Von Keith Laumer ist in dieser Reihe erschienen: Nr. 8 Das vergessene Universum
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Von Keith Laumer ist in dieser Reihe erschienen: Nr. 8 Das vergessene Universum
Keith Laumer INVASION AUS DER NULL-ZEIT
Science-fiction-Roman
BASTEI-SCIENCE-FICTION-TASCHENBUCH Nr. 23
Amerikanischer Originaltitel: The other side of time
Deutsche Obersetzung: Peter Kleinert
© Copyright 1965 by Keith Laumer
Deutsche Lizenzausgabe 1973
Bastei-Verlag Gustav H. Lübbe, Bergisch Gladbach
Printed in Western Germany
Scan by Brrazo 03/2007
Titelillustration: Eddie Jones
Grafische Gestaltung: Eva Braunova-Kokstein
Gesamtherstellung: Moritz Schauenburg KG, Lahr/Schwarzwald
ISBN 3-404-00058 7
Der Preis dieses Bandes versteht sich einschließlich der gesetzlichen Mehrwertsteuer
I
Es war ein wunderbarer Sommertag gewesen. Und nun blieb das Abendrot noch länger am Himmel, als dies selbst im Stockholmer Juni möglich schien. Ich stand am Veran dafenster. Während ich auf das bleiche Rosa, das lodernde Gold und das stählerne Blau hinausblickte, fühlte ich jenes merkwürdige Kribbeln im Nacken, das mir Ärger, mei stens sogar ganz erheblichen Ärger angekündigt hatte. Das Telefon zerschnitt mit seinem Schrillen die A bendstille. Auf dem Weg zu dem Apparat in der Halle stellte ich einen neuen Sprintrekord auf. Ich wartete ei nen Augenblick mit dem »Hallo«, damit meine Stimme nicht allzu atemlos klang. »Oberst Bayard?« fragte die Stimme am anderen En de. »Freiherr von Richthofen möchte Sie sprechen. Einen Moment bitte …« Durch den weitgeschwungenen Türbogen zum Speise zimmer konnte ich das dunkle Glühen von Barbros rotem Haar erkennen. Sie nickte bestätigend zu einer Flasche Wein, deren Etikett Luc ihr zeigte. Die Kerzen eines reichverzierten Kronleuchters warfen ihren warmen Schein auf schneeweißes Leinen, blindes Kristall, selte nes altes Porzellan und glänzendes Silber. Mit Luc als Majordomus in unserem Haushalt wurde jedes Mahl zu einem Fest. Mir war allerdings der Appetit vergangen, wenn ich auch nicht wußte, warum. Richthofen war einer meiner besten Freunde, aber auch Chef des imperialen Nachrichtendienstes … »Brion?« kam nun seine wegen des leichten Akzents unverkennbare Stimme durch den glockenförmigen Tele fonhörer. »Gut, daß ich dich zu Hause antreffe.« 6
»Was ist los, Manfred?« »Ach …« zögerte er leicht. »Warst du den Abend zu Hause?« »Wir sind vor einer Stunde heimgekommen. Hast du versucht mich zu erreichen?« »Nein, nein. Da ist nur eine … eine Kleinigkeit.« Er machte eine Pause. »Hör mal, Brion, könntest du mal ins Hauptquartier reinschauen?« »Klar doch. Wann?« »Gleich, jetzt. Noch heute abend …« Wieder hielt er inne. Irgend etwas machte ihm Sorgen. »Ich störe dich wirklich nicht gern zu Hause, Brion, aber …« »Ich bin in einer halben Stunde dort. Kannst du mir schon mal sagen, um was es geht?« »Ich glaube nicht, Brion, man könnte uns abhören. Bitte entschuldige mich bei Barbro …« Barbro stand inzwischen neben mir. »Brion, was ist los?« Sie sah mich aufmerksam an. »Ärger?« »Keine Ahnung. Ich komm’ so schnell ich kann zu rück. Es muß wichtig sein, sonst hätte Manfred nicht an gerufen.« Ich ging die Halle entlang zu meinem Schlafraum, zog Straßenkleidung an, nahm einen leichten Mantel und den Hut. Die Nächte waren kühl in Stockholm. Am Eingang wartete Luc auf mich. In der Hand hielt er einen kleinen Apparat aus Spiralfedern und Leder. »Ich werd’s nicht brauchen, Luc«, sagte ich. »Ist ja nur eine Routinefahrt ins HQ.« »Sie nehmen’s besser mit, Chef«, Lucs Miene zeigte wie gewöhnlich äußerste Mißbilligung – ein Ausdruck, der, wie ich längst wußte, absolute Loyalität verbergen sollte. Ich nickte ergeben, nahm die Bolzenschleuder und das dazugehörige Schnellschußholfter, zog den rechten 7
Ärmel hoch, knöpfte sie fest, zog den Ärmel wieder run ter und probierte, ob sie richtig saß. Mit einer einzigen Bewegung des Handgelenks glitt mir die Waffe – in Form und Farbe einem vom Wasser glattgeschliffenen flachen Stein ähnlich – in die Handfläche. Ich schob sie wieder auf ihren Platz zurück. »Nur, weil du’s bist, Luc. In einer Stunde bin ich wie der zurück.« Ich trat hinaus in den Schein der großen, quadratischen Kutschenlampen, die durch dicke Gläser ein heimelig gelbliches Licht auf die Balustrade vor dem Haus warfen, ging die breite Treppe hinunter zum Wagen und glitt hin ter das große, natureichene Steuerrad. Die Maschine lief bereits im Leerlauf. Ich kurvte über den kiesbestreuten Fahrweg, passierte die schlanken Pappeln am schmiede eisernen Parktor und war dann auf dem Straßenpflaster. Weiter vorn parkte ein Auto mit eingeschaltetem Blau licht. Der Fahrer setzte sich vor mich. Im Rückspiegel sah ich, wie sich ein zweiter Wagen hinter mich schob. Von seinem Kühlergrill glitzerte das Kennzeichen des Nachrichtendienstes. Also hatte Manfred eine Eskorte geschickt, damit ich auch auf alle Fälle ins Hauptquartier fände. Die Fahrt durch die breiten, matt erleuchteten Straßen der alten Hauptstadt dauerte nur zehn Minuten. Ober flächlich sah Stockholm durchaus der gleichen Stadt des Kontinuums ähnlich, in dem ich einmal geboren worden war. Doch hier, in der Null-Null-Welt des Imperiums, im Zentrum des gewaltigen Netzes alternierender Welten, das durch die M-C-Fahrt erschlossen worden war, wirk ten die Farben eine Spur kräftiger, die Abendbrise eine Spur sanfter und der Zauber des Lebens selbst noch eine Spur unmittelbarer. 8
Mit meiner Eskorte überquerte ich die NorrbroBrücke, schlug dann scharf nach rechts zwischen zwei roten Granitpfeilern in eine kurze Gasse ein und steuerte durch ein schmiedeeisernes Tor hindurch, an dem kirsch rotuniformierte Wachen ihre Waffen präsentierten. Vor den breiten, eisenbeschlagenen Eichentoren, auf deren Messingplatten KUNGLIGA SVENSKA SPIONAGE zu lesen war, hielt ich an. Das Fahrzeug hinter mir stoppte mit kreischenden Rädern, und ehe ich noch ganz ausge stiegen war, hatten sich die vier Männer aus den beiden Wagen im Halbkreis um mich aufgestellt. Einen von ih nen erkannte ich. Es war ein Netz-Fahrer, der mich vor Jahren einmal in eine Welt mit dem Namen »BlightInsular II« chauffiert hatte. Er erwiderte mein Nicken mit einem sorgsam abgemessen unpersönlichen Blick. »Man erwartet Sie in der Suite von General Baron von Richthofen, Oberst«, sagte er. Ich knurrte etwas in den Bart und ging die Stufen hinauf. Dabei hatte ich das merkwürdige Gefühl, daß meine Eskorte sich mehr wie eine Gruppe Geheimpolizisten mit Bewachungsauftrag als wie eine Ehrengarde verhielt. Manfred sprang auf, als ich in sein Büro eintrat. Er warf mir einen seltsamen Blick zu, als sei er nicht ganz sicher, wie er das, was er mir sagen wollte, am besten los werden könnte. »Brion, ich muß dich von vornherein um viel Geduld bitten«, sagte er dann. »Bitte, setz dich. Etwas – etwas höchst Merkwürdiges ist passiert.« Er blickte mich tief beunruhigt an. Das war nicht der stets ausgeglichene von Richthofen, den ich aus dem täglichen Dienst im Nach richtendienst kannte. Trotzdem blieb ich ruhig sitzen und betrachtete nachdenklich die vier bewaffneten Agenten, die mich zusammen mit meinen vier Begleitern stumm 9
und aufmerksam beobachteten. »Fangen Sie an, Chef«, sagte ich und versuchte mich an die Spielregeln dieser Vorstellung zu halten. »Ich ha be begriffen, daß das hier dienstlich ist. Ich hoffe, daß Sie mir, wenn es soweit ist, sagen werden, was das alles bedeutet.« »Ich muß dir ein paar Fragen stellen, Brion«, sagte Richthofen. Er setzte sich. Plötzlich ließen ihn die Linien in seinem Gesicht so alt erscheinen, wie er mit seinen fast achtzig Jahren tatsächlich war. Seine schmale Hand fuhr über das weiche, stahlgraue Haar. Dann straffte er sich abrupt, lehnte sich in seinen Stuhl zurück und hatte nun wieder ganz den Ausdruck eines Mannes, der weiß, was er will, und der das, was er will, auch tun wird. »Welchen Mädchennamen hatte deine Frau?« stieß er hervor. »Lunden«, antwortete ich betont gleichmütig. Ich hatte beschlossen, sein Spiel mitzuspielen. Manfred kannte Barbro länger als ich. Ihr Vater hatte mit Richthofen drei ßig Jahre als Agent des Nachrichtendienstes gearbeitet. »Wann hast du sie das erste Mal getroffen?« »Vor etwa fünf Jahren – beim königlichen Mitsom mernachtsball, am gleichen Tag, an dem ich hier ange kommen bin.« »Wer war außerdem an diesem Abend dabei?« »Du, Hauptmann Winter …« Ich nannte ein Dutzend Namen von Gästen, die an jenem fröhlichen Fest teilge nommen hatten, das dann jäh so schrecklich durch den Überfall der Raider beendet worden war. »Winter wurde getötet«, fügte ich hinzu, »durch eine Handgranate, die eigentlich für mich bestimmt war.« »Was hast du früher gemacht … ursprünglich, meine ich?« 10
»Ich war Diplomat … der Vereinigten Staaten … bis deine Leute mich kidnappten und hierher brachten.« Das letztere sollte ihn in aller Freundschaft daran erinnern, daß meine Anwesenheit hier, in der Welt des Imperiums, seine höchst eigene Idee gewesen war. Er verdaute den Wink durch ein Räuspern und sekundenlang angestreng tes Rascheln in den Aktenblättern auf dem Tisch, ehe er die nächste Frage stellte. »Was machst du jetzt hier in Stockholm Null-Null?« »Du hast mir eine Aufgabe als Netz-ÜberwachungsOffizier übertragen …« »Was ist das Netz?« »Das Kontinuum der alternierenden Welt-Linien; die Matrize der gesamten simultanen Realität …« »Was ist das Imperium?« unterbrach er mich. Es han delte sich ganz offenbar um eines dieser Maschinenge wehr-Verhöre, die den Delinquenten verwirren und aus der Fassung bringen sollen … nicht eben die freundlich ste Art, einen Mann auszufragen. »Die Zentralregierung der Null-Null-A-Linie, in der der M-C-Generator entwickelt worden ist.« »Was bedeutet die Abkürzung M-C?« »Maxoni-Cocini – die beiden Jungs haben das Ding 1893 erfunden.« »Wozu benutzt man den M-C-Effekt?« »Man verwendet ihn als Antrieb für die Netz-Schiffe.« »Wo werden Netz-Operationen durchgeführt?« »Überall im Netz mit Ausnahme des Blight.« »Was ist das Blight?« »Eine Höllenwelt von Strahlung einige tausend Para meter rings um die Null-Null-Linie.« »Was hat das Blight verursacht?« »Der M-C-Effekt, als man ihn falsch angewendet hat. 11
Ihr Burschen hier auf der Null-Null-Linie seid die einzi gen, die ihn unter Kontrolle haben und die damit durch das Netz reisen können.« »Was ist die Null-Null-Linie?« Ich streckte meine Hand aus und fuhr mit ihr durch den Raum: »Dieses Universum, in dem wir jetzt sitzen. Die alternierende Welt, wo das M-C-Feld …« »Hast du eine Narbe am rechten Fuß?« Ich lächelte über den plötzlichen Wechsel. »Na klar doch. Dort, wohin Chefinspektor Bale mir eine Ladung zwischen den großen Zeh und …« »Warum bist du hierher gebracht worden?« »Du hast mich gebraucht, weil ich in einer Welt, die Blight-Insular II heißt, einen Diktator spielen sollte.« »Gibt es noch weitere bewohnbare A-Linien im Blight?« »Zwei. Eine ist ›B-I zwei‹, eine vom Krieg verwüstete Welt mit dem Gemeinsamen Geschichtsdatum von etwa 1910; die andere ist die Welt, in der ich geboren bin. Sie heißt ›B-I drei‹.« »Du hast außerdem noch eine Schußnarbe rechts an der …« »Links! Ich hab’ außerdem noch …« »Was ist ein Gemeinsames Geschichtsdatum?« »Das Datum, von dem an sich die Geschichte zweier alternierender A-Linien verschieden entwickelt.« »Was war deine erste Aufgabe als Oberst des Nach richtendienstes?« Ich beantwortete auch diese Frage und noch eine Menge andere. In den nächsten anderthalb Stunden durchstöberte er sämtliche Winkel meines privaten und dienstlichen Lebens und grub dabei vor allem in jenen verborgenen Winkeln herum, die nur mir und ihm be 12
kannt waren. Während dieser ganzen Zeit standen die acht bewaffneten Männer um mich herum, sagten kein einziges Wort, wachsam, bereit. Mein Versuch, die ganze Angelegenheit souverän hin zunehmen, stand kurz vor dem Scheitern, als er aufseufz te und beide Hände auf den Tisch legte. Ich hatte plötz lich den erschütternden Eindruck, daß er vorher eine Waffe in die Schublade geschoben hatte, eine Waffe, mit der er die ganze Zeit über heimlich auf mich gezielt hat te. Sein Gesichtsausdruck wurde allmählich wieder nor mal. »Brion, in dem komischen Beruf, den wir beide haben, hat man manchmal verdammt unangenehme Aufgaben. Dich so hierher zu holen …« Er winkte den bewaffneten Wächtern. Sie verschwanden stumm. »Also, dich hier, unter Bewachung wie einen gemeinen Verbrecher auszu quetschen, das war wohl eine der unangenehmsten Auf gaben, die ich je hatte. Ich versichere dir, es war notwen dig. Die Angelegenheit ist zu meiner vollen Zufrieden heit ausgegangen.« Er stand auf und streckte mir die Hand entgegen. Ich stand ebenfalls auf, fühlte jedoch eine Menge unterdrückten Ärger hochsteigen. Trotzdem nahm ich seine Hand, schüttelte sie aber nur kurz. Mein Widerstreben sollte er ruhig bemerken. »Später, Brion, vielleicht morgen, kann ich dir diese possenhafte Affäre erklären. Für heute abend bitte ich dich: Nimm meine persönliche Entschuldigung für die Umstände und den Ärger an, den ich dir machen mußte. Es geschah im Interesse des Imperiums.« Ich gab einige höfliche, aber keineswegs begeisterte Geräusche von mir und verließ ihn. Was auch immer passiert sein mochte – ich kannte Richthofen und wußte, daß er einen Grund hatte für das, was er tat. Allerdings 13
machte mir diese Überzeugung weder meinen Ärger leichter, noch stillte sie meine Neugierde. Doch ich hätte mir lieber die Zunge abgebissen, anstatt ihm Fragen zu stellen. Als ich zum Aufzug ging, war kein Mensch zu sehen. Ich fuhr abwärts, trat auf den mit weiß gescheuerten Bohlen plattierten Korridor im Erdgeschoß hinaus. Am Ende des langen Ganges hörte ich eilige Schritte. Eine Tür knallte mit einem merkwürdig endgültigen Nachhallen zu. Ich stand wie ein Tier, das den Wind prüft, ehe es sich weiter in feindliches Gebiet vorwagt. Ein Hauch von Verderben schien über dem schweigenden Gebäude zu hängen. Dann ertappte ich mich, wie ich prüfend die Luft ein sog. Da war ein Geruch wie von brennendem Holz und Asphalt, ein kaum spürbarer Rauch. Ich stellte die Rich tung fest, aus der er kam, und ging schnell und geräusch los auf die Quelle zu. Als ich die weite Basis des Trep penhauses, das zur Empfangshalle im ersten Stockwerk führte, umging, stutzte ich plötzlich. Ich stand vor einem auffallend dunklen Schmutzfleck mitten auf den weißen Bodenbrettern des Korridors. Aufmerksam musterte ich den Boden. Beinahe hätte ich einen zweiten erheblich schwächeren Flecken, zwei Fuß vom ersten entfernt, ü bersehen. Doch die Form beider Abdrücke war allzu deutlich: es waren Fußspuren. Weitere sechs Fuß den Korridor entlang, fand ich einen dritten leichten Flecken. Das ganze sah aus, als ob jemand in flüssigen Teer getre ten wäre und die Spuren davon nun hinter sich her zog. Die Abdrücke führten den Korridor entlang und dann nach links. Ich spähte den nur spärlich erleuchteten Gang hinab. Er wirkte friedlich und still wie eine Leichenhalle, Stunden nach dem letzten Begräbnis, und verbreitete die 14
gleiche triste Stimmung, weil man weiß, daß dem soeben abgeschlossenen Geschäft mit dem Tod unausweichlich das nächste folgen muß. Ich ging weiter den Korridor entlang, hielt an einer Kreuzung inne und blickte in beide Richtungen. Der Ge ruch war stärker geworden. Es roch jetzt auch nach ver sengter Farbe. Ich folgte den Abdrücken um die Ecke. Weitere zwanzig Fuß den Korridor entlang entdeckte ich eine Brandnarbe im Boden; um sie herum waren zahlrei che Fußabdrücke. Dann sah ich einen Blutspritzer und dicht dabei den blutigen Abdruck einer Hand, zweimal so groß wie meine eigene. Unter einem Schild mit der Auf schrift »Betreten verboten« war ein zweiter Handabdruck an einer Türkante. Dieser schwarze Abdruck wirkte wie ins Holz eingebrannt. Mein Handgelenk zuckte. Der Re flex erinnerte mich an die Bolzenschleuder, die Luc mir so nachdrücklich aufgedrängt hatte. Mit zwei Schritten war ich an der Tür. Ich packte den polierten Messingknopf und zuckte zurück. Er war glü hend heiß. Erst nachdem ich mein Taschentuch darum gewickelt hatte, bekam ich die Tür auf. Einige Stufen führten hinunter in die Dunkelheit, aus der ein Geruch von schwelendem Holz aufstieg. Instinktiv griff ich nach dem Lichtschalter, besann mich aber und schloß die Tür. Dann begann der Abstieg im Dunkeln. Im Keller ange kommen, wartete ich einen Augenblick, lauschte, blickte vorsichtig um die Ecke in die dunkle Kellerhalle und er starrte. Trübe Schatten tanzten auf der gegenüberliegenden Wand, Schatten in einem unbekannten rötlichen Licht. Ich trat einen Schritt vor und riskierte einen zweiten Blick. Fünfzig Fuß von mir entfernt vollführte eine glü hende Gestalt unberechenbare, sprunghafte, unheimlich 15
schnelle Bewegungen – eine Gestalt, die in dem Glut licht, das von ihr selbst auszugehen schien, wie eine le bensgroße, rotglühende Eisenfigur aussah. Sie schoß ein paar Fuß weit vor, bewegte sich schneller, als man mit den Augen folgen konnte, wirbelte herum, schoß quer durch den engen Gang und war im Nu durch eine offen stehende Tür verschwunden. Das ganze wirkte wie eine von Kindern aus Papier ausgeschnittene und mit einem Stück Schnur hin und her gezerrte Marionette. Wieder zuckte mein Handgelenk. Diesmal lag die Waffe sofort in meiner Hand. Ihre glatte Oberfläche machte mich ruhiger. Der Rauchgeruch wurde immer stärker. Ich sah zu Boden. Im schwachen Licht entdeckte ich weitere schwarze Fußabdrücke im hölzernen Bretter boden. Einen Augenblick dachte ich daran zurückzulau fen, Alarm zu schlagen und mit einer schwer bewaffne ten Wachtruppe wiederzukommen. Doch das blieb nur ein Gedanke. Ich ging schon durch die nächste Tür, nicht gerade leichten Herzens, aber im sicheren Bewußtsein, daß ich einer Sache auf der Spur war, die keine Sekunde Aufschub duldete. Der Rauch wurde zusehends dichter. Es war eine Mi schung von versengten Kleidern wie in einem SofortBügelladen, verbranntem Metall wie in einer Eisengieße rei und hochsommerlichem Waldbrandgeruch, quasi zur Abrundung des Ganzen. Ich glitt leise durch die Tür, preßte mich dann flach an die Wand, kroch die letzten paar Zoll beinahe wie eine Seidenraupe auf einem zarten Maulbeerbaumblatt. Als ich vorsichtig um die Ecke blin zelte, entdeckte ich die rötlichen Schatten des Phantoms an den Wänden eines offenbar längst vergessenen Abstell raums, in dem verstaubter, schmutziger und zerbrochener Krempel herumlag, der längst in den Müll gehörte. 16
In der Mitte des Kellerraums beugte sich der feurige Mann über einen auf dem Boden ausgestreckten Körper – eine riesige Gestalt in einem formlosen Coverall. Die Hände des feurigen Mannes, merkwürdig glühende Hän de in seltsam geformten Handschuhen, untersuchten den Liegenden mit einer ganz und gar übermenschlichen Schnelligkeit und Geschicklichkeit. Dann richtete er sich auf. Ich vergeudete nicht länger meine Zeit damit, das Schauspiel eines Dreihundert-Grad-Celsius-Mörders zu begaffen: Es gab eine winzige Chance, daß sein Opfer noch nicht tot war – und wenn ich ihn schnell genug er wischte und dabei den Überraschungseffekt nutzte, konn te ich ihn vielleicht … In der Eile vergaß ich meine Waffe, raste vielmehr in wildem Ansturm durch das Tor und wollte mich im Hechtsprung auf die Gestalt werfen, von der die Hitze wie eine greifbare Wand ausstrahlte. Unmenschlich schnell, im Bruchteil einer Sekunde, warf er sich herum, hob eine Hand, spreizte fünf glühende Finger und sprang dann entsetzt zurück … Zentimeterlange, rote Funken sprühten aus der ausge streckten Hand hervor, schossen auf mich zu. Wie ein Turmspringer, der plötzlich auf halbem Weg zur Erde in der Luft schwebend hängen bleibt, sah ich die harte elek trische Ladung auf mich eindringen, hörte das PLOPP, als die Miniaturblitze mich trafen … Eine stumme Explosion tauchte die Welt in ein blen dendes Weiß, wirbelte mich fort, hinaus in das Nichts. Lange Zeit lag ich da und klammerte mich an einen freundlichen Traum, in den ich mich geflüchtet hatte, um einer nebelhaften Erinnerung Herr zu werden. In ihr spielten schwelende Fußstapfen, ein verlassener Keller 17
raum und ein phantastischer, glühender Mann eine Rolle. Ich stöhnte, versuchte, den Traum noch einmal zu erwi schen, fühlte aber nur die harte, kalte Wirklichkeit an meinem zerschundenen Gesicht, eine würgende Übelkeit im Magen und einen Geschmack wie von Kupferpfenni gen im Mund. Ich spürte den Fußboden, auf dem ich lag, stemmte mich hoch und riß gleichzeitig mit aller Kraft meine verquollen-klebrigen Augen auf … Der Raum war dunkel, still, staubig und leer wie eine ausgeraubte Pharaonengrabkammer. Ich bewegte den alten Tennisschuh, der in meinem Mund die Zunge er setzte, mühsam über schartig aufgesprungene Lippen, riß mich mit so viel Mut zusammen, daß ich damit unter an deren Umständen glatt die Kongreßmedaille verdient hätte, und setzte mich aufrecht. In meinen Ohren dröhnte es wie die Freiheitsglocke kurz vor ihrem Zerspringen. Vorsichtig stützte ich mich auf Hände und Knie und kam schließlich in mühsamen Etappen auf die Füße. Ich schnupperte. Der Brandgeruch war ebenso spurlos ver schwunden wie die Bügelfalte einer Vier-Dollar-Hose nach einmaligem Tragen, und meine Jagdbeute hatte auch nicht abgewartet, was aus mir geworden war. Er oder es war schon eine ganze Weile weg und hatte den riesigen Leichnam gleich mitgehen lassen. Das Licht im Raum war so schwach, daß ich keine Einzelheiten unterscheiden konnte. Also holte ich meinen Stahl-und-Feuerstein-Anzünder heraus, machte drei ver gebliche Anläufe und suchte dann im Licht der rauchig gelben Flamme nach der Spur der schwarzen Fußabdrük ke, die mir den Weg zu dem feurigen Mann zeigen soll ten. Es gab keine Abdrücke mehr … Ich ging zurück zur Tür, suchte nach den Brandmar 18
ken im Fußboden, die ich vorher gesehen hatte, kehrte zurück und warf leere Karteikartenkartons und Fußbo denöleimer auseinander. Es gab keine Abdrücke, keinen einzigen, nur meine eigenen. Der Staub auf dem Fußbo den war unberührt. Es gab keine Spuren, wo der Leich nam gelegen hatte, es gab keine Spuren von meinem be sinnungslosen Angriff quer durch den Raum. Nur die Spuren, die ich hinterlassen hatte, als ich auf die Beine zu kommen versuchte, bewiesen, daß ich zumindest meine eigene Existenz nicht träumte. Es war mir schon immer ein bißchen blöd vorgekommen – man kann schließlich ein Zwicken genausogut träumen wie irgendein anderes, angenehmeres Gefühl – aber ich packte feierlich eine Hautfalte auf meinem Handrücken zwischen zwei Finger und drückte kräftig zu. Ich fühlte es kaum. Das Dröhnen in meinem Kopf hatte inzwischen einem schwachen Summen Platz gemacht. Es klang wie eine in einer Glaslampe eingesperrte Fliege. Ich machte, daß ich durch die Tür zurück in den Korridor im Erdgeschoß kam. Die große Milchglaskugellampe, die dort von der hohen Decke hing, strahlte ein unnatürliches Stahlblau aus. Ein schwärzlicher Schleier schien die Luft des stillen Korridors zu verdüstern. Er gab dem vertrauten Anblick des weißen Fußbodens und der beschlagenen Türen einen Hauch von Begräbnisatmosphäre. Hinter mir klappte die Tür mit einem erschreckend lauten, metallischen Ge räusch zu. Ich atmete vorsichtig prüfend einige Züge der schwärzlichen Luft ein und versuchte darin irgendeinen Rauchgeschmack zu entdecken – nichts. Ein Blick zur Tür zeigte mir, was ich schon erwartet hatte: glatte brau ne Farbe, ohne die tiefe Brandmarke einer glühenden Hand. 19
Ich durchquerte die Halle und stürzte in ein leeres Bü ro. Auf dem Tisch stand ein kleiner Topf aus Ziegelton, gefüllt mit hartem, wie im Backofen ausgedörrtem Dreck. Ein einziges vertrocknetes Blatt lag daneben auf dem Tisch. Die Uhr auf dem Tisch zeigte fünf Minuten nach zwölf. Ich griff nach dem Telefon, drehte wie wild an der Kurbel. Das Schweigen am anderen Ende war so dicht wie eine steinerne Mauer. Ich kurbelte noch einmal und noch einmal und brachte nicht einmal ein Knacken in der Leitung zustande. Im nächsten Büro hatte ich ge nausowenig Erfolg. Die Telefone waren so tot wie meine Hoffnung auf ein geruhsames und friedliches Leben au ßerhalb einer Gummizelle. Meine Schritte klapperten unnatürlich laut durch den Korridor. Ich ging zum Haupteingang, stieß den schweren Tor flügel auf, stand einen Augenblick still auf dem Treppen absatz und blickte hinab auf meinen Wagen. Er stand noch dort, wo ich ihn verlassen hatte. Die zwei Wagen meiner Eskorte waren verschwunden. Das Wachhaus am Tor war verlassen. Die Straßenlampen schienen ebenfalls ausgeschaltet zu sein. Auch die farbenfrohen Leuchtre klamen an den Türmen der Stadt fehlten. Mein Blick ging hinauf zum Himmel. Er war schwarz, wie ausge wischt. Selbst die Sterne hatten abgeschaltet. Ich kletterte in meinen Wagen und drückte den Start knopf am Boden ein. Nichts geschah. Ich fluchte leise vor mich hin, und versuchte es noch einmal. Wieder nichts. Auch die Hupe funktionierte nicht; und als ich die Scheinwerfer einschaltete, hörte ich nur ein trockenes KLICK. Ich stieg aus und stand einen Augenblick unentschlos sen neben dem Wagen. Dann ging ich um das Gebäude 20
herum zu den Garagen auf der Rückseite. Noch ehe ich sie erreichte, blieb ich stehen. Schon von weitem konnte ich sehen, daß die schweren Tore verschlossen waren. Ich atmete tief ein und bemerkte erst jetzt, daß die Luft tot, verbraucht, wie abgestanden roch. Ich ging zurück, vorbei am leeren Schilderhäuschen, das sonst Tag und Nacht besetzt war, und trat auf die Straße. Tot und dun kel führte sie durch den düsteren Schatten. Natürlich wa ren auch keine Taxen unterwegs. Ein paar Wagen stan den am Bordstein. Als ich auf die Brücke kam, entdeckte ich in der Mitte einen dunklen Schatten. Es war ein Auto, ohne Licht. Ausgerechnet dieser Anblick traf mich härter als alles andere zuvor. Ein leichtes Unwohlsein begann die irri tierte Frustration abzulösen, die knapp unterhalb meines dritten Hemdenknopfes immer stärker geworden war. Ich trat an den Wagen heran, blickte hinein. Kein Mensch drin. Einen Augenblick dachte ich daran, ihn an den Straßenrand zu schieben. Angesichts meiner Verfassung ließ ich es dann aber doch lieber bleiben. Ich fand noch mehr verlassene Wagen in GustavAdolfs-Torg. Alle parkten völlig widersinnig mitten auf der Straße. Einer war ein offenes Sportkabrio. Die Zün dung war eingeschaltet, die Scheinwerfer auch. Aber es war kein Strom da. Ich probierte den nächsten und den nächsten. Alle Schalter waren eingeschaltet. Es schien, als ob in dieser Nacht eine Epidemie sämtliche Autobat terien und dazu auch gleich noch alle Kraftwerke rings um die Stadt lahmgelegt hätte. Meine Stimmung wurde durch dieses Zusammentreffen nicht eben besser. Ich überquerte nun den Platz mit der heroischen Rei terstatue, kam an der dunklen Vorderfront der Oper vor bei, kreuzte die Arsenalsgata, bog dann in die Tradgars 21
gata, vorbei an Geschäften mit herabgelassenen Rollä den. Alles war in ein bleiches, unheimliches Licht, ähn lich dem bei einer Sonnenfinsternis getaucht. Die Stadt war absolut still. Keine Brise bewegte die leblose Luft, kein Brummen eines Automotors störte das Schweigen, kein Füßeklappern, keine Stimmen. Mein leichtes Un wohlsein verwandelte sich rapide in schnell aufeinander folgende kalte Schweißausbrüche. Ich schnitt ein Stück Weg ab, indem ich den Park durchquerte. Wo einmal Wiese gewesen war, trat ich auf nackten Lehmboden. Dieser Widersinn schlug wie ein Blitz durch meine verwirrten Gedanken. Ich blickte zu rück – nichts als eine riesige Fläche steriler Erde. Da wa ren zwar noch die geharkten Wege, die gefliesten Was serbecken, deren Fontänen jetzt schwiegen, das Schutz dach für die Musikkapelle, die grün gestrichenen Bänke, die stählernen Lichtmasten mit den daran befestigten Pa pierkörben der Aktion HALTE DEINE STADT SAU BER und den sauber eingerahmten Tram-Fahrplänen. Aber es gab kein einziges Grashälmchen, keinen Baum, keinen Busch, keine Spur mehr von dem grandiosen hundertjährigen Rhododendron, der noch vergangene Woche in voller Blütenpracht die Titelseite eines populä ren Magazins geschmückt hatte. Ich wandte mich wieder um und fiel jetzt in Laufschritt. Die Übelkeit verwandelte sich in eine unsagbare Furcht, die meine Kehle zusam menpreßte und in meinen Magen eindrang wie fauliges Wasser in den Kielraum einer gestrandeten Galeere. Ich stieß die Eisentore zu meinem Haus auf und keuchte dabei vom Laufen wie ein zu hoch gefüllter Kes sel mit kochendem Wasser. Als ich die glänzend schwar zen Fensterscheiben erblickte, fühlte ich, wie mich eine unerbittliche Einsamkeit, ein Gefühl absoluter Verlas 22
senheit und äußerster Leere überwältigte. Ich ging den Fahrweg hinauf. Wo die Pappeln gestanden hatten, waren jetzt nur noch tiefe schwarze Gruben im grauen Boden. Ein Haufen welker Blätter erinnerte daran, daß hier ein mal Bäume gewachsen waren. Meine Füße knirschten laut auf dem Kies. Ich trat auf den ehemaligen Rasen und fühlte meine Füße in trocke ner, krümeliger Erde versinken. Von der Treppe aus sah ich zurück. Allein meine Fußspuren zeigten, daß hier je Leben existiert hatte – sie und ein Häufchen toter Insek ten unter den Kutschenlampen. Die Tür ging auf. Ich trat ein, spürte auch hier den Todeshauch. Mein Herz schlug heftig und hoch in der Brust. »Barbro!« rief ich. Meine Stimme war nur ein trocke nes Krächzen, das Krächzen eisiger Furcht. Ich rannte durch die Halle, nahm vier Treppenstufen auf einmal, raste durch Speise- und Schlafzimmer und fand nur Stil le, ein schmerzhaftes Schweigen, in dem die Geräusche, die meine Bewegungen verursachten, wie ein erschüt ternder Vorwurf widerhallten. Ich stolperte zurück in die Halle, schrie nach Luc, erwartete gar keine Antwort mehr, schrie nur noch, um die würgende, unheimliche Stille zu übertönen und die Furcht vor dem, was ich in den anderen dunklen, toten Zimmern finden könnte. Dann durchsuchte ich systematisch Raum für Raum, ging zurück, überprüfte auch die Toiletten, rief, riß Türen auf und knallte sie wieder zu, tat nichts gegen die auf steigende Panik, sondern gab ihr durch sinnlose Aktivität Raum. Ich fand nichts. Jedes Zimmer war sauber aufgeräumt, jedes Möbelstück auf seinem angestammten Platz. Jeder Vorhang hing in sauberem Faltenwurf, jede Schale, jedes Buch, alles war an seinem Platz. Nur die Messinguhr auf 23
dem Marmorkamin stand still. Ihr Ticken war verstummt. Und in den großen Keramiktöpfen, in denen breitblättrige Zimmerpflanzen den Räumen ein freundliches Grün ver liehen hatten, war nur die tote Erde zurückgeblieben. Ich stand in der dunklen Bibliothek und starrte hinaus in das düstere, metallische Glühen des Himmels, fühlte die Stil le auf mich eindringen wie ein greifbares Ding, versuchte meine Selbstkontrolle zurückzugewinnen und die Wahr heit endlich anzuerkennen: Barbro war verschwunden – verschwunden mit allen anderen Lebewesen in der Hauptstadt des Imperiums. II Zuerst bemerkte ich das Geräusch gar nicht. Ich saß im leeren Salon, starrte an den schweren Brokatvorhängen vorbei auf die leere Straße und lauschte dem Pochen meines leeren Herzens … Dann hörte ich es: ein gleichmäßiges Stampfen, leise, weit entfernt – aber immerhin ein Geräusch in der schweigenden Stadt. Ich sprang auf, rannte zur Tür und war schon draußen auf den Treppenstufen, ehe ich über haupt auf die Idee kam, daß das ziemlich unvorsichtig war. Das Stampfen wurde jetzt deutlicher. Es war eher ein rhythmisches Klatschen, wie von den Füßen einer marschierenden Truppe, die immer näher kam … Und dann sah ich sie – als eine flackernde Bewegung durch die engen Stäbe des Eisenzauns. Ich zog mich ins Haus zurück, beobachtete aus dem Schutz der Dunkel heit, wie sie in Viererreihen vorbeistampften: riesige Männer in gelblichgrauen, formlosen Coveralls. Ich ver suchte, ihre Zahl zu schätzen. Es waren etwa zweihun dert. Einige schleppten schwere tornisterähnliche Lasten, 24
andere gewehrähnliche lange Waffen, einer oder zwei wurden von ihren Kameraden gestützt. Offensichtlich kehrten sie von einem nächtlichen Auftrag zurück. Als der Letzte vorbei war, lief ich den Fahrweg hinun ter zur Straße, Im Schatten der Gebäude folgte ich ihnen vorsichtig in einigen hundert Yards Abstand. Den ersten betäubenden Schlag hatte ich jetzt überstan den. Ich fühlte mich auf eine ganz seltsame Art losgelöst von allem. Es war die Gleichgültigkeit des einzigen Ü berlebenden. Die Truppe schwenkte jetzt auf die Nybrovi ken zu, schreckliche hochschultrige Marschierer, durch weg einen ganzen Kopf größer als ich mit meinen sechs Fuß. Sie sangen nicht, sie sprachen nicht miteinander, marschierten nur, Block hinter Block, vorbei an leeren Autos, leeren Gebäuden, leeren Parks und einer toten Kat ze, die im Rinnstein lag. Ich hielt einen Augenblick inne und betrachtete den zerfledderten, anklagenden Kadaver. Sie schwenkten linksum in den Uppsalavägen – und da begriff ich, wohin sie wollten. Ihr Ziel war der NetzBahnhof am Stallmästaregarden. Aus dem Winkel eines Hauseingangs beobachtete ich, wie das Ende der Marsch säule in das reich verzierte Tor einbog und hinter dem schweren Portal verschwand, das offensichtlich aus den Angeln gehoben worden war. Einer von ihnen scherte aus und blieb als Wache am Eingang zurück. Geräuschlos überquerte ich die Straße, lief zu einem der Seiteneingänge, vergeudete einige Zeit vor dem ge schlossenen Tor, indem ich mir vorstellte, wie schön es wäre, wenn ich jetzt meinen Spezial-Schlüsselbund nicht zu Hause im Tresor, sondern hier in der Tasche hätte. Dann lief ich zur Rückseite des Gebäudekomplexes. Ü ber nackte Blumenbeete stolpernd, folgte ich der Mauer, 25
die in dem schwärzlichen Licht kaum sichtbar war. Die ses Licht schien, völlig verrückt, eher aus dem Boden als vom sternenlosen Himmel zu kommen. Eine Bretterwand stand mir im Weg. Ich sprang hoch, erwischte die Ober kante, zog mich hoch und ließ mich gleich auf der ande ren Seite in den gepflasterten Hof hinter dem NetzBahnhof hinabfallen. Ein halbes Dutzend kistenförmige mit Rädern versehene Schiffe war hier abgestellt. Sie gehörten zu dem Spezialtyp, der für Fahrten zu den näher gelegenen A-Linien gebraucht wurde – Welten mit Ge meinsamen Geschichtsdaten, die höchstens ein paar Jahrhunderte in der Vergangenheit lagen, wo andere Stockholms existierten, in denen sie als getarnte Liefer wagen völlig unauffällig verwendet werden konnten. Eins der Fahrzeuge stand dicht an der Mauer. Ich klet terte auf die Haube, versuchte von dort aus eins der gro ßen, metallbeschlagenen Doppelfenster zu öffnen. Es bewegte sich nicht von der Stelle. Ich sprang wieder run ter, fummelte im Dunkeln unter dem Schiff herum, brachte schließlich die Standardwerkzeugausrüstung zum Vorschein, fand einen Hammer, kletterte wieder hoch und schlug, so leise ich nur konnte, das Glas aus dem Rahmen. Es machte einen Höllenlärm. Ich lauschte ge spannt, erwartete jeden Augenblick aufgeregte Stimmen, die Fragen stellten. Doch der einzige Laut war und blieb mein stoßweise gehender Atem und ein leichtes Krachen der Federung, als ich mein Gewicht auf dem Schiff ver lagerte. Der Raum, in den ich auf diese Weise hineingelangte, war eine Instandhaltungswerkstatt, an deren Längsseiten Werkbänke voll mit Schiffsersatzteilen standen. An den Wänden hingen Werkzeuge und andere Ausrüstungsge genstände. Ich verließ den Raum durch die Tür am ent 26
gegengesetzten Ende, schlich durch den Korridor zu den Garagen. Von dort hörte ich leise Geräusche. Ich drückte die Tür mit einem Fuß auf, schlüpfte hinein in das hal lende Schweigen des hochgewölbten Depots. Da stand eine Doppelreihe von Netz-Schiffen, eins neben dem an deren, große schwere Zehn-Mann-Fahrzeuge, kleinere Drei-Mann-Spähschiffe und ein paar von den modernen leichten Einsitzern ganz am Ende der Reihe. Zwischen ihnen, durch ihre gewaltigen Dimensionen die übrigen in Zwerge verwandelnd, klumpten ein paar dunkle, klobige Maschinen unbekannter Bauart, plump und häßlich wie riesige Mülleimer, von den elegant ge formten Fahrzeugen des imperialen Netz-Reisedienstes abstechend. Düstere Gestalten bewegten sich zwischen den fremden Maschinen, versammelten sich neben ihnen zu Gruppen, antworteten auf Handbewegungen und gele gentlich gegrunzte Befehle. Ich schlich vorsichtig hinter den Schiffen weiter, schob mich dann zwischen zwei eng beieinander stehenden Maschinen vorwärts, bis ich eine klare Übersicht über das hatte, was hier vorging. Die Türen der ersten von insgesamt fünf fremden Ma schinen standen offen. Ich beobachtete, wie einer der vermummten Männer hineinkletterte. Der nächste in der Reihe folgte. Die Truppen – woher sie auch immer ka men – wollten offenbar die Heimreise antreten. Es waren plumpe Schwergewichtler mit stark abfal lenden hohen Schultern, von Kopf bis Fuß in ausgebeul te, graugelbe Anzüge gehüllt. In ihre Helme waren dunk le Sichtplatten eingelassen. Eine der Maschinen des Im periums behinderte den Strom der sich langsam weiter bewegenden Kolonne; zwei der Eindringlinge traten an sie heran, packten sie an den entgegengesetzten Enden, hoben sie an und warfen sie mit einem Schwung aus dem 27
Weg. Als sie mit kreischendem Metallgestänge und split terndem Glas zu Boden krachte, wich in unwillkürlich weiter zurück in den schützenden Schatten. Das Späh schiff wog gut und gerne seine zwei Tonnen. Inzwischen war das erste fremde Schiff besetzt. Die Reihe der Männer schlurfte zum nächsten. Die Zeit ver rann. In spätestens zehn Minuten würden alle in ihren Maschinen sein und verschwinden – zurück auf die Welt linie, von der sie stammten. Mir war klar, daß es sich um Invasoren aus dem Netz handelte, um eine Menschen rasse, die die Regierung des Imperiums bisher noch nicht kannte, und die doch einen eigenen M-C-Effekt benutzte. Diese Männer waren für mich das einzige Bindeglied zu den verschwundenen Einwohnern des verlassenen Stock holm Null-Null. Hier zu warten war sinnlos. Ich mußte ihnen folgen und dann weiter sehen … Ich atmete noch einmal tief die stickige Bahnhofsluft ein und verließ dann mein Versteck. Dabei fühlte ich mich wie eine Ratte zwischen zwei Löchern. Mein Ziel war eins unserer Zwei-Mann-Spähschiffe, ein stabiles, schnelles, leicht manövrierbares Fahrzeug, hervorragend bewaffnet und mit den modernsten Instrumenten ausge rüstet. Ich erreichte es unentdeckt, bekam die Tür auf. Nur der Verschluß klapperte leise und ließ mir das Herz bis zum Halse schlagen. Doch es gab keinen Alarm. Im Innern genügte das unheimliche Licht immer noch, um mich zurechtzufinden. Ich ging nach vorn zum Kon trollpunkt, setzte mich auf den Fahrersitz und schaltete den Hauptschalter für das Aufheizen ein. Nichts regte sich. Ich versuchte es mit anderen Schal tern. Ohne Erfolg. Der M-C-Antrieb war genauso tot wie die Motoren der verwaisten Autos auf den Straßen. Ich verließ die Maschine. Zweihundert Fuß entfernt hörte ich 28
die Eindringlinge. Zwischen ihnen und mir lag nur die Reihe der Schiffe. Mir kam eine Idee, eine Idee, die mir überhaupt nicht gefiel. Aber mir blieb wohl nichts ande res übrig. Zunächst mußte ich auf die entgegengesetzte Seite der Halle kommen. Ich drehte mich um … Er stand nur zehn Fuß von mir entfernt, gleich neben dem Heck des Schiffs. Aus dieser Nähe sah er wie sieben Fuß groß aus, unheimlich breit gebaut. Seine in Hand schuhen steckenden Hände waren groß wie Aktenta schen. Er trat einen Schritt auf mich zu. Ich wich zurück. Er folgte mir, beinah lässig. Noch zwei Schritte und die anderen konnten mich auch sehen. Ich blieb stehen, der Fremde kam weiter auf mich zu. Seine riesige, stummel fingrige Hand streckte sich nach mir aus. Mein Handgelenk zuckte, und die Bolzenschleuder war in meiner Hand. Ich zielte kurz auf einen Punkt knapp unterhalb seiner Brust und drückte ab. Zusammen mit dem gedämpften Klatschen der Waffe klappte der Monster-Mann wie ein Taschenmesser zusammen, tau melte rückwärts und ging dann mit einem Gepolter wie ein gepanzertes Ritterroß zu Boden. Ich verschwand im Schutz der nächsten Maschine und versteckte mich dort. Es schien unmöglich, daß niemand den Lärm gehört hatte, doch die Geräusche am anderen Ende der Halle dauerten ununterbrochen an. Ich atmete auf und merkte jetzt erst, daß ich bis hierher die Luft angehalten hatte. Mein Herz schlug so rasch wie das eines gefangenen Kaninchens. Immer noch mit der Waffe in der Hand ging ich zu dem Erschossenen. Er lag auf dem Rücken, ausgebreitet wie ein Teppich aus Bärenfell – und genauso groß. Durch die zerbrochene Sichtscheibe sah ich ein breites, rohes toten bleiches Gesicht, mit großporiger Haut, einem breiten, 29
lippenlosen Mund, der jetzt, halb offen, gewaltige gelbe Zähne fletschte. Kleine Augen, blaßblau wie der Winter himmel starrten leblos unter buschigen blonden Brauen wülsten, die wie ein ununterbrochener Riegel quer über die niedrige, fliehende Stirn wuchsen. Eine fettige Sträh ne krausen, blonden Haares quoll auf einer Seite hervor. Es war das abstoßendste Gesicht, das ich je gesehen hat te. Ich wich zurück und verschwand wieder im Schatten. Mein Ziel war jetzt das letzte in der Reihe der fremden Fahrzeuge. Um dorthin zu kommen, mußte ich etwa fünfzig Fuß weit ungedeckt die Halle durchqueren, mit keinem anderen Schutz als dem des düsteren Lichts. Ich trat aus dem Schatten und ging auf leisen dünnen Leder sohlen quer durch den Raum, erstarrte jedesmal, wenn einer der Invasoren sich umwandte, zu einer Salzsäule. Als ich den Schatten fast erreicht hatte, drehte sich einer der Männer in die Richtung, wo mein Opfer verschwun den war. Offenbar hatte er ihn vermißt. Dann schrie einer der Offiziere. Es war ein Laut wie der Todesschrei eines Pferdes. Die anderen achteten nicht darauf. Der Offizier rief einen Befehl und machte sich dann auf die Suche. Bis er seinen Vermißten fand, blieb mir nicht viel mehr als eine halbe Minute. Ich schlüpfte in den Schatten eines Versorgungsschiffes, arbeitete mich weiter vor bis ans Ende, zog mich an dem daneben liegenden feindli chen Schiff hoch und war drin. Ein tierischer Geruch hüllte mich ein. Ungewohnte Proportionen verwirrten mich einen Augenblick. Doch dann erkannte ich mit einem Blick Kontrollpulte, Fahrer sitz, Sichtschirme und Kartentisch. Alles war erkennbar und wich nur in Größe und Form und vielen Details von den Normen des Imperiums ab. Ich warf mich in den ho 30
hen, breiten, harten Sitz und versuchte den Sinn der ecki gen und runden Plastikknöpfe zu enträtseln, die braune und violette Schlagschatten warfen. Rätselhafte Symbole, in Metallstreifen eingraviert, markierten einige barock geformte Hebel, die aus einer matt ockerfarbigen in Fel der eingeteilten Instrumententafel herausragten. Ein paar hervorragende Fußpedale, ungewöhnlich weit auseinan derliegend, zeigten starke Abnutzungserscheinungen. Ich starrte auf die Reihe der Instrumente und fühlte, wie mir der Schweiß auf die Stirn trat. Mir blieben nur wenige Sekunden für eine Entscheidung – wenn ich ei nen Fehler machte … Ein einfacher Hebelgriff mitten in der unterteilten In strumententafel fiel mir auf. Um ihn herum waren deutli che Kratzer auf dem Schirm. Der schlammfarbige Pla stikgriff war vom häufigen Gebrauch an einigen Stellen blank gescheuert. Ich konnte es hier ebenso wie mit jedem anderen versuchen. Zögernd griff ich danach … Draußen durchschnitt ein gräßlicher, schriller Schrei die Stille. Ich zuckte zusammen und stieß mit dem Knie ge gen eine scharfe Kante. Der Schmerz machte mich wütend und erleichterte mir die Entscheidung. Ich biß die Zähne zusammen, packte erneut den Griff und stieß ihn ‘runter. Schlagartig verblaßte das Licht. Ich hörte den Eingang mit einem hallenden Klang zuklappen. Die Maschine vibrierte heftig, die Instrumente führten einen wilden Tanz auf, Kontrollampen flackerten, rätselhafte Linien huschten über einige rosaglühende Schirme. Dann spürte ich einen Schlag gegen den Schiffsrumpf. Offenbar ver suchte einer der Burschen, von draußen hereinzukom men. Aber er kam zu spät. Die Schirme wurden klar und zeigten mir die schwarze Leere unter einem sternenlosen Himmel – das war die vertraute Leere des Blight. Das M 31
C-Feld war aufgebaut, das gestohlene Schiff trug mich durch das Netz der alternierenden Welten. Es entwickelte eine phantastische Geschwindigkeit – das konnte ich an dem unheimlich schnellen Wechsel der vorbeifliegenden parallelen Realitäten der A-Linien erkennen. Meine Flucht war gelungen. Jetzt ging es nur noch darum, die fremde Maschine unter Kontrolle zu bringen. Ich brauchte nur eine halbe Stunde, um mir einen all gemeinen Eindruck von der Bedeutung der wichtigsten Instrumente zu verschaffen. Dann konnte ich ein erstes Manöver mit dem gestohlenen Schiff versuchen. Ich griff nach dem Kontrollhebel, zog daran – er bewegte sich nicht. Ich versuchte es noch einmal, verbog dabei aber nur den Metallarm. Ich stand auf, spreizte die Beine, um einen festen Stand zu gewinnen und zog mit aller Kraft. Mit einem scharfen Knacks brach der Hebel ab. Ich sank zurück in den Sitz und schleuderte den nutzlosen Griff auf den Boden. Offensichtlich war die Steuerung blok kiert. Die Eigentümer des fremden Schiffes hatten Vor sichtsmaßnahmen gegen mögliche Deserteure getroffen, die vielleicht versuchen könnten, die Maschine in irgend eine idyllische Welt ihrer eigenen Wahl zu steuern. Ein mal eingeschaltet, war der Kurs schon festgelegt. Das Schiff wurde automatisch gesteuert. Und ich war ihm hilflos ausgeliefert … III Zwei Stunden vergingen, in denen das Schiff durch uner forschte und nicht kartografierte Tiefen des Netzes raste. Ich saß vor den Sichtschirmen und beobachtete das fanta stisch schnelle Vorbeigleiten der Szenen – jenes sonder bare Phänomen, das Hauptmann Winter vom Netz 32
Reisedienst »A-Entropie« genannt hatte. Bei dieser Ge schwindigkeit, die weit höher war als alles, was die Technologie des Imperiums je erreicht hatte, waren le bende Wesen nicht erkennbar. Ein Mensch mußte im Bruchteil einer Mikrosekunde über den Schirm huschen. Selbst die dauerhafteren Gegenstände wie Straßen, Ge bäude, Steine, Metall und Holz, waren nur undeutlich zu sehen und veränderten sich während des Zuschauens … Vertraute Strukturen schienen zu zerfließen, zu schrumpfen oder sich auszudehnen, hier und da wie Bäume neue Zweige auszutreiben. Ich sah, wie Torwege sich erweiterten, kleiner wurden, verschwanden. Rote Granitblöcke kräuselten sich, zerflossen, veränderten sich nach und nach zu grauen, polierten Fliesen. Die beinahe leserlichen Schriftzüge auf einem nahegelegenen Laden fenster verkrümmten sich, bauten sich neu auf: romanti sche Versalien verschwammen zu Formen, die eher kyril lischen Lettern ähnelten, änderten sich wieder und wieder und wurden schließlich zu bedeutungslosen Symbolen. Ich sah Hütten und Häuser erscheinen, sich aufblähen, sich zusammendrängen und dann wieder aufknospen zu gewaltigen, klaren, unglaublich hohen Wolkenkratzer formen, deren Spitzen sich den Blicken entzogen. Bal kons sprossen aus Fenstersimsen, wuchsen zu großen, tragenden Terrassen herauf, wurden immer weiter, ver deckten den Himmel und zogen sich wieder zurück, wenn neue Fassaden entstanden. Unheimliche, schwarz gerippte Säulen, die tausend Fuß steil in den unveränder ten Himmel ragten, wurden durch enge Brücken verbun den, die sich wie sehnige Finger ausstreckten, sich erwei terten, zu einem riesigen Netzwerk ausdehnten, das die Turmspitzen miteinander verstrickte wie ein Spinngewe be, dann wieder zerriß, verschwand, bis schließlich nur 33
noch hier und da eine Spange zwischen nunmehr schwer fällig-klobigen Türmen übrigblieb, die wie eine Reihe von aneinandergeketteten Ungeheuern aussahen. Und all dies spielte sich in einem gefrorenen, ewigen Augenblick von Zeit ab, während das gestohlene Schiff blindlings durch die Linien der alternierenden Welten seinem unbe kannten Ziel entgegenraste. Ich saß wie in Trance. Dann wurde mein Kopf schwer. Ich begann einzunicken; meine Augen schmerzten scheußlich. Mir fiel ein, daß ich noch nicht zu Abend gegessen hatte, daß ich seit wer weiß wie vielen Stunden ohne Schlaf war. Ich durchsuchte die Kabine und fand einen grob gewebten Umhang, der halb nach den Wohl gerüchen eines lange nicht gelüfteten Umkleideraums und halb nach Stall duftete. Aber ich war zu müde, um wählerisch zu sein, breitete das Tuch auf dem Boden in dem engen Raum zwischen Fahrersitz und Kraftstation aus, rollte mich darauf zusammen, ließ mich von meiner totalen Erschöpfung überwältigen … … und fuhr erschreckt aus dem Schlaf hoch. Das gleichmäßige Dröhnen der Fahrt hatte sich in tiefes Summen verwandelt. Nach meiner Uhr war ich etwas weniger als dreieinhalb Stunden unterwegs. Doch so kurz die Reisezeit auch gewesen war – das häßliche, aber phantastisch schnelle Schiff hatte mich in dieser Zeit in Regionen des Netzes verschlagen, in die die Späher des Imperiums noch nie vorgedrungen waren. Ich rappelte mich hoch, öffnete mühsam die Augen, weit genug, um die Bildschirme zu erkennen. Sie zeigten eine Szene, die den Delirien eines Trun kenbolds glich. Fremdartig gekrümmte Türme wuchsen aus dem Dunkel empor. Durch leere Canyons führten Fußwege über Haufen von Abfall und verbanden dicht 34
besetzte Ställe miteinander. Zwischen torlosen Steinbö gen standen hochrädrige Karren, beladen mit unbegreifli chen Formen und Produkten aus Leder, Holz und Metall. Von gebogenen Türstützen, Mauervorsprüngen und Pila stern schielten, glotzten und grinsten groteske Fratzen wie Dämonen aus einem Aztekengrab. Während ich noch sprachlos starrte, erstarb das Brummen des Schiffs zu einem immer leiseren Murmeln und endete schließlich ganz. Die soeben noch fließende Szene gefror mit einem Schlag zur Bewegungslosigkeit der Identität. Ich war angekommen – irgendwo. Aber die Straße – wenn dieser Begriff auf diese merkwürdige Allee überhaupt paßte – war verlassen. Dasselbe schwammige Licht, das ich schon aus den Stra ßen Stockholms kannte, glühte schwach von jeder Ober fläche unter der toten, leeren, undurchdringlichen Schwärze des Himmels. Plötzlich, ohne Vorwarnung, erfaßte mich eine wür gende Übelkeit. Das Schiff schien sich mit mir in die Luft zu heben, zu schaukeln, um seine eigene Achse zu wirbeln. Gewaltige Kräfte erfaßten mich, rissen mich auseinander, bis ich so dünn war wie ein Kupferdraht, fädelten mich durch das glühend heiße Öhr einer Nadel, schmiedeten mich dann wieder zu einem massiven Block zusammen, so, wie eine hydraulische Presse Schrottautos zu handlichen Paketen stampft. Ich hörte ein pfeifendes Geräusch – aber das war ich selbst, als ich versuchte, schmerzhaft keuchend Luft in meine leeren Lungen zu pumpen … Der Druck wich. Ich lag der Länge lang mit dem Rük ken auf dem harten Boden, noch immer am Leben, sogar in meiner gewöhnlichen Gestalt, und beobachtete das Flackern der Signallampen auf dem Armaturenbrett. Ich 35
fühlte den scharfen, beruhigenden Schmerz des ehrlich erworbenen Schnitts auf meinem Knie, sah ein kleines, schwarz getrocknetes Blutgerinnsel durch den Riß im Hosenstoff. Als ich aufstand, fiel mein Blick auf den Bildschirm. Das zwei Fuß breite Rechteck der Sichtscheibe zeigte mir eine unübersehbare Menge in derselben Straße, die noch soeben völlig verlassen gewesen war. Ein Haufen gedrun gener, untersetzter, langarmiger Kreaturen quirlte und wogte durcheinander. Das alles spielte sich in einem ver wirrenden Wechsel von Licht und Dunkel ab, weil nur hin und wieder die Strahlen des Sonnenlichts von hoch oben in den tiefen Schatten des Canyons Einlaß fanden … Hinter mir knirschte Metall. Ich warf mich herum und sah den Hebel zurückweichen und die Eingangstür auf schwingen. Das Schiff zitterte, bebte, und eine riesige, breite Gestalt kam durch die Öffnung herein. Sie sah aus wie ein Monster aus einem Horrorfilm mit ihrem unför migen, dicht behaarten Schädel, ihrem bleichen, kinnlo sen, dünnlippigen Gesicht, ihren gewaltigen, trichterför migen Ohren und ihrem massiven gedrungenen Körper, der in Riemen gezwängt und mit klappernden Ringen und Metallscheiben behängt war, was zu dem zotteligen Fell dieses blonden Gorillas überhaupt nicht paßte. Die Muskeln meines rechten Handgelenks spannten sich, um die Bolzenschleuder in meine Hand zu werfen. Doch dann entspannte ich mich und ließ die Arme sin ken. Diesen Burschen konnte ich töten, vielleicht auch noch den nächsten, der hereinkam. Doch hier stand mehr auf dem Spiel als allein mein persönliches Schicksal. Noch vor einem Augenblick habe ich das Wunder der absolut leeren Straße gesehen, die sich im Handumdre 36
hen in einen wimmelnden Markt verwandelte. Wenn die grotesken, goldhaarigen Affen das Geheimnis dieses Zaubers kannten, dann war es vielleicht möglich, mein eigenes Stockholm wieder aus dem Tod zurückzuholen. Ich mußte das Geheimnis nur entdecken. »O. k. Dicker«, sagte ich laut. »Ich komme freiwillig mit.« Die Kreatur hatte mich jetzt erreicht, packte mit einer Hand wie eine Baggerklaue meine Schulter, hob mich buchstäblich hoch und stieß mich durch die Tür. Ich stol perte im Schwung über die Schwelle und stürzte hinaus in eine Luft, die nach verwesendem Fleisch und zerkoch tem Brokkoli stank. Ein Knurren lief durch die zottelige Menge, die mich wie eine Mauer umringte. Schnatternd wichen sie ein paar Schritte zurück. Ich rappelte mich wieder hoch und klopfte mir den stinkenden Unrat vom Anzug. Mein Wärter kam jetzt auch aus dem Schiff und packte meinen Arm, als wollte er ihn ausreißen. Ich trat auf eine Melonenschale, rutschte aus und ging erneut zu Boden. Etwas traf mich mit der Gewalt einer gefällten Eiche auf den Rücken. Ich brach zusammen, versuchte auf Hände und Knie zu kommen, um endlich die Bot schaft des Weißen Mannes an die gaffende Meute zu richten, erhielt aber einen Tritt in den Hintern, der mich vorwärts schleuderte und mit Nase und Kinn durch mat schigen, übelriechenden Müll pflügen ließ. Spuckend kam ich wieder hoch, gerade richtig, um einen schmiede hammerähnlichen Schwinger ins Gesicht zu kassieren. Vor meinen Augen explodierten Milliarden Sonnen wie ein Freudenfeuerwerk aus jener längst vergangenen Welt, aus der ich selber stammte. Als ich wieder zu mir kam, fühlte ich, daß meine Füße über den Boden schleiften. Ich versuchte zu gehen, um 37
den brutalen Druck harter Finger unter meinen Armen etwas zu lockern. Dann stolperte ich weiter, halb von zwei haarigen Männern gezogen, halb aus eigener Kraft. Nur zögernd gab die plappernde Menge uns eine enge Gasse frei, die die beiden sich mit harten Schulterstößen bahnten. Hunderte blaßblauer Augen starrten mit äußer stem Ekel auf mich herab, so, als sei ich die Verkörpe rung eines schweren und schrecklichen Übels. Anscheinend hatten sie mich schon ziemlich weit ge schleppt, bis ich meine Gedanken geordnet und mich mit der Tatsache meiner Gefangenschaft vertraut gemacht hatte. Diese Wesen weckten längst vergangene Erinne rungen an Giganten und Märchenriesen, die um Mitter nacht durch Kinderträume poltern. Aber sie waren so wirklich wie das Leben. Allein ihr Gestank genügte, um mich davon zu überzeugen. Dabei kratzten sie ihre Felle mit bananenförmigen Fingern und zeigten gewaltige, gelbliche Fangzähne, wenn sie vor Begeisterung oder Abscheu Grimassen schnitten. Und ich stolperte durch dieses Tohuwabohu heiserer Laute und zu Tränen rei zenden Gestanks, wohin meine beiden Büttel wollten. Aus einer engen Gasse kamen wir auf eine breitere a ber keineswegs sauberere Avenue. Sie war gesäumt von vielfach übereinandergeschachtelten Läden, vor denen grauhaarige Kaufleute hockten. Die blinzelten von ihren Hochsitzen herunter, priesen Waren an, warfen das Ge kaufte zu den Kunden hinunter und erhaschten dicke, viereckige Münzen im Flug. Da gab es aufgehäufte Früchte, seltsam geformte Tongefäße, verschlossen und versiegelt mit einer purpurfarbenen, teerähnlichen Masse, graubraun gefärbte Matten aus gewebten Fasern, verrückt aussehende Mechanismen aus gehämmerten Metallblät tern, Harnische, Lederstreifen mit massiven Messing 38
schnallen, Ketten blank polierter Messing- und Kupfer scheiben wie an altenglischen Pferdegeschirren. Durch diesen phantastischen Bazar schob und drängel te eine unüberschaubare Menge von verschiedenartigen Hominiden. Ein Dutzend Rassen und Farben zottiger Un termenschen, Halbmenschen, Affenmenschen, men schenähnliche Giganten mit großen Büscheln bläulicher Haare, die knallrote Gesichter umrahmten, unglaublich große und schlanke Kreaturen mit glattem, schwarzem Fell, lächerlich kurzbeinige mit langen Plattfüßen, breite, fast quadratische Individuen mit runden Schultern und langen schweinerüsselähnlichen Nasen … Einige von ihnen trugen Ketten und Stränge aus po lierten Schnallen, andere hatten ein oder zwei Stücke lä cherlichen Tand an Lederriemen umgehängt, die ihre einzigen Kleidungsstücke zu sein schienen. Wieder ande re, die am meisten verdreckten Mitglieder dieser Gesell schaft, hatten überhaupt nichts auf dem Leib. Ihre Schul tern waren von Tragegurten blankgescheuert, ihre Füße vom vielen Laufen hornig. Und über all dem tanzten und summten Tausende von fetten, blauen und grünen Flie gen wie ein lebender Baldachin. Wir erreichten das Ende des Boulevards. Meine Leibwa che stieß mich eine abfallbedeckte Treppe hinauf und zerr te mich durch einen plumpen Torbogen in eine asymme trische Eingangshalle. Ich versuchte, den Windungen und Kurven, dem Auf und Ab des anschließenden tunnelähn lichen Ganges zu folgen, um mich notfalls bei einem Ausbruch zurechtzufinden, verlor aber schnell die Über sicht. Es war, abgesehen von den alle fünfzig Fuß in der Wand steckenden gelblichen, qualmenden Fackeln, stockdunkel wie in einem Kaninchenbau. Die Wände 39
scheinen nur roh aufeinandergetürmt. Gelegentlich er kannte ich Seitengänge. Nach ein paar hundert Schritten erweiterte sich der enge Tunnel zu einem größeren düste ren Raum. Einer meiner Aufpasser wühlte in einem Hau fen Müll und förderte ein breites, dickes schwärzliches Lederband zutage. Mit dem einen Ende befestigte er es an einem Wandhaken, das andere verknotete er um mein Handgelenk und lehnte sich dann an die Wand. Der zwei te Kerl verschwand in einen Korridor, der steil nach oben führte, und war schnell außer Sicht. Ich scharrte mit den Füßen so viel von dem feuchtklammen Müll beiseite, bis ich einen einigermaßen trockenen Sitzplatz fand, und hockte mich erwartungsvoll nieder. Früher oder später würde mich irgend eine höhere Persönlichkeit zu spre chen wünschen. Das war sonnenklar. Dann würde man miteinander reden können. Denn, so meinte ich, als Netz reisende Rasse mußten meine Wächter doch auch gewis se linguistische Fähigkeiten besitzen. Und dann … Allmählich streckte ich mich in voller Länge auf dem schmuddeligen Boden aus, dachte noch einen Augen blick darüber nach, wie komfortabel einem doch selbst so ein schmieriger Steinfußboden vorkommen kann, wenn man nur ordentlich müde ist und – spürte plötzlich wie der einen dieser brutalen Fußtritte in den Nieren. Ich fuhr hoch, wurde gleichzeitig an dem Lederriemen auf die Beine gerissen, und dann marschierten wir eine weitere schmutzige Passage entlang. Meine Füße waren inzwi schen so schwer, daß sie mich kaum noch trugen. Mein Magen fühlte sich an wie eine einzige große Wunde. Ich versuchte nachzurechnen, wie viele Stunden ich ohne Essen gewesen war, kam aber nicht mehr dahinter. Mein Verstand arbeitete nur noch widerstrebend wie eine Uhr, in die man einen Löffel Sirup gefüllt hat. 40
Der Raum, den wir jetzt erreichten, mußte in dem Ka ninchenstallgebäude, durch das wir uns bewegten, ir gendwo ziemlich hoch liegen, dachte ich. Wir waren meistens aufsteigende Korridore entlanggegangen. Er war gewölbt, beinahe kreisrund, hatte zahlreiche Nischen auf die ganze Wand verteilt und stank fürchterlich nach Dung und verrottetem Heu. Ich kam mir vor wie in der Affenhöhle eines Zoos und nicht wie in einer menschli chen Behausung. Unwillkürlich blickte ich mich nach dem Tunnel um, aus dem gleich der Bär kommen mußte. Haufen grauer Lumpen lagen in einigen Nischen. Ei ner bewegte sich plötzlich. Erst da bemerkte ich, daß in den Lumpenbündeln lebendige Kreaturen steckten. Die eine, die sich bewegt hatte, war ein unglaublich altes Ex emplar der Rasse, zu der auch meine Wärter gehörten. Die beiden schleppten mich vor ihn. Ihr Gesichtsaus druck wurde unterwürfig. In dem jämmerlichen Licht, das aus einigen Öffnun gen in der Decke spärlich eindrang, sah ich eine Hand wie eine dürre Lederklaue hochkommen und genüßlich das dünne, mottenzerfressene Brustfell kraulen. Dann sah ich seine Augen, blaßblau, halbverhangen von faltigen Lidern, in dicken, blutroten Tränensäcken schwimmend. Sie starrten mich an, fest, ohne zu blinzeln. Dicke Bü schel grauer Haare sprossen aus gähnenden, zollgroßen Nasenlöchern. Der Mund bestand aus zusammengezoge nen Falten, war zahnlos und weit wie eine Handtasche. Der Rest dieses Gesichts waren Runzeln und Falten, ein gerahmt von langen Locken ungekämmten weißen Haa res, aus dem langlappige Ohren hervorstanden. Sie waren obszön rosa und nackt. Das Kinnhaar, verschmiert mit irgendwelchen vergammelten Speiseresten, hing bis auf die eingefallene Brust. Ganz aus Versehen atmete ich 41
einen Augenblick tief ein und wurde von dem Gestank eines verfaulenden Wals fast umgeworfen. Meine Wäch ter richteten mich brutal wieder auf. Der Patriarch gab ein heiseres, krächzendes Geräusch von sich. Ich wartete, atmete vorsichtshalber durch den Mund. Einer meiner Wärter schüttelte mich wie einen dünnen Apfelbaum und bellte mir was ins Ohr. »Tut mir leid, Leute«, krächzte ich, »nix kapisco!« Der bärtige Alte sprang in die Höhe, als hätte er sich auf ein heißes Bügeleisen gesetzt. Er sabberte etwas, be sprühte mich dabei von oben bis unten, hüpfte mit er staunlicher Ausdauer und Energie auf und ab, schrie un unterbrochen, hielt plötzlich inne und brachte sein Ge sicht ganz nah an meins heran. Einer der Wächter packte mich wie eine junge Katze im Genick. Offensichtlich hatte er vorausgesehen, wie ich sonst reagiert hätte. Ich starrte bewegungslos in ein paar blaue Augen – Augen so menschlich wie meine, aber in einem Gesicht, das allen falls die Karikatur eines Menschen war. Ich sah die Po ren, dick wie Streichholzköpfchen und ich sah ein Rinn sal Speichel aus seinem halboffenen Mund in den Bart tröpfeln … Schnaufend lehnte er sich zurück, wedelte mit dem Arm, hielt offensichtlich eine Ansprache. Als er fertig war, piepste von links ein dünnes Stimmchen. Ich drehte mich in die Richtung und sah, wie sich ein zweiter Hau fen verrottetes Bärenfell in Sitzposition begab. Meine Eigentümer wirbelten mich herum, hielten mich fest, damit auch der zweite Alte, womöglich noch häßlicher als der erste, mich von oben bis unten in aller Ruhe be trachten konnte. Während er starrte und seiberte, wander te mein Blick aufwärts zu einer der höheren Nischen. In ihrem Schatten konnte ich die aufrechtstehenden Kno 42
chen eines Skeletts erkennen. Seine leeren Augenhöhlen blickten mich an, während die massiven Kinnladen sar donisch grinsten. Ein starker Lederriemen hielt noch im mer seine Halswirbel umschlungen. Offensichtlich war die Mitgliedschaft in diesem höchsten Gremium eine Le bensstellung bis zum Tode. Ein Zerren an meinem Arm brachte mich wieder zu rück in die Wirklichkeit. Der Opa vor mir kreischte los. Ich gab keine Antwort. Er wölbte seine Lippen zurück, entblößte gelbe, zahnlose Kiefer und eine Zunge wie ein mit Sand gefüllter rosa Socken. Dann brüllte er los. Der Lärm weckte eine Handvoll weiterer weiser alter Herren. Sie heulten und quäkten aus den verschiedensten Rich tungen Antwort. Pflichtschuldigst schleppten mich meine Wächter zum nächsten Richter. Das war ein fettleibiger Bursche mit einem gewölbten, aber kaum behaarten Wanst, über den große schwarze Flöhe wie Bluthunde nach einer verlorenen Spur suchend, hin und her rasten. Er hatte tatsächlich noch einen Zahn übrig, einen haken förmigen, gelbbraunen, zollangen Eckzahn. Den zeigte er mir stolz, blubberte irgendwas, lehnte sich plötzlich vor wärts und schlug mit einem kranlangen Arm nach mir. Meine aufmerksamen Beschützer rissen mich zurück, als ich mich duckte. Ich war ihnen dafür dankbar. Selbst die ser alte verkommene Taugenichts hatte genug Kraft, um mir mit einem Schlag die Kinnladen zu zerschmettern oder das Genick zu brechen. Von einer Nische hoch oben in einer dunklen Ecke kam ein ärgerliches Gebrüll. Also steuerten wir in diese Richtung. Eine magere Hand, der zwei Finger fehlten, zog einen gekrümmten Körper in Sitzposition. Ein halbes Gesicht blickte auf mich herab. Wo einmal die rechte Hälfte gewesen war, sah man nur noch Narben und of 43
fenliegende Knochen. Die Augenhöhle war noch vorhan den aber leer, das Lid war verschrumpelt und herabgefal len. Der Mund, dem eine Hälfte fehlte, ging nicht mehr ganz zu. Dieser Mangel verursachte ein dauerndes aus drucksloses Lächeln, das zu dieser Horrorgestalt paßte wie eine Pudelfrisur zu einer Hyäne. Ich stolperte jetzt, reagierte nicht mehr so prompt, wie meine Führer es gern gehabt hätten. Der linke, gewalttä tigere von den beiden, hob mich an einem Arm hoch und schmetterte mich wieder auf den Boden, dann schüttelte er mich wie ein nasses Handtuch. Ich riß mich los und schlug ihn mit aller Gewalt in den Magen. Es war, als schlüge ich gegen einen Sandsack. Er brachte mich ohne sichtliche Erregung zurück in die Position, die er haben wollte. Offensichtlich hatte er meinen Hieb überhaupt nicht bemerkt. Dann warteten wir in der Mitte des Raumes auf die Entscheidung der weisen Männer. Sie überlegten offen sichtlich lange. Dann spielte einer plötzlich verrückt, spuckte wie wild auf den Fettleibigen. Der griff sich eine Handvoll Fleischabfall und Gedärme und schleuderte sie auf den ersten, und das war das Zeichen für das Ende der Sitzung. Meine Helfer zogen sich zurück, schoben mich wieder hinaus in einen Gang und schleppten mich einem neuen Ziel entgegen. Der Marsch endete in einem weiteren Raum wie die anderen, eher nur eine Ausweitung des Korridors. Dies mal wurde ich am Knöchel angebunden und durfte mich setzen. Ein Tontopf mit einer Art Brei wurde mir zuge worfen. Ich roch daran, würgte, übergab mich fast und stieß ihn zurück. So hungrig war ich nun doch nicht. Wieder verging etwa eine Stunde. Dann kam ein Bote, bellte einen Befehl. Meine Eskorte stand auf, leckte sich 44
sorgsam die Finger mit dicken, rosa Zungen, groß wie Schuhsohlen, und löste meine Lederfessel. Und weiter ging es, diesmal abwärts, bis wir endlich in einen engen Gang kamen, der als Sackgasse endete. Mein etwas brutalerer linker Begleiter verdrehte mir den Arm und stieß mich auf eine runde, zwei Fuß große Öffnung zu. Sie glich einem riesigen Rattenloch, etwa achtzehn Zoll über dem Boden, gerade groß genug, um einen Mann durchzulassen. Einen Augenblick zögerte ich. Das sah nach dem Ende meines Weges aus. Einmal hier drin, konnte ich nicht mehr entkommen. Allerdings hatte ich dazu auch bisher keine Möglichkeit gesehen. Ein Schlag gegen die Schläfe knallte mich gegen die Mauer. Ich ging zu Boden, warf mich auf den Rücken. Der mich geschlagen hatte, stand über mir, bereit zu ei nem neuen Hieb. Von dem Kerl hatte ich die Schnauze voll. Ohne die Konsequenzen zu bedenken, zog ich die Knie an und trat ihn mit aller Kraft in die Leistengegend. Er klappte über mir zusammen, so daß mein zweiter Tritt ihn genau im Gesicht erwischte. Rosa Blut floß aus sei nem Mund. Der andere Affenmensch packte mich und stieß mich nahezu beiläufig durch das Loch in die Höhle. Hier war die Luft feucht und so stickig, daß man sie wie einen alten Käse schneiden konnte. Nach fünf Fuß Kriechen kam ich an eine Kante. Ich tastete sie ab, fand den Boden zwei Fuß tiefer, brachte die Beine über die Kante und stand dem Eingang zugewandt, die Waffe in der Hand, um dem großen Lümmel eine böse Überraschung zu bereiten, wenn er sich jetzt rächen wollte. Doch dann sah ich die zwei als Silhouetten gegen das Licht des Korridors. Mein Freund stützte sich auf seinen Kumpan und stieß jammernde Klagequieker aus. Dann 45
gingen sie weiter den Korridor hinauf. Was auch ihre Befehle waren – sie enthielten nicht den Auftrag, sich an dem fremden Exemplar zu rächen. Jedenfalls noch nicht. IV Es ist Tradition, daß man in einem neuen Gefängnis, in dem es auch noch finster ist, zunächst einmal durch Ab schreiten die Größe des Raums mißt. Vermutlich verleiht einem diese Eröffnung des Aufenthalts irgendwie das Gefühl, man gewinne so in einem mystischen Sinne Ge walt über seine Umgebung. Natürlich war ich nicht regel recht eingekerkert. Ich konnte durch das Loch zurück kriechen in den Korridor. Aber dort würde ich vermutlich bald auf meine Wächter stoßen, und diese Idee gefiel mir im Augenblick überhaupt nicht. Also fing ich doch lieber erst mal mit dem Abschreiten der Zelle an. Ich begann an der Öffnung, machte einen Schritt von schätzungsweise drei Fuß Länge und knallte schon gegen eine Mauer. Hier ging’s also nicht weiter. Zurück an meinem Ausgangspunkt, versuchte ich es noch einmal in eine andere Richtung. Diesmal machte ich vorsichtig kleinere Schritte. Aus der Dunkelheit vor mir hörte ich ein Geräusch. Ich hielt inne, einen Fuß in der Schwebe, atmete nicht, lauschte … »Vansi pa’ me’ zen pa’«, sagte ein weicher Tenor aus der Dunkelheit. »Sta’ zi?« Ich wich einen Schritt zurück. Die Waffe hatte ich noch in der Hand. Der andere war im Vorteil. Seine Au gen mußten sich längst an die Dunkelheit gewöhnt ha ben. Außerdem zeichnete sich meine Silhouette für ihn nur allzu deutlich gegen das schwache Licht des Ein 46
gangs ab. Bei diesem Gedanken ließ ich mich flach auf den Boden fallen. Schnell fühlte ich die kalte Nässe in meine Kleider eindringen. »Bo’ jou’, ami«, sagte die Stimme. »E’ vou Gallic?« Wer das auch war, vermutlich war er ein Mithäftling. Und die Sprache, die er jetzt gebrauchte, klang keines wegs nach dem Grunzen und Bellen der Ungeheuer draußen. Trotzdem hütete ich mich erst mal davor, mit offenen Armen zu ihm rüber zu gehen und Freundschaft zu schließen. »Kansh’ tu dall’ Scansk …?« meldete die Stimme sich wieder. Und diesmal verstand ich ungefähr, was er mein te. Die Aussprache war zwar gräßlich, doch es klang tat sächlich wie Schwedisch. »Vielleicht Sie sind Angelsachse«, sagte die Stimme jetzt in gebrochenem Englisch. »Vielleicht«, antwortete ich und hörte meine Stimme krächzen: »Wer sind Sie?« »Ah, gut. Ich Sie sehen einen Augenblick deutlich, als Sie eintraten.« Der Akzent erinnerte mich etwas an Un garn. Außerdem ergab das, was er sagte, nur wenig Sinn. »Warum sie Sie fangen? Woher Sie kommen?« Ich rutschte ein paar Fuß weiter zur Seite, um aus dem Licht der Eingangsöffnung zu verschwinden. Der Boden war hier leicht nach oben geneigt. Einen Augenblick dachte ich daran, mein Feuerzeug anzuzünden. Doch dann würde ich ein ungleich besseres Ziel abgeben als jetzt, falls der neue Kumpel unfreundliche Absichten ha ben sollte. Und bisher hatte ich in diesem Land der Af fenmenschen noch nichts angetroffen, das dieses Miß trauen als unberechtigt erscheinen ließ. »Brauchen Sie keine Angst haben«, drängte die Stim me. »Ich Freund.« 47
»Ich habe Sie gefragt, wer Sie sind«, sagte ich. Ich war noch immer auf dem Sprung. Außerdem war ich müde und hungrig und völlig zerschlagen. Eine Stimme ohne Gestalt war das letzte, das meine zum Zerreißen gespann ten Nerven jetzt beruhigen konnte. »Mein Herr, habe ich Ehre, mich Ihnen bekannt zu machen: Feld-Agent Dzok, zu Diensten.« »Feld-Agent, von wo?« Meine Stimme klang unwill kürlich scharf. »Vielleicht besser für nähere Bekanntschaft, gut ab warten und mehr Vertrauen«, sagte der Feld-Agent. »Sprechen bitte weiter, so ich kann lokalisieren besser Ihren Dialekt.« »Der Dialekt ist Englisch«, sagte ich. Gleichzeitig machte ich einen weiteren Schritt zurück und die Schräge hinauf. Ich wußte zwar nicht, ob er mich sehen konnte. Aber es ist eine uralte Maxime, daß man oben strategisch besser dran ist als unten. »Englisch? Ah, ja, ich glaube, jetzt ich kann mir mnemotechnisch ein bißchen weiterhelfen. Es sich han delt dabei um eine nicht sehr bedeutende Untergruppe der Angelsachsen. Aber weil mein linguistisches Trai ning für einen Agenten der Klasse IV ganz hervorragend gewesen ist, wird es jetzt besser mit der Unterhaltung klappen.« Die Stimme klang etwas näher. Die Sprache war grammatisch richtiger. »Sie machen es jetzt ganz prima«, bestätigte ich und ging rasch noch weiter zurück. Zu spät bemerkte ich die Kante hinter mir, schrie auf, kippte rückwärts und schlug mit dem Hinterkopf hart auf den drei Fuß tiefer gelegenen Steinboden auf. Mein Schädel summte wie ein ganzer Bienenstock. Dann hörte ich ein lautes, schrilles Klingeln und sah weiße Blitze zucken. 48
Und schließlich tastete eine Hand über meine Brust und schob sich unter meinen Kopf. »Tut mir leid, alter Junge«, sagte die Stimme ganz na he. »Ich hätte Sie warnen müssen. Mir ist am ersten Tag genau dasselbe passiert.« Ich setzte mich, tastete schnell den Boden ab und ließ die Waffe unauffällig wieder in ihre Halfter gleiten. »Ich war wohl allzu vorsichtig«, sagte ich. »Allerdings hatte ich auch nicht erwarten können, hier ein anderes menschliches Wesen zu treffen.« Vorsichtig betastete ich meine Nackenwirbel, fand sie noch intakt. Dann befühlte ich eine tiefe Schramme am Ellbogen. »Sie haben sich am Arm verletzt?« fragte mein Zellen gefährte. »Lassen Sie mich mal sehen. Ich hab’ etwas Sal be dafür …« Ich merkte, wie er sich durch die Zelle be wegte, hörte einen Verschluß schnappen und wie er in irgend etwas herumkramte. Da zog ich mein Feuerzeug heraus und ließ es aufflammen. Es blendete mich. Ich hielt es hoch über meinen Kopf und – schnappte nach Luft. Agent Dzok hockte nur etwa einen Yard entfernt ne ben mir und wandte seinen Kopf von der blendenden Lichtquelle ab. In seinen Händen hielt er ein Erste-HilfePäckchen … und diese Hände waren von einem dichten, seidenweichen Fell bedeckt, das unter den verdreckten Stulpen seiner zerdrückten weißen Uniform verschwand. Seine Arme waren übermäßig lang und kräftig, seine in abgetragenen weichen Lederschuhen steckenden Füße hatten merkwürdige lange Fersen. Der runde Kopf war dunkelhäutig und hatte eine lange Nase. Dzok wandte sich mir wieder zu, blinzelte mit tiefliegenden, gelbli chen, eng zusammenstehenden Augen über einem breiten Mund, der sich jetzt zu einem noch breiteren Lächeln öffnete und dabei große weiße Zähne entblößte. 49
»Das Licht ist reichlich hell«, sagte er mit seiner me lodischen Stimme. »Ich habe hier schon zu lange im Dunkeln gesessen.« Ich schluckte, machte dann das Licht wieder aus. »Tut mir leid«, murmelte ich verlegen. »Wa… woher, sagten Sie, kommen Sie?« »Sie sehen ziemlich verblüfft aus«, meinte Dzok amü siert. »Ich nehme an, daß Sie unserem Zweig der Homi niden noch nicht begegnet sind.« «Ich hatte bisher immer die komische Idee, daß wir von der Art Homo sapiens der einzige Zweig der Familie wären, die es hinauf bis ins Känozoikum geschafft hat«, sagte ich. »Es war schon eine Schock, die Burschen da draußen zu treffen. Und jetzt auch noch Sie …« »Hmm. Ich glaube, unsere beiden Familien trennten sich in Ihrem späten Pliozän. Die Hagroons sind eine noch spätere Nebenlinie, ungefähr vom Ende des Pleisto zän, etwa eine halbe Million Jahre zurück.« Er lachte leise. »Sie sehen daraus, daß die mit Ihnen als Homo sa piens enger verwandt sind als mit uns aus dem Reich der Xonijeels …« »Das ist allerdings deprimierend.« Dzoks rauhe Hand tastete meinen Arm ab, hielt ihn dann fest, als er die Wunde berührte. Der kühlende Bal sam ließ das Pochen sofort aufhören. »Wie haben sie Sie erwischt?« fragte Dzok. »Gehörten Sie zu einer Gruppe, die sie unterwegs gefaßt haben?« »Soviel ich weiß, bin ich der einzige.« Ich war immer noch vorsichtig. Dzok schien zwar ein freundliches We sen zu sein, aber für meinen Geschmack hatte er etwas zu viel Haar. Dieses Vorurteil hätte ich vor meinem Zu sammenstoß mit den Hagroons vermutlich nicht gehabt. Aber jetzt … Die mochten zwar entwicklungsgeschicht 50
lich näher mit mir als mit ihm verwandt sein, aber ge fühlsmäßig standen die Hagroons für mich dem Agenten näher, auch wenn Dzok eher zu den Tarsioiden als zu den Anthropoiden gehören mochte. »Merkwürdig«, sagte Dzok. »Normalerweise fangen sie immer wenigstens Gruppen um die fünfzig. Ich ver mute, daß diese Zahl das Mindeste ist, was man haben muß, um eine gewisse Analyse von Sitten und Gebräu chen, Sprache und so weiter zuwege zu bringen.« »Und wozu das alles?« »Um die Gefangenen nutzbringend zu verwenden«, sagte Dzok. »Die Hagroons sind natürlich Sklavenjäger.« »Wieso natürlich?« »Ich dachte, Sie wissen das. Schließlich wurden Sie von ihnen gefangen.« Dzok zögerte. »Aber vielleicht ge hören Sie doch zu einer anderen Kategorie Opfer. Sind Sie wirklich als einziger gefangen worden?« »Wie war das denn bei Ihnen«, überhörte ich seine Frage. »Wie sind Sie hierher gekommen?« Der Agent seufzte. »Ich war verdammt unvorsichtig. Ich war fest davon überzeugt, daß ich in diesem zusam mengewürfelten Haufen von Hominiden nicht auffallen würde. Aber sie haben mich sofort herausgefischt. Dann haben sie mich ein bißchen rumgeschubst, vor ein Tribu nal gezerrt, um mich auszuquetschen, wo ich allerdings so getan habe, als verstünde ich kein Wort …« »Das heißt, Sie sprechen ihre Sprache?« unterbrach ich ihn erregt. »Natürlich doch, mein Lieber. Ein Agent der Klasse IV würde ohne ausreichende Sprachkenntnisse kaum sei ne Aufgaben erfüllen können.« Ich fand mich damit ab. »Was für Fragen haben sie Ihnen denn gestellt?« 51
»Nichts als blühenden Nonsens. Für nichtkosmopoliti sche Rassen ist es ungeheuer schwer, sich mit anderen einigermaßen vernünftig zu unterhalten. Die kulturellen Grundvoraussetzungen sind zu verschieden …« »Wir scheinen aber ganz gut miteinander klarzukom men.« »Na ja, ich bin ein Feld-Agent der Zentralregierung. Und deshalb bin ich natürlich auf solche Begegnungen vorbereitet.« »Vielleicht fangen Sie ein bißchen weiter vorn an. Von welcher Zentralregierung reden Sie? Wie kommen Sie hierher? Woher stammen Sie? Wie haben Sie Ihr Englisch gelernt?« Dzok war jetzt mit meinem Arm fertig. Er kicherte gutgelaunt. Die Gefangenschaft unter diesen widerlichen Umständen schien seine Stimmung überhaupt nicht zu beeinträchtigen. »Ich werde Ihnen alle Ihre Fragen be antworten. Aber zuerst sollten wir uns auf meinen Thron sessel zurückziehen. Ich hab’ dort ein paar Stücke Stoff an einer etwas erhöhten trockenen Stelle aufgeschichtet. Und vielleicht möchten Sie auch etwas Anständiges zu essen haben. Der ekelhafte Papp, den unsere Freunde uns hier vorsetzen, wird Ihnen wohl kaum schmecken.« »Sie haben richtiges Essen?« »Mein Überlebenspäckchen. Ich bin sparsam damit umgegangen. Es schmeckt vielleicht nicht besonders, aber es sättigt und gibt Kraft.« Wir begaben uns auf einen flachen Felsvorsprung hoch in der rechten Ecke der Zelle. Ich streckte mich müde auf die sauber zusammengelegten Tücher von Dzok aus und erhielt von ihm eine Kapsel, die so groß wie ein Drosselei war. »Schlucken Sie die runter«, sagte er. »Das ist eine ge 52
nau dosierte Ration für 24 Stunden, natürlich konzen triert. Es wird in etwa neun Stunden verdaut sein. Wasser können Sie auch kriegen.« Er gab mir eine Tontasse. Ich würgte die Pille mühsam ‘runter. »Ihre Speiseröh re muß erheblich weiter sein als meine«, keuchte ich. »Aber zu meinen anderen Fragen …« »Ach so. Die Zentralregierung ist die große NetzBehörde, deren Jurisdiktion innerhalb jener Region aner kannt wird, die in einem Radius von zwei Millionen EEinheiten von der Heimatlinie liegen …« Ich hörte sprachlos zu und überlegte, wie eine solche Mitteilung wohl bei der Regierung des Imperiums ein schlagen würde, wenn ich je zurückkommen sollte – oder besser: wenn jemals irgend etwas von meiner Welt zu rückkommen sollte. Ich hatte gleich zwei neue Rassen entdeckt, die das Geheimnis der Netz-Reisen kannten. Beide waren einander so fremd, wie sie mir. Und wir alle drei beanspruchten offensichtlich, unsere Herrschafts grenzen immer weiter auszudehnen … Dzok berichtete weiter: »… unsere Arbeit im angel sächsischen Sektor ist aus verständlichen Gründen stark eingeschränkt …« »Aus was für verständlichen Gründen?« »Unsere Leute können sich zwischen den Ihren kaum unbemerkt bewegen«, sagte Dzok trocken. »Deshalb haben wir Ihren Sektor sich so ziemlich selbst überlassen …« »Aber Sie sind dagewesen?« »Nur Routine-Überwachungen. Meistens innerhalb der Nullzeit, natürlich …« »Sie verwenden mir zu viele ›natürlich‹, Dzok«, sagte ich. »Aber fahren Sie fort. Ich bin ganz Ohr.« »Unsere Karten von dieser Gegend sind ziemlich skiz zenhaft. Es gibt da ein reichlich großes, völlig ödes Areal, 53
die …« er räusperte sich. »Ein völlig ödes Areal, das man Desolation nennt und in dem keine Welt-Linien überlebt haben. Nur am Rande gibt es da einige wenige verwandte Linien, deren gemeinsamer kultureller Ursprung der nordeuropäische technische Nukleus ist. Der befindet sich alles in allem noch in einem ziemlich unentwickel ten technischen Stadium, scheint aber in jüngster Zeit einige wesentliche wissenschaftliche Fortschritte ge macht zu haben …« Er fuhr dann mit seiner Beschreibung jenes riesigen Gebiets von A-Linien fort, die den Hauptaktivitätsbe reich seiner Zentralregierung bildeten. Ich verzichtete darauf, sein Nichtwissen von einer Netzreisenden Rasse im »Angelsächsischen Sektor« aufzuheben. Diese Infor mation wollte ich mir erst mal in Reserve halten. »… der Einflußbereich der Zentralregierung ist im Lauf der letzten 1500 Jahre ständig vergrößert worden«, berichtete Dzok weiter. »Natürlich bringen unsere ein zigartigen Fähigkeiten, uns durch das Netz zu bewegen, eine Menge Verantwortung mit sich. Wir haben die er sten und ursprünglichen Tendenzen zur Ausbeutung der anderen Linien längst überwunden. Die Zentralregierung übt jetzt eher so eine Art Polizei- und den Frieden si chernde Funktion aus. Gleichzeitig gewinnt sie auf nor maler kommerzieller Basis Rohstoffe und Halbfertigpro dukte aus sorgsam ausgewählten Welten.« Oho. Diese Sprache und Argumentation kannte ich nur zu gut. Es waren die gleichen pseudohumanitären Be gründungen, die mir einmal Bernadotte und Richthofen für das nichtsdestoweniger ausbeuterische Verhalten des Imperiums gegenüber den übrigen Welt-Linien vorgetra gen hatten. Und in der Welt-Linie, aus der sie mich her ausgeholt hatten, beruhigten die »Angelsachsen« ihr Ge 54
wissen durch ähnliche Sprüche, während sie gleichzeitig mit Hilfe eines subtil verfeinerten Kapitalismus die Roh stoffe und Arbeitskräfte der unterentwickelten Länder der »Dritten Welt« ausbeuteten. »Ich hatte den Auftrag«, fuhr Dzok fort, »hier heraus zubekommen, was hinter den Sklavenzügen steckt, die an der Peripherie der Zentralregierung so viel Elend und Unruhe verursacht haben. Zugleich sollte ich versuchen, einen Weg zu finden, wie man diesem Skandal auf opti male Weise mit einem Minimum von Intervention be gegnen könne. Allerdings habe ich dabei, wie gesagt, die Hagroons gewaltig unterschätzt. Sie haben mich schon in der ersten Viertelstunde nach meiner Ankunft erwischt.« »Und Ihr Englisch haben Sie beim Besuch des – äh – Angelsächsischen Sektors gelernt?« »Ich persönlich habe diesen Sektor nie besucht. Aber unsere Sprachbibliotheken besitzen Aufzeichnungen der entwickelteren Dialekte. »Wissen Ihre Leute, wo Sie stecken?« Dzok seufzte. »Ich fürchte, nein. Ich hatte vor, denen so ein bißchen den großen Mann vorzuspielen. Jetzt weiß ich natürlich, daß das ein Fehler war. Ich wollte unserem Hauptquartier die Lösung des Sklavenjäger-Problems hübsch verpackt und mit einer rosa Schleife als Überra schung servieren. Statt dessen … Na, irgendwann werden sie merken, daß ich zu lange weg bin. Sie werden versu chen, mich zu finden. In der Zwischenzeit …« »Was … in der Zwischenzeit?« »Ich kann nur hoffen, daß sie was unternehmen, ehe ich dran bin.« »Dran? Wofür?« »Ach, das wissen Sie auch nicht? Sie verstehen ja die sen bestialischen Dialekt nicht. Es liegt wohl an der Nah 55
rungsknappheit, die hier herrscht. Sie sind Kannibalen. Gefangene, die nicht als Sklaven taugen, werden ge schlachtet und aufgegessen.« »Wieviel Zeit haben wir?« »Ich glaube, ich bin etwa drei Wochen hier. Als ich ankam, gab es hier noch zwei so arme Teufel von Skla ven – aus irgendeiner niedrigen Intelligenzstufe. Soweit ich weiß, waren die selbst etwa zwei Wochen hier. Vor einer Woche hat man sie geholt. Zu so einem Fest für einen hohen Herrn. Geht man von solchen Menüs aus, kann man ja verstehen, warum die Burschen solche gräß lichen Zähne haben müssen. Wir werden zähe Bissen abgeben, schätze ich.« Ich begann Agent Dzok zu durchschauen. Sein äußer lich flottes und unbeschwertes Gehabe sollte nur die feste Überzeugung überspielen, daß er in wenigen Tagen in einem Hagroon-Kochtopf enden würde. »Wenn das so ist, sollten wir besser darüber nachden ken, wie wir hier rauskommen«, sagte ich. »Ich habe gehofft, daß Sie das sagen. Ich habe schon eine Menge Pläne. Aber dafür sind immer zwei Mann nötig. Wie gut können Sie klettern?« »So gut, wie ich muß«, sagte ich kurz. »Wie sieht Ihr Plan aus?« »Im Korridor sind zwei Wachen postiert. Wir werden einen von ihnen hier reinlocken müssen, um sie vonein ander zu trennen und einzeln mit ihnen fertig zu werden. Das dürfte nicht allzu schwierig sein.« »Und wie kommen wir an dem anderen vorbei?« »Das ist ein bißchen schwieriger, aber nicht unmög lich. Ich habe dafür ein paar Sachen parat, teilweise aus meinem Überlebensgepäck, teilweise Sachen, die ich hier gefunden habe. Außerdem habe ich eine grobe Karte von 56
den Gängen gezeichnet. Wir müssen uns durch ein paar hundert Meter Korridore durchschlagen, ehe wir den Ab fallschacht erreichen, den ich als Ausgang vorgesehen habe. Entscheidend ist, daß wir nicht gerade in eine Party der Hagroons hineinstolpern, ehe wir ihn erreichen. Ihre Verkleidung wird nämlich einer genauen Kontrolle kaum standhalten.« »Verkleidung?« Ich hatte das Gefühl, daß ich unverse hens in den Traum irgendeines Betrunkenen hineingeraten war. »Als was wollen wir denn gehen? Als Dracula und Werwolf?« Mir wurde plötzlich ganz leicht ums Herz. Ich fühlte mich wie benebelt, streckte mich auf den Lumpen aus und schloß die Augen. Dzoks Stimme kam von weit her: »Schlafen Sie gut. Ich werde inzwischen alles vorbe reiten. Wenn Sie wach werden, versuchen wir’s.« Ich wurde vom Klang zweier Stimmen wach. Eine davon knurrte wütend. Ich setzte mich aufrecht und versuchte, die Dunkelheit zu durchdringen. Dzok sagte etwas mit besänftigender Stimme. Der andere antwortete. Es war allerdings eher ein tierisches Brüllen. Jetzt konnte ich ihn auch riechen. Selbst in der stickigen Luft dieser Zelle. Man konnte förmlich riechen, wie wütend er war. Sein Gestank schnitt durch den der Zelle. Dann sah ich ihn auch, einen Riesenkerl. Er stand nahe am Eingang inner halb der Zelle. Wie er durch das Loch gekommen sein mochte, war mir ein Rätsel … »Bleib ruhig liegen und mucks dich nicht, Angelsach se«, sagte Dzok im gleichen besänftigenden Tonfall, den er gegenüber dem Hagroon gebrauchte. »Der hier hat’s nur auf mich abgesehen. Offenbar ist meine Zeit schon abgelaufen …« Wieder wechselte er in den fremden Dia lekt über. 57
Der Hagroon knurrte und fauchte. Ich sah, wie er sei nen Arm ausstreckte, sah, wie Dzok sich darunter weg duckte und dem Großen einen sauberen Jagdhieb in den Magen rammte. Der Hagroon grunzte nur, krümmte sich ein wenig, griff dann erneut nach Dzok. Ich sprang auf, ließ mein Handgelenk zucken und hatte die Bolzen schleuder in der Hand. Dzok wich zurück. Der Gefäng niswärter sprang hinterher, holte zu einem Schlag aus, der die Deckung des Agenten beiseite fegte und ihn zu Boden warf. Mit zwei schnellen Schritten war ich neben dem Hagroon, zielte und schoß aus nächster Entfernung. Der Rückstoß trieb mich fast durch den halben Raum, während der Monster-Mann in die andere Richtung tau melte, stürzte, um sich trat und seinen Oberkörper mit langen Armen umklammerte. Er gab fürchterliche, er stickende Geräusche von sich. Jetzt tat er mir leid. Er war zäh. Der Schlag meiner Waffe aus dieser kurzen Entfer nung hätte einen Ochsen umgeworfen. Er aber rollte, immer noch zuckend, über den Boden hin und her. Er versuchte sogar, noch einmal auf die Beine zu kommen. Vorsichtig trat ich von hinten an ihn heran, machte sei nen Kopf im Dunkeln als helleren Fleck aus und schoß noch einmal. Warme Flüssigkeit spritzte mir ins Gesicht. Der gewaltige Körper bäumte sich auf und lag dann still. Ich wischte mir mit dem Unterarm das Gesicht ab, schnaubte den klebrigen Blutgeruch aus der Nase und wandte mich Dzok zu. Er lag noch immer auf dem Boden und hielt einen Arm fest. »Du hast mich ganz schön reingelegt, Angelsachse«, stöhnte er. »Verdammt gut gemacht … du hast eine Waf fe …« »Was ist mit deinem Plan?« fragte ich. »Können wir ihn jetzt noch versuchen?« 58
»Der verdammte Kerl,« stieß er zwischen den Zähnen hervor. »Er hat mir den Arm gebrochen. Tut verflucht weh. Besser, du versuchst es allein.« »Zum Teufel damit. Wir gehen zusammen. Was hab’ ich zu tun?« Dzok gab ein ersticktes Geräusch von sich, das fast wie ein Lachen klang. »Du bist zäher, als ich dachte, An gelsachse. Und deine Waffe wird uns weiterhelfen. Gut. Also: das ist mein Plan.« Zwanzig Minuten später schwitzte ich in dem phanta stischsten Theaterkostüm, das je für einen Gefängnisaus bruch verwendet worden ist. Dzok hatte mich mit zahllo sen Lumpenstreifen verkleidet, die er aus dem Bettzeug für die Zelleninsassen gerissen hatte. An diese Streifen hatte er mit einem Klebstoff aus einem Überlebenspäck chen so viele Büschel fettiger Haare geklebt, bis mein Körper dahinter verborgen war. Er hatte in den vergan gen Wochen von seinen Nahrungsreserven den beiden Mitgefangenen abgegeben. Dafür hatte er aus ihren zotti gen Fellen eine ansehnliche Haarsammlung, die ur sprünglich zu seiner eigenen Maskierung dienen sollte, herausschneiden dürfen. Den Rest lieferte der tote Ha groon. Diese groteske Verkleidung hing jetzt an mir bis über die Knie herab. Wieweit wir damit Erfolg haben würden, sollten wir bald merken. »Das ist heller Wahnsinn«, sagte ich. »Wir werden damit nicht mal ein neugeborenes Kind auf hundert Yard Entfernung und bei schlechtem Licht hereinlegen.« Dzok stopfte ungerührt eine Reihe von Ausrüstungs gegenständen in ein Bündel, das er aus den Überresten seiner Jacke geknotet hatte. »Du wirst klobig und zottig aussehen. Mehr können wir nicht tun. Für eine Leibesvi 59
sitation reicht es nicht. Aber dazu wird es ja hoffentlich auch nicht kommen. Auf geht’s.« Agent Dzok kroch als erster durch das Loch. Mit sei nem gebrochenen Arm bewegte er sich ungeschickt und mühsam. Er verharrte einen Augenblick und spähte den Korridor entlang, dann war er durch. »Komm jetzt. Die Luft ist rein,« flüsterte er und be merkte offenbar nicht den Widerspruch zu der stinkenden Wirklichkeit, die uns auch hier umgab. »Unser Wärter geht offenbar spazieren.« Ich folgte ihm in den Korridor. Die Luft schien hier gegen die in der Zelle tatsächlich frisch und kühl wie ein Frühlingshauch. Wir hatten keine Ahnung, welche Ta geszeit es war. Außer den in Abständen schwelenden Fackeln gab es kein Licht. Dzok ging leise voran. Schmalhüftig, mit tiefhängender Taille, seine komischen, dünnen Beine leicht im Knie eingeknickt, die einst schmucke Uniform in Fetzen, so daß man sein seehundglattes Fell durchschimmern sah. Ehe wir die erste Biegung erreichten, hörten wir das Ru moren von Hagroon-Stimmen. Dzok stoppte, und ich schloß zu ihm auf. Er stand, den Kopf hochgereckt, und lauschte. »Es sind zwei«, flüsterte er. Ich wartete und fühlte die Schweißtropfen in meinem Clowns-Kostüm von stinkenden Lumpen und baumelnden Haarsträhnen an der Innenseite der Oberarme und Schenkel herunterlaufen. Plötzlich stach mich etwas scharf zwischen die Schulterblätter. Es war nicht das er ste Mal, seit ich die Gastfreundschaft der Hagroons ge noß. Ich verzog das Gesicht, versuchte aber ohne Kratzen auszukommen, weil sonst meine fadenscheinige Verklei dung ins Rutschen geraten wäre. 60
»Uff«, atmete Dzok auf. »Einer haut ab. Er ist abge löst worden.« Ich nickte. Eine weitere Minute tickte wie eine Zeit bombe vorüber. Dzok drehte sich um, gab mir ein Zei chen und knurrte dann mit einer laut und ärgerlich klin genden Stimme, die eine ganz passable Imitation der Ha groon-Sprache zu sein schien. Er wartete einen Augen blick und zischte mir dann zu: »Zähl bis zehn. Aber lang sam …« Dann machte er sich in einem wiegenden Wat schelgang auf den Weg. Ehe er um die Biegung ver schwand, rief er noch einmal etwas in dieser krächzenden Sprache. Dann war er fort. Ich zählte in Gedanken und lauschte aufmerksam. Der Hagroon-Wärter knurrte etwas. Dzok antwortete. Fünf, sechs, sieben. Der Hagroon sprach wieder. Diesmal klang es näher. Neun, zehn … Ich atmete tief ein, versuchte die hochschultrige Hal tung der Hagroons zu kopieren und stampfte schlingernd los. Zwanzig Fuß weiter vorn stand genau unter einer Fackel der Agent Dzok, winkte mit seinem gesunden Arm, schrie gellend auf und zeigte auf mich. Ein paar Schritte weiter hinten stand der Wächter. Mit seiner fast quadratischen, zotteligen Figur sah er aus wie ein Heu haufen. Er blickte in meine Richtung. Dzok sprang näher auf ihn zu und schrie noch immer. Der Hagroon holte zu einem Schwinger aus, den Dzok mit knapper Not abduk ken konnte. Ich war der Fackel jetzt schon ziemlich nahe. Dzok stürmte auf den Hagroon los, duckte sich im letzten Augenblick und geriet ihm so in den Rücken. Der Posten wandte sich um und von mir weg. Er war jetzt noch fünf zehn Fuß von mir entfernt, beinahe in Reichweite meiner Waffe. Ich hatte sie schon in der Hand, schaffte noch fünf weitere Fuß … 61
Da wirbelte der Wächter herum und stieß einen wü tenden Schrei aus. Jetzt erst konnte er deutlich erkennen, was ihm vorher nur als dunkle Silhouette erschienen sein mußte. Seine Reaktion war unheimlich schnell. Er sprang auf mich los, als in seinem Gesicht noch der erstaunt ungläubige Ausdruck lag, der sich dort beim Durch schauen meiner Tarnung breitgemacht hatte. Ich bekam den Schuß erst los, als er schon mit mir zu sammenstieß. Sein Vierhundert-Pfund-Gewicht krachte in mich hinein wie ein schwerer Lastwagen in einen zer brechlichen Obstkarren. Ich konnte mich noch zur Seite werfen und so der Hauptmasse seines Körpers entgehen, ehe ich auf den Steinboden krachte. Irgendwie gelang es mir, etwas Luft in meine Lungen zu pumpen und meine Schußhand frei zuzerren, um ihm einen weiteren Schuß zu verpassen. Doch das war überflüssig. Der riesige Körper lag ausge streckt halb auf mir, starr wie ein eingefrorener Mammut. Dann stand auch schon Dzok neben mir und half mir mit seinem gesunden Arm auf die Beine. »So weit, so gut«, schmunzelte er zufrieden und ar rangierte mein haariges Gewand neu. »Eine ausgezeich nete Waffe, die du da hast. Aber ihre Leute von der Art der Homo sapiens seid ja in dieser Hinsicht ohnehin un schlagbar – zweifellos ein Ergebnis eurer physischen Schwäche.« »Könnten wir eine Diskussion über dieses gewiß in teressante Thema auf später verschieben?« murrte ich. Meine Schultern brannten wie Feuer, wo ich mit ihnen über das rauhe Steinpflaster gerutscht war. »Was jetzt?« »Zwischen uns und dem Abfallschacht, von dem ich berichtet habe, ist kein Hindernis mehr. Es ist nicht mehr weit. Komm.« 62
Er schien so sorglos wie immer, völlig unbeeindruckt von dem kurzen, tödlichen Kampf. Wir schlichen weiter, hörten einmal Stimmengebrüll aus einem Seitengang. Ein bestialischer Gestank wie von brennendem verfaultem Müll drang daraus hervor. Es war die Küche, wie Dzok grinsend erklärte. Schließlich standen wir vor einem Verschlag, dessen Boden fußhoch verdorbene Nahrungsreste bedeckten. Wir wateten durch den stinkenden Schlamm. Dzok stieß mich an und deute te nach vorn. Ich folgte seiner Hand und sah ein zwei Yard breites und einen Fuß hohes Loch in der Wand, dessen Ränder mit verkrustetem Abfall bedeckt waren. Ich kroch mit Kopf und Oberkörper hinein und blickte nach draußen. In der Dunkelheit schimmerte von unten das feuchte Straßenpflaster herauf. Ich drehte den Kopf nach oben. Dicht über mir war die überhängende Kante einer Dachtraufe. »Das habe ich mir beinahe gedacht«, flüsterte ich Dzok zu. Die niedrigen Decken verrieten, daß wir dicht unter dem Dach waren. »Welchen Weg?« fragte ich. »‘rauf oder ‘runter?« Dzok musterte skeptisch meine Schultern und Arme. Er sah besorgt aus, wie der Boxtrainer eines noch uner fahrenen Jungen vor dem ersten entscheidenden Kampf, »‘rauf«, sagte er dann. »Wenn du glaubst, du schaffst es.« »Ich muß wohl«, sagte ich. »Und was ist mit deinem Arm?« »Es wird mir ein bißchen schwerer fallen. Aber das macht nichts.« Er kroch an mir vorbei in die vier Fuß dicke Mauer, drehte sich auf den Rücken, und dann waren auch seine Beine verschwunden. Ich fühlte mich plötzlich verdammt 63
einsam. Hinter mir schien das Grölen der Stimmen aus der Küche mit einem Mal anzuschwellen. Dann hörte ich etwas klappern. Jemand kam hierher. Ich drehte mich wie Dzok auf den Rücken und kroch so durch das Loch. Der stinkende Abfall wirkte wie Schmieröl. Als ich den Kopf draußen hatte, sah ich über mir das kalte Funkeln der Sterne in einem pechschwarzen Him mel. Davor zeichneten sich als dunkle Schattenrisse die nächsten Gebäude ab. Hier und da drang ein schwacher Lichtschimmer durch eins der roh in kunstlos gefügtes Mauerwerk geschlagenen Löcher. Ich mußte ziemlich weit greifen, um den Dachvorsprung über mir zu errei chen. Dann reckte ich mich und versuchte, nicht an die Höhe des Gebäudes über dem Kopfsteinpflaster zu den ken. Endlich fand ich etwas zum Festhalten, zog mich daran hoch und auf das Dach hinauf. Als ich mich zit ternd setzte, erschien Dzok aus der Dunkelheit. »Drüben von der anderen Seite führt eine Brücke zum nächsten Turm«, sagte er. »Wo hast du so lange ge steckt?« »Die Aussicht bewundert. Hilf mir, das verdammte Affenkleid loszuwerden.« Ich riß mir vorn die von Abfäl len schmierigen Fetzen ab, während Dzok mir am Rük ken half. Er selbst sah noch schlimmer aus als ich. Sein glattes Fell war naß und von sauer stinkendem Schlamm verschmiert. »Wenn ich nach Hause komme, werde ich das längste und heißeste Bad nehmen, das es im vornehmsten Senso rium von Zaj gibt«, nahm er sich hoffnungsvoll vor. »Ich begleite dich«, versprach ich ihm. »Wenn wir je hinkommen.« »Je schneller wir aufbrechen, um so eher liegen wir unter den Handbürsten unserer entzückenden Masseusen«, 64
grinste er. Gewandt lief er über das schräge Dach, ging am anderen Ende in die Hocke und war schon in der Dunkelheit verschwunden. Ganz offensichtlich hatte er doch erheblich mehr von seinen Affenahnen geerbt als ich. Ich setzte mich vorsichtig an die Kante, streckte ein Bein in die Dunkelheit unter mir und trat ins Leere. »Du mußt dich erst mal an den Armen herunterhängen lassen«, hörte ich seine Stimme beruhigend aus der Dun kelheit unter mir. Ich ließ mich über die Kante gleiten, schürfte mir ein paar Hautfetzen ab, baumelte dann in voller Länge herab und fand immer noch keinen Halt unter mir. »Laß dich einfach fallen«, drängte seine Stimme. »Nur einen Meter oder ein bißchen mehr.« Über diesen Vorschlag hätte ich am liebsten eine Stunde lang nachgedacht. Doch wir hatten keine Zeit. Ich versuchte mich zu entspannen und ließ los. Der Augenblick des freien Falls schien endlos zu dau ern. Ein vorspringender Stein schrammte mir über eine Backe. Als ich endlich auf ein glattes Steinband aufprall te, rutschte ich ab, klammerte mich mit einer Hand an scharfkantigem Fels fest und griff mit der anderen ins Leere. Dzok packte zu und zog mich zurück. Ich setzte mich und bemerkte erst jetzt, daß die angebliche Brücke nur ein schmales, geländerloses Felsband war, das sich von unserem Gebäude aus irgendwohin in die Nacht er streckte. Ich wollte noch fragen, ob ich etwa darüber lau fen sollte, aber da war Dzok schon unterwegs. Fünfundzwanzig Minuten später, nach einem Spazier gang, den man nicht einmal einer Fliege unserer WeltLinie zugemutet hätte, standen Dzok und ich im tiefen Schatten einer Gasse, die mit den üblichen weggeworfe nen Abfällen gepflastert war. »Das wäre hier ein Paradies für Archäologen«, 65
brummte ich. »Von den gestern weggeworfenen Bana nenschalen bis zum ersten Feuersteinsplitter, den sie vor Urzeiten verwendet haben, findet man hier alles gleich unter seinen Füßen.« Dzok kramte inzwischen in seinem Bündel herum. Dann half ich ihm beim Anziehen der Lederriemen und Messingschnallen, die er dem von mir in der Zelle er schossenen Hagroon abgenommen hatte. »Wir tauschen jetzt die Rollen«, sagte er leise. »Ich bin dein Wärter. Vielleicht kommen wir damit durch. Ich weiß nicht genau, wie sehr ich einem der Kerle auffallen werde, die wir vielleicht noch auf der Straße treffen. Als ich hier ankam, fielen mir jedenfalls ein paar Australo pitheci auf, mit denen wir verwandt sind. Du mußt jeden falls auf dem schnellsten und kürzesten Weg zu dem Platz finden, wo du mit dem Schiff angekommen bist. Ungefähr eine halbe Meile, meinst du?« »Wenn es noch da ist.« Wir waren jetzt in einer parallel zur Hauptstraße ver laufenden Gasse. Dort hatten mich achtzehn Stunden zu vor meine beiden Leibwächter entlanggeschleppt. Unser Weg verengte sich gelegentlich zwischen dichter stehen den Gebäuden, daß man kaum noch nebeneinander gehen konnte, dehnte sich dann aber wieder zu einer größeren Fläche, auf der am Tag Markt gehalten wurde. Jetzt stan den die drei Reihen stallähnlicher Stände fahl und verlas sen in der mitternächtlichen Stille. Nach einer halben Stunde gab ich auf. »Ich habe keine Ahnung mehr«, wo wir jetzt eigent lich sind. Wir müssen auf die Hauptstraße ‘rüber, bis ich mich wieder orientieren kann.« Dzok nickte. Wir gingen durch eine Seitengasse hin über zu der breiten Durchgangsstraße. Ein einsamer Ha 66
groon stolperte und schwankte auf der anderen Straßen seite entlang. Breitschirmige Lampen auf zehn Fuß ho hen Pfosten warfen ein trübes Licht auf den dreckigen Weg unter den fensterlosen Fassaden, deren einziger Schmuck die regellosen Fugen des Mauerwerks waren. Die Häuser wirkten auf mich wie riesige Bienenstöcke. Ein Trog aus bräunlichem Stein kam mir bekannt vor. Hier war ich vorbeigekommen. Der Landeplatz des Schiffes konnte nicht weit entfernt sein. Die Straße bog nach links. Ich zeigte Dzok einen dunklen Seitenweg, der von einer Erweiterung der Straße vor uns ausging. »Ich glaube, da ist es. Besser, wir versuchen von hin ten durch eine aridere Gasse möglichst nahe ‘ranzukom men. Vielleicht haben sie am Schiff Wachen aufgestellt.« »Das werden wir bald merken.« Wir gerieten in eine Sackgasse, an deren Ende eine runde Öffnung wie ein Abwassertunnel in undurchdringliche Finsternis führte. »Versuchen wir’s hier«, schlug Dzok vor. »Das scheint in die richtige Richtung zu führen.« »Und wenn wir dann in einem Schlafzimmer landen?« Ich musterte das düstere Gebäude mißtrauisch. »Dann sehen wir zu, daß wir wieder ‘rauskommen.« »Der Gedanke an eine wilde Jagd durch diese finste ren Gassen mit einer Horde brüllender Affenmenschen macht mir überhaupt keinen Spaß«, meinte ich. »Aber wir können es versuchen.« Ich tastete mich in den Gang hinein. Dzok folgte mir auf dem Fuß. Ich hörte ihn atmen. »Psst.« Dzok faßte meine Schulter. »Wir müssen zu rück. Ich glaube, wir sind doch in einem fremden Schlaf zimmer gelandet.« Da hörte ich es auch: Ein leises schleifendes Geräusch. Dann ging runter einem Mauervorsprung ein Licht an. 67
»Dort hinein«, zischte Dzok und sprang in eine Nische rechts von unserem Gang. Ich hörte einen schweren Körper über den Boden tap pen. Dann folgte absolute Stille. Weiter entfernt von uns klapperte etwas. Dzok packte mich und zog mich hinter sich her. Im Licht des Torbo gens, durch den wir eingetreten waren, erschien die ge waltige Silhouette eines Hagroons. Draußen traf eine zweite Zottelfigur ein. Anscheinend der, den wir kurz vorher auf der Straße gesehen hatten. Die beiden berieten in gutturalen Knurrlauten. Dann drehte der drinnen sich um, und plötzlich war der ganze Raum lichtüberflutet. Der Hagroon blinzelte in die Helligkeit, drehte sich halb weg. Dann sah er uns. Dzok sprang ihn an. Meine Waffe rutschte mir automatisch in die Hand. Ich konnte sie je doch nicht gebrauchen, weil Dzok in der Schußlinie stand. Dann tauchte er in eine niedrigere Öffnung. Ich entging dem auf mich zufahrenden Arm des Hagroon und raste hinter Dzok in einen langen Tunnel, an dessen Ende ein schwacher Lichtschein sichtbar war. Hinter uns hör ten wir wildes Geschrei, stampfende Füße, bellende Hetzlaute. Nun hatte ich die Jagd, auf die ich so gern verzichtet hätte. Vor mir sprang Dzok schon ins Freie, stoppte kurz, blickte suchend nach beiden Seiten und rannte zielbe wußt los. Dann war ich auch auf der offenen Straße und sah Dzok schnurstracks auf zwei Hagroon-Wächter zu rennen. Hinter ihnen ragte das Rechteck des Schiffs in den Nachthimmel. Der Agent brüllte auf. Ich erkannte die Grunz- und Krächzlaute der Hagroon-Sprache. Die beiden Wachen zögerten verwirrt. Einer zeigte auf mich, rannte los, der andere breitete die Arme aus und brüllte 68
etwas in Dzoks Richtung. Der raste in voller Fahrt auf ihn los, wich dann geschickt zur Seite aus, als der andere vorsichtig zurücktrat, und rannte zum Schiff, Ich schoß trotz der extrem großen Entfernung, traf meinen Angrei fer und sah ihn unter der Wucht des Einschlags gegen die Mauer taumeln. Er richtete sich aber sofort wieder auf und wollte nach mir greifen. Doch da war ich schon vor bei. Dzoks Kontrahent zögerte und ging dann auf mich los. Ich feuerte, verfehlte ihn, versuchte auszuweichen, rutschte aus, fiel und entging mit knapper Not seinem Zugriff. Nur ein Stück meines Kragens blieb zerfetzt in seinen Händen zurück. Dzok hatte inzwischen das Schiff geöffnet. Er half mir hoch, riß mich förmlich hinein und knallte die Tür hinter uns zu. Im gleichen Augenblick donnerte der angreifende Hagroon wie ein blindwütiges Nashorn gegen die Schiffswand. Dzok warf sich in den Fahrersitz. »Verdammt!« schrie er wütend. »Der Kontrollhebel ist abgebrochen. Dzok packte mit der gesunden Hand eine Kante des Armaturenbretts. Seine mächtigen Schulter muskeln schwollen, mit einem Ruck hatte er es wegge rissen. Dicht an dicht gepackte Drähte und elektronische Apparaturen wurden sichtbar. »Schnell, Angelsachse!« drängte Dzok. »Verbinde diese beiden Leitungen!« Ich drängte mich neben ihn, packte zwei dick isolierte Kabel und wickelte ihre blan ken Enden zusammen. Nach seinen hastigen Instruktio nen riß ich weitere Drähte los, verband sie mit einer mas siven elektrischen Spule – die ich als M-C-FeldEnergiespender erkannte – und mit einem Kasten, der allem Anschein nach ein fünfzig-Kilowatt-Transformator war. Dzok griff an mir vorbei und warf ein freigelegtes Kabelende gegen eine Stromsammelschiene. In einem 69
Schauer blauer und gelber Funken verschmolzen Kupfer und Stahl. Ein tiefes Summen ertönte. Abrupt brachen die donnernden Schläge gegen den noch immer ver schlossenen Eingang ab. Ich spürte die vertraute Span nung des M-C-Feldes in meinem Körper, stieß einen tie fen Seufzer aus und sank zurück in den Sessel. »Das war knapp, Angelsachse«, stöhnte auch Dzok. »Aber wir haben es geschafft …« Ich sah ihn mir genauer an, sah, wie sich seine gelblichen Augen verdrehten. Dann wankte er mir entgegen und kippte seitwärts in meinen Schoß. V Dzok lag noch immer dort, wo ich ihn hingeschleppt hat te: im tiefen Gras unter einem kleinen, schattenspendenden Bäumchen. Seine Brust hob und senkte sich unter den für seine Rasse typischen flachen, beinahe japsenden Atemzügen. Das Schiff stand etwa fünfzig Fuß entfernt neben einer Felsklippe, von deren Spitze uns ein schimpansenähnli cher grauer Affe beäugte und sich dabei in aller Ruhe das Fell kratzte. Meine Kleider waren in der Sonne zum Trocknen ausgebreitet, ebenso die Überreste von Dzoks weißer Uniform. Ich hatte beide auf der flachen Sand bank des träge vorbeifließenden Stroms gründlich gewa schen und geschrubbt. Dann hatte ich meine Wunden untersucht, aber außer einer Unzahl von Schnitten, blau en Flecken, Blutergüssen und Prellungen nichts Nen nenswertes gefunden. Der Agent rollte auf die Seite. Er stöhnte und wim merte im Schlaf, als er mit seinem ganzen Gewicht auf den gebrochenen Arm geriet. Dann öffnete er die Augen. 70
»Herzlich willkommen«, grinste ich. »Geht’s dir bes ser?« Er stöhnte noch einmal. Seine blasse Zunge kam her aus und leckte über die dünnen, schwärzlichen Lippen. »Wenn ich wieder nach Hause komme, werde ich um meine Entlassung bitten«, krächzte er. Vorsichtig hob er sich von seinem Arm und legte ihn dann mit Hilfe des gesunden sachte quer über die Brust. »Dieses Glied scheint irgend jemandem zu gehören. Jemandem, der einen fürchterlichen Tod erwischt hat.« »Soll ich ihn schienen?« Er schüttelte den Kopf. »Wo sind wir, Angelsachse?« »Ich heiße Bayard. Und zu deiner Frage: Das solltest du besser herauskriegen können. Unser Schiff ist mit Höchstgeschwindigkeit fünf Stunden lang durch das Netz gerast. Schließlich nahm ich die Gelegenheit wahr, hier anzuhalten. Du mußt erheblich schlimmer dran gewesen sein, als du dir hast anmerken lassen.« »Ich war knapp vor dem Ende meiner Kräfte«, gab er zu. »Dreimal habe ich fürchterliche Schläge eingesteckt. Und mit meinen Nahrungskapseln hatte ich mich selbst schon vor einer Woche auf halbe Ration gesetzt.« »Wie zum Teufel hast du es geschafft, auf den Beinen zu bleiben, zu klettern, zu kämpfen und zu rennen – und das alles mit einem gebrochenen Arm?« »Nicht mein Verdienst, alter Junge, sondern eine an trainierte Fähigkeit, die letzten Energien einzusetzen. So eine Art posthypnotischer Befehl.« Er sah sich um. »Hübscher Platz hier. Noch kein Zeichen unserer Gast geber?« »Noch nicht. Wir sind etwa vier Stunden hier.« »Ich glaube, wir werden hier vor ihnen sicher sein. Soviel wir ‘rausgekriegt haben, besitzen sie keine allzu 71
genauen Navigationsinstrumente.« »Weißt du denn, wo wir gelandet sind?« »Laß mich einen Augenblick meine Kräfte sammeln.« Dzok atmete ruhig und tief. »Ich muß mich durch Selbst hypnose in einen mnemotechnischen Zustand versetzen, weil ich keine bewußten Erinnerungen an diese Gegend hier habe.« Ich wartete. Sein Atem wurde allmählich wieder fla cher. Dann öffnete er die Augen. »Gar nicht schlecht«, sagte er kurz. »Es sind noch et wa sechs Stunden bis zum Sitz der Zentralregierung von Zaj. Ich werde zwar einige Mühe mit der Feineinstellung der Instrumente haben. Trotzdem wird das Navigieren nicht eben einfach sein.« Er sah mich nachdenklich an. »Das bringt mich auf eine Idee. Sag mal, Bayard, wie konntest du eigentlich das Schiff bis hierher steuern?« Ich verzog das Gesicht und war dabei nicht einmal si cher, ob ich die Stirn runzelte oder grinste. »Ich glaube, ich kann dir vertrauen, Dzok. Ich verstehe zufällig auch ein bißchen von der Netz-Fahrerei.« Er wartete schweigend und gespannt. »Eure Zentralregierung ist nicht die einzige Macht, die die Herrschaft über das Netz beansprucht. Ich repräsen tiere die Paramount-Regierung des Imperiums.« Dzok nickte zufrieden. »Schön, daß du dich endlich doch dazu entschlossen hast. Das macht die Dinge einfa cher.« »Du hast es bereits gewußt?« »Ich muß gestehen, daß ich ein bißchen Hypnose an gewendet habe, als du in unserer Gefängniszelle einge schlafen warst. Dabei habe ich einige interessante Ein zelheiten aus dir herausgeholt und dir außerdem ein paar Instruktionen gegeben. Natürlich nichts Schlimmes. Ei 72
gentlich nur den Befehl, meinem Kommando zu folgen.« Ich blickte erst ihn an und dann an mir herunter. Schließlich konnte ich mir das Grinsen nicht länger ver beißen. »Das macht mir natürlich vieles leichter. Nun brauche ich doch wenigstens kein schlechtes Gewissen zu haben, weil ich ein bißchen an deiner Psyche herummanipuliert habe, als du hinüber warst.« Einen Augenblick war er betroffen. Doch dann faßte er sich wieder. »Tut mir leid, daß ich dich enttäuschen muß, alter Junge. Ich bin gegen solche Eingriffe abgesi chert …« Er brach ab, als ob ihm etwas dämmerte. Ich nickte: »Ich auch.« Da lachte er los. Sein Kugelkopf schien sich regelrecht in zwei Teile zu spalten. Sein schallendes Gelächter ließ mindestens 36 Zähne sichtbar werden. Er klatschte sich mit der gesunden Hand auf die Schenkel, schlug vor lau ter Vergnügen einen Salto und taumelte schließlich, noch immer vom Lachen geschüttelt, auf mich zu. Ich trat ei nen Schritt zurück und spannte mein Handgelenk. »Du hast ein verdammt ansteckendes Lachen, Dzok«, sagte ich. »Aber es ist nicht so ansteckend, daß ich des halb in die Reichweite deines Arms kommen möchte.« Er richtete sich wieder auf und grinste jetzt richtig ver legen: »Die Partie sieht nach Unentschieden aus, was?« »Wir können’s ja mal versuchen«, sagte ich. »Nur komm nicht gleich wieder mit solchen Anfängertricks. Die kenne ich ja doch alle.« Er spitzte nachdenklich seine langen, dünnen Lippen. »Ich möchte bloß wissen, warum du hier angehalten hast. Du hättest doch ohne Mühe die Reise fortsetzen und dich in den Schutz deiner eigentlichen Basis begeben können, als ich ohnmächtig war.« 73
»Ich hab’s dir ja gesagt: Ich weiß nicht, wo wir hier stecken. Für mich ist das eine völlig unbekannte NetzGegend. Und Karten gibt’s in dem Kasten da drüben kei ne.« »Aha. Und jetzt soll ich dich heimführen und mich selbst in eine unhaltbare Position hineinmanövrieren.« »Du brauchst bloß das Instrumentenbrett und die In strumente wieder einzurichten. Steuern kann ich das Schiff auch allein.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin immer noch erheblich stärker als du, mein Lieber, trotz der Verletzung. Wie willst du mich denn dazu zwingen?« »Ich hab’ eine Waffe, mit der wir Sapiens ganz gut umgehen können.« »Klar. Nur hättest du überhaupt nichts davon, wenn du mich erschießt.« Er grinste wieder. Die ganze Sache schien ihm Spaß zu machen. »Laß uns lieber zusammen nach Xonijeel fahren. Von dort aus kann ich dir wahr scheinlich weiterhelfen.« »Ich hab’ von allzu haariger Gastfreundschaft fürs er ste die Nase voll.« Er verzog schmerzhaft das Gesicht: »Du kannst uns Australopitheci doch nicht mit den Hagroons in einen Topf werfen wollen – bloß weil wir so ein hübsches Fell haben.« »Versprichst du, daß du mir ein Schiff besorgst und eine sichere Heimreise garantierst?« »Also …« Er spreizte seine breiten, faltigen Hände. »Dazu bin ich jetzt und hier kaum in der Lage.« »Denk an die Lage, in der du wärst, wenn ich dich jetzt und hier zurücklassen würde.« »Dagegen würde ich mich leider wehren müssen.« »Und verlieren.« 74
»Hm, vielleicht. Andererseits wäre ich für dein Impe rium ein viel zu wertvoller Gefangener. Dann kämpfe ich lieber.« Er spannte kampfbereit die Muskeln. Das aber paßte mir überhaupt nicht ins Konzept. »Ich mach’ dir einen anderen Vorschlag«, sagte ich schnell. »Du gibst mir dein Wort als Offizier, daß ich mit den zuständigen höchsten Repräsentanten deiner Zentral regierung sprechen kann. Dann begleite ich dich nach Zaj.« Er nickte sofort. »Das kann ich dir versprechen. Und ich nehme es auf mein Wort, daß du ehrenhaft behandelt wirst.« »Abgemacht.« Ich hielt ihm die Hand hin und ver suchte zugleich, nicht ganz so besorgt auszusehen, wie ich in Wirklichkeit war. Dzok guckte erstaunt. Dann streckte auch er zögernd die Hand aus. Seine Handfläche fühlte sich heiß, trocken und rauh wie eine Hundepfote an. »Leere Hand, keine Waffe«, murmelte er. »Ein prachtvolles Symbol.« Wieder grinste er von einem Ohr zum anderen: »Ich bin froh, daß wir uns so geeinigt ha ben. Du scheinst sehr vernünftig zu sein, Bayard, und trotzdem …« Sein Lachen verschwand allmählich. »Trotzdem habe ich das komische Gefühl, daß du mich doch aufs Kreuz gelegt hast.« »Ich hab’ die ganze Zeit überlegt, wie ich dich dazu bringe, mich nach Zaj mitzunehmen«, grinste ich jetzt meinerseits. »Du hast es mir leichtgemacht. Ich danke dir.« »Hmm. Ärger zu Hause?« »Das ist leicht untertrieben.« Er runzelte die Stirn. »Ich repariere die Instrumente, und in der Zeit berichtest du mir die Details.« 75
Nach einer Stunde, zwei zerschrammten Knöcheln und einem leichten elektrischen Schlag, war unser Schiff wieder auf der Reise. Dzok hatte den Fahrersitz über nommen und beobachtete das Kontrollpult. »Dieses merkwürdige Licht, von dem du sprachst«, fragte er, »war das tatsächlich auch in solchen Räumen vorhanden, die keine normale Lichtquelle hatten?« »Genau. Es war eine Art geisterhaft-bläuliches Glim men.« »Vieles von dem, was du erlebt hast, kann ich auch nicht erklären. Aber sicher ist, daß du auf irgendeine Weise schlagar tig in die Null-Zeit-Ebene versetzt worden bist. Das be weist der Lichteffekt. Von dort aus operieren gewöhnlich die Hagroons. Und das Licht stammt von Ausstrahlun gen, die durch Oszillation der Elementarteilchen in einem minimalen Energiefeld frei werden. Ein gewisses Quan tum dieser Aktivität löst Reflexe der Sehnerven aus. Ist dir aufgefallen, daß dieses Licht besonders stark von me tallischen Oberflächen ausstrahlt?« »Nein.« Dzok schüttelte nachdenklich den Kopf. »Es ist ein phantastischer Energie-Aufwand nötig, um eine Masse über die Barriere der Entropie zu bewegen. Viel mehr, als beispielsweise für die Fahrt durch die A-Linien. Und du sagst, daß du einfach so, ohne jede mechanische Hilfe, ‘rübergekommen bist?« Ich nickte. »Was ist die Null-Zeit?« »Das ist eine komplizierte Geschichte.« Dzok las ein paar Instrumente ab, legte einen Hebel um und rechnete. Als Schiffstechniker war er mir weit überlegen. »In der normalen Entropie bewegt sich alles in eine Richtung, die wir uns der Einfachheit halber als vorwärts vorstellen 76
müssen. Während der Netz-Reise bewegen wir uns seit wärts zu diesem Vektor. Null-Zeit … also das ist … Stell dir das einfach als Senkrechte im Winkel zu diesen bei den Linien vor: Es ist ein gehemmtes, verkümmertes, lebloses Kontinuum, in dem die Energie höchst seltsame Wege geht.« »Dann ist also nicht die Stadt verändert worden, son dern ich selbst. Ich bin aus meinem normalen Kontinuum in diesen Null-Zeit-Zustand versetzt worden?« »Genau, alter Junge.« Dzok zwinkerte mir aufmun ternd zu. »Du hast unter diesem gräßlichen Gedanken wohl ziemlich gelitten?« »Allmählich begreife ich. Die Hagroons belauern das Imperium aus dem Null-Zeit-Status heraus. Und sie be reiten sich dort auf einen Angriff vor. Sie haben techni sche Mittel, von denen wir im Imperium noch nicht ein mal träumen. Wir brauchen Hilfe. Glaubst du, deine Zen tralregierung wird sie uns geben?« »Ich weiß es nicht, Bayard«, sagte Dzok. »Aber ich werde für dich tun, was ich kann.« Ich war für ein paar Stunden eingenickt gewesen, als Dzok mich weckte. Auf dem Schirm zeigten sich spinn webartige dünne, himmelhochragende Minaretts von ei ner zugleich erhaben und zerbrechlich erscheinenden Schönheit. Sie türmten sich rosa, gelb und zartgrün in den strah lenden Morgenhimmel. »Schön«, sagte ich »Ich nehme an, daß wir gleich bei dir zu Hause sind. »Oh, die Türme von Zaj«, schwärmte Dzok. »Nichts gleicht euch in allen übrigen Welten.« »Hoffentlich bekomme ich einen Empfang, der dieser Architektur entspricht.« 77
»Hör mal, Bayard. Ich muß dir noch was erklären«, sagte Dzok stockend. »Um ehrlich zu sein: Bei uns gibt es Leute, die euch Sapiens nicht besonders gern haben. Das ist vielleicht nicht sehr vernünftig, sondern eher rein emotional. Aber wir müssen damit rechnen …« »Was für Gründe gibt es denn für diese Abneigung?« »Gewisse, angeblich rassische Merkmale. Ihr habt nun einmal den Ruf, brutal, rücksichtslos, leistungsorientiert und gewalttätig zu sein …« »Klar, wir sind nicht so nett und sanft wie die Ha groons, wolltest du sagen.« »Ja, ja. Wir alle müssen uns gelegentlich unserer Haut wehren. Aber vielleicht ist dir aufgefallen, daß selbst die Hagroons lieber Sklaven machen, anstatt sie zu töten. Sie sind zwar grausam, aber diese Grausamkeit wurzelt in Gleichgültigkeit, nicht in Haß. Du hast einen von ihnen ins Gesicht getreten, bevor du in die Zelle gesteckt wur dest. Ist dir aufgefallen, daß er sich nicht gerächt hat?« »Jeder schlägt zurück, wenn man ihn lange genug ‘rumgeschubst hat.« »Aber nur ihr Sapiens habt systematisch jede andere hominide Lebensform in euren A-Linien ausgerottet.« Dzok begann sich jetzt doch ein wenig zu ereifern. »Ihr Nackten seid – auf welcher Linie ihr auch immer existiert – allein unter euch. Vor langen Zeiten, bei der ersten Konfrontation der nackten Mutanten mit den normalen Anthropos habt ihr – zweifellos aus Scham über euren nackten Zustand – eure behaarten Verwandten umge bracht. Selbst heute leiden eure Gemüter noch immer an diesem uralten Schuld-und-Scham-Komplex des Nackt seins.« »Ihr macht also die gegenwärtige Generation verant wortlich für das, was vor Jahrtausenden geschehen ist 78
oder geschehen sein soll?« »In meinem Welt-Sektor«, stellte Dzok fest, »gibt es drei größere Menschenrassen: wir Australopitheci, um euren Ausdruck zu verwenden, die Rhodesier – hervorra gende Handwerker und Arbeiter, stark und fleißig, wenn auch nicht eben sehr intelligent – und die PekingNachkommen, die mit den blauen Gesichtern. Wir leben in vollkommener Harmonie zusammen. Jede Gruppe hat ihren Platz in der Gesellschaft. Jede trägt mit ihren Ta lenten ihren Teil zum allgemeinen Wohlbefinden bei. Ihr Sapiens dagegen diskriminiert sogar einige Gruppen eu rer eigenen Rasse, selbst wenn die Stammesunterschiede noch so gering sind.« »Dzok, nimm doch mich als Beispiel. Habe ich mich wie ein blindwütiger Schlächter aufgeführt? Habe ich auch nur die geringste Abneigung dir gegenüber ge zeigt?« »Mir?« Dzok sah mich völlig konsterniert an. Dann schüttelte er sich vor Lachen. »Mir!« stöhnte er dann. »Dieser Gedanke …« »Was ist daran so komisch?« »Du … mit deinem armselig kahlen Gesicht … deinen spillerigen Gliedern … deinem degenerierten Gebiß … mußtest am Ende gar deine Abneigung mir gegenüber überwinden?« Er fiel fast aus dem Sessel vor Lachen. »Na schön. Wenn ich irgendeine angeborene Abnei gung gegen dich hatte, so ist es mir doch immerhin ge lungen, sie nicht zu zeigen«, fauchte ich ihn wütend an. Dzok hielt inne, klatschte sich mit der flachen Hand vor die Augen und sah mich beinahe entschuldigend an. »Du hast recht«, gab er zu. »Und du hast meinen Arm behandelt und sogar meine dreckigen Klamotten gewa schen.« 79
»Und dein haariges, runzliges Gesicht auch, du häßli cher Tölpel.« Dzok lächelte verlegen. »Tut mir leid, alter Junge. Ich hab’ mich wohl ein bißchen hinreißen lassen. Man soll einen anderen nach dem einschätzen, was er tut, und nicht nach dem, was er ist. Stimmt’s? Keiner von uns kann seine angeborenen Instinkte verleugnen. Aber es ist immer noch besser, sie zu besiegen, als gar keine zu be sitzen.« Er streckte mir unsicher die Hand entgegen. »Leere Hand, keine Waffen, was?« Er lächelte. Ich nahm die Hand an. »Du bist schon in Ordnung, Bayard«, sagte er. »Ohne dich würde ich noch immer in dieser verdammten Zelle hocken oder ich wäre schon … Ich halte zu dir, was auch kommt.« Er fuhr herum, als ein Summer ertönte, drückte Knöp fe und Hebel, schaltete den Hauptantrieb herunter, beo bachtete den Tanz der Nadeln über die Skalen und stellte ihn schließlich auf Null. Das Grollen der FeldGeneratoren erstarb. Dzok strahlte mich an: »Wir sind da.« Er hielt den Daumen hoch. »Dies könnte ein großer Augenblick für unsere beiden Rassen werden.« Wir traten auf eine weitläufige, buntgepflasterte Plaza hinaus, die mit schattenspendenden Bäumen und geome trisch angeordneten bunten Blumenbeeten bepflanzt war. Dazwischen sprudelten Fontänen im Sonnenschein. Ich sah Hunderte Australopitheci auf dem Platz. Einige schlenderten gemächlich zu zweit einher, andere hasteten mit dem gleichen beschäftigten Gesichtsausdruck durch die Menge, wie unsere Bürokraten auch. Einige trugen eine Art arabische Djellabas, andere bunte Pluderhosen und Jacken. Hier und da sah man die schmucken, weißen 80
Uniformen der Regierungsbeamten. Unser plötzliches Erscheinen mitten auf dem Platz verursachte eine leichte Bewegung in der Menge, die sich schnell zu einem ge spannten Gemurmel steigerte, als man mich erblickte. Ich sah, wie sich in flachen Gesichtern Nasen rümpften, sah einige feindselige Blicke, hörte hier und da ein Kichern. Jemand rief Dzok etwas zu. Er antwortete und faßte mich am Arm. »Tut mir leid, Bayard«, murmelte er. »Es darf nicht so aussehen, als wenn du hier frei herumläufst, verstehst du.« Er winkte einer kleinen Flugmaschine, die über uns schwebte. Ich dachte, es wäre ein Heli, bis ich sah, daß sie keine Rotoren hatte. Sie sank zur Landung neben uns herab. Eine weite transparente Haube öffnete sich wie eine Muschel. Einer von Dzoks Verwandten bleckte zwei prachtvolle Reihen Zähne, winkte, dann fiel sein Blick auf mich, und das Lächeln verschwand wie weggewischt. Er flötete Dzok etwas zu, der antwortete, packte meinen Arm fester und drängte mich vorwärts. »Achte nicht auf ihn, Bayard. Das ist ein dummer Bauer.« »Das sagst du so. Ich weiß aber nicht, was er will.« Ich ließ mich in einen gut gefederten Sitz fallen. Dzok setzte sich neben mich und gab dem Fahrer ein Zeichen. »Alles in allem ist dieses Abenteuer doch eigentlich prächtig ausgegangen«, seufzte er zufrieden. »Gesund und sicher zurück, mehr oder weniger jedenfalls, dazu eine gekaperte Maschine und einen höchst ungewöhnli chen, äh, Gast.« »Freut mich, daß du nicht gesagt hast: Gefangener«, kommentierte ich und blickte hinunter auf die symmetri schen Muster der Parks und Plazas und der schlanken Wohntürme, über die wir mit großer Geschwindigkeit 81
hinwegsausten. »Wohin geht die Fahrt?« »Direkt ins Hauptquartier. Mein Bericht wird sofortige Entscheidungen und Aktionen erfordern. Und du hast es ja auch ziemlich eilig.« »Überlaß mir das Reden«, sagte Dzok, als wir in einem weißen, von Palmen, Blumengärten und blauen Teichen umgebenen Gebäude angekommen waren und eine breite Freitreppe hinaufeilten. »Ich werde dem Rat deinen Fall im günstigsten Licht darstellen. Und ich bin sicher, daß wir keinen Kummer kriegen werden. In ein paar Stunden dürftest du auf dem Heimweg sein.« »Ich hoffe, dein Rat ist nicht so rassistisch veranlagt, wie die Burschen bei unserer Ankunft …« Ich fuhr zu sammen und starrte auf einen verzierten Käfig, aus dem ein etwa halbmetergroßer, haar- und schwanzloser Zwei beiner, mit hoher Stirn, menschenähnlichem Gesicht und leeren Augen herausstarrte. »Mein Gott, was ist das denn: Das ist ein Mensch … ein Zwerg.« Dzok fuhr auf dem Absatz herum. »Wo? Was?« Dann grinste er. »Ach so. Das ist bloß ein Tonquil. Höchst a müsant, aber doch wohl kaum menschlich …« Das kleine Männchen zuckte zusammen und stieß lei se Klagelaute aus. Ich ging mit gemischten Gefühlen weiter. Die Begegnung hatte meine Zuversicht nicht eben gestärkt. »Wir haben noch eine halbe Stunde, bis wir vor den Rat treten dürfen. In der Zwischenzeit können wir uns frisch machen, die Kleider wechseln und so weiter«, lud Dzok mich ein. »Ich fürchte, wir stinken noch immer nach dem Hagroon-Gefängnis.« 82
Zwei aufmerksame Posten in silberverziertem Weiß ver stellten uns den Eingang, als wir, noch vom warmen Bad duftend, ich in einer sauberen Tunika, Dzok in einer blendendweißen neuen Uniform, den Eingang des RatsSaales erreichten. Dzok wechselte ein paar Worte mit ihnen, dann schwang das Portal auf. Er atmete tief ein und wartete, bis ich neben ihm war. Vor uns sah ich ei nen langen Tisch, dahinter eine Reihe Gesichter. Die meisten gehörten Australopithecinen, doch waren noch mindestens drei andere Menschenrassen vertreten. Alle hatten graue oder weiße Haare, viele trugen weiße Uni formen mit roten Ornamenten, einige farbenprächtige Zivilkleider. »Zieh die Oberlippe straff!« flüsterte Dzok mir zu. »Das gehört zum Protokoll. Und bleib immer einen hal ben Schritt links hinter mir. Achte genau auf das, was ich mache.« Dann trat er auf die wartenden Alten zu. Ein Dutzend gelber Augenpaare beobachtete mich. Von den zwölf Gesichtern, die sich über den polierten Tisch hin weg auf mich richteten, zeigte kein einziges ein warmes Willkommenlächeln. Ein zerknitterter alter Graubart schnalzte voller Abscheu mit beweglichen Lippen und flüsterte dann mit seinem Nachbarn. Dzok blieb stehen, machte eine Verbeugung und ging dabei zugleich in die Knie. Dann begann er in seiner eigenen Sprache zu re den. Nach einer Weile zeigte er auf mich. »Dies ist Bayard. Er stammt aus dem angelsächsischen Sektor«, sagte er in Englisch. »Wie Sie sehen, ist er ein Sapiens.« »Wo haben Sie ihn gefangengenommen?« fragte der zerknitterte Alte mit hoher, zittriger Stimme. »Bayard ist … nicht … das, was man als Gefangenen bezeichnet.« 83
»Heißt das, daß er hier mit Gewalt eingedrungen ist?« »Sie brauchen diese Frage nicht zu beantworten, Agent«, unterbrach ein rundgesichtiger Ratsherr von rechts. »Ratsherr Spogheel will nur wieder einmal seine rhetori schen Gaben zur Schau stellen. Doch Ihre Aussage erfor dert eine Erklärung.« »Sie kennen die Einstellung der Zentralregierung zu kahlen Anthropoiden, Agent?« warf ein anderer ein. »Die Umstände, unter denen ich Bayard traf, waren höchst ungewöhnlich«, sagte Dzok besänftigend. »Ich konnte nur mit seiner Hilfe aus der Gefangenschaft ent kommen.« »Gefangenschaft? Ein Agent der Zentralregierung läßt sich gefangennehmen?« »Ich denke, der Agent sollte jetzt seinen Bericht geben können«, sagte der Ratsherr, der Spogheel unterbrochen hatte. Dzok berichtete wieder in seiner Sprache. Dann wandte sich der rundgesichtige Ratsherr an mich. »Also, Bayard. Agent Dzok hat berichtet, wie Sie sich unter seinen Schutz begeben haben …« »Ich bezweifle, daß Dzok so etwas gesagt hat«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Ich bin aufgrund einer Einladung als Repräsentant meiner Regierung hierhergekommen.« »Sie sprechen, wenn Sie gefragt werden, Sapiens«, kreischte Spogheel. »Und ich bin ebenso sicher, daß sein Bericht erwähnt hat, wie dringend ich ein Schiff für die Heimreise brau che«, überging ich das Geschrei des Alten. »Ihre Schwierigkeiten interessieren uns überhaupt nicht«, fauchte Spogheel. »Augenblick, Spogheel«, unterbrach ihn ein anderer. »Ich würde gern Näheres darüber hören. Möglicherweise haben die Vorbereitungen der Hagroons etwas …« 84
»Und ich sage: Laßt die Hagroons mit diesen Bruder mördern tun, was sie wollen«, antwortete Spogheel. »Ob es Ihnen paßt oder nicht, Spogheel, das Imperium ist eine erstklassige Macht, die die Netz-Fahrt kennt. Un sere beiden Kulturen mußten sich früher oder später be gegnen. Und mir wäre es nur recht, wenn unsere Bezie hungen einen guten Start hätten.« »Sie kennen das Geheimnis der Netz-Fahrt? Das haben Sie uns nicht gesagt, Agent«, schnaufte ein fetter Mann. »So weit war ich ja noch gar nicht, Exzellenz«, begü tigte Dzok. »Das gibt der Sache eine ganz erhebliche Bedeutung«, meinte der Rundgesichtige. »Meine Herren, ich denke, wir sollten nicht durch voreilige Aktionen künftige Be ziehungen zu einer Netz-Macht unnötig belasten …« »Der Lümmel lügt«, schrillte Spogheel.« Wir haben das Netz durchforscht und im ganzen SapiensQuadranten einschließlich des sogenannten angelsächsi schen Sektors keine einzige Spur von selbsterworbenen Fähigkeiten zum Netz-Fahren entdeckt.« »Die Null-Null-Linie des Imperiums liegt in der Regi on, die Sie Desolation nennen«, sagte ich. Spogheel schnappte nach Luft. »Sie haben die Frech heit, dieses abscheuliche Beispiel der Zerstörungwut ih res Stammes hier zu erwähnen? Schon das genügt, um Sie aus der Gesellschaft anständiger Hominiden auszu stoßen.« »Wie ist das möglich?« fragte ein anderer. »Innerhalb der Desolation gibt es doch kein Leben.« »Doch. Es gibt sogar mehrere normale Linien im Blight«, widersprach ich. »Eine davon ist unser Regie rungssitz. Als Beauftragter des Imperiums bitte ich Sie jetzt, mich anzuhören und mir dann zu helfen.« 85
»Das ist eine bescheidene Bitte«, nickte der fette Rats herr. »Fangen Sie an mit Ihrer Geschichte, Bayard.« Spogheel blickte finster. Dann schnippte er mit den Fingern. Ein Halbwüchsiger trat zu ihm, lauschte seinen geflüsterten Instruktionen und eilte davon. Spogheel fal tete die Arme über der Brust und fauchte: »Ich gebe nach. Unter Protest.« Nach einer halben Stunde war ich mit meinem Bericht fertig. Dann kamen Fragen; vernünftige von Ratsherren wie dem Pausbäckigen, der Nikodo hieß, und dämlich aggressive von der Art: Verprügeln Sie eigentlich immer noch Ihre Frau? Ich beantwortete alle, so gut ich konnte. »Die Hagroons haben etwas mit uns vor«, schloß ich meinen Vortrag. »Ich vermute, sie wollen uns aus der Null-Zeit heraus angreifen. Wenn Sie uns schon nicht helfen wollen, dann lassen Sie mich bitte zu meiner Re gierung, damit ich sie warnen kann.« In diesem Augenblick kam der jugendliche Bote zu Spogheel zurück und übergab ihm einen Papierstreifen. Der Ratsherr warf nur einen Blick darauf, sprang dann auf und blickte mich mit wütend funkelnden Augen an. »Was habe ich gesagt! Die Kreatur lügt!« brüllte er. »Seine ganze fantastische Geschichte ist erfunden. Das Imperium, he? Eine Netz-Macht, ja? Wo steckt sie denn?« Er warf das Papier seinem Nachbarn, einem me lancholisch aussehenden, hellbraunen Burschen mit bu schigem Schnurrbart zu. Der sah das Papier an, dann mich, runzelte die Stirn und gab es wortlos weiter. Als es Nikodo erreicht hatte, las auch der es durch, sah mich dann entgeistert an und las es ein zweites Mal. »Das verstehe ich nicht, Bayard«, sagte er und blickte mich lange durchdringend an. Sein dunkles Gesicht wur de von den Rändern her purpurrot. »Was haben Sie sich 86
davon versprochen, daß Sie diesem Rat Lügen aufti schen?« »Vielleicht sagen Sie mir bitte, wovon Sie reden. Ich könnte Ihnen dann wohl weiterhelfen«, schlug ich vor. Schweigend wurde mir das Papier übergeben. Ich sah mir die Symbole und Krähenfüße darauf verständnislos an. »Tut mir leid. Ich kann nicht xonijeelisch lesen.« »Ein neuer Beweis. Behauptet, er sei Netz-Fahrer und kennt unsere Sprache nicht«, triumphierte Spogheel. »Ratsherr Spogheel hat Ihre Angaben überprüfen las sen«, sagte Nikodo eisig. »Danach müßte die Null-NullLinie etwa die Koordinaten 875-259 nach unserer NetzEinteilung haben. Unsere Peil-Antennen haben in der Desolation zwar tatsächlich drei andere Welt-Linien ent deckt. Insofern enthält Ihr Bericht ein Körnchen Wahr heit. In den Koordinaten 875-259 jedoch …« »Ja, weiter!« sagte ich und behielt nur mit Mühe die Fassung. » … gibt es keine Welt-Linie.« »Sie sollten das noch einmal genauer nachprüfen.« »Das können Sie selbst«, fauchte Spogheel. Er warf mir über den Tisch hin ein zweites Papier zu. Es war ein schwarzes Fotogramm, weit detaillierter als die im Ver gleich damit unbeholfenen Nachbildungen des imperia len Netz-Dienstes. Ich erkannte sofort die vertraute Oval gestalt des Blight und darin die glühenden Punkte, die die Welten »B-I zwei« und »B-I drei« repräsentierten, au ßerdem eine weitere A-Linie im Blight, die mir unbe kannt war. Aber dort, wo die Null-Null-Linie des Imperi ums sein mußte, dort war – nichts. »Ich denke, der Rat hat sich lange genug mit diesem Scharlatan beschäftigt«, sagte einer. »Weg mit dem Kerl!« 87
Dzok starrte mich fassungslos an. »Warum?« fragte er. »Warum hast du gelogen, Bayard?« »Alles, was ich verlange, ist eine Heimreise.« Ich warf das Papier auf den Tisch. »Dann werden wir ja sehen, wer hier lügt. Ich oder dieses manipulierte Foto.« »Er ist verrückt. Er will, daß wir ein Schiff und eine Crew opfern, nur damit er seinen Wahnsinn zu Ende spielen kann«, donnerte ein Ratsherr. »Dahinter kann doch nur ein teuflischer Plan seiner mörderischen Rasse stecken.« »Sie erzählen hier eine Menge dummes Zeug über die mörderischen Instinkte meiner Rasse«, antwortete ich. »Wo sind denn die Sapiens-Typen hier in dieser netten Welt? In Konzentrationslagern? Wo sie täglich eine Lek tion über Bruderliebe lernen?« »In Xonijeel gibt es keine eingeborenen, nackten, in telligenten Formen«, fuhr Nidoko mich an. »Und warum nicht«, schrie ich zurück. »Sagen Sie bloß nicht, sie sind von allein ausgestorben.« »Sie waren zu schwach und zu nackt, um die Eiszeiten zu überleben«, verteidigte sich Nikodo. »Sie haben sie also ausgerottet. In meiner Welt war es umgekehrt. Oder vielleicht waren beide Male die Natur kräfte daran schuld. Wer weiß. Doch das ist Vergangen heit. Ich schlage vor, wir machen jetzt einen neuen An fang, und Sie prüfen meine Geschichte noch einmal.« »Schluß mit dieser Farce!« Spogheel schlug mit der Faust auf den Tisch. »Ich fordere Abstimmung des Rates. Sofort. Entweder kommen wir den Wünschen dieses Schwindlers nach, oder er wird in eine sub-technische Welt geschafft, wo er weiterleben kann, ohne Schaden anzurichten.« Dzok stöhnte auf. Rings um den Tisch hörte ich einige 88
Ratsherren tief ein- und ausatmen. »Wenn Sie nur ehrlich zu uns gekommen wären«, fing Nikodo noch einmal an. »Abstimmung!« unterbrach Spogheel ihn. »‘raus mit der Kreatur, Agent.« Dzok nahm meinen Arm und führte mich hinaus. Die schweren Portale rasteten hinter uns ein. »Ich versteh’ das alles nicht«, schüttelte er den Kopf. »Diesen Unsinn von der erstklassigen Netz-Macht zu erzählen. Du hast den ganzen Rat gegen dich aufge bracht, und mit welchem Ziel?« »Ich will dir was sagen, Dzok. Ich glaube nicht, daß ich da viel nachhelfen mußte. Die hatten ihr Urteil über den Homo sapiens schon vorweg gefällt.« »Nikodo schien fast auf deiner Seite. Und er hat gro ßen Einfluß. Aber deine sinnlosen Lügen …« »Hör mal, Dzok«, packte ich seinen Arm. »Ich lüge nicht. Versuch das endlich in deinen dicken Schädel ‘reinzukriegen. Das Imperium existiert.« »Die Peil-Antennen lügen nicht, Sapiens«, sagte Dzok kühl. »Gib lieber deinen Fehler zu, und mach ein Gna dengesuch.« Er befreite sich aus meinem Griff und strich seinen Jackenstoff glatt. »Gnade?« lachte ich bitter. »Von dem barmherzigen Ratsherrn Spogheel! Da macht ihr einen Riesenwirbel um eure Glückliche-Familien-Philosophie, und wenn es dann darauf ankommt, seid ihr genauso brutal wie alle anderen in dem verdammten Affenzirkus auch.« »Niemand hat gesagt, daß du umgebracht wirst«, sagte Dzok steif. »Du wirst in der Verbannung durchaus kom fortabel weiterleben können.« »Es geht doch nicht um mich, Dzok. Es geht um drei Milliarden Menschen, die jetzt ahnungslos den Hagroons ausgeliefert sind.« 89
»Deine Geschichte hat keinen Sinn, Angelsachse. Ge nauso sinnlos sind deine Bitten um Hilfe. Die Welt-Linie, von der du redest, gibt es ja gar nicht.« »Eure Instrumente müssen überholt werden. Vor 48 Stunden war sie doch noch da.« Die Türen zum Ratssaal gingen auf. Dzok ging hinein. Zwei bewaffnete Posten stellten sich rechts und links von mir auf. »Wie lautet der Spruch?« fragte ich. Keine Antwort. Eine halbe Minute kroch vorbei wie ein Krüppel auf Krücken. Dann kam Dzok zurück. Zwei Ratsherren be gleiteten ihn. »Eine … äh … Entscheidung ist gefällt worden, Bay ard«, sagte der Agent förmlich. »Sie werden in ein Quar tier gebracht, wo Sie die Nacht verbringen können. Mor gen …« Spogheel stieß ihn beiseite. »Fällt es Ihnen schwer, Ih re Pflicht zu tun, Agent? Sagen Sie der Kreatur, sie hat uns vergeblich belogen. Der Rat hat ihre Verbannung beschlossen …« Das hatte ich erwartet. Ich trat einen Schritt zurück. Im gleichen Augenblick war die Bolzenschleuder in meiner Hand. Doch Dzoks langer Arm schlug herab und traf mit der Gewalt einer Axt meinen Unterarm. Die Waffe schlidderte über den Boden. Ich wirbelte herum und griff nach der kurzen Flinte, die eine der Wachen hielt. Eine Hand hatte ich schon dran, da packte mich ein stählerner Arm und zog mich zurück. Eine graubraune Hand mit einem schwarzen Seehundsfell erschien von hinten vor meinem Gesicht. Eine winzige Ampulle zerbrach. Ein scharfer Duft stieg mir in die Nase. Ich hustete, versuchte den Atem anzuhalten … Meine Füße fühlten sich an wie nasse Taue und gaben unter mir nach. Als ich den Boden 90
berührte, spürte ich schon nichts mehr. Ich lag auf dem Rücken; Dzok war über mir und sagte etwas. »… leid … mein Fehler … alter Junge …« Ich versuchte unter ungeheurer Anstrengung etwas zu sagen, bekam aber nur ein Wort heraus: »…Wahrheit …« Jemand stieß Dzok zur Seite. Eng beisammenstehende gelbe Augen starrten in meine. Dann Stimmen: »… tiefe Gedächtnisveränderungen …« »… die Sache zu Ende bringen …« »… Ehrenwort als Offizier …« »… Teufel soll ihn holen. Angelsachse ist Angelsach se …« Dann fiel ich, langsam wie ein angestochener Ballon, sah die Szene um mich her sich ausdehnen, verschwin den, in einem Wirbel von Licht und Finsternis ver schwinden, der sich immer schneller drehte und dann vorbei war. VI Lange Zeit beobachtete ich gedankenlos das Spiel der Sonnenstrahlen auf den vom Wind leicht bewegten Gaze vorhänge vor dem offenen Fenster, ehe ich darüber nach zudenken begann, wem sie wohl gehören mochten. Die Erinnerung kam plötzlich, wie eine Lektion, die man auswendig gelernt, dann aber lange Zeit nicht mehr ange schaut hat. Ich hatte einen Zusammenbruch gehabt, einen Nervenkollaps, während eines schwierigen Auftrags in Louisianna. Die Einzelheiten waren sehr verschwommen. Doch jetzt war ich in einem Pflegeheim in Harrow, das der freundlichen Mrs. Rogers gehörte. Ich setzte mich im Bett hoch. Ein Schwindelanfall er innerte mich daran, daß ich längere Zeit flachgelegen 91
hatte – nach diesem schwierigen Auftrag in … in … Ei nen Moment lang sah ich vage eine fremde Stadt, viele Gesichter und … Das Bild verschwand. Ich schüttelte den Kopf und leg te mich wieder zurück. Ich sollte mich hier erholen, lange und gut erholen. Meine Pension hatte ich ausgezahlt be kommen – ein plötzliches, scharfes Erinnerungs-Bild meiner Identitätskarte zeigte mir ein Guthaben von 10000 Gold-Napoleons auf einem Konto der Londoner Kreditbank. Ich konnte mich damit irgendwo zur Ruhe setzen, ein bißchen gärtnern und endlich alles das tun, was ich mir schon immer gewünscht hatte. Irgend etwas an dem Bild stimmte nicht. Doch im Au genblick fiel es mir zu schwer, länger darüber nachzu denken. Ich sah mich im Zimmer um. Es war klein, son nenüberflutet, mit buntbemalten Möbeln eingerichtet und einer Jagdszene auf einem Gobelin an der Wand. Die Tür war schmal, braungestrichenes Holz, mit einem hellen Messingknopf. Der Drücker drehte sich, und eine dralle Frau mit grauem Haar, Apfelbäckchen, einem lustigen Spitzenhütchen und langem, über dem Boden schleifen den, buntgemusterten Kleid trat ein. Sie strahlte mich an, so, als ob ich ihr gerade gesagt hätte, daß ihre Apfelku chen genauso gut wie die von meiner Mutter wären. »Mr. Bayard! Endlich aufgewacht!« Sie hatte eine Piepsstimme wie eine Maus und einen Akzent, den ich nicht so recht einzuordnen wußte. »Hungrig sind Sie sicher auch, denke ich. Sicher möchten Sie jetzt erst mal einen großen Teller Suppe es sen und danach vielleicht noch einen leckeren Pudding.« »Ein anständiges Steak mit Pilzen war’ mir schon lie ber«, sagte ich. »Und, äh …« Ich hatte sie ursprünglich 92
fragen wollen, wer sie eigentlich sei, erinnerte mich aber dann noch rechtzeitig, daß sie natürlich die freundliche Mrs. Rogers war … »Und ein Glas Wein, wenn’s möglich ist«, sagte ich und legte mich wieder zurück, um die winzigen kleinen Lichtpunkte zu beobachten, die vor meinen Augen tanz ten. »Aber gewiß doch. Und vorher ein heißes Bad. Das wird Sie erquicken, Mr. Bayard. Ich sage nur eben Hilda Bescheid …« Eine Zeitlang verschwamm mir wieder alles vor den Augen. Nur vage nahm ich das geschäftige Gezwitscher zweier Frauenstimmen wahr. Hände zupften an mir her um, zogen vorsichtig an meinen Armen. Mit einer gewal tigen Kraftanstrengung bekam ich die Augen wieder auf und erblickte die Kurven einer Mädchenhüfte unter einer bunten Schürze. Sie beugte sich über mich und zog mir gerade die Schlafanzugjacke aus. Hinter ihr dirigierte die Ältere zwei schlaksige blonde Männer, die irgend etwas Schweres außerhalb meines Gesichtsfeldes manövrierten. Das Mädchen richtete sich auf, und ich erhaschte noch einen Blick von einer schlanken Taille, sanft gerundeten Brüsten, kräftigen Armen und einem sommersprossigen, stupsnäsigen Gesicht unter kurzgeschnittenem honigfar benem Haar. Als die zwei Männer ihre Arbeit beendet hatten, ver ließen sie mit dem mütterlichen Typ den Raum. Die Jün gere rumorte noch eine Weile herum und folgte ihnen dann. Die Tür blieb offen. Ich stützte mich auf einen Ell bogen, erblickte eine sechs Fuß lange, emaillierte Bade wanne, halb mit Wasser gefüllt, ein riesiges flauschiges Badetuch, eine Rückenbürste und ein quadratisches wei ßes Seifenstück auf einem Hocker daneben. Das sah ein 93
ladend genug aus. Ich setzte mich, streckte die Beine aus dem Bett, atmete tief durch, bis das neu aufsteigende Schwindelgefühl wieder verschwunden war, zog dann meine purpurnen seidenen Pyjamahosen aus und stand mit zitternden Knien auf. »Oh, Sie sollten doch noch gar nicht allein aufstehen«, sagte eine warme, tiefe Altstimme von der Tür her. Ho nig-Haar war zurück. Mit einem energischen Ausdruck in ihrem naseweisen Gesicht kam sie auf mich zu. Ich ver suchte mit einem ungeschickten Griff meine Hosen zu erwischen, verlor das Gleichgewicht und fiel schwerat mend auf das Bett zurück. Da war sie auch schon neben mir und stützte mich mit kräftigem Griff unter den Ar men. »Gunvor und ich haben uns schon Sorgen um Sie ge macht. Der Doktor sagte, daß Sie sehr krank gewesen sind. Aber als Sie gestern den ganzen Tag durchschliefen …« Ich achtete nicht auf das, was sie sagte. Es ist schon schlimm genug, wenn man in einem fremden Zimmer aufwacht und einige Schwierigkeiten bei der Orientie rung hat. Völlig verwirrend wird so was aber dann, wenn man plötzlich merkt, daß man auch unter völlig fremden Menschen ist und keine Ahnung hat, wie man dorthin gekommen ist. Mit ihrer Hilfe schaffte ich die drei Schritte bis zur Wanne, zögerte dann aber einen Augenblick. »Stecken Sie Ihren Fuß ruhig hinein«, sagte das Mäd chen. Ich gehorchte, stellte mich in die Wanne, setzte mich dann und war sogar zu müde, um mich über das allzu heiße Wasser zu beklagen. Das Mädchen zog den Hocker heran, warf ihr Haar zurück, setzte sich und packte meinen Arm. 94
»Ich bin Hilda«, sagte sie. »Ich wohne ein Stück die Straße hinunter. Ich war richtig aufgeregt, als Gunvor mich anrief und mir von Ihrer Ankunft berichtete. Wis sen Sie, hier kommt nicht alle Tage jemand aus Louisi anna her und dann noch gleich ein Diplomat. Sie müssen ein aufregendes Leben führen. Ich möchte wetten, daß Sie auch schon in Ägypten und in Österreich und in Spa nien gewesen sind, vielleicht sogar bei der Nation der Seminolen.« Sie schwätzte ununterbrochen und seifte mich dabei ab wie eine Großmutter ihren fünf Jahre alten Enkel. Wenn ich auch zunächst dagegen aufbegehren wollte, ließ ich es jetzt doch zu. Außerdem war ich auch so schwach wie ein Fünfjähriger. Und außerdem war es sehr angenehm, sich von diesem lebhaften Ding den Rücken schrubben zu lassen, während die Sonne durch das Fenster schien und der Wind in den Gardinen spielte. »… Ihr Unfall, Mr. Bayard?« Ich bemerkte, daß Hilda mir eine Frage gestellt hatte. Dazu noch eine, die mich einigermaßen verlegen machte. Denn ich hatte keine Lust, zuzugeben, daß ich irgendeine Art von Amnesie erwischt hatte. Zumindest schien es so. Ich hatte natür lich nicht alles vergessen. Nur die Details waren völlig verschwommen. »Hilda. Der Mann, der mich hierher gebracht hat. Hat der nicht irgendwas über mich und meinen … Unfall er zählt?« »Ach, der Brief!« Hilda sprang auf, lief hinüber zu dem mit weißen, roten, gelben, blauen und orangen Blu men dekorierten Tisch und brachte einen steifen, recht eckigen Umschlag zurück. »Der Doktor hat dies für Sie hinterlassen. Beinahe hät te ich es vergessen.« 95
Meine Hand war feucht vor Aufregung, als ich danach griff. Ich riß den Umschlag auf, zog ein einzelnes Stück Pa pier heraus und las unter dem phantasievollen Briefkopf den saubergetippten Text: »Mr. Bayard. Mit dem tiefsten Bedauern und dem Ausdruck meiner höchsten persönlichen Anerkennung genehmige ich Ih nen wegen Ihres Dienstunfalls hiermit den Austritt aus dem aktiven Dienst Seiner Kaiserlichen Majestät Napo leon V …« Außerdem stand da noch einiges über meine treuen Dienste und mein aufopferndes Pflichtbewußtsein, etwas über das große Bedauern darüber, daß ich nicht länger verwendet werden könne, und natürlich fehlten auch die besten Genesungswünsche nicht. Angefügt war die Ad resse eines Rechtsanwalts in Paris, der mir jederzeit be hilflich sein würde. Usw. usw. Der Name der Unter schrift war mir unbekannt … Aber dann … natürlich! Jeder kannte den Comte Regis de Manin, Außenminister für Sicherheitsangelegenheiten. Der gute alte Reggie … Ich las den Brief zweimal, faltete ihn dann und stopfte ihn zurück in den Umschlag. Meine Hände zitterten. »Wer hat Ihnen das gegeben?« fragte ich mit belegter Stimme. »Der Doktor. Sie wurden vor zwei Nächten hierher gebracht. Er war sehr besorgt um Sie. Jammerschade, daß Ihre Freunde so schnell weitermußten, um das Dampfschiff nach Calais zu bekommen.« »Wie sah er denn aus?« »Der Doktor?« unterbrach Hilda ihr Schrubben. »Oh, er war sehr groß, hübsch angezogen und hatte eine wun derschöne Stimme. Ziemlich dunkel war er auch. Aber 96
ich hab’ ihn wirklich nur für einen Augenblick gesehen und im Licht der Stallaterne konnte ich nicht viel erken nen.« Sie kicherte plötzlich. »Nur seine Augen, die stan den so eng beieinander wie zwei Haselnüsse in einem Eierbecher.« »War er allein?« »Da war der Kutscher … und … ich glaube noch ein weiterer Herr im Wagen drin. Aber …« »Hat Mrs. Rogers sie gesehen?« »Auch nur einen Augenblick. Sie hatten es furchtbar eilig.« Hilda trocknete mich ab und half mir in einen saube ren Schlafanzug und dann zurück ins Bett. Sie deckte mich zu. Ich wollte noch so viel fragen, aber der Schlaf überrollte mich wie die Flut einen geborstenen Damm. Als ich das nächste Mal erwachte, fühlte ich mich schon etwas besser. Ich kletterte aus dem Bett, stolperte zum Schrank und fand dort seltsam aussehende Kleider mit engen Hosen und weiten Aufschlägen, ein Hemd mit Rüschen an Kragen und Manschetten und Schuhe mit zierlichen Gravuren. Eigentlich waren sie gar nicht so fremdartig, korrigier te ich mich. Sehr modisch zwar und ziemlich neu, sogar der Garantieschein des Herstellers steckte noch in der Brusttasche. Ich beendete meine Toilette und trat ans Fenster. Es war immer noch geöffnet, und die Spätnachmittagssonne brachte die eingetopften Geranien auf dem Sims zum Glühen. Unter mir lagen ein winziger Garten, ein Zie gelweg, ein weißer Holzzaun und in der Ferne ein hoher Kirchturm. In der Luft war ein Duft von frischgeschnit tenem Gras. Während ich da stand, kam Hilda mit einem Korb in der Hand und einem Tuch auf dem Kopf um die 97
Ecke. Sie trug ein schweres, knöchellanges Kleid und mit roten und blauen Schnörkeln verzierte Holzschuhe. Als sie mich erblickte, lächelte sie mir zu. »Sie haben geschlafen, als hätten Sie zehn Tabletten genommen.« Ich fühlte ein Zentnergewicht von meiner Brust wei chen. Tabletten. Ich war gar nicht krank. Ich war mit Drogen bis über beide Ohren vollgestopft. Mit aller Kraft gegen das Schwindelgefühl ankämp fend, verließ ich das Zimmer, taumelte die Treppe hinun ter und folgte dem Geklapper von Töpfen und Pfannen, bis ich durch eine Schwingtür in die niedrige, gekachelte Küche trat, in der Gunvor an einem weiß gescheuerten Holztisch eine Gans rupfte. »Nanu, Mr. Bayard«, sagte sie verdutzt und blies sich eine Feder von der Nase. Ich stützte mich schwer auf den Tisch, um das Gleich gewicht zu halten. »Gunvor, hat der Doktor Ihnen eine Medizin für mich gegeben?« »Natürlich, Sir. Die Tropfen für Ihre Suppe. Und das weiße Pulver für Ihr Essen …« »Schluß mit der Medizin, Gunvor.« Um mich herum wurde es dunkel. Ich stampfte wütend mit den Füßen auf und versuchte mit aller Willenskraft den neuen Schwindelanfall zu überwinden … »Mr. Bayard, Sie sind noch nicht kräftig genug. Sie sollten noch gar nicht auf sein …« »Nein … nicht zurück ins … Bett. Ich … muß an die frische Luft laufen.« Ich verließ taumelnd das Haus. Dann fühlte ich Gunvors Arm unter meinem und hörte ihre aufgeregte Stimme. Undeutlich spürte ich, wie wir eine Treppe hinuntergingen. Ich atmete tief ein, der Ne bel lichtete sich. 98
»Besser«, sagte ich. »Führen Sie mich weiter auf und ab. Das hilft mir sehr.« Ich ignorierte ihre Proteste, konnte nach einer Weile auf ihren stützenden Arm verzichten und spürte nach ei ner weiteren Viertelstunde schon so eine Art Appetit. Als die Sonne sank, gingen wir zurück ins Haus. Gunvor reichte mir ein Glas Apfelsaft. »So, und jetzt ruhen Sie sich aus und warten hier aufs Abendessen«, sagte sie besorgt. Ich versuchte meine Gedanken zu ordnen. Jemand hat te mich bis oben hin mit Drogen vollgepumpt und hierher gebracht. Dann hatte er es so eingerichtet, daß ich noch eine ganze Weile in diesem Zustand bleiben mußte. Je mand hatte an meinem Gedächtnis herumgespielt. Die Frage nach dem Wer und Warum wartete dringend auf Antwort. Ich versuchte den Nebel zu durchdringen und auf ech te Erinnerungen zu stoßen. Es war Juni, schätzte ich nach Sonnenstand und Pflanzenwuchs. Wo war ich im Mai gewesen oder im April? Vereiste Straßen, hohe Gebäude in einer grimmigen Winternacht, drinnen Wärme, Freude, Farben, die la chenden Gesichter freundlicher Menschen, das Lächeln eines wunderschönen Rotkopfs mit dem Namen … Ich konnte mich nicht erinnern. Die BeinaheErinnerung zerriß wie eine dünne Rauchfahne in einem plötzlichen Windstoß. Irgend jemand hatte mich hypnoti siert, meine echten Erinnerungen unter falschen Erinne rungen begraben … Ich mußte da durch. »Gunvor«, fragte ich, »sagen Sie, gibt es hier einen …« Ich wollte sie nicht erschrecken … »Psychiater?« Sie verstand mich nicht. »Einen Hypnotiseur?« Wieder nur ahnungsloses Schulterzucken. »Jemand, der mit gestörten 99
Menschen spricht, sie beruhigt.« »Ach, Sie meinen einen Mesmeriten? Nein, so einen haben wir hier nicht im Dorf … leider … Nur Mutter Goodwill«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Mutter Goodwill?« forschte ich drängend. »Ich hab’ nichts gegen sie. Aber manche sagen, daß sie Zauberkräfte besitzt und eine Hexe ist. Und ich hab’ erst kürzlich im »Paris Match« gelesen, daß man völlig durchdrehen kann, wenn man andere unkontrolliert an seinem Verstand herumdoktern läßt.« »Sie mögen ja recht haben, Gunvor. Aber wir wollen auch nicht überkritisch sein. Wo wohnt diese Mutter Goodwill? Wie schnell kann sie hierherkommen?« »Ich schicke Ingalill zu ihr. Wenn es Ihnen recht ist, Sir, soll sie nach dem Abendessen kommen. Ich habe die Gans gleich fertig. Und die Bratkartoffeln sind auch gleich braun.« »Sehr schön. Ich mache inzwischen noch ein paar Runden im Garten und werde danach den Appetit haben, den Ihr Essen verdient.« Nach meiner zweiten Portion Blaubeerkompott mit Schlagsahne, klopfte es zaghaft an die Tür. Ingalill, die Küchenfee, steckte ihren Kopf herein. »Die alte Hexe ist da«, piepste sie. »Gunvor, sie raucht Pfeife, und ich glaube, daß sie getrocknete Feuersala mander in den Tabak gemischt hat.« Mit einem Aufschrei sprang sie beiseite, während eine krumme Alte unter einer gewaltigen weißen Haube, in der einen Hand einen Knotenstock, sie mit der anderen beiseite stieß und ins Zimmer trat. Glänzend schwarze Augen huschten durch den Raum. Ich starrte sie an, sah die warzige Nase, die zahnlosen Kiefer, das eingefallene 100
Kinn und die Strähnen weißen, langen Haars, die über die hohlen Wangen herunterhingen. Eine Pfeife bemerkte ich nicht, wohl aber die Rauchwolke, die sie aus ihren Nasenlöchern blies. »Wer braucht Mutter Goodwills heilende Berührung?« zeterte sie. »Natürlich, Sie sind es, mein Herr. Sie haben einen langen Weg voller Gefahren hinter sich und einen noch längeren und gefahrvolleren zu gehen.« »Ja, Mutter Goodwill. Dieser Herr braucht deine Hil fe«, bestätigte Gunvor. »Er tat gut daran, die alte Mutter Gee zu rufen. Aber vorher, Gunvor, gießt du mir ein Gläschen vom Besten ein, damit meine Kräfte wachsen und ich dem neuen Herrn alle seine Wünsche erfüllen kann. Ihr anderen ver laßt das Zimmer.« Sie grinste mich an wie eine Katze die Maus. »Ich muß die Erinnerung an einige Ereignisse wieder finden. Vielleicht unter leichter Hypnose«, sagte ich sachlich und ohne auf den faulen Zauber einzugehen, den sie offensichtlich zunächst veranstalten wollte. »So … Sie wollen also nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit sehen? ‘raus mit euch, meine Hühnchen«, zankte sie dann, nachdem Gunvor ihr ein Wasserglas mit Brandy gefüllt hatte. »Ich fühle den Geist über mich kommen.« Die beiden anderen Frauen gingen. »Also, jetzt zum Geschäft, Sir. Was geben Sie einer alten Frau für eine Handvoll verlorener Erinnerungen? Haben Sie Ihre Liebste vergessen, den Zauber der Ju gend, den Schlüssel zum Glück …?« »Sie werden gut bezahlt. Aber lassen Sie jetzt den Routine-Hokuspokus. Ich leide an einer künstlich herbei geführten Amnesie, möglicherweise als Ergebnis einer posthypnotischen Suggestion. Sie sollten mich mal vor 101
nehmen und sehen, ob sie die Blockierung knacken kön nen.« Mutter Goodwill blickte mich scharf an. »Sie sind stark. Eine Stärke, die ich in den Fingerspit zen fühlen kann. Es scheint, als sähen Sie Dinge, die an dere Menschen nicht sehen können.« »Ich habe garantiert einen starken Charakter. Aber so stark, daß Sie mich nicht hypnotisieren oder mesmerisie ren könnten, ist er nun auch wieder nicht.« »Ich weiß, mein Sohn, ich weiß. Glauben Sie, eine alte Frau wie ich versteht ihr Geschäft nicht …?« Ihre Stim me begann plötzlich zu dröhnen, kam von weit her, schwoll an wie die Flut des Meeres unter einem rauhen Sturm, wurde zum Echo, Echo … »… zehn!« Meine Augen öffneten sich. Eine hübsche, bleiche Frau, das Kinn nachdenklich auf die Faust gestützt, in der anderen Hand eine Zigarette, beobachtete mich for schend. Ihr dunkles Haar war eng an den Kopf gelegt, ihre weiße Bluse am Kragen geöffnet und ließ einen kräf tigen, gutgeformten Nacken erkennen. Eine dunkle Lok ke fiel auf ihre hohe Stirn. Ich sah mich im Zimmer um. Draußen war es inzwi schen ganz dunkel geworden. Irgendwo tickte laut eine Uhr. »Was ist mit der netten alten Dame passiert?« Die Frau lächelte leicht, winkte mit der feinmanikür ten Hand zu einem Cape auf dem Stuhl neben sich, an den ein Knotenstock gelehnt war. »Reichlich warm für diese Arbeit«, sagte sie. »Wie fühlen Sie sich?« Ich dachte nach. »Gut, aber …« Unter dem Cape ent deckte ich ein Büschel weißer Haare, stand auf und hob das Tuch an. Da lagen eine warzige Gummimaske und 102
ein Paar knotige Handschuhe. »Was soll dieses Kostüm?« »Es hilft mir, bei meinem … Geschäft.« »Bei der schlechten Beleuchtung war es nicht schwer, mich reinzulegen. Gunvor und die anderen kennen den Trick natürlich?« Sie schüttelte den Kopf. »Niemand sieht mich bei Ta geslicht. Und keiner tritt mir zu nahe. Das sind einfache Leute hier auf dem Land. Für sie gehören Warzen und Weisheit zusammen. Sie sind der einzige, dem ich mein Geheimnis anvertraue.« »Warum ausgerechnet mir?« Sie blickte mich forschend an. »Sie sind ein geheim nisvoller Mann, Mr. Bayard. Sie haben mir seltsame Dinge von anderen Welten erzählt, von Menschen wie Tiere, mit zottigem Fell …« »Dzok!« brach es aus mir heraus. Meine Hände legten sich um meinen Kopf, als wollten sie jetzt auch die letz ten Erinnerungen, die mir noch fehlten, aus ihm heraus quetschen. »Die Hagroons …« »Langsam, langsam, Mr. Bayard«, versuchte sie mich zu beruhigen. »Ihre Erinnerungen, wenn es Erinnerungen und keine Fieberträume sind, liegen bereit. Sie können sie alle abrufen. Ruhen Sie sich jetzt aus. Es war nicht leicht, die Vorhänge zu zerreißen. Der, der sie vorgezo gen hat, verstand etwas von seinem Fach. Aber nun liegt alles offen da.« Sie erhob sich, trat zum Spiegel an der Wand und strich eine Haarsträhne zur Seite. Ich beobach tete sie, ohne sie zu sehen. Gedanken an Barbro, die glü hende Gestalt im Abstellraum, die Flucht vor den Ha groons gemeinsam mit Dzok – das alles brach jetzt aus mir hervor, wollte erinnert werden, bedacht, gewertet. Ich mußte handeln. Schnell. 103
Mutter Goodwill warf das Cape um ihre Schultern, krümmte sich wieder zusammen. Ihre weißen Hände drückten die Maske aufs Gesicht; Handschuhe und Pe rücke folgten. Und wieder blickten mich die glänzenden Augen aus einem uralten, runzligen Gesicht an. »Ruhen Sie aus, Sir«, krächzte die alte Stimme. »Schla fen Sie, träumen Sie. Und wenn Sie es wünschen, kom men Sie in einigen Tagen Mutter Goodwill besuchen …« VII Drei Tage später öffnete sie mir die winzige Tür ihres strohgedeckten Häuschens am Rande des Dorfes. Sie trug ein weißes Hemd und einen Rock wie die Bauernmäd chen, lächelte mich nachdenklich an und ließ mich ein treten. »Kein Hexen-Kostüm heute?« fragte ich. »Es geht Ihnen besser, Mr. Bayard«, gab sie trocken zurück. »Haben Sie keine anderen Namen als Mutter Good will?« »Sie können mich Olivia nennen.« Sie hatte schlanke, weiße Hände. An einem Finger funkelte ein grüner Stein. Als sie mir eine Tasse Kaffee eingoß, klirrte das Porzel lan leise. »Sie haben viele merkwürdige Sachen erzählt, als ich Sie in Trance versetzt hatte«, begann sie. »Ich habe schon häufig gefühlt, daß es mehr gibt, als nur diese eine Existenz …« Sie machte eine umfassende Handbewe gung. »Nun erzählen Sie mir, Fremder, von diesen ande ren Welten, die der unseren wie Silberstücke aus demsel ben Prägestock ähnlich sind – wenn man von den winzi gen Abweichungen absieht. Erzählen Sie mir von der 104
seltsamen Kutsche, die von einer dieser Welten in die andere fliegen kann. Ist das nicht alles nur Phantasie? Produkt eines kranken Gemüts?« »Es ist wahr, Olivia«, unterbrach ich sie. »Ich weiß, es ist schwer zu verstehen. Ich war seinerzeit auch nur schwer zu überzeugen …« Sie hörte aufmerksam zu, als ich ihr die ganze Ge schichte erzählte, von Richthofens merkwürdigem Ver hör bis zu meiner Verurteilung bei den Xonijeels. »Und jetzt«, schloß ich, »sitze ich fest. Ohne Schiff bin ich hier für den Rest meiner Tage festgenagelt.« »Das sind seltsame Dinge, Brion, Dinge, die ich nicht glauben möchte und doch glauben muß, so phantastisch sie sich auch anhören …« »Nach dem bißchen, was ich von eurer Welt weiß, seid ihr technologisch ziemlich weit hinter uns zurück …« »O nein, wir sind ein modernes Volk«, protestierte sie. »Wir haben Dampfmaschinen. Die Schiffe auf der Atlan tiklinie schaffen die Überfahrt in neun Tagen. Wir haben gasgefüllte Luftschiffe, den Telegraph, Telephon, unsere modernen Kohlevergaserautos ersetzen schon in einer ganzen Reihe von Kolonien das Pferd …« »Natürlich, Olivia. Ich weiß. Das sollte keine Herab würdigung sein. Laß uns sagen, daß wir euch in einigen Gebieten voraus sind. Das Imperium hat den M-C-Effekt. Die Welt, in der ich geboren wurde, hat die Atomkraft, Strahlflugzeuge, Radar und ein Raumfahrtprogramm. Ihr hier habt euch in eine andere Richtung entwickelt. Erzähl mir von eurer Welt. Vielleicht finde ich doch noch eine Möglichkeit, wieder zurückzukehren und meine eigene vor diesen gräßlichen Affenmenschen zu retten.« »Wo soll ich beginnen? Mit dem alten Rom? Dem Mittelalter?« 105
»Zuerst müssen wir ein gemeinsames Geschichtsda tum finden, den Punkt, an dem sich eure Welt von unse rer trennte und anders weiterentwickelte. Du sprachst vorhin vom »Empire«. Was ist das für ein Empire? Wann wurde es gegründet?« »Aber, das ist doch klar – das französische Empire …« Olivia schüttelte den Kopf. »Doch, du hast recht. Nichts ist klar. Also – es ist das Empire, das Napoleon Bonaparte 1790 gegründet hat.« »So weit, so gut«, sagte ich. »Wir hatten auch einen Bonaparte. Aber sein Reich dauerte nicht lange. Nur bis 1814. Dann wurde er nach Elba verbannt …« »… ja, und kam zurück nach Frankreich und errang mit seinen Armeen glorreiche Siege.« Ich schüttelte den Kopf. »Nach hundert Tagen hat man ihn wieder gefangengenommen, nachdem die Briten ihn bei Waterloo besiegt hatten. Er wurde nach St. Helena geschickt und starb dort ein paar Jahre später.« Olivia starrte mich entgeistert an. »Wie seltsam, wie verrückt. Der Kaiser Napoleon regierte in Paris noch 23 Jahre nach seinem großen Sieg von Brüssel und starb 1837 in Nizza. Sein Nachfolger war sein Sohn Louis …« »Der Herzog von Reichstadt?« »Nein. Der starb in früher Jugend, an Tuberkulose. Louis war sechzehn, als er den Thron übernahm. Er war der Sohn des Kaisers und der Prinzessin von Dänemark. »Und sein Empire existiert immer noch?« »Nach der Abdankung des englischen Tyrannen George wurde auch den Britischen Inseln die Aufnahme ins Empire gestattet. Natürlich stehen sie unter der per sönlichen Hut des Kaisers. Dann, nach der Vereinigung ganz Europas, wurde das Licht Frankreichs nach Afrika und Asien getragen. Heute sind sie halbautonome Pro 106
vinzen. Sie werden zwar von Paris aus administriert, ha ben aber ihre eigenen Parlamente, die über ihre inneren Angelegenheiten entscheiden können. Was NeuFrankreich angeht – oder Louisianna – , dort wird die kürzlich begonnene Rebellion schnell wieder abflauen. Eine kaiserliche Kommission ist hingeschickt worden, um die Klagen über den Vizekönig zu untersuchen.« »Ich glaube, damit haben wir das Gemeinsame Ge schichtsdatum ziemlich genau definiert«, meinte ich. »1814. Und es sieht fast so aus, als hätte es hier seither keinen bedeutenden wissenschaftlichen oder technologi schen Fortschritt gegeben.« Diese Feststellung provozierte Fragen, die ich nun des langen und breiten beantworten mußte. Olivia war intel ligent und gebildet. Mein Bericht über eine Welt, die nicht von dem gewaltigen Schatten Bonapartes verdun kelt wurde, verzauberte sie. Inzwischen war es Mittag geworden. Während Olivia in der Küche das Essen anrichtete, stöberte ich in ihrer Bibliothek herum. Dabei fiel mir ein dickleibiges, in ro tes Leder gebundenes Buch auf. Ich sah nach dem Titel: DIE HEXE VON OZ, von Lyman F. Baum. »Das ist ja komisch«, rief ich erstaunt aus. Olivia blickte mir über die Schulter und lächelte fast scheu. »Etwas seltsame Literatur für eine Hexe, denkst du wohl? Aber gerade von solchen phantastischen Gedanken lasse ich mich gelegentlich selbst fesseln, Brion. Wie du selbst sagst: Diese eine enge Welt kann einfach nicht al les sein …« »Das meinte ich nicht, Olivia. Wir haben ziemlich ge nau festgestellt, daß unser Gemeinsames Geschichtsda tum zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts liegt. Baum 107
ist aber nicht vor 1855 geboren, also fast ein halbes Jahr hundert später. Und trotzdem ist er hier …« Ich schlug das Buch auf, las: Herausgeber Wiley und Cotton, New York, New Orleans, Paris 1896. »Du kennst dieses Buch auch in deiner Welt?« Ich schüttelte den Kopf. »In meiner Welt hat er dieses nie geschrieben …« »Aber wenn du es nicht kennst, woher kennst du dann den Autor?« »Er schrieb bei uns anderes. DER HEXENMEISTER VON OZ war das erste Buch, das ich als Kind gelesen habe.« »Der Hexenmeister, nicht die Hexe? Es müßte ausge sprochen interessant sein, das zu lesen.« »Ist es das einzige, das er geschrieben hat?« »Leider ja. Er starb schon im nächsten Jahr, 1897.« »Achtzehnhundertsiebenundneunzig; das würde be deuten …« Ich versank in tiefe Gedanken. Dzok und seine Genos sen hatten mich auf eine Welt-Linie versetzt, die der mei nen so ähnlich wie möglich war. Sie waren schlau und human zugleich gewesen. Aber nicht so schlau, wie sie glaubten. Sie hätten dafür wohl etwas weniger human sein müssen. Ich erinnerte mich an das Fotogramm, das die Ratsher ren mir gezeigt hatten. Und an den glühenden Punkt, der den imperialen Netz-Kartographen unbekannt war und der doch eine vierte, noch unentdeckte Welt-Linie im Blight darstellte. Als ich ihn sah, hatte ich ihn für einen Irrtum gehalten, so wie den anderen, noch größeren Irr tum, durch den die Null-Null-Linie des Imperiums nicht auf das Fotogramm gekommen war. Es war kein Irrtum gewesen. »B-I vier« existierte – ei 108
ne Welt mit einem Gemeinsamen Geschichtsdatum, das uns viel näher lag, als das 15. Jahrhundert, mit dem näch sten gemeinsamen Geschichtsdatum der anderen Linien im Blight. Und ausgerechnet hier hatten sie mich abgesetzt, in ei ner Welt, wo 1896 zumindest ein Mensch existiert hatte, den man auch in meiner Welt kannte. Warum sollten hier nicht auch zwei andere gelebt haben: Maxoni und Cocini, die Entdecker des M-C-Effekts? »… das würde bedeuten … Was, Brion?« fragte Olivia und riß mich aus meinen Gedanken. – »Ach nichts«, antwortete ich. »Brion«, sagte Olivia bittend, »ich kann dich nicht auffordern, mir zu trauen. Aber laß mich dir helfen.« »Helfen? Bei was?« »Du hast einen Plan. Ich fühle das deutlich. Aber al lein schaffst du das nicht.« »Warum solltest du mir helfen, wenn ich etwas plante?« Eine Minute lang schaute sie mich mit ihren großen, schwarzen Augen in dem bleichen, klassisch geformten Gesicht an. »Ich habe mein Leben lang nach einem Schlüssel zu einer anderen Welt gesucht … zu einer der Traumwelten meiner Phantasie. Mir scheint, daß du dieser Schlüssel bist, Brion. Selbst wenn ich nie dorthin gelangen könnte, würde es mir ungeheuer viel bedeuten, wenn ein anderer dieses für mich unerreichbare Ziel erreichte. Darum laß mich dir helfen, Brion! Die Geschichte, die hier erzählt wird, daß du einen Kollaps erlitten hast als Beamter im diplomatischen Dienst, daß du hier zur Erholung bist, das alles ist so dünn und durchsichtig wie Pariser Spitzenwä sche. Und Brion …« sie senkte ihre Stimme, »… du wirst beobachtet.« 109
»Beobachtet? Von einem kleinen Mann mit Bart und dunklen Brillengläsern?« »Das ist kein Scherz, Brion. Vergangene Nacht sah ich einen Mann um das Haus von Gunvor herumschleichen. Und heute, vor einer halben Stunde, sah ich einen Mann, der sein Gesicht hinter einem dicken um den Hals gewik kelten Schal verbarg, ein Stückchen weiter unten auf der Straße zu meinem Haus herumlungern.« »Das beweist überhaupt nichts.« Sie schüttelte ungeduldig den Kopf. »Du willst flie hen. Ich weiß das. Ich weiß auch, daß dein Besuch bei mir die Leute, die dich hierher verbannt haben, mißtrau isch machen wird.« Ich zögerte noch. Aber zum Teufel. Olivia hatte recht. Ich brauchte Hilfe. »Rom«, sagte ich. Sie nickte. »Sehr gut. Hast du genug Geld bei dir?« »Ich habe ein Bankkonto.« »Greif das nicht an! Zum Glück habe ich meine gol denen Napoleons im Garten vergraben.« »Ich will aber dein Geld nicht.« »Unsinn. Wir beide brauchen es. Ich gehe mit dir.« »Du kannst nicht …« »Ich kann und will«, sagte sie. Ihre dunklen Augen funkelten. »Wir gehen noch heute nacht.« »Es ist Wahnsinn«, flüsterte ich der mit einer Kapuze vermummten Gestalt neben mir im Dunkeln zu. »Du hast überhaupt keinen Grund, dich in diese Geschichte ein zumischen …« »Psst«, zischte Olivia. »Jetzt wird er unruhig. Siehst du ihn? Ich glaube, er wird gleich die Straße überqueren, um näher heranzukommen und uns auszuspionieren.« Ich spähte angestrengt in die Dunkelheit und erkannte 110
die Gestalt eines Mannes. Er überquerte tatsächlich etwa hundert Yards entfernt die Straße und verschwand hinter den Bäumen auf unserer Seite. Ich verlagerte mein Ge wicht unter der wilden Maskerade, die Olivia sich für mich ausgedacht hatte: Warzengesicht, Knotenhände, verfilztes, strähniges weißes Haar. Ich sah aus wie der ältere Bruder von Mutter Goodwill. Olivia war als Zi geunerin verkleidet. Sie trug ein eng anliegendes purpur nes Seidenkleid und so viele Ringe, Ketten, Armreifen und Ohrringe, daß sie damit einen Juwelierladen hätte aufmachen können. Olivias Hand berührte leicht die meine. »Jetzt«, flüster te sie. Ich folgte ihr, als sie leise ihren Garten verließ. Wir hielten uns im Schatten der dunklen Hecke. Es war Neu mond. Als wir das Ende der Hecke erreichten, blickte ich zurück. Ein Kopf zeichnete sich klar und deutlich gegen das schwache Licht von Olivias Wohnzimmerfenster ab. Wir machten uns auf den Weg durch die Felder. Als wir weit genug von Olivias Hütte entfernt waren, began nen wir zu laufen. In der Ferne huschte ein Lichtschein am Hang des Hügels über dem Dorf entlang. »Das ist der Zug«, sagte Olivia. »Wir müssen uns be eilen.« Nach fünfzehn Minuten waren wir am Bahnhof. Ein streng aussehender Beamter in dunkler Uniform mit ge kreuzten Brustriemen und Koteletten nahm Olivias Geld, schrieb mit der Hand unsere Fahrkarten aus und zeigte uns unseren Waggon. Drinnen ließen wir uns in die brei ten, mit grünem Plüsch gepolsterten Sessel sinken. Wir waren die einzigen Reisenden, die hier einstiegen. Ich lehnte mich mit einem Stoßseufzer zurück. Die Lokomo tive pfiff schrill, ein Zittern ging durch den Waggon. »Wir haben es geschafft«, atmete Olivia auf. Sie sah 111
begeistert aus, wie ein Kind, das zum erstenmal in Ferien fährt. »Wir fahren nur nach Rom«, sagte ich. »Nicht nach Oz.« »Wer weiß, wohin uns die Zukunft treibt.« VIII Im Hotel »Romulus« hatten Olivia und ich zwei Zimmer hoch unter dem Dach gemietet. In den Schrägen waren kleine Fensterchen, die auf einen Platz mit einem hüb schen Renaissance-Brunnen blickten. Wir saßen an dem schmalen Tisch in meinem Zimmer und spülten ein spä tes Pizza-Mittagessen mit rotem Landwein hinunter. »Die beiden Männer, auf die es mir ankommt, sind ir gendwo in Norditalien geboren, so um 1850«, erzählte ich Olivia. »Als junge Leute kamen sie nach Rom, um hier Ingenieurwissenschaften und Elektrotechnik zu stu dieren. 1893 machten sie jene fundamentale Erfindung, die dem Imperium die Netz-Fahrt ermöglichte. Ich wette, wenn Baum hier geboren werden konnte, müßte das ei gentlich auch Maxoni und Cocini gelungen sein. Sie ha ben auf euerer Welt ihre Erfindung nicht zu Ende ge führt, und wenn, dann ist sie als Geheimnis mit ihnen gestorben. Sie müssen aber irgend etwas hinterlassen haben. Das müssen wir finden, in Notizbüchern, Tagebü chern, wissenschaftlichen Aufzeichnungen oder sonst wo.« Eine Stunde später standen wir im Einwohnermel deamt. Ein schläfrig aussehender junger Mann in zu en gem schwarzen Anzug führte uns zu Regalen, voll mit schwarz gebundenen Büchern, in denen handschriftlich Tausende und aber Tausende von Namen, Daten und Or ten eingetragen waren. »Sicuro, Signore«, sagte er in einem Ton gelangweil 112
ter Überheblichkeit. »Die Behörden der Hauptstadt haben nichts zu verbergen. Selbstverständlich öffnet man Ihnen alle Bücher. Nur lesen und die gesuchten Namen heraus suchen, das müssen Sie schon selbst.« »Sagen Sie mir nur, was das hier für Bücher sind«, bat ich ihn höflich. »Ich such’ einen Giulio Maxoni und ei nen Carlo Cocini …« »Das sagten Sie bereits. Und hier vor Ihnen liegt die Kartei, in der alle jene Personen eingetragen sind, die 1870 – oder sagten Sie 1880? – nach Rom gezogen sind. Sie scheinen nicht ganz sicher zu sein. Nun, ich bin es noch viel weniger, da ich diese Ihre Vorfahren nicht ge kannt habe. Suchen Sie selbst, aber verlangen Sie von mir keine Wunder. Ich habe noch andere Pflichten.« Da mit verschwand er zwischen seinen Regalen. Wir blätterten und lasen, arbeiteten uns durch 1870 hindurch und fingen dann mit 1871 an. Der mürrische Archivar tauchte noch einmal auf, wohl um zu prüfen, daß wir mit seinen Büchern keinen Unfug machten. Oli via und ich standen nebeneinander, jeder immer eine Sei te mit den darauf enthaltenen rund zweihundert Namen durchgehend. Olivia war schneller als ich. Ehe ich meine Seite nur halb gelesen hatte, wartete sie bereits auf mich mit dem Umblättern. Eine halbe Stunde später zeigte sie atemlos auf einen Namen. »Brion, sieh mal! Giulio Maxoni, 1847 in Paglio geboren. Beruf: Student …« Ich sah ihn mir an. Es war der richtige Name. Doch versuchte ich, allzu frühe Freude zu unterdrücken. Viel leicht gab es Hunderte Maxonis und Dutzende Giulios. Trotzdem … »Prächtig, Mädchen«, sagte ich mit gezwungen kühler Stimme und mußte zwischen den beiden Wörtern nur 113
einmal schlucken. »Hast du die Adresse?« Sie las sie vor. Ich notierte sie, ebenso die übrigen Da ten. Wir suchten noch einige Stunden, fanden aber keinen Cocini. Der Beamte kam wieder und räusperte sich un geduldig. Er wollte Feierabend machen. Ich gab ihm sei ne Bücher zurück. »Verpfeif uns nicht, Junge«, grinste ich ihn an. »Wir haben uns nur ein paar tausend Adressen ‘rausgeschrie ben, um den Leuten jetzt Bettelbriefe zu schreiben.« »Bettelbriefe?« fragte er voller Mißtrauen. »Das ist ein Mißbrauch des städtischen Archivs. Und … außerdem. Die Leute sind doch alle längst tot …« »Eben«, grinste ich ihn an. »Wir danken Ihnen sehr für Ihre Hilfe.« Als wir das Archiv verließen, war es dort so still, daß man den Staub aus den Büchern rieseln hören konnte. Maxoni hatte Via Carlotti Nummer 12 gewohnt, auf der vierten Etage, Zimmer 9. Es kostete mich zwei Hundertlirescheine und eine hal be Stunde angestrengten Palavers in meinem glückli cherweise einigermaßen perfekten Italienisch, das ich vom römischen Gesandten am imperialen Hof gelernt hatte, um Signora Sophia Gina Anna Maria Scumatti da von zu überzeugen, wie wichtig für uns ein Besuch auf ihrem Speicher sei. Dort oben, in der staubigen Hitze gleich unter den Dachpfannen, wühlten wir uns schwei gend und schweißüberströmt durch jahrzehntealten Krempel und zusammengebundene Papiere hindurch, die zu unserem Glück niemals der städtischen Müllabfuhr übergeben worden waren. Maxoni hatte in diesem Haus bis vor gut neunzig Jahren gelebt, und doch fanden wir seine Spur in einem alten Schuhkarton, in dem jemand 114
einen Haufen nur auf einer Seite beschriebene Blätter abgelegt hatte. Auf der Rückseite eines der vergilbten Papiere, auf die wohl ein verliebtes, junges Mädchen in den zwanziger Jahren ihre ersten Gedichte geschrieben hatte, entdeckte Olivia eine noch ältere, fast schon ver blaßte Schrift. Ich konnte die Buchstaben entziffern: ISTITUTO GALILEO MERCOLEDI GIUGNO 7, 15. »Mittwoch, 7. Juni«, übersetzte ich. »Das könnte et was sein. Wenn ich nur wüßte, aus welchem Jahr das stammt.« »Ich kenne eine einfache Formel, um die Daten auszu rechnen«, sagte Olivia atemlos. »Nur einen Augenblick.« Sie kaute aufgeregt auf ihrer Unterlippe und konzen trierte sich. Dann strahlte sie. »Ja, es paßt. Der 7. Juni 1871 fiel auf einen Mittwoch. Ebenso der 7. Juni 1899, 1911 …« »Das ist immerhin etwas … besser als nichts. Wir müssen das nachprüfen. Das Galileo-Institut. Hoffentlich gibt’s das noch.« Ein vertrocknetes altes Männchen mit Ärmelschonern und einer grünen Augenblende kaute auf seinem langhe rabhängenden, blonden Schnurrbart und hörte sich ge langweilt unsere Bitte an. Sein Atem roch unverkennbar nach Alkohol. »Achtzehnhunderteinundsiebzig«, brummte er. »Das liegt ja ganz schön weit zurück. Was glauben Sie, wieviel Studenten seit der Zeit hier studiert haben, um dem Na men Galileo neuen Ruhm zu bringen.« »Alles, was wir brauchen, ist ein Blick in die Akte von Giulio Maxoni. Aber wenn Ihre Karteien und Archive so schlampig geführt sind, daß Sie die nicht finden, dann werde ich eben daraus eine Geschichte machen …« 115
»Sind Sie Journalist?« Er richtete sich kerzengrade auf, zwirbelte seinen Schnurrbart und schob eine verdeck te Schublade zu, in der es verdächtig wie Glas klirrte. Er hüstelte, schlurfte hastig davon, stöhnte unter einem schweren Band, der anscheinend ein Zwillingsbruder von denen im Einwohnermeldeamt war, und klappte den Ein banddeckel auf. »Maxoni, sagten Sie, 1871 … 1871 …« Er hielt inne, glotzte mich dann mißtrauisch an. »Sie meinen doch nicht etwa den Maxoni?« »Den Maxoni?« fragte ich zurück. »Giulio Maxoni, den berühmten Erfinder«, fuhr er mich an. Er drehte sich um und zeigte mit der Hand auf ein Da guerrotyp, das in einer langen Reihe anderer vergilbter Lichtbilder unter Glas hing. »Den Erfinder der MaxoniButterrnaschine, des Maxoni-Telegraphen-Tasters, der galvanischen Maxoni-Antenne und des Maxoni-Motors, mit dem er ein Vermögen verdiente …« Ich lächelte zufrieden wie ein Revisor, der eine wider Erwarten sauber geführte Buchhaltung vorgefunden hat. »Sehr gut. Ich sehe, Sie sind auf dem laufenden hier im Institut …« Das ließ er sich nicht zweimal sagen, klappte das Buch wieder zu und rasselte herunter, daß Maxoni als armer Bauernjunge hierhergekommen war, daß er alles, was er gelernt und später erfunden hatte, nur dem Institut ver dankte, daß er in der Via Carlotti gelebt hatte, katholisch und ledig gewesen war usw. usw. … Irgendwann gelang es mir, den Alten zu stoppen. »Gibt es wohl eine Möglichkeit, seine Werke, seine handschriftlichen Aufzeichnungen hier einzusehen?« »Hier. Wieso hier? Das liegt doch alles im Museum.« »In welchem Museum?« 116
Der Alte schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »In welchem anderen Museum als im Maxoni-Museum. Das kennt doch jeder Tourist.« Sein Mißtrauen wuchs jetzt unaufhaltsam. »Wie hieß doch gleich die Zeitung, für die Sie angeblich schreiben?« »Wir kommen von der Liga gegen den AlkoholMißbrauch«, antwortete ich streng und schnupperte viel sagend. »Die Maxoni-Fragen waren nur ein Vorwand. Wir haben andere Aufgaben. Wir untersuchen, wie viele städtische Beamte im Dienst trinken und was das den Steuerzahler kostet.« Als wir das Institut verließen, stand er noch immer wie angenagelt auf seinem Platz und glotzte uns mit wäßrigen Augen nach. Das Maxoni-Museum war ein altmodisches Gebäude, dessen mit Simsen, Erkern und Bögen verzierte Natur stein-Fassade jeder Straße meiner eigenen Welt zur Ehre gereicht hätte. Eine fleckige Messingplatte über dem ver glasten Eingang berichtete stolz, daß Heim und Labor des weltberühmten Erfinders Giulio Maxoni durch frei willige Spenden an die Gesellschaft für Denkmalspflege zum Ruhm Italiens der Nachwelt erhalten würden und daß sie montags bis samstags von 10 bis 16 Uhr und sonntags von 13 bis 18 Uhr für den Publikumsverkehr geöffnet seien. Eine an die Glasscheibe geklebte Karte gab den Hinweis: »Bitte klingeln!« Ich tat es. Einige Mi nuten verstrichen. Dann bewegte sich eine dunkle Gestalt hinter dem Glas, ein Schlüsselbund klirrte, das Schloß kreischte, quietschend öffnete sich die Tür und eine schlampige, verschlafen aussehende Frau blinzelte ins Sonnenlicht. »Geschlossen«, greinte sie. »Hau’n Sie ab!« Ich stellte 117
einen Fuß zwischen Tür und Angel. »Auf dem Schild steht doch …« begann ich. »Scheiß-Schild«, kreischte sie jetzt. »Kommen Sie morgen!« Mit der Schulter drückte ich die Tür ganz auf und drängte die bezaubernde Empfangsdame zurück in den Flur. Sie verlor beinahe das Gleichgewicht, zerrte mit einer Hand ungeschickt ihren abwärts rutschenden BH zurecht, hob die andere, alle fünf Finger gespreizt, mit der Handfläche an ihren Mund, streckte die Zunge raus und leckte daran, so als wollte sie symbolisch eine ob szöne Aufforderung andeuten … »Bitte, nein, sagen Sie das nicht«, unterbrach ich sie mit allem Charme, den ich habe. »Die Contessa hier ist nicht an den Bilderreichtum der modernen Umgangs sprache gewöhnt. Sie hat ein sehr zurückgezogenes Le ben am Lago Constanza geführt.« »Contessa?« Ein häßlicher Seitenblick, der wohl ein Lächeln sein sollte, verzog das schiefe Gesicht. »Him mel, wenn ich gleich gewußt hätte, daß Ihre Gnaden un sere bescheidene Hütte mit einem Besuch beehren wollen …« Sie machte, daß sie fort kam. »Eine Pforte, von einem schaurigen Drachen be wacht«, zitierte Olivia aus einer alten Ballade. »Und der tapfere Ritter treibt ihn mit einem einzigen Wort in die Flucht.« »Ich habe ein Zauberwort gebraucht«, bestätigte ich. »Du bist seit heute eine vornehme Contessa. Benimm dich entsprechend hochnäsig und lächle kühl und he rablassend.« Es dauerte einige Zeit, bis der Drache wieder zurück kam. Diesmal sah sie in einem giftgrünen Hauskleid und unter einer dicken Schicht Schminke womöglich noch 118
grotesker aus als vorher. Der Hofknicks, zu dem sie sich vor Olivia hinreißen ließ, hätte jedem Zirkuselefanten Ehre gemacht. Dabei grinste sie, daß ich fürchtete, ihr Make-up würde jeden Augenblick aufplatzen wie geteer te Straßen bei einem mittleren Erdbeben. »Die Contessa möchte die Laboratorien besichtigen, in denen Maxoni seine großen Erfindungen gemacht hat«, verkündete ich. »Sie dürfen uns dorthin geleiten.« Sie schob sich zwischen mich und Olivia, um der Her zogin möglichst nahe zu kommen, und führte uns mit wehender Schleppe und fuchtelnden Händen, an denen ein Dutzend falscher Steine blitzten, durch eine Hintertür in einen unkrautüberwucherten Garten vor einen ver schlossenen Schuppen. »Die Arbeitsräume sind nicht vollständig restauriert«, warnte sie, während sie einen Schlüssel aus einer ausge beulten Handtasche herausfischte. Schließlich bekam sie das Vorhängeschloß auf, tastete innen neben der Tür su chend umher und grunzte zufrieden, als sie endlich den Lichtschalter fand. Ein gelbliches Licht ging an. Olivia und ich starrten auf Staub, massive, undefinierbare Gerä te und Möbel, die mit Tüchern zugedeckt waren, Staub, aufgestapelte Kartons, Staub, verdreckte Fensterscheiben und noch mehr Staub. »Hier hat er gearbeitet?« »Natürlich war da noch nicht so ein Durcheinander. Wir haben nur geringe Mittel zur Verfügung, Euer Gna den. Deshalb haben wir noch keine Bestandsaufnahme vollziehen und auch noch keinen Katalog anlegen kön nen … « Sie schwatzte und schwatzte – völlig unbeein druckt von Olivias tiefem Schweigen. Ich stocherte hier und da herum und versuchte möglichst gelangweilt aus zusehen, während ich vor Spannung fast zitterte. In die 119
sem Schuppen mußte Maxoni jene grandiose Erfindung gelungen sein, die uns die Welten alternierender Realitä ten geöffnet hatten. Hier in diesem Wust mußte, konnte etwas darüber verborgen sein. Ich wußte nicht einmal, was ich eigentlich suchte. Es konnte ein Tagebuch sein, ein Arbeitsmodell, eine halbfertige Skizze … Ich lupfte vorsichtig die Ecke eines der Staubfänger über einem mit Geräten vorgestellten Tisch und versuch te das Durcheinander des veralteten Krimskrams zu ü berblicken: plumpe, schwer aussehende Transformatoren, primitive Vakuumröhren, Drahtenden … Ein massives Gerät mitten auf dem Tisch fiel mir auf. Ich hob den Deckel und zog es näher zu mir heran. »Ich bitte Sie, mein Herr. Sie dürfen hier nichts verän dern«, trompetete sie mir im Bewußtsein ihrer Wichtig keit ins Ohr. Ich zuckte zusammen und ließ die Decke wieder über den Tisch fallen. Eine dicke Staubwolke wirbelte auf. »Dies muß alles so bleiben, wie es der Pro fessor an jenem letzten Unglückstag zurückließ.« »Entschuldigung«, sagte ich und versuchte ein mög lichst einfältiges Gesicht zu machen. »Das sieht aus wie eine Schrottsammlung.« »Ja, Professor Maxoni war ein bißchen exzentrisch. Er hob alle alten Stücke und Reste auf und versuchte immer wieder, sie noch einmal zu verwerten. Er hatte einmal einen Traum, so erzählte er meinem verstorbenen Papa – natürlich als er noch am Leben war – der Professor, mei ne ich, und Papa auch – « »Ihr Vater arbeitete mit Maxoni zusammen?« »Wußten Sie das nicht. O ja, er war sein Assistent.« »Hat er nicht ein Tagebuch hinterlassen?« »Papa? Nein, der war kein schreibgewandter Mensch, eher ein Mann der Praxis. Außerdem – wozu? Der Pro 120
fessor selbst trug doch jede Begebenheit, jeden Versuch in sein Tagebuch ein. Fünf schwere Bände. Es ist eine Tragödie, daß sich niemand findet, der sie veröffentli chen will.« »Nun«, sagte ich feierlich, »die Contessa ist gerade daran interessiert, solche bedeutenden Schriften einem größeren Publikum zugänglich zu machen. Vielleicht könnten Sie sie einmal herholen, damit sie sie begutach ten kann.« »Sie sind im Safe«, versicherte sie aufgeregt. »Letztes Jahr hab’ ich doch den Schlüssel dazu noch in der Hand gehabt. Oder war es vor zwei Jahren …« »Finden Sie ihn, gute Frau«, drängte ich. »Die Contes sa und ich werden hier geduldig warten und mit dem Geist des großen Verstorbenen Zwiesprache halten …« Ich schob sie zur Tür ‘raus. »Brion, was bedeutet das alles?« Ich trat wieder an den Tisch heran und warf das Tuch zurück. Das schwere Gerät, das ich schon vorhin angefaßt hatte, überragte das übrige Durcheinander bei weitem. »Das hier«, sagte ich feierlich, »ist die Moebius-Spule, der wichtigste Bestandteil des M-C-Antriebs. Wenn ich nicht damit und mit den Tagebüchern des toten Profes sors ein Schiff bauen kann, lasse ich mir mein Lehrgeld wiedergeben.« IX In einer ehemaligen Mechaniker-Werkstatt, die ich in einer engen Gasse nahe der Strada d’Allenzo gemietet hatte, richtete ich mein Labor ein. Die Moebius-Spule und die Tagebücher – beides hatten wir dem alten Dra chen gegen das Versprechen abgeluchst, auch ihren Vater 121
bei der Veröffentlichung von Maxonis Tagebüchern ge bührend herauszustreichen – stellten zunächst die ganze Einrichtung dar. Das war nicht viel, um Welten in Bewe gung zu setzen, aber immerhin ein Anfang. Olivia hatte für uns ganz in der Nähe eine Wohnung gemietet, während ich mein Forschungsprogramm damit begann, erst einmal die fünf schweren Bände durchzufor sten. Sie enthielten, neben wissenschaftlichen Aufzeich nungen auch bittere Bemerkungen über die politische Entwicklung. Gleich zu Anfang beschwerte Maxoni sich darüber, daß Florenz nicht länger die Hauptstadt Italiens blieb, sondern Rom es wurde. Das hatte hier die Le bensmittelpreise gewaltig in die Höhe getrieben. Erst im vierten Band begann ich interessante Passagen anzustreichen. Es waren die ersten, zögernden Hinweise auf das große Geheimnis. Maxoni hatte mit Spulen expe rimentiert. Er hatte sie selbst mühsam gewickelt, hatte Ströme verschiedenartiger Spannungen und Stärken durch sie hindurchgejagt und versucht, Ergebnisse fest zuhalten. Wenn er mehr von den Gesetzen der modernen Physik gekannt hätte, hätte er sich dabei nicht lange auf gehalten. Aber in seiner Ignoranz arbeitete er weiter an diesen Experimenten herum. Wie Edison, der alles – vom Pferdehaar bis zum Bambussplitter – durchprobiert hatte, um ein möglichst dauerhaftes Brennen seiner Glühlam pen zu erzwingen, probierte auch er zäh und besessen, notierte Resultate und versuchte wieder und wieder. Er wußte nicht einmal, was er eigentlich suchte, und als er es fand, wußte er nicht, was es war – zumindest nicht in dieser Welt. Ihm hatte hier wohl Cocini gefehlt. Ich wuß te nicht, wie dessen Rolle auf der Null-Null-Linie ausge sehen hatte. Das festzustellen würde ich mir aber nicht nehmen lassen, wenn ich erst einmal zurück war. Wenn 122
es sie überhaupt noch gab, die Welt, in die ich zurück wollte. Doch diesen Gedanken ließ ich schnell wieder fallen. Er hätte mich auch kaum weitergebracht. Der letz te Band enthüllte endlich das Geheimnis. Es begann mit einigen hingekritzelten Bemerkungen über die Spule und ein paar Zeilen über seltsame Materialisationen mit Hilfe des Goldblatt-Elektroskops, wenn äußerst schwache Ströme verwendet wurden … Nach einer Woche konnte ich mit der experimentellen Phase beginnen. Die Elektrifizierung war auf dieser Welt weit entfernt von jenem Stadium, daß man einfach einen Stecker in eine Steckdose steckt und die Kilowatt frei Haus geliefert bekommt. Ich mußte mir mühsam Massen von Batterien, Oszillatoren, Windungen, Kondensatoren und Vakuumröhren so groß und unförmig wie Milchkan nen aus den Spezialgeschäften zusammenkaufen, in de nen sich auch die Universitäten mit Experimentiermateri al versorgten. Dann ließ ich mich von Olivia mesmerisieren, damit auch die verschüttetsten Kenntnisse über SchiffsKonstruktionen aus den verborgensten Winkeln meines Gedächtnisses herausgeholt werden konnten. Dies, so stellte sich heraus, war doppelt so wertvoll für meine Ar beit wie Maxonis Tagebuchaufzeichnungen. Der erste Monat war vergangen. Die Leute im Viertel hielten mich für einen verrückten Ausländer, waren aber freundlich zu Olivia und mir. Mein Verhältnis zu dieser Frau blieb mir während der ganzen Zeit ein Rätsel. So war ich mit meinen Schätzun gen über ihr Alter ständig heruntergegangen. Zuerst, nach dem Schock der Maskerade als Mutter Goodwill, hatte ich sie für eine jung gebliebene Vierzigerin gehal ten. Später, im Zigeunerkostüm auf der Flucht, erschien 123
sie mir jünger, so um die Fünfunddreißig. Doch als sie sich die Schminke abgewaschen und ihr Haar nach der römischen Mode kurz geschnitten hatte, als ihre Haut in der Sonne Farbe angenommen hatte und ihre schlanke Figur unter den einfachen billigen Kleidern eines kleinen Lädchens im Viertel prächtig zur Geltung kam, begriff ich eines Tages, als ich ihr beim Taubenfüttern zuschau te, daß sie höchstens fünfundzwanzig war. Sie bemerkte meinen Blick und schaute sich um. »Du bist ein wunderschönes Mädchen, Olivia«, sagte ich voller Verwunderung. »Was hat dich nur auf diese Hexenmasche gebracht?« »Du hast es doch schon erraten«, sagte sie, und ihre Stimme klang mißbilligend. »Die alte Hexe in dem Buch von Baum DIE HEXE VON OZ.« »Ja, aber warum?« »Ich habe dir das doch erklärt. Wer hört schon auf eine kluge Frau, wenn sie nicht ein Kinn voller Warzen hat?« »Sicher – aber warum hast du nicht geheiratet?« fuhr ich fort und wollte schon mit der alten Geschichte anfan gen, daß sie doch bestimmt einen ganzen Sack voller junger Männer hätte haben können. Doch nach einem Blick in ihr Gesicht verkniff ich mir diese Banalität. »Okay, das geht mich nichts an«, sagte ich schnell. »Ich wollte dir nicht zu nahe treten, Olivia …« Wir be endeten den Spaziergang schweigend. Drei Wochen später hatte ich einen Großteil der Arbeit getan und so viele Daten gesammelt, daß ich nun mit dem Aufbau der Sekundärkreise beginnen konnte. Mit diesem Bestandteil des Schiffsmechanismus war ich im übrigen so sehr vertraut, daß ich mich nun dicht vor dem Ziel fühlte. »Die Hauptarbeit«, so berichtete ich Olivia, »war das 124
Regulieren der Wicklung. Dann mußte ich feststellen, welchen Energiezufluß sie braucht und welche Feldstär ken entwickelt werden müssen. Das ist jetzt erledigt. Ich brauche eigentlich nur noch die Verstärkeranlage und die Brennweite richtig einzustellen …« »Das klingt bei dir alles einfach, Brion, und sicher.« »Ich versuche mir selbst Mut zu machen«, gab ich zu. »Es ist im Grunde, als wollte ich eine Teetasse unver schüttet über einen reißenden Fluß bringen. Mit dem Un terschied, daß ich hier mindestens ein Dutzend Teetassen habe und als wären stromaufwärts alle Schleusen geöff net. Wenn ich ohne die nötigen Sicherungen mit diesem Apparat auf volle Kraft gehe …« »Was dann?« »Dann könnte ich einen Kataklysmus verursachen, ei ne titanische Kettenreaktion, die immer weiter explodiert, eine unkontrollierte Eruption von Materie aus einem an deren Kontinuum, die sich wie ein Vulkan aus dem Mit telpunkt der Sonne auf uns ergießen könnte. Vielleicht gäbe es aber auch einen gewaltigen Energieabfall, der alle Wärme von diesem Punkt her wegsaugen würde, in Minuten die ganze Stadt zu einem Eisblock gefrieren und in einem Monat den ganzen Planeten unter einer hundert Meter dicken Eiskappe vergraben würde. Oder …« »Das reicht mir. Ich habe es begriffen. Du spielst also mit gewaltigen Naturkräften, Brion.« »Keine Sorge. Ich werde das Ding nicht eher in Gang setzen, ehe ich nicht genau weiß, was ich tue. Es gibt die Möglichkeit, für die Tests automatische Sicherungen ein zubauen. Außerdem werde ich mit nur ganz geringen Energien anfangen. Die Unglücksfälle, die das Blight entstehen ließ, ereigneten sich, weil die Maxonis und Cocinis dieser anderen A-Linien nicht vorgewarnt waren. 125
Sie setzten die Maschine in Gang und ließen sie sausen. Die Tore zur Hölle sind eben gut geölt.« »Wie lange brauchst du noch?« »Nur ein paar Tage. Das Schiff selbst macht nicht viel Arbeit. Ich werde einen einfachen Kasten zusammen zimmern, aus rohen Pinienbrettern, nur damit ich etwas habe, das mich und den Mechanismus zusammenhält. Es wird ein ziemlich ungefüger Apparat werden, nicht so elegant und kompakt wie die Schiffe des Imperiums. A ber es wird mich dorthin zurückbringen, solange genug Energie vorhanden ist. Der Energieverbrauch ist nicht sehr groß. Ein Satz von diesen Sechs-Volt-Baterien wird mir genug Saft für die Heimreise geben.« »Und wenn die Xonijeels recht haben«, sagte sie leise, »und deine Welt liegt nicht mehr dort, wo du sie suchst?« »Dann werde ich nach einiger Zeit meine Antriebs kraft verlieren und ins Blight stürzen. Die Welt wäre dann um einen Dummkopf ärmer«, sagte ich rauh. »Au ßerdem wäre es für mich das Beste. Wenn ich mir vor stelle, daß das ganze Imperium …« Wieder drei Abende später. Olivia und ich saßen am Fen sterplatz eines unserer Lieblingsrestaurants, tranken ein Glas Wein und lauschten den Geräuschen der römischen Sommernacht. Seit einiger Zeit holte sie mich jeden A bend spät in der Werkstatt ab. Das war für mich schon eine liebe Gewohnheit geworden. »Jetzt dauert es nicht mehr lange«, sagte ich. »Du hast den großen Kasten gesehen. Nur roh aus Brettern zu sammengeschlagen, aber gut genug für mich. Die Spule ist installiert. Morgen werde ich mit meinem Testpro gramm beginnen …« »Brion!« Ihre Finger krampften sich in meinen Unter 126
arm. »Sieh mal! Da drüben!« Ich drehte mich in die Richtung und erhaschte noch einen Blick auf eine große, dunkle Gestalt in einem bis auf den Boden reichenden Mantel mit langen Ärmeln und hochgestelltem Kragen, die sich eilig durch das Gewim mel der Spaziergänger drängte. »Das war er!« Olivias Stimme schwankte vor Furcht. »Na wenn schon«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Nur keine Aufregung, Mädchen. Bist du ganz sicher?« »Vollkommen sicher, Brion. Dasselbe schreckliche, dunkle Gesicht, der Bart …« – »Es gibt eine Menge Bär te in Rom, Olivia.« »Wir müssen weg. Schnell!« Sie stand auf. Ich faßte ihre Hand und zog sie sachte auf ihren Platz zurück. »Nur keine Panik. Hat er uns gesehen?« »Ich … denke … Ich bin nicht sicher. Ich sah ihn … und drehte mich gleich weg. Aber …« »Wenn er uns gesehen hat … wenn er unser Mann ist, hat es keinen Zweck, fortzulaufen. Wenn er uns nicht gesehen hat, kommt er auch nicht zurück.« »Aber wenn wir uns beeilen, Brion. Wir brauchen noch nicht mal in unsere Wohnung zurück, um unsere Sachen zu holen. Wir könnten gleich zum Bahnhof gehen und bei Tagesanbruch viele Meilen weit weg sein.« »Wenn die uns hier aufgestöbert haben, finden sie uns auch anderswo. Außerdem: Mein Schiff ist fast fertig. Noch einen Tag Arbeit, ein paar Tests …« »Was nützt dir das Schiff, wenn sie dich erwischen, Brion?« Ich drückte ihre Hand. »Warum sollte mich irgend je mand gefangennehmen wollen! Sie haben mich doch hier abgeladen, um mich loszuwerden …« Ich biß mir auf die Unterlippe und dachte nach. Olivia 127
ließ sich durch mein Gerede nicht beruhigen. Ich hatte keine Ahnung, ob und wie die Netz-Polizei von Xonijeel ihre Verbannten beschattete. Es war allerdings sicher, daß sie über meinen netten kleinen Zeitvertreib nicht all zu begeistert sein würde. Sie hatten mich hierher ver pflanzt, um mich aus dem Netz-Verkehr zu ziehen. Zu mindest das würden sie jetzt erneut versuchen. Olivia hatte recht … »Also gut.« Ich stand auf und legte das Geld für unse re Rechnung auf den Teller. Draußen auf der Straße faßte ich sie an der Hand. »Du gehst jetzt allein nach Hause, Olivia. Ich werde noch ein bißchen herumschnüffeln. Nur um mich davon zu überzeugen, daß alles o.k. ist. Dann …« »Nein. Ich bleibe bei dir.« »Das ist dummes Zeug. Wenn es zu Unannehmlich keiten kommt, glaubst du, ich hätte dich gern dabei? Ich glaube zwar nicht, daß es soweit kommt …« »Du hast doch irgendeinen tollkühnen Plan, Brion. Willst du etwa wieder zurück in die Werkstatt?« »Ich will nur mal nachsehen, ob nicht jemand an dem Schiff herummanipuliert hat.« Im Schein der Karbidlampe an der Ecke sah ihr Ge sicht totenbleich aus. »Du willst es jetzt übereilt fertigmachen und … dann dein Leben aufs Spiel setzen.« »Ich gehe kein Risiko ein, Olivia. Aber ich will ver dammt sein, wenn ich mich jetzt so kurz vor dem Ziel stoppen lasse.« »Du brauchst Hilfe. Ich bin technisch nicht unbegabt.« Ich schüttelte den Kopf. »Halt dich da ‘raus, Olivia. Die haben es auf mich abgesehen, und du könntest dabei was abkriegen.« 128
»Wie schnell kannst du fertig werden?« »In ein paar Stunden. Dann ein paar Tests …« »Also fangen wir am besten gleich an. Ich spüre Ge fahr für diese Nacht. Ich weiß es ganz genau: Sie sind dir auf den Fersen.« Ich zögerte noch einen Augenblick. Dann nahm ich ih re Hand. »Ich weiß nicht, womit ich so viel Opferbereit schaft verdiene«, sagte ich. »Komm, wir haben noch viel zu tun.« Zuerst gingen wir zurück in die Wohnung, machten Licht und kochten Kaffee. Dann, nachdem wir das Licht ge löscht hatten, stiegen wir leise die Hintertreppe hinunter und schlichen in eine kopfsteingepflasterte Gasse hinaus. Nach einer halben Stunde und zahlreichen Umwegen, bei denen wir vorsichtig alle erleuchteten Hauptstraßen ver mieden, waren wir in der Werkstatt. Alles sah genauso aus, wie ich es am Abend verlassen hatte: Der sechs Fuß im Quadrat messende Kasten, dessen Seiten grob mit Brettern vernagelt waren, in der Mitte auf dem Holzfuß boden die Moebius-Spule und dann die vielen Drahte meines halbfertigen Sicherungssystems. Ich zündete eine Lampe an, und wir begannen mit der Arbeit. Olivia hatte mehr als nur geschickte Hände. Ich zeigte ihr, wie man einen Draht an einem Isolator befestigt, und von diesem Augenblick an konnte sie das besser als ich. Für die Batterien brauchte ich noch Schaltung und La ger. Ich schleppte die Zellen auf ihren Platz, nagelte und drahtete das Ganze grob zusammen und setzte einen Schalter dazwischen. Alle halbe Stunden schlüpfte Olivia aus dem Haus und machte einen Kontrollgang. Ich hatte keine Illusionen, daß uns das irgendwie weiterhelfen würde, wenn sie uns beobachteten. Aber ich kannte ihre 129
Taktik nicht, wenn es überhaupt eine gab. Wenn sie uns entdeckt hatten, stand die Werkstatt gewiß unter Beob achtung. Möglicherweise ließen sie mich erst mal wei termachen und mein Werk vollenden, ehe sie zuschlugen. Vielleicht wollten sie wissen, wie weit man mit dem Wissen und den technologischen Hilfsmitteln dieser Welt-Linie kam … Weit nach Mitternacht waren wir endlich fertig. Ich schloß einen letzten Stromkreis und machte ein paar Checks. Wenn ich Maxonis Tagebuch richtig verstanden hatte, und wenn meine Erinnerungen an die M-C-Theorie richtig waren, dann mußte das Ding laufen … »Es sieht so zerbrechlich aus, Brion.« Olivias Augen waren in dem trüben Licht noch dunkler als sonst. Meine eigenen Augäpfel fühlten sich an, als hätte sie jemand durch Schmirgelsand gerollt. »Es ist zerbrechlich. Aber ein Schiff auf einer NetzReise ist gegen äußere Einflüsse immun. Es ist in ein Feld eingeschlossen, das sogar luftdicht ist und alle fremden Einflüsse abhält. Und es verweilt ja auch nicht lange genug auf irgendeiner A-Linie, um deren Tempera turen oder Vakuum oder was es sonst an Überraschungen geben könnte, ausgesetzt zu sein.« »Brion!« Sie packte mich voller Angst am Arm. »Bleib hier! Setz dich nicht diesen Gefahren aus. Es ist noch nicht zu spät für eine Flucht. Laß den Bösewicht da draußen suchen, bis er schwarz wird. Irgendwo, in ir gendeinem verlassenen Dörfchen finden wir eine Hütte, fern von alledem …« Mein Gesichtsausdruck sagte ihr wohl klar, daß sie mich nicht umstimmen konnte. Sie blickte mir einen Moment tief in die Augen, ließ dann in hilfloser Gebärde ihre Arme fallen und trat langsam zurück. 130
»Ich war kindisch, meine Träume mit der Wirklichkeit zu verwechseln«, sagte sie mit zitternder Stimme. Ich sah, wie sich ihre Schultern zusammenzogen und alles Leben aus ihrem Gesicht verschwand. Beinahe sah sie wieder wie Mutter Goodwill aus. »Olivia«, sagte ich, »um Gottes willen.« Und dann hörte ich das Geräusch an der Tür. Ich riß das Licht vom Tisch. Es verlöschte. In die Stille hinein tappten Schritte auf Steinplatten. Die rostigen Türangeln kreischten. Die Dunkelheit wurde etwas durchsichtiger, als die Tür aufgestoßen wurde. Eine große, dunkle Sil houette erschien in der Öffnung. »Bayard!« sagte eine scharfe Stimme in der Dunkel heit. Das war unverkennbar ein Mann aus Xonijeel. Leise schlich ich an der Wand entlang. Die Gestalt trat voll in das Zimmer hinein. In der Nähe der Tür lag ein Brechei sen. Ich bückte mich, wünschte mir eine Tarnkappe, um mich unsichtbar zu machen, und fand das Eisen. Meine Finger verkrampften sich um das kalte, rostige Metall. Der Eindringling war nur zwei Yards von mir entfernt. Ich reckte mich und holte aus. Er kam noch einen Schritt näher. Ich sprang vor und schlug das Eisen mit voller Wucht auf seinen Hinterkopf. Sein Hut fiel herunter. Dann begann er zu taumeln, schwankte und fiel mit ei nem dumpfen Geräusch auf den Fußboden. »Brion«, schrie Olivia. »Alles in Ordnung.« Ich warf das Eisen beiseite und umfaßte sie im Dunkeln. »Du mußt das verstehen, Olivia. Hier steht mehr auf dem Spiel als nur deine Träume. Ich habe eine Aufgabe. Du hast dein Leben. Lebe es und vergiß mich. Ich muß versuchen, meine Welt zu retten.« »Laß mich mit dir gehen, Brion«, weinte sie. 131
»Du weißt, daß das nicht geht. Es ist zu gefährlich. Und du halbierst meine Chancen, durchzukommen und die Null-Null-Linie zu finden, ehe mein Sauerstoffvorrat erschöpft ist. Ich muß jetzt gehen.« Sachte schob ich sie von mir. »Beinahe … hoffe ich, daß es nicht funktioniert«, kam Olivias Stimme durch das Dunkel. Ich ging zum Schiff, zündete eine Karbidlampe an, griff hinein und schaltete den Vorwärmschalter ein. Aus dem Schatten hörte ich die Kreatur stöhnen, die ich dort zusammengeschlagen hatte. »Du verschwindest jetzt besser auch, Olivia«, sagte ich. »Geh, so weit du kannst. Geh nach Louisianna und vergiß Mutter Goodwill.« Der Antrieb begann zu summen: den Gesang der miß handelten Moleküle, als sich das Feld aufbaute, das den Raum verkrümmte, das die Zeit verschob und das eine eigene kleine Blase unglaublicher Spannung inmitten des massiven Materials der Realität erschuf. »Auf Wiedersehen, Olivia …« Ich kletterte in den zer brechlichen Kasten und blickte auf die roh gebastelte Armaturentafel. Der Feldstärkemesser sagte mir, daß es Zeit war. Ich packte den Antriebshebel und stieß ihn auf volle Kraft. X Einen Augenblick hatte ich das Gefühl, als ob sich alles um mich drehte. Lichtbogenströme sprühten von einem Stromkreis zum anderen. Dann verschwanden die Wände der Werkstatt, und ich hatte nur noch die nackte Zerstö rung des Blight vor Augen. In diesem Schiff brauchte ich keine Bildschirme. Die fußbreiten Spalten zwischen den 132
Brettern ermöglichten mir eine Rundum-Sicht, wie ich sie mir besser nicht wünschen konnte. Ich sah allerdings zunächst unter dem milden Schein des Mondes nichts als eine Steinwüste. Während ich sie beobachtete, veränderte dieser Anblick sich in schwarzverbrannte Ruinenfelder, ging über in einen lavaähnlichen Schmelzfluß aus nun wieder erstarrten Stahl- und Betonmassen. Vorsichtig entspannte ich meine zusammengebissenen Kiefer und holte tief Atem. Alles schien in Ordnung. Ich ritt in einem Eierkorb durch die Hölle, aber das Feld hielt stand, aufgebaut nach mathematischen Berechnungen, die ich außerhalb meines hölzernen Käfigs in einige hun dert von Nagel zu Nagel gespannte Drahtschlingen um gesetzt hatte. Die fest im Bretterboden verankerte massi ve Moebius-Spule vibrierte nervös. Trotzdem versuchte ich mich zu entspannen. Ich hatte noch eine lange Reise vor mir. Mein halbes Dutzend hausgemachte Instrumente zeig ten brav Meßwerte an. Ich betrachtete die zitternden Na deln und versuchte mich zu erinnern, was die Daten zu bedeuten hätten. Die einzige Karte, die ich besaß, war eine nach der Erinnerung an das Xonijeel-Fotogramm gezeichnete Skizze. Wenn ich auf der vierten bewohnba ren Insel im Blight gewesen war – und ich hatte längst beschlossen, dies nicht länger zu bezweifeln – dann reiste ich jetzt in diese Richtung. Die Navigation im Netz konnte man mit einigen Wer ten bewältigen. Zu messen waren die Stärke von drei Feldern, die man aus der unendlichen Anzahl der vor handenen Felder willkürlich herausgriff. Sie alle waren Teil der multiordinalen Kontinua. Brachte man drei die ser Werte zueinander in Beziehung, konnte man den Standort eines Schiffes feststellen. Wenn man die fort 133
schreitende Veränderung dieser Beziehung verfolgte, konnte man Richtung und Geschwindigkeit der NetzReise berechnen. Natürlich gab es noch verschiedene Probleme. Ich mußte meine Instrumente kalibrieren, meine A-EntropieGeschwindigkeit abschätzen, meine grob zurechtgeba stelten Kontrollinstrumente daraufhin testen, ob und wie ich mit ihnen ein Ziel anvisieren und ansteuern könnte. Alles das mußte ich schaffen, ehe der Sauerstoffvorrat in meinem selbstgebauten Käfig zu knapp wurde. Keine Sorgen brauchte ich mir um Proviant, Wasser und einen Platz zum Schlafen machen. Ehe ich mit solchen Sorgen konfrontiert würde, lag ich längst erstickt auf dem Bret terboden meines Schiffes. Mein erster Meßversuch ergab, daß ich mich auf einem Vektor fortbewegte, der gut und gern 150 Grad von dem beabsichtigten abwich. Ich justierte vorsichtig einen mei ner Rheostaten, zuckte zurück, als die Funken sprühten und beobachtete dann die Nadeln der Meßgeräte, um das Ergebnis abzulesen. Es war nicht überwältigend. Entweder interpretierte ich die Ergebnisse falsch oder meine Kontrollinstrumente waren doch sehr schlechter, als ich gehofft hatte. Ich zeichnete einige Diagramme, machte einige Interpolatio nen und kam zu dem Ergebnis, daß ich etwa dreimal so schnell wie vorausberechnet durch das Netz raste. Und der Kurs, auf dem dies geschah, änderte sich zusehends. Meine hastig zusammengebastelte und ohne ausreichen de Tests in Betrieb gesetzte Maschine war schon ganz erheblich aus dem Gleichgewicht. Zum Glück nicht weit genug, um die parallelen Entropie-Kräfte zu einem Sturzbach von verwüstender Kraft zusammenfließen zu 134
lassen, aber auch wieder zu weit, als daß ich den Schaden ausgleichen konnte. Ich versuchte eine weitere Justierung aufs Geratewohl. Die Nadeln tanzten. Eine sank zwar auf ihrer Skala hin unter, die beiden anderen aber blieben steil oben stehen. Ich machte eine übermenschliche Anstrengung mich an alles zu erinnern, was ich je über Netz-Navigation gehört hatte und kam zu dem Ergebnis, daß ich einen vollen Kreis geschlagen haben mußte und nun in genau die ent gegengesetzte Richtung raste. Ich stieß den Hebel, der als Steuer diente, so weit es ging nach links und beobachtete, wie die Instrumente reagierten. Es war nicht genug. Wieder vergingen zehn Minuten. Meine Uhr tickte ü berlaut hinein in meinen zeitlosen Kopfüber-Salto durch die alternierenden Realitäten. Noch einmal las ich die Meßgeräte ab. Kein Zweifel. Ich bewegte mich auf einem beinahe spiralförmigen Kurs durch das Netz – ob in auf- oder absteigender Linie, konnte ich nicht feststellen. Verschiedene Stromkreise spieen jetzt am laufenden Band Funken. Sie waren durch die unnatürlich starken entropischen Ladungen völlig überlastet. Ein Widerstand glühte bereits rot. Das Holz unter ihm verkohlte zusehends und rauchte schon leicht. Plötzlich züngelten kleine Flämmchen. Ich zog meine Jacke aus und erstickte sie damit. Ein Draht schmolz ü berhitzt, fiel herab und spie Funken, als er andere blanke Drähte berührte. Die Szene draußen war völlig anders als alles, was ich je auf Forschungsfilmen aus dem Blight gesehen hatte. Eine lange Reihe steiler, schwarzer konischer Vulkane erstreckte sich bis zum Horizont. Sie alle glühten tiefrot oberhalb der Kraterränder, über die flüssige Lava in nicht endenwollendem Strom zähflüssig abwärts floß. Blasen 135
platzten, verpufften fette, braune Qualmwolken, die ge legentlich den Mond verdeckten. Es schien, als ob hier eine neue Bruchlinie in der dünnen Kruste des Planeten entstanden war, aus der Vulkane wie die Keime aus ei nem frischgesäten Feld nach dem Regen sprossen. Mit einem Gefühl das Heimwehs dachte ich an Olivia. Ich war verloren. Das war sonnenklar. Auch der Sauer stoff im Schiff wurde knapp. Ich streckte mich auf dem Boden aus, wo noch mehr Sauerstoff zu sein schien, hu stete aber bei jedem Atemzug. Mein Kopf summte wie ein ausgedienter Transformator. Der Qualm wurde etwas dünner und gab für einen Augenblick die Sicht frei. War das nicht Grün? Ich rieb mir die Augen und starrte un gläubig durch die Wand. Die Hügel, die ich jetzt im Mondlicht sah, waren anscheinend von Pflanzen bedeckt. Die nahen feuerspeienden Berge hatten sich weitgehend beruhigt. Immer mehr Grün zeigte sich jetzt. Es wuchs bereits über die Kraterränder hinaus, hüllte sie ein. Wie in einem Film im Zeitraffertempo begann der Planet sich mit Bäumen und Sträuchern, mit Wäldern und Seen zu bedecken. Es schien, als ob ich auf meiner verrückten Spiralfahrt wieder an den Rand des Blight geraten war. Ein Dschungel breitete sich um mich her aus. Orchideen, dicker als Suppenteller, platzten wie Popcorn und fielen zu Boden. Andere folgten ihnen, nun schon so groß wie Waschkessel. Im hellen Mondschein sah ich eine neue Bewegung. Eine Motte erschien, wuchs, bis sie zwei Fuß groß war, flog auf eine noch größere Blüte, die sich plötzlich über ihr zusammenschloß, um die Beute zu ver zehren. Ich hustete, würgte, kam auf die Füße, tastete nach dem Antriebshebel, griff daneben, stürzte, schlug mit dem Kopf auf, wurde dadurch etwas klarer, erhob mich 136
erneut, schnappte nach Luft und bekam doch nur den Qualm des jetzt schon an mehreren Stellen brennenden Schiffs in die Lungen. Es galt: jetzt oder nie. Diese Welt da draußen war zwar alles andere als einladend, aber immer noch besser, als hier drin jämmerlich zu ersticken. Wieder auf Händen und Füßen, hielt ich mich an ei nem Brett fest, stand endlich, griff nach dem Schalthebel, fand ihn in dem erstickenden Qualm, zerrte daran … Alles um mich herum begann sich zu drehen und zu wirbeln. Ein Schlag erschütterte das Schiff. Ein zweiter Schlag warf mich gegen die zerschmetterte Bretterwand. Durch sie hindurch wurde ich in einen Haufen faulender Blätter und in die frische Luft geschleudert … Ich hustete mir fast die Lunge aus dem Hals, kämpfte mich aus einem Gewirr von Ranken frei und erwartete jeden Augenblick, daß sie nach mir greifen und mich in irgendwelche fleischfressenden Blüten hineinziehen würde. Nichts dergleichen geschah. In der Dunkelheit erkannte ich die Umrisse meiner Ki ste, aus der jetzt die hellen Flammen schlugen. Sie war gegen einen gigantischen Baumstamm geknallt und halb zerbrochen. Ich riß mir die Jacke vom Leib, stürzte mich in das Gewirr von Brettern und Drähten und versuchte die Flammen auszuschlagen, die im Harz der zerbroche nen Zweige reiche Nahrung fanden. Dann wollte ich we nigstens die Moebius-Spule retten, griff danach, völlig sinnlos, weil ich sie doch nicht hätte aus ihrer Veranke rung reißen können, und verbrannte mir nur die Finger an dem erhitzten Metall. Tränen der Erschöpfung und Ent täuschung liefen mir über die versengten und rußge schwärzten Backen. Ich war gescheitert, endgültig ge strandet. In dieser urzeitlichen, jungfräulichen Welt gab 137
es keine Möglichkeit des Entkommens. Es begann zu regnen. Doch es war zu spät, um noch irgend etwas von meinem Schiff zu retten. Immerhin löschte der Wolken bruch einen beginnenden Waldbrand. Ich suchte Schutz unter einem breitblättrigen Busch, lauschte eine Weile dem Trommeln des Regens und fiel dann in einen tiefen Erschöpfungsschlaf. Als der Morgen dämmerte, weckte mich kaltes, von Milliarden Blättern herabtropfendes Wasser. Ich kroch aus meinem Versteck heraus, untersuchte meine Schrammen und Brandwunden und fand sie alle halb so schlimm. Nur meine Kehle war von dem eingeatmeten Rauch rauh wie ein Reibeisen. Gierig legte ich mich ne ben eine Pfütze und schlürfte das klare, kalte Naß. Dann ging ich zu den Überresten meines Schiffs und holte aus dem Gewirr verkohlter oder zersplitterter Bret ter den schwärzlichen Klumpen heraus, der einmal die kostbare Moebius-Spule gewesen war. Eine letzte schwache Hoffnung flackerte auf und erstarb. Diesmal saß ich fest. Hier würde mir auch kein freundliches Mu seum aus der Patsche helfen. Zunächst brauchte ich eine Waffe. Pfeil und Bogen wären zwar gut, aber dafür mußte ich passendes Holz und ein getötetes Tier für die Sehne haben. Ein Stock oder eine Keule würden für den Anfang reichen. Der Boden fiel sanft ab – nach Osten schätzte ich. Mein durch jahrelange Übungen geschärftes Orientie rungsvermögen sagte mir, daß ich in dieser Richtung ei nen Bach oder Fluß finden würde. Ich entdeckte ihn schon nach einem halbstündigen Marsch und folgte ihm ein paar hundert Yards abwärts, bis ich an ein auf hohem Ufer liegendes, grasbedecktes Plateau stieß. Dies konnte ein hervorragender trockener Lagerplatz werden. Er lag 138
überdies strategisch günstig, weil er von drei Seiten durch den Fluß eingeschlossen war. Ich zog Schuhe, Strümpfe, Hosen und Hemd aus und stieg ins seichte Wasser. Hier entdeckte ich im ausge spülten Ufer unter meinem Platz eine zähe, lehmige Ton erde. Hatte ich erst einmal Feuer, würden sich daraus brauchbare Gefäße formen lassen. Als die Sonne beinahe unterging, hatte ich zu allem Überfluß ein recht passables Stück Feuerstein losge schlagen, mit dem ich zwei zwölf Fuß lange Stämmchen abgehackt und angespitzt hatte. Mit diesen beiden Spee ren fühlte ich mich schon etwas sicherer. Außerdem hatte ich ein paar Hände voll Beeren gepflückt und ohne Be schwerden gegessen. Der Versuch, mit einem Bogen, einem Streifen Stoff aus meinem Hemd und einem Stück Hartholz Feuer zu reiben, mißlang vor dem Schlafenge hen. Ich rollte mich in einer Blätterhütte zusammen – und fuhr kurze Zeit später aus dem Halbschlaf hoch. Ein Schrei, wie der eines wütenden Elefanten, gellte durch den Wald. Ich fuhr herum und griff nach einer Flinte, die ich gar nicht hatte. Dann hörte ich einen schweren Körper durch das Unterholz brechen, kurz drauf ein ärgerliches Knurren und Fauchen, wie es nur ein hungriger, mit Klauen und Zähnen bewaffneter Fleischfresser von sich geben kann. Im nächsten Augen blick kletterte ich auf einen in der Nähe stehenden Baum und klammerte mich in einer hochgelegenen Astgabel fest. Die ganze Nacht über hörte ich leise Schritte unter meinem unbequemen, aber sicheren Nachtlager. Am nächsten Morgen fand ich die Spuren, nachdem ich halb vom Baum geklettert, halb heruntergefallen war. Sie waren so groß, daß ich sie nicht einmal mit ausge streckten Fingern bedecken konnte, ganz zu schweigen 139
von den Klauen, mit denen der nächtliche Besucher aus gerüstet war. Der Hunger trieb mich weiter stromabwärts. Nach ei nigen Meilen flatterte vor mir eine Art Waldhuhn auf. Es war etwa so groß wie ein Truthahn. Ich schlich vorsichtig weiter und fand sein Nest mit vier braungesprenkelten Eiern darin. Eins trank ich gleich an Ort und Stelle aus. Natürlich hätte es gut gewürzt besser geschmeckt. Aber ich freute mich über jeden Tropfen, den ich aus der zer brochenen Schale leckte. Die anderen drei verteilte ich auf meine Taschen. Eine weitere halbe Stunde Marsch brachte mich an den Rand einer weiten Savanne, auf der ich, vom Unter holz des Waldes aus verborgen beobachtend, Tierherden groß wie einst in Afrika entdeckte. Da war eine Art Bi sons, mindestens acht Fuß hoch, elefantenähnliche Tiere mit massiven Stoßzähnen und nackten, rosaroten Rüs seln, Pferde, die kurzhalsigen Giraffen glichen, und anti lopenähnliche Tiere, die mit Riesensprüngen durch die Gegend rasten. Da war Fleisch genug für mich. Ich brauchte nur mit meinen Speeren hineinzustechen. Hinter mir hörte ich ein Geräusch und fuhr herum. Ein braunes Kaninchen, von der Größe einer Ziege, saß da auf den Hinterbeinen, glotzte mich neugierig an und zeigte seine langen gelben Rattenzähne. Ich hob den Speer, bog den Oberkörper zurück, warf ihn und sah, wie er das Tier mitten im Sprung erwischte. Ich lief auf mein zappelndes Opfer zu, schwang den zweiten Speer wie eine Farmers frau einen Stock, mit dem sie Schlangen tötet, und gab ihm mit einem Schlag auf den Kopf den Rest. Heftig atmend nahm ich den blutigen Kadaver auf und sah mich nach einem ungestörten Platz um, wo ich end lich essen konnte. Da bewegte sich etwas Schwarzes an 140
meinem Arm entlang. Ein Floh. Ich ließ das Kaninchen fallen, fing den Parasiten und knackte ihn mit tiefer Be friedigung. Doch wo der eine herkam, waren sehr viel mehr, wie ich jetzt auf der nur dünn behaarten Haut der fußlangen Kaninchen-Ohren entdeckte. Mein Appetit auf rohes Kaninchenfleisch – oder Riesenratte – war schon vergangen. Ebenso plötzlich wie der hohe Adrenalinpegel, der mich während der vergangenen sechsunddreißig Stunden in Schwung gehalten hatte, in diesem Augenblick erheb lich abfiel, verwandelte ich mich jetzt in ein hungriges, krank und müde geprügeltes Häufchen Elend, das sich allein in einer menschenleeren, feindseligen Umwelt ausgesetzt sieht – unvorstellbar weit von zu Hause und den dort wartenden leckeren Fleischtöpfen entfernt. Seit ich Stockholm verlassen hatte, war ich von einem Fiasko ins nächste getaumelt und hatte mich immer wieder in Kleinigkeiten verbissen, weil ich der Realität nicht ins Auge sehen wollte. Nun packte mich die eiskalte Angst, daß ich hier in Einsamkeit und Elend, in Schmerz und Hunger enden würde – ehe noch viele Stunden vergingen. Ich lag unter einem Baum, starrte in den Himmel, ruh te aus – wie ich mir selbst vormachte – und wartete in Wirklichkeit auf die Riesenkatze der vergangenen Nacht. Chancen hatte ich wahrhaftig genug gehabt – mehr als eine. Und ich hatte sie alle verpfuscht. Ich war mit dem Hagroon-Schiff entkommen, um mich dann von ihnen hilf- und wehrlos in ihren Kaninchenbau verschleppen zu lassen, weil ich dachte, ich könnte von diesen GorillaMenschen etwas über das Schicksal meiner Welt-Linie erfahren. Nach einem einmaligen Zusammentreffen von Dämlichkeit meiner Wärter und persönlichem Dusel hat te ich eine neue Chance erhalten und dazu auch noch ein 141
neues Schiff. Wieder hatte ich die Lage falsch einge schätzt und mich von Dzok einwickeln lassen. Das Er gebnis war lebenslängliche Verbannung. Beim drittenmal schließlich war ich in Panik geraten, war einem betäubt am Boden liegenden Gegner davongerannt wie ein furchtsamer kleiner Junge, ohne die lebensnotwendigen Tests an dem neuen, selbstgebauten Schiff vorzunehmen. Jedesmal hatte ich nach der scheinbar einzigen, sich bietenden Gelegenheit geschnappt, ohne lange zu überle gen; jedesmal war ich nur noch tiefer ‘reingerasselt und hatte mich immer weiter von meinem Ziel- und Aus gangspunkt entfernt. Weiter nicht nach den Maßstäben der Netz-Reise, aber unendlich weit von jeder berechtig ten Hoffnung auf Rettung – Rettung für mich persönlich, ganz zu schweigen von der dringend notwendigen War nung für die Regierung des Imperiums … Müde und zerschlagen stand ich auf und machte mich auf den Weg zurück, dorthin, wo ich die Überreste meines gestrandeten und verbrannten Schiffes zurückgelassen hatte, halb und halb in der vagen Hoffnung, unter Trüm mern und Asche vielleicht doch noch irgend etwas zu finden, was mir in meiner ausweglosen Lage weiterhel fen könnte. Es war der blinde Instinkt, der mich jetzt an trieb, die unbewußte Überzeugung, es sei immer noch besser, mich durch ziellose Aktivität vor den Konsequen zen meines Desasters zu drücken, als länger darüber nachzudenken. Unterwegs begann ich schon wieder neue Pläne zu schmieden. Vielleicht gelang es mir, aus den geschmol zenen Metallteilen der Moebius-Spule Pfeil- und Speer spitzen zu schmieden. Vielleicht brachte ich sogar ein Stahl- und Feuerstein-Feuerzeug zustande … 142
Doch dieser Impuls starb schnell wieder ab. Mein Ma gen schmerzte unerträglich. Ich war todmüde. Ich wollte nur noch nach Hause, in ein schönes heißes Bad, und mich dann in einem frischgemachten Bett an einen war men, zarten, weichen, herb parfümierten Körper schmie gen, mir von einer kühlen Hand meine fieberheiße Stirn streicheln lassen und hören, was für ein Teufelskerl ich doch eigentlich sei … Auf dem schwarz verbrannten Boden rings um das Schiffswrack entdeckte ich eine Reihe von frischen Spu ren: tiefe Hufabdrücke, weniger tief eingedrückte Raub tierpranken und … Ich fiel auf die Knie, beugte mich fast bis zur Erde, kniff die Augen zusammen, tastete die Ränder mit den Fingerspitzen ab, um sicher zu sein, daß mir meine fieb rige Phantasie keinen Streich spielte – das waren Fuß abdrücke, von einem Menschen oder einem zumindest menschenähnlichen Wesen. Ich wußte, was Robinson Crusoe in einem ähnlichen Augenblick gefühlt hatte. Das Bewußtsein von der Nähe eines Artgenossen ließ es auch mir bei aller Hoffnung zugleich eiskalt den Rücken her unterlaufen. Mit drei Sprüngen verschwand ich im schüt zenden Walddickicht am Rande der Lichtung, die der Brand meines Schiffes geschlagen hatte. Dort preßte ich mich fest auf den Boden und tastete mit argwöhnischen Blicken jeden Busch und jeden Baumstamm in der Um gebung ab. Ich versuchte mir klarzumachen, daß sich hier eine neue Chance für mich auftat, die erste reale Hoff nung seit meiner Strandung in diesem Dschungel. Doch ein Instinkt, älter als alle Theorien von Nächstenliebe und Artverwandtschaft, sagte mir, daß ich hier auf das gefährlichste Raubtier der Entwicklungsgeschichte ge stoßen war. Die Tatsache, daß wir von der gleichen Art 143
waren, konnte durchaus bedeuten, daß wir sehr bald auf Leben und Tod um die Herrschaft über dieses Jagdrevier kämpfen würden. Mein Speer war für einen solchen Kampf denkbar un geeignet. Außerdem hatte ich damit bisher kaum üben können. Ich griff in die Tasche, suchte einen der Steine, die ich am Flußufer aufgelesen hatte und griff statt des sen in die klebrige Soße eines zerquetschten Vogeleis. Einen Augenblick lang erschien mir die Situation so ko misch, daß ich beinahe lauthals losgelacht hätte. Doch dann hörte ich ganz in der Nähe ein Geräusch, zuckte zusammen und drückte mich noch tiefer ins Unterholz. Ich versuchte einen klaren Gedanken zu fassen: Wenn es ein Mensch war, dessen Spur ich hier entdeckt hatte, dann mußte ich mit ihm Kontakt aufnehmen, allerdings so, daß diese Begegnung für mich ohne jedes Risiko ver lief. Ich mußte ihm eine Falle stellen, ihn in meine Ge walt bringen. Dann würden wir weitersehen. Wieder hörte ich das Geräusch. Dann sah ich ein hirschähnliches Tier durch das Unterholz brechen und sorglos über die kahlgebrannte Lichtung ziehen. Ich at mete auf. Das Verhalten des Tieres bewies, daß mein Gegner – anders konnte ich ihn im Augenblick nicht se hen – diesen Platz längst verlassen hatte. Aber er konnte zurückkommen. Er mußte zurückkommen. Wenn er ein Mensch war, mußte ihn die Neugier zu den Überresten meines Schiffes zurücktreiben, dessen menschliche Her kunft unverkennbar war. Für diesen Fall mußte ich mich vorbereiten. Ich sah mir seine Spuren noch einmal genau an. Es waren keine Abdrücke von nackten Fußsohlen. Er mußte eine Art flache Sandalen tragen. Sie umkreisten einige Male das Wrack und verloren sich dann – genau auf mei 144
ner ersten Spur – im Dunkel des Dschungels. Hier auf diesem von uns beiden getretenen Pfad würde er zurück kommen. Hier mußte ich ihn erwischen … Zwei Stunden arbeitete ich jetzt schon an einer Falle. Sie war nicht besonders raffiniert, und wenn mein Kontra hent ein echter Waldmensch war, dürfte er eigentlich nie darauf hereinfallen. Trotzdem grub ich verbissen weiter. Letzten Endes wirkte die Arbeit wenigstens als Beschäftigungstherapie beruhigend auf meine zum Zerreißen gespannten Nerven. Passives Abwarten hätte ich in diesem Zustand nicht lan ge ausgehalten. Das Graben mit einem flachen Stein als einzigem Werkzeug verlieh mir das Gefühl, selbst die Initiative zu behalten. Als mir das Loch tief genug zu sein schien, tarnte ich es mit dünnen Zweigen und Blättern, streute vorsichtig den ausgehobenen, weichen und feuchten Waldboden darüber und verbarg dann den Rest des Aushubs sorgsam unter einem nahegelegenen dichten Busch. Die Fallgrube war nicht tiefer als vier Fuß. Aber für meine Zwecke mußte sie reichen. Ich wollte den anderen nur hineinstol pern lassen, seine Aufmerksamkeit dadurch für einen Au genblick ablenken und über ihn herfallen, damit wir – oh ne Risiko für mich – Verhandlungen aufnehmen konnten. Inzwischen war ich so hungrig geworden, daß ich die klebrigen Überreste der zerbrochenen Eier aus meinen Taschen herauskratzte und hinunterwürgte. Dann suchte ich mir ein Versteck, aus dem ich im richtigen Augen blick mit einem einzigen Sprung an den Rand der Grube gelangen konnte. Ich begann zu warten. 145
Ich schreckte aus einem unruhigen Halbschlaf hoch. Die Sonne war bereits untergegangen. Die Baumwipfel zeichneten sich als schwarze Silhouetten gegen einen goldroten Himmel ab. Das Zirpen der Grillen und das durchdringende »Ziep, Ziep« eines Waldvogels waren die einzigen Laute in der abendlichen Stille … Und dann hörte ich das Krachen im Unterholz, das Brechen dürrer Zweige, das heftige Atmen eines Mannes wie nach einem anstrengenden Gewaltmarsch. Er kam. Er war da und gab sich überhaupt keine Mühe, sein Kommen zu verbergen. Er war seiner Sache offenbar ziemlich sicher, dieser Eingeborene. Das konnte nur be deuten, daß er sich hier unangefochten als stärkstes aller übrigen Raubtiere fühlte. Und ausgerechnet ein solches Wesen wollte ich mit meiner primitiven Grube hereinle gen … Ich hielt den Atem an, erkannte die Umrisse einer hochgewachsenen Gestalt, die jetzt stehen blieb, sich umsah, mich offensichtlich suchte, näher kam, noch ei nen Schritt, eine in der Dunkelheit verschwimmende, dunkle Masse … Dann ein unterdrückter Schrei, ein Brechen und ein Aufprall. Ich sprang aus meinem Versteck, legte den Speer an und hielt die Spitze dem dunklen Torso, der da hüfttief in mein Loch eingebrochen war und strampelnd einen Halt suchte, genau vor die Brust. »Keine Bewegung«, brüllte ich ihn an. Der Mann er starrte zur Salzsäule. Undeutlich nahm ich seine hohen Schultern, die langen Arme und das dunkle, im Schatten einer weißen Kopfbedeckung liegende Gesicht wahr … »Ich hab’s doch gewußt, Bayard«, sagte Dzoks Stim me. »Du hast mich ganz schön ‘reingelegt …« 146
XI
»Es war gar nicht so einfach, alter Junge«, grinste Dzok und bot mir eine zweite Tasse Kaffee an, die er auf einem kleinen Feuer gekocht hatte. »Ich kann dir versichern, daß meine Position vor dem Rat verdammt schwierig war, weil ich dich nach Xonijeel gebracht hatte. Na, trotz alledem – nach dem Motto: Angriff ist die beste Vertei digung, habe ich mir, nachdem du erst mal aus dem Ver kehr gezogen warst, den alten Stänkerer Spogheel vorge knöpft und ihm eine ganze Reihe von Kompetenzüber schreitungen nachgewiesen.« »Ich komm’ da trotzdem nicht mit, Dzok«, unterbrach ich ihn. »Du hast mich doch unter falschen Vorausset zungen nach Xonijeel mitgenommen, als du mir eure Hil fe gegen die Hagroons versprochen hattest …« »Ich hab’ dir nicht mehr und nicht weniger verspro chen, als daß ich mein Bestes tun würde, dir zu helfen, Bayard. Unser Pech war, daß Spogheel ausgerechnet an dieser Ratssitzung teilnehmen mußte. Obwohl er als An gelsachsenfresser bekannt ist, hab’ ich im Traum nicht damit rechnen können, daß er es schafft, dich allein auf grund seiner dünnen Beweise in die Verbannung zu schi cken …« »Du hast mir doch meine Waffe aus der Hand ge schlagen«, widersprach ich ihm. »Das war dein Glück, mein Lieber. Wenn du einen von uns getötet hättest, hätte ich überhaupt nichts mehr für dich tun können. Du wärst auf der Stelle ausgelöscht worden. Und ich glaube nicht, daß ich etwas dagegen unternommen hätte. Du bist mir zu blutdürstig …« »Danach bist du mir also nach ›B-I vier‹ gefolgt«, ü berging ich dieses Thema. 147
»So schnell ich konnte. Ich habe es hingekriegt, daß ich zum Ausbilder einer Eingeborenen-Hilfstruppe er nannt wurde …« »Eingeborene?« »Klar … Angelsachsen, die wir als Junge … äh … als Babys gefangen haben. Schlaue kleine Kerlchen, diese angelsächsischen Jungen. Ich bin begeistert von ihnen. Sie lernen verdammt schnell und sind im Grunde doch recht menschlich.« »Hör auf, Propagandareden zu halten … Wenn ich daran denke, daß ihr menschliche Sklaven wie weißhäu tige Haustiere dressiert …« Dzok räusperte sich. »Du hast ja recht, alter Junge. Tut mir leid. Ich meinte bloß … Ach, scheiß drauf … wir sind einmal so, und das läßt sich auch nicht von heute auf mor gen ändern … Was ich sagen wollte: Ich gebe zu, wir ha ben dich schlecht behandelt. Aber überleg mal. Wenn ich denen von deinen starken antihypnotischen Schranken erzählt hätte – glaubst du, du wärst dann so schnell wieder du selbst geworden? Sie hätten ihre Indok-trinierung nur ein bißchen zu modifizieren brauchen, und du lägst heute noch im Krankenzimmer der netten Mrs. Rogers.« »Na schön. Also hab’ ich das dir zu verdanken. Und was weiter?« »Hör mal. Ich bin dir gefolgt, um Kontakt zu dir auf zunehmen und dir weiterzuhelfen …« »Warum dann aber so geheimnisvoll? Warum hast du nicht einfach an die Tür geklopft und bist hereingekom men?« Dzok kicherte. »Na weißt du, mein Lieber! Kannst du dir eigentlich gar nicht vorstellen, wie ich mit meinem Gesicht auf einen typischen angelsächsischen Dorfbe wohner wirken muß …« 148
Ich kratzte meinen zwei Tage alten Bart. »Also gut, du mußtest vorsichtig sein. Aber du konntest mich ja anru fen.« »Ich konnte mich auch in einer Dachkammer verbor gen halten und dann in der Dunkelheit herauskommen und dich suchen. Und genau das habe ich getan«, sagte Dzok. »Ich wollte dich gerade in Mrs. Rogers Haus be suchen, als du dort verschwunden warst. Und bis ich dich in der Hütte von dieser jungen Frau aufgestöbert hatte, warst du dort auch schon wieder weg.« »Wir haben dich dort herumschnüffeln sehen und dachten, daß die Geheimpolizei von Xonijeel hinter mir her wäre …« »Bis ich endlich heraushatte, daß du nach Rom gegan gen warst, habe ich ziemlich lange gebraucht. Außerdem mußte ich, um dir dorthin zu folgen, erst mal wieder nach Xonijeel zurück, von dort nach Rom reisen und mich dann erneut per Schiff auf eure sogenannte ›B-I-vier‹ Linie begeben. Offiziell fuhr ich natürlich Rekruten an werben. Dabei konnte ich dich dann mit Hilfe einiger Vertrauensleute schnell ausfindig machen …« »Auch wieder Eingeborene?« – »Natürlich …« »Schließlich hatte ich eure Wohnung und Werkstatt entdeckt. Als ich dort ankam … du weißt ja, was dann passierte.« Er betastete vorsichtig eine Beule an seinem runden Schädel. »Zum Glück hatte ich einen einigerma ßen stabilen Hut auf.« »Wenn du doch bloß ein Wort gesagt hättest.« »Als ich den Mund aufmachte, hast du zugeschlagen.« »Na schön. Das tut mir leid. Mehr als du glaubst. Du weißt nämlich nicht, was ich seither durchgemacht habe. Aber zum Teufel, sag bloß, wie du mich hier entdeckt hast …« 149
Dzok grinste und zeigte seine kräftigen weißen Zähne. »Dein Apparat, mein Lieber. Völlig unzulänglich. Er hin terließ eine Spur im Netz, der man per Fahrrad hätte fol gen können.« »Warum bist du nun wirklich hinter mir her? Und was ist mit den Rekruten, die du auf »B-I vier« sammeln soll test?« »Um mit dieser Frage zu beginnen: Ich habe zwanzig prächtige Burschen angeworben, die Sprachen und Ge bräuche der angelsächsischen Linien beherrschen und in unserem Elitekorps eine glänzende Karriere vor sich ha ben. Sie warten in unserem römischen Depot auf »B-I vier« auf mich. Und was dich betrifft. Ich habe mir Spogheels Fotogramm noch einmal genau angesehen. Es beweist, daß es an der Stelle, wo du herkommst, keine ALinie gibt.« »Also hältst du mich auch für verrückt?« Er schüttelte ernst den Kopf. »So einfach ist das nicht …« »Was soll das heißen?« Mein Herz schlug schneller. Ich erwartete weitere schlimme Neuigkeiten. »Ich hab’ mir mal ein paar ältere Aufzeichnungen an gesehen. Danach gab es zu der Zeit, als du deine HeimatLinie mit dem Hagroon-Schiff verlassen hast, die NullNull-Linie doch. Genau dort, wo du es angegeben hast. Weniger als zwölf Stunden später war sie weg, ver schwunden …« Ich starrte ihn sprachlos an. »Das kann nur eins bedeuten … Es tut mir leid, daß ausgerechnet ich dir das sagen muß – aber es scheint, als ob da irgend jemand unautorisiert von der Erfindung der Diskontinuitäts-Maschine Gebrauch gemacht hätte.« »Weiter«, drängte ich ihn. 150
»Unsere Wissenschaftler haben diesen Apparat vor mehr als hundert Jahren erfunden. Er wurde in einem Krieg mit einer rebellierenden Provinz eingesetzt …« Ich sah ihn an, sprach aber kein Wort. »Ich habe keine Lust, diese Aktion einer früheren Ge neration zu entschuldigen, Bayard«, sagte Dzok steif. »Es genügt wohl, wenn ich dir versichere, daß die Erfindung vom höchsten Rat der Zentralregierung ein für allemal verdammt und aus dem Verkehr gezogen wurde. Sie soll te niemals wieder verwendet werden. Durch uns. Es scheint aber, als hätten die Hagroons uns dieses Geheim nis gestohlen …« »Was bewirkt die Diskontinuitäts-Maschine?« fragte ich. »Wie kann sie eine ganze A-Linie unsichtbar ma chen?« »Diese Erfindung«, sagte Dzok unbehaglich, »löst die entropische Energie der A-Linie, auf die sie angesetzt wird, schlagartig auf. Es entsteht eine Art Energie-Sturm. Für deine Null-Null-Linie bedeutet das: Sie ist nicht nur unsichtbar geworden, sie ist verschwunden, mein Freund, aus ihrer Existenz herausgeblasen. Sie existiert nicht mehr …« Ich konnte nicht länger sitzen bleiben, stand auf und ging mit einem Gefühl absoluter Schwerelosigkeit auf und ab. Dzok berichtete weiter; aber ich verstand nicht mehr, was er sagte. Ich stellte mir das Bild der Hagroons vor, wie sie ihre Drähte zogen, Maschinen aufstellten, fachmännisch und bedächtig in unserem Netz-Bahnhof die Vernichtung einer ganzen Welt vorbereiteten … »Warum?« brach es endlich aus mir heraus. »Warum haben sie das getan? Wir waren nicht ihre Feinde. Wir kannten sie überhaupt nicht …« »Sie haben eure Fähigkeit entdeckt, durch das Netz zu 151
reisen. Damit wart ihr für sie eine potentielle Bedrohung, die durch einen Präventivschlag ausgelöscht werden mußte.« »Warte mal, Freundchen. Du hast doch selbst gesagt, daß ihr diese Waffe erfunden habt. Willst du mir wirklich weismachen, daß die Hagroons sie euch unter den Augen weggeklaut haben, so mit Masken und falschen Bärten. War es nicht vielleicht eher so, daß ihr euch mit ihnen zusammengetan habt, um die Art Homo sapiens gemein sam auszuschalten?« »Wenn es so wäre«, sagte Dzok ruhig. »Weshalb bin ich dann hier?« »Ja, weshalb bist du eigentlich hier?« gab ich die Fra ge zurück. »Ich will dir helfen, Bayard. Wie versprochen. Tun, was ich kann.« »Was kannst du schon groß tun, als mir eine Fahrkarte in eine neue Sackgasse zu schenken, in der ich dann in einem Häuschen mit Gärtchen bis an mein seliges Ende Kohl pflanzen kann …« Ich rückte näher an Dzok heran, von dem einzigen Gedanken beherrscht, ob seine Kehle sich wohl so leicht zudrücken ließ, wie es aussah … Dzok blieb unbeweglich sitzen. »Benimm dich doch nicht wie ein kompletter Idiot, Bayard. Auch wenn deine Rasse dir diese unglückselige Veranlagung vererbt hat, blindlings um dich zu schlagen, wenn du nicht mehr wei ter weißt … Abgesehen davon: ich bin stärker als du.« Er griff in seine weiße Jacke und warf mir etwas vor die Füße. Es war meine Bolzenschleuder. Ich hob sie auf. »Wenn du also wirklich nur ein mörderischer Irrer bist, dann mach’s kurz! Kümmere dich nicht um das, was ich dir zu sagen habe.« 152
Ich sah ihn lange an und steckte dann die Waffe weg. »Also los«, sagte ich. »Ich höre.« »Ich habe lange darüber nachgedacht, Bayard«, sagte Dzok ruhig. Er goß sich eine neue Tasse Kaffee ein, schnupperte daran und balancierte sie vorsichtig auf den Knien. »Und mir ist dabei sogar was eingefallen.« Ich schwieg. Es war still um uns herum. Sogar die Nachtvögel schwiegen. Weit in der Ferne brüllte ein gro ßes, fremdes Tier. Ein Windhauch ging durch die Wipfel. Sie seufzten wie ein alter Mann, der sich an seine erste Jugendliebe erinnert. »Wir haben einige interessante Sachen in unserem Netz-Laboratorium entwickelt«, sagte Dzok. »Eine der jüngsten Erfindungen ist ein leichter Spezialanzug, in dessen Gewebe alles das eingebaut ist, was man für eine individuelle Netz-Reise braucht. Der Generator ist in ei nem handlichen Schultergepäck untergebracht und wiegt nur ein paar Unzen. Das Ganze beruht auf einer neuen Verwendungsmöglichkeit von Plasma-Mechanismen und sub-atomaren Kräften anstelle der bisher gebrauchten konventionell erzeugten elektromagnetischen Felder …« »Und? Was hat das mit mir zu tun?« »Es verleiht seinem Träger eine größere Bewegungs fähigkeit im Netz, und zwar ohne Schiff. Natürlich muß man den Anzug dem individuellen Entropie-Quotienten des Betreffenden anpassen. Aber das ist selbst wiederum ein Vorteil. Dadurch wird eine Art Auto-Steuerung er möglicht. Wenn das Feld aktiviert ist, trägt es seinen Mann automatisch in das Kontinuum, in das er hinein will. Das kann seine eigene A-Linie sein oder jede andre Linie im Netz. Er muß nur von ihrer Existenz wissen.« »Na wenn schon. Ihr habt also ein verbessertes Ein 153
Mann-Schiff gebaut.« »Ich habe eins hier. Für dich.« Dzok winkte zu seinem Xonijeel-Schiff, einem erheblich moderneren Instrument als alles, was wir im Imperium hatten. »Ich habe es im Gepäckraum ‘rausgeschmuggelt, nachdem ich es im La boratorium gestohlen hatte. Deinetwegen habe ich inzwi schen schon ein paar Mal gegen unsere Gesetze versto ßen.« »Und was soll ich mit dem Anzug? Fabeltiere fangen gehen? Du hast mir doch bereits gesagt, daß meine Welt verschwunden ist.« »Es gibt da noch eine weitere Erfindung, die dich in diesem Zusammenhang interessieren dürfte«, sagte Dzok unerschütterlich. »Bei unseren Experimenten mit dem von euch sogenannten M-C-Effekt haben wir etwas ent deckt, das unsere bisherigen Theorien von der Realität einigermaßen durcheinandergebracht hat. Bisher hatten wir angenommen, daß die simultane Realität überall und auf allen Linien im gleichen Tempo fortschreitet. Das Jetzt auf unserer Welt mußte einem Jetzt auf allen ande ren Welten entsprechen. Dies galt als unveränderliche Konstante, ähnlich unwiderruflich wie die Entropie selbst.« »Na und? Ist sie das etwa nicht?« »Eben nicht. Es hat vielmehr den Anschein, als wenn die Entropie umkehrbar wäre … und zwar ohne allzu große Mühe.« Er lächelte triumphierend. »Willst du damit sagen«, fragte ich ungläubig, »daß ihr die Zeitreise erfunden habt?« Dzok lachte. »Nein, nein. Jedenfalls nicht in diesem direkten Sinn, wie du das jetzt meinst. Es ist unmöglich, daß jemand sich auf seiner eigenen Zeitlinie entlangbe wegt. Aber, wenn einer seine eigene A-Linie verlassen 154
hat, und dabei die unzähligen anderen A-Linien kreuzt, dann kann er, wenn er die jetzt entdeckten subatomaren, hypermagnetischen Kräfte richtig für seine Zwecke an wendet, gewissermaßen eine Art Hypothek an Zeit an sammeln. Anders, als wenn man mit den konventionellen Kräften durch das Netz reist, kann man jetzt, mit dem neuen Antrieb, beim Durchqueren der Linien gewisser maßen einen zeitlichen Oberflächenstau erzeugen, dabei den Vektor schräg ansetzen und so bei der Rückkehr auf einer zeitlichen Ebene der eigenen Linie eintreffen, die proportional vom eigentlichen Zeitpunkt so weit nach rückwärts entfernt ist, wie die zurückgelegte Entfernung im Netz betragen hat.« »Das könnte etwas bedeuten«, sagte ich nachdenklich. »Aber was?« »Das bedeutet, daß du mit dem Anzug, den ich dir mitgebracht habe, auf deine Null-Null-Linie zurückkeh ren kannst, und zwar auf eine Zeitebene, die vor ihrem Verschwinden liegt.« Es war kurz vor Morgengrauen. Dzok und ich hatten die letzten Stunden über einer Navigationskarte aus seinem Schiff verbracht. Wir hatten höchst komplizierte Berech nungen anstellen müssen, in denen die Beziehungen zwi schen der normalen Entropie, der E-Entropie, der NetzVersetzung, dem entropischen Quotienten meines Kör pers und zahlreichen anderen Faktoren hergestellt werden mußten. »Du bist ein schwieriger Fall«, seufzte Dzok. Im Hin blick auf meine ursprüngliche Heimat ›B-I drei‹ könne er nur hoffen, daß ich deren entropische Faktoren überwun den und mich inzwischen ganz auf die Null-Null-Linie eingestellt hätte. 155
»Besser, wir probieren sämtliche Handgriffe an mei nem Anzug noch einmal durch«, bat ich ihn. »Sicher«, meinte Dzok. »Doch noch besser wäre es, wenn du sie gar nicht erst anwenden müßtest …« »Wie weit darf ich maximal von dem angenommenen Ziel abweichen? Wie groß ist die Toleranzbreite, die mir für Fehler zur Verfügung stehen?« »Sie ist geringer, als ich es mir wünschte. Nach mei nen Berechnungen wurde die Null-Null-Linie vor 63 Ta gen zerstört. Die maximale Zeitversetzung, die du be kommen kannst, sind 65 Tage. Du hast also nur 48 Stun den nach deiner Ankunft, um die Absichten der Ha groons zu vereiteln. Wird das reichen?« »Das laß meine Sorge sein.« »Ich habe mir was ausgedacht«, sagte Dzok. »Du hast sie in der Null-Zeit beobachtet. Nach deiner Beschreibung müssen sie dort einen Durchgang errichtet haben, der die Null-Zeit-Ebene mit ihrem korrespondierenden Aspekt in der normalen Zeitebene verbinden sollte. Das Tor brau chen sie, um auf eurer Linie die Diskontinuitäts-Maschine aufzubauen. Deine Aufgabe wäre es, deine Leute zu war nen, damit die ihnen an diesem Tor einen entsprechenden Empfang bereiten und sie zurücktreiben können.« »Das wird uns nicht schwerfallen«, sagte ich grimmig. »Schwieriger wird es schon sein, meinen Leuten klarzu machen, daß ich nicht verrückt bin.« »Nun also zu unserem S-Anzug.« Dzok öffnete eine Klappe in seinem Schiff und zog eine Art Taucheranzug aus einem mir unbekannten Plastikgewebe heraus. »Er ist ein bißchen lang in den Beinen. Aber das wer den wir gleich haben … Er arbeitete wie eine gelernte Schneiderin, schnitt und schweißte an dem weichen Pla stikmaterial herum und setzte noch ein Stück im Rücken 156
ein, wo er wegen meiner breiten Schultern spannte. »Unterbricht diese Schneiderei nicht die Stromkrei se?« fragte ich, als er an dem Stück zwischen Helm und Schultern herumfuhrwerkte. »Überhaupt nicht. Die inneren Strukturen werden erst aufgebaut, wenn ich die Hauptanschlüsse zusammenge führt habe.« Er setzte mir eine Art Taucherhelm auf, betätigte dann ein paar Knöpfe und Hebel in der Brustgegend des An zugs, kontrollierte die Meßgeräte auf einem kleinen Testpult seines Navigationsraumes, nickte und schaltete wieder ab. »Also, Bayard«, sagte er ernst. »Deine Schaltungen liegen hier …« Inzwischen war es heller Tag. Dzok und ich standen auf dem Uferrasen über dem Fluß. Er sah besorgt aus. »Hast du auch wirklich alles begriffen? Auch die Schaltung für die Bewegung durch den Raum?« »Klar«, nickte ich. »Die ist ja die einfachste. Einschal ten, und ab geht die Post.« »Du mußt nur alles sehr vorsichtig machen, weil du keine normalen Gravitationskräfte spüren wirst. Du kannst mit dem Antrieb durch die Gegend flitzen wie ein Vogel, wirst aber immer den physikalischen Trägheitsge setzen unterworfen bleiben. Wenn du also mit einem Baum oder einem Felsen zusammenstößt, wird das die gleichen bösen Auswirkungen haben, wie in einem nor malen entropischen Feld.« »Ich paß’ schon auf mich auf. Mach’s gut Dzok.« Ich hielt ihm die Hand hin. Er schüttelte sie grinsend. »Mach’s genauso gut, Bayard. Viel Glück und so wei ter. Ein Jammer, daß wir beide nicht länger zusammenar beiten konnten, um den Anfang für eine Allianz zwi 157
schen unseren beiden Regierungen herzustellen. Aber dafür ist es wahrscheinlich noch zu früh. Na, vielleicht gelingt das irgendwann einmal in der Zukunft.« – »Be stimmt. Und besten Dank für deine Hilfe.« Er trat zurück und winkte. Ich sah mich ein letztes Mal um und nahm den Anblick des jungen Morgens, des fri schen Grüns und Dzoks durchsichtigen Schiffs in mich auf, dann Dzok selbst, langbeinig, mit dreckbespritzten Schuhen und seinem weißen Anzug. Er hob eine Hand. Ich schaltete den Aktivator ein. Einen Augenblick spürte ich ein Schwindelgefühl, dann immensen Druck von al len Seiten. Dzok begann zu verschwimmen und löste sich auf. Die seltsame, abnormale Bewegung unbeweglicher Gegenstände – das Charakteristikum jeder Netz-Reise – begann. Ich drückte einen zweiten Knopf. Ein Sprung, und ich war zehn Fuß hoch in der Luft. Ich drehte den JetSchalter und wurde von einem Strom kalter Ionen vor wärtsgetrieben. Ich war auf dem Heimweg. XII Stunden vergingen. Ich prüfte den Chronometer und die Navigationsinstrumente an der Stulpe meines S-Anzugs. Räumlich war ich meinem Ziel schon ziemlich nahe – nach dem Positionsanzeiger über Südschweden. Trotz dem erinnerte hier nichts an die warmen und fruchtbaren, grünen Ebenen von Schonen, die ich erst vor drei Mona ten auf einem Ausflug mit Barbro besucht hatte. Ich flog über zerrissene Felsen, überquerte einen Mee resarm, der im normalen Kontinuum die Position von Nyköping markierte. Dann suchte ich mir einen geeigne ten Landeplatz. Allzunahe an der Hauptstadt wollte ich 158
auch nicht auftauchen. Die Leute würden sich zu sehr aufregen, wenn ich mitten auf einem belebten Platz in die Identität zurückplatzen würde. Deshalb hielt ich auf eine ländliche Gegend südlich von Stockholm zu. Dort schwebte ich dicht über dem Boden, nahezu auf der Stel le, bis ich die Null-Null-Linie erreichte … Plötzlich blendeten mich grelles Licht und leuchtende Farben. Ich warf den Hauptkontrollhebel herum und fiel zwei oder drei Fuß herunter auf einen Wiesenhang. Nach ein paar Sekunden hatte ich den Helm abgeschnallt und atmete tief die Kühle, frische Luft, die Luft der Welt, auf der ich jetzt 65 Tage zurück in der Vergangenheit wieder eingetroffen sein mußte. Auf der Landstraße hielt ich, mein zusammengerolltes Anzugbündel unter dem Arm, einen Pferdewagen an. Der Fahrer nahm mich freundlich auf. Er hielt mich für einen der verrückten Leute, die das Fallschirmspringen als Sport betreiben. Auf dem Weg zur Stadt versicherte er mir mindestens ein Dutzendmal, daß ihn keine zehn Pferde in so einen Fallschirmgurt ‘reinbringen könnten. Als wir dann aber in seinem Dorf ankamen, fragte er mich, ob ich ihm nicht auch mal einen Freiflug mit Sprung verschaffen könne. Ich versprach, beim nächsten Mal an ihn zu denken und machte, daß ich in das kleine Postamt kam. Dort entschuldigte ich mich bei einem schlechtgelaun ten Beamten tausendmal, daß ich keine Schecks bei mir hatte und bat ihn, für mich das Hauptquartier des Sicher heitsdienstes in Stockholm anzurufen. Während ich war tete, fiel mein Blick auf den Wandkalender. Mir brach der kalte Schweiß aus. Ich war einen vollen Tag später angekommen als Dzok berechnet hatte. Das Verhängnis, 159
das über dem Imperium hing, war nur noch ein paar Stunden entfernt. Der mürrische Kerl kam mit einem dünnen Mann mit Hakennase im Schlepptau zurück. Er forderte mich auf, meine Bitte an seinen Vorgesetzten zu richten. Der Wunsch machte mich nervös. »Meine Herren. Ich habe wichtige und dringende In formationen für Baron Richthofen. Geben Sie bitte mei nen Anruf durch …« »Das geht nicht so ohne weiteres«, sagte der Dünne kühl. »Sie können ja vorher bei mir zu Hause anrufen«, drängte ich. »Ich bin Brion Bayard, Nybrovägen Num mer 12 in Stockholm.« »Haben Sie Ihren Ausweis?« »Tut mir leid. Ich habe meine Brieftasche verloren. Aber …« Er flüsterte mit seinem Partner und versprach dann, meine Nummer in Stockholm anzurufen. Ich wartete. Er wählte, sprach, nickte, wartete, sprach wieder und legte dann den Hörer weg. Dann flüsterte er wieder mit dem Mürrischen. Der rannte eilig davon. »Na, was ist?« fragte ich. »Sie sagen, Sie sind Herr Bayard?« »Oberst Bayard, wenn Sie es genau wissen wollen. Mann, das ist eine Sache auf Leben und Tod!« »Auf Leben und Tod für wen, Oberst Bayard?« »Zur Hölle damit …« Der Mürrische kam zurück. Er war rot vor Aufregung und schwitzte im Gesicht. Ihm folgte ein zweiter Mann, der mit seiner flachen Mütze und seinem Waffengurt nach Polizist aussah. Er zog auch schon seine Pistole, richtete sie auf mich und durchsuchte mich schnell. Die Bolzenschleuder, die Dzok mir zu 160
rückgegeben hatte, fand er aber nicht. Dann wollte er mich abführen. »Was soll das alles?« protestierte ich. »Ich muß unbe dingt mit dem HQ in Stockholm telefonieren …« »Sie behaupten, Sie sind Oberst Bayard vom imperia len Sicherheitsdienst?« fragte er gelangweilt. »Ganz recht.« »Es dürfte Sie interessieren«, sagte der hagere Postbe amte und kostete die Spannung bis zum letzten Augen blick aus, »daß Herr Oberst Bayard in diesem Augen blick bei sich zu Hause zu Abend ißt.« Die Zelle, in die sie mich sperrten, war nach HagroonMaßstäben ein Paradies. Trotzdem hinderte mich das nicht, wie verrückt gegen die Tür zu hämmern und zu brüllen. Natürlich hatte ich noch meine Bolzenschleuder. Aber solange sie die nicht als tödliche Waffe erkannten, selbst wenn ich sie damit bedrohte, konnte ich nichts er reichen. Und so weit, einen von ihnen zu töten, war ich noch nicht. Bis zur Krise waren immerhin noch ein paar Stunden Zeit. Wenn sie erst einmal begriffen hatten … Es war schon dunkel draußen, als endlich ein bekann tes Gesicht auftauchte, ein Netz-Agent, den ich schon ein paar Mal im Zusammenhang mit Aufträgen beim Sicher heitsdienst getroffen hatte. Er sah ziemlich bekümmert aus, trug Zivilsachen und eine Aktentasche. Als er mich sah, blieb er wie angewurzelt stehen. »Tag, Hauptmann«, sagte ich. »Wir werden uns ge meinsam krank lachen, wenn wir diese komische Ge schichte hinter uns haben. Aber im Augenblick muß ich hier ‘raus. Und zwar so schnell wie möglich.« »Sie kennen meinen Namen?« fragte der Agent verle gen. 161
»Leider nicht. Aber ich denke, daß Sie mich kennen. Wir sind uns ja ein paar Mal begegnet.« »Hören Sie sich diesen Kerl an«, sagte der Polizeibe amte, der hinter ihm hereingekommen war. »Ein schwie riger Fall.« »Halten Sie sich hier ‘raus!« fuhr ihn der Agent an. Er trat näher und sah mich von oben bis unten lange an. »Sie wollten das HQ anrufen? Worüber wollten Sie sich mit den Leuten dort unterhalten?« »Das sag’ ich denen selbst«, blaffte ich zurück. »Ho len Sie mich endlich ‘raus hier, Hauptmann. Wir haben schon genug Zeit verloren.« »Ich weiß zwar nicht, was das alles bedeutet. Und Sie sehen Oberst Bayard verdammt ähnlich. Doch am besten erzählen Sie mir mal Ihre ganze Geschichte.« Nach einigem fruchtlosen Hin und Her sah ich ein, daß ich daran wohl nicht vorbeikommen würde. Er hörte mich bis zum Ende an, aber er glaubte mir kein einziges Wort. Dann gab er dem Polizisten ein Zeichen und wollte aufbrechen. »Sie können doch nicht einfach diese Geschichte un terschlagen. Sie müssen Sie doch wenigstens überprü fen!« brüllte ich ihn wütend an. Die Kummerfalten auf seiner Stirn hatten sich inzwi schen verdreifacht. »Wie soll ich Ihnen das alles glau ben? Sie behaupten, Sie sind Bayard. Das ist eine Lüge. Und Ihre Geschichte ist einfach phantastisch. Hätten Sie sie geglaubt?« »Das weiß ich nicht«, antwortete ich ehrlich. »Aber ich hätte sie wenigstens überprüft.« Er wandte sich wieder dem Polizisten zu, der im Hin tergrund herumlümmelte. »Ist dieser Anzug noch da?« Der Polizist nickte. Beide verschwanden. Ich überleg 162
te, während ich wie ein eingesperrter Panther im Käfig auf und ab lief, ob ich nicht doch besser ein paar von ih nen über den Haufen geschossen hätte. Dann ging die Tür wieder auf. Diesmal war es ein Fremder mit dicker Brille und Knollennase. »… seltsam, seltsam«, brummelte er vor sich hin. »A ber ohne jede Bedeutung. Der Anzug ist völlig unnütz und wirkungslos.« »Das ist Professor Runnquist«, sagte der Agent, der mit ihm gekommen war. »Er hat Ihren Anzug untersucht und bestätigt, daß er zwar ziemlich ungewöhnlich, aber doch ohne die Wirkungen ist, die Sie ihm zuschreiben. Jedenfalls kann man damit nicht durch das Netz reisen.« »Verdammte Idioten!« fluchte ich. »Natürlich ist er wirkungslos. Aber nur, solange ich nicht drin stecke. Ich bin ein Teil seiner Stromkreise. Er ist genau auf meine Entropie hin zugeschnitten. Lassen Sie ihn mich anzie hen. Dann beweise ich es Ihnen.« »Das kann ich nicht gestatten«, widersprach der Agent. »Hören Sie jetzt mal gut zu, Hauptmann«, zischte ich ihm mit nur mühsam unterdrücktem Zorn zu. »Das hier ist die größte Krise des Imperiums seit dem Tag, an dem Inspektor Bale Amok lief.« Der Hauptmann war verblüfft. »Woher kennen Sie diese Sache? »Ich war dabei. Ich heiße Bayard. Haben Sie das noch immer nicht kapiert? Ich muß hier endlich ‘raus.« Draußen schrillte ein Telefon. Füße trappelten. Stim men debattierten erregt. Dann wurde die Tür aufgerissen. »Inspektor. Ein Anruf aus Stockholm.« Meine Inquisitoren drehten sich um. »Ja?« »Dieser Bursche, dieser Oberst Bayard!« schrie eine aufgeregte Stimme. Irgend jemand brachte sie zum 163
Schweigen. Dann standen sie alle in der Halle und rede ten wild durcheinander. Schließlich kam der Hauptmann zusammen mit dem Polizisten wieder in meine Zelle. »Sie packen jetzt besser endlich aus«, fauchte er mich wütend an. »Ist was passiert?« »Stockholm wird von einer unbekannten bewaffneten Macht angegriffen!« Es war schon später Abend. Nach einem stundenlangen Verhör, bei dem er immer nachdenklicher geworden war, hatte Hauptmann Burmann mich verlassen. Jetzt hörte ich wieder Schlüsselklirren. Die Tür sprang auf. Es war Burmann, kreidebleich im Gesicht. Ihm folgten zwei Fremde, beide in Zivil. Mein Handgelenk spannte sich, bereit, die Waffe in meine Handfläche zu stoßen. Aber sie bleiben mir vom Leib. »Das ist der Mann«, zeigte Burmann auf mich. »Ich habe nichts als Nonsens aus ihm herausbekommen oder was ich für Nonsens gehalten habe.« Die Neuen musterten mich. Einer war klein, dick, glatzköpfig und trug eine alte, weite Sportjacke und zer knitterte Kniehosen. Der andere war groß, sportlich, ele gant gekleidet. Ich hielt mich an den ersten. Kein unter geordneter Dienstgrad konnte so schlampig herumlaufen. »Hören Sie, Mann«, begann ich. »Ich bin Oberst Bay ard vom Sicherheitsdienst.« »Ich werde Ihnen zuhören«, versprach er. »Und zwar bei der ganzen Geschichte, vom Anfang bis zum Ende.« »Dafür ist es jetzt zu spät.« Ich flippte die Waffe in meine Hand. Alle drei zuckten zusammen. Eine schwere Automatik erschien wie hingezaubert in der Hand des Eleganten. 164
»Haben Sie sowas schon mal gesehen?« Ich zeigte ih nen die Bolzenschleuder und stellte mich so, daß immer einer von ihnen zwischen mir und dem Mann mit der Pistole stand. Der Dicke nickte kurz. »Dann wissen Sie auch, daß diese Waffe nur an eine Handvoll Leute aus dem Netz-Sicherheitsdienst ausgege ben wurde. Einer davon bin ich. Ich hätte mir damit längst den Weg freischießen können, als man mich das erste Mal festzunehmen versuchte. Aber ich dachte, ir gend jemand würde mir zuhören und dann vernünftig reagieren. Jetzt ist es zu spät für solche Rücksichtnahme. Einer von Ihnen schließt jetzt die Tür auf – oder ich schieße. Ich bin schneller als Sie, mein Lieber«, warnte ich den Eleganten mit der Automatik. »Sie machen es damit nur noch schlimmer.« »Schlimmer geht’s inzwischen nicht mehr. Den Schlüssel ‘raus! Und ziehen Sie diesen verdammten Plattfuß aus dem Verkehr!« Der Dicke schüttelte den Kopf. »Schießen Sie, Herr … Major Gunnarson wird Ihr Feuer erwidern. Und dann sterben eben zwei. Aber entlassen kann ich Sie nicht.« »Warum nicht? Sie können mich ja beobachten. Ich muß nur endlich den Sicherheitsdienst sprechen …« »Ich habe bereits versucht, mit Baron Richthofen in Stockholm Kontakt zu bekommen«, sagte der Dicke. »Was soll das heißen – versucht?« »Genau das. Ich kam nicht durch. Alle Verbindungen sind unterbrochen. Dann habe ich einen Kurier geschickt. Der ist verschollen. Ein zweiter hörte über sein Autora dio von den Ereignissen und kehrte deshalb vor der Stadt wieder um.« »Welche Ereignisse?« 165
»Den Gas-Angriff«, sagte er rauh. »Plötzlich hatte auch er eine Waffe in der Hand.« »Jetzt sagen Sie mir endlich, Bayard oder wie Sie hei ßen, was das alles bedeutet! Sie haben zehn Sekunden.« »Ich habe Burmann die ganze lange Geschichte er zählt. Wenn Sie sie nicht glauben wollen, ist das nicht mein Fehler. Aber vielleicht haben wir noch Zeit. Wie ist die Lage in der Stadt?« »Wir haben keine Zeit mehr, Herr Bayard. Überhaupt keine …« Zu meinem Schrecken sah ich Tränen in sei nen Augen glitzern. »Was …?« Ich konnte die Frage nicht aussprechen. »Die Invasoren haben Giftgas versprüht und damit die Bevölkerung der ganzen Stadt ausgerottet. Sie haben Barrikaden errichtet, damit niemand Hilfe bringen kann. Fremde Männer in Coveralls und Helmen schießen jeden nieder, der sich von außen den Barrikaden nähert.« »Aber die vielen Menschen … meine Frau … was …?« Er schüttelte den Kopf. »Der Herrscher und seine Fa milie. Die Regierung. Alle sind mit Sicherheit tot. Inner halb der Barrikaden leben nur noch die Fremden.« Draußen fiel ein schwerer Gegenstand auf den Boden. Der Dicke wirbelte herum, sprang zur Tür, blickte hinaus und raste los, Burmann auf den Fersen. Ich schrie Gun narson an, stehen zu bleiben oder ich würde ihn über den Haufen schießen. Er kümmerte sich nicht darum, und ich brachte es einfach nicht fertig. Die Tür war wieder zu. Draußen klapperten Schritte. Jemand schrie: »Die AffenMenschen!« Schüsse krachten. Ein schwerer Körper pol terte eine Treppe hinunter. Ich wich mit der Waffe in der Hand in die äußerste Ecke meiner Zelle zurück und 166
fluchte wütend, weil ich mich wieder einmal hatte wehr los einsperren lassen. Dann zielte ich auf die Tür. Den ersten Hagroon, der herein kam, wollte ich wenigstens erwischen. Die Tür sprang auf. Eine wohlbekannte, hochschultrige Gestalt in Weiß stand auf der Schwelle. »Dzok!« schrie ich in höchster Verzweiflung. »Hol mich hier ‘raus! Oder …« Ein schrecklicher Verdacht schoß mir durch den Kopf. Dzok mußte ihn in meinen Augen erkannt haben. »Langsam, alter Junge«, warnte er mich, als ich die Waffe auf ihn richtete. »Ich will dir doch bloß helfen. Und wie die Lage hier aussieht, kannst du Hilfe jetzt ganz gut gebrauchen.« »Was geht hier eigentlich vor?« schrie ich ihn an. Plötzlich stand jemand hinter Dzok. Ein großgewachse ner junger Mann in grünem Rock und scharlachroten Kniehosen kam herein. In der Hand hielt er eine langläu fige Flinte mit aufgepflanztem Bajonett. Sein grüner Uni formrock war mit weißen Spiegeln und silbernen Litzen verziert. Eine Doppelreihe goldener Knöpfe und schwar ze Lackschuhe mit großen Goldschnallen vollendeten das Bild eines Operettensoldaten. Der Besitzer dieses bunten Aufzugs warf mir ein breites Lächeln zu und salutierte dann mit lässig erhobener Hand vor Dzok. »Ich schätze, wir haben es Ihnen gegeben, Sire. Sollen wir draußen nachsehen, ob noch ein paar von den Jungs Lust haben, sich mit uns anzulegen?« »Nicht nötig, Korporal«, winkte Dzok ab. »Das ist nur eine Gefangenenbefreiung, sonst nichts. Die Burschen da draußen sind unsere Alliierten. Leider wissen sie es noch nicht.« 167
Dann wandte er sich mir zu: »Die Schießerei tut mir leid. Aber es ging nicht anders. Ich wollte nur ein paar Nachforschungen anstellen. Aber hier sind ja alle durch gedreht. Die schossen schon beim zweiten Blick und schrieen dauernd was von haarigen Affen-Menschen! So ein Unsinn!« »Die Hagroons haben die Hauptstadt besetzt«, unter brach ich ihn. »Nach einem Gas-Angriff haben sie sich dort verbarrikadiert.« Ich dachte jetzt nicht mehr. Ich reagierte nur noch. Die Hagroons mußten aufgehalten werden. Nicht als ob das für mich noch irgendwas bedeu tet hätte. Barbro war mit den anderen in der Stadt umge kommen. Wenn sie konnte, hatte sie um ihr Leben ge kämpft. Von mir hätte sie dasselbe erwartet, solange ich mich noch bewegen und atmen konnte. Dzok sah er schüttert aus. »Also bin ich zu spät gekommen«, sagte er bitter. »Und ich wollte dich …« Er brach den Satz ab, als wir nach draußen gingen. »Wer sind diese Leute?« deutete ich auf ein Dutzend bunt uniformierter Soldaten, die Türen und Fenster be wachten. »Das sind meine Freiwilligen, Bayard. Meine napo leonischen Rekruten. Erinnerst du dich? Als du in dem SAnzug losfuhrst, ging ich per Schiff zu ihnen zurück und nahm sie mit nach Xonijeel. Als wir aber in Zaj ankamen – wen, glaubst du wohl, haben wir dort angetroffen? Dreimal darfst du raten. Aber das rätst du nie.« »Ich rate dreimal. Und ich sage dreimal: die Ha groons.« Dzok nickte düster. »Die Schweine hatten unseren Netz-Bahnhof besetzt und von dort aus die Zentralregie rung überrannt. Ich zog einen schnellen strategischen Rückzug vor, setzte mich auf deine Spur und reiste eben 168
falls in der Zeit zurück …« Er sah bedrückt aus. »Um ehrlich zu sein: ich hoffte, daß ihr uns helfen könntet. Wir von Xonijeel sind für einen Netz-Krieg nicht mehr hart genug …« »Sie haben euch also bald nach uns angegriffen. Ich wunderte mich schon längst, daß du damit nicht gerech net hast. Warum sollten sie euch verschonen? Ihr kennt das Geheimnis der Netz-Fahrt wie wir!« »Was geschehen ist, ist geschehen … Wenn ihr uns nicht helfen könnt, werden wir jetzt eben erst mal euch beistehen. Los, erklär mir die Situation!« Zehn Minuten später, während derer unsere Posten ge legentlich aus den Fenstern schossen, hatten Dzok und ich einen Plan ausgetüftelt. Er war zwar nicht sonderlich gut, aber unter den gegebenen Umständen der bestmögli che. Zuerst mußten wir meinen S-Anzug finden. Als wir ihn nach weiteren zehn Minuten sauber zusammengelegt auf einem Tisch fanden, übernahm Dzok die Initiative: »Und jetzt, Bayard, brauche ich Werkzeug, eine Hitze quelle und ein Vergrößerungsglas …« Wir durchstöberten weitere Büros und fanden schließ lich einen kompletten Satz Elektronikwerkzeug in einem Wandschrank und im Schreibtisch des Gefängnisdirek tors ein Glas. Dzok öffnete den Schaltkasten auf der Brust des Anzugs; ich richtete eine elektrische Kochplat te für unsere Zwecke her. »Was wir jetzt vorhaben, ist ziemlich riskant«, sagte er zögernd, während er haarfeine Drähte zerschnitt und die Schaltungen neu arrangierte. »Aber es ist theoretisch durchaus möglich, wenn es auch mit einem Anzug noch nie probiert worden ist.« Draußen fielen ab und zu Schüsse aus den Flinten un serer Leibgarde und aus den schweren Pistolen der Poli 169
zei. Dzok ließ sich davon nicht stören. Sorgfältig testete er eine halbe Stunde lang die neu arrangierte Schaltung. Dann richtete er sich auf und blickte mich mit schief ge legtem Kopf an. »Ich hab’ getan, was ich konnte, alter Junge. Garantie ren kann ich trotzdem für nichts. Aber wir haben eine reelle Chance, daß die Schaltung hält, was wir uns davon versprechen.« Ich bat ihn, endlich zu erklären, worauf das Ganze hin aussollte, und versuchte dann, dieser Erklärung zu fol gen. Danach sollte die neue Schaltung der Stromkreise das M-C-Feld unter Höchstspannung setzen und seine normale Funktion auf einer Linie geometrischer Progres sion bis ins Unendliche verzerren … »Das geht über mein Fassungsvermögen, Dzok«, kapi tulierte ich. »Ich bin ohnehin kein ausgebildeter M-CTechniker. Und wenn du mir jetzt auch noch mit eurer komplizierten Xonijeel-Technik kommst …« »Mach dir keine Sorgen, Bayard. Das einzige, was du wissen mußt: wenn du diesen Schalter umlegst, beein flußt du den Einfallswinkel des Pinch-Feldes.« Geduldig erklärte er mir das Wichtigste noch einmal. »Auf gut Englisch: wenn etwas schiefgeht, und ich bleibe am Leben, kann ich hier dran drehen und mein Glück noch einmal versuchen.« »Das ist die ganze Weisheit. Laß uns jetzt anfangen. Wie weit ist es bis zur Stadt?« »Etwa zwölf Kilometer.« »Dann brauchen wir ein paar schnelle Wagen. Drau ßen auf dem Hof parken welche. Es scheinen zwar ziem lich altmodische Dampfmaschinen zu sein, aber sie sind immer noch besser als gar nichts …« »So altmodisch sind sie nun auch wieder nicht. Im 170
Gegenteil. Es sind moderne, stickstofferzeugende Verbrennungsmotoren, die als besonders umweltfreund lich gelten. Außerdem machen sie mindestens hundert Kilometer in der Stunde.« »Das dürfte reichen.« Er ging in den Wachraum und versuchte sich ein Bild von der Lage draußen zu machen. Der Hof lag im hellen Licht der Suchscheinwerfer. »Im Augenblick ist es ruhig. Am besten, wir machen gleich jetzt einen Ausfall.« Ich nickte. Er gab seinen fröhlich kostümierten Rekruten Befehle. Zehn postierten sich an den Fenstern. Der Rest nahm ihn und mich in die Mitte, um uns notfalls mit ihren Körpern zu schützen. »Wir können schließlich auch was tun«, knurrte ich, riß zwei Karabiner aus den Gewehrständern und versorg te Dzok und mich mit Munition. »Sag deinen Jungs aber, sie sollen möglichst tief hal ten«, bat ich ihn. »Sie müssen uns den Weg freischießen, dürfen aber niemanden töten. Die anderen wissen ja nicht, was los ist …« Der Korporal gab Dzoks Befehle gelassen weiter. »Die benehmen sich überhaupt nicht wie Rekruten«, bemerkte ich. »Sie sehen eher wie Veteranen aus.« Dzok schmunzelte: »Sie gehörten ja auch bis vor kur zem zur kaiserlich-napoleonischen Leibgarde. Dort wur de es ihnen aber zu langweilig. Deshalb kamen sie mit mir.« Der Korporal war inzwischen mit zwei von seinen Leuten am Ausgang. Auf einen kurzen Befehl rasten sie auf den nächsten mit hohen, gepanzerten Aufbauten ver sehenen Polizei-Mannschaftswagen zu. Die Reaktion unserer Polizei kam zu spät. Nur einer der drei wurde von einem Streifschuß am Bein erwischt, stolperte, schaffte es aber doch in zwei Sprüngen bis in 171
die sichere Deckung des Wagens. Von dort aus feuerten alle drei abwechselnd im disziplinierten Drei-SekundenRhythmus und zwangen so die anderen in Deckung zu gehen. »Los!« zischte Dzok. Ich nahm meinen Karabiner vor die Brust und raste auf den zweiten Wagen zu. Aus ei nem Fenster hoch über mir stieg eine kleine Rauchwolke auf. Etwas jaulte haarscharf über meinem Skalp vorbei. Dann war ich in Sicherheit. Dzok war schon vor mir an gekommen und versuchte bereits, die im toten Winkel liegende Wagentür aufzureißen. »Zu«, schrie er, trat einen Schritt zurück und feuerte ein ganzes Magazin in das Schloß. Als er die Tür aufriß, sah ich sein Schiff. Es parkte mitten auf dem Hof in ei nem Blumenbeet. Er folgte meinem Blick. »Wir müssen es leider vorläufig hierlassen. Jammer schade …« Dann war er im Führerhaus und fummelte an dem für ihn fremden Armaturenbrett herum. »Rutsch rüber!« rief ich ihm zu und fühlte, wie das Fahrzeug schwankte, als ein Teil unserer Mannschaft hinten einstieg. Einige Kugeln prallten wie Hagelkörner von der gepanzerten Wand ab. Natürlich war kein Zünd schlüssel da. Ich riß das Armaturenbrett los, zerrte die Zündkabel frei und schloß sie kurz. Dann stieß ich den Starthebel mit voller Kraft ein. Der Motor heulte auf. »Wer fährt den zweiten Wagen?« »Ein Spezialist für Dampfmaschinen.« »Der kommt damit nicht klar. Ich werde ihm helfen. Du übernimmst jetzt den hier. Der Motor läuft ja. Weißt du, wie man ihn schaltet?« Dzok nickte zufrieden schmunzelnd. »Ich kenne mich in unseren Museen bestens aus.« 172
Ich erklärte es ihm trotzdem. Ein Schuß zerschmetterte die Windschutzscheibe. Die Splitter zerschnitten uns das Gesicht. Dzok wischte sich gelassen das Blut ab und winkte mir. Ich kroch zu unserem zweiten Wagen und brachte auch den in Gang. Während unsere Nachhut un ter Feuerschutz in den Mannschaftsraum kletterte, zer schoß ich vom Führerhaus aus das Schloß des Hoftors. Mit zwanzig Sachen rammte ich die beiden schweren Flügel. Sie gaben im Aufkreischen von Blech und Stahl nach. Ich riß das Steuer nach links. Dann donnerten wir über die nächtliche Straße. Im Rückspiegel sah ich Dzok folgen. Zwanzig Minuten später hatten wir den Stadtrand er reicht. Die letzten hundert Yards krochen wir im Schritt tempo an Dutzenden im Gas gestorbener Männer, Frauen und Kinder vorbei. Im Schatten einer aus Automobilen aufgetürmten Barrikade stoppten wir. Jemand hatte sie angezündet. Aus einigen der in der Hitze geschmolzenen Reifen leckten noch kleine blaue Flammen. Eine Kir chenuhr schlug Mitternacht. Hagroons waren nirgends in Sicht. Die Straße war still wie ein Friedhof. Von links hörte ich unterdrücktes Hu sten. Ich riß den Karabiner hoch. Ein Mann in zerrisse nem, weißem Hemd taumelte auf uns zu, hustete, krümmte sich und stöhnte: »Gott sei Dank, daß ihr end lich kommt. Ich hab’ nur eine schwache Dosis von dem Gift mitbekommen … Hatte schnell genug einen Lappen mit Zitronensaft getränkt vor dem Gesicht … Bin aber trotzdem halb tot.« Er würgte wieder. »Ihr kommt zu spät. Fast alle sind tot. Aber das Gas ist jetzt weg. Ver flogen. Zahlt’s den verfluchten Teufeln heim!« Hinter ihm wurden noch ein paar Überlebende sichtbar 173
unter ihnen auch eine Frau mit rußverschmiertem Ge sicht. »Geht weiter zurück!« forderte ich sie auf. »Sagt’s auch den anderen: auf keinen Fall die Barrikaden angrei fen!« Inzwischen hatte sich ein gutes Dutzend Überlebender um uns versammelt. Einer von ihnen schrie plötzlich auf und zeigte auf Dzok. Der Schrei ging durch die ganze Gruppe. »Schnell ‘raus!« befahl ich unserer Leibgarde. Den anderen rief ich zu: »Das ist ein Freund.« Ich rannte um den Wagen herum, wo ein Mann die Tür von Dzoks Füh rerhaus aufzureißen versuchte, und riß ihn zurück. »Hören Sie auf mich! Das ist ein Alliierter des Imperi ums, und das …« Ich zeigte auf unsere Karnevalssolda ten, die sich vorsichtig zwischen Dzoks Wagen und die wütende Menge schoben »… sind seine Leute. Sie wol len uns helfen.« »Er hat Haare im Gesicht … genau wie die anderen Affen.« »Na und? Ich habe keine Haare im Gesicht, außer ei nem drei Tage alten Bart.« »Wer sind Sie?« »Oberst Bayard vom Sicherheitsdienst des Imperi ums.« »Was haben Sie vor? Können wir Ihnen helfen?« Dzok war inzwischen ausgestiegen. Er reichte mir den modifizierten S-Anzug und verbeugte sich theatralisch vor der Menge. »Ich bin entzückt, meine Damen und Herren, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Jemand kicherte. Dzok ignorierte das und fuhr fort: »Ich habe die große Ehre, Ihnen meine Dienste im Kampf gegen die Invasoren anzubieten. Aber Oberst 174
Bayard muß seinen Auftrag allein durchführen. Er wird dazu diesen Spezialanzug anziehen …« »Halt den Mund und hilf mir lieber ‘rein«, unterbrach ich ihn ungeduldig. »Wir wollen ihm helfen. Er braucht eine Eskorte.« »Sie sollten mich und meine Leute«, unterbrach Dzok die aufgeregten Zwischenrufe, »mit heißem Kaffee oder einem Schnaps versorgen. Den haben wir uns redlich verdient. Im übrigen können wir im Moment nichts ande res tun als abwarten. Der Oberst muß allein auf die ande re Seite der Zeit …« Er nahm den Helm. Ehe er ihn mir aufsetzte, flüsterte er mir zu: »Beeil dich, alter Junge. Es ist schon nach Mit ternacht. In etwa zwei Stunden geht diese Welt unter …« Der transparente Helm saß fest. Alle Kontakte waren überprüft. Dzok formte mit Daumen und Zeigefinger ein O, um mir zu zeigen, daß alles o.k. sei. Ich legte meine Hand auf den Aktivator und holte tief Atem. Wenn Dzoks Schaltungen richtig gewesen waren, würde der Anzug mich jetzt gleich wie einen zwischen den Fingern herausgeflitschten Wassermelonenkern in den seltsam nichtzeitlichen Status der Null-Entropie treiben – auf die andere Seite der Zeit, wie er es soeben poetisch genannt hatte. Wenn alles richtig lief. Doch das konnte ich nur erfah ren, wenn ich den Knopf drückte. Ich tat es. XIII Einen Moment lang fühlte ich mich wie auf einem rasen den Drehstuhl. Die Welt um mich her verschwamm, schrumpfte zu einem Nadelöhr zusammen, durch das alle 175
Realität floß, um sich dann in einem neuen kreisenden Wirbel wieder zu normaler Größe zu entfalten …. Ich stand noch immer auf der Straße vor der Barrika de. Doch die halbverbrannten Autos glommen nun in einem bläulichen Licht wie neun Tage alte Wasserlei chen. Ich wandte mich um, sah unsere beiden Polizeiwa gen. Sie waren leer. Nur die zusammengekrümmten Lei chen lagen noch immer auf Fahrbahn und Bürgersteigen. Schwarze, tiefe Löcher säumten in regelmäßigen Ab ständen den Straßenrand, wo eben noch Bäume gestan den hatten. Die Fenster der Häuserfronten waren dunkle, tote Höhlen. Dzok, die Soldaten und Überlebenden des Gas-Angriffs waren in demselben Augenblick verschwunden, in dem der S-Anzug das Feld um mich herum aufbaute. Oder ge nauer: ich war aus ihrer Mitte verschwunden. Wieder war ich allein in derselben verlassenen Stadt, in der ich mich nach meiner Ohnmacht im Keller des Hauptquartiers vor gut neun Wochen wiedergefunden hatte. Ich sah zur Kirchturmuhr hinauf. Ihre Zeiger schienen auf Null Uhr fünfundzwanzig festgefroren. Die Uhr, die ich in dem Büro nach meiner Begegnung mit dem glü henden Mann gesehen hatte, hatte Null Uhr fünf ange zeigt. Um das Monstrum abzufangen, war ich also zu spät dran. Doch ich hatte noch Zeit genug, die Position der Ha groons auszuspähen, den Standort ihrer DiskontinuitätsMaschine auszumachen, umzukehren und dann einen Angriff gegen sie zu starten … Ein Kieselstein sprang plötzlich auf mich zu und traf mich am Zeh. Kleine Staubwölkchen wehten auf meine Schuhe zu, als ich den trockenen graslosen Boden be rührte. Das unheimliche Licht, das aus der Erde zu drin 176
gen schien, zeigte mir eine Linie von Fußabdrücken im Boden vor mir. Sie schienen sich zu bilden, noch ehe ich auftrat … Verwirrt blickte ich hinter mich. Dort, von wo ich kam, sah ich keine Spuren. Die Abdrücke schienen viel mehr genau in die Richtung zu führen, in die ich ging. Merkwürdige Verhältnisse herrschten in der Null-Zeit … Inmitten der menschlichen Leichen erblickte ich einen toten Hagroon. Der klobige Körper war in dem schweren Druckanzug zusammengeschrumpft. In der rechten Brustseite war ein großes, blutiges Loch. Jemand auf der Seite des Imperiums hatte ihn erwischt. Der Gedanke daran gab mir in dieser Öde neuen Mut. Ich ging weiter, blickte noch einmal zum Kirchturm hinauf. Die Zeiger standen jetzt auf … Null Uhr eins. Während ich noch fassungslos emporstarrte, sprang der Minutenzeiger zurück. Beide zeigten jetzt genau auf die Zwölf … Und plötzlich begriff ich: Dzoks Manipulationen am S-Anzug hatten mich zwar in die Null-Zeit versetzt. Aber wir hatten beide vergessen, jene ursprüngliche Einstel lung rückgängig zu machen, die mich auf dem Weg von der Dschungel-Welt nach Stockholm-Null-Null gleich zeitig in der Zeit zurückversetzt hatte. Mit dem aktivier ten Anzug bewegte ich mich, wenn auch viel langsamer – erneut rückwärts in der Zeit. Jetzt verstand ich auch die rätselhaften Wirkungen meines Vorwärtsgehens auf meine Umgebung. Kiesel, die eigentlich durch einen Stoß meiner Schuhe abprallen mußten, flogen zur Fußspitze zurück. Ähnlich war es mit den Staubwölkchen, die ich beim Gehen auf mich zu zog, anstatt sie wegzuwirbeln. Ich überlegte, wie ich wohl für einen Beobachter aussehen mochte, der sich im normalen 177
Zeitablauf auf der Null-Zeit-Ebene befand. Welchen Ef fekt mochte ein Auslösen meiner Waffe haben, wenn ich sie in die Zukunft hinein abfeuerte und damit Tod in die Vergangenheit trug? Geräuschlos kam eine Gestalt im Rückwärtsgang um die nächste Straßenecke auf mich zu. Es sah aus, als wür de ein alter Stummfilm rückwärts gespult. Ich preßte mich flach an die Wand als er näher kam. Ein Hagroon. Ich flippte die Bolzenschleuder in die Hand und wartete … Er krebste an mir vorbei und beachtete mich nicht, obwohl er ganz offensichtlich die Gegend nach Überle benden abzusuchen schien. Ich sah mich um. Keiner sei ner Kumpane war in Sicht. Dann trat ich vor, die Waffe auf seine Brust gerichtet. Er marschierte ungerührt weiter rückwärts, zwanzig Schritte, fünfundzwanzig … Ich war für ihn unsichtbar. Er dagegen blieb für mich sichtbar. Wahrscheinlich wurden die Lichtstrahlen, die mich trafen, durch das mich einhüllende Feld beeinflußt, wurde auch ihr zeitlicher Ablauf umgekehrt, mit dem Effekt, daß sie ausgelöscht wurden. Für mich dagegen blieb das Licht, das aus den Gegenständen selbst zu drin gen schien, sichtbar … Wie konnte ich aber sehen, wenn doch das Licht von meinen Augen wegwanderte? Ich erinnerte mich an den Ausspruch eines NetzPhysikers, der mich unterrichtet hatte, nachdem ich aus meiner Welt auf die Null-Null-Linie geholt worden war: »Licht ist ein Zustand und kein Ereignis …« Was auch immer der Grund sein mochte – sicher war, daß die Hagroons mich nicht sahen. Das war ein ent scheidender Vorteil für unsere Seite. Meine Sache war es, ihn entsprechend zu nutzen. 178
Bis zum Netz-Bahnhof hatte ich etwa eine halbe Stunde zu gehen. Auf den Straßen lagen jetzt keine Leichen mehr. In diesem Stadtteil hatte der Gas-Angriff die Leute wohl in den Betten überrascht. Ich ging an einem Paar Hagroons vorbei, die eilig rückwärts auf mich zu kamen, Dann folgte ein Dutzend, schließlich ein Trupp von etwa dreißig Mann – alle im gleichen Rückwärtsschritt. Bei normalem Zeitablauf bedeutete das, daß sie sich in der Null-Zeit ziemlich eilig auf die Netz-Garagen zu be wegten. Sie kamen dabei aus der Richtung des Haupt quartiers. Zwei Blocks weiter waren es noch mehr geworden. Ich schloß mich ihnen jetzt einfach an und marschierte ebenfalls in Richtung Hauptquartier. Mit dem rückwärts fließenden Strom schwimmend, der sich vor mir zu teilen schien, erreichte ich die Tore des Hauptquartiers, warf einen Blick auf die Uhr an der Stirnseite des Gebäudes: Elf Uhr fünfzehn. – In einer halben Stunde subjektiver Zeit war ich eine dreiviertel Stunde rückwärts gegangen. Durch das Hagroon-Gewimmel hindurch, die hier in Massen herausströmten, wenn man den normalen Zeitab lauf berücksichtigte, erreichte ich dasselbe hochgewölbte Foyer, das ich vor neun Wochen einsam und allein ver lassen hatte. Jetzt war es von drängelnden Hagroons ü berfüllt. Sie wurden von zwei auf dem Treppenabsatz stehenden messinggeschmückten Individuen komman diert. Die beiden wedelten mit den Armen, schnitten Grimassen und bewegten hinter dunklen Sichtplatten ih rer Helme die Lippen. Geräusche, so schien es, konnten die Spanne zwischen »normaler« Null-Zeit und meinem umgekehrten Feld-Effekt nicht überspringen. Der Strom preßte sich durch einen Seiteneingang. Ich folgte, erreichte eine schmale Tür und erinnerte mich. Es 179
war dieselbe Tür, durch die ich den glühenden Mann ver folgt hatte. Ich trat hindurch, fühlte beinahe das geister hafte Anrempeln der Hagroon-Körper, die doch jeweils in dem Augenblick, in dem sie mich berühren mußten, zur Seite zu weichen schienen. Oder gingen sie durch mich hindurch? Der Strom wurde jetzt dünner. Ich blieb stehen und beobachtete, wie die Kreaturen in dem kleinen Keller raum verschwanden. Es mußten inzwischen ein paar hundert von diesen Massenmördern da drin sein … Das war unmöglich … In der Halle war jetzt nur noch eine Handvoll von ih nen. Sie lauschten dem geräuschlosen Vortrag eines mes singbehängten Offiziers und marschierten dann ebenfalls rückwärts in den Keller. Ich folgte ihnen und blieb wie erstarrt stehen … Eine zehn Fuß messende runde Scheibe aus gleißendem Licht flimmerte in der Luft, schwebte einen oder zwei Zoll über dem Steinboden des verlassenen Abstell raums, ohne die Decke zu berühren. Während ich noch staunend starrte, erschien ein Offizier rückwärts gehend vor der Scheibe, krümmte sich zusammen, machte einen Rückwärtssprung und verschwand wie durch magische Kräfte. Nun waren nur noch zwei Hagroons übrig. Der Erste ging ebenfalls rückwärts vor die Scheibe, sprang und war weg. Der Zweite sprach in ein Instrument, das er in der Hand hielt, stand einen Augenblick, sah sich vor sichtig im Raum um, ignorierte mich dabei völlig, sprang ebenfalls und verschwand. Was ich hier sah, war im Vergleich zu allen Erfindun gen unseres Imperiums das reine Wunder. Doch ich durf te keine Zeit verlieren. Dies war der Eingang zum NullZeit-Stockholm. Von hier aus hatten die Hagroons ihre 180
Invasion gemacht. Woher, das wußte ich nicht. Es gab nur eine Möglichkeit, das festzustellen … Ich stellte mich vor die Scheibe. Ihre Oberfläche kräu selte sich wie ein Teich, in den man einen Stein geworfen hat. Hinter ihr war nichts zu sehen. Ich biß die Zähne zusammen, hoffte inständig, daß ich nicht wieder einen verhängnisvollen Fehler machte und sprang … Ich wußte sofort, daß ich wieder in der Normalzeit stand. Zweifellos bewegte ich mich noch immer rückwärts. Doch war ich in demselben Raum wie vorher. Das un heimliche Null-Zeit-Glimmen war verschwunden. Um mich herum drängten sich die Hagroons, die von hier aus rückwärts in den Korridor hinauf drängten. Ich erblickte die Offiziere, die ich Augenblicke vorher als letzte hatte zurückspringen sehen – aber als erste in die Null-Zeit hinein, wenn man es unter dem Aspekt des normalen Zeitablaufs sah. Sie hatten die übrige Horde angeführt, die zurück auf dem Weg in den Netz-Bahnhof gewesen war. Vor neun Wochen hatte ich sie dort beo bachtet, wie sie – nach dem Massenmord – ihre Schiffe bestiegen, um zurück auf die Hagroon-Linie zu fahren. Doch nun, durch das Wunder des für mich umgekehrten Zeitstroms sah ich den Vorgang noch einmal ablaufen, sah ich die siegreichen Truppen, erhitzt von ihrem Mas saker an der schlafenden Stadt, noch einmal rückwärts hinaus auf die Straßen quellen und den Gas-Angriff noch einmal durchführen … Viele von ihnen schleppten schwere Kanister. Andere nahmen leere Behälter von einem Haufen im Korridor, warfen sie sich auf den Rücken. Zu zweit und zu dritt gingen sie damit los, rückwärts durch den Korridor, die Treppen hinauf, zurück in die toten Straßen. Ich wollte 181
ihnen schon folgen, hielt dann aber inne. Irgendwo am Rande meines Bewußtseins klopfte ein Gedanke. Ich mußt etwas tun, sofort, auf der Stelle, ehe diese einmali ge Chance mir entglitt … Es war schwer, die Gedanken in diesem umgekehrten Zeitstrom zu ordnen. Doch ich mußte die Situation genau überdenken, den Angriffsplan der Hagroons rekonstruieren. Sie waren im Netz-Bahnhof angekommen. Dort hatte ich ihre Schiffe kurz vor der Abfahrt gesehen. Dieser Ort war der beste Ausgangspunkt für einen Angriff via Schiff. Wegen seiner charakteristischen Ausstrahlungen als Netz-Basis war er überdies für Navigationszwecke leicht anzupeilen. Einmal dort angekommen, waren die Hagroons durch die leeren Straßen der Null-Zeit zum Hauptquartier mar schiert. Von diesem zentralen Standort aus ließ sich ein Angriff am besten vortragen. Seine vielen ungenutzten Kellerräume boten gute Verstecke – ganz abgesehen von der erfolgversprechenden Frechheit, ausgerechnet von diesem sichersten Platz des Imperiums aus dessen Haupt stadt anzugreifen … Hier waren die Hagroons dann durch ihr Lichttor in die nächtlichen Straßen der Real-Zeit-Stadt eingedrungen und hatten sofort damit begonnen, ihr Giftgas abzulassen. Das Ende des Angriffs erlebte ich soeben mit. Danach waren sie durch das gleiche Lichttor zurück in die NullZeit gesprungen, waren zu ihren Schiffen zurückgegan gen, um unsere Welt-Linie zu verlassen. Ihren Exodus hatte ich bereits beobachtet. Warum aber – in drei Teufels Namen – war ein Gas angriff auf eine Stadt notwendig gewesen, die ohnehin bald darauf mit dem Rest des Planeten ausgelöscht wer den sollte? 182
Das war es: die Hagroons wollten ungestört bleiben, wenn sie ihre Diskontinuitäts-Maschine aufbauten. Und sie brauchten Gewißheit, daß sich niemand an diese Höl lenmaschine heranmachen würde, wenn sie selbst wieder durch ihr Lichttor in die Null-Zeit verschwunden waren, ihre Schiffe erreicht und die zum Tode verurteilte ALinie verlassen hatten. Wenn sie die Bewohner der Hauptstadt vergasten, hatten sie Zeit genug, in aller Ruhe und Sicherheit ihr mörderisches Verbrechen an einem ganzen Universum auszuführen. Es war ja nicht nur eine ganze Menschheit, die sie auf diese Weise umbrachten. Es war ein Planet, ein Sonnen system, ein Himmel voller Sterne und außerdem ein ein zigartiger, unersetzlicher Aspekt der Realität, der für immer aus dem Ganzen des Kontinuums gewischt wer den sollte. Und alles das, weil ein Stäubchen in eben die sem Universum eine mögliche Bedrohung für die Sicher heit der Hagroons darstellte … Irgendwo war in diesem Augenblick eine Gruppe ihrer Wissenschaftler dabei, das Jüngste Gericht für unsere Welt-Linie zu installieren. Und wenn ich diesen Augen blick nur um Minuten verpaßte, war es zu spät – oder genauer: zu früh, etwas gegen das Verhängnis zu tun. Käme ich zu spät, wäre die Maschine wieder in ihre Bestandteile zerlegt, von rückwärts eilenden Hagroons zu den Schiffen getragen und meinem Zugriff entzogen … Ich mußte die Maschine finden – sofort. Ich sah mich um. Im Gewimmel der kanisterschleppen den Hagroons fiel mir ein Individuum ohne Helm auf. Er kam aus der dem Strom der anderen entgegengesetzten Richtung, ging eilig auf den Offizier zu, der den GasAngriff leitete und sprach mit ihm. Beide nickten. Dann 183
ging der ohne Helm rückwärts einen dunklen Gang hin unter. Ich zögerte einen Augenblick und folgte ihm. Nach etwa fünfzig Schritten drehte er in einen Lager raum ab, der dem, in welchem das Lichttor errichtet wor den war, sehr ähnlich sah. Hier traf er mit vier anderen Hagroons zusammen, die sich äußerlich in Haltung und Kleidung stark von den Soldaten unterschieden. Sie machten sich an einem auf einem metallischen Dreifuß ruhenden massiven Apparat zu schaffen. Seine Schutz hülle lag daneben auf dem Boden. Ich hatte Glück: das mußte die DiskontinuitätsMaschine sein! Der nächste Schritt war für mich klar. Als zwei von den Hagroons einen Augenblick zur Seite traten, ging ich an den Dreifuß heran, spreizte die Beine, um einen besse ren Stand zu haben, packte den schweren Apparat mit beiden Händen und hob ihn von seinem Sockel. Er war nicht so schwer, wie ich befürchtet hatte. Meine leicht beschleunigte Zeitrate gab mir Riesenkräfte. Ich trat zu rück, drückte die Horror-Erfindung an die Brust, fühlte das Summen ihres Zeitzünders und sah sie gleichzeitig noch immer dort liegen, von wo ich sie weggenommen hatte. Die Hagroon-Wissenschaftler arbeiteten ungestört daran weiter, während ich mit dem Gegenstück daneben stand. Ich war ja – für sie – gar nicht erschienen, um vor ihren erschreckten Augen ein Paradoxon zu verursachen. Langsam wandte ich mich zur Tür. Dann machte ich, daß ich den Korridor entlangkam, kletterte ein paar Stu fen hinab und rannte beinahe im Laufschritt zum NetzBahnhof. Diesmal schaffte ich den Weg in zwanzig Minuten. Den Gas-Angriff ignorierte ich so gut ich konnte. Vermumm 184
te Hagroons versammelten sich, rückwärts schaukelnd, bildeten Gruppen, während sich über ihnen eine bräunli che Wolke zusammenzuziehen schien. Schwitzend eilte ich durch die Schwaden und hoffte, daß Dzok mit seiner Meinung recht behielt, daß der Anzug absolut dicht sei. In den Netz-Garagen traf ich nur eine Handvoll Ha groons, die gelangweilt aus den offenstehenden Toren das Vorgehen ihrer Kumpane in der Stadt verfolgten. Ich kam unbehelligt an ihnen vorbei und ging zu dem letzten Schiff in der Reihe, eben jenem, mit dem ich vor neun Wochen entkommen war. Ich wußte, daß seine Steuerung blockiert und daß die Maschine auf geraden Kurs zur Hagroon-Welt programmiert war. Ich öffnete die Tür, setzte meine Last auf den Metallboden ab, stieß sie wei ter ins Innere des Schiffs hinein und sah mich nach der Bahnhofs-Uhr um. Dzok und ich hatten ausgerechnet, daß die Höllenmaschine Punkt zwei Uhr morgens losge gangen war. Jetzt war es Zweiundzwanzig Uhr fünfund vierzig – drei Stunden und fünfzehn Minuten bis zur Se kunde X. Ich hatte noch fünfzehn Minuten Zeit. Dreieinhalb Stunden brauchte das Schiff bis zur Hagroon-Linie. Der Zünder der Diskontinuitäts-Maschine war bereits eingeschaltet. Er summte dem Augenblick kataklysmi scher Aktivität entgegen. Der dadurch verursachte Ener gieverlust würde den Energiestau anzapfen, durch den die Realität der betroffenen A-Linie konstituiert wurde. Ich hatte die Maschine ihren Ingenieuren unter den Hän den weggestohlen, als diese ihr Werk im wesentlichen abgeschlossen hatten. Wenn ihre Zeit kam, würde sie funktionieren. Mein Problem war, wo das geschehen sollte … Ich kletterte in das Schiff und überblickte die Kon 185
trollschaltungen. Sie waren einfach genug. Ich brauchte nur einen Draht am Haupthebel zu befestigen … Rückwärts kletterte ich wieder heraus, suchte eine Werkbank, fand dort ein langes Stück Draht, schloß es an den weißen Hebel, der die Schiffsgeneratoren einschalte te und leitete ihn nach draußen. Noch fünf Minuten. Ich mußte den Augenblick so exakt wie möglich treffen. Ge spannt beobachtete ich den rückwärts hüpfenden Minu tenzeiger: Zehn Uhr vierunddreißig, dreiunddreißig, zweiunddreißig, einunddreißig … Sorgfältig schloß ich die Tür, prüfte, ob der Draht nicht verklemmt war, packte ihn, zog kräftig daran. Das Schiff schien einen Augenblick zu vibrieren, flimmerte und stand dann wieder solide und völlig unbewegt vor mir. Ich atmete auf. Das Beispiel der gestohlenen Ma schine hatte mich vorgewarnt: Die Ergebnisse meiner Aktionen an Objekten, die außerhalb meines Feldes blie ben, waren für mich unsichtbar. Doch ich hatte das Schiff auf den Weg gebracht. Was ich hier noch sah, war seine Realität in der Vergangenheit, in die ich mich selbst im mer noch unaufhaltsam hinabbewegte. XIV Auf der Straße hatte der Gas-Angriff gerade begonnen. Oder umgekehrt: die Mörder reinigten die Straßen von dem Gift, mit dem sie die Stockholmer Bevölkerung hat te ausrotten wollen. Ich beobachtete mit grimmigem Vergnügen, wie die braunen Gasschwaden sich über den Köpfen der Angreifer herabsenkten, sich zu Rauchfahnen formten, verdichteten und schließlich in die Öffnungen der Kanister hinein krochen. Die mit den vollen Kanister beladenen Invasoren 186
schwankten in ihrem seltsamen Rückwärtsschaukelschritt zurück ins HQ. Und wieder folgte ich ihnen, drängte mich – nun schon daran gewöhnt – durch die Menge, folgte ih nen durch die Korridore, hinunter in den Abstellraum bis zu der gleißenden Scheibe des Tors zur Null-Zeit, durch das sie zurücksprangen, um zu ihren Schiffen zu gehen. Ich blieb vor der Scheibe stehen und überlegte ange strengt. Die Gefahr war noch nicht vollständig gebannt. Ich mußte weiter das Richtige tun. Wenn auch die Exi stenz des Universums gesichert schien, mußte ich doch auch versuchen, die Invasion und Vergasung der Haupt stadt zu verhindern. Als der letzte der Hagroons rückwärts durch das Licht tor gesprungen war, blieb es verlassen in dem leeren Kel ler. Ich wartete. Minuten subjektiver Zeit vergingen, während ich mich weiter rückwärts bewegte, zurück bis zu dem Augenblick, in dem die Hagroons ihren Eingang in unsere Normalzeit erstmals aufgebaut hatten. Plötzlich zitterte die Scheibe, schrumpfte zu einem winzigen Lichtpunkt von unglaublicher Intensität zusammen und verschwand. Ich blinzelte in die Dunkelheit und schaltete dann die kleine Lampe aus der Werkzeugtasche an, die ich im Ge fängnis eingesteckt hatte. Von dem Lichttor zwischen Normal- und Null-Zeit war nichts mehr zu sehen. Es gab aber auch keine Maschine, die es aufgebaut haben könn te. Ich wartete eine weitere Viertelstunde, kontrollierte dann die Instrumente an meinem Handgelenk und ging noch einmal Dzoks Instruktionen durch. Dann drehte ich den Knopf, der mich zurück in die Null-Zeit bringen konnte. Wieder fühlte ich, wie sich das Universum um stülpte. Wieder stand ich in der Null-Zeit, allein, schwer atmend vor Aufregung, aber sonst in Ordnung. 187
Ich sah mich um und entdeckte bald, was ich suchte: einen kleinen, harmlos aussehenden Metallkasten, der – halbversteckt – hinter einem Stapel ähnlicher Kästen mit abgelegtem Archivmaterial des Sicherheitsdienstes lag. Das mußte die Maschine sein, die das Lichttor aufbaute. Ich streckte die Hand danach aus. Sie summte leise, be reit ihren monströsen Besitzern den Weg zu öffnen, wenn sie ankamen. Das mußte – im normalen Zeitablauf – in wenigen Minuten geschehen. Ich zog einen Schraubenschlüssel aus dem Werkzeug satz, drehte ein paar Muttern los und öffnete den Deckel. Er gab ein Gewirr von mir inzwischen schon halbwegs vertrauten elektronischen Elementen frei, die denen in meinem S-Anzug ähnelten. Ich studierte die Stromkreise, entdeckte das Gegenstück unserer Moebius-Spule, die auch das Herzstück meines S-Anzugs bildete. Der Keim eines Gedankens formte sich in meinem Gehirn. Vielleicht war das unmöglich. Mir fehlte viel zuviel Wissen über die komplizierte Null-ZeitTechnologie. Doch wenn das klappte, würde ich ein Er gebnis erzielen, das mich schon jetzt in höhnischer Vor freude grinsen ließ … Dzok hatte mir ja einiges über die Funktionen des SAnzugs erzählt. Und ich hatte ihm zweimal zugeschaut, als er dessen Schaltungen modifiziert hatte. Wenn ich das jetzt auch an dieser Maschine hinbekam … Zwanzig Minuten später war ich fertig. In der Theorie war es auch einfach genug. Durch Umpolen verschiede ner Kontakte hatte ich die Ausrichtung des LinsenEffekts modifiziert. Nun mußte das Tor den, der durch es hindurchtrat, in die Zukunft versetzen. Ich hoffte, wenn meine Einschätzung richtig war, würde die Versetzung 188
etwa zwei Wochen betragen. Damit konnte ich beruhigt die Funktion meines S-Anzugs umkehren und meine ei genen Leute warnen. Mit zwei Wochen Frist mußte es eigentlich gelingen, den Sicherheitsdienst von der dro henden Gefahr der Invasion zu überzeugen. Natürlich würde es eine Menge kleinerer Probleme geben – so zum Beispiel die simultane Existenz von zwei Ex-Diplomaten mit dem Namen Bayard. Doch das war wirklich neben sächlich, wenn ich die Pläne der Hagroons endgültig durchkreuzen konnte. Ich setzte den Deckel auf den Kasten und schraubte ihn wieder fest. Zum erstenmal hatte ich die berechtigte Hoffnung, daß mein verrücktes Spiel sich gelohnt haben könnte, daß ich – durch meinen nicht eingeplanten Marsch rückwärts durch die Zeit bis vor den Angriff der Hagroons – den Lauf der bevorstehenden Ereignisse tat sächlich abgeändert haben könnte. Wenn ich recht hatte, mußten die Invasoren zu spät kommen, mußte der GasAngriff in das Reich der nie verwirklichten Möglichkei ten verbannt worden sein, mußten die friedlich schlafen den Einwohner dieser Stadt am nächsten Morgen aufwa chen, ohne zu wissen, daß sie gestorben und wieder auf erstanden waren … Ich riß mich von diesem hoffnungsvollen und zugleich gespenstischen Gedanken los, bereitete mich auf den be vorstehenden Sprung zurück in die Normalzeit vor und nahm die Tortur ein letztes Mal auf mich. Aufatmend und blinzelnd stand ich wieder in der nor malen Zeit, in dem dunklen, verlassenen Abstellraum. Hier gab es keinen Hinweis auf das Lichttor – und wenn meine Schätzung nicht falsch war, würde es auch erst in etwa zwei Wochen aufleuchten. Dann aber würden die Hagroons direkt in das Feuer wartender Sicherheitspoli 189
zisten des Imperiums springen. Wieder im Korridor, leckte ich mir über die Lippen. Sie waren trocken wie die einer Mumie. Vor dem näch sten notwendigen Schritt hatte ich Angst. Manipulationen am S-Anzug waren eine riskante Sache. Und ich hatte eigentlich schon genug Experimente hinter mir in dieser Nacht. Trotzdem mußte ich es tun. Weil das Licht für die notwendige Feinarbeit hier zu düster war, ging ich hinauf ins Erdgeschoß. Dort durch querte eine Gruppe von Männern das Foyer und ging rückwärts die Stufen hinauf in den ersten Stock. Nur mit Mühe konnte ich den Impuls unterdrücken, mit einem Freudenschrei auf sie zuzurennen. Sie würden mich we der hören noch sehen. Ich war noch immer ein Phantom und lebte in einer Welt lebendiger Erinnerungen, die immer weiter zurückgespult wurden, wie ein alter Film. Deshalb mußte ich unbedingt diese Funktion des Anzugs abschalten und dann – ein beinahe noch größeres Pro blem – versuchen, jemanden zu finden, der mir glaubte. Zugegeben – es war nicht leicht für die anderen, meine Geschichte ernst zu nehmen, wenn doch gleichzeitig mein Double, mein anderes Ich, allein durch seine Exi stenz meine Authentität widerlegte. Denn ich, das Ich von vor neun Wochen minus der Narben, die ich mir in der Zwischenzeit eingehandelt hatte, war ja immer noch zu Hause und dinierte gemeinsam mit der unvergleichli chen Barbro in meiner luxuriösen Villa. Und während ich dort gleich einen mysteriösen Anruf erhalten mußte, würde ich hier in einem fremdartigen Anzug auftauchen wie ein übel zerschundener Vagabund, der dringend ei nen Barbier und ein Bad brauchte. Doch diesmal hatte ich Zeit für meine Überzeugungsversuche … Ich fand ein leeres Büro, schloß die Tür von innen und 190
schaltete das Licht ein. Dann, ohne noch länger über die möglicherweise verheerenden Folgen eines Fehlers nach zudenken, schaltete ich die Energiezelle des S-Anzugs ab. Ich löste den Helm, zog den Anzug aus und sah mich um. Alles schien normal. Ich trat an den Schreibtisch und nahm einen Briefbeschwerer in die Hand. Ohne Aufre gung sah ich ihn immer noch auf seinem Platz liegen, obwohl ich sein Duplikat in der Hand hielt. Ich warf es zurück auf den Tisch. Nun existierte es nur noch einmal. Das Duplikat war wieder vom Strom der Normalzeit auf genommen worden. Das hatte ich erwartet. Selbst ohne Anzug bewegte ich mich immer noch rückwärts. Nun holte ich den Werkzeugkasten heraus, öffnete die Brustklappe des Anzugs und überlegte lange, welche Drähte jetzt rückzukoppeln waren. Wenn ich geahnt hät te, was mir bevorstand, hätte ich das Ganze mit Dzok noch ein paarmal mehr durchgeprobt. Doch wir hatten beide in der Eile vergessen, daß der Anzug, wenn er erst einmal aktiviert war, weiter rückwärts gleiten konnte. Mit bohrenden Kopfschmerzen und einem Gefühl, als hätte ich statt der Zunge ein altes Rattennest im Mund, schloß ich meine Basteleien endlich ab. Mein leerer Ma gen krampfte sich vor Hunger zusammen. Ich war gute vierundzwanzig Stunden ohne Essen, ohne Trinken und ohne Schlaf. Ich zog den Anzug wieder an, schloß den Helm und war einfach zu müde, um mir jetzt noch weiter Sorgen zu machen. Ich drückte ein paar Knöpfe – und wußte im gleichen Augenblick, daß da etwas schiefgegangen war, verdammt schief sogar. Das war nicht die gewohnte Übelkeit, die ich erwartet hatte, sondern ein geradezu klaustrophobisches Gefühl 191
von enormem Druck und großer Hitze. In meinen Ohren summte es, in meiner Kehle schien ein Korken zu stek ken, als ich Luft zu holen versuchte. Ich trat wieder an den Schreibtisch. Meine Beine wa ren Bleigewichte. Ich packte den Briefbeschwerer. Er war jetzt unheimlich schwer. Außerdem war er glühend heiß. Ich ließ ihn fallen und holte erneut tief Atem. Dabei hatte ich das Gefühl, ich würde ertrinken. Die Luft war dicht wie Wasser und heiß wie Dampf. Als ich ausatmete, bestand die ausgestoßene Luft aus Eiskristallen. Meine Anzugärmel bedeckten sich mit ei ner weißen Schicht. Ich berührte sie und fühlte Hitze und Glätte. Das war Eis, heißes Eis, was sich da auf meinem Anzug bildete. Die Schicht wurde zusehends dichter. Jetzt begann sie auch die transparenten Teile meines Helms zu bedecken. Ich wischte mit dem Arm darüber und sah die Kruste brechen und Teile davon mit unge heurer Geschwindigkeit durch die Luft sausen. Ich ver suchte zu gehen, war aber am Boden wie festgeklebt. Ein Eispanzer, der allmählich schwer wie Marmor wurde, begann mich einzuhüllen. Der Helm war wieder fast ganz zugefroren. Wieder versuchte ich den Arm zu heben. Er war steif. Und plötz lich begriff ich: meine Manipulationen an der Schaltung waren ins Auge gegangen. Zwar hatte ich mich wieder in die normale Richtung des Zeitstroms zurückversetzt, doch meine entropische Rate betrug nur noch einen Bruchteil des Normalen. Ich wurde langsam aber sicher zu einem Eisdenkmal. Für den Inhaber dieses Büros stand am nächsten Morgen eine nette Überraschung be reit, wenn ich mich nicht irgendwie aus dieser Klemme befreien konnte. 192
Ich spannte meine Muskeln, warf mich mit aller Kraft zur Seite und stürzte auf den Boden. Der Eispanzer zer brach. Ich bewegte mich so schnell ich konnte, bekam einen halb erstarrten Arm hoch, tastete nach dem Kon trollhebel, fummelte mit erfrorenen Fingern, drehte … Der Druck ließ nach. Der Helm wurde wieder durch sichtig, war jetzt von hunderten Tautropfen bedeckt, und nun schienen sie gar zu kochen und zu verdampfen. Eine dichte Wolke Wasserdampf stieg von meinem Anzug auf, als das restliche Eis schmolz. Ich richtete mich auf und schwebte auf einmal in der Luft in Richtung Decke. Dann sank ich wieder wie ein angestochener Gasballon, landete auf einem Fuß, spürte ein Reißen im Gelenk und bekam endlich auch den anderen Fuß auf die Erde. Mit vor Schmerzen zusammengebissenen Zähnen fluchte ich über die Schinderei, die mir dieser verdammte Job ein brachte. Dann griff ich wieder nach dem Kontrollhebel und – suchte ihn vergeblich. Ich hatte ihn mit meinen halberfrorenen Fingern abgebrochen. Vorsichtig humpelte ich zur Tür, griff nach dem Drük ker, drehte ihn und schrie vor Schmerzen auf. Zer quetschtes Metall riß mir die Handfläche auf. Ich hatte die Kräfte eines Giganten, doch mir fehlte die entspre chend feste Haut. Meine entropische Rate war nun dop pelt oder gar dreimal so hoch wie normal. Mein Körper war so heiß, daß man darauf Wasser kochen konnte. Jede Berührung verursachte mir Schmerzen. Ganz vorsichtig drehte ich noch einmal den Drücker. Träge schwang die Tür auf. Sie war schwer wie eine Grabplatte. Ich trat hin aus auf den Korridor – und blieb schwankend stehen. Ein sieben Fuß großes Exemplar von Hagroon spähte finster blickend aus einem dunklen Eingang nur zehn Fuß von mir entfernt in den Korridor. Ich preßte mich flach 193
an die Wand. Mit diesem Burschen hatte ich nicht ge rechnet. Vermutlich war er ein Kundschafter, der Stun den vor dem Haupttroß seiner Leute in Marsch gesetzt worden war. Ich hatte seine Kumpane verschwinden se hen. Dann war das gleißende Tor verlöscht, und ich hatte angenommen, daß sie alle gegangen wären. Wenn aber das Tor schon eine oder mehrere Stunden vorher schon einmal für kurze Zeit aktiviert worden war – als Test und um einen Kundschafter vorauszuschicken … Das war jetzt allerdings nur noch eine akademische Frage. Der Bursche war nun einmal hier, groß wie ein Grisly und zweimal so bösartig. Der gewaltige Koloß in seinem sackartigen Druckanzug hob jetzt langsam im Zeitlupentempo einen Arm, setzte einen Fuß vor den an deren und bewegte sich unaufhaltsam auf mich zu. Ich sprang zur Seite, stürzte beinahe, während er mit voller Wucht gegen die Wand knallte, vor der ich soeben noch gestanden hatte. Die Stelle war schwarz verbrannt von der Hitze, die ich ausstrahlte. Ich wich weiter zurück. Zwar war ich erheblich schneller als er, aber wenn er mich erst mal in seinen Knochenbrechergriff kriegte … Er selbst schien verrückt vor Angst. Das merkte ich, als ich den irren Blick hinter der dunklen Sichtplatte sei nes Helms auffing. Wahrscheinlich war er schon im Kel ler gewesen und hatte dort vergeblich auf seine Kumpane gewartet. Ich fühlte einen Stein von meinem Herzen plumpsen. An seinem Verhalten erwies sich der Erfolg meines Ver suchs. Etwa eine Stunde lang hatte ich an meinem Anzug herumgebastelt. Eine weitere halbe Stunde hatte ich mich in meinem Zeitlupenzustand herumgequält und einen privaten Eisberg errichtet. Während dieser ganzen Zeit waren die Hagroons ausgeblieben. Ich konnte nun also 194
tatsächlich Technikern und Philosophen eine große Neu igkeit berichten: ein Besucher im Reich der Vergangen heit konnte die schon geschehene Zukunft modifizieren, konnte schon Geschehenes aus der Realität eliminieren. Doch der Hagroon vor mir war sich dieser höchst sen sationellen Aspekte seiner Gegenwart nicht bewußt. Er war ein Kämpfer, darauf trainiert, kleine, haarlose An thropos zu fangen und ihnen das Genick zu brechen. Er sprang mich erneut an. Es war wieder einer dieser merk würdig unbeholfen wirkenden Zeitlupensprünge, die ich meiner erhöhten Entropierate verdankte. Wieder prallte er gegen die Wand, geriet einen Augenblick ins Schleu dern, als er mich zu packen versuchte … Doch diesmal überschätzte ich die Entfernung und meine Schnelligkeit und spürte seine Hand an meinem Ärmel. Dieses ungeschlachte Monstrum war – unter glei chen Bedingungen – schnell wie der Blitz. Ich riß mich los, stolperte, verlor den Boden unter den Füßen .;. … und dann war er über mir, riß mich mit seiner Bag gerhand am Arm hoch, umschlang mich und drückte mich an seine gewaltige Brust. Ich fühlte unter dem un geheuren Druck die Luft aus meinen Lungen entweichen, hörte beinahe das Knacken meiner Rippen. Das Blut schoß mir in die Augen und trübte mir im Nu die Sicht. Doch der Stoff seines Druckanzugs begann Blasen zu werfen und zu qualmen. Die tödliche Umarmung löste sich. Ich sah sein Gesicht dicht vor mir, den offenen Mund und hörte, wie aus weiter Ferne durch seinen und durch meinen Helm hindurch seine qualvollen Schmer zensschreie. Dann wich er vor mir zurück, mit hervor quellenden Augen die gespreizten Finger seiner Hände betrachtend. Das rohe Fleisch lag bloß. Ihre Haut war unter der glühenden Hitze meines Körpers verbrannt. 195
Trotzdem riß er sich jetzt damit den Anzug auf und ver suchte geschmolzenes Plastikzeug aus seinem versengten Brustfell herauszufingem. Unter dem offenen Anzug ent deckte ich eine vom Kinn bis zum Nabel reichende Brandwunde zweiten Grades. Vor meinen Augen begann sich alles zu drehen. Ich taumelte. Nur noch im Unterbewußtsein fing ich den Sturz mit ausgestreckten Händen auf, spürte ich den Bo den gegen mein Kinn schlagen, Haut reißen und den Ge schmack von heißem Blut. Dann sah ich nur kreisende Sterne, die in eine weiche, bodenlose Finsternis hinab wirbelten … Als ich erwachte, lag ich auf dem Rücken und fühlte eine arktische Kälte wie einen eisigen, stählernen Schraub stock meine Brust umklammern. Pfeifend holte ich Luft und stützte mich mit den Händen auf den Boden. Sie fühlten sich taub an, wie eine Kinderzunge nach einer Riesenportion Eis. Trotzdem kam ich irgendwie auf die Beine. Meine Fußabdrücke waren in den Holzboden ge brannt. Dort, wo ich offenbar längere Zeit gelegen hatte, befand sich eine größere, schwarze Brandfläche. Wo immer ich Gegenstände bei meiner Berührung versengte, entzogen sie mir zugleich so viel Hitze, daß ich jämmer lich fror. Der Hagroon war verschwunden. An der Wand sah ich einen blutigen Handabdruck. Wahrscheinlich war er die Kellertreppe hinabgetaumelt und hatte noch einmal ver sucht, dort das Lichttor zu finden und zu entkommen. Da konnte er lange warten … Zähneklappernd lehnte ich mich an die Wand. Von meinen Alleingängen zur Ret tung des Universums hatte ich ein für allemal genug. Es war jetzt Zeit, daß sich ein anderer einschaltete, den 196
Ruhm mit mir teilte und – vor allem – den verdammten Anzug wieder ins Lot brachte, ehe ich endgültig ohn mächtig wurde und mir langsam aber sicher einen Weg ins Kellergeschoß brannte. Mit dem vagen Gedanken, daß ich irgendeinen freund lichen Menschen finden müsse, wandte ich mich wieder der Eingangshalle zu. Richthofen war ja heute abend im Haus. Wahrschein lich verpaßte er gerade einem armen Teufel namens Bay ard den dritten Grad, bloß weil ein anderer armer Teufel mit demselben Namen ein paar Kilometer weit weg be hauptete, er heiße auch Bayard und das Ende der Welt stehe vor der Tür. Ich kam bis zur nächsten Ecke, fühlte heiße Fieber schauer mein Gesicht verbrennen, während die Kraft mir aus den Beinen schwand – aufgesaugt von dem schreck lichen entropischen Gefälle zwischen meinem davonlau fenden Feld und dem des mich umgebenden Raums. Man soll eben doch die Finger von Apparaten lassen, von denen man nichts versteht, Mr. B. Solche Maschinen sind nun einmal von einem Stamm schlauer AffenMenschen für ebenso schlaue Affen-Menschen erfunden und nicht für uns dumme Sapiens, die sie – nicht ganz zu Unrecht – als eine Art mörderische Irre betrachten … Wieder stürzte ich und beobachtete mit einer matten Neugierde den Rauch, der zwischen meinen Fingern auf stieg. War das nicht lustig? Ein verdammt guter Witz war das. Ich zog mich an der Wand hoch. Der Farbanstrich warf Blasen. Wieder kam ich der Treppe ein paar Schritte näher. Armer alter Bayard. Der würde ja ganz schön über rascht sein, wenn er in den kleinen Kellerraum kam und dort den vor Angst halb verrückten und halb verbrannten 197
einzigen Zurückgebliebenen einer so trefflich geplanten Invasion vorfand. Harte Burschen waren das, die Ha groons. Aber von wahrer Mordlust hatten sie keine Ah nung. Die sollten sie erst noch kennenlernen, wenn sie demnächst mit dem guten alten Homo Sap zusammen stießen. Arme große Ungeheuer. Gegen den hatten sie keine Chance … Wieder ein schwerer Sturz. Mein Mund war voll Blut. Diesmal war ich aufs Gesicht gefallen. Gar nicht so übel. Das macht einem den Kopf wieder klar. Wohin bin ich eigentlich unterwegs? Ach richtig. Den guten alten Bay ard warnen. Ich kann den armen Kerl doch nicht in so viele unerwartete Gefahren hineintapsen lassen. Muß zuerst mal da ‘runter … hab’ ja noch die brave Bolzen schleuder … und den mörderischen Kleiderschrank erle digen … Nur dumpf bemerkte ich, daß ich an einer Tür lehnte. Da gab sie auch schon nach, schwang weit auf. Ich stürz te, polterte Hals über Kopf eine Treppe hinunter. Wieder lag ich auf eiskaltem Boden … dieses Gewicht … eine lange Reise ist das … Schmerzgepeinigt komme ich wieder auf die Beine. Wie ein langsam wirkendes Gift steigt die Kälte in mei nem Körper hoch … Die braune Gaswolke … spreizt ihre Beine über die ganze Stadt … Ich muß sie warnen … muß berichten … Aber sie glauben mir nicht. Alles Idioten. Ohne jede Phantasie. Mein Gott, tut das weh. So ein langer dunkler Korri dor. Und dieses flackernde Licht. Hell, dunkler, heller … Da ist er ja. Was für ein Ungeheuer. Armes Monster. Schwer verletzt hockt er da in einer Ecke, zusammenge krümmt, zitternd und stöhnend. Bist ja von dir aus hier 198
her gekommen, verfluchter, menschenvergasender Hu rensohn! Jetzt sieht er mich, rappelt sich tatsächlich noch einmal auf. Diese Zähne. Der gute alte Dzok sieht damit verglichen aus wie ein Pflanzenfresser. Hast du denn immer noch nicht genug? Flipp die Waffe in die Hand! Drück endlich ab! Die Bolzenschleuder entglitt meiner tauben Hand, schlidderte über den Boden. Ich tastete danach, mit Hän den wie Stümpfen. Dann sah ich die riesige Gestalt. Zum Teufel mit der Waffe! Kann sie ja doch nicht mehr ab drücken! Schnelligkeit – das ist jetzt die einzige Waffe, die ich noch habe. Triff ihn tief! Nutz sein Gewicht für deine Zwecke! Wende seine Kraft gegen ihn! Judo … Lehrgang in fünf Stunden … Beginn montags, um … Er kam mit eingezogenem Kopf, tief gebückt auf mich los. Ich stolperte zur Seite, stürzte und hörte im gleichen Augenblick durch meinen Helm den dumpfen Knall, mit dem der harte Hagroon-Schädel ungeschützt – den Helm hatte er sich wohl in der Agonie abgerissen – gegen die Kante eines Stahlschranks schlug. Er fiel wie ein toter Elefant zu Boden. Ich war schon wieder auf Händen und Füßen, fühlte nichts mehr … Nur noch einmal nachse hen, ob er wirklich … Ich zog mich an einem Kasten hoch, wankte mit drei zitternden Schritten auf ihn zu, beugte mich über ihn, tastete seinen Körper ab, sah die klaffende Wunde über seinem Ohr … Da hörte ich ein Geräusch an der Tür. Ein Mann war in den Keller eingetreten, nur undeutlich in dem flak kernden Licht, das ich mit schwindendem Bewußtsein wahrnahm. Ich beugte mich vor, glotzte mit dem seltsa men Gefühl des Den-hast-du-doch-schon-mal-gesehen, Den-kennst-du-doch … 199
Im Zeitlupentempo kommt er auf mich zu. Ich blinze le, wische mit dem Arm über den Helm, um besser zu sehen. Jetzt schwebt er in der Luft. Wie ein Tormann, der einen halbhoch geschossenen Elfmeter im Flug zu fangen versucht, streckt er beide Hände nach mir aus. Ich versu che rückwärts auszuweichen, strecke abwehrend eine Hand aus, wie um ein unaussprechliches Schicksal ab zuwehren … Lange, rosa Funken sprühen aus meiner Hand auf sei ne zu, als er so durch die Luft auf mich zu schwimmt. Ich höre ein Geräusch wie von im Feuer prasselnden Fett und erkenne einen Augenblick lang das Gesicht vor mir … Dann verwandelt eine lautlose Explosion die Welt in blendendes Weiß und wirbelt mich davon ins Nichts. XV Das Bett war wunderbar: breit und kühl und sauber. Auch der Traum war wunderbar: Barbros Gesicht, so vollkommen wie ein Künstler sich die Göttin der Jagd nur vorstellen kann, umrahmt von tiefrotem, seidig glän zendem Haar. Gleich hinter dieser Vision jedoch warteten wie Ge spenster eine Unzahl düsterer Gedanken darauf, daß sie endlich beachtet wurden. Ich hatte nicht die geringste Lust dazu. Nein, dieser nette, freundliche Traum war gut genug für einen so bescheidenen Menschen wie mich. Wenn er nur nicht verschwand. Wenn er mich nur nicht der Erinnerung an gräßliche Gestalten überließ, die durch einen faulig stinkenden Tunnel stampften, der Erinne rung an Schmerzen, Untergang, an die Qualen des Versagens und sterbender Hoffnung … Der Traum beugte sich über mich. In seinen rauch 200
grauen Augen standen Tränen. Aber der Mund lächelte. Und dann lag er auf meinem, und ich fühlte warme, wei che Lippen, ganz reale Lippen, nicht die aus Träumen, die sich einem immer wieder entziehen. Ich hob eine Hand, spürte ein Gewicht wie einen Amboß, sah ein rie siges Bündel Bandagen … »Barbro«, sagte ich und hörte meine Stimme ferne krächzen. »Manfred, er ist wach! Er erkennt mich!« »Na weißt du, ein Mann muß schon ziemlich viel durchmachen, wenn er deinen Anblick vergessen soll«, antwortete eine kühle Stimme. Ein zweites Gesicht er schien über mir, weniger hübsch als das erste, aber eben so vertraut. Baron von Richthofen lächelte auf mich her ab und sah gleichzeitig gespannt und aufgeregt aus. »Brion, Brion. Was ist passiert?« Barbros kühle Fin gerspitzen strichen über mein Gesicht. »Als du nicht heim kamst, habe ich angerufen. Und Manfred sagte, du wärst schon lange fort. Und dann haben sie das Gebäude abgesucht und eingebrannte Fußabdrücke gefunden …« – »Es ist besser, du fragst ihn noch nicht zu viel«, murmel te Manfred. »Nein, natürlich nicht.« Eine heiße Träne fiel auf mein Gesicht. Barbro lächelte und wischte sie weg. »Aber jetzt bist du in Sicherheit. Schlaf dich aus, Brion. Wir können später reden.« Ich versuchte zu sprechen, versuchte zu erklären, ver suchte ihnen zu sagen, daß sie bleiben sollten … Aber der Traum verschwand, und Schlaf schwappte über meine Erinnerungen wie warmes, duftendes Bade wasser. Ich entspannte mich und versank in seine grünen, dunklen Tiefen … 201
Als ich das nächste Mal erwachte, hatte ich einen Bären hunger. Barbro saß neben meinem Bett und sah aus dem Fenster auf einen Baum, der in der vollen Pracht seiner grünen Blätter vor dem goldenen Abendhimmel stand. Ich lag eine Weile still, beobachtete sie und bewunderte die Linie ihrer Wangen, ihres Halses und die langen, dunklen Wimpern … Sie drehte sich zu mir um, und ein Lächeln wie ein Sonnenstrahl nach einem Frühlingsregen erwärmte mich durch und durch bis hinunter zu meinen bandagierten Füßen. »Ich bin wieder klar«, sagte ich. Meine Stimme war immer noch heiser. Aber ich konnte mich verstehen. Eine lange, wunderschöne Stunde flüsterten wir ein ander verliebten Unsinn zu, nur unterbrochen von zarten, federleichten Küssen. Dann kamen Manfred und Her mann und Luc, und die Stimmung wurde etwas nüchter ner. »Sag mal, Brion«, begann Manfred in gespielter Strenge, »wie hast du es fertiggebracht, mein Büro zu verlassen, eine halbe Stunde zu verschwinden und nach dieser Zeit bewußtlos neben einem toten Affenmenschen zu liegen? Wie kommst du zu diesem höchst merkwürdi gen Anzug, einem drei Tage alten Bart, siebenundzwan zig verschiedenen Schnitten, Rissen, Quetschungen, um von einigen Verbrennungen und Erfrierungen und einem angeknacksten Zahn gar nicht erst zu reden?« »Was für einen Tag haben wir heute?« fragte ich. Er sagte es mir. Ich war also fast achtundvierzig Stun den lang bewußtlos gewesen. Zwei Tage waren nach der geplanten Invasion der Hagroons vergangen. Sie waren nicht gekommen. »Hört zu«, sagte ich. »Was ich euch zu erzählen habe, 202
klingt zwar völlig unglaubwürdig. Aber da ihr ja die Lei che neben mir gefunden habt, werdet ihr mir trotzdem Glauben schenken.« »Eine wirklich seltsame Kreatur«, sagte Hermann. »Ich nehme an, er hat dich angegriffen. Das würde seine Wunde erklären. Allerdings diese Verbrennungen …« Ich berichtete. Sie hörten zu. Ich mußte zweimal län gere Pausen einlegen, um mich zu verschnaufen und um eine Tasse Hühnerbrühe zu trinken. »Das wär’s«, schloß ich endlich. »Und nun sagt mir, daß ich das alles bloß geträumt habe. Aber vergeßt nicht zu erklären, wie ich den toten Hagroon hierher gezaubert habe.« »Deine Geschichte ist völlig unmöglich, lächerlich, phantastisch und ganz offensichtlich das Produkt einer progressiven Geisteskrankheit«, grinste Hermann. »Trotzdem glaube ich dir jedes Wort. Meine NetzIngenieure haben mir ein paar höchst merkwürdige Auf zeichnungen vorgelegt. Was du erzählst, paßt zu ihren Beobachtungen. Und deine Idee, das Lichttor so zu ju stieren, daß diese Bestien erst in ein paar Wochen hier eintreffen, finde ich ausgesprochen interessant …« »Sorgt auf jeden Fall dafür, daß ein Empfangskomitee für sie bereitsteht, wenn sie kommen«, sagte ich. Hermann räusperte sich. »Darauf wollte ich gerade kommen, Brion. Du hast ja selbst darauf verwiesen, daß du mit der Modifizierung dieses höchst komplizierten M C-Geräts in deinem Wunderanzug nicht ganz klarge kommen bist. Du hast zwar versucht, durch die Manipu lation an ihrem Lichttor die Hagroons in die Zukunft ab zuleiten. Statt dessen hast du sie aber auf eine Ebene weit in der Vergangenheit unserer Null-Null-Linie versetzt. Wir untersuchen noch, wo sie gelandet sind …« 203
Einen Augenblick war es totenstill. »Das verstehe ich nicht ganz. Willst du damit sagen, daß sie ihre Invasion schon durchgeführt haben? Vorigen Monat oder …?« »Die exakte zeitliche Versetzung kann ich noch nicht angeben, Brion. Aber es ist sicher, daß sie zurückgegan gen sind. Es ging gar nicht anders. Das hättest du aus den Erklärungen deines Freundes Dzok eigentlich wissen müssen. In die Zukunft – das ist unmöglich …« »Mach dir nichts draus, Brion«, tröstete Barbro mich. »Wo sie auch immer stecken mögen, uns machen sie kei ne Sorgen mehr, dank deiner Tapferkeit, mein Held.« Das durch diesen Ausspruch provozierte Gelächter der anderen ließ mich vor Verlegenheit rot werden. Manfred half mir darüber hinweg, indem er auf meine Begegnung mit dem feurigen Mann zu sprechen kam. »Es muß doch ein seltsames Gefühl sein, mein Lieber, wenn man seiner eigenen Person Auge in Auge gegenübersteht.« »Das erinnert mich daran«, stotterte ich. »Wo ist … das andere … Ich?« Niemand antwortete. Dann schnippste Hermann mit den Fingern. »Ich glaube, ich kann dir das erklären. Das Ganze ist ein noch nicht gelöstes Problem der Physik des Kontinuums. Aber ich denke, wir können als gegeben annehmen, daß das Paradoxon einer Auge-in-AugeKonfrontation zweier identischer Wesen nach den Geset zen der alternierenden Realität unmöglich ist. Besser: unerträglich. Denn wenn es doch einmal zu einer solchen Konfrontation kommt, muß das eine der beiden Wesen nachgeben. Der unerträgliche entropische Stress löste sich einmal, indem der eine Aspekt deines Ego in die sogenannte Null-Zeit geschleudert wurde, wo es dann die Hagroons getroffen hat, wo dein Abenteuer begann …« »Mein anderes Ich wäre dann also auch jetzt wieder 204
auf dieser Reise«, schauderte ich. Hermann zuckte die Schultern. »Ich glaube eigentlich nicht. Aber dieses Rät sel des Kontinuums ist noch nicht gelöst. Wir werden uns allerdings dank deiner Hinweise darum bemühen kön nen.« »Dein Freund Dzok«, lenkte Barbro mich ab, »wir müssen doch etwas unternehmen, um seinem Volk gegen diese gräßlichen Monstren zu helfen. Wir könnten ihnen Truppen schicken …« »Ich fürchte, du hast die Diskontinuitäts-Maschine vergessen, von der Brion berichtet hat, meine Liebe«, sagte Hermann. In seinen Augen glitzerte es grausam und amüsiert zugleich. »Nach der Sorgfalt, mit der Brion sei ne Operation vorbereitet hat, könnte ich mir eigentlich vorstellen, daß das Hagroon-Schiff mit der Höllenma schine an Bord fahrplanmäßig auf jener Welt-Linie ein getroffen ist. Die Bewohner von Xonijeel haben also von den Hagroons nichts zu fürchten. Unser Brion hat sie aus der Liste ausradiert, auf der die drohenden Gefahren für das Kontinuum verzeichnet sind.« Nach einer langen Zeit des Schweigens, in der Her mann uns drei betrachtete, meldete sich Barbro: »Laßt uns den Menschen auf dieser sub-technischen A-Linie helfen, die wir bisher noch nicht kannten. Arme Olivia! Sie hat so lange von einer helleren und schöneren Welt geträumt. Und wir haben alle diese Schätze allein für uns reserviert.« »Da hast du recht, Barbro«, stimmte Manfred ihr zu. »Wir müssen etwas für sie tun. Aber es wird nicht ein fach sein, das Licht unserer Erkenntnis in diese dunkle Welt zu tragen. Wie wir das auch anstellen werden – es wird immer Leute geben, die sich dem widersetzen wer den. Dieser Napoleon V. glaubst du, der wird gern ein 205
Vasall unseres Herrschers sein?« Barbro schaute mich an. »Du hast dich in Olivia bei nahe verliebt, Brion«, sagte sie. »Aber ich verzeihe dir. Ich bin zwar nicht selbstlos genug, sie in unser Haus ein zuladen. Aber ihr solltet sie wirklich auf unsere Welt ho len. Wenn sie so klug und schön ist, wie du sagst, wird sie schnell eine Menge Freunde haben …« »Sie war nicht halb so bezaubernd wie du«, wider sprach ich nachdenklich. »Aber du hast recht. Für sie wäre es eine wunderbare Sache. Ob wir allerdings die anderen Menschen auf ihrer Welt mit unseren Errungen schaften beglücken sollten. Ich bin da nicht so sicher …« »Ein Anruf für Sie, Herr Göring!« Ein junger Bursche in weißer Jacke platzte atemlos in unser Gespräch herein. »Das Telefon ist im Nebenzimmer.« Hermann ging hinaus. Wir unterhielten uns weiter. »Meiner Ansicht nach ist es ungeheuerlich, daß du die Hagroons mit ihrer eigenen Waffe ausgelöscht hast, Bri on«, sagte Manfred schaudernd. »Es war ein völlig ande rer Zweig der Menschheit, mit uns zwar nur entfernt verwandt, aber doch intelligent und mit einem überra genden technischen Wissen …« Hermann kam zurück. Er zupfte nervös an seinem Ohrläppchen und sah einigermaßen perplex aus. »Ich habe mit dem Netz-Labor gesprochen«, begann er. »Sie sollten dort berechnen, wohin du diese Bande von Invasoren nun eigentlich versetzt hattest. Die Spu ren, die unsere Instrumente dabei entdeckt haben … also wir haben früher schon eine Reihe merkwürdiger Signale aufgefangen, die wir für normale, wenn auch vorerst un erklärliche Abweichungen von den errechneten Werten halten mußten. Jetzt, im Licht von Brions Bericht, kön nen wir sie ganz neu interpretieren …« 206
»Na, mach schon voran, Hermann«, drängte Manfred ungeduldig. »Komm endlich ‘raus mit deiner Sensation!« »Die Hagroons, um es kurzzumachen, liebe Barbro, meine Herren, sind durch Brions ungeschickte Manipula tionen an ihrem Lichttor über hunderttausend Jahre in die Vergangenheit zurückversetzt worden.« Einen Augenblick lang war es totenstill im Zimmer. Dann hörte ich mich selbst lachen. Es klang wie ein ver rücktes, irres Kichern. »Sie sind also ein bißchen zu früh angekommen. Und als sie dann dort nichts Lohnendes für einen Gas-Angriff vorfanden, sind sie zurückgehüpft, um auf ihre A-Linie zurückzukehren, die ich ihnen gerade unter den Füßen weggeblasen hatte.« »Aus irgendeinem Grund haben sie das nicht mehr versucht«, widersprach Hermann. »Sie sind vielmehr mit Sicherheit in der Würm-Eiszeit geblieben. Allerdings ha ben sich die paar hundert Mann nur sehr schwer an die rauhen Lebensverhältnisse gewöhnen können, in die sie so plötzlich und schlecht ausgerüstet verschlagen wurden … Eins dürfte allerdings sicher sein: Ihren Haß gegen die haarlosen Hominiden werden sie wohl nie verloren ha ben. Zum Glück sind sie in ihrer nordischen Welt der Gletscher und der Mammuts vollkommen isoliert geblie ben, so daß sie keinen Schaden mehr anrichten konnten. Viel mehr als ein paar Knochen und Zähne hat man übri gens von ihnen nicht gefunden. Unsere Archäologen ha ben sie Neandertaler getauft …« ENDE
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