebhard 2007, 71). Dazu gehöre es aus didaktischer Perspektive, dass Sinnverlangen der Subjekte zuzulassen und „Sinnieren“ nicht als unpassendes Abschweifen zu diskreditieren, sondern die psychische Bedeutung der Dinge in Lernprozessen zu berücksichtigten (2003b, 33). Damit ist eine didaktische Haltung von Lehrenden gefordert, offen und hellhörig für diese Form von subjektiven Resonanzen zu sein und sie in den Unterricht einzubinden und zu stimulieren. Hierzu ist ein Bewusstsein für die Existenz und Orientierungsfunktion der impliziten Theorie der Realität von Individuen und für die Funktionsweise menschlicher kognitiver Mechanismen notwendig. Vor diesem Hintergrund lassen sich subjektive Resonanzen wie Alltagsphantasien überhaupt erst erkennen. Es bedarf der Entwicklung eines Verständnisses dafür, was diese subjektiven Resonanzen offenbaren und welche Potentiale sie bergen. Auf dieser Ebene hilft also schon eine „Bewusstheit“ für das heuristische Potential des impliziten Wissens, wichtige Anknüpfungspunkte im Unterricht erkennen zu können.
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Allerdings ist eben auch eine volitionale Komponente unerlässlich: Es muss die Bereitschaft bestehen, die subjektiven Vorstellungen von Lernenden anzuerkennen und berücksichtigen zu wollen. Die affektiv aufgeladenen Vorstellungen in den Unterricht zu integrieren oder geradezu herauszufordern, fordert Flexibilität und Offenheit. Dies birgt die Furcht vor Kontrollverlust und Beeinträchtigung der Geradlinigkeit des Unterrichtes für viele LehrerInnen. Nach Gebhard haben Alltagsphantasien jedoch eine kreative und heuristische Qualität: „Man gelangt zu neuen Perspektiven und Fragestellungen und hat die Chance, in Auseinandersetzungen eine persönlichere und offenere Haltung einzunehmen. Diese Art der Selbstwahrnehmung gilt es zu schulen“ (Gebhard 2007, 125). Das Konzept der Alltagsphantasien ist aus dieser Perspektive ein didaktisches Modell mit dem Ziel ein komplexes Umdenken bei Lehrenden anzuregen.
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3 Komponenten einer kulturell bedingten impliziten Theorie der Realität – Eine systematische Verortung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien
In den beiden vorangegangenen Kapiteln wurde zum einen das Konstrukt der epistemischen Überzeugungen und zum anderen das Konzept der Alltagsphantasien entlang zentraler Charakteristika ausgearbeitet. Beide Formen von Vorstellungen werden in dieser Arbeit miteinander in Beziehung gesetzt, da sie in wichtigen Dimensionen übereinstimmen: Epistemische Überzeugungen sind als implizite, sozial erworbene Vorstellungen zu verstehen, die in Lernsituationen kontextabhängig aktiviert werden und dann als sozial geteilte Intuitionen zu Wissen und Wissenserwerb Einfluss auf die Verarbeitung von Informationen nehmen. Alltagsphantasien bezeichnen ebenfalls implizite, sozial erworbene Vorstellungen, die Aspekte des Welt- und Menschenbildes einer Person transportieren, in Lernsituationen kontextabhängig aktiviert werden und Einfluss auf die Perspektive auf Lerngegenstände und deren Bewertung nehmen. Beide Konzepte zeichnen sich also dadurch aus, dass sie implizite Vorstellungen annehmen, die sich auf einer intuitiven Ebene in Lernprozessen auswirken. Diese Vorstellungen sind in beiden Fällen sozial erworben, d.h. ihre inhaltliche Ausrichtung ist kulturell beeinflusst. Im Laufe der Sozialisation werden also bestimmte Perspektiven auf den Menschen und die Welt sowie auf die Genese und Struktur von Wissen erworben und verinnerlicht. Die Konzepte zu Alltagsphantasien und epistemischen Vorstellungen ähneln sich damit sowohl in ihren Annahmen zu ihrer ontogenetischen Entstehung (kulturelle Bedingtheit) als auch zur Art ihrer Aktivierung in Lernsituationen (automatisierte Generierung). Beide Formen von Vorstellungen beeinflussen weitgehend unbemerkt vom Lernenden, meist außerhalb der bewussten Kontrolle des Individuums, dessen Zugang zu einem Phänomen. Beide Charakteristika bilden zentrale Aspekte für Unterricht in der Schule: Kulturelle Diversität ist ein Charakteristikum moderner Gesellschaften und damit auch moderner Bildungsinstitutionen. Die Schülerschaft weist zunehmend 102 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
komplexere und vielseitigere kulturelle Hintergründe auf, weshalb die Berücksichtigung individueller Perspektiven auf den Menschen und die Welt an Bedeutung für den Umgang mit Lerngegenständen zunimmt. In diesem Kapitel werden nun kulturtheoretische und kognitionspsychologische Erkenntnisse zusammengeführt: Vor dem Hintergrund moderner kognitionspsychologischer Erkenntnisse ist eine erweiterte Perspektive auf Lernprozesse und ihre Unterstützung möglich und nötig. Die Potentiale automatischer Verarbeitungsprozesse beim Lernen zu berücksichtigen und einzubeziehen, kann hilfreiche Erklärungen für das Verständnis und die Unterstützung individuellen Lernverhaltens liefern. Dies könnte besonders für den Umgang mit kultureller Diversität gelten, da angenommen werden kann, dass sich das kulturelle Verständnis vor allem in impliziten Deutungsmustern und Perspektiven äußert (Fiske 2000, Haidt 2001). Diese Annahme zum Zusammenhang von kultureller Erworbenheit und implizitem Charakter von Wissen wird im Folgenden theoretisch hergeleitet und unterfüttert. Dazu werden die beiden Aspekte „kulturelle Bedingtheit“ und „impliziter Charakter“ von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in den ersten beiden Teilen dieses Kapitel genau aufgeschlüsselt. Um die zentrale Bedeutung impliziten kulturell begründeten Wissens für das Individuum zu fassen, wurde bereits im letzten Kapitel der Begriff der impliziten Theorie der Realität eingeführt. Die kulturell abhängigen Perspektiven auf den Menschen26 und die Welt haben eine Orientierungsfunktion: Sie helfen dem Individuum alle Eindrücke und Informationen einzuordnen, zu organisieren und mit Bedeutung zu versehen. Die implizite Theorie der Realität ist aus diesem Grund der Schlüsselterm dieses Kapitels. Doch auch die Perspektiven auf Wissen und die Genese von Erkenntnis sind kulturell begründet und liefern einen wichtigen Baustein für die Art und Weise, wie Menschen die Welt betrachten und verstehen. Das Konzept der impliziten Theorie der Realität wird deshalb im dritten Teil dieses Kapitels erweitert und ausgeschärft, indem epistemische Überzeugungen als ein Teilaspekt dieser Theorie konzipiert werden. Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen lassen sich dabei aufgrund ihrer unterschiedlichen Eigenschaften unterschiedlichen Wirkdimensionen der impliziten Theorie der Realität im Lernprozess zuordnen:
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Hiermit ist in erster Linie der Mensch als Gattungswesen gemeint. Nach Fahrenberg (2004, 305) umfassen Menschenbilder alle Annahmen und Überzeugungen dazu, „was der Mensch von Natur aus ist, wie er in seinem sozialen und materiellen Umfeld lebt und welche Werte und Ziele er in seinem Leben haben sollte. Es umfasst das Selbstbild und das Bild von anderen Personen oder von den Menschen im Allgemeinen“.
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(1) Während Alltagsphantasien auf einer assoziativen Ebene bedeutungsähnliche Inhalte aktivieren und so für die Bewertung des Lerngegenstandes eine Rolle spielen, (2) wirken sich epistemische Überzeugungen vor allem auf die Verarbeitungsweisen im Lernprozess aus. In Anlehnung an Forschungsergebnisse von Hannover & Kühnen (2002) werden die jeweiligen Rollen von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien als Teile der impliziten Theorie der Realität genauer bestimmt. Im Anschluss hieran werden im vierten Teil dieses Kapitels die inhaltlichen Zusammenhänge von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen untersucht. Dabei wird anhand der rekonstruierten Alltagsphantasien analysiert, ob durch bestimmte in Alltagsphantasien vertretene Menschen- und Weltbilder auch epistemische Überzeugungen transportiert werden. Auf der Ebene der Verarbeitungsprozesse wird abschließend der Frage nachgegangen, in welcher Weise epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien auf die Verarbeitung von Informationen im Lernprozess einwirken. Um dies genauer zu bestimmen, werden beide Konstrukte in einem Modell zu Verarbeitungsprozessen in der Wissenskonstruktion integriert (Kruglanski 1990). Hieraus lassen sich spezifische Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in Lernprozessen ableiten, die abschließend im zweiten Teil dieser Arbeit empirisch untersucht werden: Epistemische Überzeugungen nehmen möglicherweise Einfluss auf den reflexiven Umgang mit Alltagsphantasien. Umgekehrt ist anzunehmen, dass sich die Reflexion von Alltagsphantasien darauf auswirkt, welche Muster von epistemischen Überzeugungen im Lernprozess aktiviert werden. Wenn epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien Anteile einer übergreifenden impliziten Theorie der Realität sind, wäre durch die Auseinandersetzung mit den eigenen Welt- und Menschenbildern die situative Ausprägung der eigenen persönlichen Epistemologie möglicherweise beeinflussbar. 3.1 Zusammenhänge zwischen epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien Aufgrund ihrer Bedeutung in Lernprozessen als Vorstellungen mit nichtfachlichem Charakter, sind epistemische Überzeugungen bereits früher neben Alltagsphantasien gestellt worden: In ihrer Auflistung bedeutsamer Vorstellungen in Lernprozessen unterscheidet Born (2007, 76) einerseits Vorstellungen auf der Fach- bzw. Inhaltsebene und andererseits solche Vorstellungen, die über diese 104
konkrete Inhaltsebene hinausgehen. Hier nennt Born epistemische Vorstellungen, Vorstellungen zum eigenen Lernen und Lernprozess, Deutungen von Entwicklungszielen sowie Alltagsphantasien (bei Born als „Vorstellungen zum Selbst- und Menschenbild“ bezeichnet).27 Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen werden bei Born also aufgrund ihrer Bedeutung in Lernprozessen in enge Nachbarschaft gestellt. Auch auf der inhaltlichen Ebene lassen sich Überscheidungen feststellen: Die von Gebhard erhobenen Alltagsphantasien zum Experimentieren, die subjektive Vorstellungen zum Probiercharakter, zur Zufälligkeit und zur emotionalen Erlebnisqualität von Experimenten umfassen, stehen in enger Verwandtschaft mit epistemischen Überzeugungen und bilden eine Schnittmenge mit diesen Vorstellungen (vgl. Gebhard 2007, 110; Combe & Gebhard 2007, 68ff., Murmann 2007). Umgekehrt können Erkenntnisse der Forschungen zu epistemischen Überzeugungen und Nature of Science, wie etwa die von Solomon (1993) und Höttecke (2001) beschriebenen verrückten und gefährlichen Wissenschaftlertypen (siehe Kapitel 2.6) auch als Alltagsphantasien verstanden werden, transportieren diese Vorstellungen doch nicht nur epistemische Inhalte, sondern vor allem Menschenbilder. Die mystischen Vorstellungen vom gefährlichen und gleichsam entfesselten Wissenschaftler korrespondieren auf inhaltlicher sowie affektiver Ebene eng mit Alltagsphantasien vom „Menschen als Schöpfer“ oder der „Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen“, die ideengeschichtlich bis in die griechische Mythologie zurückreichen (siehe Kapitel 3.5.1.2). 3.2 Implizite kulturell erworbene Vorstellungen Auffällig sind die bereits genannten Übereinstimmungen in der Genese von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien: Beide Formen von Vorstellungen spiegeln die Weltanschauungen und Perspektiven auf den Menschen und sein Tun, die für die Gesellschaft und Kultur typisch sind, in der das Individuum aufwächst. Diese sind internalisiert, da sie vornehmlich informell während der Sozialisation durch das Individuum erworben werden. Hofstede (1993, 89) definiert Kultur als „the collective programming of the mind which distinguishes one group or category of people from another (…) Culture is a con27 Die von ihr aufgeführten Vorstellungen zur „Sinnhaftigkeit naturwissenschaftlichen Wissens“ lassen sich meiner Meinung nach als epistemische Überzeugungen verstehen und würden aus meiner Perspektive diesen zugeordnet. Ebenso lassen sich Überzeugungen zum Lernen in Anlehnung an Schommer-Aikins als „epistemically related beliefs“ fassen (vgl. Schommer-Aikins & Easter 2008, 921).
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struct, that means it is „not directly accessible to observation but inferable from verbal statements and other behaviors“. 3.2.1 Die kulturelle Bedingtheit von epistemischen Überzeugungen In den letzten Jahren ist die kulturelle Abhängigkeit epistemischer Überzeugungen in den Fokus der Forschung gerückt. Jeng et al. (1993, 25) postulieren, dass der Erwerb epistemischer Überzeugungen als ein Prozess der Enkulturation zu verstehen sei und gehen davon aus, dass „individual epistemological beliefs are shaped by the surrounding culture“ (Jehng et al. 1993, 34). Auch SchommerAikins (2004) geht von Zusammenhängen zwischen kulturbasierten interpersonalen Beziehungen und Lernen aus. Muis et al. (2006, 31) nehmen ein kulturell inklusives Modell epistemischer Überzeugungen an. Ihrer Theory of Integrated Domains in Epistemology (TIDE) zufolge werden epistemische Überzeugungen als komplexe sozial konstruierte Vorstellungen verstanden, die durch die Interaktion mit dem soziokulturellen Umfeld von Geburt an entstehen und sich bis zum Lebensende weiterentwickeln. Jüngere Untersuchungen zum kulturell abhängigen Charakter epistemischer Überzeugungen unterstützen diese Perspektive: Untersuchungen von Youn et al. (2001) mit südkoreanischen Studierenden offenbarten Unterschiede in den Zusammenhängen zwischen unterschiedlichen Dimensionen epistemischer Vorstellungen im Vergleich mit US-amerikanischen Studierenden. Während in westlichen Gesellschaften Überzeugungen zu den Quellen von Wissen vor allem mit Überzeugungen zur Sicherheit von Wissen in Zusammenhang stehen, sind sie für koreanische Studierende eher mit Vorstellungen zur Geschwindigkeit des Lernens und der Angeborenheit von Fähigkeit verbunden. In Studien zu epistemischen Überzeugungen in Hong Kong zeigten Chan & Elliot (2002, 408), dass sich die gefundenen Dimensionen epistemischer Überzeugungen bei Anwendung des Fragebogens von Schommer (1993) von den bei US-amerikanischen Stichproben gefundenen Dimensionen unterscheiden. Zusammenfassend stellen sie fest, dass Lehramtsstudierende aus Hong Kong den Wissenserwerb als Prozess auffassen, der an Anstrengung gebunden ist. Dabei gilt Fähigkeit als veränderbar durch Anstrengung. Chan & Elliot (2002) führen dies auf das kulturelle Umfeld zurück, in dem geprägt durch die traditionelle Lehre des Konfuzius, Fleiß und Anstrengung starke Werte verkörpern. Zudem erwies sich der Glaube an Autoritäten als Quelle von Wissen als ein wichtiger Faktor (vgl. Chan & Elliot 2004, 130). Dies führen Chan & Elliot (2004, 137) auf die Bedeutung des Glaubens an Autoritä106
ten in der traditionellen chinesischen Kultur zurück, in der Respekt und Gehorsam gegenüber Respektspersonen und Älteren wichtiger Bestandteil ist. Im Gegensatz hierzu wurde in Studien mit amerikanischen Stichproben meist kein direkter Nachweis für diese von Schommer begründete Dimension gefunden. Dieses Ergebnis wird auf kulturelle Unterschiede zurückgeführt: Während asiatische Kulturen stärker kollektivistisch orientiert sind, sind westliche Kulturen eher individualistisch ausgerichtet und betonen die Entwicklung eines unabhängigen Denkens, dass sich von Autoritäten ablöst. Hofstede (1993, 89) verweist in seinen Untersuchungen zu Management-Strukturen in unterschiedlichen Kulturen auf die Bedeutung der Dimension des Individualismus: „It is the degree to which people in a country prefer to act as individuals rather than as members of groups. The opposite of individualism can be called Collectivism, so collectivism is low individualism (…) In collectivist societies a child learns to respect the group to which it belongs, usually the family, and to differentiate between in-group members and out-group members (…) They have to remain loyal to their group throughout life“ (Hofstede 1993, 89).
Unterstützt wird diese Lesart durch ähnliche Befunde mit Stichproben aus anderen kollektivistischen Kulturen. Karabenick & Moosa (2005) verglichen Studierende aus dem Oman und US-amerikanische Studierende in ihren epistemischen Überzeugungen. Karabenick & Moosa (2005, 376) charakterisieren Gesellschaften des Mittleren Ostens als „relatively authoritarian political-religious vertically collective cultures (…) in which the political and social discourse involves status and power differences“. Der Oman ist eine Monarchie, die durch den Sultan als die höchste und finale Autorität regiert wird. Der Islam nimmt als Staatsreligion Einfluss auf die meisten gesellschaftlichen Bereiche. Zudem zeigen sich trotz Bemühungen der Gleichstellung deutliche Unterschiede im Bildungsgrad und der Gleichberechtigung von Männern und Frauen (Karabenick & Moosa 2005, 378). Den Befunden zufolge tendieren omanische Studierende stärker zu einer Akzeptanz wissenschaftlicher Autoritäten als Quelle wissenschaftlich wahrer Aussagen und neigen auch stärker dazu Wissen als einfach und sicher anzusehen. Dies wird auf die Bedeutung von Repetition und Auswendiglernen im Unterricht im Oman zurückgeführt (Karabenick & Moosa 2005, 379). Dabei ließ sich jedoch ein geschlechtsspezifischer Effekt bei den Studenten aus dem Oman, nicht aber bei den US-amerikanischen Probanden feststellen: Omanische Studenten zeigten eine stärkere Akzeptanz für Autoritäten als Studentinnen. Dies wird darauf zurückgeführt, dass Männer im Oman durch ihre stärkere Partizipation an religiösen und politischen Angelegenheiten kulturellen Autoritäten
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stärker ausgesetzt und deshalb die Unterordnung unter Autoritäten stärker habituieren (Karabenick & Moosa 2005, 389). „Whereas highly achieving and selected Omani college women who have transcended culturally based gender restrictions would be less reliant on authority“(Karabenick & Moosa 2005, 379). Palmer & Mara (2008, 328) berichten von einer Studie von Arreondo & Rucinski (1996) zu den epistemischen Überzeugungen von US-amerikanischen und chilenischen LehrerInnen. Während die US-LehrerInnen reifere epistemische Überzeugungen in Bezug auf „Kritik an Autoritäten“ oder „Angeborenheit von Lernfähigkeit“ zeigten, hatten die chilenischen LehrerInnen reifere epistemische Überzeugungen in Bezug mit Vorstellungen zum „Umgehen mit Ambiguität“. Auch hier wurden kulturelle Divergenzen als Erklärungen für die Unterschiede in den Neigungen der LehrerInnen angenommen. Insgesamt besteht in der kulturvergleichenden Forschung zu epistemischen Überzeugungen das Problem, dass die meisten Messinstrumente in den USA entwickelt und validiert wurden und dann in Übersetzungen auf andere Kulturen angewendet werden. Eine solche Praxis basiert jedoch nach Hofer (2008, 4) auf der grundlegenden Annahme, dass sich die Dimensionen auf alle Kulturen anwenden lassen. Diese Annahme ist vor dem Hintergrund der eben beschriebenen Studien jedoch höchst fragwürdig. 3.2.2 Die kulturelle Bedingtheit von Alltagsphantasien In der Forschung zu Alltagsphantasien wurden bisher keine kulturübergreifenden Untersuchungen durchgeführt, weshalb der angenommene kulturell abhängige Charakter bisher nicht empirisch gestützt ist. Der kulturell und historisch abhängige Charakter von Menschenbildern ist in der Forschung jedoch anerkannt (Oerter 1999b, 185). Damit ist davon auszugehen, dass auch Alltagsphantasien als Spuren der Welt- und Menschenbilder eines Individuums je nach kultureller Ausrichtung des Lernenden unterschiedlich ausgeprägt sein werden und deshalb auch unterschiedliche Verständnisse des Lerngegenstandes einleiten. Oerter zufolge verinnerlicht jeder Mensch im Laufe seiner Sozialisation seine kulturell abhängige Ethnotheorie, die als „selbst-verständlicher“ Rahmen des Denkens und Handelns des Individuums fungiert (Oerter 1999b, 195). Dies wird am Beispiel der Unterschiede im westlichen und östlichen Menschenbild an dieser Stelle einmal beispielhaft ausgeführt: Das westliche Menschenbild hat seine Wurzeln in der griechischen Antike sowie im Christentum (Oerter 1999b, 185). Hieraus leitet sich nach Oerter eine besondere Wertschätzung des Individuums ab, die den zentralen Unterschied des westlichen Men108
schenbildes zum östlichen Menschenbild ausmacht. Während in der westlichen Welt ein Konzept vom Menschen entstand, dem eine individuelle Identität zugrunde liegt, die ein stabiles und kontinuierliches Selbst umfasst, ist der sich von anderen unterscheidende und gegen andere ab- und heraushebende Mensch in östlichen Kulturen ein „unziemliches Bild“ von einem Menschen (Markus & Kitayama 1991, 224; Oerter 1999b, 186). Hier erfährt sich der Mensch durch seine Bezogenheit zu anderen und zum Ganzen. Markus & Kitayama (1991, 1998) prägten für dieses Menschenverständnis den Begriff des „interdependent self“ des bezogenen Selbst. Demgegenüber steht im westlichen Verständnis das „independent self“ als das unabhängige Selbst. Ein interdependentes Selbst erlebt sich als verbunden mit anderen Personen und versteht sich nicht als getrennt vom sozialen Kontext. Während das independente Selbst darauf abzielt, persönliche Eigenheiten auszubilden, steht beim interdependenten Selbst die Kontrolle persönlicher Besonderheiten im Vordergrund, die an die Erfordernisse der sozialen Umwelt angepasst werden müssen. Das independente Selbst findet sich nach Markus & Kitayama (1991, 225) am klarsten exemplifiziert in der US-amerikanischen Kultur, aber auch in vielen westeuropäischen Kulturen. Die interdependente Selbst-Konstruktion ist in der japanischen Kultur und vielen anderen asiatischen Kulturen exemplifiziert, ist aber auch charakteristisch für afrikanische, lateinamerikanische und viele südeuropäische Kulturen. Dabei sind nach Oerter auch die Ziele je nach Kultur unterschiedlich ausgeprägt: In kollektivistischen Kulturen ist das kollektive und öffentliche Selbst wichtiger als das private, das in westlichen Kulturen höher geschätzt wird (1999b, 187). Hierzu passen die bereits ausgeführten Untersuchungen zum Einfluss der Kultur auf die persönliche Epistemologie (s.o.) sowie die Ausführungen von Pai & Adler (2001) zu den Unterschieden östlicher und westlicher Lernkultur (vgl. Kapitel 1.4). Sie führen die Schwierigkeiten von Migrantenkindern im USamerikanischen Schulsystem auf kulturell divergierende epistemische Überzeugungen zurück. Während westliche Bildungsinstitutionen auf dem Lernmotiv der individuellen Leistung und dem Prinzip der persönlichen Beteiligung aufbauen, steht in der östlichen Tradition das Motiv der Gruppenleistung im Vordergrund. Für Menschen aus so genannten „shared function cultures“ (Asiaten, Afrikaner, Lateinamerikaner, Indianer) basiert Lernen dabei auf Gelehrigkeit und erfolgt durch Beobachtung und Nachahmung (Pai & Adler 2001, 223). Menschenbilder und damit auch Weltbilder sind kulturell abhängig und in verschiedenen Kulturen in unterschiedlichem Maße ausgeprägt. Sie berühren als grundlegende Interpretationsfolien alle Bereiche des Lebens und stehen auch 109
mit den epistemischen Überzeugungen einer Person in Zusammenhang. Epistemische Überzeugungen lassen sich somit als Teil der menschlichen Perspektive auf die Welt verstehen. In den folgenden Ausführungen wird der Frage nachgegangen, wie sich kulturelles Wissen in den Individuen einer kulturellen Gemeinschaft manifestiert und wie es transportiert wird. Dabei steht der besondere Charakter kulturellen Wissens als impliziter Konsens im Mittelpunkt. 3.2.3 Kulturelles Wissens als komplexer Konsens Mit Haidt (2001, 827) kann kulturelles Wissen als ein komplexes Netz aus explizitem und implizitem, sensorischem und propositionalem, affektivem, kognitivem und motorischem Wissen verstanden werden. Auf Whiting & Child (1953, 27) zurückgehend ist kulturelles Wissen als ein „custom complex“, ein „Komplex an Bräuchen“ zu verstehen, den ein Individuum erwirbt und in den es immergiert. Auch nach LeVine (1984, 67) lässt sich Kultur als eine geteilte Struktur von Ideen verstehen, die für eine Gemeinschaft gängige intellektuelle, moralische und ästhetische Standards sowie die Bedeutung kommunikativer Akte beinhalten. Kultur repräsentiert demnach einen Konsens über eine breite Auswahl an Bedeutungen zwischen Mitgliedern einer interagierenden Gemeinschaft. LeVine vergleicht diesen Konsens mit dem Konsens über Sprache zwischen Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft: Sprache versteht er dabei als eine individuelle Aktion, weshalb sich auch jedes Individuum in seiner Sprechweise unterscheidet. Dennoch können die Sprechenden einer Sprache einander von ihrem ersten Aufeinandertreffen an verstehen. Diese Kapazität für ein gegenseitiges Verstehen wird dabei begleitet von einem bemerkenswerten Konsens über die Regeln der Betonung und Grammatik. Gleichermaßen bestehe in Kulturen im Allgemeinen ein Konsens in der Gemeinschaft über die Bedeutung von Symbolen verbaler und nonverbaler Art (LeVine 1984, 68). „Every human community functions with a group consensus about the meanings of the symbols used in the communications that constitute their social life (…) because such a consensus is as necessary for encoding and decoding messages in social communication in general as agreement about speech rules is to encoding and decoding in the linguistic mode” (LeVine 1984, 69).
Hofstede & Hofstede (2005, 3) verstehen Kultur als “software of the mind”. Ihm zufolge tragen Menschen Muster des Denkens, Fühlens und potentiellen Verhal-
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ten in sich, die sie im Laufe ihres Lebens (größtenteils in früher Kindheit) gelernt haben. Mit der Metapher der Software wollen Hofstede & Hofstede (2005) nicht ausdrücken, dass Menschen programmiert seien, wie Computer. Kultur indiziert vielmehr welche Reaktionen wahrscheinlich und vor dem Hintergrund der Vergangenheit eines Menschen verständlich seien. Kultur ist dabei immer ein kollektives Phänomen: „It is the collective programming of the mind that distinguishes the members of one group or category of people from others“ (Hervorhebung im Original, Hofstede & Hofstede 2005, 4). Hofstede & Hofstede (2005) benutzt den Term “collective programming of the mind” dabei im Anschluss an das Konzept des Habitus von Bourdieu. Kultur ist als ein in sich hoch verknüpftes und komplexes Konstrukt zu verstehen. Denn kulturelle Symbole umfassen nach LeVine (1984, 70) Kombinationen von Bedeutungen und erlangen hierdurch ihre starke affektive Bedeutung. Ein bestimmtes Verständnis ist mit vielen weiteren Dimensionen der Kultur verknüpft. Angehörige einer Kultur evaluieren Situationen nach LeVine automatisch vor dem Hintergrund des gesamten kulturellen Kontextes, wohingegen ein Außenstehender das Zusammenspiel nur schwer entschlüsseln kann (1984, 73). Den Mitgliedern einer Kultur fallen die Verbindungen zwischen einzelnen Aspekten und symbolischen Akten nicht mehr auf – sie werden vorausgesetzt, werden aber mit anderen Kulturen nicht geteilt. 3.2.4 Implicit culture und tacit communication – Unbewusste Prozesse in der Bildung kulturellen Wissen LeVine unterscheidet in seinen Betrachtungen explizite und implizite Kultur. Explizite kulturelle Anteile umfassen die Regeln, Überzeugungen und Kennzeichen, die Angehörige einer Kultur explizit darlegen und verbalisieren können. Mit dem Term „implicit culture“ verweist LeVine dagegen auf die Regelmäßigkeiten der Gepflogenheiten, die den Angehörigen einer Kultur nicht auffallen, die ihnen nicht bewusst sind und deshalb auch schwer zu verbalisieren sind (1984, 76). Nach LeVine werden diese grundlegenden Ideale und Ideen durch den breiten sozialen Konsens geradezu vor der Entdeckung beschützt. Da diese Ideale und Ideen niemandem auffallen, werden sie dadurch auch nicht hinterfragt und herausgefordert, sondern verstärkt. Die Verinnerlichung stellt LeVine (1984) wie folgt dar: Kulturelle Phänomene wie etwa moralische Regeln oder Symbole erlauben die kumulative Kombination verschiedener Arten von Wissen. Kinder erwerben und verändern ihr Verständnis der „gleichen“ Symbole, dadurch dass sie im Laufe ihrer kognitiven 111
Entwicklung in der Kultur verschiedene Bedeutungen ansammeln. Die intuitiven Bedeutungen gehen dabei nach LeVine auf früh gelernte Bedeutungen zurück, die internalisiert wurden (sensorischer Pol) und den reflektiven Bedeutungszuweisungen (ideologischer Pol) gegenüberstehen (LeVine 1984, 85). Demnach gehen früh erworbene Bedeutungen nicht verloren, sondern formen die intuitive Basis emotionaler Reaktionen auf Symbole, selbst wenn diese Symbole mittlerweile auf einem reflektiven Level verstanden werden können. Nach LeVine reagieren Individuen, die seit ihrer Kindheit in einer kulturellen Umgebung aufgewachsen sind, auf deren Symbole aus diesem Grund in einer Art und Weise, die die multiplen Dimensionen ihrer kognitiven Erlebnisse mit diesen Symbolen spiegelt. Sie unterscheiden sich dadurch merklich von Individuen, deren Erfahrungen mit diesen Symbolen erst im Erwachsenenalter begannen (LeVine 1984, 85). Shweder versteht Sozialisation als „tacit communication“ (Shweder 1984, 49). Ihm zufolge zeichnet sich Enkulturation gerade dadurch aus, dass ein informelles Lernen von Verhalten und Praktiken von anderen Personen erfolgt. Die intellektuelle Umwelt eines Individuums sei voll von „already crystallized cultural products“, die als kollektive Repräsentationen auf lange kollektive Entwicklungen zurückgehen (Shweder 1984, 57). Sie werden quasi unbewusst und unhinterfragt mitgelernt. In Übereinstimmung hiermit macht Fiske (2000, 84) darauf aufmerksam, dass Kinder in den meisten Kulturen erstaunlich wenig über ihre Kultur „gelehrt“ bekommen, sondern den Großteil ihres kulturellen Wissens über Beobachtung und Imitation erwerben. In diesem Zusammenhang betont Fiske (2000, 84), dass die Bedeutung von Handlungsschemata und implizitem Wissen in Kulturen unterschätzt werde: Kulturelles Wissen werde zu großen Teilen durch nonverbale und unbewusste Prozesse erworben. Auch Haidt zufolge (2001, 828) werden soziale Fähigkeiten und Verhaltensweisen graduell und implizit erworben und wirken in menschlichen Denkprozessen dann auf einer unbewussten Ebene. In Übereinstimmung mit den in Kapitel 2.4 vorgestellten Zwei-Prozess-Modellen erklärt Haidt (2001), dass nur die Ergebnisse der automatischen Verarbeitung im Bewusstsein auftauchen und dann als Intuition erlebt werden. Mit Fiske, LeVine oder Haidt muss davon ausgegangen werden, dass sich kulturelles Wissen besonders in implizitem Wissen und verinnerlichten Handlungsschemata verdichtet, die als grundlegende Richtschnüre dem täglichen Denken und Handeln zugrunde liegen. Die epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien eines Individuums basieren also auf Konzepten, die Teil eines impliziten Konsenses zwischen Trägern der Kultur des Individuums sind.
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In den vorangegangenen Kapiteln wurden die in der Forschung bestehenden Überlegungen zum impliziten Charakter epistemischer Überzeugungen und Alltagsphantasien bereits herausgearbeitet (siehe Kap. 1.2 und 2.4). Epistemische Überzeugungen werden in der Forschung häufig unkommentiert als implizit oder teilweise automatisch aktiviert angenommen, selten jedoch erfolgt eine dezidierte Auseinandersetzung mit ihrem impliziten Charakter. Im Konzept der Alltagsphantasien stellt ihr impliziter Charakter ein zentrales Charakteristikum dar. Was unter implizitem Wissen genau zu verstehen ist, wie es entsteht und durch welche Merkmale es sich auszeichnet, wird im Folgenden ausgeführt.
3.3 Implizites Wissen und seine Bedeutung für die Enkulturation Mit implizitem Wissen in Lernprozessen werden eine Fülle von Phänomenen in Zusammenhang gebracht, wie träges Wissen oder aber nicht explizit benennbares Handlungswissen (wie etwa das Wissen über die Anordnung der Tasten beim Tippen auf einer Computertatstatur), automatisiertes Wissen (wie etwa beim Autofahren), Primingeffekte28 oder implizites Wissen als Basis von Intuitionen. Implizites Wissen beschreibt nach Anderson damit den Bereich der Dinge, die Menschen wissen, aber nicht beschreiben können (Anderson 2007, 278). Haider bezeichnet implizites Wissen als nicht verbalisiertes, unbewusstes Wissen (2000, 175). Dabei wird davon ausgegangen, dass automatische und unbewusste Verarbeitung eine notwendige Fähigkeit ist, um mit der Flut an Informationen umzugehen, die ein Mensch in jedem Moment durch seine Sinnesorgane erfasst. Eine Million mehr Bits an Information erreichen das menschliche Gehirn in jedem Moment als der Mensch bewusst wahrnimmt. Norretranders vergleicht das menschliche Bewusstsein deshalb mit einem Scheinwerfer in einem dunklen Theater: „Ein Gesicht wird dramatisch in Szene gesetzt, während alle anderen Personen, Requisiten und Teile des Raumes im Dunkel verschwinden“ (1998, 126). Menschen verfügen jedoch ständig auch über Wissen, das nicht im Scheinwerferlicht ihres Bewusstseins steht. Im Rahmen der Forschung zu implizitem Wissen tauchen viele parallele Begriffe auf, die teilweise ähnliche Phänomene bezeichnen, wie implicit memory, tacit 28 Priming bezeichnet die Verbesserung der perzeptuellen Wiedererkennungsleistung oder nachfolgenden Verarbeitung eines Stimulus nach vorhergehender Präsentation dieses Stimulus (Schacter et al. 1993, 161).
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knowledge, tacit knowing, Intuition und automatisches Wissen. Dieser Teil des Kapitels soll nicht dazu dienen, die gesamte Forschung zu implizitem oder unbewusstem Lernen und Gedächtnisinhalten zu rekapitulieren, sondern soll kurz die wichtigsten Überlegungen zu implizitem Wissen und Lernen zusammenstellen. 3.3.1 Was ist implizites Wissen? Lange Zeit galt in der Forschung die heute veraltete Annahme, dass implizites Wissen passiv und unbewusst erworben würde: „Implicit knowledge results from the induction of an abstract representation of the structure that the stimulus environment displays, and this knowledge is acquired in the absence of conscious, reflective strategies to learn” (Reber 1989, 219). In den 80er Jahren nahmen Autoren wie Reber (1989) oder Hayes & Broadbent (1988, 251) einen passiven und nicht selektiv charakterisierten Lernmodus an, der ohne die Intention zu lernen mehr oder weniger automatisch abläuft. Dem gegenüber stand das explizite Lernen, das intentional erfolge und an einen aktiven, bewussten, langsamen, mühevollen, selektiven und sequentiellen Prozess gebunden sei. Heute ist diese Unterscheidung dank jüngerer Untersuchungen und moderner Zwei-Prozess-Modelle der Informationsverarbeitung nicht mehr in dieser Weise aufrecht zu erhalten. Nach Strack & Deutsch (2004, 224) oder Smith & Decoster (2000) können reflektiv gebildete Wissensinhalte durch Gewöhnung und Übung und damit einhergehende häufige gemeinsame Aktivierung ihrer Teilkonzepte automatisiert werden. „Any skill, be it perceptual, motor, or cognitive, requires less and less conscious attention the more frequently and consistently it is engaged“ (Bargh 1997, 28). Die reflektiv und damit bewusst und mühevoll erworbenen Kognitionen können somit verinnerlicht und in bestimmten Situationen automatisiert – also außerhalb bewusster Kontrolle – aktiviert werden. In der modernen Forschung zu implizitem Wissen ist umstritten (Haider 2000, 176), ob eine durchgängige Unterscheidung von implizitem und explizitem Wissen empirisch haltbar ist. Ebenso umstritten ist die darüber hinausgehende Annahme, dass implizite Lernprozesse zu implizitem Wissen führen, das reflexiven Prozessen nicht zugänglich ist. Reber (1989, 229) fasst implizites Wissen deshalb in seinen späteren Schriften wie folgt: „Knowledge required from implicit learning procedures is knowledge that, in some raw fashion, is always ahead of the capability of its possessor to explicate it”. Diese sehr ungenaue Definition spiegelt die Schwierigkeit in der Forschung, das Phänomen impliziten Wissens genau einzuordnen und zu definieren. 114
3.3.2 Zentrale Befunde zum impliziten Wissen Die Forschung zu implizitem Wissen begann mit Untersuchungen zum Problemlösen, dem Erwerb künstlicher Grammatiken sowie seriellen Wahlreaktionsaufgaben (Reber 1989, 220). Bei derartigen Experimenten trat immer wieder das Phänomen einer Dissoziation zwischen Performanz und verbalisiertem Regelwissen zutage. Die Probanden konnten nach einer Lernphase ein zugrundeliegendes Regelsystem zwar nicht explizit benennen, zeigten jedoch in ihrem Umgang mit dem Problem oder den Buchstabenfolgen in den weiteren Experimenten Ergebnisse, die besser waren als nach Zufall zu erwarten war. Die Probanden hatten demnach implizit ein Verständnis der zugrundeliegenden Spielregeln oder künstlichen Grammatiken erworben (vgl. Haider 2000, 177ff.). Es wird angenommen, dass unbewusst ein Wissen über die Relationen zwischen Stimuli erworben wird. Methodisch ist festzuhalten, dass implizites Wissen in diesen Verfahren „durch eine quantitative Dissonanz zwischen zwei Verhaltensmaßen nachgewiesen (wird), wobei eines als Maß für die bewusste Verfügbarkeit des Wissens oder für einen reflexiven Zugriff aus dieses Wissen gelten muss, das andere für die implizite Verfügbarkeit des Wissens“ (Haider 2000, 182). Die Schwierigkeit implizites „unbewusstes“ Wissen abzubilden, wird also über eine Hilfskonstruktion gelöst. Ein reicher Corpus an Forschung konnte zudem zeigen, dass implizite Lernprozesse robust gegen viele Erkrankungen und kognitive Fehlfunktionen sind, wie z.B. Amnesie (Schacter et al. 1993, 160). Erklärt werden diese Befunde mit einer stärkeren Resistenz der unbewussten impliziten Lernprozesse, da sie als phylogenetisch älter und „primitiver“ eingestuft werden (Reber 1989, 232; 1992, 145, 1993). Evans (2008, 259) zufolge gehen auch zahlreiche Autoren zu Zwei-Prozess-Modellen in der Unterscheidung der beiden Verarbeitungsprozesse von einem evolutionär älteren impulsiven, automatischen oder experientialen System aus, das Menschen mit Tieren teilen. Evans weist jedoch darauf hin, dass nicht alle impliziten Prozesse diesem evolutionär „alten“ System zugeordnet werden können, sondern zu beachten ist, dass die Systeme in komplexerer Weise miteinander interagieren. Auch Perrig et al. (1993) betonen, dass Untersuchungen mit Vorstellungsaufgaben vielfach zeigen, wie automatische und unbewusste Erfahrungskomponenten zielorientierte und bewusste Denkprozesse begleiten und deshalb „zwischen Bewusstem und Unbewusstem nicht unverrückbare Grenzlinien zu ziehen sind“ (Perrig et al. 1993, 133).
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Die Forschungen zum Lernen bei Patienten mit Amnesie29 zeigen, dass diese über implizites Wissen zu Erfahrungen verfügen, die sie nicht bewusst wiedergeben können. In einer Studie von Graf et al. (1984) etwa wurden gesunde Menschen und Amnesiepatienten in ihrem Erinnerungsvermögen untersucht. Dazu lernten die Probanden eine Liste von Wörtern, wie etwa das englische Wort camera. Die Probanden wurden aufgefordert, die Wörter hinterher wiederzugeben. Wie erwartet zeigten die Probanden mit Amnesie deutlich schlechtere Ergebnisse als gesunde Probanden (Graf et al. 1984, 168). In einer weiteren Wortergänzungsaufgabe bekamen alle Versuchsteilnehmer dann die ersten drei Buchstaben eines zuvor gelernten Wortes präsentiert. Die Probanden sollten das Wort dann ergänzen, wie etwa hier die ersten drei Buchstaben cam . Die Zufallswahrscheinlichkeit, das Wort camera zu ergänzen, liegt dabei unter zehn Prozent. Beide Gruppen ergänzten das gelernte Wort jedoch in beinahe 50 Prozent der Fälle zu camera. Hierbei zeigte sich kein Unterschied zwischen gesunden Versuchsteilnehmern und Probanden mit Amnesie (Graf et al. 1984, 168). Explizit hatten die Amnesiepatienten also keine Erinnerung an die Wortliste, zeigten jedoch in dieser Aufgabe, dass sie genauso wie die gesunden Patienten Gedächtnisinhalte zu den Wörtern gebildet hatten. Die Verbesserung der perzeptuellen Wiedererkennungsleistung oder nachfolgenden Verarbeitung eines Stimulus nach vorhergehender Präsentation dieses Stimulus wird als Priming bezeichnet (Schacter et al. 1993, 161). Amnesiepatienten zeigen also noch intakte Primingreaktionen. Ebenso zeigen Untersuchungen zu Erinnerungsleistungen von Menschen aller Altersstufen, dass implizite Erinnerung in jedem Alter voll funktionsfähig ist. Während die explizite Erinnerung etwa beim Berichten über eine vorher gemachte Erfahrung von jungen Erwachsenen doppelt so effizient ist wie die von achtzigjährigen Menschen oder Kindergartenkindern, zeigen sich über alle Altersstufen hinweg dieselben Leistungen in der impliziten Erfahrungsnutzung (Perrig et al. 1993, 152). Heute wird davon ausgegangen, dass unterschiedliche Gehirnregionen für das Generieren von expliziten und impliziten Gedächtnisinhalten in solchen Versuchsanordnungen verantwortlich sind. Durch Untersuchungen mit dem Medikament Midazolam, das sich auf Neurotransmitter im Hippocampus auswirkt, konnte gezeigt werden, dass der Hippocampus eine zentrale Stellung bei der Bildung expliziter Gedächtnisinhalte besitzt. Polster et al. (1993, 615) konnten nachweisen, dass sich Midazolam zwar negativ auf das explizite Gedächtnis auswirkt, jedoch die implizite Gedächtnisfunktion unberührt lässt. Über bildge29
Amnesie bezeichnet eine Form der Gedächtnisstörung für zeitliche oder inhaltliche Erinnerungen..
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bende Verfahren wurde zudem ein Zusammenhang von impliziten Gedächtnisinhalten und kortikalen Regionen nachgewiesen. Laut Anderson (2007, 282) besteht die Annahme in der Forschung, dass neue explizite Erinnerungen im Hippocampus gebildet werden, jedoch mit zunehmender Erfahrung einen Transfer in den Kortex erfahren. Durch Verfahren wie dem Priming werden kortikale Erinnerungen kurzzeitig verstärkt und stehen dann in späteren Tests schneller zur Verfügung. Moderne Theorien zum Arbeitsgedächtnis gehen davon aus, dass auch das Arbeitsgedächtnis explizit als auch implizit operiert (Hassin 2005, 210). Jüngere Konzeptionalisierungen des Arbeitsgedächtnisses (Cohen et al. 1990, 353f.; O`Reilly et al. 1999) integrieren dabei genau diese beiden genannten Komponenten des Gehirns: Das Arbeitsgedächtnis umfasst den präfrontalen Kortex, der spezialisiert ist zur aktiven Aufrechterhaltung von Informationen, die dynamische Updates erfahren, sowie den Hippocampus, der auf das schnelle Lernen arbiträrer Information spezialisiert ist. Außerdem umfasst das Arbeitsgedächtnis einen hinteren perzeptuellen Kortex und einen Motorkortex, der langsames Langzeitlernen ausführt. 3.3.3 Was ist implizit an implizitem Wissen? Zur Erklärung der Ergebnisse aus Studien zu impliziten Gedächtnisinhalten standen sich lange Zeit zwei alternative Betrachtungsweisen gegenüber: Verfechter des „Multiple memory systems view“ führen Primingeffekte auf die Operation von zwei unterschiedlichen Gedächtnissystemen zurück. Dabei unterscheide sich das „Implizite Gedächtnis“ neurophysiologisch und in seiner Verarbeitungsweise von dem Gedächtnissystem, das expliziten Erinnerungen zugrunde liegt (Schacter et al. 1993, 173). Squire et al. (1985, 83) etwa schreiben die explizite und bewusste Gedächtnisbildung einem deklarativen Gedächtnis und implizite Gedächtnisbildung einem prozeduralen Gedächtnissystem zu. Implizites Wissen wird verfügbar, wenn sich Personen in Tätigkeiten engagieren, in die das Wissen eingebettet ist. Auch die Unterscheidung von episodischem und semantischem Gedächtnis lässt sich dieser Perspektive zuordnen. Nach Tulving operiert das episodische Gedächtnis mit einzigartigen, konkreten, persönlichen und zeitlich verorteten Ereignissen, die der Erinnernde erlebt hat, wohingegen das semantische Gedächtnis generelles, abstraktes und zeitloses Wissen beinhaltet, das die Person mit anderen teilt (Tulving 1986, 307). Die prozessorientierte Perspektive dagegen erklärt Priming und ähnliche Effekte mit den gleichen Prinzipien, die auch 117
genutzt werden können, um das explizite Gedächtnis zu verstehen und ohne multiple Gedächtnissysteme zu postulieren. In den letzten Jahren hat sich die sozialpsychologische Forschung verstärkt auf implizite Phänomene konzentriert und dabei Stereotype, Vorurteile und Einstellungen auf ihre unbewussten Wirkungsweisen hin untersucht (Farnham et al. 1999). Diese Forschungen gehen soweit, dass Bargh von einer Demystifizierung der unbewussten Kontrolle höherer mentaler Prozesse spricht (Bargh 2005, 41). In diesem Zusammenhang sind neue Untersuchungsmethoden, wie der Implicit Association Test (IAT) oder das Evaluative Priming entwickelt worden, die nicht auf der bewussten Evaluation des Einstellungsobjektes selbst beruhen, sondern etwa Reizreaktionszeiten messen und versuchen, den Einfluss impliziter Stereotype über schnellere Zuordnungen oder rascheres Wiedererkennen nachzuweisen. Strack & Deutsch (2004, 239) zufolge ist der psychologische Status impliziter Erhebungsmethoden jedoch sehr unklar, da manche Theoretiker davon ausgingen, implizite Erhebungs-instrumente identifizierten implizite Einstellungen oder Stereotype, während andere es vorziehen, das Messinstrument selber als implizit zu verstehen, nicht jedoch das gemessene Konstrukt. Strack & Deutsch (2004) definieren implizite und explizite Erhebungsmethoden deshalb über die kognitiven Operationen, die durch sie erfasst werden. Explizite Erhebungsinstrumente berühren das Wissen oder die Überzeugungen von Menschen, während implizite Erhebungsinstrumente ihre assoziativen Strukturen berühren. Die Begriffe explizit versus implizit werden von Strack & Deutsch (2004) lediglich für psychologische Prozesse, nicht jedoch für mentale Inhalte verwendet. Alle kognitiven Elemente sind im Modell von Strack & Deutsch (2004, 223) im kognitiven Netzwerk implementiert. Implizite Prozesse werden im impulsiven System des Zwei-Prozess-Modells lokalisiert, während explizite Prozesse dem reflektiven System zuzuordnen sind (Strack & Deutsch 2004, 239; siehe Kapitel 2.4). Innerhalb des impulsiven Systems wird Information durch Aktivierungsmuster in einem Speicher von Assoziationen repräsentiert. Das reflektive System kann dagegen propositionale Repräsentationen formen, indem es ein oder mehrere Elemente durch die Instantiierung eines relationalen Schemas verknüpft. Der Unterschied zwischen einfachen Assoziationen und propositionalen Repräsentationen verweist auf die Verarbeitungsform. Implizites Wissen zeichnet sich nach Strack & Deutsch (2004) also nicht dadurch aus, dass es an sich in erster Linie unbewusst oder implizit vorliegt, sondern es wird erst durch das Verarbeitungslevel, durch das es in eine Situation eingebracht wird, zu einer implizit wirkenden Kognition. Nach dieser Konzeption können vermeintliche „implizite“ kognitive Konzepte durchaus reflektiven Lernprozessen entspringen und sind deshalb auch potentiell bewusstseinsfähig 118
und kontrolliert aktivier- und abrufbar. Der Grad ihrer Automatisierung sowie die Verknüpfung mit anderen Faktoren einer Situation bestimmt jedoch, ob Kognitionen in konkreten Situationen implizit oder explizit wirken. Nach dieser Auffassung sind epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien in Lernsituationen deshalb als vornehmlich implizite Vorstellungen zu verstehen, weil sie automatisch aktiviert werden und als verinnerlichte Vorstellungen unbemerkt vom Lernenden auf sein Denken zum Lerngegenstand einwirken. Bestehen über das reflektive System auch propositionale Verknüpfungen zu diesen Konzepten, sind sie auch potentiell bewusstseinsfähig und können dann verbalisiert und in Fragebögen erhoben werden.30 Die Besonderheit kulturell erworbener Perspektiven besteht nun jedoch darin, dass viele Aspekte oder Dimensionen unreflektiert und über informelle und passive Lernprozesse erworben werden. Demnach ist es möglich, über Fragebögen reflektiv zugängliche Dimensionen von epistemischen Überzeugungen und Welt- und Menschenbildern zu erreichen. Die Konzepte jedoch, die in der Lernsituation über assoziative Mechanismen aus dem assoziativen Pool an Vorstellungen aktiviert werden, können sich hiervon unterscheiden. Nach Reber lassen sich durch die Annahme implizit wirkenden und vorliegenden Wissens Phänomene, wie das der Intuition, erklären. “Perhaps the most compelling aspect of intuition (…) is that the individual has a sense of what is right or wrong, a sense of what is the appropriate or inappropriate response to make in a given set of circumstances, but is largely ignorant of the reasons for that mental state. (…) To have an intuitive sense of what is right and proper, to have a vague feeling of the goal of an extended process of thought, to „get the point“ without really being able to verbalize what it is that one has gotten, is to have gone through an implicit learning experience and have built up the requisite representative knowledge base to allow for such judgment” (Reber 1989, 232f.).
Die intuitiven Reaktionen, die Reber hier als Folge impliziter Lernprozesse skizziert, beschreiben normative Urteile wie Richtig und Falsch, Angemessen oder Unangemessen, die bezeichnenderweise kulturell abhängige Bewertungen von Situationen sind. Das individuelle Verständnis davon, was Richtig und Falsch ist, hängt dabei sowohl von dem Weltbild des entscheidenden Individu-
30 Dennoch kann sich die Ausprägung von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen, die in Lernsituationen über automatische Mechanismen aktiviert wurden, von den in Fragebögen explizit artikulierten Inhalten unterscheiden.
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ums ab, als auch von seiner erkenntnistheoretischen Betrachtungsweise darauf, wie sich Richtig und Falsch in einem Bereich abgrenzen lassen. Kultur und Sozialisation sind Quellen festgelegter und immer wiederkehrender Interpretationsroutinen im Umgang mit der Umwelt, über die ein kultureller Konsens besteht. Die mit ihnen vermittelten Blickwinkel auf den Menschen und die Welt werden von dem heranwachsenden Individuum verinnerlicht. In der Auseinandersetzung mit der Umwelt erfolgt dann die unmittelbare Bedeutungszuweisung durch den automatisierten Rückgriff auf diese verinnerlichten Perspektiven auf die Welt (vgl. Hennings & Mielke 2005, 252). Auf diese Weise erfolgt die Enkulturation eines Menschen. Epistemische Überzeugungen und die intuitiven Welt- und Menschenbilder, die in Form von Alltagsphantasien in Lernsituationen explizit werden, erwachsen diesem verinnerlichten kulturellen Konsens eines Individuums. 3.4 Die Erweiterung der impliziten Theorie der Realität In Kapitel 2.7 wurden Alltagsphantasien als Spuren der impliziten Theorie der Realität eines Menschen konzeptionalisiert. In Anlehnung an Epstein (1994) wird davon ausgegangen, dass Menschen automatisch ein implizites Modell der Welt, ihrer Funktionsweise und der Rolle des Menschen in dieser Welt konstruieren. Dieses mentale Modell zum Aufbau und zur Ordnung der Welt hat Orientierungsfunktion für den Menschen und dient als erkenntnisleitendes Gerüst vor dessen Hintergrund alle Erlebnisse gedeutet und Erkenntnisse verortet werden. 3.4.1 Die implizite Theorie der Realität als subjektive Theorie Die implizite Theorie der Realität kann als subjektive Theorie nach Groeben et al. (1988) verstanden werden. Groeben et al. fassen subjektive Theorien in einem weiten Sinne als Kognitionen der Selbst- und Weltsicht, die als komplexes Aggregat mit (zumindest impliziter) Argumentationsstruktur die zu objektiven (wissenschaftlichen) Theorien parallelen Funktionen der Erklärung, Prognose und Technologie erfüllen (1988, 19). Subjektive Theorien sind damit als relativ stabile mentale Strukturen zu verstehen. Nach Dann (1994, 166) stellen subjektive Theorien teilweise implizite, teilweise dem Bewusstsein des Handelnden zugängliche kognitive Strukturen dar. Der Begriff „Theorie“ beinhaltet dabei, dass die in der Theorie organisierten oder in sie eingehenden Kognitionen in einem Verhältnis zueinander stehen, so dass Schlussfolgerungen möglich sind. 120
Groeben et al. (1988, 18) halten die Charakterisierung dieser Argumentationsstruktur dabei bewusst offen. Sie postulieren jedoch, dass subjektive Theorien „für das reflexive Subjekt Mensch eine parallele Funktion haben, wie objektive Theorien für das reflexive Subjekt Wissenschaftler“ und beziehen sich dabei auf die oben genannte Orientierungs- und Organisationsfunktion (Groeben at al. 1988, 19). Dann (1994, 167) zufolge dienen subjektive Theorien der „Situationsdefinition im Sinne einer Realitätskonstituierung“, der nachträglichen Erklärung eingetretener Ereignisse oder ihrer Vorhersage sowie der Generierung von Handlungsentwürfen. Die in dieser Arbeit entworfene implizite Theorie der Realität stimmt mit dieser weiten Charakterisierung größtenteils überein. Als subjektive Theorie besteht der Inhalt der impliziten Theorie der Realität aus Phänomenen der Selbst- und Weltsicht des reflexiven Subjekts, die in einer bedeutungshaltigen Struktur miteinander organisiert sind. Allerdings ist es wichtig, den impliziten Charakter der zugrundeliegenden Argumentationsstruktur tatsächlich ernst zu nehmen. Es ist nicht davon auszugehen, dass Handlungen oder Interpretationen von Erlebnissen in der Umwelt, die in dem Moment im Einklang mit der eignen impliziten Theorie der Realität stehen, nicht in anderen Situationen anders ausfallen und damit der ersten Interpretation widersprechen können. Während die von Groeben et al. (1988) angesprochenen „objektiven wissenschaftlichen Theorien“ einer ständigen reflexiven Kontrolle auf Widersprüche und Inkonsistenzen durch die wissenschaftliche Gemeinschaft ausgesetzt sind, ist aufgrund der impliziten Argumentationsstruktur für subjektive Theorien keine solche Gradlinigkeit anzunehmen. Menschen sind in der Lage, in ihrem sie tagtäglich leitenden Weltbild widersprüchliche oder gegensätzliche Perspektiven miteinander zu vereinen, oder je nach Situation eine andere Perspektive zu bevorzugen. Die hier postulierte implizite Theorie der Realität muss keineswegs in allen Bereichen in sich kohärent und geschlossen sein. In diesem Sinne hat diese implizite Theorie der Realität auch nur auf eine eingeschränkte Weise parallele Funktionen zu objektiven wissenschaftlichen Theorien, da sie eben nur begrenzt reflexiven Prozessen zugänglich ist. Als Beispiele subjektiver Theorien nennen Groeben et al. (1988, 20) unter anderem die „Implizite Persönlichkeitstheorie“ von Bruner & Tagiuri (1954) oder die „Naiven oder Alltagstheorien“ von Laucken (1974). Groeben et al. (1988) schreiben ihrem Forschungsprogramm der subjektiven Theorien ein hohes Integrationspotential zu, da es viele verschiedene Ansätze und Theorien auf eine gemeinsame Grundstruktur zurückführt. Vor diesem Hintergrund ist davon auszugehen, dass die implizite Theorie der Realität verschiedene andere 121
Theorien zu Kognitionsaggregaten des reflexiven Subjektes über sich Selbst (Selbstkonzeptmerkmale) oder andere Menschen (Implizite Persönlichkeitstheorie) in sich vereint. In seiner engen Auslegung beinhaltet der Begriff der subjektiven Theorie nach Groeben et al. (1988, 22) zudem die Selbsterkenntnis des Menschen als normative Prämisse und verbindet das Konzept mit einer methodologischen Komponente: Es wird davon ausgegangen, dass die Selbsterkenntnis des reflexiven Subjektes unter Umständen auch als objektive Erkenntnis akzeptierbar ist und deshalb das reflexive Subjekt in den Forschungsprozess eingebunden wird und zur Überprüfung der Realitätsadäquanz herangezogen werden kann. Es wird also davon ausgegangen, dass die Angemessenheit der Rekonstruktion der subjektiven Theorie im Dialog mit der untersuchten Person festgestellt werden kann. Auch in Bezug auf die implizite Theorie der Realität wird hier davon ausgegangen, dass sie dem reflexiven Subjekt in Teilen zugänglich ist und potentiell reflektiert werden kann. Der reflexive Umgang mit den eigenen Alltagsphantasien wird etwa als Quelle kreativer und subjektiver Zugänge zum Lerngegenstand gesehen. In welchem Umfang die Ausleuchtung der eigenen impliziten Theorie der Realität jedoch tatsächlich möglich ist, lässt sich vor dem Hintergrund der Befunde zum impliziten Charakter kulturellen Wissens nicht abschätzen. Mit LeVine (1984) ist davon auszugehen, dass Menschen nur einen begrenzten Einblick in ihre eigenen verinnerlichten Perspektiven auf die Welt haben. Das umfassende Erkennen und Reflektieren der eigenen Denkmuster und Interpretationsroutinen ist deshalb nur wenigen Menschen möglich. 3.4.2 Epistemische Überzeugungen als Teil der impliziten Theorie der Realität Die subjektive und implizite Theorie der Realität spiegelt sich in den Vorstellungen, die Lernende als „subjektive Resonanzen“ in Reaktion auf Lerngegenstände zeigen. Alltagsphantasien lassen sich deshalb als Spuren der impliziten Theorie der Realität und damit der Menschen- und Weltbilder des Individuums beschreiben. Auf der Basis der bisher ausgeführten Überlegungen lassen sich epistemische Überzeugungen ebenfalls als ein Baustein der impliziten Theorie der Realität verstehen. Da sie eng an die kulturell bestimmten Perspektiven auf den Menschen und die Welt gebunden sind, bestimmen sie, auf welche Weise mit Informationen umgegangen wird, wie sehr ihnen vertraut wird und ob und wie Informationen überprüft werden.
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Nach Dillon (2008) ist es selbstverständlich, dass unsere Einstellungen zu der Wahrhaftigkeit eines Konzeptes durch eine Reihe von kulturellen, historischen, politischen und sozialen Faktoren beeinflusst sind. „There is a reason why so many people in the world believe that the earth is about 5.000 years old and it’s not because they’re unintelligent, it’s because they choose not to believe the scientific consensus“ (Dillon 2008, 400).
Dillon (2008) verweist auf Wells, demzufolge alle kognitiven Konzepte kollaborativ produzierte Konstrukte darstellen, die das Reich dessen „was gewusst wird“ konstituieren. Zudem sind sie symbolische Formulierungen, die in Texten verschiedener Art lokalisiert werden können, deren Autorität unabhängig ist von dem spezifischen Individuum, das sie konstruiert hat (Dillon 2008, 399). Mit Polanyi argumentiert Wells, dass Menschen tatsächlich nicht wirklich über Erste-Hand-Beweise oder Erfahrungen für vieles verfügen, von dem sie denken, dass sie es wissen (Dillon 2008, 399). Stattdessen, wissen sie nur, dass die Wissenschaft glaubt, dass eine kleine Anzahl von Erste-Hand-Erlebnissen auf etwas „Wahres“ hinweisen und sie müssen dann entscheiden, ob sie es glauben oder nicht. Dillon (2008) zufolge spielen solche Überzeugungen – eben epistemische Überzeugungen – deshalb eine Schlüsselrolle in der Wissensentwicklung. Dies ist der Punkt, in dem kulturelle und epistemische Überzeugungen konvergieren. Die Konzepte, die Menschen im Laufe ihrer Entwicklung erlernen, sind sozial geteilte Perspektiven auf die Welt, die vor dem spezifischen kulturellen Hintergrund zu verstehen sind, in dem sie sich entwickeln. Die Frage nach ihrer epistemologischen Gültigkeit geht mit diesen Konzepten Hand in Hand. Eine ähnliche Perspektive findet sich in Moscovicis (1981) Theorie der sozialen Repräsentationen. Soziale Repräsentationen bezeichnen nach Moscovici (1981, 181) ein Set von Konzepten, Aussagen und Erklärungen, die dem täglichen Leben entstammen. Sie können als Äquivalent der Mythen und Überzeugungen in traditionellen Gesellschaften verstanden werden und sogar als zeitgenössische Form des gesunden Menschenverstands gefasst werden. „A set of concepts, statements and explanations originating in daily life in the course of inter-individual communications. They are the equivalent, in our society, of the myths and belief systems in traditional societies; they might even be said to be the contemporary Version of common sense” (Moscovici 1981, 181).
Soziale Repräsentationen dienen der Welterklärung. Nach Moscovici (1981, 190) lässt sich Fremdes durch sie in Bekanntes verwandeln. Soziale Repräsenta-
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tionen dienen dazu, alle Erfahrungen zu kategorisieren und eine Gesamtorientierung zu ermöglichen. Die in Kapitel 2.3 beschriebene Orientierungsfunktion von Welt- und Menschenbildern für das Individuum entspricht diesen Beschreibungen. Die implizite Theorie der Realität ist im Sinne Moscovicis aufgebaut aus sozialen Repräsentationen. Moscovici lehnt sich an Durkheims Konzept der kollektiven Repräsentationen an, die eine ausgedehnte Klasse intellektueller Formen umfassen, wie Wissenschaft, Religion, Mythen und die Kategorien von Zeit und Raum usw. (Moscovici 1981, 181). Moscovici modifiziert dieses Konzept: „Social representations must on the one hand be understood as a particular way of acquiring knowledge and communicating the knowledge that has already been acquired. They have a curious position somewhere between concepts whose purpose it is to distill the meaning of the world, to make it more orderly and perceptions that reproduce the world in a reasonable manner” (Moscovici 1981, 184).
Soziale Repräsentationen sind also Phänomene, die mit spezifischen Weisen der Genese und Kommunikation von Wissen verbunden sind, durch die Realität und „common sense“31 erzeugt werden (Moscovici 1981, 186). Epistemische Überzeugungen sind nach Moscovici also konstituierender Bestandteil sozialer Repräsentation und ihrer Orientierungsfunktion. Dies geht einher mit Andersons (1984, 9) Perspektive, demzufolge Kinder nicht nur Erfahrungen sondern auch Interpretationen von Erfahrungen erwerben. Baxter Magolda (2004, 31) betont „People actively construct or make meaning of their experience – they interpret what happens to them, evaluate it using current perspectives, and draw conclusions about what experiences mean to them. The meaning they construct depends on their current assumption about themselves and the world, conflicting assumptions they encounter and the context in which the experience occurs” (Baxter-Magolda 2004, 31).
The current assumptions about themselves and the world, mit dieser Beschreibung zeigt auch Baxter Magolda eine Verknüpfung der persönlichen Epistemologie mit den Selbst-, Welt- und Menschenbildern auf. Genau diese Verknüpfung nenne ich die implizite Theorie der Realität. Die persönliche Epistemologie entwickelt sich aus den Erfahrungen des Individuums und in Übereinstimmung mit seiner kulturellen Welt und den in ihr inhä31
Common sense kann mit „gesundem Menschenverstand“ übersetzt werden.
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renten Werten. Sie ist somit Teil der impliziten Theorie der Realität, die ein Individuum im Laufe seiner Enkulturation entwickelt und die nach Epstein (1994) zentral für die Verortung des Individuums in der umgebenden Welt ist. 3.4.3 Wie beeinflusst die implizite Theorie der Realität die individuelle Erfahrung? – Eine Übertragung von Erkenntnissen aus der Selbstkonzeptforschung Die implizite Theorie der Realität lässt sich mit Epstein als ein implizites Modell der Welt verstehen. Epstein zufolge besteht dieses Modell aus zwei großen Komplexen, einer Theorie über die Welt und einer Theorie über das Selbst und verbindenden Propositionen zwischen beiden (Epstein 1994, 715). Die von Epstein benannte self theory ist in zahlreichen Untersuchungen zum „Selbst“ bereits ausführlich untersucht worden. Bemerkenswerterweise hat sich in der Forschung auch eine sogenannte cultural self perspective entwickelt, die interindividuelle Unterschiede in der Art und Weise der Selbstkonstruktion von Menschen untersucht. Im Folgenden wird diese kulturelle Perspektive auf die self theory und ihre Auswirkungen auf beobachtbare Kulturunterschiede im Denken und Handeln von Menschen kurz ausgeführt, da sie Implikationen für das Verständnis des Wirkungsspektrums der impliziten Theorie der Realität birgt. Wie bereits ausgeführt, betrachten Menschen individualistischer Kulturen das Individuum als verschieden von anderen Menschen und charakterisieren es als ein Wesen mit einzigartigen Eigenschaften. Im Gegensatz dazu definieren sich Menschen aus kollektivistischen Kulturen über ein interdependentes Selbstwissen, bei dem enge Beziehungen, die Repräsentation sozialer Kontexte und soziale Rollen einbezogen werden (vgl. Markus & Kitayama 1991, 1998; Hannover & Kühnen 2002, 61). Auch zwischen Geschlechtern bestehen Unterschiede in der Selbstkonstruktion: Während Männer stärker independent ausgerichtet sind, sind für Frauen soziale Selbstinhalte chronisch zugänglicher. Diese Unterschiede können mit Markus & Kitayama (1998, 71f.) darauf zurückgeführt werden, dass kulturelle Gruppen oder Geschlechtergruppen systematisch unterschiedliche Lebenserfahrungen machen und deshalb mit unterschiedlichen impliziten normativen Anforderungen konfrontiert werden. Die kulturvergleichende Selbstforschung hat gezeigt, dass sich die Art der Selbstkonstruktion auf das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen systematisch auswirkt (vgl. Cross et al. 2000; Markus & Kitayama 1991, 1998). Nach Hannover et al. wird dem Selbst damit der Status einer vermittelnden 125
Variable zugeschrieben: „Nicht nur unterscheiden sich die Mitglieder verschiedener Kulturen in ihrem Selbstkonzept, sondern es sind genau diese unterschiedlichen Selbstkonstruktionen, die zu beobachtbaren Kultur-unterschieden im Denken, Fühlen und Handeln führen“ (Hannover et al. 2005, 100).32 Dabei zeigen Independente im Vergleich mit Interdependenten beispielsweise stärkere Attributionsfehler (Choi & Nisbett 1998, 358) oder verhalten sich stärker kompetitiv (Stucke 2003, 111). Diese Befunde unterstützen die von Epstein (1994) postulierte Orientierungsfunktion des impliziten Modells der Welt, zumindest bezüglich der Subtheorie zum Selbst. Vor diesem Hintergrund lässt sich fragen, wie sich die implizite Theorie der Realität implizites Modell der Welt in ihrer Ausprägung verhält. Sie steht in Zusammenhang mit der individuellen Theorie über das Selbst, ist sie doch eine Theorie über den Menschen und die Welt. Wie bereits ausgeführt ist davon auszugehen, dass sich eine world theory in gleicher Weise kulturell abhängig entwickelt. Analog zur self theory wäre anzunehmen, dass auch die unterschiedlichen Weltkonstruktionen zu beobachtbaren Kulturunterschieden im Denken, Fühlen und Handeln führen könnten. Diese Übertragung scheint möglich, da Hannover & Kühnen (2002) zufolge das Selbst in seiner Funktionsweise anderen Gedächtnisstrukturen entspricht. Die Spezifität des Selbst bestünde nur darin, dass es die Gesamtheit des Wissens enthalte, die ein Individuum im Laufe des Lebens über die eigene Person speichere (Hannover & Kühnen 2002, 62). Andererseits weisen sie darauf hin, dass das Selbst eine besondere Rolle in der Informationsverarbeitung einnimmt, da es über die ganze Lebensspanne hinweg angereichert wird und die umfangreichste Wissensstruktur darstellt, die Individuen überhaupt entwickeln und die in widrigen Lebensumständen sogar durch adaptive Strategien bewahrt bleibt (Hannover & Kühnen 2002, 69). Hannover & Kühnen (2002) haben ein Modell entworfen, mit dem sich erklären lässt auf welche Weise die kulturell abhängigen Selbstkonstruktionen die individuelle Erfahrung der Person unterschiedlich beeinflussen. Dieses Modell ist deshalb in diesem Kontext besonders passend, da Hannover & Kühnen (2002, 71) vornehmlich nicht-intentionale, automatische kognitive Prozesse annehmen, die keine kognitive Kontrolle erfordern. Die angenommenen Wirkmechanismen entsprechen deshalb dem impliziten Wirkcharakter der impliziten 32 Dabei ist anzumerken, dass die cultural self perspective auch kritisch diskutiert wird. Untersuchungen zum Priming independenter oder interdependenter Selbstkonzeptanteile konnten zeigen, dass Menschen ihr Selbst in Abhängigkeit vom Kontext stärker independent oder interdependent konstruieren (Onorato & Turner 2001). Nach dieser Perspektive kann also die unabhängige oder bezogene Ausrichtung des Selbst nicht als stabiles Personenmerkmal verstanden werden.
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Theorie der Realität. Um die Perspektiven von Hannover & Kühnen (2002) auf Überlegungen zur impliziten Theorie der Realität zu übertragen, stehen im Folgenden die von ihnen generell angenommenen Mechanismen und nicht ihre spezifisch unterschiedlichen Ausprägungen für independente oder interdependente Konstruktionen im Vordergrund. 3.4.3.1 Das Semantisch-Prozedurale-Interface-Modell In ihrem Semantisch-Prozeduralen-Interface-Modell (SPI-Modell) gehen Hannover & Kühnen (2002, 62) davon aus, dass der Einfluss des Selbst auf das Denken und Handeln von Personen durch die relative chronische oder situationale Zugänglichkeit ihres independenten oder interdependenten Selbstwissens vermittelt wird. Zugänglichkeit bezeichnet dabei die Leichtigkeit, mit der bestimmte Informationen aus dem Gedächtnis abgerufen werden können. Auch der Einfluss der impliziten Theorie der Realität könnte durch die relative chronische oder situationale Zugänglichkeit besonderer Anteile des kulturellen Wissens vermittelt werden. Dabei wären abhängig von der Kultur unterschiedliche Welt- und Menschenbilder hoch zugänglich. Hannover et al. postulieren in ihrem SPI-Modell zudem zwei verschiedene Mechanismen, über die zugängliches Selbstwissen das Denken, Fühlen und Handeln von Personen steuert (Hannover et al. 2005, 101): 1. 2.
der semantische Mechanismus der prozedurale Mechanismus
Diese beiden Mechanismen sollen im Folgenden auf die Steuerung des Denkens, Fühlens und Handelns durch zugängliches kulturelles Wissen (Welt- und Menschenbildaspekte, epistemische Überzeugungen) übertragen werden. 3.4.3.2 Alltagsphantasien als Teil eines semantischen Mechanismus Der semantische Mechanismus bezieht sich auf den spezifischen Inhalt der Selbstkonstruktion. In ihrer Konzeption unterscheiden Hannover et al. (2005) autonome (verweist auf das independente Selbst) von sozialen (verweist auf das interdependente Selbst) semantischen Wissensinhalten. Wichtig ist dabei, dass die Zugänglichkeit der Wissensinhalte entscheidend für das individuelle Erleben ist, weil Menschen Urteile und Verhaltensentscheidungen auf der Grundlage des Wissens fällen, das zum gegebenen Zeitpunkt leicht zugänglich ist. Nach Hannover & Kühnen (2002, 62) identifizieren, kategorisieren und interpretieren 127
Menschen neu eintreffende Informationen gemäß der zum gegebenen Zeitpunkt leicht zugänglichen mentalen Kategorien. So richten Personen mit chronisch zugänglichem independenten Selbstwissen Urteile über ihr eigenes Verhalten stärker an ihren persönlichen Einstellungen aus als an ihren Annahmen über die Erwartungen ihres sozialen Umfeldes (Hannover & Kühnen 2002, 63). Dieser Zusammenhang wird im SPI-Modell als semantischer Mechanismus bezeichnet, da die Selbstkonstruktion die individuelle Erfahrung beeinflusst. Die Identifikation, Kategorisierung und Interpretation neuer Information werden an die semantischen Inhalte des hoch zugänglichen Selbstwissens der Person angepasst (Hannover & Kühnen 2002, 63). Für die implizite Theorie der Realität wird in Übereinstimmung hiermit angenommen, dass in ihr repräsentierte und besonders zugängliche Welt- und Menschenbilder Einfluss darauf nehmen, wie Lernende einen Lerngegenstand identifizieren, kategorisieren und interpretieren. So könnte das chronisch zugängliche Weltbild von der „Natur als Norm“ im Zusammenhang mit Gentechnik zu einer verstärkten Assoziation von negativen Auswirkungen gentechnologischer Manipulationen führen. Gilt Natürliches als gut, wird der menschliche Eingriff in natürliche Abläufe negativ bewertet und führt zu einer ablehnenden Haltung und verstärkten Konzentration auf negative Auswirkungen von Gentechnik. In ihrem ZweiProzess-Modell beschreiben Strack & Deutsch (2004) wie die motivationale Ausrichtung auf Annäherung (Akzeptanz) oder Vermeidung (Ablehnung) zu einer erleichterten Verarbeitung übereinstimmender Informationen führt. Die spontane ablehnende Haltung gegenüber Gentechnik führt demnach zu einer erleichterten Verarbeitung ablehnender Informationen. Zudem unterstützen negative Argumente die eigene intuitive Ablehnung gegenüber dem Thema Gentechnik. Dieses Phänomen der bevorzugten Suche nach Argumenten, die die eigne Position stärken, wird von Strack & Deutsch (2004) als „My-side-bias“ beschrieben. Die subjektiven Weltbilder – die sich im Lernprozess in Alltagsphantasien ausdrücken können – würden demnach beeinflussen, wie die Auseinandersetzung mit dem Thema Gentechnik abläuft. Die Kategorisierung und Interpretation neuer Information zur Gentechnik würde an die Inhalte der zugänglichen Welt- und Menschenbilder angepasst. Im Lernprozess werden Lerninhalte also vor dem Hintergrund der zugänglichen Welt- und Menschenbilder eines Menschen interpretiert und bewertet. In den vom Lernenden geäußerten Alltagsphantasien kommen die Welt- und Menschenbilder zum Ausdruck, die zur Einordnung des Lerngegenstandes dienen.
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Mit ihrer Theorie zielen Hannover & Kühnen (2002) auf ein vertieftes Verständnis bestimmter Verhaltensmuster von Menschen in Abhängigkeit von ihrer Selbstkonstruktion. Im Unterschied hierzu gilt es im Rahmen des didaktischen Konzepts der Alltagsphantasien als weniger interessant, welche kulturellen Vorstellungen welche Kategorisierungen und Interpretationen nach sich ziehen, sondern die Anerkennung dieser Mechanismen und ihrer Bedeutung für die individuelle Bedeutungszuweisung von Lernenden an Lerngegenstände steht im Vordergrund. 3.4.3.3 Epistemische Überzeugungen als Teil des prozeduralen Mechanismus Hannover & Kühnen (2002) wiesen neben dem semantischen Mechanismus zudem einen sogenannten prozeduralen Wirkmechanismus nach. In Abhängigkeit der Zugänglichkeit des jeweiligen Selbstwissens (independent oder interdependent) wird demzufolge ein kontextunabhängiger oder kontextabhängiger Mechanismus der Informationsverarbeitung initialisiert (Hannover et al. 2005, 101). So können etwa bei chronisch zugänglichem interdependentem Selbstwissen kontextabhängige Informationen besonders effektiv verarbeitet werden. Mit der Aktivierung interdependenten oder independenten Selbstwissens werden dann kognitive Prozeduren, die mit den Wissensinhalten assoziiert sind (etwa Information in ihrem Kontext oder losgelöst vom Kontext zu verarbeiten), bei der nachfolgenden Verarbeitung von Informationen angewendet. Damit werden Kulturunterschiede nicht allein auf inhaltlicher Ebene wirksam, sondern sind auch für kognitive Prozeduren nachweisbar (Hannover & Kühnen 2002, 72). Auf die implizite Theorie der Realität übertragen könnte dies bedeuten, dass in Abhängigkeit der Zugänglichkeit des jeweiligen kulturellen Wissens unterschiedliche Modi der Informationsverarbeitung aktiviert werden. Epistemisches Wissen ist kulturell bestimmt und geht je nach Reifegrad mit unterschiedlichen Informationsverarbeitungsprozessen einher: Während reifere epistemische Überzeugungen im Zusammenhang mit aufwendigen systematischen und reflektiven Verarbeitungsprozessen stehen, geht eine weniger reife Ausrichtung der epistemischen Überzeugungen eher mit unaufwendigen Verarbeitungsprozessen einher (Klaczynski 2000, 1350; Kardash & Scholes 1996, 269). Personen etwa, in denen epistemische Vorstellungen zur Sicherheit und Einfachheit von Wissen aktiviert sind, sind stärker geneigt, bei der Verarbeitung von Wissen nur einzelne Informationen zu betrachten und mithilfe einfacher Faustregeln zu evaluieren. Diese Personen würden demnach in der Auseinandersetzung mit dem Thema Gentechnik gegensätzliche Informationen nicht systematisch evaluieren. Vielmehr würden sie dazu 129
neigen, einzelne Informationen zu fokussieren oder sich in ihrer Meinungsbildung etwa auf die Aussage eines Experten verlassen, mit der möglichen Begründung, „dass der Fachmann die richtige Antwort kennt.“ Hier bestimmt also die kulturell beeinflusste Ausrichtung der epistemischen Überzeugungen die Güte der Informationsverarbeitung. In diesem Sinne besteht eine Wechselwirkung zwischen dem kulturell bedingten Wissen und dem prozeduralen Mechanismus der Informationsverarbeitung. Dabei ist allerdings eine Einschränkung zu machen: Vor dem Hintergrund der bisherigen Forschung zur kulturell abhängigen Ausprägung epistemischer Überzeugungen ist davon auszugehen, dass kulturell abhängig unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, was als reife epistemische Überzeugungen gelten kann. Es ist bisher nicht untersucht, welche Vorstellungen in welchem Kulturkreis mit welchen Verarbeitungsprozessen vornehmlich verknüpft sind. Während im westlichen Kulturkreis, das sich von Autoritäten befreiende und selbstständige Denken und Überprüfen von Informationen (die quasi independente Ausprägung) als besonders „reif“ gilt und nachgewiesenermaßen mit aufwendigen systematischen Verarbeitungsprozessen in Zusammenhang steht, ist die Endstufe epistemischer Entwicklung in anderen Kulturen womöglich anders zu verorten. Die bisherigen Befunde zur prozeduralen Dimension epistemischer Überzeugungen beruhen auf Untersuchungen in individualistisch ausgerichteten Kulturen. Es ist möglich, dass in kollektivistischen Kulturen andere Vorstellungen als reif gelten und an aufwendige Verarbeitungsprozesse gebunden sind. Jedenfalls gibt es hierzu bisher keine Untersuchungen. Zudem ist davon auszugehen, dass die Ausprägung der epistemischen Ausrichtung an den Kontext gebunden ist. Aus der in dieser Arbeit eingenommenen Perspektive kann die persönliche Epistemologie deshalb nicht als stabiles Persönlichkeitsmerkmal konzeptionalisiert werden. Dies steht in Übereinstimmung mit der Kritik an der cultural self perspective, nach der der Kontext eine wichtige Rolle bei der situativen Ausprägung des Selbst spielt: Untersuchungen zum Priming independenter oder interdependenter Selbstkonzeptanteile konnten zeigen, dass Menschen ihr Selbst in Abhängigkeit vom Kontext stärker independent oder interdependent konstruieren (Onorato & Turner 2001, 166). Nach dieser Perspektive kann also die unabhängige oder bezogene Ausrichtung des Selbst nicht als stabiles Personenmerkmal verstanden werden. 3.4.3.4 Das Interface als verknüpfendes Element Hannover & Kühnen (2002) verwenden die Metapher des „Interface“ um das Zusammenspiel zwischen semantischem und prozeduralem Mechanismus zu 130
modellieren. Beide Mechanismen seien verbunden, können die Informationsverarbeitung aber auch unabhängig voneinander beeinflussen. Durch die erhöhte Zugänglichkeit des jeweiligen Selbstwissens wird also der entsprechende Verarbeitungsmodus aktiviert und umgekehrt. „Semantischer und prozeduraler Mechanismus greifen ineinander, aber die Auswirkungen der Selbstkonstruktion auf das Denken, Fühlen und Handeln einer Person können nur durch einen der beiden Mechanismen nicht vollständig beschrieben werden“ (Hannover & Kühnen 2002, 65). Durch die Anwendung des SPI-Modells von Hannover & Kühnen (2002) als strukturierende Folie auf die implizite Theorie der Realität lassen sich epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien in ihren Wirkungen im Rahmen einer impliziten Theorie der Realität klarer konturieren. Diese genauere Betrachtung macht es möglich zu erwägen, auf welche Weise die kulturell abhängigen Perspektiven auf den Menschen, das Wissen und die Welt die individuelle Erfahrung der Person unterschiedlich beeinflussen. Die Perspektive des SPI-Modells legt zudem nahe, dass beide Formen von Vorstellungen mit Mechanismen in Zusammenhang stehen, die einander beeinflussen. Im Anschluss an die Ausführungen unter Bezug auf das SPI-Modell wird diese unmittelbare Beziehung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien im Folgenden auf einer inhaltlichen, quasi semantischen, sowie einer prozeduralen Ebene der Informationsverarbeitung analysiert. Ob und in welcher Weise epistemische Überzeugungen inhaltlich mit den rekonstruierten Alltagsphantasien korrespondieren, ist Gegenstand des nächsten Teils dieses Kapitels. 3.5 Inhaltliche Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien Im vorangegangenen Abschnitt wurden epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien als vornehmlich prozedural wirksame und semantisch wirksame Wissenselemente der impliziten Theorie der Realität eines Individuums eingeordnet. Basierend auf der Annahme, dass beide Formen von Vorstellungen kulturell bedingt sind und damit einem sozial geteilten impliziten Konsens entstammen, wird angenommen, dass spezifische Alltagsphantasien auch inhaltlich mit epistemischen Positionen verknüpft sein können bzw. diese implizieren. In Übereinstimmung mit den Annahmen von Hannover & Kühnen (2002) könnten inhaltlich zusammenhängende Vorstellungen sich gegenseitig aktivieren. Im folgenden Abschnitt werden deshalb zum einen als Alltagsphantasien rekonstru131
ierte Vorstellungen exemplarisch auf mit ihnen transportierte epistemische Überzeugungen hin untersucht. Außerdem wird ausgeführt, in welcher Weise epistemologische Einsicht aus dem Umgang mit Alltagsphantasien erwachsen könnte. Die hier ausgeführten Zusammenhänge sind dabei als potentielle Erweiterungen der theoretischen Perspektive auf epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien zu verstehen. Ihre empirische Überprüfung steht jedoch noch aus und wird im Rahmen dieser Arbeit nicht umgesetzt. Es bleibt also in genauen qualitativen Studien zu untersuchen, ob die hier einander zugeordneten epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien tatsächlich assoziativ miteinander zusammenhängen und gepaart miteinander auftreten. 3.5.1 Alltagsphantasien – Transportvehikel epistemischer Überzeugungen Im 2. Kapitel zum Konzept der Alltagsphantasien wurden dreizehn rekonstruierte subjektive Vorstellungen vorgestellt, die als Alltagsphantasien gelten. Vorstellungen wie die „Natur als sinnstiftende Idee“ oder „Der Mensch als Schöpfer“ berühren mit ihren Thematiken Konzepte von allmächtigen und richtungsweisenden Autoritäten, deren Wissen und Normen nicht angezweifelt werden dürfen. Die Credo „Natürliches ist gut“ oder „Der Mensch darf nicht Gott spielen“ beinhalten epistemische Vorstellungen zu den Quellen von Wissen und der Begründung von Wissen. Die Setzung der Natur als normative Instanz könnte Konzepte zur Wissensvermittlung durch Autoritäten aktivieren oder die Annahme implizieren, dass letztendlich ein „wahres Wissen“ existiert, wie etwa eine unanfechtbare Weisheit, die in der Natur begründet liegt. Auch Alltagsphantasien zum Komplex „Der Mensch als homo faber“ transportieren Machbarkeitsvorstellungen, die epistemische Überzeugungen zur Konstruktion von Wissen durch den Menschen beinhalten. Die Vorstellung „Sprache der Gene“ impliziert das Bild einer „aufdeckenden“ Wissenschaft. Eine Wissenschaft, die dazu dient in den „Genen zu lesen, wie in einem Buch“, ist damit beschäftigt, die Wahrheiten, die die Natur verbirgt, ans Tageslicht zu bringen. Aus dieser Perspektive gibt es feststehendes Wissen und geltende Wahrheiten, die nur aufgedeckt und gefunden werden müssen. Wissensbildung wird also vor allem als Entschlüsselung oder Entdeckung im Sinne des „Auffinden von Bestehendem“ verstanden. Die utopische Metapher von der Möglichkeit das Genom wie ein Buch lesen zu können, ist also eng mit epistemischen Überzeugungen zur Sicherheit und Einfachheit von Wissen und andererseits mit der Annahme universaler menschlicher Erkenntnisfähigkeit verknüpft. 132
Wie aus diesen kurzen Überlegungen ersichtlich wird, scheinen in den beschriebenen Alltagsphantasien zahlreiche epistemische Überzeugungen impliziert zu sein. Im Folgenden werden deshalb drei der im Kapitel 2.3.1 aufgeführten Alltagsphantasien genauer auf die epistemischen Überzeugungen und Vorstellungen hin untersucht, die mit den implizierten Welt- und Menschenbildern transportiert werden könnten. Tabelle 3.1:
Zusammenhänge von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen
Alltagsphantasien
Enthaltene Ideen
Natur als sinnstiftende Idee (Natur als Norm)
- Natur als allmächtige, richtungweisende Autorität - Die Wahrheit liegt in der Natur begründet
Mensch als Schöpfer
- Gott als allmächtige, richtungweisende Autorität
Mensch als homo faber
- Mensch kann alles erreichen
Sprache der Gene
Individualismus
- Natur (Gene) sind lesbar wie ein Buch - Es existieren in der Natur begründete Wahrheiten - Menschen sind einzigartig - Diese Einzigartigkeit ist wertvoll - Genom garantiert feststehende Identität -
Epistemische Überzeugungen - Es gibt allwissende Autoritäten - Sie kennen die wahren Antworten - Es gibt endgültige Wahrheiten - Der Mensch muss sie nur aufdecken - Es gibt allwissende Autoritäten, - Sie kennen die wahren Antworten - Mensch ist zur Erkenntnis befähigt - Der Mensch konstruiert sein Wissen
Übergeordnete epistem. Dimension Quelle des Wissens (d.W.) Sicherheit d. W. Quelle d. W. Einfachheit d. W. Begründung d. W. Quelle d. W.
Quelle d. W.
- Es gibt wahres Wissens - Der Mensch muss dieses Wissen nur aufdecken
Sicherheit d. W. Quelle d.W. Einfachheit d.W.
- Individuelles Denken ist notwendig - Autoritäten sind zu hinterfragen - Verantwortung für das eigene Denken
Quelle d.W. Begründung d.W.
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Ambivalenz von Erkenntnis & Wissen
- Befreiung des Menschen durch Erkenntnis - Bedrohung des Menschen durch seine Neugierde - Mensch durchschaut komplexe Zusammenhänge nicht
- Mensch als aktiver Entdecker und Forscher - Mensch = fehlbares Wesen - Wissen ist vom Menschen konstruiert - Menschliche Erkenntnisfähigkeit ist begrenzt - Verantwortung für Erkenntnisse
Quelle d.W. Begründung d.W. Sicherheit d.W. Einfachheit d.W.
d.W. = des Wissens
3.5.1.1 Individualismus – Die Gentechnik bedeutet das Ende des Individualismus. Was ist der einzelne Mensch dann noch wert? Diese Vorstellungen von der Bedrohung des Individuums durch die Gentechnik ist eine der bedeutsamsten Intuitionen oder unmittelbaren Vorstellungen von deutschen Jugendlichen zur Gentechnik „Äußerungen zum Mythos vom Ende der Individualität werden mit Abstand am häufigsten genannt, wenn die Jugendlichen spontane Assoziationen selbst generieren sollen“ (Gebhard & Mielke 2003, 212). Im Zusammenhang mit den Erläuterungen zum kulturell abhängigen Charakter von Alltagsphantasien ist dieser Befund kaum verwunderlich. Die besondere Bedeutung der Individualität ist Dreh- und Angelpunkt des modernen westlichen Menschenbildes.33 Markus & Kitayama (1991, 226) zufolge besteht in westlichen Kulturen der Glaube an die inhärente Getrenntheit verschiedener Personen. Der normative Imperativ der westlichen Kultur besteht darin, unabhängig von anderen zu werden und die eigenen einzigartigen Attribute zu entdecken und zu fördern. In Übereinstimmung hiermit haben die Assoziationen zum Individualismus im Zusammenhang mit Gentechnik meist eine negative Konnotation, die häufig an Vorstellungen vom Klonen von Menschen gebunden ist. Eine Welt voller Doppelgänger in jüngeren oder älteren Versionen bedeutet die Abschaffung des einzigartigen Individuums und damit die Bedrohung des zentralen normativen Imperativs westlicher Kultur.
33 Es ist anzunehmen, dass diese Alltagsphantasie kulturspezifisch variiert. Damit ist fraglich, in welcher Intensität oder in welcher Ausführung ähnliche Vorstellungen und Befürchtungen im Zusammenhang mit dem Klonen in kollektivistischen Kulturen auftreten.
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Nach Gebhard & Mielke (2003) wird die Identitätserhaltung in modernen westlichen Gesellschaften ohnehin zunehmend zum Problem, denn „moderne Menschen erleben immer mehr biographische Brüche, die sich durch räumliche, soziale und kulturelle Mobilität und durch beschleunigten Wandel ergeben“ (Gebhard & Mielke 2003, 215). Vor diesem Hintergrund biete die Vorstellung des eigenen Genoms als einzigartig und somit als genetisch feststehende Identität eine Pause von dem andauernden Zwang sich zu individualisieren. Für Gebhard & Mielke erklärt sich die Bedeutung des Schutzes der Individualität daher, dass Menschen diese „Identitätsgarantie“ in Gefahr sehen (Gebhard & Mielke 2003, 215). Wie bereits in Teilen dieses Kapitels ausgeführt, steht das in dieser Alltagsphantasie zum Ausdruck kommende individualistische Menschenbild auch mit entsprechend verwurzelten epistemischen Überzeugungen in Zusammenhang. Der Drang nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit korrespondiert auch mit dem Ziel der Unabhängigkeit des Denkens. Die Konzentration auf das Individuum spiegelt sich in Lernkontexten in der Bedeutung der individuellen Leistung (Pai & Adler 2001, 224) und der Entwicklung einer unabhängigen „eigenen“ Meinung. Der Endpunkt epistemischer Reife wird in westlichen Kulturen derzeit im formal abstrakten Denken verortet, wobei die existierenden Modelle zu epistemischen Überzeugungen von einer Höherentwicklung hin zu einem verstärkten Individualismus des Denkens und einer Befreiung von dem Diktat von Autoritäten ausgehen. Die Betonung der Bedeutung der Individualität impliziert damit auch die Ablösung von Autoritäten und die Anerkennung der Bedeutung des eigenen Nachdenkens. In seiner Individualität anerkannt zu werden bedeutet demnach auch Verantwortung für das eigene Denken und Handeln zu übernehmen und seine Position vor sich und anderen rechtfertigen zu können. Um das kulturelle Ziel der Unabhängigkeit zu erreichen, ist es nach Markus & Kitayama (1991, 226) notwendig die eigene Person als ein Individuum zu begreifen, dessen Verhalten primär durch die eigenen Gedanken, Gefühle und Handlungen organisiert ist und durch diese bedeutungsvoll wird. Ideengeschichtlich korrespondieren Alltagsphantasien zum Verlust der Individualität und dem zugrundeliegenden westlichen Menschenbild also mit epistemischen Überzeugungen zur Bedeutung der eigenen Person bei der Erkenntnisgenese und der Loslösung von Autoritäten (Quellen von Wissen) sowie der Übernahme von Verantwortung für die eigenen Perspektiven und Urteile und deren Rechtfertigung (Begründung des Wissens). Nach Gebhard & Mielke (2003) stehen die Furcht und Phantasien vom Ende der Individualität mit dem Selbstwertgefühl der Jugendlichen in Zusammenhang. Diese Furcht ist bei geringem Selbstwertgefühl durchaus weniger präsent 135
als bei Jugendlichen mit ausgeprägtem Selbstwertgefühl. Letztere scheinen zudem auch ein geringeres Verlangen danach zu haben, die Zukunft zu kontrollieren, wie eine Studie von Gebhard & Mielke (2003, 216) zeigt. Je ausgeprägter das Selbstwertgefühl ist, desto wertvoller wird die eigene Individualität der einzelnen Person offenbar. Dies korrespondiert mit Befunden nach denen Personen mit independent konstruiertem Selbst eine stärkere Tendenz zur Selbstwerterhöhung haben als Personen mit interdependentem Selbst (Kitayama et al. 1997). 3.5.1.2 Die Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen – Menschen sind neugierig. Gebhard führt die Vorstellung von der Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen auf die Paradiesgeschichte als das älteste Kulturgut des christlichen Abendlandes zurück, da sich hier das Menschenbild vom neugierigen Menschen aktualisiert, der zugleich zum Frevler werden kann (2004, 36). Dieser Phantasie liegt das Bild von der Befreiung des Menschen durch die Erkenntnis zugrunde, da er befähigt ist, die Natur für sich zu nutzen. Andererseits schwingt in dieser Vorstellung die Ahnung mit, dass dieses Wissen und seine falsche Handhabung auch bedrohliche Folgen haben können. Angst vor Kontrollverlust des mangelbehafteten Menschen über seine Erfindungen und die von ihm konstruierte Technik ist ein zentrales Thema im Zusammenhang mit der Vorstellung der Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen (Gebhard 2004, 36; 2004b, 94). Die Alltagsphantasie steht in enger Verbindung mit epistemischen Vorstellungen zum Menschen als Entdecker und Forscher: Die in der Nature of Science-Forschung identifizierten Wissenschaftlertypen (Solomon 1993, 24; Höttecke 2001, 9) korrespondieren mit diesem Wechselbild der befreienden oder bedrohlichen Erkenntnis und spiegeln Facetten des mit dieser Alltagsphantasie transportierten Menschenbildes. Der positive Pol der Erkenntnis korrespondiert dabei mit den Bildern vom Wissenschaftler als hilfsbereite Autorität oder hochgeistigem Intellektuellen, der der Menschheit durch seine Weisheit zu Diensten ist und den Fortschritt beflügelt. Der negative Pol der gefährlichen Erkenntnis und des Kontrollverlustes spiegelt sich in den Vorstellungen vom gefährlichen Wissenschaftler oder verrückten Genie, das umnachtet von Allmachtsphantasien Grenzen überschreitet. Die Vorstellung des „gefährlichen“ Wissenschaftlers betont die menschliche Seite wissenschaftlichen Handelns. Wissenschaftler sind aus dieser Perspektive keine objektiven und neutralen Datenerfasser, sondern menschliche Persönlichkeiten, die in diesem Fall durch Charakterschwächen wie Geltungssucht 136
oder Habgier zu Gefahren werden. Wie bereits im Eingangsteil dieses Kapitels erwähnt, zeigen die von Solomon (1993, 24; vgl. auch Höttecke 2001, 9) beschriebenen beinahe mystischen Wissenschaftlerbilder eine deutliche Verknüpfung von epistemischen Überzeugungen und intuitiven Welt- und Menschenbildern. Die Vorstellung vom unbesonnenen oder irrsinnigen Wissenschaftler, der aus Machtgier, Habgier oder Neugier die Natur entfesselt, indem er etwa Kreaturen erschafft, die es zuvor nicht gegeben hat und die außer Kontrolle geraten, verweist auf den Sündenfall des Menschen und damit auf christliches Kulturgut. Sie geht aber auch auf uralte Mythen zu Verzauberungen und Verwandlungen zurück. In der griechischen Mythologie waren es die Götter, die Menschen aufgrund von Ungehorsam oder Lust in Tiere, Pflanzen, Steine oder Ähnliches verwandelten. Ovid beschreibt in seinen Metamorphosen zahlreiche Verwandlungen durch die Macht von Göttern, Halbgöttern oder Zaubertränken. Der moderne Mythos vom entfesselten Genie oder psychopathischen Wissenschaftler steht in der Tradition dieser Mythen. Als moderne „Halbgötter“ im weißen Kittel sind Wissenschaftler durch die Beschränktheit ihrer menschlichen Herkunft nicht in der Lage ihre Erfindungen zu kontrollieren, reichen durch ihr Wissen in ihrer Wirkungsmacht jedoch an Gottheiten heran. Häufig äußern Lernende etwa in Bezug auf gentechnische Praktiken, wie dem Klonen, die Forderung nach staatlicher Kontrolle der Wissenschaft (Gebhard 2004, 36). Diese Aussagen offenbaren ein Bewusstsein für das Zusammenwirken von Wissenschaft und Gesellschaft und eröffnen damit eine Perspektive auf Wissenschaft, die den Wissenschaftsbetrieb als sozial determiniert und eingebettet in soziale Interessen und Kontrollen offenbaren. Wissenschaft wird aus einem solchen Blickwinkel also nicht als der allumfassende Versuch der Offenlegung der Wahrheiten und Erklärungen verstanden, die die Welt beinhaltet, sondern als ein gerichtetes Interesse an bestimmten nutzbaren Anteilen der Welt begriffen. Diese Gerichtetheit von Erkenntnisprozessen und Entstehungsprozessen von Wissen beinhaltet epistemische Vorstellungen zur Konstruktion von Wissen durch die Auswahl von Informationen. Gerichtetheit bedeutet immer auch das Ausblenden von Zusammenhängen, die als unbedeutend eingestuft werden und macht damit den beschränkten Zugang des Menschen auf den untersuchten Gegenstand deutlich. Somit korrespondiert die Alltagsphantasie von der Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen mit epistemischen Überzeugungen zur Reichweite menschlicher Erkenntnis und zur Natur des Wissens als konstruiertem Komplex. Die Perspektive, dass Erkenntnisse „in falsche Hände geraten“ oder fehlinterpretiert werden könnten, verdeutlicht also einerseits die Konstruiertheit von 137
menschlichem Wissen. Gleichzeitig stehen Befürchtungen zu der Unkontrollierbarkeit der Wissenschaft andererseits auch in Zusammenhang mit dem Aspekt der Verantwortung. Spezifische wissenschaftliche Positionen, wie etwa die Befürwortung oder Ablehnung von Gentechnik, gehen mit Verantwortung für die Konsequenzen der Durchführung oder Unterlassung gentechnischer Operationen einher. Die Bedeutung der Übernahme von Verantwortung für die Konsequenzen, die aus bestimmten Befunden oder Theorien erwachsen, wird durch Phantasien zur Ambivalenz von Erkenntnis und Wissen also akzentuiert. Die Bedeutung von Verantwortung im Umgang mit Wissen ist ein Merkmal postrelativistischer epistemischer Perspektiven, mit denen anerkannt wird, dass es multiple Ausprägungen und Ausdeutungsmöglichkeiten von Wissen gibt und Menschen zu bestimmten Zeiten zu einer Form von Ideen tendieren oder starke Verbindlichkeiten zur Übernahme bestimmter Ideen führen (vgl. Perry 1985). 3.5.1.3 Natur als sinnstiftende Idee – Was natürlich ist, ist gut. Auch wenn es grausam ist. Die Alltagsphantasie von der Natur als sinnstiftender Idee oder Natur als Norm beinhaltet die Vorstellung von der Natur als einem ausgewogenen, stabilen und harmonischen Gesamtsystem. Dabei handelt es sich um einen klassischen „naturalistischen Fehlschluss“, da aus dem „Sein“ ein „Sollen“ abgeleitet wird. Das in der Natur Vorfindbare wird in dieser Vorstellung zum Ideal erhoben. Die normative Setzung der Natur als „gut“ beinhaltet die Annahme, dass die Natur den wahren und richtigen Weg vorzeichnet, den der Mensch nur aufzudecken und zu verfolgen hat. Diese Vorstellung impliziert epistemische Vorstellungen zum Charakter von Wissen sowie zur menschlichen Erkenntnisgenese: Innerhalb der Natur wird ein Plan oder eine zugrundeliegenden Struktur angenommen, die aufgedeckt werden kann. Diese Vorstellung basiert auf einem naiven Realismus, demzufolge die Dinge so sind, wie sie dem Menschen erscheinen. Es wird angenommen, dass die Natur in ihrem tatsächlichen Charakter dem entspricht, wie sie durch den Menschen wahrgenommen wird. Darauf aufbauend wird Natur im Sinne einer normativen Vorgabe als sicher und verlässlich überhöht. Diese Perspektive ignoriert die Begrenztheit menschlicher Erkenntnis und die Konstruktion des Wissens über die Natur durch den Menschen. Das bestehende Wissen über die Natur wird als wahr und sicher aufgefasst. Überspitzt betrachtet entsprechen natürliche Phänomene und Prozesse also sicheren Wahrheiten, die dem Menschen durch die Autorität der Natur (nämlich in diesem Fall durch „Mutter Natur“ höchstpersönlich) offenbart werden. Die Natur wird zum 138
Inbegriff einer normativen Instanz (Gebhard 2007, 108), die bestimmt und vorgibt, was wahr und richtig ist. Diese Perspektive spiegelt sich in vielen Aussagen von Jugendlichen, die fordern „die Natur soll so bleiben, wie sie ist“ und „man darf der Natur nicht ins Handwerk pfuschen“ (Gebhard 2004, 31). Im Rahmen dieses physiozentrischen Weltbildes erscheint der Mensch als Gegenüber der Natur, dessen Einwirkungen auf die Natur als Eingriffe beurteilt werden. Dieser Perspektive folgend ist die Natur hierarchisch über dem Menschen angesiedelt. Das bedeutet im Hinblick auf das Menschenbild, dass der Mensch sich in Naturzusammenhänge einordnen muss und dementsprechend ihre „Autorität“ zu respektieren hat (Gebhard 2007, 109). Die Alltagsphantasie zur Natur als Norm korrespondiert also mit epistemischen Überzeugungen zur Einfachheit und Sicherheit von Wissen (Natur des Wissens) sowie zu den Quellen und der Begründung des Wissens (Natur des Wissens als Prozess), indem die Möglichkeit der Orientierung an einer festen normativen Instanz angenommen wird. Diese entlastet den Menschen von der selbstverantwortlichen sorgfältigen Begründung und Prüfung der Ausrichtung seiner Erkenntnisabsichten und seines Wissens. Die hier angeführte Vorstellung von der „guten Natur“ und dem unberechtigten Eingriff des Menschen in die Natur gehört zu den durchschnittlich verfügbaren Assoziationen von Jugendlichen zur Gentechnik. Untersuchungen zur Verfügbarkeit ergaben, dass Assoziationen zur Krankheitsbekämpfung für Jugendliche zu den am stärksten verfügbaren Vorstellungen im Zusammenhang mit Gentechnik gehören (Gebhard & Mielke 2003, 213). Insgesamt sind jedoch Assoziationen zum unsachgemäßen Eingriff des Menschen in natürliche Vorgänge durch Gentechnik deutlich verfügbarer als Gedanken daran, dass solche Eingriffe mit einem Fortschritt in der Technik und für die Menschheit verbunden sein könnten (Gebhard 2003c, 155) Komplementär zu dem Assoziationskomplex zur Natur als Norm ist die Alltagsphantasie Der Mensch als homo faber. Mit dieser Vorstellung wird davon ausgegangen, dass der Mensch in die Natur technisch eingreifen kann und verändernd auf sie einwirkt. Dies markiert ein anthropozentrisches Weltbild, dem zufolge der Mensch nicht der Natur untergeordnet wird, sondern in seinem Handeln gegenüber der Natur als superior gilt. Hieran geknüpft ist die epistemische Perspektive auf den Menschen als aktivem und eigenständigem Konstrukteur und Veränderer, der Einfluss auf seine Umwelt nimmt und aktiv an seiner eigenen Erkenntnisbildung beteiligt ist. Eng mit diesem Bild vom Menschen verknüpft ist zudem die Perspektive, die den Menschen vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie als Teil der Natur interpretiert, dessen superiore Stellung in der Welt als berechtigt und in darwi139
nistischer Weise als das Recht des Stärkeren betrachtet wird. In dieser Perspektive wird der Mensch zum bestimmenden Element, der sich die Welt nach seinen Bedürfnissen verändert. Auch von einem solchen Blickpunkt ist das Verständnis von menschlicher Wissensgenese als konstruierende Tätigkeit nicht weit entfernt. Der Mensch als homo faber ist eben kein Wesen, das biologischen, „natürlichen“ Mustern folgt, sondern das neue Formen und Muster erdenkt und herstellt (Gebhard 2004, 39). Er ist dabei jedoch selber aus der Natur hervorgegangen und seine Fähigkeit ist somit „natürlich“. Gleichzeitig schwingt in dieser Vorstellung auch die Annahme einer umfassenden Erkenntnisfähigkeit des Menschen mit. Untersuchungen zu der Verfügbarkeit der impliziten Vorstellungen in Kombination mit bestimmten Einstellungen ergaben, dass für Jugendliche, bei denen Neugierde sowie Kontrolle und Vorhersagbarkeit zum Selbstbild gehören, der Gedanke an Krankheitsbekämpfung bei Gentechnik vorrangig ist. Die Akzeptanz von Gentechnik ist offenbar an ein eher anthropozentrisch ausgerichtetes Menschen- und Weltbild, entsprechend der Vorstellung vom Menschen als homo faber, gebunden (Gebhard 2003c, 156). Wird der Mensch als Naturbeherrscher verstanden, der zum Zwecke der Verbesserung seiner Lebensbedingungen technische Entwicklungen vorantreibt, dann wird Gentechnik eher in ihren Möglichkeiten als in ihren Gefahren assoziiert. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Art und Ausrichtung der epistemischen Annahmen in einer solchen Phantasie nicht klar auszumachen sind: Vorstellungen vom geistreichen, zum Fortschritt befähigten Menschen lassen Vorstellungen zum eigen gesteuerten und selbstbestimmten Wissenserwerb erstarken, die eine dynamische und individuumsabhängige Erkenntnisbildung nahelegen. Sie könnten jedoch auch gleichzeitig als Idee von der gottgegebenen Gabe zur Veränderung und zum Eingriff in die Natur die Vorstellung aktivieren, dass die Erkenntnis- und Lernfähigkeit eines Menschen angeboren und damit determiniert sei. 3.5.2 Anhand von Alltagsphantasien epistemische Prozesse aufzeigen Die in den Alltagsphantasien enthaltenen Welt- und Menschenbilder sind an Vorstellungen zu Wissen und seiner Genese und der Bedeutung und Rolle des Menschen in diesen Prozessen geknüpft. Die impliziten kulturellen Perspektiven auf den Menschen und die Welt als Grundlagen der Alltagsphantasien transportieren also durchaus bestimmte epistemische Perspektiven und Überzeugungen. Welcher Art die mit ihnen verknüpften oder angetriggerten epistemischen Vor140
stellungen sind, ist jedoch abhängig von der individuellen Ausprägung der Alltagsphantasien durch das einzelne Individuum. Dementsprechend ist es durchaus vorstellbar, dass unterschiedliche Alltagsphantasien oder Variationen und Kombinationen von intuitiven Welt- und Menschenbildern gegenläufige epistemische Überzeugungen aktivieren. Ob spezifische Alltagsphantasien dennoch häufig gepaart mit einer bestimmten epistemischen Perspektive auftreten, bleibt in genauen qualitativen Studien zu untersuchen. An dieser Stelle wird noch einmal deutlich, welche bedeutende Rolle dem Kontext in der Funktionsweise der persönlichen Epistemologie zukommt: Welche epistemischen Vorstellungen und Überzeugungen aktiviert werden, ist also sowohl abhängig vom Befinden des Individuums und der jeweiligen Situation, wird jedoch auch dadurch mitbestimmt, welche weiteren Assoziationen, wie eben persönliche Welt- und Menschenbilder, durch den Lerngegenstand aktiviert werden. Im Hinblick auf die epistemischen Überzeugungen sind Alltagsphantasien auch in einem weiteren Sinne bemerkenswerte Konstruktionen: Sie spiegeln nicht nur die verinnerlichten kulturellen Einflüsse, die auf das Individuums einwirken und in Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Inhalten aktiviert werden, sondern zeigen gleichzeitig auch den den Zeitgeist prägenden Einfluss der Naturwissenschaften auf. Alltagsphantasien offenbaren nämlich überdies, in welcher Weise Aussagen der Naturwissenschaft das Selbstverständnis und das Weltbild des Menschen formen und beeinflussen. Durch die Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Themen und Erkenntnissen erwirbt das Individuum eine veränderte Perspektive auf sich selbst und die Welt, die bestimmte Themen neu akzentuiert. So bietet das Thema Gentechnologie vielleicht zum einen die Konzeption des Genoms als „naturgegebenem Identitätsausweis“ (vgl. Gebhard 1999, 111), zum anderen scheint durch Methoden des Klonens und des Gentransfers die Einzigartigkeit des Einzelnen in nie vorher da gewesener Weise angetastet. Die Konfrontation mit solchen Konzepten stimuliert eine verstärkte Akzentuierung und veränderte Auseinandersetzung mit Themen wie Identitätsbildung und Individualität, die für moderne westliche Gesellschaften konstitutiv sind. Durch die Reflexion der subjektiven Resonanzen auf diese Themen im Unterricht werden sich Lernende ihrer intuitiven Reaktionen bewusst und können deren Quellen aufspüren. Am Beispiel intuitiver Reaktionen, wie einer ablehnende Haltung gegenüber gentechnischen Eingriffen in das menschliche Erbgut, Schöpfungsphantasien oder Furcht vor dem Ende des Individualismus, kann im reflexiven Unterrichtsgespräch deutlich gemacht werden, wie Naturwissenschaf141
ten das Denken und die Diskurse des Individuums beeinflussen und in diese eingehen.34 Anhand der reflexiven Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien kann also rekonstruiert werden, dass Wissenschaft in gleichem Maße auf den Zeitgeist und damit auf kulturelle Auseinander-setzungsprozesse zurückwirkt, wie sie selbst durch kulturelle Einflüsse geprägt ist. Dies ist eine zentrale Erkenntnis in naturwissen-schaftlichen Bildungs-prozessen, die es im Rahmen von Programmen wie Scientific Literacy oder Nature of Science an Lernende zu vermitteln gilt. Diese Erkenntnisse betreffen direkt die persönliche Epistemologie eines Individuums, wenn erkannt wird, dass naturwissenschaftliche Entwicklungen nicht nur über Technologien und anwendbare Erkenntnisse auf die Gesellschaft einwirken, sondern auch Diskurse zum Selbstverständnis und Lebenswandel massiv beeinflussen. Gebhard führt in diesem Zusammenhang an, dass die Reflexion in der naturwissenschaftlichen Bildung eine besondere Bedeutung hat, da „für den Aufbau und die Entwicklung eines reflektierten naturwissenschaftlichen Weltbildes der Gedanke grundlegend ist, dass es bei Naturwissenschaften auch um ein Verstehen von Weltausschnitten geht“ (Gebhard 2005, 50). Natur-wissenschaftliche Sichtweisen seien als Interpretationsfolien für Wirklichkeit zu nutzen. Dazu bedarf es nach Gebhard einer erkenntnis- und wissenschaftsphilosophischen „Nachdenklichkeit“ (2005, 51). Diese Nachdenklichkeit ist meiner Ansicht nach eng verknüpft mit einer weltgewandten, aufgeschlossenen und ausgereiften persönlichen Epistemologie, da sie die Bereitschaft und Fähigkeit zur gedanklichen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Entwicklungen und Erkenntnissen umfasst. Dazu gehört sowohl ein kritisches Wahrnehmen und Hinterfragen wissenschaftlicher Gegebenheiten, als auch die grundlegende Ausbildung einer Bereitschaft oder Motivation zur Auseinandersetzung und zum Nachdenken, die Manifestation eines epistemischen Motivs, das sich eben auch als Nachdenklichkeit bezeichnen lassen könnte. Nachdenklichkeit würde damit zu einer Schlüsselkompetenz für Scientific Literacy. Das deutsche PISA-Konsortium (2001, 299) fasst Scientific Literacy als bedeutsam in ihrer Funktion für eine verständige und verantwortungsvolle 34
Diese Beeinflussung erfolgt natürlich nicht unbedingt explizit. Das bedeutet, sie löst vermutlich nicht unmittelbar bewusste Prozesse des Nachdenkens über diese Themen aus. Vielmehr ist anzunehmen, dass diese Themen langsam in Denkprozesse einsinken, indem bestimmte Konzepte immer wieder angesprochen und so unbewusst verstärkt werden.
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Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, wofür eine Einsicht in das „Wesen“, die Geschichte und die Rolle der Naturwissenschaften in Kultur und Gesellschaft unerlässlich ist. Nach Gebhard (2005, 51) hat das „Philosophieren, Sinnieren und Diskutieren“ daher essentielle Funktion im natur-wissenschaftlichen Unterricht. Die Auseinandersetzung mit den eigenen und fremden Alltagsphantasien könnte ein Zugang zum Individuum sein, durch den Nachdenklichkeit gefordert und stimuliert werden könnte, ähnlich der „Nachdenklichkeit“, die Fischer in seinen Experimenten durch das Nachvollziehen der Argumentationsfiguren und Gedanken anderer Personen auslösen konnte (Fischer et al. 1993, 107). Die Studenten wurden dadurch dazu stimuliert, sich auf eine epistemisch komplexere Weise mit dem Problem auseinanderzusetzen – sie wurden sozusagen zur Nachdenklichkeit angeregt (vgl. Kapitel 1.5.2). Das Reflektieren der eigenen Intuitionen sowie fremder spontaner Assoziationen zu naturwissenschaftlichen Themen, der Austausch darüber und das Aufdecken der impliziten kulturellen Unterfütterungen bedeutet zum einen eine Auseinandersetzung mit sich selbst. Zum anderen bedeutet es aber auch eine Auseinandersetzung mit Naturwissenschaft und damit, wie diese auf die eigenen Perspektiven wirkt. Damit rückt Naturwissenschaft greifbar nah an die eigene Person und das Verständnis der eigenen Denkprozesse heran. 3.6 Lernen als Verarbeitungsprozess Eine Verortung epistemischer Überzeugungen und Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess Epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien wurzeln in den kulturell bestimmten weltstrukturierenden Erklärungsmustern der Lernenden und sind Teil der impliziten Theorie der Realität des Individuums. Hierdurch haben epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien über ihre inhaltliche Ausrichtung Einfluss auf die Perspektive des Lernenden auf den Lerngegenstand. Diese Wirkweise wird in Anlehnung an Hannover & Kühnen (2002) als semantischer Mechanismus gefasst. Für epistemische Überzeugungen ist eine steuernde Funktion im Denken nachweisbar, die sich auf Lernstrategien und Verarbeitungsweisen auswirkt (Hofer 2004, Schommer 1998). Aufgrund dieser Funktion geht die Weltkonstruktion, die sich in epistemischen Überzeugungen äußert, mit unterschiedlichen Modi der Informationsverarbeitung einher. Dies wird in Anlehnung an Hannover & Kühnen (2002) als prozeduraler Mechanismus bezeichnet. 143
Analog hierzu wird nun untersucht, welche Verbindungen zwischen epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien auf der Ebene der Informationsverarbeitung bestehen, die in Lernprozessen didaktisch wirksam unterstützt oder genutzt werden könnten. Dazu bedarf es an dieser Stelle zunächst der Klärung der Frage, wo sich epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess überhaupt verorten lassen. 3.6.1 Die Theorie der Laienepistemologie Eine Theorie, die Informationsverarbeitung im Hinblick auf epistemische Probleme behandelt, ist die Theorie der Laienepistemologie von Arie Kruglanski. Dieses Metamodell der sozialen Informationsverarbeitung beschäftigt sich mit den Prozessen, in denen Wissen gesucht, erworben und geprüft wird (Abele & Gendolla 2002, 312). Kruglanski geht in seiner Theorie davon aus, dass Menschen zur Lösung eines epistemischen Problems Hypothesen aufstellen und prüfen. Ein epistemisches Problem kann dabei das Infragestellen der Gültigkeit einer Überzeugung oder die Integration neuer Information in bestehende Wissensmuster darstellen. Kruglanski (1999) schlüsselt in seiner Theorie auf, wie die Dauer und Intensität, mit der Menschen sich mit einem Gegenstand auseinandersetzen (also Hypothesen zu diesem Gegenstand aufstellen und prüfen), durch eine Kaskade von Faktoren bestimmt wird. Im Folgenden werden diese in sich verschachtelten Prozesskomponenten in ihrem Zusammenwirken erklärt und dabei gezeigt, an welchen Angelpunkten Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen im Prozess eingeschaltet wirken. Außerdem werden gleichzeitig auch die Einwirkungsmöglichkeiten auf die Prozesse durch entsprechendes Umgehen mit den Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen aufgezeigt. Nach Kruglanski basiert die Dauer und Intensität der Auseinandersetzung mit einem Gegenstand auf der Fähigkeit und Motivation der Person zur Generierung von Annahmen oder Hypothesen zu dem neuen Gegenstand. Diese beiden Einflussgrößen bestimmen folglich, wie eingehend und lange eine Person sich mit einem Gegenstand beschäftigen kann und will.
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3.6.2 Die Fähigkeit zur Auseinandersetzung – Wirkpunkt der Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess Die Fähigkeit zur Hypothesengenerierung hängt von Gedächtnisprozessen ab. Sie wird zum einen durch die Kapazität – also den Wissensumfang einer Person – bestimmt, und zum anderen durch die momentane Zugänglichkeit von Hypothesen festgelegt. Zugänglichkeit bedeutet in diesem Zusammenhang die Menge an unterschiedlichen Hypothesen, die einer Person in einem bestimmten Moment einfallen. Diese Zugänglichkeit ist ihrerseits abhängig von zwei Faktoren (Abele & Gendolla 2002, 314): 1. Sie wird bestimmt von der Zeit, die seit der letzten Verwendung einer Idee vergangen ist. 2. und sie ist bedingt durch die Stärke der Assoziationen zwischen den einzelnen Ideen. Je mehr Wissen vorhanden und zugänglich ist, desto größer ist die Menge und Dauer der Verarbeitung. Zudem können unterschiedliche Informationen im Gedächtnis sich widersprechende Schlussfolgerungen zur Folge haben. Um diese Widersprüche zu lösen, wird noch mehr Verarbeitungsleistung notwendig (Kruglanski et al. 1999, 298). Lernen besteht in der Veränderung von Wissensstrukturen, etwa durch Einordnung neuer Information in bestehende Wissenskonzepte. Konzipiert man diese Einordnung neuer Informationen als epistemisches Problem und geht damit davon aus, dass die Fähigkeit, Hypothesen zu bestehenden Konzepten oder zu dem Zusammenspiel der Informationen aufzustellen und zu prüfen, eine zentrale Rolle für die Einordnung der neuen Informationen spielt, dann sollte an dieser Stelle auch dem Modus der Aktivierung von Assoziationen Aufmerksamkeit gewidmet werden. Die Bedingungen für die Zugänglichkeit von Hypothesen (in diesem Fall über die Plausibilität und Nützlichkeit einer neuen Information) wären dabei neben zeitlichen Faktoren und Assoziationsstärke um die Breite der Assoziationen im Sinne von Zwei-Prozess-Modellen zu ergänzen, die assoziative Mechanismen von reflexiven Mechanismen unterscheiden.35 35
Reflexive Verarbeitung verläuft über kontrollierte Aktivierung von Gedächtnisinhalten auf der Basis von logischen Verbindungen und geht mit bewusstem Erleben des Denkprozesses unter Aufwendung kognitiver Kapazität einher. Assoziative Mechanismen der automatischen Verarbeitung dagegen aktivieren sehr schnell, unbewusst und unter Aufwendung minimaler kognitiver Kapazitäten (im Vergleich zum reflektiven Modus) eine breite Front von Assoziationen. Dies erfolgt nicht auf der Basis von logischen Verknüpfungen, sondern basierend auf Kriterien wie Ähnlichkeit und zeitlicher Nähe im Auftreten der assoziierten Merkmale sowie Stärke der assoziativen Verknüpfung (Strack & Deutsch 2004, 223; Schneider & Shiffrin 1977, 2). Ergebnisse dieser Verarbeitungspro-
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3.6.2.1 Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess Über assoziative Mechanismen wird durch den Lerngegenstand eine breite Front von automatisierten Assoziationen aktiviert, die außerhalb der bewussten und willentlichen Kontrolle des Lernenden liegen. An dieser Stelle im Verarbeitungsprozess sind die Alltagsphantasien des Lernenden zu verorten. Als Assoziationen zum Lerngegenstand gehören sie in den Wissensfundus des Lernenden und sind damit Teil seiner Befähigung zur Hypothesengenerierung. Angenommen wird, dass die impliziten Welt- und Menschenbilder des Lernenden im impulsiven System über assoziative Mechanismen unkontrolliert aktiviert werden, den Denkprozess beeinflussen und dabei im Bewusstsein des Lernenden für diesen nicht explizit auszumachen sind. Dies entspricht dem von Hannover & Kühnen (2002) beschriebenen semantischen Mechanismus: Identifikation, Kategorisierung und Interpretation der Informationen zum Lerngegenstand werden an die semantischen Inhalte der eigenen hoch zugänglichen Perspektiven auf den Menschen und die Welt angepasst. Die Alltagsphantasien bezeichnen dabei die Anteile dieser semantischen Verortung, die im Lernprozess explizit werden. Nach Gebhard (1999) besteht ein besonderes Potential in dem Willkommenheißen und Einbinden von Alltagsphantasien in den Lernprozess. Die Alltagsphantasien anzuerkennen bedeutet die grundlegenden sinnstiftenden Dimensionen der impliziten Theorie der Realität einzubinden, die ein Lerngegenstand aktiviert. Hierdurch wird der Lernende in seiner subjektiven Beziehung zum Lerngegenstand gestärkt. Eine Möglichkeit dieses Einbindens besteht in der aktiven Reflexion der Alltagsphantasien. 3.6.2.2 Folgen der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien für die Fähigkeit zur Auseinandersetzung Aus dem Denkmodell Kruglanskis lassen sich theoretisch mögliche Konsequenzen des aktiven Umgangs mit Alltagsphantasien ableiten: Durch die Reflexion von Alltagsphantasien könnten unbewusste Assoziationsketten bewusst zugänglich gemacht werden und damit die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit dem Konzept erhöhen. Über die Reflexion der Alltagsphantasien würden zusätzliche Ideen und Konzepte aus der impliziten Theorie der Realität ins bewusste Nachdenken geholt. Hierdurch entstehen mehr Anzesse tauchen plötzlich im Bewusstsein auf - ohne dass das Individuum sich über die Assoziationsketten im Klaren ist - und werden dann als Intuition erlebt.
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knüpfungspunkte für das neue Wissen, die der bewussten Kontrolle zugänglich sind und die Dauer und Intensität der Verarbeitung wird erhöht. Davon ausgehend, dass das Gedächtnis Informationen in einer Netzwerkstruktur speichert und verarbeitet, lässt sich dies folgendermaßen verstehen: Beim Nachdenken über Gentechnik würden beispielsweise nicht etwa nur Assoziationen zum Klonen, zum Aufbau der DNA oder zu Vorteilen für Medizin und Nahrungsmittelproduktion eine Rolle spielen, sondern auch Vorstellungen zur Rolle des Menschen als Schöpfer, zum Menschen als Maschine, zur Individualität oder Phantasien zum heiligen Gral ewiger Gesundheit. Alle diese Vorstellungen haben in der abendländischen Kulturgeschichte eine lange Tradition im Denken über den Menschen und die Welt. Werden diese Ideen aktiviert und bewusst eingebunden, würden mehr Knoten zum Anknüpfen der neuen Informationen an die implizite Theorie der Realität der Kontrolle des Lernenden zugeführt. Durch ihre inhaltliche Brisanz bergen Alltagsphantasien zudem das Potential, das Individuum in der reflexiven Auseinandersetzung mit ihnen in kognitive Konflikte zu stürzen, deren Auflösung erneut eine konzentrierte Verarbeitung erfordert. Diese zusätzliche Verarbeitungsleistung ist grundsätzlich positiv zu bewerten, da sie eine eingehende Auseinandersetzung mit dem Lerninhalt erwirkt und diesen hierdurch verstärkt kognitiv einbindet. Die positive Folge der Reflexion (wie in Interventionsstudien schon mehrfach demonstriert wurde, vgl. Born 2007) könnte die Förderung nachhaltigeren Lernens sein und zwar in der Weise, dass Inhalte besser angeschlossen und verankert werden und damit langfristiger zugänglich sind. Ist die Verarbeitungskapazität knapp, könnte diese zusätzliche Verarbeitungsleistung jedoch mit anderen Verarbeitungsprozessen konkurrieren, so dass insgesamt weniger Kapazität zur Verarbeitung der neuen Lerninhalte bleibt. Dies könnte sich negativ auf den unmittelbaren Lerneffekt auswirken (Hennings & Mielke 2005, 251). Eine wichtige Größe in diesem Zusammenhang scheint also die verfügbare Zeit zur Verarbeitung und die kognitive Belastung zu sein. Kruglanski hat auch diesen Faktor in seinem Modell berücksichtigt und Zeit innerhalb der motivationalen Komponente verortet. 3.6.3 Die Motivation zur Auseinandersetzung – Wirkpunkt der epistemischen Überzeugungen im Verarbeitungsprozess Die Motivation ist nach Kruglanski die zweite Einflussgröße bei der Generierung von Hypothesen. Sie wird durch zwei Bedürfnisse determiniert. Kruglanski 147
unterscheidet hierbei die generelle (unspezifische) Motivation zum genauen Abwägen und Nachdenken über ein Problem von der spezifischen Motivation zur Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gegenstand, die also an den Gegenstand der Auseinandersetzung selbst gebunden ist. Diese generelle Motivation ist bestimmt durch Faktoren der Situation sowie dispositionelle und interindividuelle Faktoren. Hier sei nur kurz auf das bereits in Kapitel 1.1.2 eingeführte epistemische Motiv verwiesen: Die Bereitschaft zum Nachdenken ist eine zentrale volitionale Komponente persönlicher Epistemologie, die nicht an inhaltliche Überzeugungen oder kulturelle Aspekte gebunden ist, sondern ein Persönlichkeitsmerkmal des Individuums darstellt. Relevant ist für die Erläuterungen an dieser Stelle jedoch vornehmlich das Bedürfnis nach (Erreichung vs. Vermeidung) spezifischer kognitiver Festlegung, also die spezifische Motivation zur Auseinandersetzung mit einem bestimmten Gegenstand.36 Dieses Bedürfnis bezieht sich auf die Stärke des Verlangens eines Menschen eine spezifische Überzeugung zu einem bestimmten Thema aufrecht zu erhalten oder zu verändern (Kruglanski 1999). Dieses Bedürfnis wird nun durch die persönlichen Theorien des Lernenden und durch seine epistemischen Überzeugungen bestimmt. Je nach der Ausrichtung seiner epistemischen Überzeugungen oder je nachdem, wie stark ein Mensch eine persönliche Theorie oder Überzeugung bewahren will, variiert sein Umgang mit Informationen zu dieser Überzeugung und zwar bedingt dadurch, ob sie seine Ansicht unterstützen oder nicht. 3.6.3.1 Epistemische Überzeugungen in Verarbeitungsprozessen An dieser Stelle im Verarbeitungsprozess liegt die Gelenkstelle der epistemischen Überzeugungen und damit auch die des von Hannover & Kühnen (2002) beschriebenen prozeduralen Mechanismus: 36 Das zweite Bedürfnis (die generelle Motivation), das nur kurz erwähnt wurde, ist das Bedürfnis nach (Erreichung versus Vermeidung) unspezifischer kognitiver Festlegung. Es bezieht sich nach Abele & Gendolla (2002, 316) auf die Stärke des Wunsches, zu einem bestimmten Zeitpunkt eindeutiges Wissen bezüglich eines Sachverhaltes zu erhalten. Dieses Bedürfnis wird zum einen durch situative Faktoren beeinflusst, denn unangenehme Rahmenbedingungen durch Lärm, Müdigkeit, Zeitdruck oder langweilige Materie können das Bedürfnis nach einer schnellen Lösung, also nach Erreichung unspezifischer kognitiver Festlegung, verstärken. Umgekehrt können interessante Probleme oder angenehme Aufgaben sowie die Furcht vor einem falschen Urteil das Bedürfnis nach Vermeidung unspezifischer kognitiver Festlegung verstärken. Zum anderen spielen dispositionelle, situationsübergreifende, also interindividuelle Unterschiede eine Rolle, wie etwa eine ausgeprägte Präferenz für Ordnung, Vorhersagbarkeit, Bestimmtheit oder starkes Unbehagen bei Unklarheiten.
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Der Umgang mit Wissen wird abhängig vom Reifegrad der persönlichen Epistemologie eines Menschen moduliert. Mit Hammer & Elby (2002) ist dabei davon auszugehen, dass die persönliche Epistemologie eines Individuums verschiedene Ausprägungen von epistemischen Vorstellungen umfasst, die je nach Kontext aktiviert werden. Aus diesem Grund kann sich die Ausrichtung der persönlichen Epistemologie einer Person je nach Kontext unterscheiden. (1) Typische Verarbeitung bei unreifen epistemischen Überzeugungen Generell wird angenommen, dass Menschen mit eher unreifen epistemischen Überzeugungen, die starke „Theoriebewahrer“ sind, ungern von ihren Überzeugungen abweichen (Klaczynyski 2000, Kardash & Scholes 1996). Diese Abwehrmotivation entspringt nach Chaiken et al. (1996) dem Verlangen, Einstellungen und Überzeugungen aufrecht zu erhalten, die kongruent mit bestehenden selbstdefinierenden Einstellungen und Überzeugungen sind, wie Werten und moralischen Verbindlichkeiten. „Theoriebewahrer“ neigen nach Klaczynski dazu, Informationen, die nicht zu ihren Überzeugungen oder Theorien passen, unter Aufbietung ihrer kognitiven Kapazitäten intensiv zu untersuchen. Hierdurch können sie Gründe finden, um sie abzulehnen. Alternativ entwerten sie unpassende Informationen über Unwahrscheinlichkeitsheuristiken, indem sie die Information für schlicht falsch oder sinnlos erklären (Klaczynski 2000, 1348). Theorieunterstützende Argumente werden dagegen eher unreflektiert über heuristische Informationsverarbeitungsprozesse übernommen (Kardash & Scholes 1996, 269). Heuristische Verarbeitung beinhaltet die Vorrätigkeit, Aktivierung und Anwendung von Heuristiken (Faustregeln) und zeichnet sich durch ihre Schnelligkeit und Einfachheit aus: Menschen fokussieren dabei eine Teilmenge der verfügbaren Information (etwa in einer problematischen Situation), die sie befähigt bestimmte verinnerlichte einfache Regeln, Schemata oder kognitive Heuristiken zu nutzen, um ihre Entscheidungen und Urteile zu formulieren (Chen & Chaiken 1999, 74). (2) Typische Verarbeitung bei reifen epistemischen Überzeugungen Dem gegenüber stehen die Verarbeitungsstrategien von Menschen mit reifen epistemischen Überzeugungen, die also etwa Vorstellungen von der „ständigen Veränderlichkeit von Wissen“ hegen, die sie ihr Wissen überdenken lässt. Epistemische Überzeugungen sind nach Klaczynski metakognitive Dispositionen, die stark mit Persönlichkeitsmerkmalen wie Offenheit, Reflektiertheit und der Bereitschaft eigenes Wissen zu prüfen zusammenhängen. Jugendliche, die über reife epistemische Vorstellungen verfügen, sind eher dazu in der Lage, ihren Drang eigene Theorien zu bewahren zugunsten der Prüfung und Anerkennung 149
von neuem Wissen zurückzustellen. Sie neigen deshalb dazu, jegliche Information (sei sie unterstützend oder konträr zu ihren eigenen Überzeugungen) auf reflexivem Wege zu prüfen (Klaczynski 2000, 1350; Haidt 2001, 820). 3.6.3.2 Der Einfluss epistemischer Überzeugungen auf die Reflexion von Alltagsphantasien Epistemische Überzeugungen haben also nach Klaczynski (2000) einen entscheidenden Einfluss auf die Motivation, genauer auf die Bereitschaft sich auf reflektivem Wege und damit unter Aufwendung kognitiver Kapazitäten mit Informationen, Inhalten oder Problemen auseinanderzusetzen. Je weniger reif und damit aufgeschlossen die epistemischen Überzeugungen eines Menschen ausgerichtet sind, desto abhängiger von seinen eigenen bereits vorhandenen Vorstellungen, Bewertungen und Emotionen ist ein Mensch bei der Auseinandersetzung mit neuem Wissen oder Problemstellungen in Bezug auf die kognitiven Verarbeitungsmodi, in die er verfällt. Dies gilt zumindest für die nach westlichen Maßstäben als „reif“ betrachteten epistemischen Überzeugungen. Die Motivation zur Hypothesengenerierung wird hier also über die Reife der epistemischen Überzeugungen beeinflusst. Je reifer die epistemischen Vorstellungen ausgerichtet sind, desto ausgewogener und umfassender wird sich der Lernende mit Inhalten auseinandersetzen, auch wenn diese entgegen seiner persönlichen Überzeugungen oder Interessen ausgerichtet zu sein scheinen. Dies birgt zentrale Implikationen für die Reflexion von Alltagsphantasien im Unterricht: Vor dem Hintergrund der Bedeutung epistemischer Überzeugungen für die Motivation zur Auseinandersetzung mit einem Thema ist anzunehmen, dass die Reflexion der Alltagsphantasien in Abhängigkeit der epistemischen Ausrichtung eines Individuums unterschiedliche Effekte zur Folge hat. Es ist davon auszugehen, dass Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen eher dazu tendieren, sich auf die Reflexion ihrer spontanen Assoziationen einzulassen. Diese zentrale Implikation wird in Kapitel 4 detailliert aufgegriffen. 3.6.4 Alltagsphantasien als Heuristiken im Lernprozess An dieser Stelle lässt sich zudem eine weitere Verbindung zum Konzept der Alltagsphantasien konstruieren, die aufschlussreiche Implikationen birgt: (1) Alltagsphantasien wirken als schnelle Intuitionen. (2) Diese schnellen Intuitionen könnten als Heuristiken genutzt werden und die Auseinandersetzung mit dem Lerngegenstand abkürzen. 150
Wie im Kapitel 2.6 beschrieben, bergen Alltagsphantasien, wie alle sinnbildlich aufgeladenen Repräsentationen, ein suggestives Potential. Die mit ihnen zusammenhängenden narrativen Elemente, wie Bilder und Metaphern, helfen Wissen schnell zu kategorisieren (Ortony 1975, 48). Gleichzeitig wirken sie suggestiv, indem sie eine Lesart vorgeben und bedürfen aus diesem Grund der Reflexion. Erklärt werden kann dieser Einfluss über das eben schon kurz skizzierte Modell der heuristischen und systematischen Verarbeitung von Informationen. Dies ist auch wie das Modell von Strack & Deutsch (2004) ein Zwei-ProzessModell, allerdings mit dem Fokus auf der Verwendung von Informationen unter partieller Moderation durch epistemische Überzeugungen. Systematische Informationsverarbeitung lässt sich dabei mit reflexiver Verarbeitung gleichsetzen. Heuristische Verarbeitung läuft dagegen eher schnell und unkontrolliert ab und greift auf schnell aktualisierte Faustregeln oder Intuitionen zurück. Intuitionen können also als Heuristiken verwendet werden bzw. wirken und die systematische Auseinandersetzung abkürzen. Folglich können Alltagsphantasien durch ihre Funktion als internalisierte Argumentationsmuster und Ableger von impliziten Welt- und Menschenbildern als Heuristiken dienen, die es dem Lernenden ermöglichen, bestimmte Denkoperationen von vornherein abzuwehren, da sie als „Shortcuts“ im Gehirn sofort eine Interpretation der Situation oder des Phänomens nahe legen. Sie wirken suggestiv. Konzipiert man Alltagsphantasien als intuitiv verfügbare Heuristiken, die durch ihre assoziative Verankerung schnell für den denkenden Organismus nutzbar sind, ist anzunehmen, dass sie zu sofortigen Entscheidungen über einen Gegenstand befähigen, etwa bei moralischen Diskussionen zur Gentechnik. Als Heuristiken werden die in den Alltagsphantasien sichtbaren Welt- und Menschenbilder durchaus bewusstseinsfähig und können als Begründungen artikuliert werden. Sie erhalten eine bewertende Funktion, die eine weitere Auseinandersetzung mit dem Phänomen überflüssig erscheinen lässt und dadurch eine Art Tunnelzugang zu Phänomenen einleitet. So könnte im Genetikunterricht eine subjektive Wahrnehmung von Gentechnik als Frevel, etwa durch die Alltagsphantasie „Der Mensch sollte nicht Gott spielen“, eine weitere Auseinandersetzung mit dem Thema behindern. 3.6.4.1 Die emotionale Qualität von Heuristiken Als Fragmente für Urteile, die aus dem Verarbeitungsweg des heuristischen Systems hervorgegangen sind, haben Alltagsphantasien die Qualität sich subjek151
tiv ansprechend oder intuitiv „richtig“ anzufühlen. Da sie konsistent mit Stereotyp-basierten und subjektiven Überzeugungen sind und dem impliziten kulturellen Konsens über den Menschen und die Welt entspringen, erscheinen sie ganz selbstverständlich als wahr (Klaczynski 2000, 1348). Hierin liegt die bestechende Wirkung moralischer Intuitionen oder Heuristiken, die nach Haidt (2001) bei moralischen Denkprozessen das Urteil bestimmen. Die Intuitionen ähneln aufgrund der Schnelligkeit und Unbewusstheit des Prozesses, durch den sie generiert werden, der Sinneswahrnehmung und erscheinen uns deshalb als wahr (Haidt 2001, 814). Heuristiken zeichnen sich durch ihr plötzliches Auftauchen im Bewusstsein aus und haben eine affektive Valenz. Das eigentliche moralische Denken erfolgt nachgeschaltet und dient dazu, Argumente für das intuitiv „empfundene“ Urteil zu liefern. 3.6.4.2 Überwindung von Heuristiken durch Reflexion Nach Haidt (2001) ist die Stärkung moralischer Urteilsfähigkeit und Überwindung der Urteilsleitung durch automatisch generierte Intuitionen nur dann möglich, wenn sich widersprechende Vorstellungen oder Intuitionen in Menschen geweckt werden, dadurch sollte das Urteil nuancierter, differenzierter und damit schlussendlich begründeter sein (Haidt 2001, 829). Im menschlichen Zusammenleben übernehmen soziale Auseinandersetzungen die Funktion, moralische Intuitionen überwinden zu können, indem Menschen gezwungen sind, eine Problematik aus der Perspektive eines anderen Menschen zu betrachten. Multiple Perspektiven können sich widersprechende Intuitionen erzeugen, deren Unvereinbarkeit durch reflexive Denkprozesse gelöst wird und so andersartige Urteile ermöglicht (Haidt 2001, 820). Die reflexive Auseinandersetzung mit den urteilsleitenden bzw. heuristisch verwandten Alltagsphantasien könnte analog ein Aufschließen der Denkprozesse ermöglichen, das eine intentionale Auseinandersetzung mit dem behandelten Phänomen oder Problem möglich macht. Durch die Reflexion von Alltagsphantasien würde so möglicherweise die systematische Verarbeitung unterstützt, weil der unreflektierte Rückgriff auf schnell heuristisch genutzte Intuitionen unterbrochen wird. An dieser Stelle ist jedoch auch erneut die Möglichkeit knapper Verarbeitungskapazität einzukalkulieren: Die reflexive Auseinandersetzung mit heuristisch verwandten Alltagsphantasien bedeutet eine zusätzliche Verarbeitungsleistung, die auch an dieser Stelle mit den anderen Verarbeitungsprozessen konkurriert und eine Überlastung bewirken könnte.
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3.6.5 Effekte der Reflexion von Alltagsphantasien auf die persönliche Epistemologie Außerdem stellt sich vor dem Hintergrund dieser Überlegungen die Frage, ob sich die Reflexion der Alltagsphantasien auf die epistemische Ausrichtung des Lernenden auswirken könnte. Die reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien führt zu einer Auseinandersetzung mit der eigenen impliziten Theorie der Realität. Hierdurch werden auf einer semantischen Ebene die impliziten Welt- und Menschenbilder des Individuums aktiviert. In der Diskussion können diese Bilder dann sich widersprechenden Perspektiven gegenübergestellt werden, die andere Blickwinkel auf die Welt akzentuieren. Möglicherweise wirkt diese Auseinandersetzung auf die Aktivierung des eigenen kulturellen Wissens zurück. Eine veränderte Aktivierung der impliziten Theorie der Realität könnte Auswirkungen auf die Ausprägung der aktivierten persönlichen Epistemologie nehmen. Nach dem von Hannover & Kühnen (2002) modulierten Interface wirken Aktivierungen im semantischen Mechanismus auf den prozeduralen Mechanismus zurück und umgekehrt. Dies würde also eine Rückwirkung der Reflexion von Alltagsphantasien auf die persönliche Epistemologie bedeuten, die innerhalb des Individuums über veränderte Aktivierungsmuster im assoziativen Netzwerk wirkt. Wie unter Punkt 3.5.2 erläutert, könnte die Auseinandersetzung mit den eigenen und fremden Alltagsphantasien ein Zugang zum Individuum sein, durch den Nachdenklichkeit gefordert und stimuliert werden könnte. Ähnlich der Nachdenklichkeit, die Fischer in seinen Experimenten durch das Nachvollziehen der Argumentationsfiguren und Gedanken anderer Personen auslösen konnte (Fischer et al. 1993, 107, vgl. Kapitel 1.5.2), könnten die Lernenden durch die Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien anderer Lernender dazu angeregt werden, ihre welterklärenden Muster zu hinterfragen. Eine solche Reflexion könnte dazu führen, dass sich die Individuen auf eine epistemisch komplexere Weise mit dem Lerngegenstand auseinandersetzen. Über die Reflexion könnte also die implizite Theorie der Realität in vielen Facetten angesprochen werden und hierdurch ein verändertes Muster epistemischer Überzeugungen aktiviert werden.
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3.6.5.1 Die Bedeutung des epistemischen Motivs Eine bisher nur kurz eingeführte Variable ist bei der Beeinflussung der Ausprägung persönlicher Epistemologie allerdings in Erwägung zu ziehen: Das epistemische Motiv eines Individuums. In ihrem Modell epistemischer Metakognition verortet Hofer (2004) epistemische Überzeugungen innerhalb der Komponenten metakognitives Wissen und metakognitive Beurteilung & Monitoring (siehe Kapitel 1.2.2.1). Zudem unterscheidet Hofer (2004) eine dritte Komponente: Selbstregulation & Kontrolle der Kognition & des Lernens. Innerhalb dieser Komponente wird der volitionale Aspekt epistemischer Metakognition gefasst. Neben den inhaltlich spezifizierten epistemischen Überzeugungen wurde in dieser Arbeit ein weiterer Aspekt als Teil einer persönlichen Epistemologie betrachtet, der einen volitionalen oder intentionalen Aspekt berührt und hier als epistemisches Motiv bezeichnet wird. Diese Komponente persönlicher Epistemologie ist nicht an inhaltliche Überzeugungen oder kulturelle Aspekte gebunden, sondern bezeichnet ein Persönlichkeitsmerkmal des Individuums. Wie in Kapitel 1.2.2.1 angeführt, ist das von Cacioppo & Petty (1982) eingeführte Konstrukt des Need for Cognition meiner Ansicht nach als ein solches epistemisches Motiv zu verstehen. Personen mit einem hohen Bedürfnis nach Kognition haben Freude am Denken und zeigen eine hohe Bereitschaft, sich durch Nachdenken mit Problemen auseinanderzusetzen. Es ist naheliegend, dass eine solche „epistemische Bereitschaft“ Einfluss auf die Regulation von Denkprozessen nehmen könnte. Pintrich et al. (1993, 178) benutzen den Term „epistemic motivation“ und verweisen auf Kruglanskis hier bereits ausgeführte Annahmen zum Einfluss epistemischer Überzeugungen auf die Motivation zur Hypothesengenerierung und Überprüfung. Differenzierter ist der Hinweis von Pirttilla-Backmann & Kajanne (2001, 83) auf einen Einflussaspekt der Persönlichkeit in der Entwicklung epistemischer Überzeugungen, den sie als „curious mind“ bezeichnen und mit dem Need for Cognition (Cacioppo & Petty 1982) in Verbindung bringen. Im Zusammenhang mit Veränderungen der situationalen Ausprägung persönlicher Epistemologie ist dieses Persönlichkeitsmerkmal mit zu bedenken. Denkbar wäre, dass die Wirkung der Reflexion von Alltagsphantasien auf den Aktivierungszustand der persönlichen Epistemologie über dieses Persönlichkeitsmerkmal moderiert wird.
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3.6.5.2 Das Konstrukt Need for Cognition Die Stärke des Need for Cognition bezeichnet die Stärke der Tendenz von Individuen sich in Denkprozessen zu engagieren und am „Denken“ Freude zu haben. Das von Cacioppo & Petty (1982, 116) entwickelte Konstrukt geht auf Cohen et al. (1955, 291) zurück, die das Need for Cognition definieren als „das Bedürfnis relevante Situationen in einer bedeutungsvollen und integrierten Art und Weise zu strukturieren. Es ist das Bedürfnis die erlebte Welt zu verstehen und sinnvoll zu machen.“ Personen mit einem hohen Need for Cognition haben eine Präferenz für komplexere Versionen von kognitiven Aufgaben, während Personen mit einem geringen Need for Cognition eher einfache Aufgaben bevorzugen. Nach Fleischhauer et al. (2010, 82) verweist das Need for Cognition auf dispositionale Unterschiede in der kognitiven Motivation. Es reflektiert stabile und individuelle Unterschiede in der intrinsischen Motivation sich in anstrengenden kognitiven Bemühungen zu engagieren und daran Freude zu finden. Kognitive Motivation stellt einen bedeutenden Einfluss auf die kognitive Performanz da, weil sie nicht nur zeig, wozu Menschen intellektuell in der Lage sind, sondern auch, wie sie typischerweise ihre kognitiven Kapazitäten investieren (Fleischhauer et al. 2010, 82). Das Motiv kognitiv herausfordernde Situationen anzugehen und sogar die Sensibilität solche Situationen zu erkennen, kann nach Fleischhauer et al. (2010) als eine Bedingung des kognitiven Systems verstanden werden, die die Informationsverarbeitung beeinflusst. Das Need for Cognition beeinflusst kognitives Verhalten, wie etwa das Beachten, Elaborieren, Evaluieren und Erinnern von Informationen sowie die Entwicklung und Veränderung von Einstellungen (Fleischhauer et al. 2010, 82). Es korreliert positiv mit kognitiver Innovativität, Need for Affect, Selbstwertgefühl, Gewissenhaftigkeit, Offenheit für Erfahrungen und schwach positiv mit Extraversion. Außerdem korreliert das Need for Cognition negativ mit Dogmatismus, Need for Closure, Ängstlichkeit, und schwach mit Neurotizismus (Fleischhauer et al. 2010, 83). Den Ergebnissen von Fleischhauer et al. (2010, 89) zufolge korreliert das Need for Cognition positiv mit Selbstdisziplin und Ehrgeiz. Personen mit hohem Need for Cognition bleiben demnach länger bei der Sache und geben nicht so schnell auf. Diese Kombination aus Verhaltensaktivität und Zielorientiertheit könnte mit dem Erfolg des Individuums interagieren, mit Ansprüchen seiner Umwelt umzugehen und zu höherer Selbsteffektivität und weniger negativen Emotionen führen als bei niedrigem Need for Cognition. Alle Korrelationen sind jedoch
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schwach bis moderat, weshalb anzunehmen ist, dass es sich bei dem Need for Cognition um ein unabhängiges Konstrukt handelt. Das Need for Cognition korreliert zudem schwach positiv mit Intelligenz und moderat positiv mit fluider Intelligenz, besonders jedoch mit schlussfolgerndem oder logischem Denken (reasoning), das Teil der fluiden Intelligenz ist (Fleischhauer et al. 2010, 92). Da alle Korrelationen jedoch schwach bis moderat ausfallen, ist anzunehmen, dass das Need for Cognition und Intelligenz nur gering überlappen. Das Need for Cognition könnte also als ein Prädiktor der kognitiven Motivation als Aspekt der Persönlichkeit Einfluss auf die Entwicklung persönlicher Epistemologie nehmen. Demnach wäre anzunehmen, dass sich ein ausgeprägtes epistemisches Motiv und damit eine hohe kognitive Motivation unterstützend auf die Entwicklung einer weltgewandten persönlichen Epistemologie auswirkt, während anzunehmen ist, dass ein geringes epistemisches Motiv sich weniger förderlich auswirkt.
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4 Fragestellung
Epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien lassen sich beim Lernen an unterschiedlichen Stellen im Verarbeitungsprozess einordnen. Ziel der folgenden empirischen Untersuchung ist es, den Einfluss dieser impliziten Vorstellungen in Lernprozessen zu untersuchen. Da davon ausgegangen wird, dass epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien über kulturell bedingte Welt- und Menschenbilder in einer impliziten Theorie der Realität zusammenhängen, liegt der Fokus dieser Untersuchung darauf, mögliche Wechselwirkungen zwischen epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien zu erkennen. Während Alltagsphantasien als Resultate automatisch aktivierter Assoziationen die subjektive und kulturell eingefärbte Perspektive auf den Lerngegenstand beeinflussen, wirken sich epistemische Überzeugungen vor allem auf die Form und Intensität der Informationsverarbeitung beim Lernen aus. Um weitere Informationen über beide Konstrukte und vor allem über ihre Zusammenhänge zu erlangen, wird nun vor dem Hintergrund des theoretischen Vergleichs der beiden Konzepte das Zusammenwirken von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen vor dem Hintergrund des reflexiven Umgangs mit den Alltagsphantasien empirisch untersucht. Folgende Zusammenhänge sind vor dem Hintergrund des theoretischen Vergleichs denkbar: (1) Auf der einen Seite lässt sich die Reflexion der Alltagsphantasien von den epistemischen Überzeugungen ausgehend betrachten: Da epistemische Überzeugungen Einfluss auf die Art und Weise von Denkprozessen nehmen, ist es möglich, dass Lernende in Abhängigkeit ihrer epistemischen Überzeugungen unterschiedlich auf die ungewohnte Reflexion ihrer Alltagsphantasien reagieren. (2) Auf der anderen Seite ist jedoch auch eine entgegen gesetzte Wirkrichtung denkbar: Durch die Reflexion von Alltagsphantasien in Lernkontexten könnte eine veränderte kontextuelle Aktivierung der persönlichen Epistemologie und damit die Aktualisierung unterschiedlicher epistemischer Überzeugungen erfolgen. Nach der Konzeption der epistemischen Ressourcen von Hammer & Elby (2002) wird davon ausgegangen, dass das Aktivierungsmuster epistemischer
157 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Überzeugungen kontextabhängig ist. Durch die Reflexion der eigenen Alltagsphantasien erfolgt eine Auseinandersetzung mit Welt- und Menschenbildern der eigenen impliziten Theorie der Realität. Die Veränderung der Konfiguration epistemischer Überzeugungen könnte darüber bewirkt werden, dass durch die Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien – als Spuren verinnerlichter und kulturell tradierter Welt- und Menschenbilder – möglicherweise andere Facetten der impliziten Theorie der Realität angetriggert werden. Als Folge könnte in der Auseinandersetzung eine veränderte (möglicherweise reifere) Konfiguration von epistemischen Überzeugungen aktualisiert werden. Ergebnisse hierzu gäben Einsichten in die Kontextabhängigkeit epistemischer Überzeugungen und könnten eine klarere Einordnung der Wirkdimension und Bedeutung von Alltagsphantasien in Lernprozessen erlauben. Zusätzlich werden die beiden soeben skizzierten Wirkrichtungen vor dem Hintergrund der „epistemischen Bereitschaft“ der Lernenden betrachtet. Im Rahmen der Überlegungen zur Bedeutung eines epistemischen Motivs von Individuen sind die in (1) und (2) beschriebenen Zusammenhänge in Abhängigkeit von der persönlichkeitsabhängigen Bereitschaft des Individuums zum Nachdenken und zur Auseinandersetzung zu betrachten. Diese volitionale Komponente epistemischer Überzeugungen wird als möglicher Moderator der Effekte in den folgenden Untersuchungen mitberücksichtigt 4.1 Untersuchungshypothesen – Studie I Aus diesen Überlegungen lassen sich für die empirische Untersuchung der Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien im Verarbeitungsprozess verschiedene Untersuchungshypothesen ableiten. In Bezug auf die erste Wirkrichtung des reflexiven Umganges mit Alltagsphantasien vor dem Hintergrund der epistemischen Überzeugungen lassen sich die ersten beiden Hypothesen formulieren. Hypothese 1
Die Reflexion von Alltagsphantasien wirkt sich auf das Lernen aus. In Übereinstimmung mit den Ausführungen in Kapitel 2.6.2 zu den Ergebnissen der Interventionsstudien, welche ergaben, dass durch die Reflexion von Alltagsphantasien Lernergebnisse länger behalten werden, wird davon ausgegangen, dass sich die Einbeziehung von Alltagsphantasien in Lernprozesse auch im Experiment positiv auf die Informationsverarbeitung auswirkt. Intuitive Weltund Menschenbildaspekte dem reflektiven Modus der Verarbeitung zugänglich
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zu machen und diese damit in kontrollierte, bewusste Denkprozesse zu integrieren, sollte dem Lernenden mehr Anknüpfungspunkte bei der Verarbeitung neuer Informationen zur Verfügung stellen und damit die Intensität der Verarbeitung erhöhen. Hypothese 2
Epistemische Überzeugungen beeinflussen die Reflexion der Alltagsphantasien. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in Kapitel 1.3.2 wird angenommen, dass Menschen mit reiferen epistemischen Überzeugungen und einer stärker ausgeprägten Neigung zu reflektiven und systematischen Verarbeitungsprozessen die Alltagsphantasien stärker reflexiv nutzen. Es wird angenommen, dass sie mehr kognitive Kapazität auf die Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien verwenden. Deswegen aktivieren sie mehr Anknüpfungs-punkte für die Einordnung neuen Wissens. Es wird angenommen, dass hierdurch die Generierung neuer Ideen sowie die Anbindung neuer Inhalte unterstützt werden. Personen mit eher unreifer epistemischer Ausrichtung sind weniger geneigt ihr Wissen zu hinterfragen. Es wird angenommen, dass sich diese Personen gegen die Einbindung der Alltagsphantasien kognitiv sperren oder die reflexive Auseinandersetzung schneller „abstellen“, da sie generell eine geringere Bereitschaft zu reflexivem Nachdenken mitbringen. Gegensätzliche Reaktionen in Abhängigkeit von der Reife der epistemischen Überzeugungen sind denkbar, jedoch eher unwahrscheinlich: Obwohl reife epistemische Überzeugungen mit der generellen Tendenz zu aufwendigen Verarbeitungsprozessen einhergehen, ist nicht anzunehmen, dass sich Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen ohnehin schon stark reflexiv mit ihren eigenen Einfällen und vermutlich auch Intuitionen beschäftigen und die Reflexion der Alltagsphantasien daher keinen Einfluss nimmt. Die eigenen Welt- und Menschenbilder sind so stark verinnerlicht, dass sie nur mit Mühe bewusst reflektiert werden. Hypothese 3
Die Auswirkungen der Reflexion der Alltagsphantasien wird durch das epistemische Motiv moderiert. Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich in Abhängigkeit des epistemischen Motivs der Individuen auf die Informationsverarbeitung im Lernprozess aus. Diese epistemische Bereitschaft umfasst als ein Merkmal der Persönlichkeit stabile und individuelle Unterschiede in der intrinsischen Motivation sich in anstrengenden kognitiven Bemühungen zu engagieren. Sie wird über das Need for Cognition (Bedürfnis nach Kognition) operationalisiert. Es wird angenom159
men, dass mit stärkerer Ausprägung des Need for Cognition eines Individuums auch die Reaktion auf die Reflexion der Alltagsphantasien stärker ausfällt. 4.2 Untersuchungshypothesen – Studie II In Bezug auf die zweite Wirkrichtung, also bezüglich des Einflusses des reflexiven Umgangs mit Alltagsphantasien auf die epistemischen Überzeugungen, lassen sich die folgenden zwei Hypothesen formulieren. Hypothese 4
Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich darauf aus, welche epistemischen Überzeugungen aktiviert sind. Über die reflexive Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien, die als Fragmente verinnerlichter Welt- und Menschenbilder der persönlichen impliziten Theorie der Realität zum Aufbau und zur Ordnung der Welt gelten, kann auf die Aktivierungskonfiguration epistemischer Ressourcen eingewirkt werden. Im Sinne der Theorie von Hammer & Elby (2002) wird als Folge der reflexiven Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien die Aktivierung eines differierenden Musters von epistemischen Überzeugungen erwartet, als ohne Reflexion der Alltagsphantasien zu beobachten ist. Hypothese 5
Die Veränderung der Aktivierung epistemischer Überzeugungen wird durch das epistemische Motiv moderiert. Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich in Abhängigkeit des epistemischen Motivs des Individuums auf die Aktivierung epistemischer Überzeugungen aus. Je stärker das epistemische Motiv einer Person ausgeprägt ist, desto größer ist die Bereitschaft zum Nachdenken. Demnach sollte sich eine Auseinandersetzung mit der impliziten Theorie der Realität über die Reflexion der Alltagsphantasien verstärken und umfassender auf andere Teile der impliziten Theorie der Realität auswirken je stärker das epistemische Motiv ist. Insofern ist zu erwarten, dass sich eine Auseinandersetzung mit Alltagsphantasien in Abhängigkeit vom epistemischen Motiv auf die Konfiguration aktivierter epistemischer Überzeugungen auswirkt.
160
5 Studie I
Ausgehend von den Annahmen zu der Relevanz von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in Verarbeitungsprozessen in Kapitel 3.6 zielt die vorliegende Studie darauf ab, die Wechselwirkungen zwischen diesen beiden Konstrukten innerhalb von Lernprozessen zu untersuchen. Zu diesem Zweck wurde ein entsprechendes zweistufiges Untersuchungsdesign entwickelt: In einer ersten laborexperimentellen Studie I wurde zunächst die unmittelbare Auswirkung der Reflexion der Alltagsphantasien von Lernenden auf nachfolgende Informationsverarbeitungsprozesse in Abhängigkeit der epistemischen Überzeugungen und des epistemischen Motivs (operationalisiert über das Bedürfnis nach Kognition, Need for Cognition) untersucht. In einer darauf aufbauenden zweiten laborexperimentellen Studie II wurde dann in einem längeren experimentellen Zeitraum von einer Woche die Auswirkung der Reflexion der Alltagsphantasien auf die Ausprägung der persönlichen Epistemologie der Lernenden in Abhängigkeit des epistemischen Motivs der Lernenden (Need for Cognition) untersucht. Dabei wurden nur die Untersuchungsmodalitäten eingesetzt, die sich in der Studie I bewährten. Zum besseren Verständnis der Versuchsabläufe werden in diesem Kapitel zunächst die Voruntersuchungen sowie die Anlage, der methodische Rahmen und anschließend die Ergebnisse der Studie I vorgestellt. Aus den Ergebnissen der Studie I heraus wird dann im nächsten Kapitel die Anlage der Studie II erklärt und der methodische Rahmen sowie die Ergebnisse der Studie II dargestellt. Jeder Ergebnisdarstellung folgt dabei nur eine kurze Interpretation, um die gesamten Ergebnisse dann in Kapitel 7 ausführlich im Zusammenhang zu diskutieren. Die Studie I zielt darauf ab, die Auswirkungen der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien unter Moderation durch die epistemischen Überzeugungen und das epistemische Motiv von Individuen zu untersuchen. Dabei werden die ersten drei Hypothesen überprüft.
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Hypothese 1 Hypothese 2 Hypothese 3
Die Reflexion von Alltagsphantasien wirkt sich auf das Lernen aus. Epistemische Überzeugungen beeinflussen die Reflexion der Alltagsphantasien. Die Auswirkungen der Reflexion der Alltagsphantasien werden durch das epistemische Motiv moderiert.
5.1 Methode der Studie I Im Vorfeld der Untersuchungen waren verschiedene umfangreiche Voruntersuchungen zur Entwicklung geeigneter Untersuchungsmaterialien und Erhebungsinstrumente notwendig. 5.1.1 Voruntersuchungen In den Voruntersuchungen wurden sämtliche Untersuchungsmaterialien sowie deren Auswertung getestet. Dabei handelte es sich um: 1. Zugänglichkeit der Alltagsphantasien (Aktivierungsvorlagen) 2. Biologisches Vorwissen (Kontrollvariable) 3. Multiple-Choice- und Transferaufgaben zur Erhebung der Güte der Informationsverarbeitung. 5.1.1.1 Aktivierungsvorlagen: Zugänglichkeit der Alltagsphantasien Gebhard & Mielke (2001) überprüften die Skalierung von sechs bedeutsamen Alltagsphantasien, die aus Interviews mit über 600 Jugendlichen hervorgegangen waren (Gebhard 1999), mithilfe der Methode des Paarvergleiches (Thurstone 1927) hinsichtlich ihrer Zugänglichkeit. Um zu überprüfen, ob diese Skala auch für Studierende Gültigkeit besitzt, wurde dasselbe Verfahren mit Studierenden der Universität Hamburg durchgeführt. Methode Die Untersuchung wurde Ende Mai 2007 mit Studierenden (n = 111) der Universität Hamburg durchgeführt (zur Vorgehensweise vgl. Gebhard & Mielke 2001). Die folgenden in Tabelle 5.1. aufgeführten sechs Vorstellungen wurden nach der Methode des Paarvergleiches von Thurstone (1927) mit den aufgeführ-
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ten Erläuterungen unter Verwendung des Programms paircomp (Niketta 1996) angeordnet und paarweise vorgelegt. Tabelle 5.1:
Alltagsphantasien im Paarvergleich
Fortschritt
Die Technik ist ein Motor für die menschliche Entwicklung.
Mensch als Maschine
Dadurch, dass man den Bauplan des Lebens kennt, kann man in die menschliche Entwicklung wie bei einer Maschine eingreifen.
Optimierung des Menschen
Gentechnik kann genutzt werden, um die Unvollkommenheit des Menschen zu überwinden und den Menschen immer perfekter zu machen.
Krankheitsbekämpfung
Durch Gentechnik lässt sich das Auftreten von Krankheiten verhindern und Krankheiten lassen sich besser heilen.
Eingriff in die Natur
Der Mensch pfuscht damit der Natur ins Handwerk.
Ende der Individualität
Durch die Gentechnik werden die Menschen austauschbar. Das ist das Ende der Besonderheit jedes einzelnen Menschen.
Ergebnisse Die sechs ausgewählten Vorstellungen lassen sich auf der Basis des systematischen Paarvergleichs linear (Chi²-Test zur Überprüfung der Linearität: Chi² = 575.510, df = 5, p .01) anordnen. Tabelle 5.2 zeigt, wie sich die Vorstellungen von Studierenden der Studie 2007 im Vergleich zu denjenigen von SchülerInnen aus dem Jahr 2001 anordnen lassen.
163
Tabelle 5.2:
Skalenwerte der Alltagsphantasien von Studierenden und SchülerInnen Transformierte z-Werte
Alltagsphantasie
Ergebnisse (2007)
Studierende Ergebnisse SchülerInnen (2001)
Krankheitsbekämpfung
1.71
1.28
Eingriff in die Natur
1.21
0.64
Mensch als Maschine
0.85
0.48
Ende der Individualität
0.73
0.66
Fortschritt
0.68
0.29
Optimierung des Menschen
0
0
Aufgrund dieses Vergleiches wurden für die Hauptuntersuchung die ersten vier Vorstellungen ausgewählt, die sowohl bei SchülerInnen als auch bei Studierenden die höchste Zugänglichkeit hatten. 5.1.1.2 Kontrollvariable Biologisches Vorwissen Um überprüfen zu können, ob die randomisierte Zuordnung zu den Versuchsund Kontrollgruppen gelungen ist, wurde das biologische Vorwissen der Versuchspersonen erhoben. Vorgetestet wurde ein Fragebogen, in dem nach der biologischen Vorbildung der Versuchspersonen in Schule und Universität gefragt wurde. Es wurden Multiple-Choice-Fragen zu biologischen Themen, die (1) einem Wissenstest entstammen, der bereits in früheren Untersuchungen verwendet worden war (Gebhard 1999), sowie (2) ausgewählte Items aus der TIMS-Studie zur naturwissenschaftlichen Grundbildung (Baumert et al. 1996), verwendet. Aus den TIMSS-Aufgaben wurden lediglich Items im MultipleChoice-Format ausgewählt. Methode Im Januar 2008 wurden diese insgesamt 37 Aufgaben (16 Items des Wissenstests, 21 Aufgaben aus TIMSS) an 83 Studierenden der Universität Hamburg vorgetestet.
164
Ergebnisse Von den getesteten Multiple-Choice Fragen des Wissenstests haben sechs Aufgaben eine mittlere Schwierigkeit und sind deshalb zur Erhebung des Vorwissens geeignet. Von den getesteten TIMSS-Aufgaben haben sieben Aufgaben eine mittlere Schwierigkeit und sind deshalb zur Erhebung des Vorwissens geeignet. (Ergebnisse der statistischen Überprüfung der Aufgaben des Wissenstests vgl. Tabelle I.1 im Anhang.) 5.1.1.3 Erfassung der abhängigen Variable Verstehen Zur Untersuchung der Güte der Informationsverarbeitung werden fokussierte Denkprozesse initiiert, die konzentriertes Nachdenken auf einen spezifischen eng gefassten Gegenstand erfordern. Da mit dem zu entwickelnden Instrument Verstehen als fachliches Verständnis abgefragt werden soll, wurden Verfahren entwickelt, um das Verständnis biologischer Zusammenhänge zum Bereich der Gentechnologie zu untersuchen. Dabei wurden Multiple-Choice-Aufgaben und Transferaufgaben neu entwickelt. Multiple-Choice-Aufgaben & Transferaufgaben Anhand eines Textes aus einem gängigen Lehrbuch für das Fach Biologie für die Oberstufe des Gymnasiums37 (Weber & Bleuel 2005) werden die Versuchspersonen mit komplexen Informationen zum Thema Gentransfer versorgt. Dazu wurde speziell für die Erhebung ein Aufgabenset aus zehn Multiple-ChoiceAufgaben und zwei Transferaufgaben entwickelt (Oschatz 2010). Diese Form der Untersuchung der aktuellen Verarbeitung fachlichen Wissens soll es ermöglichen zu erfassen, in welchem Ausmaß Versuchspersonen in der Lage sind, die im Text enthaltenen Informationen zu nutzen. Hierbei ist das Ziel, durch die unterschiedlichen Fragetypen verschiedene Verständnisarten abzufragen: Während die Multiple-Choice-Aufgaben eher reproduktiv zu lösen sind, ist bei den Transferfragen eine Übertragung der Informationen zu leisten, die zeigt, ob der Prozess des Gentransfers in seiner Komplexität erfasst und verstanden worden ist. Bei den Multiple-Choice-Aufgaben werden jeweils drei Antwortmöglichkeiten vorgegeben, von denen nur eine vollständig richtig, die anderen beiden falsch oder unzureichend sind. Zur Lösung der Transferaufgabe ist die Übertragung der gelesenen Informationen über Prozesse des Gentransfers mittels der Analogie einer Taxifahrt notwendig.
37
Biologie Oberstufe Gesamtband, Cornelsen.
165
In Voruntersuchungen wurden die Aufgaben hinsichtlich ihrer Schwierigkeit und der Auswirkungen der Reihenfolge auf die Lösungsgüte untersucht. Methode Mitte Juli 2007 wurden die Multiple-Choice-Aufgaben an 26 Studierenden der Universität Hamburg getestet. Von den 13 Aufgaben lagen lediglich fünf im angestrebten mittleren Schwierigkeitsbereich. Es wurden weitere MultipleChoice-Aufgaben und fünf Transferaufgaben entwickelt und an insgesamt 178 Studierenden der Universität zwischen Ende Oktober und Ende November 2007 getestet. Dabei kamen zehn verschiedene Fragebogenvarianten zum Einsatz, um Reihenfolgeeffekte zu überprüfen (vgl. Tabelle I.2 im Anhang.). Ergebnisse 1. Alle getesteten Multiple-Choice-Fragen haben eine mittlere Schwierigkeit und werden zur Erfassung der abhängigen Variablen „Verstehen“ verwendet. Sie werden also von mehr als 20 Prozent, aber von weniger als 80 Prozent der Studierenden gelöst (Bortz & Döring 1995). 2. Aufgrund der Häufigkeitsverteilungen werden zwei der drei Transferaufgaben („Taxi (a)“ und „Schaubild“) ausgewählt und für die Haupterhebung verwendet. Die drei Transferaufgaben „Sätze ordnen“, „Lückentext“ und „Taxi (b)“ zeigen Verteilungsschiefen bzw. Mehrgipfligkeit und werden ausgeschlossen. 3. Die Bearbeitung von Transferaufgaben wirkt sich auf die Bearbeitung der Multiple-Choice-Fragen aus. Deshalb wurde festgelegt, dass in der Haupterhebung die Multiple-Choice-Fragen zuerst und erst danach die Transferaufgaben bearbeitet werden. 4. Die Transferaufgabe Taxi (b) wird durch die vorherige Bearbeitung von Multiple-Choice-Fragen beeinflusst und wird deshalb in der Haupterhebung nicht verwendet. (Ergebnisse der statistischen Überprüfung der Reihenfolgeeffekte vgl. Tabelle I.3 im Anhang.)
166
5.1.2 Experimentelle Hauptuntersuchung 5.1.2.1 Stichprobe 38
Die Untersuchung wurde in der Zeit von Mitte Februar bis Mitte März 2008 durchgeführt. Es nahmen insgesamt 112 Studentinnen (77%) und Studenten (23%) im Alter von 20 bis 30 Jahren (M = 23, SD = 3.2) aus unterschiedlichen Fachrichtungen (Studiengängen) der Universität Hamburg an der Untersuchung teil. Sie wurden nach Zufall auf die Versuchs- und Kontrollgruppen verteilt. Die Versuchspersonen wurden durch Ankündigung der Studie in Vorlesungen, durch Aushänge und Handzettel innerhalb der Universität angeworben. 5.1.2.2 Durchführung der Untersuchung Die Untersuchung dauerte insgesamt 120 Minuten. Um Einflüsse durch das Geschlecht des Versuchsleiters auszubalancieren, wurde die Untersuchung von jeweils einem weiblichen und einem männlichen Versuchsleiter durchgeführt. Die Versuchspersonen erhielten für ihre Teilnahme 15 Euro. Der Abbildung 5.1 lässt sich der Versuchsplan der Studie I entnehmen. Aktivierung intuitiver Vorstellungen
Selbstgeneriert
explizit
Implizit
VG 1
-
n = 24 Vorgegeben
Abbildung 5.1:
keine Aktivierung
KG
VG 2
VG 3
n = 24
n = 24
n = 40
Versuchplan der Studie I
5.1.2.3 Unabhängige Variablen VG 1: Explizite & selbstgenerierte Vorstellungen Die Versuchspersonen erhalten einen kurzen journalistischen Informationsartikel zur Präimplantationsdiagnostik. (vgl. Arbeitsblatt I.1) Anschließend werden sie aufgefordert, vier spontane Assoziationen im Zusammenhang mit 38
gefördert von der DFG, GE 1066/2-1, GE 860/2-2
167
Gentechnik auf beigelegte weiße Karten zu schreiben, diese nach persönlicher Wichtigkeit zu ordnen und entsprechend zu nummerieren. Sie werden aufgefordert, die Karten in dieser Reihenfolge neben sich auf den Tisch zu legen und die Gedanken bei allen nachfolgenden Überlegungen zu berücksichtigen. VG 2: Explizite & vorgegebene Vorstellungen Die Versuchspersonen erhalten einen kurzen journalistischen Informationsartikel zur Präimplantationsdiagnostik. Anschließend werden ihnen die vier Alltagsphantasien zu Gentechnik auf Karten vorgelegt, die in den Voruntersuchungen als besonders hoch zugänglich für Jugendliche identifiziert worden waren. Sie werden gebeten, diese nach persönlicher Wichtigkeit zu ordnen und entsprechend zu nummerieren. Sie werden ebenfalls aufgefordert, die Karten in dieser Reihenfolge neben sich auf den Tisch zu legen und die Gedanken bei allen nachfolgenden Überlegungen zu berücksichtigen. VG 3: Implizite & vorgegebene Vorstellungen Die Versuchspersonen erhalten einen kurzen journalistischen Artikel zur Präimplantationsdiagnostik. Der Artikel enthält in vier zusätzlichen Sätzen an passenden Stellen die vier Alltagsphantasien zu Gentechnik, die in den Voruntersuchungen als besonders hoch zugänglich für Jugendliche identifiziert worden waren Die Versuchspersonen werden jedoch nicht explizit auf diese Vorstellungen hingewiesen. Die Vorstellungen werden also implizit aktiviert. KG: Kontrollgruppe Es werden keine weiteren Maßnahmen unternommen, um Alltagsphantasien zu Gentechnik zu aktivieren. Die Versuchspersonen erhalten lediglich den gleichen kurzen journalistischen Artikel zur Präimplan tationsdiagnostik wie VG1 und VG2. 5.1.2.4 Abhängige Variable „Verstehen“ Wie im Abschnitt 5.1.1.3 zu den Voruntersuchungen geschildert, wird die Güte der Informationsverarbeitung über das Verstehen mithilfe von zehn MultipleChoice-Aufgaben und zwei Transferaufgaben zu einem Schulbuchtext zum Thema Gentransfer erfasst (Zur Darstellung des Aufgabenbogens vgl. Arbeitsblatt I.2 im Anhang).
168
5.1.2.5 Moderatorvariablen Es wird angenommen, dass das Ausmaß, in dem das Denken durch die Aktivierung von impliziten Welt- und Menschenbildern beeinflusst werden kann, durch epistemische Überzeugungen und das mit der Informationsverarbeitung im Zusammenhang stehende epistemische Motiv vermittelt wird. Es werden daher die folgenden Maße erfasst. (1) Epistemische Überzeugungen Während in der entwicklungspsychologischen Forschung meist halbstrukturierte Interviewverfahren zur Erfassung epistemischer Überzeugungen genutzt werden, werden in der pädagogisch-psychologischen Forschung vorwiegend standardisierte Fragebogen eingesetzt. Der Vorteil des standardisierten Zugangs liegt darin, die Erhebung von epistemischen Überzeugungen auch bei großen Stichproben zu erlauben. Aus diesem Grund wird auch in dieser Untersuchung auf die Erhebung epistemischer Überzeugungen über Fragebögen zurückgegriffen. Die epistemischen Überzeugungen werden mithilfe von drei Subskalen erfasst (Gerber 2004). Die erste Subskala Experten bezieht sich auf Überzeugungen zur Quelle von Wissen und der Wissensbegründung. Sie besteht aus neun Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .78 eine hohe Reliabilität. In Abbildung 5.2 ist ein Beispielitem gegeben.
Abbildung 5.2:
Beispielitem der Subskala Experten
Mit Hilfe der zweiten Subskala Wahrheit werden Überzeugungen zur Sicherheit und Wahrheit des Wissens erfasst. Diese Subskala besteht aus fünf Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .68 eine Reliabilität auf mittlerem Niveau. In Abbildung 5.3 ist ein Beispielitem gegeben.
Abbildung 5.3:
Beispielitem der Subskala Wahrheit 169
Die dritte Subskala Vielfalt bezieht sich auf epistemische Überzeugungen zur Komplexität des Wissens (Gerber 2004). Sie besteht aus neun Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .80 eine hohe Reliabilität. In Abbildung 5.4 ist ein Beispielitem gegeben (Zur genauen Darstellung der Subskalen vgl. Tabelle I.4 im Anhang, Einschätzung auf einer Skala von 1 bis 11).
Abbildung 5.4:
Beispielitem der Subskala Vielfalt
(2) Epistemisches Motiv Das epistemische Motiv wird über das Konstrukt Need for Cognition erfasst. Es erfasst die Bereitschaft und Freude am Nachdenken (Cacioppo & Petty 1982; Epstein et al. 1996, dt. Fassung nach Keller et al. 2000, Bless et al. 1994). In der Untersuchung wird der deutsche Fragebogen von Keller et al. (2000) in einer Kurzform mit 10 Items eingesetzt (Skala mit Items und Skalenkennwerten in Tabelle I.5 im Anhang). Die Reliabilität liegt mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .87 auf hohem Niveau. In Abbildung 5.5 ist ein Beispielitem gegeben.
Abbildung 5.5:
Beispielitem der Skala Need for Cognition
5.1.2.6 Kontrollvariablen Zur Sicherung der internen Validität werden verschiedene Kontrollvariablen erhoben. Dadurch wird überprüft, ob Kontroll- und Versuchsgruppen in zentralen Merkmalen vergleichbar sind. (1) Fachinteresse Das Interesse einer Person für Biologie und Gentechnik nimmt Einfluss auf die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit biologischen Inhalten und beeinflusst hierüber die Lernleistung (Krapp 1998). Es kann davon ausgegangen werden, 170
dass ein ausgeprägtes Interesse an Biologie oder Gentechnik mit einer intensiveren Auseinandersetzung und effektiveren Verarbeitung biologischer bzw. gentechnischer Inhalte einhergeht. Über zwei Items erfolgt die subjektive Einschätzung ihres eigenen Interesses an Biologie und Genetik auf einer 11-stufigen Skala (1 = niedrig, 11 = sehr groß). (2) Wohlbefinden Wie wohl sich eine Person in einem Kontext fühlt, nimmt Einfluss auf ihre Performanz in Testsituationen. Während sich negative Auswirkungen einer Situation in einem subjektiven Erleben von Stress und Druck ausdrücken, geht das positive Erleben einer Situation mit Entspanntheit und Neugierde einher. Um das Wohlbefinden der Versuchspersonen in der Versuchssituation zu erfassen, wird eine erweiterte Skala zum zweidimensionalen Befindensmodell eingesetzt (Watson & Tellegen 1985, vgl. auch Tellegen et al. 1999). Das zugrundeliegende Circumplex-Modell affektiver Zustände umfasst die beiden um 45° Grad gedrehten Dimensionen Positive Aktivierung (PA) und Negative Aktivierung (NA). Sie beschreiben zwei (theoretisch) unkorrelierte Formen von Aktiviertheit, die jeweils einen positiven und einen negativen Pol haben (Schallberger 2000, 17). Hohe PA entspricht einem positiv gefärbten, konzentrierten Aufgehen in einem Tun, während eine niedrige NA etwa innere Ruhe und Entspanntheit bedeutet. Komplementär hierzu bestehen auch zwei Typen negativer Erlebniszustände. Hohe NA entspricht Gestresstheit, während tiefe PA Lustlosigkeit und Langeweile entspricht. In Abbildung 5.6 ist das Circumplex-Modell affektiver Zustände dargestellt. Mit der in der Studie verwendeten Skala wird zugleich auch die Valenzdimension (VA) erhoben, die sich in den Polen Glücklich und Unglücklich fassen lässt. Nach Schallberger (2000, 17) wird durch sie das klassische „Wohlbefinden“ erfasst.
171
Abbildung 5.6:
Das Circumplex-Modell affektiver Zustände und die verwendeten Operationalisierungen (nach Schallberger 2000, 17)
Die subjektive Einschätzung des Befindens durch die Versuchspersonen erfolgt über 10 Items mit jeweils einem positiven und einem negativen Pol (gestresst vs. entspannt.), zwischen denen sich die Versuchspersonen auf einer siebenstufigen Likertskala verorten können (1 = sehr gestresst, 4 = unentschieden, 7 = sehr entspannt). Die erste Subskala Negative Aktivierungen (NA) besteht aus vier Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .72 eine hohe Reliabilität. Die zweite Subskala Positive Aktivierung (PA) besteht ebenfalls aus vier Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .77 eine hohe Reliabilität. Die dritte Subskala Valenz (VA) besteht lediglich aus zwei Items und hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .805 eine hohe Reliabilität (Zur genauen Darstellung der Subskalen vgl. Tabelle I.6 im Anhang). (3) Interessantheit des Versuchs Auch wie interessant der Versuch von Versuchspersonen der Versuchs- und Kontrollgruppe wahrgenommen wurde, kann auf die Güte der Auseinandersetzung mit den Anweisungen und Aufgaben der Versuchspersonen Einfluss neh-
172
men. Die subjektive Einschätzung der Interessantheit des Versuchs durch die Versuchspersonen erfolgt über ein Item auf einer 11-stufigen Skala (1 = völlig uninteressant, 11 = sehr interessant). (4) Biologisches Vorwissen Die Art und Organisation des Vorwissens bestimmt, wie Informationen im subjektiven Netz von Assoziationen eingeordnet und verknüpft werden (Hennings & Mielke 2005). Da das biologische Vorwissen entscheidenden Einfluss auf die Auseinandersetzung mit den Informationen zum Gentransfer der abhängigen Variable Verstehen nimmt, wird über einen Fragebogen die Vergleichbarkeit von Versuchspersonen der Kontroll- und Versuchsgruppen sichergestellt. Die Erhebung des biologischen Vorwissens wird über drei Komponenten operationalisiert: Wissenstest – Wie in den Ausführungen zu den Vorerhebungen (vgl. Abschnitt 5.1.1.2) dargestellt, wurde ein Wissenstest bestehend aus TIMSSAufgaben und eigens entwickelten Multiple-Choice-Aufgaben konzipiert. Subjektive Einschätzung des Vorwissens zur Gentechnik – Die Einschätzung des eigenen Vorwissens erfolgt auf einer fünfstufigen Skala (1 = ganz schlecht, 2 = relativ schlecht, 3 = einigermaßen, 4 = gut, 5 = sehr gut). Schulische Vorbildung im Fach Biologie – Diese Variable wird über zwei Items operationalisiert. Die Versuchspersonen geben Auskunft zur Art des von ihnen besuchten schulischen Biologiekurses (Grundkurs, Leistungskurs, anderes). Außerdem geben sie an, ob sie im Rahmen ihres schulischen Biologieunterrichtes oder ihres Studiums bereits eine Einführung in das Thema Gentechnik bekommen haben. (5) Angaben zur Person In einem kurzen abschließenden Fragebogen werden Alter, Geschlecht, Studienfach, Semesteranzahl und Muttersprache der Versuchspersonen erhoben. Außerdem schätzen die Versuchspersonen ihr Verständnis der deutschen Sprache auf einer fünfstufigen Skala (1 = gar nicht, 5 = ausgezeichnet) ein. 5.1.2.7 Ablauf der Untersuchung Den Versuchspersonen wird ein kurzer journalistischer Informationsartikel zur Präimplantationsdiagnostik vorgelegt. Sie bekommen unterschiedliche Anweisungen:
173
VG 1
Die Versuchspersonen sollen zunächst vier spontane Assoziationen zu Gentechnik aufschreiben, diese nach persönlicher Wichtigkeit ordnen und in ihren Überlegungen berücksichtigen. VG 2 Die Versuchspersonen sollen vier vorgegebene Alltagsphantasien zur Gentechnik nach persönlicher Wichtigkeit ordnen und in ihre Überlegungen einbeziehen. VG 3 Die Versuchspersonen erhalten keine explizite Aufforderung spontane Assoziationen zur Gentechnik zu äußern. Im Rahmen des journalistischen Informationsartikels werden jedoch vier Alltagsphantasien zur Gentechnik implizit – also außerhalb der Aufmerksamkeit der Versuchspersonen – aktiviert. KG Die Versuchspersonen erhalten keine Aufforderung spontane Assoziationen zur Gentechnik zu äußern und bekommen keine Alltagsphantasien vorgelegt. Um die Versuchspersonen in eine Phase des reflexiven Nachdenkens zu bringen, werden sie anschließend aufgefordert eine Dilemmageschichte zum Thema der Präimplantationsdiagnostik (vgl. Arbeitsblatt I.3 im Anhang) zu bearbeiten (Bearbeitungsdauer 40 min). Dies dient dazu alle Versuchspersonen zu einer reflexiven Auseinandersetzung mit ihren eigenen Gedanken anzuregen, wobei die Personen der Versuchsgruppen dabei die selbstgenerierten oder vorgegebenen Alltagsphantasien reflektierten. Die Versuchspersonen verfassen einen strukturierten Essay zu dem Dilemma, das sie zunächst beschreiben und dann ausdeuten sollen. Nach einer Analyse und dem Abwägen dieser Deutungen werden die Versuchspersonen zum innovativen Spekulieren angeleitet und schließlich aufgefordert ihr Urteil zu formulieren. Nach Abschluss ihres Essays werden die Personen der VG1 und VG2 durch einen kurzen Hinweis (vgl. Arbeitsblatt I.4 im Anhang) noch einmal an die Gedanken auf den Karten auf ihrem Tisch erinnert. Anschließend bekommen alle Versuchspersonen die weiteren Fragebögen zur Erfassung der abhängigen Variable Verstehen (Bearbeitungsdauer insgesamt 40 min: 20 min für das Lesen des Textes und Multiple-Choice-Fragen; weitere 20 min für die Transferaufgaben). Es folgen die Fragebögen zu den Moderator- und Kontrollvariablen in der in Tabelle 5.3 angegebenen Reihenfolge:
174
Tabelle 5.3:
Reihenfolge der Fragebögen in der Studie I
1.
Epistemische Überzeugungen
2.
Fachinteresse
3.
Wohlbefinden
4.
Interessantheit des Versuchs
5.
Biologisches Verständnis
6.
Need for Cognition
7.
Angaben zur Person
5.2 Ergebnisse der Studie I 5.2.1 Vergleichbarkeit der Gruppen Wie Tabelle I.7 im Anhang entnommen werden kann, bestehen zwischen den vier Gruppen keinerlei signifikante Unterschiede bezüglich demographischer Variablen wie Alter (F(3,108)=.98; p=.40), Geschlecht (Ȥ²=.64; df=3; p=.89), Semesteranzahl (F(3,106)=.36; p=.78), Muttersprache (Ȥ²= 29.76; df=39; p=.86) und subjektiver Einschätzung des Deutschverständnisses (F(3,108)=.21; p=.89). Darüber hinaus bestehen keine signifikanten Unterschiede bezüglich des biologischen Vorwissens (operationalisiert über (a) einen Wissenstest: F(3,96)=.20; p=.90); (b) subjektive Einschätzung des Vorwissens zur Gentechnik: F(3,108)=1.29; p=.28) und schulischer Vorbildung (operationalisiert über die Art des schulischen Kurses: Grundkurs/ Leistungskurs/ anderes: Ȥ²=3.32; df=6; p=.77). Auch im Fachinteresse (Interesse für Biologie F(3, 108)=.58; p=.63; Interesse für Gentechnik F(3,108)=.06; p=.98) und Wohlbefinden (operationalisiert über Positive Aktivierung F(3,106)=.52, p=.67, Negative Aktivierung F(3,106)=.21, p=.89 und Valenz F(3,108)=.16, p=.92) unterscheiden sich die Gruppen nicht. In Bezug auf die Interessantheit der Thematik ist die Homogenität der Varianzen nach Überprüfung durch den Levene’s Test verletzt. Zur Darstellung der Vergleichbarkeit zwischen den Gruppen wird deshalb auf den Brown-Forsythe Test (F(3,100)=.28, p=.84) zurückgegriffen, der ein robusteres Maß der Gleichheit von Mittelwerten bei heterogenen Varianzen darstellt (Pallant 2005, 218). 175
Auch bei den Moderatorvariablen Need for Cognition (F(3,108)=.25, p=.86) und epistemische Überzeugungen (operationalisiert über die Subskalen: Experten mit F(3,107)=1.91, p=.13; und „Vielfalt“ mit F(3,107)=.63, p=.60) zeigen sich keine Unterschiede zwischen den vier Gruppen. Da für die dritte Subskala Wahrheit der epistemischen Überzeugungen die Homogenität der Varianzen nach Überprüfung durch den Levene’s Test nicht gegeben ist, wird nach Pallant (2005, 218) auch für diese Skala auf den Brown-Forsythe Test (F(3,105)=1.545, p=.21) zurückgegriffen, um darzustellen, dass keine Unterschiede zwischen den Gruppen bestehen. 5.2.2 Unterschiede zwischen den Gruppen Im Folgenden werden die Daten im Hinblick auf die zu Beginn des Kapitels 5 genannten Forschungshypothesen analysiert. Dabei ist der Ergebnisbericht gemäß der beiden Hypothesen zur Moderatorfunktion von epistemischen Überzeugungen und des epistemischen Motivs (Need for Cognition) in zwei Abschnitte unterteilt. 5.2.2.1 Effekte unter Moderation durch epistemische Überzeugungen Eine erste Analyse möglicher Moderationseffekte durch die epistemischen Überzeugungen erfolgt über die Methode der Gruppenbildung, bei der die metrische Variable in zwei gleich große Gruppen mit niedrigen bzw. höheren Werten aufgeteilt wird. Eine Dichotomisierung der metrischen Variable Epistemische Überzeugungen anhand eines Mediansplits führt zu einer kategorialen Variablen mit zwei Gruppen von denen eine über reifere und die andere über weniger reife epistemische Überzeugungen verfügt. In der Folge können die Daten mit einer zweifaktoriellen (Zwischengruppen-) Varianzanalyse mit dem Faktor experimentelle Gruppenzugehörigkeit (Versuchsgruppe vs. Kontrollgruppe) und epistemische Überzeugungen (reif vs. unreif) und der abhängigen Variablen Punktezahl in Multiple-Choice- und Transferaufgabe ausgewertet werden. Da sich unter Moderation durch die epistemischen Überzeugungen in den Ergebnissen der Teilnehmer der ersten beiden Versuchsgruppen (explizite Aktivierung von Alltagsphantasien) im Vergleich miteinander keine Unterschiede zeigen, sind diese in der folgenden Analyse zusammengefasst. Die folgenden Ergebnisse beziehen sich folglich auf einen Vergleich der Kontrollgruppe mit den Versuchsgruppen 1 und 2, in denen die Versuchsperso176
nen explizit dazu aufgefordert wurden, entweder selbst über spontane Assoziationen Alltagsphantasien zum Thema Gentechnik zu generieren oder typische Alltagsphantasien vorgelegt bekamen. In Bezug auf die implizite Aktivierung typischer Alltagsphantasien (VG 3) zeigen sich keine von der epistemischen Ausrichtung abhängigen Effekte im Abschneiden der Versuchsteilnehmer. Analyse epistemischer Überzeugungen – Subskala Experten Die nachfolgenden Ergebnisse beziehen sich auf die Subskala Experten, die das Vertrauen auf Autoritäten und die kritische Einstellung gegenüber Wissensquellen erfasst. Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen zu den Quellen von Wissen und der Bedeutung von Autoritäten gehen davon aus, dass man auch Experten hinterfragen muss und eigene Überlegungen zu dem Entstehen und der Richtigkeit von Wissen anstellen sollte. Personen mit weniger reifen epistemischen Überzeugungen vertrauen stärker auf Experten und glauben, dass Autoritäten auf einem Wissensgebiet am Besten beurteilen können, was falsch und was richtig ist. (1) Zweifaktorielle Varianzanalyse mit Mediansplit In einer zweifaktoriellen Varianzanalyse (Faktor „Versuchs-/ Kontrollbedingung explizite Aktivierung“ x Faktor „reife/ unreife epistemische Überzeugungen“) zeigt sich für die Skala Experten ein signifikanter Interaktionseffekt für das Abschneiden bei der Transferaufgabe (KG/ VG explizit“ X „EÜ experten reif/unreif“: F=3.84, df = 1, p=.053, Ș2=.044). Bei reifen epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten wird die Transferaufgabe zum fokussierten Denken in der Kontrollgruppe besser gelöst als bei weniger reifen epistemischen Überzeugungen. In der Versuchgruppe zeigen sich keine Unterschiede. Der Interaktionseffekt ist in Abbildung 5.7 dargestellt.
177
Lösung der Transferaufgabe
Erreichte Punktzahl (max. 8 P.)
7
Kontrollgruppe Versuchsgruppe
6,5
6
5,5
5
4,5 unreife epist. Überz.
Abbildung 5.7:
reife epist. Überz.
Darstellung des Interaktionseffektes, Mittelwerte der Transferaufgabe getrennt nach Versuchsgruppe, Kontrollgruppe und Need for Cognition
Für die erreichte Punktezahl in der Multiple-Choice-Aufgabe zeigt sich lediglich eine Tendenz („KG/ VG explizit.“ x „EÜ experten. reif/unreif“: F = 3.40, df = 1, p=.069, Ș2=.044). Die Reife der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten wirkt sich nur in der Kontrollgruppe auf das Abschneiden in den Multiple-Choice-Aufgaben aus. Die Tendenz weist dahingehend, dass bei reifen epistemischen Überzeugungen die Multiple-Choice-Aufgaben von Personen der Kontrollgruppe besser gelöst werden als bei weniger reifen epistemischen Überzeugungen.
178
(2) Regressionsanalytische Überprüfung der Effekte Dieser Moderationseffekt wird auf zwei Weisen regressionsanalytisch überprüft und bestätigt. Die lineare Regressionsanalyse untersucht die lineare Abhängigkeit zwischen einer metrisch skalierten abhängigen Variablen und einer oder mehreren metrisch skalierten unabhängigen Variablen. Mithilfe von zwei separaten linearen Regressionsanalysen wurden für die beiden Ausprägungen der kategorialen Variablen Gruppe (Versuchs- und Kontrollgruppe) zunächst unabhängig voneinander die Korrelationskoeffizienten ermittelt. a. Separate lineare Regressionsanalysen Für die Kontrollgruppe zeigt sich ein signifikanter Regressionseffekt (ba=1.035; SE=.31; p=.002) für den Zusammenhang von der Punktezahl in der Transferaufgabe mit dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.2% in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen (Subskala Experten) einer Person der Kontrollgruppe und ihrer erreichten Punktezahl in der Transferaufgabe. Für die Versuchsgruppe 1+2 wird die einfache Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant (bb=-.117; SE=.39; p=.765). In den Abbildungen 5.8 und 5.9 sind die beiden Regressionslinien einmal beispielhaft dargestellt.
Punktzahl in der Transferaufgabe (max. 8)
8
6
4
2
R-Quadrat linear = 0,002
0 1,00
2,00
3,00
4,00
5,00
Epistem. Überz. Subskala Experten
Abbildung 5.8:
Lineare Regressionsgrade der Versuchsgruppe
179
Punktzahl in der Transferaufgabe (max. 8)
8
6
4
2
R-Quadrat linear = 0,222
1,00
2,00
3,00
4,00
5,00
Epistem. Überz. Subskala Experten
Abbildung 5.9:
Lineare Regressionsgrade der Kontrollgruppe
Für die Kontrollgruppe wird die Regressionsanalyse (ba=-1.367; SE=.33; p=.000) für den Zusammenhang von der Punktezahl in den Multiple-ChoiceAufgaben mit dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0% in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten einer Person der Kontrollgruppe und ihrer erreichten Punktezahl in den Multiple-Choice-Aufgaben. Für die Versuchsgruppe 1+2 wird die einfache Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant (bb=-.073; SE=.40; p=.856). b. Moderierte Regressionsanalyse mit Interaktionsterm Da durch die Bestimmung separater und unterschiedlicher Korrelationen nicht zwangsläufig auf einen tatsächlichen Moderatoreffekt der kategorialen Variablen geschlossen werden kann, sondern die unterschiedlichen Korrelationen auch auf Unterschieden in der Varianz der metrischen Prädiktorvariablen und der Kriteriumsvariablen beruhen können (Richter 2007, 117), wird der Moderatoreffekt zusätzlich über eine moderierte Regressionsanalyse mit metrischen und kategorialen Prädiktoren überprüft (Aiken & West 1991). In der verwendeten Regressionsgleichung wird dabei neben den Haupteffekten aller betrachteten Prädiktoren im Modell auch ein Interaktionsterm beider Prädiktoren einbezogen. Die qualitative Variable der Gruppenzugehörigkeit wird dichotom bzw. binär codiert und hat damit nur zwei Ausprägungen (Dummy-Variable). 180
Insgesamt konnte das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm knapp ein sechstel der Varianz in der Testleistungen in der Transferaufgabe aufklären (R2=.18, F= 5.9, df=3, p<.001). Die additive Konstante b0 wurde auf 9.2 (SE = 0.99) geschätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) wird auf –4.39 (SE = 1.53) geschätzt und war signifikant von Null verschieden (t= -2.9, p<.005). Personen der Kontrollgruppe erzielen demnach mehr Punkte in der Transferaufgabe zur Erfassung des fokussierten Denkens. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der epistemischen Überzeugungen (Experten) (b2) wird auf –1.04 (SE = 0.34) geschätzt und war ebenfalls signifikant von Null verschieden (t=–3.1, p=.003). In der Gesamtstichprobe hat die epistemische Ausrichtung (in Bezug auf Experten) demnach einen signifikanten Effekt auf die erreichte Punktzahl in der Transferaufgabe. Zudem zeigt sich ein signifikanter und deutlicher Interaktionseffekt der Versuchsbedingung mit den epistemischen Überzeugungen (Experten) (b3 = 1.15, SE = .50, t= 2.3, p=.024). Der Moderationseffekt lässt sich damit regressionsanalytisch bestätigen. In Abbildung 5.10 ist der Interaktionseffekt dargestellt. Bei reifen epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Experten wird die Transferaufgabe (Fokussiertes Denken) in der Kontrollgruppe besser gelöst als bei weniger reifen epistemischen Überzeugungen. In der Versuchgruppe zeigen sich keine Unterschiede.
VG
unreif
Abbildung 5.10:
reif
KG
Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit epistemischen Überzeugungen (Skala Experten) für das Abschneiden in der Transferaufgabe 181
Auch für die Testleistungen in den Multiple-Choice-Aufgaben lässt sich der Interaktionseffekt mithilfe der moderierten Regressionsanalyse deutlich nachweisen. Insgesamt konnte das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm etwa ein Fünftel der Varianz in den Testleistungen in der Transferaufgabe aufklären (R2= .21, F= 6.4, df=3, p<.001). Die additive Konstante b0 wird auf 9.9 (SE = 1.0) geschätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) wird auf –4.3 (SE = 1.57) geschätzt und ist damit signifikant von Null verschieden (t= -2.8, p=.007). Personen der Kontrollgruppe erzielen demnach mehr Punkte in der Multiple-Choice-Aufgabe. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der epistemischen Überzeugungen (Experten) (b2) wird auf –1.37 (SE = 0.34) geschätzt und war ebenfalls signifikant von Null verschieden (t=–4.0, p=.000). In der Gesamtstichprobe hat die epistemische Ausrichtung (in Bezug auf Experten) demnach einen signifikanten Effekt auf die erreichte Punktzahl in den Multiple-ChoiceAufgaben. Zudem zeigt sich ein signifikanter Interaktionseffekt der Versuchsbedingung mit den epistemischen Überzeugungen (Experten) (b3 = 1.29, SE = 0.51, t= 2.5, p=.014). Der Moderationseffekt lässt sich damit auch hier regressionsanalytisch bestätigen. In Abbildung 5.11 ist der Interaktionseffekt dargestellt.
VG KG unreif
Abbildung 5.11:
182
reif
Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit epistemischen Überzeugungen (Skala Experten) für das Abschneiden in den Multiple-Choice-Aufgaben
Analyse epistemischer Überzeugungen – Subskala Vielfalt Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen zu der Vielfalt von Wissen haben Freude daran unterschiedliche Informationen zu verknüpfen und viele verschiedene Perspektiven und Meinungen miteinander zu vergleichen. Personen mit weniger reifen epistemischen Überzeugungen zur Vielfalt von Wissen bevorzugen eindeutige Informationen und tendieren dazu die Betrachtung von Positionen aus vielen verschiedenen Perspektiven zu vermeiden. Eine Analyse möglicher Moderationseffekte durch epistemische Überzeugungen bezüglich der Vielfalt von Erkenntnissen und Quellen von Wissen über die Subskala Vielfalt mithilfe der Methode der zweifaktoriellen Varianzanalyse nach Mediansplit ergibt keinen signifikanten Moderationseffekt. Über eine lineare Regressionsanalyse lassen sich jedoch in der separaten Analyse für die Gruppen signifikante Effekte nachweisen. (1) Regressionsanalytische Überprüfung der Effekte Mithilfe von zwei separaten linearen Regressionsanalysen werden für verschiedene Ausprägungen der kategorialen Variablen Gruppe (Kontrollgruppe, Versuchsgruppe 1+2, Versuchsgruppe 1, Versuchsgruppe 2) zunächst unabhängig voneinander die Korrelationskoeffizienten ermittelt. a. Separate lineare Regressionsanalysen Für die Kontrollgruppe wird die Regressionsanalyse (ba=1.187; SE=.37; p=.003) für den Zusammenhang von der Punktezahl in der Transferaufgabe mit dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Vielfalt signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.3% in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Vielfalt einer Person der Kontrollgruppe und ihrer erreichten Punktezahl in der Transferaufgabe. Bei reifen epistemischen Überzeugungen wird die Transferaufgabe in der Kontrollgruppe damit besser gelöst als bei weniger reifen epistemischen Überzeugungen. Für die zusammengefasste Versuchsgruppe 1+2 wird die einfache Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant (bb=.431; SE=.41; p=.302). Auch in der Einzelanalyse für die Versuchsgruppe 1 (bb=.790; SE=.56; p=.169) sowie die Versuchsgruppe 2 (bb=-.449; SE=.64; p=.492) wird die Regressionsanalyse nicht signifikant. In der Versuchsgruppe zeigen sich also keine Unterschiede. Für die Kontrollgruppe wird die Regressionsanalyse (ba=1.067; SE=.42; p=.015) für den Zusammenhang von der Punktezahl in den Multiple-ChoiceAufgaben und dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Vielfalt signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.15% in der Grundge183
samtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Reifegrad der epistemischen Überzeugungen in Bezug auf Vielfalt einer Person der Kontrollgruppe und ihrer erreichten Punktezahl in den Multiple-Choice-Aufgaben. Für die zusammengefasste Versuchsgruppe 1+2 wird die einfache Regressionsanalyse ebenfalls signifikant (bb=.887; SE=.38; p=.025). Dies weist darauf hin, dass die epistemischen Überzeugungen, welche mithilfe der Subskala Vielfalt erfasst wurden, in Bezug auf die Multiple-Choice-Aufgaben in Versuchs- und Kontrollgruppen einen gleichgerichteten Moderatoreffekt haben. In der Einzelanalyse für die Versuchsgruppe 1 (bb=.878; SE=.48; p=.084) sowie für die Versuchsgruppe 2 (bb=.75; SE=.69, p=.292) wird die Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant. b. Moderierte Regressionsanalyse mit Interaktionsterm Um diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen, wurde der Moderatoreffekt zusätzlich über eine moderierte Regressionsanalyse mit metrischen und kategorialen Prädiktoren unter Einbezug der Haupteffekte und eines Interaktionsterms überprüft (Aiken & West 1991). Hierbei zeigt sich für die Subskala Vielfalt kein signifikanter Moderatoreffekt für die zusammengefasste Versuchsgruppe 1+2. Lediglich für die Versuchsgruppe 2 konnte ein Interaktionseffekt im Vergleich zu der Kontrollgruppe nachgewiesen werden: Insgesamt konnte das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm rund ein Fünftel der Varianz in der Testleistungen in der Transferaufgabe aufklären (R2= .20, F= 5.0, df=3, p=.004). Die additive Konstante b0 wird auf -4.7 (SE = 2.12) geschätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) wird auf 8.45 (SE = 4.3) geschätzt und war knapp signifikant von Null verschieden (t= 2.0, p=.054). Versuchsteilnehmer, die in der Kontrollgruppe waren, erzielen demnach mehr Punkte in der Transferaufgabe als Versuchspersonen der Versuchsgruppe 2. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der epistemischen Überzeugungen (Vielfalt) (b2) wird auf 1.19 (SE = 0.37) geschätzt und ist ebenfalls signifikant von Null verschieden (t=–3.2, p=.002). In der Gesamtstichprobe hat die epistemische Ausrichtung (in Bezug auf Vielfalt) demnach einen signifikanten Effekt auf die erreichte Punktzahl in der Transferaufgabe zur Erfassung fokussierter Denkprozesse. Zudem zeigt sich ein signifikanter und deutlicher Interaktionseffekt der Versuchsbedingung 2 mit den epistemischen Überzeugungen (Vielfalt) (b3 = -1.636, SE = 0.75, t= -2.2, p=.033). Bei reifen epistemischen Überzeugungen wird die Transferaufgabe in der Kontrollgruppe also besser gelöst als bei weniger reifen epistemischen Überzeugungen. In der Versuchgruppe zeigen sich keine Unterschiede. In Abbildung 5.12 ist der Interaktionseffekt dargestellt. 184
KG VG unreif
Abbildung 5.12:
reif
Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit epistemischen Überzeugungen (Skala Vielfalt) für das Abschneiden in der Transferaufgabe
Für die Testleistungen in den Multiple-Choice-Aufgaben ließ sich mithilfe der moderierten Regressionsanalyse kein Interaktionseffekt nachweisen. Im Zusammenhang mit der Subskala Wahrheit ließen sich keine signifikanten Moderatoreffekte feststellen. 5.2.2.2 Effekte unter Moderation durch das epistemische Motiv (Need for Cognition) Personen mit einem hohen Need for Cognition haben Freude am Denken und zeigen eine hohe Bereitschaft, sich durch Nachdenken mit Problemen auseinanderzusetzen. Personen mit einem geringen Need for Cognition vermeiden eher Situationen, die mit kognitiver Anstrengung einher gehen und finden weniger Befriedigung darin sich kognitiv mit Problemen auseinander zu setzen. Da sich unter Moderation durch das Need for Cognition in den Ergebnissen der Teilnehmer der drei Versuchsgruppen keine Unterschiede zeigen, sind die drei Gruppen in der folgenden Analyse zusammengefasst.
185
(1) Zweifaktorielle Varianzanalyse mit Mediansplit Mit Hilfe eines Mediansplits wird die kontinuierlich verteilte Variable Need for Cognition dichotomisiert. In einer zweifaktoriellen Varianzanalyse (Faktor „Versuchs-/Kontrollbedingung“ x Faktor „hohes/geringes Need for Cognition“) zeigt sich ein signifikanter Interaktionseffekt für das Abschneiden bei der Transferaufgabe (KG/ VG x NfC niedrig/ NfC hoch: F=4.5, df = 1, p=.036, Ș2=.040) Zur graphischen Darstellung der Interaktionseffekte vergleiche Abbildung 5.13.
Abbildung 5.13:
186
Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in der Transferaufgabe
Abbildung 5.14:
Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in den Multiple-Choice-Aufgaben
Auch für das Abschneiden bei der Multiple-Choice-Aufgabe zeigt sich ein signifikanter Interaktionseffekt (KG/VG x NfC niedrig/ NfC hoch: F=5.92, df=1, p=.017, Ș2=.059). Bei hohem Need for Cognition werden die Transfer- und die Multiple-Choice-Aufgaben in der Kontrollgruppe besser gelöst als bei geringerem Need for Cognition. In der Versuchgruppe zeigen sich keine Unterschiede. (2) Regressionsanalytische Überprüfung der Effekte Dieser Moderationseffekt wurde regressionsanalytisch überprüft und auf zwei Weisen bestätigt. Die lineare Regressionsanalyse untersucht die lineare Abhängigkeit zwischen einer metrisch skalierten abhängigen Variablen und einer oder mehreren metrisch skalierten unabhängigen Variablen. Mithilfe von zwei separaten linearen Regressionsanalysen werden für die beiden Ausprägungen der kategorialen Variablen Gruppe (Versuchs- und Kontrollgruppe) zunächst unabhängig voneinander die Korrelationskoeffizienten ermittelt.
187
a. Separate lineare Regressionsanalysen Für die Kontrollgruppe wird die Regressionsanalyse (ba=-.946; SE=.26; p=.001) für den Zusammenhang von der Punktezahl in der Transferaufgabe mit dem Need for Cognition signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.1% in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Need for Cognition einer Person der Kontrollgruppe und ihrer erreichten Punktezahl in der Transferaufgabe. Für die Versuchsgruppe wird die einfache Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant (bb=-.083; SE=.29; p=.776). Dies bildet sich auch in den Regressionsgraden in Abbildung 5.15 und 5.16 ab. 8
Punktezahl in der Transferaufgabe
7
6
5
4
3
R-Quadrat linear = 0,259
2
1 1,00
2,00
3,00
4,00
5,00
Need for Cognition
Abbildung 5.15:
Lineare Regressionsgrade der Kontrollgruppe
Für die Kontrollgruppe wird die Regressionsanalyse (ba= -.931; SE=.31; p=.005) für den Zusammenhang der Punktezahl in den Multiple-ChoiceAufgaben und dem Need for Cognition signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.5% in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Need for Cognition einer Person der Kontrollgruppe und ihrer erreichten Punktezahl in den Multiple-Choice-Aufgaben. Für die Versuchsgruppe wird die einfache Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant (bb= -.413; SE=.27; p=.128).
188
Punktzahl in der Transferaufgabe
8
6
4
2 R-Quadrat linear = 0,001
0 1,00
2,00
3,00
4,00
5,00
Need for Cognition
Abbildung 5.16:
Lineare Regressionsgrade der Versuchsgruppe
b. Moderierte Regressionsanalyse mit Interaktionsterm Wie bereits ausgeführt kann durch die Bestimmung separater und unterschiedlicher Korrelationen nicht zwangsläufig auf einen tatsächlichen Moderatoreneffekt der kategorialen Variablen geschlossen werden, sondern die unterschiedlichen Korrelationen können nach Richter (2007, 117) auch auf Unterschieden in der Varianz der metrischen Prädiktorvariablen und der Kriteriumsvariablen beruhen. Aus diesem Grund wurde der Moderatoreffekt zusätzlich über eine moderierte Regressionsanalyse mit metrischen und kategorialen Prädiktoren überprüft (Aiken & West 1991). Insgesamt konnte das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm rund ein Sechstel der Varianz in den Testleistungen in der Transferaufgabe aufklären (R2= .15, F= 6.4, df=3, p=.00). Die additive Konstante b0 wurde auf 8.9 (SE = 0.86) geschätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) wird auf –3.47 (SE = 1.16) geschätzt und ist signifikant von Null verschieden (t= -3.0, p=.003). Personen der Kontrollgruppe erzielen demnach mehr Punkte in der Transferaufgabe zur Erfassung fokussierter Denkprozesse. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm des Need for Cognition (b2) wird auf –0.95 (SE = 0.29) geschätzt und ist ebenfalls signifikant von Null verschieden (t=–3.2, p=.002). In der Gesamtstichprobe hat das Need for Cognition demnach einen signifikanten Effekt auf die erreichte Punktzahl in der Transferaufgabe. Zudem zeigt sich ein signifikanter und deutlicher Interaktionseffekt der Versuchsbedingung mit dem Need for Cognition (b3 = 0.86, SE = 0.40, t= 2.1, p=.035). Der Moderationseffekt lässt sich damit regres189
sionsanalytisch bestätigen. Bei hohem Need for Cognition wird die Transferaufgabe in der Kontrollgruppe besser gelöst als bei geringerem Need for Cognition. In der Versuchgruppe zeigen sich keine Unterschiede. In Abbildung 5.17 ist der Interaktionseffekt dargestellt.
VG
KG niedrig
Abbildung 5.17:
hoch
Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in der Transferaufgabe
Für die Testleistungen in den Multiple-Choice-Aufgaben ließ sich der Interaktionseffekt mithilfe der moderierten Regressionsanalyse nicht nachweisen. Die additive Konstante b0 wurde auf 8.6 (SE = 0.86) geschätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) wurde auf –1.64 (SE = 1.26) geschätzt und war nicht signifikant (t= -1.3, p=.197). Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm des Need for Cognition (b2) wurde auf –0.93 (SE = 0.30) geschätzt und war signifikant von Null verschieden (t=–3.1, p=.003). In der Gesamtstichprobe hatte das Need for Cognition demnach einen signifikanten Effekt auf die erreichte Punktzahl in den Multiple-Choice-Aufgaben. Es zeigte sich insgesamt jedoch kein Interaktionseffekt der Versuchsbedingung mit dem Need for Cognition (b3 = 0.36, SE = 0.44, t= 0.82, p=.413).
190
5.2.2.3 Zum Zusammenhang der Skalen Experten und Vielfalt und dem Need for Cognition Neben den inhaltlich spezifizierten epistemischen Überzeugungen wurde in Kapitel 3.6.5.1 ein weiterer Teil der persönlichen Epistemologie konzeptionell unter dem Begriff des epistemischen Motivs eingeführt, der einen volitionalen oder intentionalen Aspekt epistemischer Überzeugungen berührt. Diese Komponente persönlicher Epistemologie ist nicht an inhaltliche Überzeugungen oder kulturelle Aspekte gebunden, sondern bezeichnet ein Persönlichkeitsmerkmal des Individuums. Das von Cacioppo & Petty (1982) eingeführte Konstrukt Need for Cognition dient in dieser Arbeit dazu das epistemische Motiv einer Person zu erfassen. Damit ist das Need for Cognition ein Konstrukt, das mit epistemischen Überzeugungen zusammenhängt. In manchen amerikanischen Untersuchungen (Klaczynski 2000) wird die Skala sogar eingesetzt, um epistemische Überzeugungen oder Dispositionen zu messen. Um zu überprüfen, ob und wie die inhaltlichen Skalen zu den epistemischen Überzeugungen (Experten, Vielfalt und Wahrheit) mit dem Need for Cognition zusammenhängen, wurde eine Pearson-Produkt-Moment-Korrelation durchgeführt. Dieses Zusammenhangsmaß zeigt an, wie viel Varianz die beiden Skalen gemeinsam haben. In Tabelle 5.4. findet sich eine Übersicht über die Koeffizienten. Die Skala Need for Cognition korreliert positiv mit der Skala Experten (epistemische Überzeugungen bezüglich der Quellen von Wissen und der Bedeutung von Autoritäten, wie etwa Experten) mit einem r von .49. Diese mittlere Korrelation hat einen Determinationskoeffizienten von 0.24. Die beiden Skalen haben also etwa 24 Prozent gemeinsame Varianz. Die Skala Need for Cognition korreliert negativ mit der Skala Vielfalt (epistemische Überzeugungen bezüglich der Vielfalt von Perspektiven und Meinungen sowie eindeutigen Informationen) mit einem r von -.59. Diese hohe Korrelation hat einen Determinationskoeffizienten von 0.34. Die beiden Skalen teilen sogar etwa 34% gemeinsame Varianz. Die Korrelationen weisen auf einen Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen und epistemischem Motiv hin. Die hohe Korrelation von Need for Cognition mit der Skala Vielfalt könnte darauf hinweisen, dass die hier erhobenen epistemischen Überzeugungen vom Need for Cognition abhängen.
191
Tabelle 5.4:
Korrelationen zwischen den Skalen der epistemischen Überzeugungen (Experten, Vielfalt, Wahrheit) und dem epistemischen Motiv (NfC) Korrelationen
NFC
EXPERTEN
VIELFALT
WAHRHEIT
NFC
EXP.
VIELF.
WAHR.
1
,487(**)
-,585(**)
,288(**)
Signifikanz (2-seitig)
.
,000
,000
,000
N
186
182
185
186
Korrelation nach Pearson
,487(**)
1
-,446(**)
,556(**)
Signifikanz (2-seitig)
,000
.
,000
,000
N
182
182
181
182
Korrelation nach Pearson
-,585(**)
-,446(**)
1
-,233(**)
Signifikanz (2-seitig)
,000
,000
.
,001
N
185
181
185
185
Korrelation nach Pearson
,288(**)
,556(**)
-,233(**)
1
Signifikanz (2-seitig)
,000
,000
,001
.
N
186
182
185
186
Korrelation nach Pearson
** Die Korrelation ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifikant.
5.3 Interpretation – Studie I Innerhalb der Studie I wurden drei Hypothesen bezüglich der Bedeutung und Wechselwirkung von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen in Verarbeitungsprozessen beim Lernen überprüft. Hypothese 1
Die Reflexion von Alltagsphantasien wirkt sich auf das Lernen aus.
Hypothese 2
Epistemische Überzeugungen beeinflussen die Reflexion der Alltagsphantasien.
Hypothese 3
Die Auswirkungen der Reflexion der Alltagsphantasien werden durch das epistemische Motiv moderiert.
192
Die Hypothese 1 zum Einfluss der Reflexion von Alltagsphantasien auf das Lernen wurde in der Auswertung im Zusammenhang mit den Hypothesen 2 und 3 zur Moderatorfunktion der epistemischen Überzeugungen und des epistemischen Motivs überprüft. Die Aktivierung und Reflexion von Alltagsphantasien scheint nicht unmittelbar zu einer Verbesserung der Verarbeitung von Informationen zu führen. Stattdessen erzielen die Versuchspersonen in dem Test zur Güte ihrer Verarbeitungsprozesse (Multiple-Choice- sowie Transferaufgaben der abhängigen Variablen Verstehen) im Mittel geringere Punktzahlen als die Versuchspersonen der Kontrollgruppe. 5.3.1 Wen spricht die Reflexion von Alltagsphantasien an? Bevor dieser Wirkung auf den Lernprozess genauer nachgegangen wird, wird zunächst betrachtet, für welche Versuchspersonen dieser Effekt überhaupt zutrifft, d.h. welche Versuchspersonen auf die Reflexion der Alltagsphantasien reagieren. Dabei spielen zwei Faktoren eine Rolle: (1) Personen der Versuchsgruppen 1 und 2 reagieren vornehmlich auf die Reflexion der Alltagsphantasien. Die Effekte betreffen also jene Versuchspersonen, die explizit zur Reflexion ihrer eigenen spontan assoziierten Alltagsphantasien oder vorgegebener Alltagsphantasien aufgefordert wurden. Die Effekte dieser beiden Versuchsbedingungen unterscheiden sich dabei nicht, weshalb die Versuchsgruppen 1 und 2 in den meisten Analysen zusammengefasst werden konnten. Da davon ausgegangen wird, dass die vorgegeben Alltagsphantasien als typische rekonstruierte Vorstellungen stark mit den Ideen korrespondieren, die hinter den spontan assoziierten Vorstellungen der Versuchspersonen stehen, ist diese parallele Reaktion nicht verwunderlich. Die implizite Aktivierung der Alltagsphantasien hat keine Wirkung auf die nachfolgenden Informationsverarbeitungsprozesse. (2) Bemerkenswert ist, dass in Übereinstimmung mit den Hypothesen 2 und 3 der Effekt der Reflexion der Alltagsphantasien abhängig von der Reife der epistemischen Überzeugungen und der Stärke des epistemischen Motivs ist, das über das Need for Cognition erhoben wurde. Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich nur auf die Personen der Versuchgruppen 1 und 2 aus, die sich durch reife epistemische Überzeugungen (vornehmlich bezüglich der Bedeutung von Autoritäten und der Vielfalt von Wissen) und durch ein ausgeprägtes Need for Cognition auszeichnen. Diese Personen haben also Freude am Denken und genießen intellektuell herausfordernde Denksituationen. Sie zeichnen sich durch eine kritische Einstellung ge193
genüber den Quellen von Wissen, wie Autoritäten oder Experten aus, und gehen davon aus, dass man eigene Überlegungen zu dem Entstehen und der Richtigkeit von Wissen anstellen sollte. Offenbar lassen sich nur solche Personen auf die Reflexion ihrer spontan assoziierten Vorstellungen (Alltagsphantasien) ein, die eine höhere Bereitschaft zum Nachdenken haben und der kritischen Auseinandersetzung mit Informationen einen höheren Stellenwert zubilligen. Vor diesem Hintergrund ließe sich die besondere Reaktion der Personen mit reiferen epistemischen Überzeugungen und ausgeprägtem Need for Cognition auch als eine Folge ihrer generell erhöhten Bereitschaft zur gedanklichen Auseinandersetzung interpretieren. Sie werden durch die explizite Aktivierung und Reflexion der Alltagsphantasien also besonders angesprochen. Dabei wirkt sich nur die explizite Aktivierung der Alltagsphantasien tatsächlich aus, die implizite Aktivierung zeigt keine Effekte. 5.3.2 Welche Effekte hat die Reflexion der Alltagsphantasien im Lernprozess? Nachstehend erfolgt eine genauere Betrachtung der Wirkung der expliziten Reflexion der Alltagsphantasien auf das Lernen: Während die Interventionsstudien im Schulkontext zeigten, dass die Versuchsklassen nach Einbezug ihrer Alltagsphantasien in den Unterricht in Leistungstests erfolgreicher abschnitten (vgl. Born 2007, Monetha 2009), führt die Berücksichtigung der Alltagsphantasien in der experimentellen Situation zu andersartigen Effekten. Dies erscheint zunächst überraschend. Grundidee der Hypothese 1 ist die Annahme, dass durch die Reflexion der Alltagsphantasien sonst intuitive Welt- und Menschenbildaspekte, die nur unkontrolliert und assoziativ aktiviert werden, in kontrollierte Denkprozesse überführt würden. Dies würde dem Lernenden mehr Anknüpfungspunkte für die Verarbeitung neuer Informationen bewusst zugänglich machen und damit die Intensität der Verarbeitung erhöhen. Tatsächlich lassen sich die Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen und ausgeprägtem Need for Cognition (die sich auf die Reflexion einlassen) durch die Berücksichtung von Alltagsphantasien in ihrem fokussierten Denken beeinflussen. Allerdings scheinen sie die zusätzlichen Ideen und Assoziationen nicht unmittelbar zur nutzbringenden Anknüpfung der Lerninhalte verwenden zu können. Vielmehr scheinen die aktivierten Vorstellungen zum Menschen und der Welt verstärkt Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dies könnte ein Hinweis auf die subjektive Bedeutsamkeit der impliziten kulturellen Vorstellungen sein, die hinter den Alltagsphantasien stehen. Offenbar bedürfen intuitive Vorstellungen zu Gentechnik, die existentiell bedeutsame und infolge dessen emotional 194
aufrührende Themen, wie zum Beispiel Krankheit, Tod, Heiligkeit und Naturbedürfnis aktivieren, zumindest zunächst einer verstärkten gedanklichen Beschäftigung. Zudem ist es auch denkbar, dass die Vorstellungen durch die Abstraktheit der Konzepte, wie etwa Tod oder Heiligkeit kognitiv anspruchsvoll sind. Das Erzielen geringerer Punktzahlen der Versuchspersonen der Versuchsgruppen 1 und 2 bei den Tests zur Güte ihres Verstehens kann als Anzeichen intensiver Verarbeitung verstanden werden: Möglich ist, dass Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen und hohem Need for Cognition bei geforderter Reflexion der Alltagsphantasien einen Großteil ihrer Aufmerksamkeit sowie Denk- und Verarbeitungskapazität auf die Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien verwenden. Damit steht diesen Personen in der unmittelbaren Situation weniger Verarbeitungskapazität zur Auseinandersetzung mit den im Text enthaltenen Inhalten zum Gentransfer und der Lösung der Aufgaben zur Verfügung. Insgesamt dokumentieren die Testergebnisse also eine unmittelbare Irritation des fokussierten Denkens durch die Reflexion der Alltagsphantasien bei Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen und ausgeprägtem epistemischen Motiv (operationalisiert über das Need for Cognition). Dies erklärt zunächst nicht die positiven Effekte der Interventionsstudien, veranschaulicht jedoch die nachhaltige Wirkung des Nachdenkens über die eigenen Alltagsphantasien für diese Personen. 5.3.3 Erklärung des Irritationseffektes (1) Irritation als kurzfristige Reaktion – Es ist denkbar, dass der Irritationseffekt die unmittelbare Reaktion auf die Reflexion der ansonsten impliziten kulturell bedingten Alltagsphantasien dokumentiert. Langfristig kann sich die intensive gedankliche Auseinandersetzung jedoch positiv auf die Ergebnisse auswirken, wie in den Interventionsstudien gezeigt werden konnte. In beiden Feldstudien zeigte sich beim Lösen von themenspezifischen Aufgaben insbesondere in der Follow-Up-Erhebung eine Überlegenheit der Versuchs- gegenüber den Kontrollgruppen. Dies weist darauf hin, dass die Einbeziehung der ansonsten implizit vorliegenden kulturellen Vorstellungen in die Verarbeitung von neuen Denkinhalten zunächst eher im Sinne eines irritierenden Effekts wirkt, jedoch längerfristig eine intensivere und länger andauernde Verarbeitung bewirkt, die zu nachhaltigen Lernergebnissen führt.
195
Da sich die Experimentalsituation nicht nur in der zeitlichen Dimension sondern auch in wichtigen Umgebungsparametern von den Interventionsstudien im Feld unterscheidet, ist zudem eine weitere Erklärung der Effekte zu erwägen: (2) Soziale Interaktion als Katalysator – Es ist denkbar, dass die erwartete lernförderliche Auswirkung der Reflexion der Alltagsphantasien an deren Weiterverarbeitung im sozialen Kontext gebunden ist. Bei den Feldexperimenten im schulischen Setting konnten die Alltagsphantasien sowohl mit den MitschülerInnen als auch mit der Lehrkraft diskutiert und ausgetauscht werden. In der Untersuchung von Monetha (2009) zeigte sich eine deutliche Mediationswirkung des Erlebens von sozialer Eingebundenheit und weniger eine Mediierung durch Kompetenz- und Autonomieerleben im Sinne von Deci & Ryan (1985) auf die Verbesserung der Informationsverarbeitung unterrichtlicher Inhalte durch die Reflexion der Alltagsphantasien.39 Haidt (2001) weist in seinem sozialintuitionistischen Ansatz ebenfalls auf die Bedeutung der sozialen Interaktion für die Verarbeitung intuitiver Vorstellungen hin. Diese soziale Kommunikation fehlt der Experimentalsituation. Es ist jedoch möglich, dass die irritierende Wirkung der Auseinandersetzung mit den eigenen ansonsten impliziten kulturellen Vorstellungen erst durch den kommunikativen Austausch mit anderen in ein bereicherndes und damit lernförderliches Moment transformiert wird. Der Austausch über die eigenen Alltagsphantasien könnte als Katalysator für die lernförderliche Wirkung der Auseinandersetzung wirken. (3) Irritation als Ablenkungseffekt – Möglich ist es zudem, die Irritation als Folge kognitiver Ablenkung zu verstehen. Personen der Versuchsgruppen 1 und 2 wären demnach durch die explizite Reflexion der Alltagsphantasien kognitiv stärker beansprucht als Personen der Kontrollgruppe. Das bessere Abschneiden der Personen der Kontrollgruppe beruht dann schlicht darauf, dass sie bei der Lösung der Aufgaben nicht durch weitere Anweisungen abgelenkt waren und sich besser auf die Aufgabe konzentrieren konnten.
39
Die SchülerInnen arbeiteten in dieser Studie vor allem an Lernstationen, um eine Konfundierung der Effekte mit der Person des Lehrenden zu verhindern. Für die Generierung der intuitiven Vorstellungen zur Gentechnik sowohl vor und nach der Bearbeitung der Lernstationen hatten die SchülerInnen die Gelegenheit sich in Kleingruppen oder mit ihren Nachbarn auszutauschen.
196
6 Studie II
Die erste Untersuchung diente dazu, die unmittelbaren Auswirkungen der Reflexion der Alltagsphantasien auf Verarbeitungsprozesse beim Lernen in Abhängigkeit von den epistemischen Überzeugungen der Individuen zu erfassen. Die Ergebnisse zeigen, dass Individuen mit reifen epistemischen Überzeugungen und einem ausgeprägten epistemischen Motiv auf die explizite Reflexion ihrer Alltagsphantasien reagieren. Die Beschäftigung mit den eigenen intuitiven Vorstellungen und den dahinterliegenden impliziten Welt- und Menschenbildern führt zumindest kurzzeitig zu einer Irritation des fokussierten Nachdenkens. Die Studie I zeigt damit, dass epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien in der Verarbeitung zusammenhängen. In Studie II steht nun die umgekehrte Wirkrichtung im Mittelpunkt: Gegenstand der Untersuchung sind die Auswirkungen der Reflexion der Alltagsphantasien auf die persönliche Epistemologie. Primäres Ziel der zweiten Untersuchung ist es somit festzustellen, ob in der Folge der expliziten Reflexion von Alltagsphantasien andere epistemische Überzeugungen aktiviert werden als ohne Reflexion der Alltagsphantasien. Im Mittelpunkt steht also die kontextabhängige Aktivierungskonfiguration der epistemischen Überzeugungen. Außerdem wird auch hier untersucht, inwieweit mögliche Effekte durch das epistemische Motiv moderiert werden. Es werden zwei Hypothesen überprüft (siehe Kapitel 4.2). Hypothese 4
Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich darauf aus, welche epistemischen Überzeugungen aktiviert sind.
Hypothese 5
Die Veränderung der Aktivierung epistemischer Überzeugungen wird durch das epistemische Motiv moderiert.
197 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
6.1 Methode – Studie II Da angenommen werden kann, dass eine Veränderung der Aktivierungskonfiguration epistemischer Überzeugungen nicht in einem kurzen Zeitraum von wenigen Stunden zu leisten ist, wurde für die zweite experimentelle Laborstudie ein längerer Interventionszeitraum angelegt. Die Untersuchung wurde einwöchig mit zwei Interventionszeitpunkten und einem Messzeitpunkt konzipiert. Außerdem dient diese Anlage der zweiten Untersuchung auch einer genaueren Klärung der Dauer und Art des Irritationseffektes, der in der ersten Studie für Personen mit reiferen epistemischen Überzeugungen und ausgeprägtem epistemischen Motiv (operationalisiert über das Need for Cognition) nach Reflexion der Alltagsphantasien festgestellt wurde. Wie in Kapitel 5.3.3 dargstellt ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Irritationseffekt um einen kurzfristigen und vorübergehenden Effekt handelt, der sich langfristig in einen unterstützenden Effekt für Lernprozesse wandelt. Eine Verlängerung des Untersuchungszeitraumes ermöglicht es nun festzustellen, ob es sich bei diesem Irritationseffekt um ein nur unmittelbar auftretendes Phänomen handelt. Weiter lässt sich untersuchen, ob sich der Irritationseffekt bei längerfristiger Auseinandersetzung in einen positiven Unterstützer der Lernprozesse transformiert. Als eine weitere mögliche Erklärung für den Irritationseffekt wurde die fehlende Möglichkeit zum sozialen Austausch über die Alltagsphantasien in der Experimentalsituation identifiziert. Dieser kommunikative Austausch könnte zentral für eine intensive und nachhaltige Auseinandersetzung mit den aktivierten Alltagsphantasien sein: Vor dem Hintergrund der Überlegungen von Haidt (2001) zu der Funktion sozialer Auseinandersetzung in moralischen Urteilsprozessen ist davon auszugehen, dass soziale Austauschprozesse die Auseinandersetzung mit den eigenen Intuitionen beeinflussen. Haidt (2001) zufolge wird es durch den sozialen Austausch ermöglicht, dass unmittelbar auftretende moralische Intuitionen verändert werden, indem Menschen in die Lage gebracht werden, eine Problematik aus der Perspektive eines anderen Menschen zu betrachten. Durch die Perspektivübernahme werden weitere Überlegungen angestellt und mitunter neue intuitive Ideen im Individuum aktiviert, die veränderte Urteile zur Folge haben können. Dementsprechend könnten in der kommunikativen Reflexion der Alltagsphantasien mit anderen Personen unterschiedliche Perspektiven diskutiert werden. Hierdurch würden unterschiedliche oder sich sogar widersprechende Weltund Menschenbilder im Individuum aktiviert. Um die unterschiedlichen Perspektiven zu vereinen, muss das Individuum sich in reflexiven Denkprozessen engagieren (vgl. Haidt 2001, 820). 198
Es ist somit davon auszugehen, dass soziale Austauschprozesse die Auseinandersetzung mit den aktivierten Alltagsphantasien intensivieren. Somit erfolgt auch eine intensivere Auseinandersetzung mit den Welt- und Menschenbildern der eigenen impliziten Theorie der Realität. Epistemische Überzeugungen hängen als Teil der impliziten Theorie der Realität mit verschiedenen Welt- und Menschenbildern zusammen. Es ist deshalb denkbar, dass sich ein verstärktes Einwirken auf die Alltagsphantasien nachhaltig auf die Konfiguration aktivierter epistemischer Ressourcen auswirken. Um diesen Effekt zu berücksichtigen und eine stärkere Angleichung der laborexperimentellen Forschung an die Feldstudien zu realisieren, wurde eine weitere experimentelle Bedingung in Form einer weiteren Versuchsgruppe eingeführt, die sich über ihre spontanen Assoziationen und vorgegebenen Alltagsphantasien sozial austauschen konnte.40 Zudem ermöglicht es die Einführung dieser weiteren Experimentalgruppe zu überprüfen, ob sich die Reflexion der Alltagsphantasien unter der Bedingung des kommunikativen Austausches fördernd auf den Lernprozess auswirkt oder ob auch unter diesen Bedingungen der Irritationseffekt bestehen bleibt. Um die Gruppengrößen der Experimental- und Kontrollgruppen nicht zu verringern, wurde darauf verzichtet, eine zusätzliche Kontrollgruppe mit sozialer Interaktion einzurichten. Diese Entscheidung beschränkt die Interpretation der Ergebnisse bezüglich der Aussage, ob soziale Austauschprozesse in Verbindung mit der Aktivierung von intuitiven Vorstellungen einen Lernvorteil bedeuten. So kann durch die Entscheidung für dieses Design nicht ausgeschlossen werden, dass die Kontrollgruppe bei zusätzlichem sozialem Austausch nicht ebenfalls Veränderungen in ihrer epistemischen Konfiguration oder Lernleistung gezeigt hätte. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse der Interventionsstudien ist ein solcher Befund jedoch nicht zu erwarten: In den Interventionsstudien interagierten die Versuchspersonen in Kontroll- und Versuchsklassen sozial, jedoch nur die Klassen mit Berücksichtigung der Alltagsphantasien schnitten in Lernleistung und Motivation besser ab. Demzufolge ist nicht anzunehmen, dass soziale Interaktion alleine ausreicht, um die Verarbeitungsprozesse in der Weise zu beeinflussen, wie dies durch die gemeinsame Reflexion der Alltagsphantasien erfolgte. Um zudem zu überprüfen, ob der in der Studie I gefundene Irritationseffekt als eine inhaltsunspezifische Reaktion auf kognitive Ablenkung verstanden werden muss, oder ob es sich bei diesem Effekt um einen inhaltsspezifisch an 40
Durch den verlängerten Untersuchungszeitraum rückt die Studie in ihrer Konzeption ohnehin näher an die bereits durchgeführten Interventionsstudien (Born 2007, Monetha 2009) heran.
199
die Alltagsphantasien gebundenen Effekt handelt, wurde eine zusätzliche Kontrollbedingung eingeführt, die eine vergleichbare kognitive Belastung für die Versuchspersonen durch die Bearbeitung einer andersartigen Aufgabe beinhaltet. Da in der Studie I keine Unterschiede zwischen den Versuchspersonen festgestellt wurden, die eigene Alltagsphantasien generierten oder Alltagsphantasien vorgegeben bekamen, wurden diese Versuchsgruppen in der Studie II zusammengefasst. Die Aktivierung der Alltagsphantasien erfolgt daher in der Studie II als Mischvariante aus selbst zu generierenden und vorgegebenen Alltagsphantasien. 6.1.1 Voruntersuchungen Da sich die Untersuchungen in Studie II über einen Zeitraum von einer Woche erstreckten, in der die Versuchspersonen sich an drei Terminen mit dem Thema Gentechnik beschäftigten, wurden die für diese Versuchstage neu hinzugekommenen Lernmaterialien in einer Voruntersuchung auf ihre Tauglichkeit hin überprüft. Zum besseren Vergleich von Feldstudien und Laborstudie wurde auf drei Lernstationen zu den Themen Molekulare Grundlagen, Klonen, Medizin und DNA-Analysen aus der Studie von Monetha (2009, 127ff.) für SchülerInnen der 10. Klasse zurückgegriffen. Um ihre Tauglichkeit auch für Studierende zu testen, wurden das Verständnis und die Angemessenheit der Materialien sowie ihre zeitliche Dauer mit zwei Studentinnen eines Forschungskolloquiums zur Biologiedidaktik im Sommersemester 2009 überprüft. Die Lernstationen wurden daraufhin für die Studie II übernommen. Die Versuchspersonen wurden darauf hingewiesen, dass es sich um schulisches Unterrichtsmaterial handelt. 6.1.2 Experimentelle Hauptuntersuchung 6.1.2.1 Stichprobe Die Untersuchung41 wurde mit 79 20-30-jährigen Studentinnen (67.5 %) und 38 Studenten (32.5%) verschiedenster Fachrichtungen der Universität Hamburg durchgeführt (Alter M = 24, SD = 2.6). Sie wurden nach Zufall auf die Versuchs- und Kontrollgruppen verteilt. Die Versuchspersonen wurden durch An41
gefördert von der DFG, GE 1066/2-1, GE 860/2-2
200
kündigung der Studie in Vorlesungen, durch Aushänge und Handzettel innerhalb der Universität angeworben. 6.1.2.2 Durchführung der Untersuchung Die Datenerhebung fand im August 2009 statt. In diesem Zeitraum nahmen die Versuchspersonen an drei Terminen teil, wobei die ersten beiden Termine im Abstand von vier Tagen und der zweite und dritte Termin im Abstand von einem Tag lagen. Jeder Teil der Untersuchung dauerte ungefähr zwei Stunden. Um Einflüsse durch das Geschlecht des Versuchsleiters zu kontrollieren, wurde die Untersuchung von jeweils einem weiblichen und einem männlichen Versuchsleiter durchgeführt. Die Versuchspersonen erhielten für ihre Teilnahme 45 Euro. Der Abbildung 6.1 lässt sich der Versuchsplan der Studie I entnehmen.
n = 117 Alleine reflektieren Soziale Interaktion: Gemeinsam Reflektieren
Abbildung 6.1:
Aktivierung intuitiver Vorstellungen
Kognitive Ablenkung
keine Aktivierung
n = 30
VG 3
KG
VG 2
n = 29
n = 29
VG 1
n = 29
Versuchplan der Studie II
6.1.2.3 Unabhängige Variablen Den Versuchspersonen wird ein kurzer journalistischer Informationsartikel zur Präimplantationsdiagnostik vorgelegt. VG 1: Allein Reflektieren Die Versuchspersonen bekommen zwei in den Voruntersuchungen identifizierte für Studierende besonders hoch zugängliche Alltagsphantasien auf zwei Karten vorgelegt und werden aufgefordert außerdem zwei eigene spontane Assoziationen im Zusammenhang mit Gentechnik auf zwei weitere Karten zu schreiben. Daraufhin sollen sie die Karten nach persönlicher Wichtigkeit ordnen, entsprechend nummerieren und neben sich auf den Tisch legen. Die Teilnehmer sollen danach 15 Minuten über ihre spontanen Assoziationen, die vorgegebenen Vor201
stellungen und ihre Begründung für die Ordnung der Karten schriftlich reflektieren und diese Gedanken bei allen nachfolgenden Überlegungen berücksichtigen. VG 2: Soziale Interaktion – Gemeinsam Reflektieren Die Versuchspersonen bekommen zwei in den Voruntersuchungen identifizierte für Studierende besonders hoch zugängliche Alltagsphantasien auf zwei Karten vorgelegt und werden aufgefordert außerdem zwei eigene spontane Assoziationen im Zusammenhang mit Gentechnik auf zwei weitere Karten zu schreiben. Daraufhin sollen sie die Karten nach persönlicher Wichtigkeit ordnen, entsprechend nummerieren und neben sich auf den Tisch legen. Die Teilnehmer haben danach Gelegenheit sich 15 Minuten lang über ihre spontanen Assoziationen, die vorgegebenen Vorstellungen und ihre Begründung für die Ordnung der Karten mit vier weiteren Versuchsteilnehmern im Raum auszutauschen. Sie werden aufgefordert diese Gedanken bei allen nachfolgenden Überlegungen zu berücksichtigen. VG 3: Kognitive Ablenkung Die Versuchspersonen werden aufgefordert den journalistischen Informationsartikel in den nächsten 15 Minuten in den Konjunktiv zu setzen und aufzuschreiben. KG: Kontrollgruppe Es werden keine weiteren Maßnahmen unternommen, um Alltagsphantasien zu Gentechnik zu aktivieren. Die Versuchspersonen werden aufgefordert, in den nächsten 15 Minuten die Hauptaussagen eines Texts zu den Mendelschen Regeln stichwortartig zusammenzufassen. 6.1.2.4 Abhängige Variablen AV 1Epistemische Überzeugungen Mit Hammer & Elby (2002) kann davon ausgegangen werden, dass die Vorstellungen von Individuen zu Wissen und seiner Entstehung in ihren Grundzügen bereits in multiplen Ausprägungen bestehen. Wie reif sich die persönliche Epistemologie eines Menschen in einem bestimmten Kontext darstellt, hängt jedoch davon ab, welche dieser „epistemischen Ressourcen“ aktiviert sind. Um die Auswirkungen der Reflexion der selbstgenerierten und vorgegebenen Alltagsphantasien auf die Aktivierungskonfiguration epistemischer Ressourcen zu erfassen, wurden die epistemischen Überzeugungen der Versuchspersonen erhoben. Ziel war es dabei, die momentane implizite epistemische Ausrichtung der Versuchspersonen zu erfassen. 202
Mit den meisten Fragebögen, wie dem in Studie I eingesetzten Fragebogen von Gerber (2004), werden Versuchspersonen direkt und explizit nach ihren Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb befragt. Um jedoch nicht den von den Individuen abgespeicherten Status der epistemischen Überzeugungen zu Biologie oder Gentechnik abzufragen (im Sinne quasi habituierter domänenspezifischer epistemischer Vorstellungen), sondern tatsächlich die situationsspezifische Aktivierung epistemischer Vorstellungen abzubilden, wurde für die Erfassung der epistemischen Überzeugungen auf ein weiteres Instrument zurückgegriffen. Krettenauer (2005) entwickelte in Anlehnung an Rests (1979) Defining Issues Test (DIT) einen Fragebogen zur Erfassung des Entwicklungsniveaus epistemischer Überzeugungen (FREE). Versuchspersonen werden in diesem Fragebogen mit 12 kontroversen Behauptungen aus unterschiedlichen Wissensbereichen konfrontiert und aufgefordert, zu diesen Meinungskontroversen Stellung zu nehmen. Dabei handelt es sich um Kontroversen aus Naturwissenschaft und Sozial- und Geisteswissenschaften, die durchaus in der Öffentlichkeit und den Medien diskutiert werden. Nach der Präsentation eines Themas sind im Fragebogen drei Aussagen aufgeführt, die die Kontroverse jeweils auf einem von drei Hauptniveaus epistemischer Überzeugungen kommentieren. Durch ihre Antwortmuster offenbaren die Versuchspersonen ihre aktuelle Aktivierung epistemischer Überzeugungen. Items absolutistischer Sichtweise beschreiben die Meinungskontroverse als „Abweichung vom Ideal einer einzigen korrekten Wirklichkeitsauffassung“ aufgrund mangelnder Information. In relativistisch ausgerichteten Items werden die verschiedenen Meinungen auf unterschiedliche subjektive Perspektiven zurückgeführt, die als gleichberechtigt betrachtet werden. Items mit postrelativistischem Aussagegehalt unterscheiden sich hiervon dadurch, dass die Pluralität von Meinungen zwar anerkannt wird, jedoch nicht als beliebig gilt. Positionen gelten als unterschiedlich gut begründbar und fundiert (Krettenauer 2005, 74). Jedes der drei Items wird bei jedem Thema zunächst separat auf einer 6stufigen Likertskala (6 = stimme vollständig zu, 1 = lehne vollständig ab) bewertet. Danach wählen die Versuchspersonen dann das Item aus, das mit ihrer eigenen Auffassung am meisten übereinstimmt. In Abbildung 6.2 ist ein Beispiel für eine Kontroverse mit drei Antwort-Items gegeben.
203
Abbildung 6.2: Beispiel für eine Meinungskontroverse mit drei Antwort-Items des FREE (nach Krettenauer 2005) Für die Auswertung werden zwei Indizes zur Erfassung des Entwicklungsniveaus epistemischer Überzeugungen gebildet, die in ihren Eigenschaften verglichen werden können (Krettenauer 2005, 72). Der W-Index beruht auf der Wahl höherstufiger Items und spiegelt die Präferenz für postrelativistische Items. Der ergänzende D-Index baut auf den Differenzen von höher- und niedrigstufiger Itemratings auf und gibt hierdurch das Ausmaß der Ablehnung absolutistischer und relativistischer Überzeugungen wieder. Für den W-Index ermittelte Krettenauer (2005, 75) in einer Studie mit SchülerInnen und Studierenden mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .67 eine Reliabilität auf mittlerem Niveau. Der D-Index hat mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .77 eine hohe Reliabilität. Wund D-Index korrelieren mit r (218) = .77, p < .01 hoch miteinander. AV 2 Verstehen Wie im Abschnitt 5.1.1.3 zu den Voruntersuchungen der Studie I geschildert, wird das Verstehen auch in Studie II mithilfe von zehn Multiple-ChoiceAufgaben und zwei Transferaufgaben zu einem Schulbuchtext zum Thema Gentransfer erfasst. 6.1.2.5 Moderatorvariable: Das epistemische Motiv Wie in Studie I wird angenommen, dass das Ausmaß, mit dem die Konfiguration epistemischer Überzeugungen durch die Aktivierung von intuitiven Welt204
und Menschenbildern beeinflusst werden kann, durch das epistemische Motiv (operationalisiert über das Need for Cognition) moderiert wird. Das Konstrukt Need for Cognition erfasst die Bereitschaft und Freude am Nachdenken (Cacioppo & Petty 1982; Epstein et al. 1996, dt. Fassung nach Keller et al. 2000). Wie in Studie I wird in der Untersuchung der deutsche Fragebogen von Keller et al. 2000 in einer Kurzform mit 10 Items eingesetzt (vgl. Tabelle I.4 im Anhang). Die Reliabilität liegt mit einem Cronbachs (Į) Alpha von .87 auf hohem Niveau. 6.1.2.6 Kontrollvariablen Zur Sicherung der internen Validität durch die Vergleichbarkeit von Kontrollund Versuchsgruppen werden wie in Studie I abschließend die Kontrollvariablen biologisches Vorwissen (operationalisiert über (a) einen Wissenstest, bestehend aus TIMSS-Aufgaben und eigens entwickelten Multiple-Choice-Aufgaben, (b) subjektive Einschätzung des Vorwissens zur Gentechnik, (c) schulische Vorbildung im Fach Biologie) und die Angaben zur Person (Alter, Geschlecht, Studienfach, Semesteranzahl, Muttersprache) erhoben. Zur genauen Darstellung vergleiche Kapitel 5.1.2.6. Da aufgrund des längeren zeitlichen Rahmens der Intervention und der Laboruntersuchungen davon ausgegangen werden kann, dass diese sich nachhaltig auf das Interesse zu fachlichen Inhalten auswirken können, wird in Anlehnung an die Studie von Monetha (2009) eine Abwandlung der Skala situationales Interesse (Ditton & Merz, 2000) zur Erhebung des Fachinteresses eingesetzt. 6.1.2.7 Ablauf der Untersuchung 1. Interventionszeitpunkt Die Versuchspersonen lesen einen kurzen journalistischen Informationsartikel zur Präimplantationsdiagnostik. Bevor sie eine Lernstation zur Gentechnik bearbeiten, bekommen sie unterschiedliche Anweisungen: VG 1 Die Versuchspersonen bringen die zwei ihnen vorgelegten Alltagsphantasien und die von ihnen generierten Vorstellungen zu Gentechnik in eine Reihenfolge der Wichtigkeit für sie. Anschließend reflektieren sie 15 Minuten lang alleine für sich schriftlich über diese Vorstellungen und die von ihnen gewählte Anordnung. VG 2 Die Versuchspersonen bringen die zwei ihnen vorgelegten Alltagsphantasien und die von ihnen generierten Vorstellungen zu Gentechnik in eine Reihenfolge der Wichtigkeit für sie. Anschließend reflektieren 205
VG 3 KG
sie 15 Minuten lang gemeinsam mit vier anderen Versuchsteilnehmern über diese Vorstellungen und die von ihnen gewählte Anordnung. Die Versuchspersonen bearbeiten den journalistischen Informationsartikel in den nächsten 15 Minuten, indem sie alle Verben des Textes in den Konjunktiv setzen und aufschreiben. Die Versuchspersonen erhalten keine Aufforderung spontane Assoziationen zur Gentechnik zu äußern und bekommen keine Alltagsphantasien vorgelegt. Stattdessen erhalten sie einen Text (A) zu den Mendelschen Regeln und werden aufgefordert, die Hauptaussagen dieses Texts in den nächsten 15 Minuten stichwortartig zusammenzufassen
Anschließend bearbeiten alle Versuchspersonen die 1. Lernstation zum Thema Molekulare Grundlagen & Klonen (Monetha 2009, 127ff.) Nachdem alle Versuchspersonen die 1. Lernstation bearbeitet haben, bekommen Versuchsgruppe 1 und 2 erneut Gelegenheit 10 Minuten über neue Assoziationen und das Lernmaterial schriftlich zu reflektieren bzw. sich mit den anderen Teilnehmern darüber auszutauschen. Versuchsgruppe 3 wird gebeten, in den nächsten 10 Minuten den Anfangstext zu negieren. Die Kontrollgruppe erhält Gelegenheit, in dieser Zeit den Text über die Mendelschen Regeln weiter zusammenzufassen. Der Ablauf des ersten und des zweiten Interventionszeitpunktes sowie des Messzeitpunktes sind in den Tabellen 6.1, 6.2 und 6.3 dargestellt.
206
Tabelle 6.1:
Ablauf des 1. Interventionszeitpunktes
VG 1
VG 2
VG 3
KG
Schriftliche Reflexion vorgegebener und selbstgenerierter Alltagsphantasien (15 Minuten)
Sozialer Austausch über vorgegebene & selbstgenerierte Alltagsphantasien (15 Minuten)
Transformation des journal. Info.Artikels in den Konjunktiv (15 Minuten)
Zusammenfassung der Hauptaussagen eines Textes A „Mendel. Regeln“ (15 Minuten)
1. Lernstation Molekulare Grundlagen & Klonen
1. Lernstation Molekulare Grundlagen & Klonen
1. Lernstation Molekulare Grundlagen & Klonen
1. Lernstation Molekulare Grundlagen & Klonen
Schriftliche Reflexion neuer intuitiver Vorstellungen (10 Minuten)
Sozialer Austausch über neue intuitive Vorstellungen (10 Minuten)
Transformation des journal. Info.Artikels in das Negativ (10 Minuten)
Weitere Zusammenfassung der Hauptaussagen des Textes A (10 Minuten)
Tabelle 6.2:
Ablauf des 2. Interventionszeitpunktes
VG 1
VG 2
VG 3
KG
Schriftliche Reflexion alter und neuer intuitiver Vorstellungen
Sozialer Austausch über alte und neue intuitive Vorstellungen
Transformation des journal. Info.Artikels in das Präteritum
(15 Minuten)
(15 Minuten)
(15 Minuten)
Zusammenfassung der Hauptaussagen des Textes B „Chromosomentheorie“ (15 Minuten)
2. Lernstation Medizin & DNAAnalysen
2. Lernstation Medizin & DNAAnalysen
2. Lernstation Medizin & DNAAnalysen
2. Lernstation Medizin & DNAAnalysen
Schriftliche Reflexion neuer intuitiver Vorstellungen
Sozialer Austausch über neue intuitive Vorstellungen
(10 Minuten)
(10 Minuten)
Transformation des journal. Info.Artikels in das Futur (10 Minuten)
Zusammenfassung der Hauptaussagen des Textes C „Populationsgenetik“ (10 Minuten)
207
Tabelle 6.3:
VG 1
Ablauf des Messzeitpunktes
VG 2
VG 3
KG
Die Versuchspersonen erhalten ihre Assoziationen aus den ersten beiden Studienteilen und _ _ werden aufgefordert diese bei allen nachfolgenden Überlegungen mit einzubeziehen. Reflexionsphase mit Essay Den Versuchspersonen wird eine Dilemmageschichte zur Präimplantationsdiagnostik vorgelegt. Sie werden instruiert sich in den nächsten 40 Minuten schriftlich dazu zu äußern, wie Sie anstelle der Person entscheiden würden und warum. AV1: Verstehen Die AV Verstehen wird mithilfe von zehn Multiple-Choice und einer Transferaufgabe (Oschatz 2010) zu einem Schulbuchtext zum Thema Gentransfer erfasst. AV2: Epistemische Überzeugungen Die epistemischen Überzeugungen werden über den FREE (Krettenauer 2005) erfasst. Fragebogen Biologisches Vorwissen (KV) Skalen Bedürfnis nach Kognition (MV) Fragebogen Angaben zur Person (KV)
6.2 Ergebnisse der Studie II 6.2.1 Vergleichbarkeit der Gruppen Wie Tabelle II.1 im Anhang entnommen werden kann, bestehen zwischen den vier Gruppen keinerlei signifikante Unterschiede bezüglich demographischer Variablen wie Alter (F(3,112)=.43; p=.73), Geschlecht (Ȥ²=.64; df=3; p=.89), Semesteranzahl (F(3,111)=.27; p=.85) und Muttersprache (Ȥ²= 34.41; df=33; p=.40). In Bezug auf die subjektive Einschätzung des Deutschverständnisses ist die Homogenität der Varianzen nach Überprüfung durch den Levene’s Test verletzt. Zur Darstellung der Vergleichbarkeit zwischen den Gruppen wird deshalb auf den Brown-Forsythe Test (F(3,112)=1.81, p=.14) zurückgegriffen, der ein robusteres Maß der Gleichheit von Mittelwerten darstellt (Pallant 2005, 218). Darüber hinaus bestehen keine signifikanten Unterschiede bezüglich des biologischen Vorwissens (operationalisiert über (a) einen Wissenstest: F(3,111)=.56; p=.64); (b) subjektive Einschätzung des Vorwissens zur Gen208
technik: F(3,113)=1.13; p=.34) und schulischer Vorbildung (operationalisiert über die Art des schulischen Kurses: Grundkurs/ Leistungskurs/ anderes: Ȥ²=4.41; df=6; p=.62). Auch im Wohlbefinden (operationalisiert über Positive Aktivierung F(3,111)=1.38, p=.25, Negative Aktivierung F(3,111)=.24, p=.07 und Valenz F(3,112)=2.06, p=.11) unterscheiden sich die Gruppen nicht. In Bezug auf das situationale Interesse wird eine einfache Varianzanalyse mit der abhängigen Variablen situationales Interesse signifikant (F(3,112)=2.92, p<.05). Post-Hoc Vergleiche mit dem Tukey HSD-Test konnten zeigen, dass Versuchspersonen der Versuchsgruppe 3 signifikant interessierter sind als Versuchspersonen der Versuchsgruppe 1. Dass Versuchspersonen der Versuchsgruppe 3 sich interessierter zeigen, ist möglicherweise durch die fehlende Aufklärung zum Sinn und Zweck der Intervention zum Zeitpunkt der Erhebung des situationalen Interesses erklärbar. Die Bearbeitung der grammatikalischen Übungen könnte bei den Versuchspersonen dieser Versuchsgruppe die Neugier für die Untersuchung geweckt haben. Für die Moderatorvariablen Need for Cognition (F(3,113)=.65, p=.59) und epistemische Überzeugungen (operationalisiert über die Subskalen: Experten mit F(3,113)=.59 p=.62; Vielfalt mit F(3,113)=.22, p=.88 und Wahrheit F(3,112)=1.809, p=.15) zeigen sich keine Unterschiede zwischen den vier Gruppen. 6.2.2 Unterschiede zwischen den Gruppen Im Folgenden werden die Daten im Hinblick auf die bereits für die Studie II in Kapitel 4.2 benannten Forschungshypothesen analysiert. Auf die Darstellung der Ergebnisse zu den Effekten der reflexiven Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien auf die Aktivierungskonfiguration epistemischer Ressourcen unter Moderation durch das epistemische Motiv (Need for Cognition), folgt eine Analyse der Effekte im Hinblick auf das fokussierte Denken. Im zweiten Abschnitt dieser Ergebnisdarstellung wird also auf die Effekte des verlängerten Interventionszeitraumes, der sozialen Interaktion sowie der kognitiven Ablenkung im Vergleich zu den Befunden der Studie I eingegangen. 6.2.2.1 1. Abhängige Variable: Aktivierte epistemische Überzeugungen Für eine erste Analyse möglicher Effekte der reflexiven Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien (als Fragmente verinnerlichter Welt- und Menschenbilder der persönlichen impliziten Theorie der Realität zum Aufbau und zur Ordnung der Welt) auf die Aktivierungskonfiguration epistemischer 209
Ressourcen wurde der eingesetzte Fragebogen FREE zunächst auf seine domänenspezifischen Dimensionen hin untersucht. Wie in Kapitel 1.5 dargestellt, wird davon ausgegangen, dass die epistemischen Überzeugungen eines Individuums domänenspezifisch unterschiedliche Ausprägungen zeigen. Die domänenspezifischen Überzeugungen hängen zwar mit den domänenübergreifenden epistemischen Überzeugungen einer Person zusammen – Trautwein et al. (2004, 196) konnten etwa einen signifikanten Effekt allgemeiner epistemischer Überzeugungen auf theoriebezogene Überzeugungen nachweisen – jedoch können domänenspezifische epistemische Überzeugungen nach Trautwein et al. eher als „Anwendungsfälle“ einer allgemeinen Sicht auf Erkenntnismöglichkeiten angesehen werden. Mit Hammer & Elby (2002) kann die Frage nach der Unterscheidung domänenübergreifender und domänenspezifischer epistemischer Überzeugungen auch als Frage nach der Kontextabhängigkeit verstanden werden. Ihnen zufolge ist die allgemeine Epistemologie eines Individuums ein Konglomerat von aktivierten epistemischen Ressourcen, die als Bausteine aus konkreten Erfahrungen erworben worden sind. Die Domäne nimmt demnach als Kontextfaktor Einfluss auf das Aktivierungsmuster innerhalb des Pools von erworbenen epistemischen Ressourcen. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ist die in der Studie II vorgenommene Intervention in erster Linie als eine Veränderung des Kontextes zu verstehen. In einem zweiten Schritt ist jedoch zu beachten, dass diese Kontextveränderung im Rahmen einer klaren Domäne (Gentechnik als Thema der Biologie, der Naturwissenschaft) erfolgt. Dementsprechend ist für die Untersuchung der angenommenen Effekte auch die im Fragebogen berührte Domäne für die Auswertung bedeutsam. Es ist möglich, dass eventuelle Auswirkungen der reflexiven Auseinandersetzung mit eigenen impliziten kulturellen Vorstellungen im Rahmen der naturwissenschaftlichen Domäne (wie hier durch die Thematik „Gentechnik“ klar markiert) sich auch nur auf die Konfiguration der epistemischen Überzeugungen auswirkt, die im Zusammenhang mit dieser Domäne aktiviert werden. Zunächst wird daher mit Hilfe von Cronbach’s Į untersucht, inwiefern die einzelnen Items der Skala das gleiche Konstrukt erfassen und inwieweit die innere Konsistenz der Skala gewahrt bleibt, wenn lediglich naturwissenschaftliche Items in einer Subskala zusammengestellt werden. Tabelle 6.4 gibt eine Übersicht über die Kennwerte.
210
Tabelle 6.4:
Interne Konsistenzen der einzelnen FREE-Subskalen
Erhebungsinstrument FREE
Cronbach’s Į
Gesamtskala Absolutismus
.74
Gesamtskala Relativismus
.71
Gesamtskala Postrelativismus
.68
Subskala naturwiss. Items Absolutismus
.61
Subskala naturwiss. Items Relativismus
.59
Subskala naturwiss. Items Postrelativismus
.64
Epistemisches Motiv: Need for Cognition
.87
Im Folgenden werden die Analysen der Effekte zunächst für die FREE-Gesamtskala und nachfolgend für die FREE-Subskala Naturwissenschaft dargestellt. Eine erste Analyse einer möglichen Moderatorfunktion des epistemischen Motivs Need for Cognition für die Effekte der reflexiven Auseinandersetzung mit Alltagsphantasien auf die Aktivierungskonfiguration epistemischer Ressourcen erfolgt über die Methode der Gruppenbildung, bei der die metrische Variable in zwei gleich große Gruppen mit niedrigen bzw. höheren Werten aufgeteilt wird. Eine Dichotomisierung der metrischen Variablen Need for Cognition anhand eines Mediansplits führt zu einer kategorialen Variablen mit zwei Gruppen von denen eine über ein höheres und die andere über niedrigeres Bedürfnis nach Kognition verfügt. In der Folge können die Daten mit einer zweifaktoriellen (Zwischengruppen-) Varianzanalyse mit dem Faktor experimentelle Gruppenzugehörigkeit (Versuchsgruppe vs. Kontrollgruppe) und Need for Cognition (hoch vs. niedrig) und der abhängigen Variablen Sophistizierungsgrad epistemischer Überzeugungen analysiert werden. Die folgenden Ergebnisse beziehen sich auf einen Vergleich der Kontrollgruppe mit der Versuchsgruppe 2, in der die Versuchspersonen sich über ihre spontanen Assoziationen und die ihnen vorgelegten typischen impliziten kulturellen Vorstellungen (Alltagsphantasien) mit anderen Versuchspersonen austauschten. 211
In Bezug auf die Versuchsgruppe 1 (Aktivierung von impliziten kulturellen Vorstellungen unter Ausschluss sozialen Austausches) zeigen sich keine von der Kontrollgruppe unterschiedlichen Effekte in Bezug auf die vom Need for Cognition moderierte Konfiguration der epistemischen Überzeugungen der Versuchsteilnehmer. 6.2.2.2 Analysen der FREE- Gesamtskala (1) Zweifaktorielle Varianzanalyse mit Mediansplit In einer zweifaktoriellen Varianzanalyse (Faktor „Versuchs-/Kontrollbedingung“ x Faktor „hohes/ niedriges Need for Cognition“) konnte für die Gesamtskala des FREE-Fragebogens (12 Items) kein signifikanter Interaktionseffekt für den W-Wert und den standardisierten D-Wert ermittelt werden. Lediglich für den unstandardisierten D-Wert zeigt sich eine Tendenz (F(3,50)=3.85, p=.055, Ș²=.07). Dieser Tendenz nach bewerten Personen der Versuchgruppe bei hohem Need for Cognition absolutistische und relativistische Items geringer als Personen mit geringem Need for Cognition. In der Kontrollgruppe zeigen sich keine Unterschiede. (2) Regressionsanalytische Überprüfung der Effekte Diese Tendenz wird auf zwei Weisen regressionsanalytisch überprüft. Die lineare Regressionsanalyse untersucht die lineare Abhängigkeit zwischen einer metrisch skalierten abhängigen Variablen und einer metrisch skalierten unabhängigen Variable. Mithilfe von zwei separaten linearen Regressionsanalysen werden für die beiden Ausprägungen der kategorialen Variablen Gruppe (Versuchs- und Kontrollgruppe) die Korrelationskoeffizienten zunächst unabhängig voneinander ermittelt. a. Separate lineare Regressionsanalysen W-Wert Für die Versuchsgruppe 2 wird die Regressionsanalyse (ba= -.135; SE=.05; p=.016) für den Zusammenhang vom erreichten W-Wert in der FREE-Gesamtskala und der Stärke des Need for Cognition signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.16 % in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Need for Cognition einer Person der Versuchsgruppe 2 und dem erreichten W-Wert. Für die Kontrollgruppe wird die einfache Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant (bb= -.003; SE=.044; p=.943).
212
Standardisierter D-Wert Für die Versuchsgruppe 2 wird auch die Regressionsanalyse (ba= 3.103; SE=1.20; p=.016) für den Zusammenhang vom erreichten standardisierten DWert in der FREE-Gesamtskala mit der Stärke des Need for Cognition signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.16 % in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Need for Cognition einer Person der Versuchsgruppe 2 und dem erreichten standardisierten D-Wert. Für die Kontrollgruppe wird die einfache Regressionsanalyse auch hier nicht signifikant (bb=.173; SE=1.52; p=.911). D-Wert Die Regressionsanalyse (ba= 6.616; SE=2.04; p=.003) für den Zusammenhang vom erreichten nicht standardisierten D-Wert in der FREE-Gesamtskala mit der Stärke des Need for Cognition wird für die Versuchsgruppe 2 signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.03 % in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Need for Cognition einer Person der Versuchsgruppe 2 und dem erreichten D-Wert. Für die Kontrollgruppe wird die einfache Regressionsanalyse hingegen nicht signifikant (bb=-.075; SE=1.92; p=.969). b. Moderierte Regressionsanalyse mit Interaktionsterm Wie bereits im Rahmen der Ergebnisdarstellung (Kapitel 5.2.2.1) der Studie I ausführlich erläutert, kann durch die Bestimmung separater und unterschiedlicher Korrelationen nicht zwangsläufig auf einen tatsächlichen Moderatoreffekt der kategorialen Variablen geschlossen werden. Die unterschiedlichen Korrelationen können auch auf Unterschieden in der Varianz der metrischen Prädiktorvariablen und der Kriteriumsvariablen beruhen (Richter 2007, 117). Aus diesem Grund wird der Moderatoreffekt zusätzlich über eine moderierte Regressionsanalyse mit metrischen und kategorialen Prädiktoren überprüft (Aiken & West 1991). In der verwendeten Regressionsgleichung wird dabei neben den Haupteffekten aller betrachteten Prädiktoren im Modell auch ein Interaktionsterm beider Prädiktoren einbezogen. Die qualitative Variable der Gruppenzugehörigkeit wird dichotom bzw. binär codiert und hat damit zwei Ausprägungen (DummyVariable). W-Wert Insgesamt klärt das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm etwa ein Sechstel der Varianz im erreichten W-Wert auf (R2=.13, F= 2.6, df=3, p=.064). Die additive Konstante b0 wird auf 0.6 (SE = 0.117) geschätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) 213
wird auf .33 (SE = 1.94) geschätzt (t= 1.7, p=.09). Versuchspersonen der Versuchsgruppe2 offenbaren demnach keine verstärkte Präferenz für postrelativistische epistemische Überzeugungen durch ihren W-Wert im Vergleich mit Personen der Kontrollgruppe. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm des Need for Cognition (b2) wird auf –0.03 (SE = 0.044) geschätzt (t=–.07, p=.943). In der Gesamtstichprobe hat die Ausprägung des Need for Cognition demnach keinen Effekt auf den W-Wert. Es zeigt sich jedoch eine Tendenz hin zu einem Interaktionseffekt der Versuchsbedingung mit dem Need for Cognition (b3 = -1.32, SE = 0.07, t= -1.95, p=.057). Dieser Tendenz nach wählen Personen der Versuchgruppe bei hohem Need for Cognition mehr postrelativistische Items als Personen mit geringem Need for Cognition. In der Kontrollgruppe zeigen sich keine Unterschiede. Die Effekte der separaten linearen Regressionsanalysen werden somit regressionsanalytisch in einer Tendenz sichtbar. Abbildung 6.3 zeigt eine graphische Darstellung des Interaktionseffektes.
VG KG niedrig
Abbildung 6.3:
hoch
Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den W-Wert
Standardisierter D-Wert Für den erreichten standardisierten D-Wert lässt sich mithilfe der moderierten Regressionsanalyse kein Interaktionseffekt nachweisen. 214
D-Wert Das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm klärt auch hier etwa ein Sechstel der Varianz für den erreichten D-Wert auf (R2= .17, F= 3.3, df=3, p=.03). Die additive Konstante b0 wird auf -12.5 (SE = 4.9) geschätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) wird auf –19.8 (SE = 7.94) geschätzt und ist damit signifikant von Null verschieden (t= -2.5, p=.016). Personen der Versuchsgruppe lehnen absolutistische und relativistische Überzeugungen demnach stärker ab als Personen der Kontrollgruppe. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm des Need for Cognition (b2) wird auf –0.075 (SE = 1.87) geschätzt (t=–.040, p=.986). In der Gesamtstichprobe hat das Need for Cognition demnach keinen Effekt auf die Ablehnung absolutistischer und relativistischer Überzeugungen. Insgesamt zeigt sich ein signifikanter Interaktionseffekt der Versuchsbedingung mit dem Need for Cognition (b3 = 6.69, SE = 2.81, t= 2.4, p=.021).
VG KG niedrig
hoch
Abbildung 6.4: Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den D-Wert Der Moderationseffekt lässt sich damit regressionsanalytisch bestätigen. Personen der Versuchgruppe bewerten absolutistische und relativistische Items bei hohem Need for Cognition geringer als Personen mit geringem Need for Cognition. In der Kontrollgruppe zeigen sich keine Unterschiede. Abbildung 6.4 zeigt eine graphische Darstellung des Interaktionseffektes. 215
6.2.2.3 Analysen der FREE-Subskala Naturwissenschaftliche Items (1) Zweifaktorielle Varianzanalyse mit Mediansplit Für die Subskala Naturwissenschaftliche Items des FREE-Fragebogens (7 Items) erbringt eine zweifaktorielle Varianzanalyse (Faktor „Versuchs-/ Kontrollbedingung“ x Faktor „hohes/niedriges Need for Cognition“) keinen signifikanten Interaktionseffekt für den standardisierten D-Wert. Jedoch zeigt sich eine Signifikanz für den W-Wert (F(3,50)=4.35, p=.042, Ș²=.08). Für den unstandardisierten D-Wert zeigt sich eine Tendenz (F(3,51) = 3.691, p=.060, Ș²= .07). In Tabelle 6.5 sind die Mittelwerte zur Veranschaulichung aufgeführt. Tabelle 6.5:
Mittelwert der FREE-Subskala Naturwiss. Items in Abhängigkeit vom Need for Cognition
N
Need for Cognition (hoch)
N
Need for Cognition (niedrig)
VG 2
8
.7321 (.23458)
17
.4454 (.27144)
KG
17
.6471 (25313)
12
.6429 (.14286)
VG 2
9
11.7222 (7.70597)
17
5.7353 (5.93748)
KG
17
7.3235 (6.44676)
12
8.1667 (5.73004)
Wnat-Wert
Dnat-Wert (nicht SD)
( 2) Regressionsanalytische Überprüfung der Effekte Mithilfe von zwei separaten linearen Regressionsanalysen werden für beide Ausprägungen der kategorialen Variablen Gruppe (Kontrollgruppe, Versuchsgruppe 2) zunächst unabhängig voneinander die Korrelationskoeffizienten ermittelt.
216
a. Separate lineare Regressionsanalysen W-Wert Für die Versuchsgruppe 2 wird die Regressionsanalyse (ba= -.197; SE=.06; p=.004) für den Zusammenhang vom erreichten W-Wert in der Subskala Naturwissenschaft mit der Stärke des Need for Cognition signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.04 % in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Need for Cognition einer Person der Versuchsgruppe 2 und dem erreichten W-Wert. Für die Kontrollgruppe wird die einfache Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant (bb=-.01; SE=.046; p=.827). Standardisierter D-Wert Für die Versuchsgruppe 2 wird auch die Regressionsanalyse (ba= -3.421; SE=1.05; p=.003) für den Zusammenhang vom erreichten standardisierten DWert in der Subskala Naturwissenschaft mit der Ausprägung des Need for Cognition signifikant. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.03 % in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Need for Cognition einer Person der Versuchsgruppe 2 und dem erreichten standardisierten D-Wert. Für die Kontrollgruppe wird die einfache Regressionsanalyse dagegen erneut nicht signifikant (bb= -.173; SE=1.26; p=.892). D-Wert Auch die Regressionsanalyse (ba= -4.941; SE=1.46; p=.003) für den Zusammenhang vom erreichten D-Wert in der Subskala Naturwissenschaft mit der Ausprägung des Need for Cognition wird für die Versuchsgruppe 2 signifikant. Hiermit besteht mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.03 % in der Grundgesamtheit kein Zusammenhang zwischen dem Need for Cognition einer Person der Versuchsgruppe 2 und dem erreichten D-Wert. Für die Kontrollgruppe wird die einfache Regressionsanalyse dagegen nicht signifikant (bb=.310; SE=1.32; p=.816). b. Moderierte Regressionsanalyse mit Interaktionsterm Um diese Zusammenhänge genauer zu untersuchen, wird der Moderatoreffekt zusätzlich über eine moderierte Regressionsanalyse mit metrischen und kategorialen Prädiktoren unter Einbezug der Haupteffekte und eines Interaktionsterms überprüft (Aiken & West 1991). W-Wert Insgesamt klärt das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm etwa ein Viertel der Varianz im erreichten W-Wert auf (R2=.23, F= 4.9, df=3, p=.005). Die additive Konstante b0 wird auf 0.62 (SE= 0.131) ge217
schätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) wird auf .49 (SE = .22) geschätzt (t= 2.3, p=.029). Personen der Versuchsgruppe offenbaren demnach eine verstärkte Präferenz für post-relativistische epistemische Überzeugungen durch ihren W-Wert gegenüber Personen der Kontrollgruppe. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm des Need for Cognition (b2) wird auf 0.01 (SE = .049) geschätzt (t=.21, p=.838). In der Gesamtstichprobe hat die Ausprägung des Need for Cognition demnach keinen Effekt auf den W-Wert. Es zeigt sich jedoch ein signifikanter Interaktionseffekt der Versuchsbedingung mit dem Need for Cognition (b3 = -.21, SE = 0.08, t= 2.74, p=.009). Der Moderationseffekt wird somit regressionsanalytisch bestätigt. Personen der Versuchgruppe wählen bei hohem Need for Cognition mehr postrelativistische Items als Personen mit geringem Need for Cognition. In der Kontrollgruppe zeigen sich keine Unterschiede. Abbildung 6.5 zeigt den Interaktionseffekt.
VG KG niedrig
hoch
Abbildung 6.5: Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den W-Wert der naturwiss. Skala Standardisierter D-Wert Das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm konnte etwa ein Sechstel der Varianz im erreichten standardisierten D-Wert aufklären (R2=.12, F= 2.4, df=3, p=.077). Die additive Konstante b0 wird auf 5.72 (SE = 218
2.94) geschätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) wird auf 9.34 (SE = 4.79) geschätzt (t= 1.95, p=.057). Demnach lehnen Personen der Versuchsgruppe 2 im Vergleich mit Personen der Kontrollgruppe absolutistische und relativistische Überzeugungen der Tendenz nach stärker ab. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm des Need for Cognition (b2) wird auf –.17 (SE = 1.12) geschätzt (t=–.16, p=.877). In der Gesamtstichprobe hat die Ausprägung des Need for Cognition folglich keinen Effekt auf den standardisierten D-Wert. Es zeigt sich jedoch eine Tendenz hin zu einem Interaktionseffekt der Versuchsbedingung mit dem Need for Cognition (b3 = -3.25, SE = 1.69, t= -1.93, p=.060). Die separaten linearen Regressionsanalysen werden somit in der moderierten Regressionsanalyse in einer Tendenz sichtbar. Dieser Tendenz nach bewerten Personen der Versuchgruppe bei hohem Need for Cognition absolutistische und relativistische Items geringer als Personen mit geringem Need for Cognition. In der Kontrollgruppe zeigen sich keine Unterschiede. Abbildung 6.6 zeigt eine graphische Darstellung des Interaktionseffektes.
VG
KG niedrig
hoch
Abbildung 6.6: Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den standardisierten D-Wert der naturwiss. Skala 219
D-Wert Das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm konnte etwa ein Sechstel der Varianz für den erreichten D-Wert aufklären (R2= .18, F= 3.7, df=3, p=.018). Die additive Konstante b0 wird auf 6.9 (SE = 3.5) geschätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) wird auf 15.1 (SE = 5.62) geschätzt und ist signifikant von Null verschieden (t= 2.7, p=.010). Personen der Versuchsgruppe 2 lehnen absolutistische und relativistische Überzeugungen demnach stärker ab als Personen der Kontrollgruppe. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm des Need for Cognition (b2) wird auf .31 (SE = 1.3) geschätzt (t=.24, p=.812). In der Gesamtstichprobe hat das Need for Cognition demnach keinen Effekt auf die Ablehnung absolutistischer und relativistischer Überzeugungen. Es zeigt sich ein signifikanter Interaktionseffekt der Versuchsbedingung mit dem Need for Cognition (b3 = -5.25, SE= 1.98, t= -2.65, p=.011). Personen der Versuchsgruppe bewerten absolutistische und relativistische Items bei hohem Need for Cognition geringer als Personen mit geringem Need for Cognition. In der Kontrollgruppe zeigen sich keine Unterschiede. Der Moderationseffekt lässt sich damit regressionsanalytisch bestätigen. Abbildung 6.7 zeigt eine graphische Darstellung des Interaktionseffektes.
VG
KG niedrig
Abbildung 6.7:
220
hoch
Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für den D-Wert der naturwiss. Skala
6.2.2.4 2. Abhängige Variable: Verstehen Im Folgenden stehen die Effekte der einwöchigen Intervention der Studie II auf die Güte der Informationsverarbeitungsprozesse im Mittelpunkt (operationalisiert über die abhängige Variable Verstehen). Zur Untersuchung der Güte der Informationsverarbeitung wurden fokussierte Denkprozesse initiiert, die konzentriertes Nachdenken zum Thema „Gentransfer“ erfordern. Das fachliche Verständnis der biologischen Zusammenhänge zum „Gentransfer“ wurde über Multiple-Choice- und Transferaufgaben erfasst (siehe 5.1.1.3). Mit Hilfe der einfachen Varianzanalyse werden Gruppenunterschiede bezüglich der abhängigen Variable Verstehen überprüft, die (a) über die Transferaufgabe und (b) über die Multiple-Choice-Aufgaben operationalisiert wurde. Diese ergeben weder für die Transferaufgabe noch für die Multiple-ChoiceAufgaben ein signifikantes Ergebnis (F(3, 111)=.701; p=.55) und (F(3, 110)=.063; p =.98). In Tabelle 6.6 sind die Mittelwerte zu Veranschaulichung aufgeführt. Die Daten werden im Hinblick auf die Hypothese 5 zur Moderatorfunktion des epistemischen Motivs (Need for Cognition) analysiert. Wie bereits erläutert zeichnen sich Personen mit einem hohen Need for Cognition dadurch aus, dass sie Freude am Denken empfinden und eine hohe Bereitschaft zeigen, sich durch Nachdenken mit Problemen auseinanderzusetzen. Personen mit einem geringen Need for Cognition neigen eher dazu Situationen zu vermeiden, die mit kognitiver Anstrengung einher gehen. Tabelle 6.6:
Mittelwerte (Standardabweichungen in Klammern) der Aufgaben getrennt nach Versuchsgruppe N
Skalenrange
Transferaufgabe
MC-Aufgaben
0-8
0-11
VG 1
30
5.70 (1.82)
5.33 (2.04)
VG 2
27
6.11 (1.70)
5.19 (2.32)
VG 3
29
5.66 (1.23)
5.41 (2.06)
KG
29
5.48 (1.86)
5.36 (1.70) 221
(1) Zweifaktorielle Varianzanalyse mit Mediansplit Die erste Analyse eines möglichen Moderationseffektes durch das Need for Cognition erfolgt über die Methode der Gruppenbildung, bei der die metrische Variable in zwei gleich große Gruppen mit niedrigen bzw. höheren Werten aufgeteilt wird. Mithilfe eines Mediansplits wird die metrische Variable Need for Cognition dichotomisiert und hierdurch eine kategoriale Variable mit zwei Gruppen erstellt von denen eine über ein stärker ausgeprägtes und die andere über ein geringeres Need for Cognition verfügte. Dies ermöglicht die Analyse der Daten mit einer zweifaktoriellen (Zwischengruppen-) Varianzanalyse mit dem Faktor experimentelle Gruppenzugehörigkeit (verschiedene Versuchsgruppe) und Need for Cognition (hoch vs. niedrig) bezüglich der abhängigen Variable Verstehen, die (a) über die Multiple-Choice-Aufgaben und (b) über die Transferaufgabe operationalisiert wurde. a. Multiple-Choice-Aufgaben Die Analysen zeigen, dass sich die vier Gruppen in ihrer Performanz in den Multiple-Choice-Aufgaben nicht voneinander unterscheiden. Für die MultipleChoice Aufgaben ergab die zweifaktorielle Varianzanalyse keinen Interaktionseffekt. (F(3,106)=.59, p=.623, Ș²=.016). b. Transfer-Aufgaben Multiple-Choice und Transferaufgaben dienten als unterschiedliche Aufgabentypen dazu, verschiedene Verständnisarten abzufragen: Während die MultipleChoice-Aufgaben eher reproduktiv zu lösen sind, ist bei den Transferaufgaben eine Übertragung der Informationen zu leisten, die zeigt, ob der Prozess des Gentransfers in seiner Komplexität erfasst und verstanden worden ist. Für die Performanz in der Transferaufgabe erbringt die zweifaktorielle Varianzanalyse mit den Faktoren hohes vs. niedriges Need for Cognition sowie den verschiedenen Versuchsgruppen einen signifikanten mittleren Interaktionseffekt (F(3,107)=3.95, p=.01, Ș²=.10)42. In Tabelle 6.7 sind die Mittelwerte zur Veranschaulichung aufgeführt.
42
Die Varianzhomogenität ist hier nicht gegeben (vgl. Tab. 6.7). Bei ähnlicher Größe der Gruppen ist die Varianzanalyse jedoch robust gegen die Verletzung dieser Voraussetzung (Pallant 2005, 198).
222
Tabelle 6.7: Mittelwert der Transferaufgabe in Abhängigkeit vom Need for Cognition
VG 1
17
Need for Cognition (hoch) 5.35 (2.1)
VG 2
10
7.20 (.92)
17
5.47 (1.74)
VG 3
11
5.73 (.64)
18
5.61 (1.5)
KG
17
5.06 (1.56)
12
6.08 (2.15)
N
13
Need for Cognition (niedrig) 6.15 (1.35)
N
Eine nähere Exploration dieses Interaktionseffekts ergibt, dass sich die Versuchsgruppen auf der Stufe hohes Need for Cognition voneinander unterscheiden. In Abbildung 6.8 ist der Interaktionseffekt graphisch dargestellt.
Lösung der Transferaufgabe
Erreichte Punktzahl (max. 8 P.)
7,5
VG1 = AP alleine refl. VG2 = AP soz. Interak. VG3 = kog. Ablenkung KG = Kontrollgruppe
7
6,5
6
5,5
5 niedriges NfC
Abbildung 6.8:
hohes NfC
Darstellung des Interaktionseffektes, Mittelwerte der Transferaufgabe getrennt nach Versuchsgruppe und NfC 223
Eine zweifaktorielle Varianzanalyse mit der abhängigen Variable Transferaufgabe und den unabhängigen Variablen hohes vs. niedriges Need for Cognition sowie der Versuchsgruppen unter Ausschluss der Versuchsgruppe 2 ergibt keinen Interaktionseffekt (F(2,82)=.926, p=.400, Ș²=.022). Zwischen der VG1, der VG3 und der Kontrollgruppe bestehen demnach keine Unterschiede in der erreichten Punktzahl in der Transferaufgabe in Abhängigkeit vom Need for Cognition. Eine zweifaktorielle Varianzanalyse mit der abhängigen Variable Transferaufgabe und den unabhängigen Variablen hohes vs. niedriges Need for Cognition sowie Versuchsgruppe 2 vs. Kontrollgruppe ergibt einen signifikant großen Interaktionseffekt (F(1,52)=8.99, p=.004; Ș²=.15). Personen der Versuchsgruppe 2 mit hohem Need for Cognition erreichen in der Transferaufgabe signifikant höhere Punktzahlen als Personen der Kontrollgruppe mit hohem Need for Cognition. In Abbildung 6.9. ist der Interaktionseffekt graphisch dargestellt.
224
Lösung der Transferaufgabe
Erreichte Punktzahl (max. 8 P.)
7,5
KG = Kontrollgruppe VG 2 = AP soz. Interak.
7
6,5
6
5,5
5 niedriges NfC
Abbildung 6.9:
hohes NfC
Darstellung des Interaktionseffektes, Mittelwerte der Transferaufgabe getrennt nach Versuchsgruppe 2, Kontrollgruppe und Need for Cognition
(2) Regressionsanalytische Überprüfung des Effekts Der Moderationseffekt wird auf zwei Weisen regressionsanalytisch überprüft. Mit der linearen Regressionsanalyse wird die lineare Abhängigkeit zwischen einer metrisch skalierten abhängigen Variablen und einer metrisch skalierten unabhängigen Variablen untersucht. Für die beiden Ausprägungen der kategorialen Variablen Gruppe (Versuchsgruppe 2 und Kontrollgruppe) werden zunächst unabhängig voneinander die Korrelationskoeffizienten mithilfe von zwei separaten linearen Regressionsanalysen ermittelt. a. Separate lineare Regressionsanalysen Für die Versuchsgruppe 2 zeigt sich ein signifikanter Regressionseffekt (ba=.858; SE=.38; p=.034) für den Zusammenhang von der Punktezahl in der Transferaufgabe und dem Need for Cognition. Mit einer Wahrscheinlichkeit von 0.34% in der Grundgesamtheit besteht kein Zusammenhang zwischen dem Need for Cognition einer Person der Versuchsgruppe 2 und ihrer erreichten Punkte225
zahl in der Transferaufgabe. Für die Kontrollgruppe zeigt sich hingegen kein Regressionseffekt (bb=.347; SE=.401; p=.394). b. Moderierte Regressionsanalyse mit Interaktionsterm Durch die Bestimmung separater und unterschiedlicher Korrelationen kann nicht zwangsläufig auf einen tatsächlichen Moderatoreneffekt der kategorialen Variablen geschlossen werden. Die unterschiedlichen Korrelationen können nach Richter (2007, 117) auch auf Unterschieden in der Varianz der metrischen Prädiktorvariablen und der Kriteriumsvariablen beruhen. Wie bereits in den Analysen der Studie I wird deshalb auch hier der Moderatoreffekt zusätzlich über eine moderierte Regressionsanalyse mit metrischen und kategorialen Prädiktoren überprüft (Aiken & West 1991). Insgesamt kann das Modell mit den beiden Haupteffekttermen und dem Interaktionsterm etwa ein Achtel der Varianz in den Testleistungen in der Transferaufgabe aufklären (R2= .12, F= 2.3, df=3, p=.090). Die additive Konstante b0 wird auf 4.6 (SE = 0.99) geschätzt. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm der Gruppe (b1) wird auf 3.94 (SE = 1.59) geschätzt und ist signifikant von Null verschieden (t=2.5, p=.017). Personen der Versuchsgruppe 2 erzielen demnach mehr Punkte in der Transferaufgabe zur Erfassung fokussierter Denkprozesse. Der Regressionskoeffizient für den Haupteffektterm des Need for Cognition (b2) wird auf .35 (SE = .37) geschätzt (t=.93, p=.355). In der Gesamtstichprobe hat das Need for Cognition demnach keinen Effekt auf die erreichte Punktzahl in der Transferaufgabe. Insgesamt zeigt sich ein signifikanter Interaktionseffekt der Versuchsbedingung mit dem Need for Cognition (b3=-1.21, SE=.56, t= -2.1, p=.037). Bei hohem Need for Cognition wird die Transferaufgabe zum fokussierten Denken in der Versuchsgruppe 2 besser gelöst als bei geringerem Need for Cognition. In der Kontrollgruppe zeigen sich keine Unterschiede. Der Moderationseffekt lässt sich damit regressionsanalytisch bestätigen. Abbildung 6.10 zeigt eine graphische Darstellung des Interaktionseffektes.
226
VG KG niedrig
Abbildung 6.10:
hoch
Dreidimensionale Darstellung des Interaktionseffektes, Versuchs- und Kontrollbedingung mit dem epistemischen Motiv (Need for Cognition) für das Abschneiden in der Transferaufgabe
6.3 Interpretation Studie II In der Studie II wurden zwei Hypothesen (siehe Kapitel 4.2) bezüglich der Bedeutung und Wechselwirkung von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen in Verarbeitungsprozessen beim Lernen überprüft. Hypothese 4
Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich darauf aus, welche epistemischen Überzeugungen aktiviert sind.
Hypothese 5
Die Veränderung der Aktivierung epistemischer Überzeugungen wird durch das epistemische Motiv moderiert.
Die Hypothese 4 zu den Auswirkungen der Reflexion der Alltagsphantasien auf die Aktivierungskonfiguration der persönlichen Epistemologie wurde in der 227
Auswertung im Zusammenhang mit der in Hypothese 5 angenommenen Moderatorfunktion des epistemischen Motivs untersucht. In Übereinstimmung mit der Hypothese 4 wirkt sich die Reflexion von Alltagsphantasien darauf aus, welche epistemischen Überzeugungen aktiviert sind. Ein Teil der Versuchspersonen zeigt sophistiziertere epistemische Überzeugungen als Personen der Kontrollgruppe. Für diese Versuchspersonen ist also eine andere Konfiguration epistemischer Überzeugungen aktiv als bei den anderen Personen, etwa der Kontrollgruppe. 6.3.1 Wen spricht die Reflexion von Alltagsphantasien an? Bevor die Wirkung auf die persönliche Epistemologie genauer betrachtet wird, wird zunächst analysiert, für welche Versuchspersonen dieser Effekt überhaupt zutrifft, d.h. welche Versuchspersonen auf die Reflexion der Alltagsphantasien reagieren. Dabei spielen zwei Faktoren eine Rolle: (1) Eine reifere Ausrichtung der epistemischen Überzeugungen in Folge der Reflexion der Alltagsphantasien tritt im Vergleich mit Personen der Kontrollgruppe lediglich bei Personen der Versuchsbedingung mit sozialer Interaktion auf. Das bedeutet, dass nur die Individuen, die ihre Alltagsphantasien mit anderen diskutieren und austauschen durften (Versuchsgruppe 2), auf die Reflexion ihrer Alltagsphantasien reagieren und davon profitieren. Gemäß den Annahmen von Haidt (2001) beeinflussen soziale Austauschprozesse die Effektivität der Auseinandersetzung mit den eigenen Intuitionen. (2) In Übereinstimmung mit Hypothese 5 ist der positive Effekt der Reflexion der Alltagsphantasien auf die aktive Konfiguration epistemischer Überzeugungen abhängig von der Stärke des epistemischen Motivs (operationalisiert über das Need for Cognition). Wie schon in Studie I lassen sich nur die Personen auf die Reflexion ihrer spontan assoziierten Vorstellungen (Alltagsphantasien) ein, die eine höhere Bereitschaft zum Nachdenken und zur Auseinandersetzung mit Inhalten haben. Es profitieren jedoch nur die Personen mit einem starken epistemischen Motiv von der Reflexion der Alltagsphantasien (zeigen eine Aktivierung reiferer epistemischer Überzeugungen), die die Chance zur kommunikativen Reflexion ihrer Alltagsphantasien mit anderen Personen bekommen (siehe (1)). Dies scheint darauf zu verweisen, dass durch die sozialen Austauschprozesse eine intensivere Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien und damit auch mit den Welt- und Menschenbildern der eigenen impliziten Theorie der Realität erfolgt. Als Teil der impliziten Theorie der Realität hängen epistemische Überzeugungen mit verschiedenen Welt- und Menschenbildern zusammen. 228
Es ist deshalb denkbar, dass sich eine verstärkte Auseinandersetzung mit den eigenen Welt- und Menschenbildern nachhaltig auf die Aktivierung epistemischer Ressourcen auswirkt. 6.3.2 Welchen Effekt hat die Reflexion der Alltagsphantasien auf die Aktivierung der persönlichen Epistemologie? Die Personen der Versuchsgruppe „soziale Interaktion“, die sich durch ein hohes epistemisches Motiv (operationalisiert über das Need for Cognition) auszeichnen, wählen bei der Beurteilung von epistemischen Problemen (vgl. Kapitel 5.6.2.4) verstärkt postrelativistische Items aus (W-Wert). Innerhalb postrelativistischer Positionen wird die Pluralität von Meinungen zwar anerkannt, gilt jedoch nicht als beliebig. Zudem gelten Positionen aus einer postrelativistischen Perspektive als unterschiedlich gut begründbar und fundiert (Krettenauer 2005, 74). Außerdem stimmen Personen der Versuchsgruppe „soziale Interaktion“, die sich durch ein hohes epistemisches Motiv (Need for Cognition) auszeichnen, absolutistischen und relativistischen Items weniger zu als vergleichbare Personen der Kontrollgruppe (D-Wert). Die weniger sophistizierten Positionen werden also stärker abgelehnt. Insgesamt lässt sich zusammenfassen, dass Personen der Versuchsgruppe „soziale Interaktion“ mit ausgeprägtem epistemischen Motiv (Need for Cognition) also in beiden Kennwerten einen höheren Sophistizierungs- oder Reifegrad ihrer epistemischen Überzeugungen zeigen. Bemerkenswert ist hierbei, dass sich dieser Effekt vor allem auf Items bezieht, die sich naturwissenschaftlichen Domänen zuordnen lassen. Offenbar werden durch das Nachdenken über die Alltagsphantasien im Rahmen des naturwissenschaftlichen Themas „Gentechnik“ die Vorstellungen zu Erkenntnisgenese und ihrer Sicherheit vornehmlich in Bezug auf Naturwissenschaften beeinflusst. Dieses Ergebnis entspricht der Theorie von Hammer & Elby (2002) zur Kontextabhängigkeit epistemischer Überzeugungen: Die Befunde zeigen die Abhängigkeit der Ausprägung der epistemischen Überzeugungen vom jeweiligen Erkenntnisgegenstand. Hieraus lässt sich eine weitere Erkenntnis über epistemische Überzeugungen ableiten, die nicht vordergründig im Erkenntnisinteresse der vorliegenden Untersuchung stand: Welche epistemischen Vorstellungen aktiviert werden, wird durch die inhaltlichen und kontextuellen Anforderungen der Lernsituation bestimmt. Aus diesem Grund wirkt sich die Reflexion der Alltagsphantasien auf die Aktivierungskonfiguration der epistemischen Überzeugungen aus. Die aktivierten epi229
stemischen Überzeugungen werden dann vom Individuum offensichtlich in erster Linie in Bezug auf die jeweilige Domäne genutzt, in der sie aktiviert wurden. Die Stimulation reiferer epistemischer Überzeugungen zu einem Themenbereich (etwa Naturwissenschaft) wird also vermutlich nicht automatisch auf einen anderen Themenbereich (etwa Sozialwissenschaft) übertragen. Detaillierte Überlegungen und Ausführungen zu den Auswirkungen der Reflexion von Alltagsphantasien auf die aktivierte Konfiguration epistemischer Überzeugungen erfolgen in der umfassenden Abschlussdiskussion (Kapitel 7) vor dem Hintergrund der gesamten Ergebnisse. Auch die Implikationen und Erklärungen dazu, warum sich die Auseinandersetzung mit den eigenen impliziten kulturell bestimmten Vorstellungen zu Gentechnik positiv auf Personen mit einem hohen epistemischen Motiv auswirkt, bei Personen mit geringem epistemischen Motiv jedoch wirkungslos bleibt, wird in der Abschlussdiskussion genauer erwogen. In der Studie II wurde auch die Auswirkung der Reflexion der Alltagsphantasien auf die Güte der Informationsverarbeitung im Lernprozess erneut untersucht. Die Beschäftigung mit den eigenen Alltagsphantasien hatte in der Studie I den Effekt einer Irritation des fokussierten Nachdenkens. Im Vergleich zur Studie I wurden in der Studie II wichtige Untersuchungsparameter verändert: (1) Der Zeitraum der Intervention wurde von zwei Stunden auf den Zeitraum einer Woche gestreckt. Zudem (2) wurde die Versuchsbedingung des „kommunikativen Austausches in der sozialen Gruppe“ neu eingeführt. Vor dem Hintergrund dieser Veränderungen sollen nun die Ursache und Art des Irritationseffektes genauer analysiert werden. 6.3.3 Welche Auswirkung hat die Reflexion der Alltagsphantasien auf den Verarbeitungsprozess? Entsprechend der Hypothese 1 führt die Aktivierung und Reflexion von Alltagsphantasien in der Studie II unter bestimmten Bedingungen zu einer Verbesserung der Verarbeitung von Informationen: Unter der Bedingung des sozialen Austausches erzielen Versuchspersonen mit einem ausgeprägten epistemischen Motiv (Need for Cognition) in den Tests zur Güte ihres fokussierten Denkens (Multiple-Choice- sowie Transferaufgaben) höhere Punktzahlen als Personen der Kontrollgruppe. Hierbei handelt es sich um das gleiche Segment von Versuchspersonen, das bereits in der Studie I auf die Reflexion der Alltagsphantasien reagierte. Diese Personen haben Freude am Denken und genießen intellektuell herausfordernde Denksituationen. 230
Während innerhalb der kurzen Intervention der Studie I kognitive Kapazitäten der Versuchspersonen durch die Reflexion der Alltagsphantasien vermutlich gebunden wurden und deshalb kurzfristig zu einer Irritation des fokussierten Denkens führten, erfolgt durch die länger andauernde reflexive Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien nun offenbar eine vertiefte Verarbeitung der Informationen. Diese positive Transformation des Irritationseffektes ist allerdings an die Bedingung des sozialen Austausches gebunden oder wird zumindest durch sie unterstützt. Setzen sich die Versuchspersonen allein mit ihren Alltagsphantasien auseinander (wie in Studie I), zeigen sich zwischen ihnen und Personen der Kontrollgruppe in der Studie II keine Unterschiede mehr in der Verarbeitung der Informationen. Der in der ersten Studie gefundene Irritationseffekt spiegelt offensichtlich tatsächlich die unmittelbare Reaktion auf die Auseinandersetzung mit den sonst impliziten Welt- und Menschenbildern. Diese anfängliche Irritation verschwindet jedoch offensichtlich mit der Zeit. Dies kann als ein weiterer Hinweis darauf gewertet werden, dass sich auch die individuelle und alleinige intensive gedankliche Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien langfristig positiv auf die Lernergebnisse auswirken könnte. Möglicherweise bedarf es jedoch longitudinal angelegter Studien über mehrere Wochen oder Monate, um die unterstützende Funktion längerfristiger Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien für Lernprozesse nachweisen zu können. Wird die Verarbeitung zusätzlich durch sozialen Austausch unterstützt, tritt eine lernförderliche Wirkung ein: Der ursprüngliche Irritationseffekt wird also in eine Unterstützung der Lernprozesse transformiert. Die Möglichkeit, die eigenen Vorstellungen mit anderen Personen zu diskutieren und auszutauschen, ist offensichtlich zentral für den fruchtbaren Effekt der Reflexion. Wie in Punkt 6.5.1 ausgeführt erfolgt durch die sozialen Austauschprozesse offenbar eine intensivere Auseinandersetzung mit eigenen Alltagsphantasien und damit auch mit den Welt- und Menschenbildern der eigenen impliziten Theorie der Realität. Diese intensivere Auseinandersetzung könnte darauf beruhen, dass die neuen Lerninhalte besser mit bestehendem Wissen verknüpft werden. Kirschner et al. (2009) nehmen zudem an, dass gemeinschaftliches Lernen mit zunehmender Komplexität des Lerngegenstandes Vorteile vor individuellem Lernen mit sich bringt. Vor dem Hintergrund der Annahme, dass es sich bei den Alltagsphantasien um subjektiv bedeutsame Vorstellungen handelt, die im Zusammenhang mit Gentechnik existentiell bedeutsame und infolge dessen emotional aufrührende Themen – wie zum Beispiel Krankheit, Tod, Heiligkeit und Naturbedürfnis – aktivieren, wäre die Auseinandersetzung mit Alltagsphantasien als eine solche komplexe Denktätigkeit einzustufen. 231
Probanden der zusätzlichen Experimentalbedingung „kognitive Ablenkung“ (VG 3) unterschieden sich in ihren Ergebnissen nicht von den Probanden der Kontrollgruppe. Ziel der Einführung dieser weiteren Experimentalbedingung war es zu überprüfen, ob der in der Studie I gefundene Irritationseffekt als eine inhaltsunspezifische Reaktion auf kognitive Ablenkung verstanden werden muss, oder ob es sich um einen inhaltsspezifisch an die Alltagsphantasien gebundenen Effekt handelt. Da jedoch der Irritationseffekt unter dem verlängerten Untersuchungszeitraum auch für die anderen Versuchsbedingungen nicht mehr nachweisbar ist, kann zu dieser Überlegung keine Erklärung aus den Befunden abgeleitet werden.
232
7 Auf dem Wege zu einer impliziten Theorie der Realität – Diskussion der Ergebnisse
Im Rahmen dieser Arbeit wurde der Bedeutung impliziter kulturell bedingter Vorstellungen in Lernprozessen nachgegangen. Dabei wurde die Forschung zu epistemischen Überzeugungen mit dem didaktischen Konzept und Forschungsprogramm der Alltagsphantasien in Beziehung gesetzt und vor dem Hintergrund kulturtheoretischer und kognitionspsychologischer Erkenntnisse theoretisch betrachtet. Kernstück der Arbeit bildet die Integration epistemischer Überzeugungen und Alltagsphantasien in ein adaptives System von Welterklärungsmustern, einer impliziten Theorie der Realität. Ziel der empirischen Untersuchungen war es, die Wechselwirkungen von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in Lernprozessen zu untersuchen. Die empirische Überprüfung dieser Zusammenhänge sollte dazu dienen, Einsichten zu erlangen, wie Lernprozesse durch die Berücksichtigung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien gefördert werden können. Zudem dienten die Untersuchungen dazu, Einblicke in den Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien für eine implizite Theorie der Realität und ihre Bedeutung beim Lernen zu bekommen. Während der Sozialisation und Enkulturation werden Perspektiven auf den Menschen und die Welt erworben und verinnerlicht. Sie bilden ein komplexes System von Welterkärungsmustern, das von mir als implizite Theorie der Realität bezeichnet wird. Diese hat Orientierungsfunktion für den Menschen: Die Welt- und Menschenbilder helfen dem Individuum, Eindrücke und Informationen einzuordnen, zu organisieren und mit Bedeutung zu versehen. Zentrale Annahme dieser Arbeit ist, dass die Welterklärungsmuster aus diesem Grund wichtige Funktionen beim Lernen haben. Sie helfen dem Lernenden dabei, einen Lerngegenstand einzuordnen und ihn mit Bedeutung zu versehen. Die Welt- und Menschenbilder sind mit bestimmten Vorstellungen und Überzeugungen zur Genese, Konstitution und Kommunikation von Wissen verknüpft. Epistemische Überzeugungen erwachsen aus kulturellem Wissen und sind Teil der impliziten Theorie der Realität. Zudem spiegelt sich die implizite Theorie der Realität in den Vorstellungen, die als „subjektive Resonanzen“ in Reaktion auf Lerngegenstände ausgelöst werden. Alltagsphantasien lassen sich 233 K. Oschatz, Intuition und fachliches Lernen, DOI 10.1007/978-3-531-93285-9_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
folglich als inhaltliche Indikatoren für die implizite Theorie der Realität und damit der Menschen- und Weltbilder des Individuums beschreiben. In Form von Intuitionen, affektiven Reaktionen oder spontanen Assoziationen werden Weltund Menschenbilder beim Lernen explizit, wenn sie geäußert werden dürfen. So erlangt die implizite Theorie der Realität in der Unterrichtssituation Sichtbarkeit. Die implizite Theorie der Realität ist dabei nicht unbedingt in sich kohärent und geschlossen. Vielmehr wird angenommen, dass ein Mensch über höchst unterschiedliche Ansichten und Vorstellungen von der Welt und dem Menschen verfügt. Welche Perspektiven auf den Menschen und die Welt als zentrale Bestandteile einer impliziten Theorie der Realität eines Individuums aktiviert werden, wird durch den Kontext der Lernsituation und durch den Lerngegenstand bestimmt. Über assoziative Mechanismen werden epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien deshalb in Abhängigkeit von Kontext und Lerngegenstand stets mit aktiviert. Durch gezieltes Nachfragen und die Aufforderung, sie zu formulieren und in das Denken einzubeziehen, lassen sich Alltagsphantasien auch sichtbar machen und für das Lernen nutzen. Aufgrund der ausgeführten Überlegungen wird davon ausgegangen, dass Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen zusammenhängen und sich gegenseitig beeinflussen. Diese Wechselwirkung könnte für Lernprozesse fruchtbar gemacht werden. Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen wurden im dritten Kapitel aufgrund ihrer unterschiedlichen Eigenschaften zwei verschiedenen Wirkdimensionen der impliziten Theorie der Realität im Lernprozess zugeordnet: (1) In Alltagsphantasien drücken sich die im Lernkontext aktivierten Weltund Menschenbilder aus. Diese aktivieren mit ihnen assoziierte Inhalte und spielen deshalb für die Bewertung des Lerngegenstandes eine Rolle. Annahme ist, dass die Identifikation, Kategorisierung und Interpretation neuer Informationen an die aktivierten Welt- und Menschenbilder angepasst wird. (2) Durch die epistemischen Überzeugungen wirken sich Welt- und Menschenbilder auf die Verarbeitungsweisen im Lernprozess aus. Während reifere epistemische Überzeugungen im Zusammenhang mit aufwendigen systematischen und reflektiven Verarbeitungsprozessen stehen, geht eine weniger reife Ausrichtung der epistemischen Überzeugungen tendenziell mit unaufwendigen Verarbeitungsprozessen einher (Klaczynski 2000, Kardash & Scholes 1996). Vor dem Hintergrund des Semantisch-Prozeduralen Interface-Modells von Hannover & Kühnen (2002) wird davon ausgegangen, dass diese beiden Wirkdimensionen der impliziten Theorie der Realität miteinander verbunden sind. Die Zugänglichkeit bestimmter Welt- und Menschenbilder könnte über die Aktivierung korrespondierender epistemischer Überzeugungen Einfluss auf die 234
Verarbeitungsprozesse nehmen. Umgekehrt könnte der Modus der Verarbeitung die Zugänglichkeit bestimmter Welt- und Menschenbilder beeinflussen. Während dem inhaltlichen Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in dieser Arbeit nur theoretisch nachgegangen wurde (Kapitel 3.5), eine empirische Untersuchung also noch aussteht, wurden die Zusammenhänge von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen in Verarbeitungsprozessen empirisch untersucht. Dabei standen zwei Wirkrichtungen im Fokus der Untersuchung. Die Ergebnisse werden im Hinblick auf diese beiden Wirkrichtungen nacheinander diskutiert. (1) Zum einen wurde die Reflexion der Alltagsphantasien von den epistemischen Überzeugungen ausgehend betrachtet: Da epistemische Überzeugungen Einfluss auf die Art und Weise von Denkprozessen nehmen, ist es möglich, dass Lernende in Abhängigkeit ihrer epistemischen Überzeugungen unterschiedlich auf die Reflexion ihrer Alltagsphantasien reagieren. (2) Zum anderen wurde die entgegen gesetzte Wirkrichtung untersucht: Durch die Reflexion von Alltagsphantasien beim Lernen könnte eine veränderte kontextuelle Aktivierung der persönlichen Epistemologie und damit die Aktualisierung unterschiedlicher epistemischer Überzeugungen erfolgen. Zentraler Bestandteil des Konzeptes und Forschungsprogramms Alltagsphantasien ist die Bedeutung ihrer Reflexion. Die zentrale These ist, „dass durch die explizite Reflexion dieser individuellen Bezüge – also durch eine Auseinandersetzung mit den eigenen Alltagsphantasien – Lernprozesse möglich werden, die von Lernenden als subjektiv bedeutsam empfunden werden und aus diesem Grunde ein nachhaltigeres Lernen bewirken“ (Gebhard 2003b, 51). In den empirischen Studien wurden die Wechselwirkungen von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen deshalb vor dem Hintergrund der Reflexion der Alltagsphantasien untersucht. 7.1 Epistemische Überzeugungen beeinflussen die Reflexion der Alltagsphantasien Die explizite Reflexion der Alltagsphantasien kann als ein Eingriff in die Verarbeitungsprozesse von Individuen verstanden werden. Vorstellungen, die zuvor spontan und automatisch assoziiert wurden und als Intuitionen im Lernprozess die weiteren Ideen und das Verhalten des Lernenden beeinflussten, werden nun bewusst betrachtet. Der in der Regel unreflektierte Status der Alltagsphantasien macht ihre Reflexion zu einem notwendigen Bestandteil des didaktischen Ansatzes Alltagsphantasien. Wie in Kapitel 2.6.1 dargestellt, bergen Alltagsphantasien in ihrem assoziativen und unbewussten Charakter zum einen ein kreatives 235
Potential, dass durch die Reflexion aufgegriffen werden kann. Zum anderen wird der Gefahr der Wirkung der Alltagsphantasien als Heuristiken im Sinne von gedanklichen Shortcuts und der manipulativen Wirkung ihrer impliziten Bilder durch eine explizite Reflexion vorgebeugt. Da epistemische Überzeugungen mit Informations-verarbeitungsprozessen zusammenhängen, bestimmt ihre Ausprägung, wie mit dieser Anforderung umgegangen wird. In der Studie I wurden mithilfe der Items von Gerber (2004) in Fragebögen die „habituierten“ epistemischen Überzeugungen abgefragt. Es wurde davon ausgegangen, dass in der Lernsituation zum Thema Gentechnik automatisch die Muster von epistemischen Überzeugungen aktiviert werden, die die Individuen als typische Muster für die Domäne Naturwissenschaft abgespeichert haben. Aufgrund der einmaligen kurzen Intervention (zwei Stunden) wurde davon ausgegangen, dass die Reaktion auf die Reflexion der Alltagsphantasien in Abhängigkeit dieser typischen habituierten epistemischen Überzeugungen erfolgt. Zudem wurde neben den klassischen inhaltlich bezogenen epistemischen Überzeugungen auch das epistemischen Motiv als Teil der persönlichen Epistemologie erhoben. Die genaue Diskussion der Wirkung des epistemischen Motivs erfolgt in Abschnitt 7.3 dieses Kapitels. 7.1.1 Ergebnisse zur Moderatorfunktion epistemischer Überzeugungen Die Ergebnisse beider Studien zeigen, dass die Reflexion der Alltagsphantasien durch die epistemischen Überzeugungen moderiert wird. In Abhängigkeit vom Sophistizierungsgrad der epistemischen Überzeugungen und der Stärke der Ausprägung des epistemischen Motivs (operationalisiert über das Need for Cognition) sprechen Personen unterschiedlich auf die explizite Reflexion der Alltagsphantasien an. In der Studie I wurde die unmittelbare Auswirkung der Reflexion der Alltagsphantasien auf nachfolgende Informationsverarbeitungsprozesse in Abhängigkeit der epistemischen Überzeugungen und des epistemischen Motivs untersucht. Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich innerhalb der Studie I nur auf Personen aus, die sich durch reife epistemische Überzeugungen (vornehmlich bezüglich der Bedeutung von Autoritäten und der Komplexität von Wissen) und durch ein ausgeprägtes epistemisches Motiv auszeichnen. Dieses Muster findet sich auch in der Studie II wieder. In der Studie II stand die umgekehrte Wirkrichtung im Mittelpunkt. Es wurde untersucht, wie sich die Reflexion der Alltagsphantasien darauf auswirkt, welche epistemischen Überzeugungen aktiviert sind. Da die epistemischen Überzeugungen in Studie II als abhängige Va236
riable untersucht wurden, konnte nur das epistemisches Motiv erneut in seiner Moderatorfunktion untersucht werden. Je stärker das epistemische Motiv ausgeprägt ist, desto mehr genießen Personen intellektuell herausfordernde Denksituationen und empfinden Freude am Denken. Je stärker sophistiziert die epistemischen Überzeugungen sind, desto stärker zeichnen sich Personen durch eine kritische Einstellung gegenüber den Quellen von Wissen, wie Autoritäten oder Experten, aus und gehen davon aus, dass man eigene Überlegungen zu dem Entstehen und der Richtigkeit von Wissen anstellen sollte. Dass in Studie I nur Personen mit hohem Sophistizierungsgrad der eigenen epistemischen Überzeugungen auf die explizite Reflexion der Alltagsphantasien reagieren, wird darauf zurückgeführt, dass sophistizierte epistemische Überzeugungen mit einer Neigung zu aufwendigen Verarbeitungsprozessen einhergehen. Diese Personen lassen sich in der Studie I durch die Reflexion der Alltagsphantasien ansprechen. Dabei scheinen sie so stark auf die geforderte Auseinandersetzung einzugehen, dass ihr fokussiertes Denken vorübergehend beeinträchtigt wird. Bei Untersuchungen der Güte des Verstehens des biologischen Prozesses „Gentransfer“ erzielten Personen mit reifen epistemischen Überzeugungen nach der Reflexion ihrer Alltagsphantasien im Mittel geringere Punktzahlen als Personen der Kontrollgruppe mit gleicher epistemischer Ausrichtung. 7.1.2 Der Irritationseffekt Dieser Irritationseffekt wird auf die ausgeprägte Bereitschaft zur kognitiven Auseinandersetzung dieser Personen zurückgeführt. Er lässt sich jedoch auch als Zeichen der subjektiven Bedeutsamkeit der Alltagsphantasien interpretieren. Da Alltagsphantasien an für das Individuum existentiell bedeutsame Themen wie Heiligkeit und Tod rühren, ist denkbar, dass sie eine Konzentration der gedanklichen Beschäftigung auf sich selbst erwirken. Durch die Verlängerung des Untersuchungszeitraumes (1 Woche) in der Studie II lässt sich ein Verschwinden der anfänglichen Irritation zeigen. Personen, die ihre Alltagsphantasien reflektieren, unterscheiden sich nicht von Personen der Kontrollgruppe. Erhalten die Personen in der Studie II jedoch zudem die Möglichkeit, sich über ihre Alltagsphantasien in der Gruppe auszutauschen, erzielen sie höhere Punktzahlen in den Transferaufgaben (zur Güte ihres Verstehens des Phänomens Gentransfer) als Personen der Kontrollgruppe. Dies weist darauf hin, dass die an sich aufwendige Verarbeitung der Personen mit sophistizierten epistemischen Überzeugungen nur unter der Bedingung des sozialen Austausches zu einer vertieften Verarbeitung der Informationen beim 237
Lernen führt. Sie profitieren offenbar von der intensiven Auseinandersetzung beim Verstehen des Prozesses des Gentransfers und erzielen hierdurch höhere Punktzahlen in der Transferaufgabe. Wie bereits in Kapitel 6.3.3 ausgeführt, ist diese positive Transformation des Irritationseffektes allerdings an die Bedingung des sozialen Austausches gebunden oder wird zumindest durch sie unterstützt. Die Effekte des sozialen Austausches werden in Abschnitt 7.4 genauer diskutiert. Personen mit weniger sophistizierten epistemischen Überzeugungen unterscheiden sich nicht von Personen der Kontrollgruppe mit gleicher epistemischer Ausrichtung. Die Ergebnisse der Studien I und II lassen sich vor diesem Hintergrund so interpretieren, dass sich diese Personen auf die Anforderung zur Reflexion der Alltagsphantasien nicht einlassen. Personen mit weniger sophistizierten epistemischen Überzeugungen weichen ungern von ihren Perspektiven auf die Welt ab (Klaczynyski 2000, Kardash & Scholes 1996) und neigen dazu, aufwendige Verarbeitungsprozesse zu umgehen (vgl. Kapitel 3.6.3.1). In Bezug auf die Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien lässt sich hier zusammenfassen, dass die Reife oder der Sophistizierungsgrad der epistemischen Überzeugungen die Auseinandersetzung mit den durch die Alltagsphantasien transportierten eigenen Welt- und Menschenbildern der impliziten Theorie der Realität beeinflusst. In welcher Weise Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen als Teile der impliziten Theorie der Realität auch auf einer inhaltlichen Ebene miteinander assoziiert sind, wurde im Zusammenhang mit der zweiten angenommenen Wirkrichtung untersucht. 7.2 Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt sich auf die Aktivierung epistemischer Überzeugungen aus Basierend auf dem theoretischen Modell von Hammer & Elby (2002) wird davon ausgegangen, dass die persönliche Epistemologie einer Person aus einer Fülle von einzelnen Bausteinen, den epistemischen Ressourcen, besteht. Diese umfassen verschiedene Ausprägungen von epistemischen Vorstellungen, die je nach Kontext aktiviert werden. Welche Art der persönlichen Epistemologie wirksam wird, ist damit kontextabhängig. Da epistemische Überzeugungen als kulturell bedingte Vorstellungen zur Konstitution und Genese von Wissen in der impliziten Theorie der Realität mit spezifischen Welt- und Menschenbilder zusammenhängen (siehe Kapitel 3.2), wird angenommen, dass sich die Reflexion der eigenen Perspektiven auf den Menschen und die Welt auch darauf auswirken, welche Muster epistemischer Überzeugungen aktiviert werden. 238
Innerhalb der Studie II war es deshalb von zentraler Bedeutung, bei der Erfassung der epistemischen Überzeugungen nicht den abgespeicherten Status der epistemischen Überzeugungen zu Biologie oder Gentechnik abzufragen, sondern tatsächlich die situationsspezifische Aktivierung epistemischer Vorstellungen abzubilden. Um die habituierten Muster epistemischer Überzeugungen zu Naturwissenschaften nicht explizit zu stimulieren, war es deshalb auch nicht möglich, die epistemischen Überzeugungen der Personen zu Beginn der Studie mit dem Fragebogen von Gerber (2004) zu erfassen. Die explizite Abfrage epistemischer Überzeugungen hätte im Sinne eines Priming43 zu einer Verstärkung der typischen habituierten Muster epistemischer Vorstellungen zu Naturwissenschaften geführt (vgl. Kapitel 3.3.2). Um die situationsspezifische Aktivierung der epistemischen Überzeugungen zu erfassen, wurde der Fragebogen zur Erfassung des Entwicklungsniveaus epistemischer Überzeugungen (FREE) von Krettenauer (2005) am Ende der Untersuchung eingesetzt. In diesem Fragebogen werden die Probanden nicht direkt nach ihren epistemischen Überzeugungen gefragt, sondern mit 12 kontroversen Behauptungen aus unterschiedlichen Wissensbereichen konfrontiert und aufgefordert, zu diesen Meinungskontroversen Stellung zu nehmen. Ihre epistemische Ausrichtung lässt sich dann aus ihren Antwortmustern ableiten. 7.2.1 Die Ergebnisse zur Veränderung der Aktivierung epistemischer Überzeugungen Den Ergebnissen der Studie II zufolge wirkt sich die explizite Reflexion von Alltagsphantasien auf die Konfiguration der aktivierten epistemischen Überzeugungen aus. Auch dieser Effekt wird dabei moderiert durch das epistemische Motiv und zeigt sich nur in der Versuchsbedingung, in der die Verarbeitung der Reflexion durch sozialen Austausch unterstützt wird. Die Implikationen dieser Befunde werden in Abschnitt 7.3 und 7.4 detailliert diskutiert. Personen mit ausgeprägtem epistemischen Motiv wählen bei der Beurteilung epistemischer Probleme (vgl. Kapitel 5.6.2.4) nach Reflexion der Alltagsphantasien im Gegensatz zur Kontrollgruppe verstärkt sophistizierte postrelativistische Positionen, in denen die Pluralität von Meinungen anerkannt wird, jedoch nicht als beliebig gilt. Zudem gelten Positionen aus einer postrelativistischen Perspektive als unterschiedlich gut begründbar und fundiert (Krettenauer 43
Priming bezeichnet die Verbesserung der perzeptuellen Wiedererkennungsleistung oder nachfolgenden Verarbeitung eines Stimulus nach vorhergehender Präsentation dieses Stimulus (Schacter et al. 1993, 161).
239
2005, 74). Gleichzeitig stimmten diese Personen den weniger sophistizierten absolutistischen und relativistischen Positionen weniger stark zu als Personen der Kontrollgruppe mit ausgeprägtem epistemischen Motiv. Es zeigt sich also eine stärkere Ablehnung der weniger sophistizierten Positionen. Epistemische Überzeugungen sind mit unterschiedlichen Welt- und Menschenbildern verknüpft. Zentrale Annahme ist, dass die Individuen durch die explizite Reflexion der Alltagsphantasien zur Auseinandersetzung mit ihren Welt- und Menschenbildern angeregt werden. Durch die Reflexion der Alltagsphantasien und den Austausch mit anderen Personen können viele unterschiedliche Welt- und Menschenbilder aktiviert werden. Hierdurch werden offensichtlich auch andere epistemische Überzeugungen aktiviert. Wie in Kapitel 6.3.2 bereits erläutert, geben die Befunde der Studie II zudem Einblick in den Aktivierungsmechanismus epistemischer Überzeugungen: Die Stimulation der Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien und damit die Einwirkung auf die persönliche Epistemologie erfolgt im Kontext der Auseinandersetzung mit dem Themenbereich der Gentechnik. Die Personen setzen sich an mehreren Tagen mit unterschiedlichen Themen der Gentechnik (Klonen, DNA-Analyse) auseinander und reflektieren ihre spontanen Assoziationen (Alltagsphantasien) zu diesem Thema. Reifere epistemische Überzeugungen zeigen sich bei der Erhebung nun vornehmlich in Bezug auf Probleme zu naturwissenschaftlichen Fragestellungen. Das bedeutet, dass die Versuchspersonen vor allem in ihren Antwortmustern zu den naturwissenschaftlichen Kontroversen, wie sie durch den Fragebogen zur Erhebung epistemologischer Überzeugungen (FREE, Krettenauer 2005) erfasst werden, sophistizierte epistemische Überzeugungen offenbaren. Die epistemischen Überzeugungen werden vom Individuum also offensichtlich in erster Linie in Bezug auf die jeweilige Domäne genutzt, in der sie aktiviert wurden. Reifere epistemische Überzeugungen in einer Domäne (Naturwissenschaft) werden den hier vorliegenden Ergebnissen zufolge also nicht automatisch auf einen anderen Themenbereich (etwa Sozialwissenschaft) übertragen. Die Ergebnisse der Studie II spiegeln keinen abrupten, übergreifenden oder „globalen“ Wandel der epistemischen Überzeugungen, sondern sind als eine kurzzeitige Veränderung im Kontext des Laborexperimentes zu interpretieren. Durch die Reflexion der Alltagsphantasien wurde in den Lernenden quasi ein produktiverer epistemischer Modus aktiviert, indem durch die Auseinandersetzung mit den aktivierten Welt- und Menschenbildern ein verändertes Muster von epistemischen Ressourcen zutage tritt. Die Unterstützung der Entwicklung dauerhaft sophistizierter epistemischer Überzeugungen bestünde nun darin, diese neuen aktivierten Muster so häufig in dieser Konfiguration zu induzieren, dass sie automatisiert (quasi verinnerlicht) 240
werden. In der Lernsituation im naturwissenschaftlichen Kontext würde dann sofort und automatisch ein Muster epistemischer Überzeugungen aktiviert, das vornehmlich sophistizierte epistemische Überzeugungen zur Veränderlichkeit von Wissen beinhaltet und Vorstellungen zur Funktion von Naturwissenschaft als sozialem System umfasst. Dies ist eine bedeutsame Perspektive auf den durchaus normativen Umgang mit epistemischen Überzeugungen in der Forschung, da die einzelnen epistemischen Ressourcen in ihrer Funktionalität für das Individuum anerkannt werden. Der Fokus liegt damit nicht auf den vermeintlich „richtigen“ Vorstellungen, sondern ruht auf den „richtigen“ Aktivierungen. Es wäre dann die Aufgabe von Lehrenden, Lernumgebungen und Kontexte zu schaffen, in denen die Aktivierung förderlicher epistemischer Ressourcen und damit die Verstärkung eines weltgewandten Systems epistemischer Überzeugungen unterstützt werden. 7.2.2 Nachdenklichkeit als Folge der Reflexion von Alltagsphantasien Die Effekte der Reflexion der Alltagsphantasien auf den Sophistizierungsgrad des aktivierten Musters epistemischer Überzeugungen sind vergleichbar mit Effekten von Kitchener & Fischer (1990) zum Einfluss von „social support“ auf das reflektierte Urteilen. Durch die Auseinandersetzung mit den eigenen und fremden Alltagsphantasien scheinen Personen zum Nachdenken verleitet und dabei unterstützt zu werden. Kitchener & Fischer (1990) führten Experimente zum „Reflective Judgement“ von Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu epistemischen Problemen durch. Über das Nachvollziehen der Argumentationsfiguren und Gedanken anderer Personen, die auf einem höheren epistemischen Reflexionsniveau angesiedelt waren als das des jeweilige Jugendlichen (Fischer et al. 1993, 107), wurden die Jugendlichen dazu angeregt, sich auf eine epistemisch komplexere Weise mit dem jeweiligen Problem auseinanderzusetzen. Sie wurden sozusagen zur Nachdenklichkeit angeregt (vgl. Kapitel 1.5.2.2. und 3.5.2). Möglich ist, dass durch die Auseinandersetzung mit den Argumentationen und epistemischen Überlegungen anderer Personen bereits bestehende epistemische Ressourcen in den Individuen in einer neuen Kombination aktiviert wurden und die Individuen deshalb reifere epistemische Überzeugungen zeigen. Wurden sie später ohne diese anregenden Argumentationsbeispiele zur Beurteilung eines Dilemmas aufgefordert, waren sie nicht in der Lage, das gleiche Muster epistemischer Überzeugungen zu reproduzieren. Dies lässt sich darüber erklären, dass die Jugendlichen offenbar in ihre „alten“ habituierten Muster aktivierter epistemischer Überzeugungen zurückfielen. 241
Die explizite Reflexion der Alltagsphantasien hat offenbar einen ähnlichen Effekt: In den Lernenden wird durch die Auseinandersetzung und den Austausch über die Welt- und Menschenbilder ein produktiverer epistemischer Modus aktiviert, wodurch Nachdenklichkeit angeregt wird. Durch die Reflexion der eigenen Alltagsphantasien und fremder Assoziationen zu naturwissenschaftlichen Themen sowie durch den Austausch über die Ideen und Vorstellungen und das Aufrühren der impliziten kulturellen Unterfütterungen erfolgt offensichtlich eine stärkere Auseinandersetzung mit sich selbst. Fahrenberg (2004) berührt in seinen Ausführungen zum Weltbild genau diesen Punkt: Ihm zufolge beeinflusst die Auseinandersetzung mit fremden Menschenbildern und Weltanschauungen die eigenen Auffassungen und kann zu ihrer Veränderung oder Verstärkung führen. Die psychologische Selbsterkenntnis, die nach Fahrenberg (2004) in der Distanzierung vom Selbstverständlichen, in Relativierung und kritischer Auseinandersetzung besteht, bezeichnet er als einen Prozess der Aufklärung. Dabei merkt Fahrenberg an, dass dieser Prozess von einigen Menschen als schwierig empfunden werden kann, weil die Auseinandersetzung mit den eigenen Auffassungen Verunsicherungen birgt: „Aus den bisherigen Selbstverständlichkeiten herauszutreten wird vielen Menschen nicht liegen, weil es verunsichernd, grüblerisch und zu philosophisch erscheint. Andere werden neugierig auf fremde und grundverschiedene Auffassungen sein“ (Fahrenberg 2004, 3). Offenbar kann die Auseinandersetzung mit der eigenen impliziten Theorie der Realität zu einem verstärkten Nachdenken führen, sie stimuliert Nachdenklichkeit. Allerdings liegt diese Auseinandersetzung offenbar nicht jedem: Die von Fahrenberg angesprochene verunsichernde Wirkung entspricht den Befunden des Laborexperimentes, denen zufolge nur Personen mit einem ausgeprägten epistemischen Motiv in Form eines hohen Need for Cognition auf die Reflexion der Alltagsphantasien eingehen. Personen mit einem geringen epistemischen Motiv neigen eher dazu anstrengende kognitive Aktivitäten zu vermeiden. Sie haben Scheu vor dem Umgang mit Unsicherheiten und meiden uneindeutige Situationen. Sie bevorzugen klare Antworten. Aus diesem Grund ist denkbar, dass die explizite Reflexion der Alltagsphantasien ihren Denkvorlieben nicht entspricht und sie sich der Reflexion versperren. Im folgenden Abschnitt wird nun dieser zentrale Einflussfaktor, das epistemische Motiv, in seiner Bedeutung für die Reflexion von Alltagsphantasien diskutiert.
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7.3 Die Wirkung des epistemischen Motivs Das epistemische Motiv spielt eine zentrale Rolle für den reflexiven Umgang mit Alltagsphantasien: Während Personen mit einem ausgeprägten epistemischen Motiv unter bestimmten Bedingungen von der Reflexion der Alltagsphantasien profitieren, zeigt sich bei Personen mit geringem epistemischen Motiv keine positive Wirkung. Ursprüngliche Annahme der Studie I war, dass durch die Reflexion der Alltagsphantasien implizite Welt- und Menschenbildaspekte dem systematischen und reflektiven Modus der Verarbeitung zugeführt werden. Damit würden die sonst impliziten Vorstellungen, die durch assoziative und automatische Prozesse aktiviert werden, in kontrollierte und bewusste Denkprozesse integriert. Hierdurch sollten dem Lernenden potentiell mehr Anknüpfungspunkte bei der Verarbeitung neuer Informationen zur Verfügung stehen. Gleichzeitig erhöht sich jedoch die Intensität der Verarbeitung, da systematische Verarbeitungsprozesse mehr kognitive Kapazität benötigen als automatische Verarbeitung. Diese Intensivierung der Verarbeitung könnte effektiveres Lernen ermöglichen. Durch die Reflexion der Alltagsphantasien wird die Komplexität der Lernsituation also erhöht. Potentiell birgt diese Erhöhung der Komplexität Vorteile für die Informationsverarbeitung, sie stellt jedoch auch besondere Anforderungen an die Lernenden. Aus den Ergebnissen der Untersuchungen wird ersichtlich, dass Individuen in Abhängigkeit ihres epistemischen Motivs unterschiedlich dazu in der Lage sind, mit der erhöhten Komplexität umzugehen, um von ihr zu profitieren. Diese Betrachtungsweise stimmt mit den Ergebnissen jüngerer Untersuchungen zum Umgang mit komplexen Denk- oder Entscheidungssituationen überein: Nach Van der Schalke et al. (2010) hängt die Performanz in komplexen Aufgaben oder komplexen Situationen von der Bereitschaft des Individuums zur Auseinandersetzung ab. Diese Bereitschaft wird von Van der Schalke et al. (2010, 356) als epistemische Motivation bezeichnet und als die Bereitschaft definiert, Anstrengungen aufzuwenden, um akkurate und gut informierte Schlüsse über die Welt zu entwickeln: „The willingness to expend effort to develop and hold accurate and well-informed conclusions about the world“. Van der Schalke et al. (2010) zufolge profitieren nur Personen mit ausgeprägter epistemischer Motivation von komplexen Aufgaben. Die epistemische Motivation in einer konkreten Situation hängt neben situativen Faktoren von Merkmalen der Person, also dispositionalen Motivationsmerkmalen, ab. Hierzu zählt das epistemische Motiv, das in den hier diskutierten Untersuchungen über das Bedürfnis nach Kognition, das Need for Cognition, operationalisiert wurde. Wie bereits im Zusammenhang mit dem 243
epistemische Motiv ausgeführt, basieren Personen mit hoher epistemischer Motivation ihre Entscheidungen und Urteile weniger auf bereits vorhandenen Heuristiken, sondern neigen stärker dazu, Informationen reflektiv und unabhängig zu verarbeiten (Van der Schalke et al. 2010, 357). 7.3.1 Ergebnisse in Abhängigkeit vom epistemischen Motiv Die Ergebnisse der Studie I stimmen mit den Ausführungen von Van der Schalke et al. (2010) überein: Nur Personen mit einem ausgeprägten epistemischen Motiv scheinen von der erhöhten Komplexität durch die Reflexion der Alltagsphantasien zu profitieren. Personen mit einem schwächeren epistemischen Motiv unterscheiden sich in ihren Ergebnissen nicht von der Kontrollgruppe. Offenbar gehen sie durch ihre Abneigung gegen aufwendige Denkprozesse nicht auf die Aufforderung zur Reflexion ein. Die Betrachtung der graphische Darstellung der moderierte Regressionsanalyse lässt noch eine andere Erklärung zu: Abbildung 6.10 lässt sich entnehmen, dass Personen mit einem geringen epistemischen Motiv nach Reflexion ihrer Alltagsphantasien teilweise weniger Punkte in den Tests zur Güte des Verstehens erzielen als Personen der Kontrollgruppe mit vergleichbarem epistemischen Motiv. Möglicherweise überfordert die erhöhte Komplexität der Lernsituation einiger Versuchspersonen hier sogar. Dies würde jedoch dafür sprechen, dass auch Personen mit schwachem epistemischen Motiv auf die Reflexion der Alltagsphantasien reagieren. Bei Personen mit ausgeprägtem epistemischen Motiv führt die Reflexion der Alltagsphantasien in der Studie II zu einer Veränderung der Aktivierung ihrer epistemischen Überzeugungen. Wie bereits erläutert deutet dies darauf hin, dass diese Personen in der kommunikativen Reflexion der Alltagsphantasien mit anderen Personen unterschiedliche Perspektiven austauschen. Hierdurch können mannigfache oder sich sogar widersprechende Welt- und Menschenbilder im Individuum aktiviert werden. Personen mit einem ausgeprägten epistemischen Motiv sind offenbar in der Lage, die unterschiedlichen Perspektiven zu vereinen, indem sie sich in reflexiven Denkprozessen engagieren (vgl. Haidt 2001, 820). Personen mit weniger ausgeprägtem epistemischen Motiv zeigen dagegen eher eine Aktivierung weniger reifer epistemischer Überzeugungen, wie sich aus den graphischen Darstellungen der moderierte Regressionsanalyse 6.3 und 6.4 ersehen lässt. Offenbar überfordert die komplexe Lernsituation diese Personen und lässt sie in einfachere Verarbeitungsmodi zurückfallen. Dies resultiert offenbar in der verstärkten Präferenz von epistemischen Heuristiken, die weni244
ger sophistizierten epistemischen Überzeugungen entsprechen. Den Abbildungen 6.3. und 6.4. zufolge wählen Personen mit weniger ausgeprägtem epistemischen Motiv mehr absolutistische und relativistische Positionen bei der Beurteilung epistemischer Probleme (vgl. Kapitel 5.6.2.4). In absolutistischen Positionen wird von der Existenz einer einzigen korrekten Sichtweise auf die Kontroverse ausgegangen, über die zum Beispiel Experten verfügen. In relativistischen Positionen werden verschiedene Meinungen auf unterschiedliche subjektive Perspektiven zurückgeführt, die als gleichberechtigt betrachtet werden. Diese Perspektiven lassen sich als epistemische Heuristiken verstehen („Man kann sich auf Experten verlassen.“, „Jeder hat ein Recht auf eine andere Meinung.“). Hierbei ist allerdings anzumerken, dass nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich aus den Abbildungen ersichtlichen Unterschiede zwischen Personen mit schwachem epistemischen Motiv in Versuchsgruppe und Kontrollgruppe signifikant unterscheiden. 7.3.2 Möglichkeiten des Einwirkens auf die epistemische Motivation Den Ergebnissen zufolge scheint die Reflexion der Alltagsphantasien nur für Personen mit einem ausgeprägten epistemischen Motiv einen Vorteil beim Lernen zu bedeuten. Personen, die über ein weniger ausgeprägtes Bedürfnis nach Kognition verfügen, werden durch die erhöhte Komplexität der Lernsituation möglicherweise überfordert. Dies bedarf weiterer Untersuchungen. Sollte dieser Effekt sich auch in Langzeitstudien bestätigen, bedarf es der Entwicklung didaktischer Interventionen, um die Überforderung aufzufangen. Allerdings konnte in den Laborexperimenten nur ein kleiner Ausschnitt der Wirkungsweise der Reflexion von Alltagsphantasien betrachtet werden. In den Untersuchungen wurde die Erfassung der epistemischen Motivation auf die Erfassung des epistemischen Motivs reduziert, das als eine in der Person verankerte Komponente betrachtet werden kann. Tatsächlich spielen jedoch neben diesem überdauernden motivationalen Personenmerkmal auch beeinflussbare situative Faktoren in die Stärke der aktuellen epistemischen Motivation hinein. Van der Schalke et al. (2010) zufolge lässt sich die epistemische Motivation erhöhen, indem die Bedeutsamkeit eines korrekten Urteils oder einer differenzierten Auseinandersetzung erhöht wird. Dies konnten Van der Schalke et al. (2010) experimentell im Zusammenhang mit Aushandlungsprozessen nachweisen. Eine weite Betrachtung der epistemischen Motivation – anstelle des engen Blickwinkels nur auf das personenspezifische epistemische Motiv als eine Komponente der epistemischen Motivation – birgt also eine weitere Lesart: Es 245
ist davon auszugehen, dass die situationsabhängige Komponente der epistemischen Motivation in Abhängigkeit von der Bedeutung des Lerngegenstandes variiert. Wird dem Gegenstand der Auseinandersetzung eine große Bedeutung zugewiesen, dann erhöht sich die Bereitschaft zur Auseinandersetzung, also die epistemische Motivation, und damit auch die Güte der Verarbeitungsprozesse. Die Reflexion der Alltagsphantasien bietet den Lernenden die Möglichkeit, sich mit ihren subjektiven Resonanzen auf den Lerngegenstand auseinanderzusetzen. Als Folge rückt der Lerngegenstand näher an die eigenen subjektiven Vorstellungen heran. Gebhard zufolge wird hierdurch die subjektive Bedeutsamkeit des Lerngegenstandes gesteigert. Der zentrale Gedanke des Ansatzes Alltagsphantasien ist nach Gebhard (2007, 113), dass „der Einbezug intuitiver Deutungsmuster, Symbolisierungen und Subjektivierungen“ in die reflektierte Beschäftigung mit Gegenständen „die Chance erhöht, dass Lernprozesse von den Subjekten als sinnhaft interpretiert werden können und den Lernprozess vertiefen“. Vor diesem Hintergrund ist es denkbar, dass sich die explizite Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien positiv auf die situative Komponente der epistemischen Motivation auswirken könnte: Wird auf diese Weise der Lerngegenstand im Unterricht immer wieder an die subjektive Lebenswelt herangerückt, könnte dies die epistemische Motivation erhöhen. Hierdurch wäre es möglich auch bei geringem epistemischen Motiv eine intensivere Verarbeitung zu induzieren, die positive Lerneffekte zur Folge hat. Personen mit weniger ausgeprägtem epistemischen Motiv scheinen zunächst durch die Reflexion der Alltagsphantasien überfordert, da das Nachdenken über die eigenen Positionen nicht ihren Denkneigungen entspricht. Werden sie jedoch immer wieder ermuntert, ihre eigenen Perspektiven auf den Lerngegenstand in den Unterricht einzubringen, könnte ihre epistemische Motivation gesteigert werden. Wirkt sich diese aktuell verstärkte Motivation positiv im Erleben und Lernen des Individuums aus, ist es sogar denkbar, dass hierdurch das überdauernde, in der Person verankerte epistemische Motiv verändert wird. Langfristig bestünde also die Möglichkeit, durch die Berücksichtigung der Alltagsphantasien auf die Ausprägung des epistemischen Motivs einzuwirken. Wird die Reflexion von Alltagsphantasien „geübt“ und gewöhnen sich die Lernenden an die zusätzliche Komplexität, dann könnte sich die Auseinandersetzung mit der impliziten Theorie der Realität auf die Bereitschaft zum Nachdenken auswirken.
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7.4 Die Bedeutung des sozialen Austausches Die Ergebnisse der Studie II legen nahe, dass epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien tatsächlich inhaltlich zusammenhängen: Die explizite Reflexion von konkreten Alltagsphantasien führt zu der Aktivierung von reiferen, sophistizierten epistemischen Überzeugungen. Dies wird vermutlich über die inhaltliche Auseinandersetzung mit den eigenen Welt- und Menschenbildern ausgelöst. Ein positiver Effekt der Reflexion der Alltagsphantasien zeigt sich im Experiment jedoch nur, wenn die Alltagsphantasien mit anderen diskutiert werden können. Offenbar wird die Auseinandersetzung mit eigenen spontanen Assoziationen durch den kommunikativen Austausch in der sozialen Gruppe erst fruchtbar. 7.4.1 Sozialer Austausch stimuliert mannigfache Perspektiven Eine mögliche Erklärung für die Bedeutung des sozialen Austausches besteht in dem Perspektivwechsel, der in der Kommunikation mit anderen Menschen automatisch erfolgt (Haidt 2001). Die Artikulation unterschiedlicher Alltagsphantasien und Perspektiven auf den Lerngegenstand aktivieren vielseitige oder sich sogar widersprechende Welt- und Menschenbilder im Individuum. Möglichweise besteht hierin die besondere Stimulation durch den sozialen Austausch. Um die unterschiedlichen Perspektiven zu vereinen, muss das Individuum sich in reflexiven Denkprozessen engagieren (vgl. Haidt 2001, 820). Durch diese intensive Auseinandersetzung mit der eigenen impliziten Theorie der Realität werden möglicherweise viele unterschiedliche Aspekte der Welt- und Menschenbilder aktiviert und erwogen. Letztendlich könnte dies eine breiter gefächerte Aktivierung von epistemischen Überzeugungen bewirken. Wie aus den Überlegungen zum inhaltlichen Zusammenhang von Alltagsphantasien und epistemischen Überzeugungen deutlich wird (zur übersichtlichen Darstellung der Zusammenhänge vgl. Tabelle 3.1), können einzelne Alltagsphantasien mit verschiedenen epistemischen Überzeugungen verknüpft sein. Dementsprechend ist es vorstellbar, dass unterschiedliche Alltagsphantasien sich widersprechende epistemische Überzeugungen aktivieren, wenn sie reflektiert werden. Das Individuum steht dann vor der Aufgabe, diese unterschiedlichen Perspektiven zu vereinen. Es wird aus diesem Grund für das Individuum erschwert, auf einfache Erklärungsmuster, wie „Es bringt oft nichts, sich selbst den Kopf zu zerbrechen, man sollte lieber einen Fachmann fragen.“ (Gerber 2004) zurückzufallen. 247
Im Sinne von Hannover & Kühnen (2002) wäre es auch denkbar, dass der operierende reflektive Verarbeitungsmodus dazu führt, dass über das verknüpfende Interface verstärkt auch mit ihm assoziierte epistemische Überzeugungen – also sophistizierte epistemische Überzeugungen – aktiviert werden (siehe Kapitel 3.4.3.4). Damit würde die Aktivierung nicht über die inhaltliche Nähe der Assoziationen erfolgen. Vielmehr würden durch den sozialen Austausch über die Alltagsphantasien verschiedene Aspekte der impliziten Theorie der Realität aktiviert. Zur Integration der multiplen Perspektiven würde der systematische Verarbeitungsmodus im Individuum aktiviert, der wiederum mit sophistizierten epistemischen Überzeugungen verknüpft ist. 7.4.2 Sozialer Austausch entlastet bei Komplexität Es ist jedoch auch eine andere Erklärung für die Bedeutung des kommunikativen Austausches bei der Reflexion der Alltagsphantasien denkbar. Wie in Kapitel 6.3.3 bereits angemerkt, nehmen Kirschner et al. (2009) an, dass gemeinschaftliches Lernen mit zunehmender Komplexität des Lerngegenstandes Vorteile gegenüber individuellem Lernen mit sich bringt. Nach dieser Perspektive entlastet der Austausch mit anderen Personen das Individuum von der Komplexität der Lernsituation. Der Einzelne muss nicht alle Faktoren alleine im Kopf behalten, sondern der „Cognitive load“ der Lernsituation wird auf mehrere Köpfe verteilt. Wie in Abschnitt 7.3 ausgeführt kann davon ausgegangen werden, dass durch die Reflexion der Alltagsphantasien implizite Welt- und Menschenbildaspekte dem systematischen und reflektiven Modus der Verarbeitung zugeführt werden. Dies ist ein kognitiv anstrengender Prozess, da Elemente der mühelosen assoziativen Verarbeitung in kontrollierte und bewusste Denkprozesse integriert werden, die mehr kognitive Kapazität in Anspruch nehmen. Dies erhöht die Intensität der Verarbeitung. Die Auseinandersetzung mit Alltagsphantasien ist zudem auch auf der inhaltlichen Ebene als eine solche komplexe Denktätigkeit einzustufen. Grundlage dafür bildet die Annahme, dass es sich bei den Alltagsphantasien um subjektiv bedeutsame Vorstellungen handelt, die im Zusammenhang mit Gentechnik existentiell bedeutsame und infolge dessen emotional aufrührende Themen, wie zum Beispiel Krankheit, Tod, Heiligkeit und Naturbedürfnis, aktivieren. Durch die Reflexion der Alltagsphantasien wird also auf zwei Ebenen die Komplexität der Lernsituation erhöht. Vor diesem Hintergrund wäre es einleuchtend, wenn der kommunikative Austausch mit anderen Personen eine Entlastungsfunktion übernähme. Auch Schraw & Moshman (1995, 364) weisen auf 248
die Bedeutung sozialen Lernens etwa für die Entwicklung der Metakognition hin. Kollektive Prozesse des Nachdenkens bringen demnach häufiger erfolgreiche Problemlösestrategien hervor als individuelles Nachdenken, weil eigene Konzepte durch die Diskussion mit anderen geklärt werden. 7.4.3 Soziale Interaktion als einzige Ursache der Effekte? Leider lässt sich aufgrund des Designs der Studie II nicht mit völliger Sicherheit ausschließen, dass die positiven Effekte für Personen der Versuchsgruppe mit sozialer Interaktion nicht alleine auf den Faktor des sozialen Austausches zurückzuführen sind. Wie in den Erläuterungen zum methodischen Vorgehen im Kapitel 6.1 schon beschrieben wurde, wurde darauf verzichtet eine zusätzliche Kontrollgruppe einzurichten, die ausschließlich sozial interagierte. Diese Entscheidung beschränkt nun die Interpretation der Ergebnisse bezüglich der Aussage, ob soziale Austauschprozesse nur in Verbindung mit der Aktivierung von intuitiven Vorstellungen einen Lernvorteil bedeuten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Personen allein aufgrund von sozialem Austausch Veränderungen in ihrer epistemischen Konfiguration oder Lernleistung zeigen. Werden jedoch die Ergebnisse der Interventionsstudien (Born 2007, Monetha 2009) in diese Überlegungen einbezogen, ist ein solcher Befund nicht zu erwarten: In den Interventionsstudien interagierten die Jugendlichen sowohl in den Kontrollklassen als auch in den Versuchsklassen in sozialen Gruppen und konnten sich während der gesamten Unterrichtseinheit miteinander austauschen. Dennoch schnitten nur die Klassen mit Berücksichtigung der Alltagsphantasien in Lernleistung und Motivation besser ab. Hiernach ist nicht anzunehmen, dass soziale Interaktion alleine ausreicht, um die Verarbeitungsprozesse in der Weise zu beeinflussen, wie dies durch die gemeinsame Reflexion der Alltagsphantasien erfolgte. 7.5 Didaktische Implikationen Aus den theoretischen Überlegungen und empirischen Ergebnissen dieser Arbeit lassen sich verschiedene didaktische Implikationen zum Umgang mit epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien ableiten. In einigen Abschnitten dieses Kapitels wurden Überlegungen zu diesen Implikationen bereits ausgeführt, auf sie wird nachfolgend verwiesen.
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7.5.1 Die Förderung von Nachdenklichkeit Die Ergebnisse der Studien zeigen, dass sich die Berücksichtigung von Alltagsphantasien beim Lernen lohnt: Die explizite Reflexion von Alltagsphantasien führt zu einer Aktivierung sophistizierter epistemischer Überzeugungen. Dies zeigen die Ergebnisse der Studie II. In den Lernenden wird durch die Auseinandersetzung und den Austausch über die eigenen Welt- und Menschenbilder ein produktiverer epistemischer Modus aktiviert, wodurch Nachdenklichkeit angeregt wird. Alltagsphantasien in Denkprozesse einzubinden scheint demnach zum Nachdenken zu verleiten und das Nachdenken zu unterstützen (vgl. Kapitel 7.2.2). Bisherige Studien zu den Wirkungen der Berücksichtigung von Alltagsphantasien im schulischen Unterricht konnten zeigen, dass ein Biologieunterricht, der die Alltagsphantasien der Schülerinnen und Schüler explizit zum Thema macht und einbindet, motivierender ist und zu einem nachhaltigeren Lernerfolg führt (Born 2007, Monetha 2009). Die Ergebnisse der vorliegenden Studie erweitern somit das Spektrum der dokumentierten positiven Auswirkungen durch die explizite Reflexion von Alltagsphantasien. Alltagsphantasien im Unterricht anzuerkennen und zu reflektieren bedeutet, die implizite Theorie der Realität von Individuen in das Unterrichtsgeschehen einzubinden. Haben Lernende Freude an der Auseinandersetzung, kann die Reflexion der Alltagsphantasien unmittelbar zu einer verstärkten Nachdenklichkeit führen, die sich in der Aktivierung reiferer Muster von epistemischen Überzeugungen äußert. Sophistizierte Vorstellungen zur Genese und Konstitution von naturwissenschaftlichem Wissen zu entwickeln, bildet die Grundlage für eine reflektierte Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Themen. Epistemische Überzeugungen haben demnach eine zentrale Rolle im Bildungsauftrag naturwissenschaftlichen Unterrichts (vgl. Kapitel 7.7.2.2). Die Bereitschaft, implizite Vorstellungen im Unterricht ernst zu nehmen und ihre Bedeutung für die Welterklärung von Individuen anzuerkennen, erfordert von Lehrenden eine offene Haltung gegenüber den subjektiven Resonanzen der Lernenden. Nach Gebhard (2007) kann die Auseinandersetzung mit Alltagsphantasien neue Perspektiven und Fragestellungen befördern. Hierdurch erhält das Individuum die Chance, in Auseinandersetzungen eine persönlichere und offenere Haltung einzunehmen. „Diese Art der Selbstwahrnehmung gilt es zu kultivieren. Dies erfordert eine didaktische Haltung, intuitive Vorstellungen nicht zu ignorieren und in fachlichen Auseinandersetzungen auch Schülervorstellungen zu berücksichtigen, geradezu willkommen zu heißen, die auf den 250
ersten Blick fernab der gegebenen Situation bzw. des Themas liegen“ (Gebhard 2007, 125). Die Ergebnisse der vorliegenden Studien zeigen zudem, dass der Austausch mit anderen Personen über die Alltagstagphantasien für ihre förderliche Wirkung essentiell ist. Über die eigenen Alltagsphantasien mit anderen zu sprechen und dadurch die Perspektiven anderer Menschen nachzuempfinden, unterstützt offenbar das Nachdenken. Ob die fruchtbaren Effekte durch den Austausch auf dem induzierten Perspektivwechsel beruhen, oder ob durch die Diskussion mit anderen Menschen eine kognitive Entlastung des Einzelnen erfolgt, ist in weiteren Untersuchungen genauer zu klären. 7.5.2 Nachdenklichkeit durch Irritation Eine wichtige didaktische Implikation der vorliegenden Ergebnisse erwächst aus dem Irritationseffekt, der als unmittelbare Reaktion auf die explizite Reflexion der Alltagsphantasien erfolgte. Lernende, die sich auf die Reflexion der Alltagsphantasien einlassen, erzielen in Aufgaben zur Güte ihres fokussierten Denkens über biologische Prozessen unmittelbar nach der Reflexion der Alltagsphantasien in der Studie I geringere Punktzahlen als Personen der Kontrollgruppe. Die Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien stürzt die Personen offenbar zunächst in eine Krise. Da Alltagsphantasien an für das Individuum existentiell bedeutsame Themen wie Heiligkeit und Tod rühren, ist es denkbar, dass sie eine Konzentration der gedanklichen Beschäftigung auf sich selbst erwirken. Durch die Verlängerung des Untersuchungszeitraumes (1 Woche) in der Studie II verwindet die anfängliche Irritation. Hier haben die Lernenden also die Möglichkeit die unmittelbare Irritation zu überwinden. Bei Lernenden, die zudem durch die Möglichkeit des sozialen Austausches in ihrer Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien gestützt werden, transformiert sich der Irritationseffekt positiv. Sie profitieren von der intensiven Auseinandersetzung beim Verstehen der biologischen Prozesse und offenbaren die Aktivierung eines produktiveren epistemischen Modus. Versteht man die Auseinandersetzung mit epistemischen Überzeugungen als eine Auseinandersetzung mit dem Selbst- und Weltverständnis, ist die unmittelbare Irritation nicht verwunderlich: Wie bereits erläutert, verweist Fahrenberg (2004) in seinen Ausführungen zum Weltbild auf die verunsichernde Wirkung der Auseinandersetzung mit Menschenbildern und Weltanschauungen. Die mit der Auseinandersetzung verbundene Distanzierung vom Selbstverständlichen, die Relativierung und 251
kritische Auseinandersetzung bezeichnet Fahrenberg (2004) als einen Prozess der Aufklärung. Dieser Prozess kann von einigen Menschen als schwierig empfunden werden, weil die Auseinandersetzung mit den eigenen Auffassungen Verunsicherungen birgt: „Aus den bisherigen Selbstverständlichkeiten herauszutreten wird vielen Menschen nicht liegen, weil es verunsichernd, grüblerisch und zu philosophisch erscheint“ (Fahrenberg 2004, 3). Combe & Gebhard (2009) verstehen Krisen und Irritationen nach Copei (1969) als „fruchtbare Momente in Bildungsprozessen“. Ihnen zufolge werden „persönlichkeitswirksame Erfahrungen oft in einer Konstellation der Krise und ausgehend vom Zustand der Irritation gemacht“ (Combe & Gebhard 2009, 551). Die Irritation wird „als subjektive Eröffnungsbedingung eines Erfahrungsprozesses“ verstanden (Combe & Gebhard 2009, 559). Demzufolge ist denkbar, dass die positiven Effekte der Reflexion der Alltagsphantasien gerade auf der zunächst ausgelösten Irritation beruhen. Die Reflexion der Alltagsphantasien wirkt quasi als Schlüssel, um Prozesse nachhaltiger Auseinandersetzung anzustoßen. Ihre besondere Wirkung würde demnach gerade in der besonderen Inanspruchnahme des Individuums bestehen (Oschatz et al. 2009). Um persönlich wirksame Lernprozesse möglich zu machen, ist es notwendig, dass der „Schutz der Gewohnheit“ verlassen wird (Combe & Gebhard 2009, 552). Tritt ein Lernender aus seinen bisherigen Selbstverständlichkeit heraus und hinterfragt seine Welt- und Menschenbilder in der Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien, kann dies verunsichernd und beunruhigend wirken. Diese Krise drückt sich in einer Irritation des Individuum aus und kann nach Combe & Gebhard (2009, 552) eine intensive Wechselbeziehung zwischen dem Subjekt und dem Lerngegenstand (Erfahrungsgegenstand) stimulieren.44 Hierbei spielt die Phantasie eine wichtige Rolle: „Mittels der Phantasie und korrespondierenden inneren Bildern findet eine intensive Austauschbewegung zwischen Ich und der Sache statt“. Dies fassen Combe & Gebhard (2009, 557) als „Sinnarbeit“ oder den „anspruchsvollen Prozess der Konstruktion und Rekonstruktion einer Problemlage und möglicher Lösungen“ zusammen. Um die Phantasie zu dieser Sinnarbeit anzuregen, bedarf es einer Situation, die Ruhe und Gelöstheit, quasi einen Rückzugsraum bietet. Hier besteht die Rückbindung an die soeben ausgeführte didaktische Haltung, die notwendig ist, um die fruchtbare Auseinandersetzung mit Alltagsphan44 Sie kann jedoch zu einer Sperrung des Individuums führen, in der die mentale Beschäftigung mit dem Gegenstand der Krise zurückgewiesen wird (Combe & Gebhard 2009, 554). Diese Reaktion könnte bei Personen mit weniger ausgeprägtem epistemischen Motiv vorliegen. Sie neigen dazu Situationen kognitiver Anstrengung zu vermeiden und zeigen in den Untersuchungen keine Reaktion auf die Reflexion der Alltagsphantasien. Möglicherweise steigen sie schon zu Beginn der gefühlten Irritation aus dem Prozess der Auseinandersetzung aus.
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tasien zu ermöglichen. Nach Gebhard bedarf es „einer didaktische Haltung, die die Phantasien und Konnotationen, die Symbolisierungen, die ein Lerngegenstand auslöst, nicht als unpassendes Ornament des eigentlichen Lernstoffes denunziert“, um sinnerfüllte Lernprozesse zu ermöglichen (Combe & Gebhard 2009, 565). Die irritierende Wirkung der Reflexion der Alltagsphantasien darf deshalb nicht abschrecken oder vermieden werden, sondern sollte in Lernprozessen als produktive Krise verstanden werden, die Teil der fruchtbaren Auseinandersetzung ist. 7.5.3 Epistemisch anregende Lernkontexte schaffen Wie in Kapitel 7.2 ausgeführt, kann die Aktivierung sophistizierter epistemischer Überzeugungen im Unterricht induziert werden. Wie unter Abschnitt 7.5.1 ausgeführt, wird dies auch durch die Ergebnisse der Studie II gezeigt. Dabei ist davon auszugehen, dass Menschen mannigfache Vorstellungen zu Wissen und Wissenserwerb haben. Hammer & Elby (2002) zufolge verfügen schon Kinder über sophistizierte epistemische Überzeugungen und Ideen, die der erlebten Erfahrung entstammen und relativ einfach strukturiert sind. Reife epistemische Überzeugungen müssen deshalb nicht neu erlernt werden, sondern die Anforderung besteht darin, sie im Kontext der Lernsituation zu aktivieren. Für didaktische Überlegungen ist dies zentral: Die Aufgabe von Lehrenden besteht darin, Lernumgebungen und Kontexte zu schaffen, in denen die Aktivierung förderlicher epistemischer Ressourcen und damit die Verstärkung eines weltgewandten Systems epistemischer Überzeugungen unterstützt werden. Um mit naturwissenschaftlichem Unterricht dauerhaft sophistizierte epistemische Überzeugungen zu verknüpfen, muss die Aktivierung dieses produktiveren epistemischen Modus also immer wieder unterstützt und induziert werden. Wie die Ergebnisse der Studie II zeigen, ist die Reflexion der Alltagsphantasien von Lernenden ein Weg, sophistizierte epistemische Überzeugungen zu aktivieren (ein weiterer Weg wurde etwa durch Kitchener & Fischer (1990) aufgezeigt, vgl. Kapitel 7.2.2). Durch die explizite Reflexion der Alltagsphantasien besteht offenbar die Möglichkeit, die habituierten Muster aktivierter epistemischer Überzeugungen aufzubrechen. Um den produktiveren epistemischen Modus auf diese Weise dauerhaft mit naturwissenschaftlichem Lernen in Verbindung zu bringen, bedarf es eines beständigen reflektiven Umgangs mit Alltagsphantasien. Hierdurch könnten die neuen aktivierten Muster epistemischer Überzeugungen als Aktivierungen im Zusammenhang mit naturwissenschaftlichem Unterricht auf lange Zeit sogar quasi „automatisiert“ werden. 253
Insgesamt bedeutet dies, dass Unterricht dauerhaft umgestellt und so strukturiert werden muss, dass Lernende zum Nachdenken über die Hintergründe naturwissenschaftlicher Lerninhalte angeregt werden. Lederman & Abd-ElKahlick (1998) halten es für unwahrscheinlich, dass Lernende und Lehrende nur durch das Lernen von naturwissenschaftlichen Inhalten und Prozessen erkennen, dass Naturwissenschaft vorläufig und als Produkt menschlicher Imagination und Kreativität zu verstehen ist. Sie gehen davon aus, dass es gezielter Anstrengung von Seiten der Lehrenden bedarf, um Lernende explizit dabei zu leiten, wenn sie angemessene epistemische Überzeugungen entwickeln. „It is highly unlikely that students and their teachers will come to understand that science is tentative, empirically-based, partly the product of human imagination and creativity, and is influenced by social and cultural factors solely through learning about the content of science or its processes. We believe that a concerted effort on the parts of science educators and teachers to explicitly guide learners in their attempts to develop proper understandings of the nature of the scientific enterprise is essential“(Lederman & Abd-El-Khalick 1998, 83).
Wird Nachdenken über Biologie, Chemie oder Physik durch den Unterrichtsstil mit Nachdenken über Perspektiven auf den Menschen und die Welt verknüpft, dann erhöht sich die Chance, dass zukünftig automatisch reifere epistemische Überzeugungen aktiviert werden, wenn naturwissenschaftliche Inhalte im Fokus stehen. 7.5.4 Lernen über Denkprozesse Vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der modernen Kognitionspsychologie, wie sie in Kapitel 3 ausgeführt wurden, sind automatische und unbewusste Prozesse essentieller Bestandteil des menschlichen Denkens. Angenommen wird, dass die Verarbeitungskapazität der unbewussten und bewussten Prozesse zusammengenommen 200.000 mal höher ist als die der bewussten Prozesse alleine (Norretranders 1998, 125f.). Der Großteil menschlicher Informationsverarbeitung entzieht sich demnach dem menschlichen Bewusstsein. Dieser Perspektive zufolge sind Stereotype, Schemata und Intuitionen wichtige adaptive Mechanismen, ohne die Menschen in ihrem Alltag nicht funktionieren würden. Diese Erkenntnisse erweitern die Perspektive auf Denk- und Lernprozesse. Schule sollte die Potentiale automatischer Verarbeitungsprozesse beim Lernen ernst nehmen. Spontane Assoziationen, Intuitionen und implizite Vorstellungen sind essentielle Ergebnisse menschlicher Verarbeitungsprozesse und übernehmen Schlüsselfunktionen in Denkprozessen. 254
Ein Ziel naturwissenschaftlichen Unterrichts ist es, im Lernen über empirische und experimentelle Wissenschaften eine sachliche Haltung und Auseinandersetzung mit biologischen, chemischen oder physikalischen Phänomenen zu fördern. Durch den Fokus auf systematische und logische Denkweisen können automatische Denkprozesse leicht aus dem Blick verloren werden. Im menschlichen Denken lassen sich automatische und impulsive Verarbeitungsprozesse jedoch nicht von systematischen und reflektiven Denkprozessen trennen: Beide Modi des Denkens interagieren. Automatische und impulsive Verarbeitungsprozesse finden ununterbrochen statt und „führen ein Eigenleben“, wenn sie nicht wahrgenommen und eingebunden werden. Bewusstsein hierfür könnte bei LehrerInnen dazu führen, dass impulsive und spontane Reaktionen weniger als Abschweifungen, sondern als notwendiger Bestandteil von Denkprozessen im Unterricht Berechtigung bekommen. Dies könnte dazu beitragen, dass Lehrkräfte eine Wachheit und „Raum gebende“ Haltung gegenüber den subjektiven Resonanzen von Lernenden entwickeln. Vor dem Hintergrund dieses Wissens werden auch die Ergebnisse zur Bedeutung des Lernkontextes für die Aktivierung von epistemischen Überzeugungen eingängig (vgl. Kapitel 7.5.3). 7.6 Kritik am forschungsmethodischen Vorgehen Die empirische Untersuchung zum Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen wurde im Laborexperiment mit Studierenden untersucht. Mit dieser Wahl des Forschungsdesigns ist die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf die Abläufe in der Realität schulischen Unterrichtes eingeschränkt. Alltagsphantasien und epistemische Überzeugungen wurden in den vorangegangenen Kapiteln als implizite Vorstellungen vorgestellt, die wichtige Funktionen in Lernprozessen haben. Die Untersuchung impliziter Vorstellungen ist an forschungsmethodische Schwierigkeiten gebunden. Auch die Erhebung epistemischer Überzeugungen ist ein viel diskutiertes Problem in der Forschung, da unterschiedliche Instrumente in der Forschung eingesetzt werden, die verschiedenartige Schwierigkeiten mit sich bringen. 7.6.1 Ökologische Validität Eine wichtige Einschränkung der hier präsentierten Untersuchung besteht in der künstlich erzeugten Lernsituation im Labor. Durch die Entscheidung für eine Untersuchung der Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und 255
Alltagsphantasien außerhalb des schulischen Kontextes bleiben Faktoren, die sich aus dem Schulalltag ergeben, aus den untersuchten Wirkzusammenhängen ausgeschlossen. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, dass die hier dargestellten Studien an zwei Interventionsstudien (Born 2007, Monetha 2009) zur Bedeutung von Alltagsphantasien beim Lernen anschließen, die als Feldstudien über längere Zeiträume in Schulen durchgeführt wurden. Somit war es möglich, die Ergebnisse der hier präsentierten Studien mit den Befunden aus unterrichtlichen Situationen abzugleichen. Da jedoch das Ziel der vorliegenden Untersuchung war, die Verarbeitungsprozesse beim Lernen mit Alltagsphantasien zu untersuchen, ohne dass weitere Faktoren wie Klassensituation oder Einfluss der Lehrperson als nicht kalkulierbare Faktoren in die Verarbeitungsprozesse einspielen, wurde bewusst das kontrollierte Design des Laborversuchs gewählt. Die Entscheidung für dieses Design ermöglichte es, alle Versuchsbedingungen für Versuchs- und Kontrollgruppen konstant zu halten und nur die explizite Reflexion der Alltagsphantasien zu variieren. Hierdurch lassen sich die erzielten Ergebnisse mit größtmöglicher Sicherheit auf den Umgang mit Alltagsphantasien zurückführen. Die Entscheidung für dieses Design geht jedoch mit Einschränkungen in der ökologischen Validität einher. Das künstliche Lernumfeld der Laborsituation könnte die am Versuch teilnehmenden Personen möglicherweise beeinflussen. Es ist möglich, dass sich die Verarbeitung der Alltagsphantasien in der Unterrichtssituation von der im Labor beobachteten Verarbeitung unterscheidet. So könnte eine gelöstere und weniger konzentrierte Atmosphäre in Unterrichtssituationen das Nachsinnen über die eigenen spontanen Alltagsphantasien begünstigen. Zudem ist die Bedeutung des Kontextes für die Aktivierung automatischer Assoziationen, wie Alltagsphantasien, in dieser Arbeit dargestellt worden. Es ist also möglich, dass sich die Versuchssituation auch auf die Assoziationen der Versuchspersonen ausgewirkt hat. In Reaktion auf die Ergebnisse der Studie I wurde in der Studie II eine weitere Versuchsbedingung „soziale Interaktion“ eingeführt, um eine Annäherung an die Klassensituation zu erzielen und den kommunikativen Austausch über die Alltagsphantasien in die Versuchssituation zu implementieren. Hierbei ist anzumerken, dass sich dieser Austausch von den Austauschprozessen im Unterricht unterscheidet. SchülerInnen sind einander im Klassenverband bekannt und es besteht deshalb möglicherweise ein anderes Vertrauensverhältnis zu den Klassenkameraden, als zu einer fremden Person in der Versuchssituation bestehen kann. Ziel der Laboruntersuchung war es jedoch, Einsichten in die bisher unbekannten Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphan256
tasien zu bekommen. Dabei handelt es sich nicht um die Manipulation einer einzelnen Variablen, sondern es galt zwei in der Erfassung schwierige implizite Konstrukte miteinander in Beziehung zu setzen. Eine Untersuchung im Feld hätte eine Fülle von weiteren Erklärungsmöglichkeiten für die Ergebnisse bedeutet, die in die Interpretation hätten einbezogen werden müssen. Für eine erste Untersuchung der Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien bedeutet die kontrollierte Versuchssituation also ein größeres Maß an Klarheit, die dafür mit einer größeren Unsicherheit bezüglich der Anwendbarkeit der Ergebnisse einher geht. Aus den gewonnenen Ergebnissen können nun jedoch weitere Implikationen abgeleitet werden, die dann auf ihre Tauglichkeit im Schulkontext getestet werden müssen. Auch die Untersuchung von Studierenden anstelle von SchülerInnen schränkt die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf schulische Alltagssituationen ein. Es wird jedoch davon ausgegangen, dass sich die grundlegenden Verarbeitungsweisen, die an die Reflexion der Alltagsphantasien gebunden sind, nicht aufgrund des Altersunterschiedes unterscheiden. Ein Unterschied zwischen SchülerInnen und Studierenden besteht allerdings vermutlich im Assoziationsrahmen: Ältere Personen verfügen aufgrund eines größeren Erfahrungsschatzes wahrscheinlich über mehr Assoziationen. Aus diesem Grund wurde davon ausgegangen, dass sich auch die vorherrschenden Alltagsphantasien unterscheiden könnten. Um auszuschließen, dass in der Untersuchung Vorstellungen verwendet werden, die in dieser Form bei SchülerInnen nicht vorkommen, wurden die aktivierten Alltagsphantasien in Voruntersuchungen auf ihre Verfügbarkeit bei SchülerInnen und Studierenden getestet. Aufgrund dieses Vergleiches wurden für die Hauptuntersuchung die vier Vorstellungen ausgewählt, die sowohl bei SchülerInnen, als auch bei Studierenden die höchste Zugänglichkeit hatten (vgl. Kapitel 5.1.1.1). Im Hinblick auf die epistemischen Überzeugungen ist davon auszugehen, dass Studierende bereits über stärker sophistizierte epistemische Überzeugungen verfügen als SchülerInnen. Die untersuchten Studierenden sind in Bezug auf ihre epistemischen Überzeugungen zudem vermutlich eine homogenere Gruppe, als es von Schülergruppen anzunehmen ist. Vor diesem Hintergrund ist allerdings eher zu erwarten, dass die erfassten Effekte in der Untersuchung mit SchülerInnen stärker ausfallen als in der vorliegenden Untersuchung an Studierenden.
257
7.6.2 Problem der Erfassung impliziter Vorstellungen Die vorliegenden Studien dienten dazu, die Bedeutung impliziter Vorstellungen in Lernprozessen zu untersuchen. Damit sind zwei grundlegende Probleme verknüpft: (1) Zum einen lässt sich fragen, wie es möglich sein soll, implizite Vorstellungen oder Gedanken überhaupt abzubilden. Diese Schwierigkeit wird in vielen Untersuchungen zu implizitem Wissen über eine Hilfskonstruktion gelöst, indem es zum Beispiel über eine quantitative Dissonanz zwischen zwei Verhaltensmaßen nachgewiesen wird. Dabei steht ein Maß für die bewusste Verfügbarkeit des Wissens einem anderen für die implizite Verfügbarkeit des Wissens gegenüber (Haider 2000, 182). In den letzten Jahren sind neue Untersuchungsmethoden, wie der Implicit Association Test (IAT) oder das Evaluative Priming entwickelt worden, die nicht auf der bewussten Evaluation des Einstellungsobjektes selbst beruhen, sondern etwa Reizreaktionszeiten messen. Der psychologische Status impliziter Erhebungsmethoden ist jedoch sehr unklar (Strack & Deutsch 2004, 239). Die impliziten epistemischen Überzeugungen wurden mit dem von Krettenauer (2005) entwickelten Fragebogen zur Erfassung des Entwicklungsniveaus epistemologischer Überzeugungen (FREE) erhoben. Bei seiner Beantwortung wählen die Versuchspersonen eine Position zu einer Kontroverse aus, die ihrer Meinung nach ihre eigene Position am Besten widerspiegelt. Die epistemische Ausrichtung der Personen wird aus diesen Positionswahlen abgeleitet. Somit werden die impliziten epistemischen Überzeugungen quasi „versteckt“ erfasst. (2) Zum anderen stellt sich im Zusammenhang mit der Untersuchung impliziter Vorstellungen die Frage, wann ein impliziter Gedächtnisinhalt als implizit zählt. Praktisch sind implizite Gedächtnisinhalte nicht länger implizit, wenn es gelingt sie zu erfassen. Denn in dem Moment ihrer Benennung werden implizite oder unbewusste Vorstellungen explizit und damit bewusst. Wie lässt sich also die Reflexion impliziter Gedächtnisinhalte, wie der Alltagsphantasien, verstehen? Im Fokus dieser Arbeit standen implizite kulturell bedingte Vorstellungen, von denen angenommen wird, dass Individuen sie im Laufe ihrer Sozialisation und Enkulturation erlernen und verinnerlichen. Diese Verinnerlichung ist dabei als Automatisierung der Gedanken zu verstehen. Diese „Automatisierung“ ist der Schlüsselbegriff, um zu verstehen, wieso auch implizites Wissen potentiell bewusstseinsfähig und verbalisierbar ist. Nach Strack & Deutsch (2004) zeichnet sich implizites Wissen nicht dadurch aus, dass es an sich in erster Linie unbewusst oder implizit vorliegt. Viel258
mehr wird implizites Wissen durch den Verarbeitungsweg, durch den es in eine Situation eingebracht wird, zu einer implizit wirkenden Kognition. Ein routinierter Tierpfleger hat die Verhaltensweisen seiner Tiere durch multiple Erfahrung verinnerlicht. Er ist sofort in der Lage zu erkennen, wann sich ein Tier ungewöhnlich verhält oder wann alles in Ordnung ist und reagiert in seiner täglichen Praxis unmittelbar darauf. Wird er nach einer Fütterung gefragt woran er erkennen konnte, dass es den Tieren gut ging und er gefahrlos das Gehege betreten konnte, wird er von der Frage überrascht sein. Ihm ist womöglich gar nicht aufgefallen, dass keine Gefahr drohte. In der tatsächlichen Fütterungssituation wirkte sein Wissen über das typische Verhalten der Tiere implizit. Nach kurzem Nachdenken wird er jedoch beschreiben können, wie sich das typische Verhalten seiner Tiere charakterisieren lässt. Nach dieser Konzeption können vermeintlich „implizite“ kognitive Konzepte durchaus reflektiven Lernprozessen entspringen und sind deshalb auch potentiell bewusstseinsfähig und kontrolliert aktivier- und abrufbar. Der Grad ihrer Automatisierung sowie die Verknüpfung mit anderen Faktoren einer Situation bestimmt jedoch, ob sie in konkreten Situationen implizit oder explizit wirken. Für das Konzept der Alltagsphantasien wird daher angenommen, dass SchülerInnen, die etwa eine ablehnende oder furchtsame Haltung gegenüber Gentechnik haben, in der Reflexion die Gründe dieser Überlegungen beschreiben können, wie etwa die Überzeugung „Der Mensch darf nicht Gott spielen“. Durch das Nachdenken über unmittelbare Reaktionen oder Vorstellungen können die sonst implizit mitgedachten Assoziationen „ans Tageslicht“ geholt werden. Allerdings sind der Zugänglichkeit automatisierter Vorstellungen Grenzen gesetzt. Gerade in Bezug auf kulturelles Wissen wird vielfach darauf hingewiesen, dass es nur beschränkt möglich ist, die grundlegenden eigenen Perspektiven auf die Welt zu hinterfragen. LeVine nutzt den Begriff „implicit culture“, um auf die Regelmäßigkeiten der Gepflogenheiten zu verweisen, die den Angehörigen einer Kultur nicht auffallen, die ihnen nicht bewusst und deshalb auch schwer zu verbalisieren sind (1984, 76). Da Menschen fast mit der Geburt beginnen, die Welt vor dem Hintergrund einer bestimmten Weltauffassung zu betrachten, ist die kulturelle Brille quasi „angewachsen“. Die Art und Weise etwa wie wir Distanz zu anderen Menschen in einer Supermarktschlange halten ist automatisiert, steht jedoch auch mit erlernten kulturellen Menschenbildern in Zusammenhang. Dennoch werden wir es als unangenehm empfinden, wenn sich jemand zu nah an uns heran stellt, selbst wenn wir in der Lage sein sollten, dies zu erkennen und darüber zu reflektieren. 259
Haidt (2001, 825) spricht in diesem Zusammenhang auch von „Embodiment“. Verinnerlichte Vorstellungen werden also nicht nur automatisiert, sondern sie können „gefühlt“ werden und damit quasi in „Fleisch und Blut“ übergehen. Es ist also davon auszugehen, dass implizite Perspektiven auf den Menschen und die Welt nur bedingt erfasst und der Reflexion zugänglich gemacht werden können. 7.6.3 Problem der Erfassung epistemischer Überzeugungen Eine wichtige Einschränkung der hier präsentierten Untersuchung besteht in der Erfassung epistemischer Überzeugungen. In Übereinstimmung mit anderen Forschern (Hammer & Elby 2002, King & Kitchener 2004) ist zu sagen, dass nicht angenommen werden darf, dass ein derart intellektuell komplexes und reichhaltiges Konstrukt wie das der persönlichen Epistemologie sich durch ein Set normativer Items in einem Fragebogen vollständig abbilden lässt. Verschiedene Wissenschaftler auf diesem Gebiet betonen unterschiedliche Dimensionen und Komponenten epistemischen Wissens in ihren Untersuchungen epistemologischer Orientierungen, sowie die methodologische Vielfalt an möglichen Untersuchungsmethoden. Die Validität von Fragebögen als Erhebungsinstrumente für epistemische Überzeugungen steht immer wieder in der Kritik (vgl. Bromme 2005, Hofer & Pintrich 2002; Trautwein & Lüdtke 2008). Besonders der von Schommer (1990, 1998) entwickelte Fragebogen zur Erfassung epistemischer Überzeugungen ist vielfach kritisiert worden, da sich die von Schommer berichteten Faktoren nicht replizieren ließen. In einer Untersuchung von Qian & Alvermann (1995) etwa mussten 21 von 53 Items von den weiteren Berechnungen ausgeschlossen werden, da sie in der explorativen Faktorenanalyse keine bedeutsamen Faktorladungen erreichten. Ein Hauptproblem der Fragebogeninstrumente stellt zudem die Missverständlichkeit der Items dar. Trautwein et al. (2004, 190) zufolge ist häufig nicht klar, woran die Versuchspersonen bei der Beantwortung der Items denken: „Vereinfacht ausgedrückt lassen die üblicherweise eingesetzten Instrumente zur Erfassung allgemeiner epistemologischer Überzeugungen die Untersuchungsteilnehmer selbst entscheiden, ob sie bei den Items an das Einmaleins, an empirische Beobachtungen oder an die Relativitätstheorie denken“. Diese Problematik trifft potentiell auch für die in der Studie I eingesetzten Skalen von Gerber (2004) zu. Allerdings erfolgte die Erhebung der epistemischen Überzeugungen, nachdem sich die Versuchspersonen bereits zwei Stunden mit Überlegungen und Texten zum Themenspektrum der Gentechnologie auseinandergesetzt hat260
ten. Es ist deshalb davon auszugehen, dass die Versuchspersonen bereits auf die Domäne der Naturwissenschaft gedanklich eingestellt waren, als sie mit dem Fragebogen konfrontiert wurden. Alternativ zu den Fragebogeninstrumenten werden in der Forschung Interviewverfahren zur Erfassung der epistemischen Überzeugungen eingesetzt. Als Beispiel wäre hier das Reflective Judgment Interview von King & Kitchener (2002) zu nennen. Wood (1997) zufolge zeichnet sich diese Erhebungsmethode durch befriedigende bis gute psychometrische Eigenschaften aus. Aufgrund der relativ großen Stichproben der beiden hier durchgeführten Studien ließ sich eine derartig aufwendige Erhebungsweise epistemischer Überzeugungen jedoch nicht realisieren. Aus diesem Grund wurde in dieser Untersuchung auf die Erhebung epistemischer Überzeugungen über Fragebögen zurückgegriffen. Der von Krettenauer (2005) entwickelte und in der Studie II eingesetzte Fragebogen zur Erfassung des Entwicklungsniveaus epistemologischer Überzeugungen (FREE) wird auch als Kompromiss zwischen Fragebogen und Interview bezeichnet (Trautwein & Lüdtke 2008, 279). In einer Validierungsstudie konnte Krettenauer (2005) befriedigende interne Konsistenzen für die Indizes des FREE nachweisen (alle Cronbachs D > .60), wobei der D-Index verglichen mit dem W-Index etwas bessere Reliabilitätskennwerte erzielte (Krettenauer 2005, 78). Trautwein & Lüdtke (2008) führten eine erweiterte Validierung des FREE durch, die die befriedigende bis ausreichende Konsistenz des FREE bestätigte. Dabei untersuchten sie auch die Vorhersagekraft der Kompositskalen (D-Wert, W-Wert) als auch der Subskalen (Absolutismus, Relativismus, Postrelativismus) im Hinblick auf die Abiturnote und Zusammenhänge mit akademischen Selbstkonzepten und Persönlichkeitsvariablen. Trautwein & Lüdtke (2004, 289) betonen die Vorhersagekraft des DWertes: Je höher der D-Wert, desto besser fiel die Abiturnote aus. Sie weisen zudem auf die Korrelationen mit dem verbalen Selbstkonzept sowie mit der Dimension der Offenheit nach der Fünf-Faktoren-Konzeption hin. 7.7 Implikationen für die Forschung – Neue Perspektiven In diesem letzten Teil des Kapitels stehen die Implikationen der Ergebnisse dieser Arbeit für die jeweiligen Forschungsbereiche zu epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien im Mittelpunkt. Die theoretischen Überlegungen zur impliziten Theorie die Realität und die empirischen Befunde zu den Wechselwirkungen von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien beim Lernen ergänzen die Forschung zu epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien und werfen neue Forschungsfragen und Überlegungen auf. 261
7.7.1 Implikationen für die Forschung zu epistemischen Überzeugungen Mit der Zielsetzung der Arbeit epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien miteinander in Beziehung zu setzen, wurde unter anderem auf die immer lauter werdende Forderung in der Forschung zu epistemischen Überzeugungen reagiert, die persönliche Epistemologie nicht in einem Vakuum zu betrachten. Dieser Perspektive zufolge sind epistemische Überzeugungen in ihrer psychologischen Realität im Wirkverbund etwa mit Persönlichkeitsmerkmalen oder motivationalen Faktoren ernst zu nehmen (Schommer-Aikins 2004, Hofer & Pintrich 1997). Schommer-Aikins (2004) zufolge bedarf es dazu eines größeren systemischen Ansatzes, in den die persönliche Epistemologie eingebettet wird, da in jedem Moment die Gedanken, Aktionen und Motivationen eines Lernenden das Zusammenlaufen multipler Systeme repräsentieren „The need for an embedded systemic model of epistemological beliefs, that is, a model that includes many other aspects of cognition and affect comes from the assumption that epistemological beliefs do not function in a vacuum. Indeed, at any given moment, learners’ thoughts, actions, or motivations represent the convergence of multiple systems” (Schommer-Aikins 2004, 23). Um zu erforschen, wie epistemische Überzeugungen sich entwickeln, wie sie beeinflusst werden und wie sie beim Lernen wirken, ist ein Verständnis ihrer Zusammenhänge mit anderen mentalen Komponenten unerlässlich. Die vorliegende Arbeit und ihre empirischen Befunde tragen auf zwei verschiedenen Ebenen zu einer Vernetzung epistemischer Überzeugungen mit anderen Komponenten von Denk- und Lernprozessen bei. (1) Ebene des Ursprungs – Die epistemischen Überzeugungen eines Menschen sind als kulturell bestimmte implizite Vorstellungen eingebettet in allgemeine Welterklärungsmuster der Person, die hier als implizite Theorie der Realität gefasst werden. (2) Ebene des Wirkzusammenhangs – Die persönliche Epistemologie umfasst erworbene Überzeugungen und Persönlichkeitsdispositionen in einem Wirksystem. Das epistemische Motiv beeinflusst als personenspezifische Bereitschaft zum Nachdenken die Aktivierung sophistizierter epistemischer Überzeugungen. 7.7.1.1 Epistemische Überzeugungen und die implizite Theorie der Realität Als Teil der impliziten Theorie der Realität wirken epistemische Überzeugungen als Welterklärungsmuster, die Menschen zur Orientierung und Verortung von Erlebnissen und Informationen dienen. Die Theorie wurde in Anlehnung an Epsteins Theory of Reality formuliert. Nach Epstein kann angenommen werden, 262
dass diese Theorie nicht zum Selbstzweck besteht, sondern dazu dient, das Leben so lebenswert, d.h. so emotional befriedigend wie möglich, zu machen (1994, 715). Die Funktion epistemischer Überzeugungen für den Menschen besteht darin, im Einklang mit dem Weltverständnis der Person die Adaptation an die Umwelt zu sichern. Epistemische Überzeugungen werden auch in anderen Rahmenmodellen mit kulturellen Perspektiven in Verbindung gebracht. Schommer-Aikins (2004) hat ein systemisches Modell zur Einbettung epistemischer Überzeugungen entwickelt, in welchem sie berücksichtigt, dass epistemische Überzeugungen kulturell beeinflusst sind. Schommer-Aikins zufolge hat die Forschung zu epistemischen Überzeugungen bei der Untersuchung der Vorstellungen von Wissen gleichzeitig auch die Vorstellungen zu menschlichen Beziehungen berührt. Fragen nach Nähe oder Status (etwa die Distanz oder kritische Haltung zu einem Lehrenden) bezeichnet sie als „cultural relational views“ und nimmt sie als Komponente in ihr System-Modell von epistemischen Überzeugungen auf (2004, 25). Während Schommer-Aikins die kulturellen Perspektiven auf eine beeinflussende Komponente reduziert, werden epistemische Überzeugungen durch die Konzeption der impliziten Theorie der Realität selbst als Ausdruck der Enkulturation betrachtet. Dies ist ein wichtiger Unterschied. Die kulturelle Bedingtheit epistemischer Überzeugungen ist eine zentrale Annahme, um ihre Entstehung weiter zu untersuchen. Auch für die Aktivierung epistemischer Überzeugungen ist anzunehmen, dass sie durch kulturell bestimmtes Wissen und Überzeugungen beeinflusst wird, die beim Lernen zur gleichen Zeit aktiviert werden. Die Ergebnisse der Studie II unterstützen die Perspektive, dass Zusammenhänge zwischen den Welt- und Menschenbildern und den epistemischen Überzeugungen einer Person bestehen. Welche Aspekte der Enkulturation eines Menschen in einer Situation angesprochen sind, wirkt sich offenbar darauf aus, mit welchen epistemischen Überzeugungen Wissen begegnet und beurteilt wird (vgl. Kapitel 7.2). Eine wichtige Erweiterung für die Einbettung epistemischer Überzeugungen wäre der Einbezug sozialer Einflüsse, die ihrerseits kulturell bestimmt werden. Lernsituationen sind meist Situationen sozialer Interaktion. Wie ein Mensch soziale Situationen empfindet und bewertet wird sein Lernverhalten und seinen Umgang mit Wissen beeinflussen.
263
7.7.1.2 Epistemische Überzeugungen und das epistemische Motiv Epistemische Überzeugungen sind in ihrer Wirksamkeit in Denkprozessen nicht losgelöst von Persönlichkeitsmerkmalen und motivationalen oder affektiven Komponenten zu betrachten. In dieser Arbeit wurde der Zusammenhang der epistemischen Überzeugungen mit dem epistemischen Motiv hergestellt. Diese Komponente der persönlichen Epistemologie ist nicht an inhaltliche Überzeugungen oder kulturelle Aspekte gebunden, sondern bezeichnet als ein Persönlichkeitsmerkmal die individuelle Bereitschaft zum Nachdenken. Das epistemische Motiv ist somit als zentrale volitionale Komponente der persönlichen Epistemologie zu verstehen. In den Studien I und II bestätigte sich der angenommene Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen und dem epistemischen Motiv: Die Reflexion der Alltagsphantasien wurde in gleicher Weise durch epistemische Überzeugungen und das epistemische Motiv moderiert. Korrelationen der Skalen ergaben (Kapitel 5.2.2.3), dass die erfassten Konstrukte zusammenhängen. Die moderate Korrelation des epistemischen Motivs (Need for Cognition) mit der Skala Experten lässt vermuten, dass beide Skalen unabhängige Konstrukte erfassen. Die Skala Vielfalt korrelierte jedoch hoch mit dem Need for Cognition, weshalb unklar ist, inwieweit epistemische Vorstellungen zur Komplexität von Wissen und der Integration vielfältiger Perspektiven durch das Need for Cognition von Personen bestimmt werden. Das genaue Zusammenspiel von epistemischem Motiv und epistemischen Überzeugungen bedarf weiterer Untersuchungen. Mit dem epistemischen Motiv scheint ein zentraler beeinflussender Faktor für die Entwicklung epistemischer Überzeugungen identifiziert zu sein: In der Studie II wirkte das epistemische Motiv als Moderator bei der Beeinflussung der Aktivierung der epistemischen Überzeugungen. Bisher wird in der Forschung vor allem Dissonanz als wichtiger Faktor für die Veränderung epistemischer Überzeugungen diskutiert (Baxter Magolda 2004, King & Kitchener 1994, Pintrich et al. 1993). Die Annahme ist, dass gegensätzliche Erfahrungen eine Person dazu veranlassen könnten, bestehende Überzeugungen zu überdenken, neu zu interpretieren oder abzulehnen (King & Kitchener 1994, 229). In jüngeren Ansätzen werden jedoch auch alternative Bedingungen für die Veränderung epistemischer Überzeugungen angenommen und eine Beziehung zu personenbezogenen Faktoren diskutiert. Bendixen & Rule (2004, 74) gehen davon aus, dass Interesse, „emotional Involvement“ und hohe Selbstwirksamkeitserwartungen mit der Veränderung oder Entwicklung epistemischer Überzeugungen zusammenhängen. Gleichwohl spekulieren Bendixen & Rule (2004, 72) über die Bedeutung epistemischer Volition oder der 264
Bereitschaft von Individuen, „Verantwortung“ für ihre epistemischen Überzeugungen zu übernehmen (Baxter Magolda 2004) als Motor für die Entwicklung epistemischer Überzeugungen. Der Befund der Studie II, dass die Aktivierung eines produktiveren epistemischen Modus in Abhängigkeit von dem epistemischen Motiv erfolgt, bringt Klarheit in diese Spekulationen: Das epistemische Motiv kann als ein zentraler Faktor für die Veränderung epistemischer Überzeugungen identifiziert werden. Dabei vereint das epistemische Motiv die Überlegungen zu volitionalen und personenspezifischen Faktoren in einer Komponente. In dieser Arbeit konnten jedoch nur zwei kleine Teilaspekte des großen kognitiven Systems betrachtet werden, in das epistemische Überzeugungen eingebettet wirken. Es ist anzunehmen, dass viele weitere Motive, wie zum Beispiel das Leistungsmotiv oder die Zielorientierung von Personen, mit den epistemischen Überzeugungen zusammenhängen und beeinflussen, welche epistemischen Überzeugungen in Lernzusammenhängen aktiviert werden. Darüber hinaus sind Zusammenhänge der persönlichen Epistemologie mit dem Selbstkonzept anzunehmen und zu erforschen. 7.7.1.3 Kritische Anmerkungen zum normativen Anspruch der Forschung zu epistemischen Überzeugungen Hinter dem Interesse an der Veränderung epistemischer Überzeugungen steht der normative Anspruch, dass eine Veränderung hin zu reiferen epistemischen Vorstellungen wünschenswert ist. Vor diesem Hintergrund ist zum einen zu bedenken, dass der Endpunkt epistemischer Reife derzeit in formal abstraktem Denken gesehen wird, dass ein normativ zu erreichendes Charakteristikum westlicher Kulturen darstellt. Die existierenden Modelle zu epistemischen Überzeugungen nehmen eine Höherentwicklung zu einem verstärkten Individualismus des Denkens und einer Befreiung von dem Diktat von Autoritäten an. Aus der in dieser Arbeit eingenommenen Perspektive auf epistemische Überzeugungen als kulturell bestimmte Perspektiven auf Wissen wird davon ausgegangen, dass sophistizierte epistemische Überzeugungen in unterschiedlichen Kulturen unterschiedlich definiert werden. In stärker kollektivistisch ausgerichteten Kulturen, in denen die Perspektive auf das Selbst interindividuelle Implikationen hat, könnte sich die persönliche Epistemologie etwa in Richtung der Akzeptanz von Konsens anstatt in Richtung auf unabhängiges Denken entwickeln (vgl. Hofer & Pintrich 1997, Cobern & Loving 2008). Zum anderen ist auch im Hinblick auf die gewünschte Entwicklung epistemischer Überzeugungen im Rahmen westlicher Perspektiven Umsicht gebo265
ten: Eine objektivistische epistemische Perspektive auf die Welt, in der davon ausgegangen wird, dass Wissen wahr, sicher und verlässlich ist, hat alltagspraktische Vorteile, die nicht zu ignorieren sind. Auch vermeintlich „unreife“ epistemische Überzeugungen haben in ihrer Funktionalität für das Individuum eine Berechtigung. Elby & Hammer (2001, 555) weisen darauf hin, dass die Forschung versäumt hat, zwischen der Korrektheit und Produktivität epistemischer Überzeugungen zu unterscheiden. Ihnen zufolge sind epistemische Überzeugungen dann als produktiv zu verstehen, wenn sie Verhalten, Einstellungen und Gewohnheiten generieren, die zu „Fortschritt“ führen – in Angemessenheit zu dem, was von einer Person oder Gesellschaft als Fortschritt definiert wird. Selbst wenn es als „wahr“ anzusehen ist, dass wissenschaftliches Wissen von Menschen konstruiert wird, kann es in bestimmten Kontexten sinnvoll für Wissenschaftler und Lernende sein, Wissen als “in der Natur entdeckt” zu verstehen. „A belief is productive if it generates behavior, attitudes, and habits that lead to “progress” as defined by the given person or community. For instance, even if it is “true” that scientific knowledge is constructed by humans, it may be useful in some contexts for scientists and students to view knowledge as “discovered” in nature” (Hammer & Elby 2001, 555).
Kardash & Scholes (1996) zufolge kann das Ziel pädagogischer Bestrebungen nicht sein alle „Dualisten“ oder „Objektivisten“ in vollständige „Konstruktivisten“ oder „Skeptizisten“ umzuwandeln. Lehrende sollten eher darauf abzielen, Lernende dabei zu unterstützen, anzuerkennen sowie ein Verständnis dafür zu entwickeln, dass nicht alle Probleme nur eine einzige Lösung haben und das sich mit der Weiterentwicklung der Wissenschaft Wissen ständig verändert, veraltet und neu definiert wird. 7.7.2 Implikationen für die Forschung zu Alltagsphantasien 7.7.2.1 Implementation einer Rahmentheorie Alltagsphantasien wurden in der vorliegenden Arbeit in ihrer Funktion für das Individuum betrachtet und vor diesem Hintergrund als Teil einer übergeordneten impliziten Theorie der Realität konzipiert. Grundannahme ist, dass Menschen automatisch ein implizites Modell der Realität konstruieren (Epstein 1994, 715), das ihnen kulturell bestimmte Interpretationsroutinen im Umgang mit der Umwelt liefert. Die Konstruktion einer 266
solchen subjektiven „Welterklärungstheorie“ wird dabei als menschliches Grundbestreben verstanden. Menschen bedürfen dieser impliziten Theorie der Realität, um sich an ihre Umwelt zu adaptieren. Alltagsphantasien sind somit nicht nur als besondere Form der Alltagsvorstellungen, sondern als ein Zugang zu den Welterklärungsmustern des Individuums zu verstehen. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Pluralisierung kultureller Hintergründe der Schülerschaft bietet die Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien also Möglichkeiten, einen kulturellen Austausch zu beginnen und Zugang zu den unterschiedlichen Welterklärungsmustern der Lernenden zu bekommen. Diese Überlegungen bedürfen weiterer Forschung: Wie bereits in der Einleitung angeführt, weisen SchülerInnen in deutschen Bildungsinstitutionen zunehmend komplexere und vielseitigere kulturelle Hintergründe auf. Hierdurch stellen sich besondere Anforderungen an den Unterricht, denn die Berücksichtigung individueller Perspektiven auf den Menschen und die Welt nimmt für den Umgang mit Lerngegenständen an Bedeutung zu. In Deutschland scheinen mit dieser Anforderung jedoch Schwierigkeiten verbunden zu sein. Im internationalen Vergleich ist Deutschland ein Staat mit großen, migrationsspezifischen Kompetenzunterschieden, denn in keinem anderen OECD-Mitgliedsstaat ist der mittlere Kompetenzunterschied zwischen Jugendlichen ohne und solchen mit Migrationshintergrund größer (Prenzel et al. 2007, 28). Die Berücksichtigung kultureller Diversität scheint für eine erfolgreiche Integration in das Bildungssystem und die damit verbundene erfolgreiche Teilhabe der Lernenden an modernen Wissensgesellschaften essentiell. Dies könnte dadurch unterstützt werden, dass die implizite Theorie der Realität der Lernenden über die Reflexion von Alltagsphantasien eingebunden wird (siehe Kapitel 7.8). Die Rahmentheorie der impliziten Theorie der Realität liefert zudem eine analoge Überlegung zu dem von Gebhard angenommen menschlichen „Sinnverlangen an die Realität“ (Combe & Gebhard 2007, 13). Gebhard versteht Lernen als eine Konstruktionsleistung des Individuums, die durch ein Verlangen nach „Sinn“ angetrieben wird (Gebhard 2003, 207). In sinnvollen Lernprozessen werde deshalb über die einseitige Aufnahme von Informationen hinaus gegangen und der Lerngegenstand mit subjektiver Bedeutung versehen. Damit sind die Alltagsphantasien angesprochen, die nach Gebhard als Anzeichen verstanden werden können, dass Lernende einen Lerngegenstand für sich mit Sinn füllen. Da angenommen wird, dass die Welterklärungsmuster dem Menschen zur Orientierung in der Welt dienen, können Alltagsphantasien analog als Anzeichen verstanden werden, dass Lernende beginnen, einen Gegenstand an ihre implizite Theorie der Realität heranzuführen. Sie folgen damit ihrem Sinnverlangen an den Lerngegenstand. 267
Durch die Konzeption einer übergeordneten Rahmentheorie zum Ursprung der Alltagsphantasien wird es einfacher, Verknüpfungspunkte des Konzeptes der Alltagsphantasien mit anderen Konzepten zu benennen. Es bleibt Aufgabe weiterer Forschung, die kulturelle Bedingtheit der Alltagsphantasien in kulturvergleichenden Studien zu untersuchen. Vor dem Hintergrund der impliziten Theorie der Realität lassen sich Religion, Sprache, gesellschaftliche Bräuche und Geschichte als Einflussquellen auf Alltagsphantasien annehmen. Möglicherweise lassen sich durch gezielten Einbezug dieser Disziplinen in den naturwissenschaftlichen Unterricht weitere Möglichkeiten zur Reflexion der eigenen Welt- und Menschenbilder schaffen und Alltagsphantasien als Möglichkeit zum fächerübergreifenden Unterricht nutzen. 7.7.2.2 Anbindung an die persönliche Epistemologie Durch die gemeinsame Verortung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien in der impliziten Theorie der Realität wurde in dieser Arbeit erstmals der Zusammenhang der Alltagsphantasien mit anderen Vorstellungen im Lernzusammenhang erforscht. Als wichtigstes Resultat kann dabei gelten, dass sich über die Reflexion der Alltagsphantasien auf die epistemische Ausrichtung der Lernenden einwirken lässt. Zur Erklärung dieses Effektes wird angenommen, dass die Reflexion der Alltagsphantasien eine Auseinandersetzung mit den eigenen impliziten Weltund Menschenbildern befördert. Experimentell ging dies mit der Aktivierung einer weltgewandteren, aufgeschlossenen persönlichen Epistemologie einher. Diese Veränderung wurde in dieser Arbeit als das Induzieren von Nachdenklichkeit gefasst. Diese Nachdenklichkeit beinhaltet die Auseinandersetzung mit Naturwissenschaft sowie mit sich selbst: Wie bereits ausgeführt, beeinflusst die Auseinandersetzung mit Menschenbildern und Weltanschauungen die eigenen Auffassungen und kann zu ihrer Veränderung oder Verstärkung führen. Dies bezeichnet Fahrenberg (2004, 3) als psychologische Selbsterkenntnis, die in der Distanzierung vom Selbstverständlichen, in Relativierung und kritischer Auseinandersetzung besteht. Eben diese kritische Auseinandersetzung spiegelt sich in der Aktivierung weltgewandter, aufgeschlossener und ausgereifter Aspekte der persönlichen Epistemologie, wenn vermehrt postrelativistische Perspektiven auf Kontroversen (im FREE) gewählt werden. In postrelativistischen Positionen wird die Pluralität von Meinungen zwar anerkannt, gilt jedoch nicht als beliebig, sondern Positionen gelten als unterschiedlich gut begründbar und fundiert. 268
Eine solche mentale Ausrichtung verändert die Beschäftigung mit naturwissenschaftlichen Themen und befördert Einsicht in das Wesen von Naturwissenschaften. Die „charakteristischen Eigenschaften der Naturwissenschaften als eine Form menschlichen Wissens und Forschens“ zu verstehen und zu erkennen, „wie Naturwissenschaften und Technologie unsere materielle, intellektuelle und kulturelle Umgebung prägen; sich mit naturwissenschaftlichen Themen und Ideen als reflektierender Bürger“ auseinanderzusetzen, ist erklärtes Bildungsziel naturwissenschaftlicher Grundbildung (OECD 2007). Dazu gehört sowohl ein kritisches Wahrnehmen und Hinterfragen wissenschaftlicher Gegebenheiten, als auch die grundlegende Ausbildung einer Bereitschaft oder Motivation zur Auseinandersetzung und zum Nachdenken. Die Manifestation einer epistemischen Motivation und Ausrichtung, die auf Nachdenklichkeit ausgerichtet ist, ist damit ein zentrales Ziel von Scientific Literacy. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Alltagsphantasien nicht nur mit dem subjektiven Sinnbedürfnis oder motivationalen Aspekten im Lernprozess in Zusammenhang stehen (Monetha 2009), sondern auch mit der persönlichen Epistemologie eines Menschen verknüpft sind. Die Reflexion der Alltagsphantasien führt nicht nur zu nachhaltigeren Lernergebnissen (Born 2007), sondern kann zum Nachdenken und zur Aktivierung sophistizierter epistemischer Überzeugungen führen. Hierdurch kann ein Beitrag zur naturwissenschaftlichen Grundbildung geleistet werden. 7.7.2.3 Lehrende als soziale Multiplikatoren für Nachdenklichkeit Lehrende nehmen durch ihren Lehrstil und die Gestaltung des Lehrkontextes maßgeblichen Einfluss auf die epistemischen Überzeugungen der Lernenden (Hammer & Elby 2002). Eine Möglichkeit besteht darin, durch eine „Raum gebende“ didaktische Haltung die Reflexion der eigenen Person und der eigene Welt- und Menschenbilder von Lernenden im Unterricht anzuregen. „Diese Haltung lädt zum Sinnieren ein, hat Zeit und Muße zum Verweilen und gibt damit dem Aufbau und der Entfaltung von Sinn eine Chance“ (Gebhard 2005, 59). Aus dieser Perspektive wird die Bedeutung der Person des Lehrenden sowie seiner Haltung und seines Reflexionsvermögens deutlich. Neben unmittelbaren Effekte in der Lernsituation kann die Haltung einer solchen Lehrperson jedoch auch noch auf einer weiteren Ebene wirken: LehrerInnen, die durch Wissen und die Reflexion ihrer eigenen Welt- und Menschenbilder und epistemischen Überzeugungen in einem Bewusstsein um die Bedeutung impliziter Vorstellungen in Lernprozessen handeln, können als Multiplikatoren für eine um Reflexion bemühte Grundhaltung wirken. 269
Eine didaktisch offene Haltung gegenüber impliziten Vorstellungen in Lernprozessen könnte den Effekt einer Reciprocal causation haben. Mit diesem Begriff beschreiben Dickens & Flynn (2001, 346) eine Art Feedback-Kreislaufprozess, bei dem eine Person einen positiven Effekt als ein sozialer Multiplikator auf andere Personen um sich herum überträgt.45 Bendixen & Rule (2004, 76) nehmen einen ähnlichen Effekt für die Entwicklung der persönlichen Epistemologie an. Demnach führt die Entwicklung reiferer epistemischer Überzeugungen in einem Individuum automatisch zu einer Veränderung der epistemischen Überzeugungen von Menschen, die mit diesem Individuum interagieren.46 Lehrende sind in diesem Zusammenhang als zentrale soziale Multiplikatoren zu verstehen. Kultivieren sie eine Haltung, die im naturwissenschaftlichen Unterricht zu Nachdenklichkeit und Selbstreflexion anregt, bringen ihre SchülerInnen diese Fähigkeit zum reflektierten Umgang mit naturwissenschaftlichem Wissen in die Gesellschaft ein. 7.8 Forschungsausblick Durch die beiden laborexperimentellen Studien wurde in dieser Arbeit nur ein kleiner Teil der theoretischen Annahmen zur impliziten Theorie der Realität und zum Zusammenhang und der Bedeutung von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien beim Lernen empirisch untersucht. In Bezug auf die Annahmen zu beiden Konzepten und zu ihren Zusammenhängen lassen sich eine Reihe von Anknüpfungspunkten benennen, an denen weitere quantitative und qualitative Untersuchungen anschließen könnten, um Leerstellen zu füllen und die Forschung zu vertiefen.
45 Reciprocal causation wird von Dickens & Flynn (2001, 346) angeführt, um die Interaktion zu erklären, durch die der phänotypische IQ eines Menschen nicht nur dessen eigene Umwelt, sondern auch den IQ von anderen Personen beeinflusst, mit denen die Person in Kontakt kommt. Steigt der IQ einer Person durch externe Faktoren (bessere Ernährung, bessere Gesundheitsversorgung, höherer Bildungsgrad der Eltern), dann wird das die Umwelt von anderen verbessern und dazu führen, dass auch ihr IQ steigt. Reciprocal causation produziert einen Mutiplikatoren-Effekt, der sowohl genetische als auch umweltbedingte Vorteile in die Höhe treibt und durch eine Art FeedbackKreislaufprozess den IQ immer höher schraubt. Dickens & Flynn (2001, 347) bezeichnen diesen Effekt als „Social Multiplier“. 46 Diese Perspektive wird durch Ergebnisse von Schommer (1990, 501) zum Einfluss des persönlichen Hintergrundes auf die persönliche Epistemologie bestärkt.
270
(1) Inhaltliche Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien In Kapitel 3.5 erfolgte eine hermeneutische Untersuchung möglicher inhaltlicher Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien, indem drei Alltagsphantasien exemplarisch auf mit ihnen transportierten epistemische Überzeugungen analysiert wurden. Die ausgeführten Zusammenhänge dienten der Erweiterung der theoretischen Perspektive auf epistemische Überzeugungen und Alltagsphantasien. Ihre empirische Überprüfung durch qualitative inhaltsanalytische Studien wäre ein wichtiger nächster Schritt, um die genauen Zusammenhänge von epistemischen Überzeugungen und Alltagsphantasien über Welt- und Menschenbilder zu rekonstruieren. Hierdurch könnte auch die in Studie II empirisch gezeigte Beeinflussung der epistemischen Überzeugungen durch die Reflexion der Alltagsphantasien genauer erklärt werden. (2) Alltagsphantasien als Heuristiken im Lernprozess Vor dem Hintergrund der Analyse der Verarbeitungsprozesse beim Lernen wurde in Kapitel 3.6.4 das heuristische Potential von Alltagsphantasien diskutiert. Wie in Kapitel 2.6 beschrieben, bergen Alltagsphantasien, wie alle sinnbildlich aufgeladenen Repräsentationen, ein suggestives Potential. Es ist deshalb möglich, dass Alltagsphantasien durch ihre Funktion als internalisierte Argumentationsmuster und Ableger von impliziten Welt- und Menschenbildern im Lernprozess als Heuristiken verwendet werden können. Im Sinne von gedanklichen „Shortcuts“ legen Alltagsphantasien sofort eine Interpretation der Situation oder des Phänomens nahe, die es dem Lernenden ermöglicht, bestimmte Denkoperationen von vornherein abzuwehren. Diese theoretische Annahme ist wahrscheinlich schwer überprüfbar. Durch Methoden wie das laute Nachdenken bei Lernprozessen könnte jedoch versucht werden, die Nutzung von Alltagsphantasien als Heuristiken beim Lernen zu untersuchen. (3) Alltagsphantasien bei kultureller Diversität Wie in Kapitel 7.7.2.1 könnte die Auseinandersetzung mit den Alltagsphantasien vor dem Hintergrund der zunehmenden Pluralisierung kultureller Hintergründe der Schülerschaft Möglichkeiten bieten, einen kulturellen Austausch zu beginnen und Zugang zu den unterschiedlichen Welterklärungsmustern der Lernenden zu bekommen. Diese Überlegungen erfolgen vor dem Hintergrund der PISA-Befunde von 2006, denen zufolge Deutschland im internationalen Vergleich ein Staat mit großen, migrationsspezifischen Unterschieden in der naturwissenschaftlichen Kompetenz ist (Prenzel et al. 2007, 28). Der Stellenwert der Kultur für das Lernen wird auch im Zusammenhang mit den PISA-Ergebnissen thematisiert: Als 271
bedeutsam für den Kompetenzerwerb von Jugendlichen aus Migrantenfamilien gelten neben Sprachkenntnissen besonders die bildungsrelevanten Ressourcen der Familien, die auch als Humankapitel bezeichnet werden (Prenzel et al. 2007, 343). Einstellungen zu den Naturwissenschaften sind den Annahmen zufolge tendenziell umso positiver, je größer der Stellenwert von Bildung und Kultur in den Familien ist (Prenzel et al. 2007, 361). Hiermit sind die epistemischen Überzeugungen zu Wissen und Wissenserwerb allgemein sowie speziell in Bezug auf Naturwissenschaften angesprochen. Befunde zeigen, dass Merkmale wie die elterlichen Werthaltungen gegenüber den Naturwissenschaften signifikant mit der Motivation der Jugendlichen zusammenhängen (Walter & Taskinen 2008). Welchen Beitrag die Reflexion der Alltagsphantasien und die damit verbundene Auseinandersetzung mit den Welt- und Menschenbildern der SchülerInnen für einen kulturellen Austausch und darüber für eine Unterstützung beim Lernen leisten kann, bedarf langfristig angelegter Unterrichtsstudien mit Schülergruppen mit Lernenden mit und ohne Migrationshintergrund. (4) Zum Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen und dem epistemischen Motiv Das epistemische Motiv wurde als volitionale Komponente der persönlichen Epistemologie eingeführt. Es ist davon auszugehen, dass die epistemische Ausrichtung einer Person nicht nur durch erworbene epistemische Überzeugungen bedingt ist, sondern auch von der personenspezifischen Bereitschaft der Person zum Nachdenken abhängt. In den vorliegenden Untersuchungen wurde das epistemische Motiv über das Need for Cognition operationalisiert. Der genaue Zusammenhang von epistemischen Überzeugungen und Need for Cognition ist jedoch noch unklar. Das Need for Cognition wurde in dieser Studie als moderierender Faktor in der Veränderung epistemischer Überzeugungen herausgestellt. Möglicherweise ist das Need for Cognition ein wichtiger Prädiktor für die Stärke und Schnelligkeit der Entwicklung von epistemischen Überzeugungen. Eine solche Fragestellung könnte in Längsschnittstudien mit Studierenden untersucht werden. (5) Steigerungsfähigkeit der epistemischen Motivation Das in den Untersuchungen erhobene epistemische Motiv kann als dispositioneller Kern einer epistemischen Motivation verstanden werden, die auch durch situationale Faktoren beeinflusst wird. Wie in Kapitel 7.3.2 ausgeführt lässt sich die epistemische Motivation nach Van der Schalke et al. (2010) steigern, indem die Bedeutsamkeit eines korrekten Urteils oder einer differenzierten Auseinandersetzung erhöht wird. 272
Da angenommen wird, dass sich durch die Berücksichtigung von Alltagsphantasien die subjektiv erlebte Bedeutung des Lerngegenstandes erhöhen lässt, wäre es möglich, dass sich die Reflexion der Alltagsphantasien positiv auf die situative Komponente der epistemischen Motivation auswirkt. Diese Annahme gilt es in weiteren Untersuchungen zu überprüfen. (6) Epistemische Überzeugungen als Mediator Die Studie II diente dazu, die Effekte der Reflexion der Alltagsphantasien auf die Aktivierung epistemischer Überzeugungen sowie auf die Güte des Verstehens bzw. der damit verbundenen Verarbeitungsprozesse zu untersuchen. Die Ergebnisse zeigen, dass das epistemische Motiv sowohl für die Effekte zur Güte der Verarbeitung als auch für die Veränderung der Konfiguration aktivierter epistemischer Überzeugungen als Moderator wirkt. Personen mit ausgeprägtem epistemischen Motiv (hohem Need for Cognition) zeigen nach der Reflexion der Alltagsphantasien im kommunikativen Austausch mit anderen Personen eine Aktivierung reiferer epistemischer Überzeugungen. Außerdem erzielen sie bessere Ergebnisse in Tests zur Güte ihres Verstehens. Vor diesem Hintergrund ist es denkbar, dass die epistemischen Überzeugungen als Mediator für die Verstehensleistungen anzusehen sind. Ein Mediatoreffekt liegt dann vor, wenn die kausale Beziehung zwischen zwei Variablen durch eine dritte Variable vermittelt wird. Einer Mediatorvariablen kommt dabei eine besondere Position im Wirkungsgefüge zu, da sie gleichzeitig eine abhängige und unabhängige Variable darstellt (Urban & Mayerl 2007, 1) Hierbei würde sich die Reflexion der Alltagsphantasien in Abhängigkeit des epistemischen Motivs auf die Aktivierung der epistemischen Überzeugungen auswirken. Das bedeutet, dass bei Personen mit einem hohen Need for Cognition durch die Reflexion verstärkt sophistizierte epistemische Überzeugungen aktiviert würden. Diese sophistizierten epistemischen Überzeugungen könnten in der Folge als Mediator über die mit ihnen zusammenhängenden systematischen Verarbeitungsprozesse für das positive Abschneiden bei den Tests zur Güte des Verstehens verantwortlich sein. Leider lassen sich diese Annahmen mit den bestehenden Daten aus der Untersuchung nicht überprüfen, da die ohnehin kleinen Versuchsgruppen durch eine weitere Aufspaltung nach Need for Cognition und sophistizierten epistemischen Überzeugungen für die Überprüfung eines Mediatoreffektes zu klein werden. Dieser Erklärung könnte jedoch in weiteren Studien mit größeren Stichproben nachgegangen werden. Dabei wäre auch zu klären, ob eine komplette oder partielle Mediation vorliegt.
273
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