Atlan - Der Held von
Arkon
Nr. 189
Irrfahrt ins Nichts Atlan auf Entdeckungsreise - in
unbekannte Bereiche des
Mik...
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Atlan - Der Held von
Arkon
Nr. 189
Irrfahrt ins Nichts Atlan auf Entdeckungsreise - in
unbekannte Bereiche des
Mikrokosmos
von Conrad Shepherd
Im Großen Imperium der Arkoniden schreibt man eine Zeit, die auf Terra dem 9. Jahrtausend v. Chr. entspricht. Imperator des Reiches ist Orbanaschol III. ein bruta ler und listiger Mann, der seinen Bruder Gonozal VII. töten Heß, um selbst die Herr schaft antreten zu können. Gegen den Usurpator kämpft Gonozals Sohn Atlan, Kristallprinz und rechtmäßiger Thronerbe des Reiches, mit einer stetig wachsenden Zahl von Getreuen, die Orbana schols Helfershelfern schon manche Schlappe beibringen konnten. Doch mit dem Tag, da der Kristallprinz erstmals Ischtar begegnet, der schönen Varganin, die man die Goldene Göttin nennt, scheint das Kriegsglück Atlan im Stich gelassen und eine Serie von empfindlichen Rückschlägen begonnen zu haben. Jedenfalls wird Atlan – bislang der Jäger – zum Gejagten, der alle Mühe hat, den Fallen, die man ihm stellt, unbeschadet zu entkommen. Jetzt aber, da Atlan unter dem Einfluß des Molekularverdichters, der neuen Maahkwaffe im Krieg gegen Arkon, einem unaufhaltsamen Schrumpfungsprozeß unterlag, der ihn schließlich zu einem winzigen Etwas machte, das aus dem normalen Raum-Zeit-Kontinuum ausgestoßen wurde, scheint alles verloren zu sein. Der Kristallprinz gibt sich jedoch nicht geschlagen. Im Mikrokosmos gelandet, geht er auf Entdeckungsreise und beginnt die IRRFAHRT INS NICHTS …
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Die Hautpersonen des Romans:
Atlan - Der Kristallprinz auf Entdeckungsfahrt im Mikrokosmos.
Brägatz Ovrosl - Herrscher von Su-Ra.
Olra - Anführer von Ovrosis Leibgarde.
Quandd, Danju und Occy - Besatzungsmitglieder der TOPTAN-KAU.
1. Ich befand mich in einer denkbar schlech ten Laune. Ich hing in der Gravo-Strömung und betrachtete die Dnofftries, als wären sie meine persönlichen Gegner. In gewisser Weise war dies auch der Fall. Mehrere ihrer Wurfseile – mit denen sie äußerst geschickt umzugehen verstanden – lagen eng um mei nen Körper und schnürten mir die Arme an die Brust. Die Umgebung hatte sich nicht verändert. Noch immer die gleiche Szene. Noch immer der Mikrokosmos. Hier gab es weder einen schönen klaren Morgen noch ging irgendeine Sonne auf oder unter. Der Himmel über mir, falls sich der Begriff »Himmel« überhaupt anwenden ließ, glich einer dichten Wolkendecke und glühte in demselben Rot, wie fast alles hier. Ich schwebte in dem rotleuchtenden Medi um, das hier die Atmosphäre verkörperte. Eine Atmosphäre mit heißen Winden, leuch tenden Nebelbänken und ständig wechselnden Gravitationsströmungen und Schwere feldern. Unter mir lag das Tiefe Land. So wurde die Ebene mit ihren Wüsten und den schwarzen Röhren von den Dnofftries ge nannt. Nur mit Unbehagen dachte ich an die Abenteuer, die ich dort unten zu bestehen gehabt hatte. Ich erinnerte mich aber dank bar an Lajj, meinen Lebensretter. Um mich herum trieb die Flotte des »Mannes-mit-den-zwei-Namen« in dem Schwerefeld. Die großen, rechteckigen Se gel waren herabgelassen; die Wanten und Bordwände waren voll mit neugierigen Dnofftries. Von der fliegenden Festung Ssu mas sah ich nichts mehr. Der gewaltige Tor so der Piratenfestung eilte in seiner schnel len Gravo-Strömung einem unbekannten
Ziel entgegen, während er mehr und mehr auseinanderbrach. Irgendwann würden die Reste hinabstürzen. Wie lange wohl meine Ohnmacht gedauert hatte? »Nur Sekunden«, meldete sich mein Ex trasinn. Ich konzentrierte mich und versuchte, die Wurfseile abzustreifen. Ich schaffte es nicht. Wenn ich auch eine für die hier herrschen den Verhältnisse ungewöhnliche Kraft be saß, so konnte ich im Augenblick kaum et was damit anfangen. Zu eng war ich um schnürt. Ich war lediglich in der Lage, die Schultermuskeln etwas zu dehnen. Zu we nig, um mich von den Fesseln zu befreien. Jedesmal, wenn sie sich lockerten, sorgten die aufmerksamen Bewacher dafür, daß sich die Seile wieder strafften. Im Augenblick schien ich gefangen. Des halb ließ ich meine fruchtlosen Befreiungs versuche sein. Eine unmittelbare Gefahr für mein Leben bestand nicht, sonst hätte mich mein Extrasinn gewarnt; man schien mich mehr einschüchtern zu wollen. So jedenfalls interpretierte ich die erregten Diskussionen, die die blauen Kegelwesen untereinander führten. Es dauerte nicht lange, und aus dem dich ten Ring der mich umgebenden Dnofftries löste sich ein einzelner. Er verharrte dicht neben mir. Der breite Plattengurt mit dem widerhakenbewehrten Schwert daran kenn zeichnete ihn als Steuermann. Er war demnach Anführer einer Crew. Sein Balgmuskel bewegte sich rhythmisch; hinter dem kristallischen Augenband fixierte mich eines der drei Sehorgane. Die Hautfal te zwischen den Armen öffnete sich, und ei ner der drei Münder sagte mit reich modu lierten Tönen: »Du bist der Schwere-Fremde-Atlan, nicht wahr?«
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Er sagte wirklich Atlan. erscheinende Information, jeder noch so ge Ich nickte, verblüfft darüber, daß er mei ringer Hinweis konnte lebenswichtig sein. nen Namen kannte. Dann fiel mir ein, daß Und vor allem mußte ich mich kooperativ die Dnofftries diese Form der Bejahung verhalten. nicht kannten. Ich sang die zweioktavige »Mit den Wölfen heulen, ist der treffende Zustimmung. Wieder einmal bedauerte ich re Ausdruck«, sagte mein Logiksektor. es, kein solches Organ wie den dnofftriesi Er hatte recht. Nur diese Maxime konnte schen Balgmuskel zu besitzen. Jedesmal, mich davor bewahren, mein Leben zu verlie wenn ein Dnofftrie »redete«, glaubte man, ren. Auf keinen Fall durfte ich mich zu sehr ein ganzes Orchester spielen zu hören. Vor für eine Sache engagieren. Trotzdem behag allem dann, wenn alle drei Münder auf ein te es mir absolut nicht, Gegenstand einer mal sprachen. Welch kümmerlicher Ersatz Aktion zu sein, die vor kurzem vielen waren da der arkonidische Kehlkopf und die Dnofftries das Leben gekostet hatte. Stimmbänder. Ich wählte meine nächsten Worte mit Be »Du hast von mir gehört?« fragte ich. dacht. »Wir wurden von Logatzoi darüber unter »Trifft es zu, daß euer Überfall auf Ssu richtet, daß es ein derart fremdes Wesen wie mas Festung nicht ausschließlich als Straf dich gibt.« expedition anzusehen ist?« fragte ich, und »Logatzoi?« die nächsten Worte des dnofftriesischen Der Steuermann stimmte ein Zwanzigse Steuermanns schienen jeden Zweifel aus kundenkonzert an, nach dessen Ende ich zuräumen. wußte, daß besagter Logatzoi Leiter jener »Wir sollten vor allem dich befreien. Mei Expedition gewesen war, die mich damals ne Leute hatten Anweisung, dich nicht zu tö zuerst entdeckt und dann nur wenig später ten. Du solltest nur zum Verlassen der Fe an die Ausgestoßenen Ssumas verloren hat stung gezwungen werden.« te. »Was habt ihr mit mir vor?« In mir wuchs ein gewisser Verdacht. »Wir bringen dich nach Su-Ra.« »Aber woher weißt du meinen Namen?« »Was soll ich dort?« fragte ich und über beharrte ich. »Logatzoi konnte ihn unmög legte, was das hier alles bedeuten sollte. Ich lich kennen!« war mir nicht sicher, aber ich begann zu ah Der Balgmuskel des Steuermanns vibrier nen, daß die kommende Zeit an meinen Ver te. stand einige Anforderungen stellen würde. »Wir haben viele Ohren – und es gibt vie»Nicht nur an deinen Verstand«, bemerk le Münder, die reden«, erwiderte er. te mein Extrasinn. »Womit er ausdrücken will, daß sie Spio Der Dnofftrie erwiderte: ne unter den Piraten hatten«, erklärte mein »Der Vorschweber will dich sprechen.« Logiksektor. Sein Balgmuskel vibrierte vor Ehrfurcht. Ich schwieg, während Mißtrauen und »Worüber will er mit mir sprechen?« Argwohn wuchsen. Der Steuermann sang eine modulierte Ich war mir bewußt, daß mich nur das zu Tonfolge, die in der Behauptung gipfelte, Beginn meines Aufenthalts hier in diesem Vorschweber Brägatz Ovrosi hätte von mei Kontinuum entwickelte Konzept helfen ner ungewöhnlichen Kraft und Geschick konnte, einen Weg zurück in den Makrokos lichkeit vernommen und wäre sehr davon mos, zurück in das normale Raumangetan gewesen. Deshalb wollte er mich al Zeit-Kontinuum zu finden. Diese Einstel so unbedingt sehen … Hmm, ich konnte lung mußte ich gegenüber allem, was ich sah mich diesem Ansinnen kaum verschließen, und erlebte, bewahren: beobachten und ler angesichts der drückenden Übermacht um nen. Jede Einzelheit, jede noch so unwichtig mich herum. Langsam begann sich die Flot
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te wieder zu formieren. Es sah nach Auf bruch aus. Ich hatte keine Alternative. Ich mußte ge horchen – oder ich beendete mein Leben hier in diesem Kontinuum, etwas, wozu ich absolut keine Lust verspürte. Ich war allein in dieser merkwürdigen Welt und hatte noch immer nicht den leisesten Schimmer, wie ich je wieder von hier verschwinden konnte. »Wirst du kommen?« fragte der Dnofftrie. »Habe ich eine Wahl?« »Nein«, orgelte es mir entgegen, und die Erheiterung des Steuermanns war deutlich zu spüren. »Aber wir könnten dir die Reise etwas angenehmer gestalten.« Es war klar, was er meinte. Er spielte auf die Fesselung an. »Einverstanden«, erklärte ich. Auf ein lautes Kommando hin wurden mir die Wurfseile abgenommen, statt dessen schlang man ein dickes Tau um meine Hüf ten. Weitere Kommandos erschollen. Segel wurden gehißt, entfalteten sich knallend im Wind. Taue ächzten und knarr ten. Die Flotte bildete eine Formation und nahm Kurs auf ein Ziel, das sich Su-Ra nannte. Die Odyssee durch den Mikrokosmos ging für mich weiter.
* In der Kette der Schiffe war das, in dessen »Kielwasser« ich mich befand, das sechste von insgesamt siebzehn. Die Flotte bewegte sich mit einer Geschwindigkeit über dem Tiefen Land dahin, die höher war, als ich ur sprünglich geschätzt hatte. Ich starrte nach vorn. An dem einzigen Mast hing das rechteckige Hauptsegel, das sich stark im heißen Wind blähte. Um den kastenförmigen Rumpf schneller voranzu bringen, hatte man je fünf Stangen zu beiden Seiten des Decks über die Bordwand ausge fahren, an denen die kleinen Hilfssegel befe stigt waren. Am Heck hielt der Steuermann die Pinne des hochragenden Windruders in
den Klauen der drei biegsamen, gelenklosen Arme. Er sah aus wie ein stumpfnasiger Ke gel von blauer Farbe. Auf dem Querbrett des Hecks stand in schmucklosen, dreieckigen Lettern der Name des Schiffes: ROBA-SUR. Von ihren Segeln vorangetrieben, beweg te sich die ROBA-SUR in der Reihe der an deren Schiffe auf das mir nur mit dem Na men bekannte Ziel zu. Hin und wieder än derte sie den Kurs, um den treibenden Ne belbänken auszuweichen, die zu umfang reich waren, um gefahrlos durchquert zu werden. Sie bildeten beliebte Schlupfwinkel der Gravo-Echsen. Kurskorrekturen erfor derte auch das Aufsuchen stärkerer GravoStröme, wobei die Flotte immer mehr an Höhe gewann. Der Himmel veränderte seine Farbe. Aus dem Hellrot wurde ein Dunkeloran ge; die Farbe der Nacht. Mein biologischer Rhythmus hatte sich noch immer nicht diesen kurzen Intervallen zwischen Tag und Nacht angeglichen. Wenn ich mich auch auf meine innere Uhr für ge wöhnlich verlassen konnte, so war ich nicht wirklich sicher, daß hier ein Sechzehnstun dentag herrschte, nach der Norm Arkons. In meinem Kopf rasten die Gedanken. Wie lange war es her, seit ich während des Angriffs auf Trantagossa in das Wir kungsfeld ihrer neuartigen Waffe geraten war? Mehrere Wochen bestimmt. »Vorsicht«, erreichten mich die Impulse meines Extrasinns. »Seit du dich in ein Mi krolebewesen verwandelt hast, gelten die herkömmlichen Maßstäbe nicht mehr, wenn es dir auch so scheint. Vergiß dies niemals!« Ich vergaß es nicht, konnte es nicht ver gessen, wenngleich es mich in absehbarer Zeit in den Wahnsinn treiben würde. Mikrolebewesen … es war unvorstellbar, traf jedoch zu. Wie schon so oft, kehrten meine Gedan ken zurück in die unmittelbare Vergangen heit. Die Maahks hatten einen Molekularver dichter entwickelt, der jeden Organismus,
6 der in sein Wirkungsfeld geriet, mikrosko pisch verkleinerte. Und sie hatten diese Waffe während des Überfalls auf den arko nidischen Stützpunkt erstmals angewendet. Ohne es zu wissen, waren Amarkavor Heng, Kommandant des Flottenstützpunkts Trant agossa, und ich in den Bereich dieser ge heimnisvollen Waffe gelangt. Heng … Ich fühlte Genugtuung darüber, daß er nicht mehr am Leben war. Zusammen mit vier anderen Verschwörern, darunter auch der Blinde Sof gart, hatte er den Mord an meinen Vater geplant und ausgeführt ge habt. Und noch ein anderer hatte sich zum Zeit punkt des maahk'schen Angriffs auf Trant agossa aufgehalten: Der varganische Henker Magantilliken. Das Schicksal mit seiner Unergründlich keit hatte es gefügt, daß wir drei, Heng, Ma gantilliken und ich, mit Hilfe von Hengs Schiff SKORGONS dem ausbrehenden Cha os auf Trantagossa entfliehen konnten. Erst an Bord des SKORGONS hatten Heng und ich gemerkt, daß mit uns Unerklärliches ge schah, hatten erkannt, daß wir in das Wir kungsfeld des maahk'schen Molekularver dichters gekommen waren. Zusehends wa ren wir kleiner und kleiner geworden, hatten uns erst zu Zwergen, dann zu winzigen Däumlingen verändert, ohne daß jedoch un ser Haß aufeinander dadurch kleiner gewor den wäre. Nachdem ich Heng im Zweikampf tötete, hatte er seine normale Gestalt wiedererlangt. Ein für mich unerklärlicher Vorgan. Selbst jetzt noch fühlte ich in einem Winkel meines Gehirns die Panik, die mich überfallen hatte, nachdem ich erkennen mußte, daß bei mir der Vorgang des Schrumpfens weiterging. Ein weiteres Phänomen war die Feststel lung gewesen, daß ich trotz meiner Winzig keit nichts an Masse verloren hatte. Diese Masse hatte bewirkt, daß ich in den Mikro kosmos einbrach. Ein Vorgang, den ich nur durch mehrere Wunder überlebt hatte … »Verliere dich nicht zu sehr in den Erin-
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nerungen«, sagte mein Logiksektor mah nend. »Du bist nun einmal hier und mußt versuchen, das Beste aus deiner Lage zu ma chen. Dabei darfst du aber niemals die Mög lichkeit aus den Augen verlieren, irgendwie in dein eigenes Raum-Zeit-Kontinuum zu rückzukehren. Aber Reminiszenzen an das Vergangene halfen dabei nicht viel.« Das wußte ich. Aber was nutzte mir die ses Wissen? Erneut gingen meine Gedanken auf die Reise. Erinnerungen an den Kampf mit Heng in der SKORGONS mischten sich mit den jüngsten Ereignissen in der Piratenfe stung Ssumas und seiner Getreuen. Kaum hatte ich meine Abenteuer im Tie fen Land überstanden und war in die Felsen festung zurückgekehrt, als diese von den Anhängern des Vorschwebers überfallen und gewaltsam aus ihrer Verankerung gelöst worden war. Ein Überfall, der, wie ich in zwischen fast sicher war, hauptsächlich mei ner Person gegolten hatte. Ich versuchte, während ich im Schlepp der ROBA-SUR hing, verschiedene Theori en zu entwickeln, die mein weiteres Schick sal betrafen und fand, daß ich, verglichen mit meinem Aufenthalt bei den Piraten, im Augenblick in keiner sehr angenehmen Lage war. Die Art, wie Brägatz Ovrosi sein Inter esse an meiner Person bekundete, ließ auf Schwierigkeiten im Umgang mit ihm schlie ßen. Das waren zwar nur Vermutungen, nicht mehr. Trotzdem beschlich mich ein ungutes Gefühl, als ich versuchte, mir das Kommende vorzustellen. Im Grunde hatte ich keine Ahnung, wie es weitergehen wür de. Ich wußte nur, daß mich in der kommen den Zeit allergrößte Anforderungen erwarte ten.
* Man konnte die Dnofftries nicht als hu manoid bezeichnen, trotzdem wirkten sie keineswegs abstoßend oder gar furchteinflö ßend. Sie waren nur anders – eben fremd. Knapp eineinhalb Meter groß, wirkten sie
Irrfahrt ins Nichts wie stumpfnasige Kegel oder Pyramiden, aber mit einer ledernen Haut versehen, die von einem intensiven Blau war. Knapp un terhalb der Spitze lag das kristallisch schim mernde Augenband. Im oberen Drittel des kegelförmigen Körpers befanden sich drei dünne, gelenklose und sehr biegsame Arme, die in dreifingrigen Klauen endeten. Unter halb des Augenbandes lagen weitere, kreis runde Öffnungen – Gehörorgane, die den unseren weit überlegen waren. Daß die Münder, drei an der Zahl, hinter Hautfalten zwischen den Armen verborgen lagen, hatte ich schon erwähnt. Der Balgmuskel, der et wa die untere Hälfte des Körpers umspann te, diente nicht nur zur Lauterzeugung; wäh rend meiner Zeit bei Ssuma hatte ich er kannt, daß mit ihm eine Unmenge von Ge fühlen und Stimmungen ausgedrückt werden konnten, zusammen mit der Verfärbung des Augenbandes. Die Zahl Drei spielte eine große Rolle bei den Dnofftries, merkwürdi gerweise besaßen sie nur zwei Extremitäten, mittels derer sie laufen konnten, wenn diese Beine auch mehr Greifpfoten glichen. Wenn sie auch keine Kultur in unserem Sinn kann ten, so waren die Dnofftries zweifelsohne intelligent. Sie besaßen ihre eigenen Wert maßstäbe über ihre Welt, ihre »Ebene«, die offensichtlich nur ein abgegrenzter Raum in nerhalb unzähliger anderer Räume des Mi krokosmos war. Daß es sich nicht um einen Planeten han delte, war mir inzwischen klargeworden. Die Ebene unter mir erstreckte sich flach und überwiegend leer in alle vier Horizonte. Leer, wenn man einmal von den wenigen Oasen und den gewaltigen Pylonen, den Säulen, absah. Letztere wirkten wie riesige Aufwindkamine, die aus dem Boden wuch sen und irgendwo im Himmel verschwan den, an dem nie ein Stern zu sehen war. Er war wie eine rotglühende, hitzeverströmen de Decke und lag in einer Höhe, in die kein Gravitationsaufwind je reichte. Obwohl ich während meines Aufenthalts in der Piraten festung öfter Nachforschungen anstellte, schien kein Dnofftrie jemals dort oben ge
7 wesen zu sein. Immerhin konnte ich hier atmen; es gab also ein Gas, das meine Lungen als Sauer stoff akzeptierten. Zwischen Himmel und Ebene erstreckte sich ein ausgedehntes Netz von ständig wechselnden Gravo-Strömungen und Schwerefeldern, von Neutralen Zonen und Gravo-Wirbeln, in denen die Dnofftries leb ten, als wären diese ihr ureigenstes Element. Auch ich hatte gelernt, mich in diesem mir fremden Medium zu bewegen. Ich vermied es, während der Fahrt durch die Gravo-Strömungen allzusehr an die ver gangenen Tage zu denken. Es war im Grun de nichts anderes als eine Kette von Erleb nissen gewesen, die mich einzeln hätten ver nichten können. Und doch … bis jetzt hatte ich es ge schafft, am Leben zu bleiben. »Aber das«, murmelte ich fatalistisch, »kann sich mit jeder Minute ändern.« Die Gravo-Strömung, in der sich die Flot te augenblicklich befand, wechselte ständig ihre Stärke. Die Schiffe tanzten in ihr auf und ab wie in einer kräftigen Dünung. Und ich mit ihnen. Mein Blick fiel auf den Steuermann der ROBA-SUR; er hatte alle Hände voll zu tun, das Schiff auf Kurs zu halten. Das mächtige Windruder über dem Heck des Luftfahr zeugs bog sich und ächzte in den Verbin dungen. Dann kam der Nebel. Es handelte sich nicht um eine einzelne Wolke, der man hätte ausweichen können. Der ganze Horizont vor den Gravo-Seglern wurde von dem leuchtenden Wasserdampf versperrt. Ich hörte laute Kommandos und sah, daß die Dnofftries das Schiff auf etwas vorberei teten, von dem ich noch keine Ahnung hatte. Alle Taue wurden belegt, lose Gegenstände an Deck festgezurrt oder unter Deck ge schafft. »Was geht hier vor, Steuermann?« rief ich in der Sprache der Kegel. Der Dnofftrie öffnete den mir zugewand
8 ten Mund und orgelte: »Wir kommen in eine Nebelwand.« »Das sehe ich«, gab ich lautstark zurück. »Aber was sollen die Vorbereitungen an Deck deines Schiffes?« »Warte und sieh!« »Es bleibt dir auch nichts anderes übrig«, meldete sich nach längerer Zeit wieder ein mal mein Extrasinn. Dann war plötzlich die Nebelwand vor uns. Eine endlose Fläche, die. die Ebene un ter uns verdeckte und über uns mit dem Himmel verschmolz. Nacheinander tauchten die Gravo-Segler in ihr unter. Plötzlich war die ROBA-SUR allein. Ich war verwirrt. Was erwartete uns in diesem Nebel? Waren es Naturerscheinungen, Ungeheuer, GravoEchsen oder irgendwelche anderen unange nehmen Überraschungen? Ich wußte es nicht. Der Dnofftrie auf der Beobachtungsplatt form an der Spitze des Mastes stieß ein zie hendes Orgeln aus; der Ruf wurde beantwor tet, setzte sich durch das wogende Rot von einem Schiff zum anderen fort. Das Signal lief von der Spitze der Flotte zum letzten Schiff und von dort aus wieder nach vorn. Merkwürdigerweise wurde der Wind im Innern der gewaltigen Nebelbank schärfer, und das Tau, an dem ich hing, begann zu summen. Es waren die Holzverbindungen, die vibrierten, diese Vibrationen wurden vom Wind, vom Mast und vom Segel er zeugt und setzten sich bis zu mir fort, wenn sie auch vorn Tau gedämpft wurden. Die ROBA-SUR segelte weiter. Welche Navigationshilfen sie dabei benutzte, wußte ich nicht. Ich konnte es nur ahnen, vermu ten, Behelfstheorien entwickeln. Ich hatte auf keinem Schiff je einen Kompaß oder ähnliches gesehen. Trotzdem erreichten die Segler immer ihr Ziel. Als ich einmal Ssuma daraufhin angesprochen hatte, hatte er mich verständnislos angesehen. »Wir sehen unser Ziel«, hatte er dann ver sichert und mich in tiefe Verwirrung ge stürzt. Wie konnte man ein Ziel sehen? Vor allem in dieser seltsamen Welt, in diesem
Conrad Shepherd allgegenwärtigen roten Dunst, der unter gün stigsten Voraussetzungen eine maximale Sichtweite von höchstens dreitausend Me tern gestattete, wobei das Objekt bereits eine Größe aufweisen mußte, die kaum unter der der Piratenfestung liegen durfte. Einen Gra vo-Segler konnte ich bestenfalls bis zu einer Entfernung von zwölfhundert Metern aus machen. Und da mußte ich mich schon ge waltig anstrengen. Einen Hinweis auf dieses Phänomen des Zielsehens hatte ich erst im Tiefen Land er halten, während meiner Unterhaltung mit dem alten Lajj, dessen eines Auge von den Wächtern des Vorschwebers geblendet wor den war. Damals hatte ich erkennen müssen, daß die Sehorgane der Dnofftries mehr wa ren als nur optische Hilfen. Sie vereinten weit mehr Sinne in sich. Mit ihnen erkannte diese Kegel die Gravo Strömungen und Schwerefelder ihrer Welt nicht nur auf rein visuelle Weise. Ich hatte geraume Zeit benö tigt, um hinter diesen Vorgang zu kommen, den man als Entfernungsmessung und Ob jektdarstellung mittels bestimmter Wellen bezeichnen konnte, die die Dnofftries auszu senden imstande waren. Ähnlich einem Or tungsgerät. So wie es ihnen möglich war, sich durch Ultraschall auf eine Ebene zu verständigen, die mir verschlossen war, hat ten sie offenbar analog dazu eine Art biolo gisches Radar entwickelt. Wie man damit je doch ein Ziel erfassen konnte, das Tagesrei sen entfernt lag, blieb mir nach wie vor schleierhaft. Aus dem Gleiten der ROBA-SUR wurde eine andere Bewegung. Der Gravo-Segler begann zu stampfen wie ein Schiff in harter See und wurde schneller. Die schaukelnden Bewegungen nahmen zu; der Wind riß an meinen langen Haaren. Ich spürte, daß der Wind kälter geworden war und stärker. Er pfiff durch die Takelung, die Seile ächzten, das rechteckige Segel war aufs äußerste gestrafft. Der Nebel wurde dichter und dichter. Er war so dick, daß ich fast den Bug nicht mehr von meinem Standort hinter dem Heck der
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ROBA-SUR aus sehen konnte. Und ich begann mich zu fragen, was jenes seltsam monotone Geräusch zu bedeuten hatte, das seit geraumer Zeit zu hören war.
2. Wir waren noch immer im Nebel. Es waren inzwischen mehr als sieben Stunden vergangen; außerhalb des Nebelfel des mußten die Farben des Tages den Him mel zum Leuchten bringen. Hier im Innern änderte sich kaum etwas an der Qualität des Lichts. Ich hing in meiner Schlinge hinter dem Heck der ROBA-SUR und ließ mich ziehen. Eine Fortbewegungsart, die keinerlei Kraft aufwand kostete. Das Schwerefeld war stark genug. Es trug mich auf gleicher Höhe mit dem Gravo-Segler, auf dessen Deck inzwi schen eine hektische Betriebsamkeit herrschte. Das monotone Geräusch war im Verlauf der vergangenen Stunden lauter geworden. Es klang jetzt wie das Rauschen eines ge waltigen Stromes. Die Dnofftries spannten nun vom Bug zum Heck mehrere starke Seile, wobei sie diese mehrere Male um den Mast schlangen, ganz unten, dicht über den Planken. Sodann befestigten sie dünnere Quertaue von Bord wand zu Bordwand, bis sich schließlich eine Art grobmaschiges Netz über das Deck er streckte, an dem sich die Crew mittels ihrer Greifpfoten hervorragend daran festhalten konnte. Aber … was befürchteten die Dnofftries? »Wir kommen in das Gebiet der Leucht würmer«, war die wenig erschöpfende Aus kunft des Steuermanns, als ich ihn ansprach. Er hatte seine beiden Greifpfoten links und rechts um die vorbeilaufenden Stricke geklammert. Jetzt konnte er bei heftigen Be wegungen des Gravo-Seglers nicht vom Windruder geschleudert werden. Die ROBA-SUR stampfte jetzt mehr als zuvor. Ich troff vor Feuchtigkeit. Der Nebel
schlug sich in Form von kleinen Wasserper len auf meiner Haut nieder, klebte mir das Haar an den Schädel. Ich wünschte, das Dampfbad möge ein Ende nehmen. Ich hatte das Zeitgefühl verloren; nach meiner Meinung mußte es inzwischen kurz vor Mittag sein. Und wir waren noch immer im Nebel, der die Signale der Dnofftries in den Mastspitzen und alle anderen Geräusche dämpfte, als ob man ein Tuch über sie legte. Die Crew hatte sich vor kurzem zu kleinen Gruppen zusammengesetzt und aß. Mir hatte man ebenfalls etwas zu essen gebracht. Fruchtfleisch der Schotenbäume, kleine, ge backene Kornfladen und Wasser in einem ledernen Behälter. Um die ROBA-SUR herum herrschte nur eine Farbe: Rot. Und sogar die blauen Dnofftries hatten diese Farbe ein wenig an genommen. Dann kamen die Nebelmassen in Bewe gung, zerrissen in einzelne Streifen und lan ge, rotglühende Felder. Die Flotte wurde wieder sichtbar, aber an anderer Stelle, als ich sie vermutet hatte. Sie bildete nicht län ger mehr eine Gerade, sondern war zu einem Halbkreiskurs auseinandergezogen. Der Nebel riß weiter auf, und die Atmo sphäre wurde nun wieder durchsichtiger. Und plötzlich änderte sich die Szene … Gefahr! Wir segelten am Rande eines riesigen Zy klons. Längst hatte ich gelernt, die Schlieren und Spiegelungen innerhalb des leuchtenden Mediums zu deuten, das hier die Atmosphä re darstellte. Ich hatte gelernt, schnelle Gra vo-Ströme von langsameren zu unterschei den und wußte, wenn ich ein Schwerefeld vor mir hatte, in dem absolut keine Strö mung herrschte. Ich war auch in der Lage, Gravo-Wirbel zu erkennen und zu meiden, jene übergangslos auftretenden Turbulenzen innerhalb der Schwerefelder. Aber was sich da vor meinen Augen über ein Gebiet von mehreren Quadratkilometern erstreckte, war weit gewaltiger als alles, was ich bisher ge sehen hatte. Die gesamte Atmosphäre inner halb dieses Bereichs rotierte um ein Zen
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trum, das wie eine gigantische Windhose bis Der blaukegelige Steuermann stemmte hinunter auf den Boden der Tiefen Ebene sich mit aller Kraft gegen das Ruder und reichte. hielt das Schiff aus den gefährlichen Spir Die Luft begann sich zu verändern. alarmen heraus. Holz knarrte, der Mast zerr Das rote Glühen war schwefelgelb und te an seinen Verankerungen, und die Seile giftig geworden; ich schmeckte Ozon auf ächzten. Voraus und achteraus hatten die an den Lippen. Die Atmosphäre schien sich deren Gravo-Segler mit denselben Schwie mehr und mehr elektrisch aufzuladen. Meine rigkeiten zu kämpfen. Haare knisterten. Während ich die komplizierten Manöver Die Nebelmassen rings um diesen Zyklon beobachtete, hegte ich die Befürchtung, daß türmten sich wie Mauern auf, an denen die der Wind die Segel zerfetzen könnte. Oder Gravo-Segler der Dnofftries wie winzige In daß die Masten umgerissen werden könnten. sekten vorbeiglitten. In jedem Falle wäre es um das betreffende Im Innern des gigantischen Sogs began Schiff geschehen gewesen. Sie alle trieben bei nicht geringer Geschwindigkeit vor dem nen sich spiralförmige Muster zu bilden. Ich zwinkerte erschreckt mit den Augen, Wind, der sich ebenfalls kreisförmig inner als ich diese Spiralen sah, die sich, perspek halb dieses gewaltigen Gravitationszyklons tivisch stark verzerrt, ineinanderschoben wie bewegte. Ein tödliches Karussell. die Bilder eines mehrmals übereinander ko Ich fragte mich, ob die Steuerkünste der pierten Filmes. Dnofftries ausreichten, ihm zu entrinnen. War ich dabei, meine Sehfähigkeit einzu büßen? Die ROBA-SUR jedenfalls gehorchte »Kein Grund zur Besorgnis«, erreichten dem Steuer. mich die beruhigenden Impulse meines Ex Sie segelte hart am Rand des Wirbel trasinns. »Was du hier erlebst, dürfte in sei sturms. Links türmten sich die schwefelgelb leuchtenden Nebelmauern empor, rechts bot ner Art wohl einzigartig sein. Du siehst hier den Zusammenprall verschiedener Gravita sich meinen Augen ein entfesseltes Inferno. tionsstürme. Hier trifft Energie auf Energie, Elektrische Entladungen zuckten durch sie schaffen einen Mahlstrom, der sogar im die Atmosphäre. Sie schienen die Luft zu stande ist, das sichtbare Licht zu biegen.« verwandeln, denn noch während der Donner Es wurde dunkler. In der Ferne donnerte mich für lange Sekunden taub machte, be es. Der Donner war anders als der gewohnte gannen die spiralförmigen Arme des Zy Laut auf Planeten, die eine Lufthülle hatten klons sich zu verfärben. Sie glühten erst ste und übertönte sogar das Geräusch des Zy chend rot, dann weiß und bildeten strahlende klons. Ein Blitz entstand plötzlich in meiner Muster, die sehr gefährlich wirkten und mich blendeten. unmittelbaren Nähe und zuckte auf das Au ge des Gravitationssturms zu, und wieder »Was geschieht dort, Steuermann!« schrie krachte es, daß mir die Trommelfelle klan ich. gen. »Warte und sieh!« orgelte es aus dem mir Auf der ROBA-SUR wurden laute Kom zugewandten Mund. Die Antwort des Dnoff mandos hörbar. tries trug nicht dazu bei, meine Furchtgefüh Ich riß den Kopf hoch und sah, wie sich le zu verkleinern. die Spitze des Mastes unter der Gewalt des Im Innern des Mahlstroms folgte elektri Windes bog, der heulend durch die Take sche Entladung auf elektrische Entladung. lung pfiff und das Segel aufs äußerste bean Der Zyklon war das Zentrum eines infernali schen Lärms. Die Donnerschläge krachten spruchte. Die Seile summten laut. Einzelne Fasern sprangen unter der enormen Bela ununterbrochen. stung. »Vorsicht am Segel!« dröhnte der Steuer
Irrfahrt ins Nichts mann. Das Deck des Gravo-Seglers erbebte, als ein plötzlicher Windstoß das Hauptsegel bis zum Bersten füllte. Die Besatzung lief um her und kämpfte mit den Seilen. Ein weiteres Kommando. »Löst die Stütztaue und holt die Stengen ein!« Die Crew klammerte sich mit ihren Greif pfoten an die ausgespannten Haltetaue und hatte schließlich die links und rechts ausge fahrenen Stengen mitsamt den kleinen Se geln in eine vertikale Lage gebracht, und an den Innenseiten der Bordwände festgezurrt. »Fiert die Schwerter!« Die ROBA-SUR begann zu krängen, als das Schwerefeld plötzlich seine Intensität in nerhalb von Sekunden wechselte. Ich wurde schmerzhaft meines immensen Gewichts bewußt, als ich abrupt einsank und das starke Tau sich um meine Hüften spann te. Jetzt hing ich in einem Winkel von fünf undvierzig Grad gute vier Meter unter dem flachen Kiel des Gravo-Seglers und konnte von dieser Warte aus verfolgen, wie durch eine Vielzahl von Schlitzen lange und flache Bretter geschoben wurden, die die Funktion eines Kiels mehr schlecht als recht erfüllten. Wieviel einfacher, dachte ich, ging es doch mit einem einzigen, massiven Schwert von entsprechender Größe. Immerhin konnte die ROBA-SUR nun et was härter am Wind segeln. Eine Veränderung des Schwerefeldes warf mich wieder hoch. Das intensive, weiße Strahlen im Innern des Zyklons hatte zugenommen. Der Mahl strom bot den Anblick einer gigantischen, konkav gewölbten Linse. An ihrem hochlie genden Rand segelte die Flotte der Dnoff tries entlang. Meine Augen waren auf den Mittelpunkt des Sogs gerichtet. Es waren keine Instru mente dazu notwendig, festzustellen, daß dort unvorstellbare Kräfte frei wurden. Eine kleine Miniatursonne schien plötz lich im Auge des Zyklons zu wirbeln – und blieb.
11 Sie blieb. Auf der ROBA-SUR betrachtete alles, was im Augenblick eine Atempause hatte, diesen Vorgang. »Das Zeichen!« dröhnte und orgelte es aus den dreieckigen Mündern, als habe man alle Strapazen nur auf sich genommen, um dieses Naturereignis zu sehen. Ich hangelte mich an meinem Strick näher an das Heck der ROBA-SUR heran. »Was ist das?« Ich mußte schreien, um den Lärm der entfesselten Natur zu übertö nen. »Rede schon, Steuermann, was bedeu tet das?« Die Miniatursonne begann sich leicht zu verfärben. Zuerst im Zentrum, dann über ih re ganze Ausdehnung. Sie schien irrsinnig schnell zu rotieren. Dann lösten sich mit ei nemmal aus ihren Rändern ganze Ketten leuchtender Punkte, wurden weggeschleu dert und trieben im Sog des Zyklonauges. Der Steuermann stimmte ein Fünfsekun den-Konzert an. »Leben wird dort geboren, Atlan. Was du siehst, ist die Entstehung der Leuchtwürmer. Verstehst du das?« fragte dröhnend der mir zugewandte Mund, während die beiden an deren Kommandos an die Crew erteilten. »Nein!« gab ich zurück. »Meinst du die Leuchtwürmer, die eure Behausungen erhel len?« Der Wind flaute einen Moment lang ab. Das Segel begann zu flattern, füllte sich wie der und erschlaffte erneut, um sich schließ lich mit einem peitschenden Knall zu entfal ten. Der Steuermann, der, wie ich durch Zu rufe gehört hatte, Quandd hieß, rieß an dem Windruder und stemmte sich gegen das Holz. Das Segel drehte sich, begann wieder zu flattern; es erschütterte den Mast bis in die Fischungen und übertrug sich von dort auf das ganze Schiff. Kommandos dröhnten. Die Dnofftries zwischen den Bordwänden warfen sich in die Seile und rissen daran. Langsam drehte sich die Rahe in ihrer Befe stigung am Kreuzkopf unterhalb der Längs salinge, auf denen die Beobachtungsplatt
12 form ruhte. Derart hart angebraßt, fuhr der Wind in das Segel und füllte es. Die ROBA SUR legte sich etwas auf die Seite, stabili sierte sich dann und glitt mit steigender Fahrt weiter, immer hart am Rand des Mahl stroms. Ein Augenblick der relativen Ruhe herrschte, und ich wiederholte meine Frage. »So ist es«, antwortete Quandd. »Wenn auch die wirklich schönen Leuchtwürmer dem Vorschweber und den Schwebern vor behalten bleiben.« Ich hörte es, verstand es aber nicht. Ich hatte die Leuchtwürmer für Lebewe sen einer niederen Gattung gehalten, die das Licht als Folge eigener Stoffwechselvorgän ge erzeugten. Nun mußte ich diese Annahme korrigieren. Aber als was sollte ich sie be zeichnen? »Energie!« meldete sich mein Logiksek tor. »Stabilisierte Energie, wenn du willst.« »Die-den-Nebel-fressen – sie kommen!« Der Ruf alarmierte mich. Ich blickte mich um, dann weiteten sich meine Augen in un gläubigem Erstaunen. Über dem Auge des Gravitationszyklons schwebten eine Azahl Gravo-Echsen. Sie bewegten sich scheinbar unendlich träge, und doch trotzten sie der aufgewühlten Natur. »Was suchen die Bestien dort?« rief ich. Quandd antwortete: »Leuchtwürmer. Keine Sorge, Dieden-Nebel-fressen erreichen uns nicht mehr. Sie sind zu weit enfernt.« Quandd stemmte sich noch immer gegen das Holz des Windruders und steuerte die ROBA-SUR am äußersten Rand des Zy klons entlang. Das Schiff holte schwer über, und es schien, als würde die Mastspitze die aufgetürmte Nebelwand streifen, die wie ab geschnitten dieses Gebiet umgab. Dann er kannte ich voraus, wie das erste Schiff der Flotte in den Nebel eintauchte. »Die Gefahr ist fast vorbei«, beantwortete der Steuermann meine diesbezügliche Frage. »Hinter der Nebelbank liegt Su-Ra.« »Wie lange noch?« »Nicht mehr lange.«
Conrad Shepherd Die ROBA-SUR tauchte wie ein Schemen in den Nebel; die Rufe der Dnofftries auf den Plattformen der Masten klangen wieder auf. Langgezogen und wie klagende Hörner. Es dauerte nach meinem Dafürhalten etwa drei Stunden – dann zerteilte sich die rotglü hende Wand aus Wasserdampf. Wir waren draußen – und dem Ziel nahe. Laute Kommandos erschallten. Langsam vergrößerte sich der Abstand zwischen den einzelnen Gravo-Seglern. Unter dem Druck der Windruder schwenkten sie auf ihren neuen Kurs ein und formierten sich zu einer Linie. Und irgendwo in der Ferne, im rot leuchtenden Dunst der Atmosphäre, erhoben sich hohe Felsen.
* Ich sah das Ziel vor mir – Dutzende jener Felsen, wie Ssuma mit seinen Piraten einen bewohnt hatten. Die Dnofftries an Deck der Segler hingen in den Wanten und drängten sich an die Bordwände und begrüßten den Anblick der Felsen mit langgezogenem Orgeln. Ich rief Quandd an und deutete nach vorn, auf die Felsen im roten Dunst. »Ist das Su-Ra?« Der Steuermann öffnete den mir zuge wandten Mund. »Ja, das ist das Reich des unvergleichli chen Vorschwebers – und meine Heimat.« In mir schwangen diese Worte nach. Irrte ich mich, oder war tatsächlich ein sarkasti scher Unterton aus Quandds Stimme heraus zuhören gewesen? Je näher die Flotte herankam, um so mehr Einzelheiten wurden deutlich. Wie ein niedriger, U-förmiger Gebirgszug schwebten die Felsen in einem Schwerefeld über der Ebene, das keinerlei Strömungen zu kennen schien. Ich sah nirgends gespannte Ankertaue oder ähnliches. Allerdings waren auch keiner der geheimnisvollen schwarzen Pylonen in der Nähe, an denen man die Fels formation hätte vertäuen können. Der Konvoi der Gravo-Segler löste sich
Irrfahrt ins Nichts auf. Ich betrachtete weiterhin das »Reich« des Vorschwebers. Die Felsformation bot den Anblick niedri ger Hügelrücken mit vereinzelten Felskäm men darin, die von unterschiedlicher Form und Größe waren. Sie umschloß eine Fläche, die wie eine natürliche Bucht wirkte – wäre es ein Ozean gewesen, aus dem sie sich er hob. Und irgendwo zwischen diesen Felsen lag die Festung des Vorschwebers. Mit halb gerefftem Segel glitt die ROBA SUR an Backbord an einem schlanken, steil aufragenden Felsen vorbei, der wie ein Leucht- oder Wachturm aussah. Seine Spitze trug eine umlaufende Balustrade, die mit Dnofftries besetzt war. Inzwischen hatte Quandds Crew die schon bekannten Ausleger an Bug und Heck errichtet. Mit staunenden Blicken betrachtete ich weiter. Die Szene, die sich vor meinen Augen ausbreitete, war noch unwirklicher als vieles andere, das ich bisher im Mikrokosmos er lebt hatte. Auf den Felsen und Hügeln, an denen wir vorübersegelten, wimmelte es nur so von Dnofftries. Ich sah ganze Wälder von Schotenbäumen, erkannte an den Hängen der Hügel Felder, auf denen man Pflanzen kultiviert hatte. Überall herrschte geschäfti ges Treiben. Manche Felsen trugen die typi schen Geröllhalden, an denen man sah, daß in ihrem Innern Rohstoffe ausgebeutet wer den mußten. Ein Ruf: »Dort – die Festung des Vorschwebers!« Das Bild änderte sich. Die ROBA-SUR hielt auf einen Felsen zu, der wie ein angeschnittener Kegelstumpf wirkte. Er war ohne Zweifel bearbeitet wor den. Seine abfallenden Seiten waren künst lich geglättet. Ich konnte Treppen und Balu straden erkennen, die verschieden hohe Ter rassen verbanden. Von der Mole an der Ba sis der Festung führte eine breite Treppe in gerader Linie zu einem mächtigen Tor hin
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auf, das mit schweren Türflügeln gesichert war. Auf den Treppen und Galerien sah ich Dnofftries stehen, die die Ankunft der RO BA-SUR zu erwarten schienen. »Deine Ankunft, mein Freund«, korrigier te mein Logiksektor. »Du bist es, der erwar tet wird.« Quandd dirigierte das Schiff jetzt nur noch mit dem Windruder. Seine drei Mün der gaben gleichzeitig drei verschiedene Kommandos. »Refft das Segel!« Die Crew zerrte an den Leinen und ver kleinerte die Segelfläche noch mehr. »Die Rah herunter!« Erneut warfen sich die Dnofftries in die Seile. »Fiertab!« Blöcke und Flaschenzüge knirschten. Die große Holzscheibe für das Rahfall quietschte in ihrer Befestigung an der Mastspitze. Das Rack – senkrecht stehende Hölzer, soge nannte Schlitten, deren Abstand durch auf gezogene Kugeln gehalten wird – kam lang sam herunter. Dem Zug der äußeren Leinen folgend, schwang die Hauptrahe parallel zur Längsachse der ROBA-SUR. Sie konnte zum Segelfestmachen an Deck genommen werden, da der Mast bis zum Mars frei war von stehendem Gut. Gleich darauf lag sie in den gegabelten Stützhölzern, und die Crew belegte das Segel, indem sie kurze Taulän gen um Holz und Tuch wand. Quandd lenkte den Gravo-Segler mit win zigen Ausschlägen des Windruders an die Mole heran; die Segelfläche des Ruders übte hierfür genug Druck auf den Rumpf aus. Ein weiteres Kommando. Die beiden Distanzhalter wurden über die runden Steinblöcke herabgelassen und mit Pflöcken belegt. Ich war angekommen.
3. »Dort – sie warten schon!« sagte der Steuermann in einer reich modulierten Ton folge.
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»Wer wartet?« »Halt! Wer seid ihr?« »Die Wächter des Vorschwebers.« Diese Frage schien mehr einem Ritual zu Ich wandte mich dem blauhäutigen Bur entspringen; ich konnte mir nicht vorstellen, daß die Kunde meiner Ankunft noch nicht schen zu. »Braucht der Vorschweber Wächter?« bis hierher vorgedrungen sein sollte. Das kristallische Augenband des Dnoff Quandd stieß ein orgelndes Fünfsekun tries, der mir knapp bis zum Hals ging, über denkonzert aus. zog sich mit einem Schleier, den ich nicht zu »Steuermann der ROBA-SUR und seine deuten wußte. Crew … mit dem Monstrum, das der Erha »Er braucht sie.« bene dringend erwartet.« Nach dieser wenig erschöpfenden Aus Schweigen. Dann: »Ihr zieht euch zurück, Steuermann. Nur kunft schwieg Quandd. Wir standen auf der Mole. Mich umringte der Fremde soll eintreten.« die Crew des Gravo-Seglers, die ausnahms Knirschend wurde das Tor aufgezogen. los ihre Waffen in den Klauen hielt. Ich war Ich erhielt einen aufmunternden Stoß in wieder gefesselt, aber nicht mehr so fest, den Rücken. wie zu Beginn unserer Bekanntschaft. Mit »Beeile dich, Atlan!« einem Ruck hätte ich die Stricke zerreißen Ich trat hindurch – dumpf fiel das schwere können, doch ich ließ es sein, als ich mir die Tor wieder herab. Aus den niedrigen, breiten Durchgängen Prämisse meines Aufenthalts hier ins Ge in den Toranlagen links und rechts kamen dächtnis zurückrief. Außerdem entging mir andere Dnofftries, die sich von jenen auf der nicht die Atmosphäre des Mißtrauens, die Treppe dadurch unterschieden, daß ihre Rü mich umgab. »Man hält dich für einen Freund der Aus stungen verziert waren. Der Anführer der gestoßenen«, kommentierte der Extrasinn in Gruppe stieß ein dumpfes Ziehen aus. Man mir. nahm mich in die Mitte. Und ich hielt Ein zug in die unbekannte Festung des Vor Eine lange Doppelreihe von Dnofftries schwebers. hatte inzwischen auf der Treppe Aufstellung genommen und flankierte nun unseren Auf Hinter dem Tor lagen weitere Treppen und kleine Plätze. Meine Schritte klangen stieg. Sie waren durchwegs mit widerhaken auf dem gewachsenen Fels, dann knirschten bewehrten Schwertern und kurzen Lanzen bewaffnet und staken allesamt in Rüstungen, sie im Kies gepflegter Gartenanlagen, in de die aus dreieckigen, gewölbten Brust- und nen kleine Brunnen lustig sprudelten, und Rückenschildern bestanden. die von Leuchtwürmern erhellt wurden, de »Wozu braucht der Vorschweber diese ren Strahlen mich überraschte. Garde?« wollte ich von Quandd wissen und Unsere kleine Kolonne bewegte sich über ließ die martialischen Wächter nicht aus den die breiten Rampen dieser Festung. Augen. Die Dnofftries, denen wir begegneten und Quandds Balgmuskel vibrierte; die Bewe die unbewaffnet waren, wichen vor der Gar gung war äquivalent unserem Schulter de des Vorschwebers zurück und warfen nur zucken. kurze Blicke auf mich. »Das ist für dich unwichtig.« Mein Argwohn verdichtete sich zur Ge »Da hast du es wieder, dieses wißheit. Brägatz Ovrosi schien nicht unbe Mißtrauen«, wisperte der Logiksektor. dingt von seinen Untertanen geliebt zu wer Wir erreichten den Absatz vor dem Tor, den. Und noch etwas anderes wurde mir das einem gleichschenkeligen Dreieck glich. klar: Ich war in eine Falle gelaufen, aus der Ein lauter Ruf aus einer Öffnung stoppte so leicht kein Entkommen möglich schien. Ich dachte kurz nach, suchte nach Auswegen uns.
Irrfahrt ins Nichts und entschloß mich dann, zunächst einmal die weitere Entwicklung abzuwarten, ehe ich etwas dagegen unternehmen wollte. Das Innere der Festung war ein Irrgarten, angelegt, um jeden Unberechtigten am Be treten des Zentrums zu hindern. Immer wie der standen wir vor verschlossenen Toren, die sich erst öffneten, wenn der Anführer be stimmte Signale von sich gab. Wir wurden erneut von einigen Wachen aufgehalten, die mich neugierig musterten. Einer der blauhäutigen Burschen trat vor mich hin. »Du siehst zwar dem anderen Monstrum nicht sehr ähnlich – trotzdem kann ich nicht finden, daß du mir deshalb besonders sym phatisch bist, Freund der Piraten.« In mir schwangen diese Worte nach, auf höchst zwiespältige Art. Bedeuteten sie, daß sich noch mehr Fremde in diesem Mikrokos mos aufhielten? Wenn ja, wer waren sie? Der Dnofftrie hatte von einer entfernten Ähnlichkeit gesprochen … »Gib dich keiner Hoffnung hin«, erreich ten mich die Impulse meines Logiksektor. »Du bist allein in dieser Welt.« Ich versuchte es trotzdem. »Der Fremde wohnt in der Festung?« fragte ich, und die Erregung ließ meine Stimme überkippen, so daß meine Worte un verständlich blieben. Ich konzentrierte mich, suchte die richtigen Töne und wiederholte meine Frage. Ich erntete Gelächter. »In gewisser Weise ja«, antwortete mir der Dnofftrie und gab den Weg für die Ko lonne frei. »Weiter!« orgelte der Anführer. Ein Ruck an dem Lasso, das um meinen Hals lag, ließ mich vorwärtsstolpern. »Schneller!« rief ein anderer hinter mei nem Rücken. Daß ich nicht wußte, was mich wirklich erwartete, war zu diesem Zeitpunkt gut. Denn ich spürte, wie meine Beherrschung langsam aber sicher nachließ. In mir tobten nicht erst seit kurzem widerstreitende Ge fühle. Mein Unterbewußtsein wehrte sich
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mit allen zu Gebote stehenden Kräften dage gen, wahnsinnig zu werden. Die irrationalen Eindrücke in diesem Mi krokosmos lösten einander in zu rascher Fol ge ab. Und doch – sie waren nichts im Ver gleich zu dem, was mich erwartete. Wir hatten inzwischen ein beträchtliches Stück unseres Wegs zurückgelegt. Der An führer der Garde trieb immer wieder zur Eile an. Daß wir uns dem Domizil des Vor schwebers näherten, erkannte ich auch dar an, daß die Wände der Korridore und Kaver nen mit bildlichen Darstellungen ge schmückt waren. Überproportionierte Dnoff tries in allen erdenklichen Posen, hauptsäch lich kriegerischer Art, starrten von den Wän den herab. Wohin ich auch sah, überall be gegnete ich dieser kultischen Verherrli chung. Offenbar handelte es sich dabei um Dnofftries, die sich besondere Dienste er worben hatten. »Siehst du nicht, daß es sich immer um die gleiche Person handelt?« machte mich mein Extrasinn aufmerksam. Das mochte zutreffen oder nicht. Für mich sahen diese blauhäutigen Burschen alle gleich aus. »Das hakenförmige Zeichen«, präzisierte der Logiksektor. »Ich habe es noch bei kei nem anderen entdecken können. Offenbar das Emblem der Macht. Und nach allem, was ich inzwischen an Eindrücken und Stim mungen gesammelt habe, verkörpert hier nur ein einziger diese Macht: Vorschweber Brägatz Ovrosi, der Mann mit-den-zwei-Namen.« Das hatte mir noch gefehlt. Ein Herrscher, der sich derart zur Schau stellte, war sicher kein angenehmer Gesprächspartner. Dann blieb ich wie vom Donner gerührt stehen und richtete einen verwunderten Blick auf die Szene vor mir. Neben einem Dreiecktor erhob sich auf einem Steinblock ein kleinerer, der in Form eines Sessels gehauen war. Und in diesem wuchtigen Sessel hockte ein … ein Maahk! Während der ersten fünf Sekunden stand
16 ich einfach da und spürte eine Lähmung in meinem Gehirn. Ich starrte auf den Maahk und keuchte auf. Es konnte nicht sein, ich wußte, daß mir alle meine Sinne einen fürchterlichen Streich spielten. Was tat der Methanatmer hier in der Festung des Vor schwebers? Ich spürte deutlich, wie der letz te Rest meiner Beherrschung schwand. Zu gleich verlor ich den Glauben an die Unter scheidbarkeit von Illusion und Wirklichkeit. Desorientierung war die Folge. Ich sah rote Schleier vor meinen Augen. Dann, ohne mir über mein Tun Rechenschaft ablegen zu können, zerriß ich mit kurzen Rucken meine Fesseln, versetzte einem Wächter einen wuchtigen Fußtritt, der ihn weit in den Kor ridor zurückbeförderte. Dem nächsten entriß ich die kurze Lanze, ehe er sie mir über dem Kopf schlagen konnte. Auch ihn fegte ein Fußtritt von den Greifpfoten. Ein atonales Konzert der Verwunderung und des Er schreckens hub an. Wurfseile zischten durch die Luft, legten sich um mich. Ich kam zu Fall, rollte über den Boden und stand wieder auf den Füßen. Nun packte ich meinerseits die Wurfseile und ruckte daran. Die Dnoff tries purzelten durcheinander. Ich tat ein üb riges, stemmte die Füße fest auf den Boden und verlagerte meinen Schwerpunkt. Dann begann ich mich um meine eigene Achse zu drehen. Ich wirbelte die Dnofftries wie ein Hammerwerfer um mich herum, bis sie sich nicht mehr halten konnten und in die Reihe der anderen krachten. Ein heilloses Durch einander entstand für kurze Augenblicke. Sie genügten mir für das, was ich vorhat te. Mit einem wilden Ruf schwang ich her um, hob die Lanze über den Kopf und schleuderte sie mit aller Kraft von mir. Sie drang tief in den Körper des Maahks ein und wurde erst von der Rückenlehne des Stein sessels aufgehalten. Dann lief ich bis unter den Steinblock – und erlebte den zweiten Schock. Zuerst hatte ich geglaubt, einen lebenden Methanatmer vor mich zu haben. Nun er kannte ich, daß der Maahk bereits seit länge-
Conrad Shepherd rer Zeit tot sein mußte. Auf eine mir unbe kannte Weise hatte man seinen Leichnam konserviert und ihn hier zur Schau gestellt. Die Augen in dem sichelförmigen Kopf wulst starrten blicklos. Aber – wie kam er dort hinauf? In der gleichen Sekunde wußte ich, wie albern diese Frage war. Ich atmete keuchend und fluchte, als ich genau erkannte, wie un überlegt ich gehandelt hatte. Der Maahk konnte gar nicht mehr am Leben sein. Genau wie ich, war auch er durch die neuartige Waffe seiner Artgenossen zu einem Mikro lebewesen geschrumpft, ohne daß sein Druckanzug diesen Prozeß mitmachte. Er war spätestens dann gestorben, als er in die ses mit einem sauerstoffähnlichen Gas ge fülltes Kontinuum eingebrochen war. Niedergeschlagen drehte ich mich herum – und sah mich einer Phalanx von Dnofftries gegenüber. Das Licht der Leuchtwürmer spiegelte sich in den blanken Waffen. Die Gruppe, die mich hierher gebracht hatte, war durch weitere Gardisten verstärkt worden. Ich hob langsam die Hände in Schulterhö he. »Schon gut«, sagte ich, und meine Stim me hatte einen unnatürlich hohen Klang. Ich spürte, wie ich nur langsam wieder die Kon trolle über meine aufgewühlten Empfindun gen bekam. »Ich werde keinen Widerstand leisten. Bringt mich jetzt zu eurem Vor schweber.«
* Ich verhielt unwillkürlich den Schritt. Wir hatten den Palast durch einige kleine Säle, die versetzt zueinander angeordnet und durch schräge Rampen miteinander verbun den waren, betreten und befanden uns nun auf einer Galerie in einem großen Kuppel raum. Der Rand der Galerie war kunstvoll aus dem gewachsenen Fels geschnitten, und über mir bildeten die Wände des Raumes, sich zur Mitte hin verjüngend, einen hell strahlenden Dom. Aber etwas anderes fesselte meine Auf
Irrfahrt ins Nichts merksamkeit weit mehr: Zu meinen Füßen erhob sich an der gegenüberliegenden Wand eine wuchtige Statue auf einem Podest aus geschliffenem, poliertem Fels. Sie überragte alles andere in dem Raum und maß wohl sechs Meter. Der plastisch herausgearbeitete Balgmuskel lag auf gleicher Höhe mit der Galerie, auf der meine Wächter und ich stan den. Es war das gigantische Bild eines Dnofftries aus leuchtendem, blauem Stein. Vor diesem Standbild, aber auf dem glei chen Podest ruhend, befand sich ein Sitz trog, nur etwas größer als die sonst üblichen. Auf diesem Thron saß der Erhabene Vor schweber. Ich erkannte auf dem ersten Blick die Ähnlichkeit zwischen Statue und lebendem Wesen. Ich schauderte. Bei dem Ge danken, welche Megalomanie sich dahinter verbarg, sträubten sich mir die Nackenhaare. Daß er zudem noch eitel war, vertiefte nur meine Abneigung. Der stumpfnasige Kegel körper des Vorschwebers war von oben nach unten mit reichverzierten Plattengürteln um geben, die nur so von Edelsteinen funkelten. Hinter ihm, aber noch vor der Statue, sa ßen mehrere Dnofftries in wesentlich kleine ren Sitztrögen. Ihrem Schmuck nach zu ur teilen, stellten sie die Oberschicht in Ovrosis Reich dar, die um seine Gunst buhlten. »Die sogenannten Schweber«, erinnerte mich der Extrasinn. »Vorwärts!« summte hinter mir der An führer der Garde und trieb mich auf die Treppe zu, die in den Thronraum hinabführ te. Unter der Kuppel hingen in metallenen Käfigen eine Anzahl von Leuchtwürmern, die den Thronraum hell ausleuchteten. Als ich das Podest erreicht hatte, links und rechts flankiert von den bewaffneten Gardisten, stoppte mich ein kurzer Ruck des Lassos, das um meine Schultern lag. Ein längeres Schweigen entstand. Ich wußte jedoch, daß die Wache Bericht erstattete, wenn auch für meine Ohren un hörbar. Der rückwärtige Mund des Vorschwebers sang eine getragene Tonfolge.
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»Wir begrüßen heute einen Fremden, von dem wir bereits wundersame Dinge vernah men. Er muß weit gewandert sein und kennt bestimmt Ebenen, die wir noch nicht ken nen. Sicher kann er viel erzählen.« Ein Konzert herrlicher Töne hub an, als die Schweber ihrer Bewunderung Ausdruck verliehen und einige meiner »Heldentaten« hervorhoben. Wenn mich nicht alles täuscht, dachte ich, im stillen erheitert, so spielt man dir eine ge konnte Komödie vor. Es kommt nur darauf an, daß du zuletzt lachst. »Kein Zweifel«, wisperte mein Logiksek tor. »Man spielt dir etwas vor. Doch denke an deinen Vorsatz – spiele mit. Biete ihnen ein Schauspiel und vergiß dabei eines nicht: Der Vorschweber will etwas von dir. Was er genau im Schilde führt, wirst du schnell ge nug herausbekommen, denke ich.« Ich wandte meine Aufmerksamkeit wie der dem Vorschweber zu. Der mir zugewandte Mund öffnete sich. »Willkommen, Fremder!« Ich mußte den Kopf etwas in den Nacken legen, um zu Brägatz Ovrosi aufschauen zu können. »Ich danke dir, Erhabener. Mögest du im mer genug Schotenbäume in deinen Gärten haben.« Das übliche Begrüßungsritual. Die Balgmuskeln der Dnofftries erzeugten Zehnsekunden-Konzerte der Bewunderung, als ich diese Worte fließend in ihrer Sprache hervorbrachte. »Doppelt willkommen!« sang der Vor schweber. »Darf ich deinen Namen wis sen?« Ich war überzeugt, daß er ihn längst kann te, aber ich spielte die Komödie mit, so wie es mir mein Extrasinn geraten hatte. »Ich bin Atlan von Arkon. In meiner Ebe ne bin ich unter den Stämmen meines Vol kes ein König.« »Höchst interessant!« orgelte der Erhabe ne Vorschweber. »Es war mir von Anfang an klar, daß du nur ein König sein konntest, nachdem ich hörte, wie du kämpfen kannst
18 und welche Kräfte du besitzt. Nun, ich hof fe, du wirst dich trotzdem hier wohl fühlen. Nehmt ihm die Fesseln ab, sie sind seiner unwürdig.« Im Innern zollte ich ihm Anerkennung, während ich registrierte, wie eine Welle der Unruhe durch die Reihe der dnofftriesischen Würdenträger ging. Ein geschickter Schach zug des Vorschwebers. Er ging das Risiko meiner Freilassung ein, um seinen Mut und seine Furchtlosigkeit mir und seinen Unter tanen gegenüber zu demonstrieren. Er begab sich allerdings in keine große Gefahr. Ich war sicher, daß in jeder Phase unserer Unter haltung ständig ein gutes Dutzend Harpunen und Lanzen auf mich zielten. Der Balkon hinter und über mir war von den schwerbewaffneten Gardisten einge nommen. »Ich danke dir, Erhabener«, sagte ich. »Deine Güte ist nicht zu übertreffen und ent spricht den Erzählungen, die Wanderer an unseren Feuern berichteten.« Ich wartete ge spannt auf eine Reaktion – aber der Vor schweber schluckte kommentarlos die dick aufgetragene Schmeichelei. Und so fügte ich unverfroren hinzu: »Vor allem danke ich dir, daß du mich aus meiner Gefangenschaft bei diesen ver ruchten Ausgestoßenen befreit hast.« Einer der Schweber rief: »Man hat uns berichtet, daß du gar nicht gefangen gewesen sein sollst. Warst du nicht ein Freund dieses dreimal verfluchten Ssu mas?« »Pah«, sagte ich wegwerfend. »Geschwätz.« »Kein Geschwätz«, der Dnofftrie blieb beharrlich. »Man hat uns noch ganz andere Dinge berichtet.« Ich wartete einige Sekunden mit der Ant wort. Dann sagte ich mit Bestimmtheit und todernstem Gesicht: »Wer viel redet, berichtet viel Unsinn.« Der Balgmuskel des Schwebers geriet in erregte Schwingungen. »Kann es sein, daß doch ein Körnchen Wahrheit in diesem Unsinn ist?«
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»Um es genau zu sagen«, erwiderte ich und überlegte mir, welchen der Würdenträ ger ich mir als Schutzschild nehmen sollte, wenn es dem Vorschweber einfiel, auf mich schießen zu lassen, »in jeder Lüge steckt ein Körnchen Wahrheit.« »Interessant«, sang der Chor der übrigen Würdenträger. Der hartnäckige Schweber: »Dann stimmt es also, daß du die Piraten in deiner Art des Kampfes unterrichtet hast? Viele meiner Kämpfer mußten deshalb den Weg zum Ende der Ebene –« Ein entsetztes Stöhnen ging durch die versammelten Dnofftries, bei der Erwähnung dieses schrecklichen Ortes »– antreten.« »Offenbar ist dein Gesprächspartner so etwas wie der Kriegsminister des Vorschwe bers«, kam der Kommentar meines Logik sektors. »Verständlich, daß der Verlust vie ler seiner Leute ihn nicht gerade zu deinem Freund macht.« »Ein echter Kämpfer fragt nicht danach, wann er die letzte Reise antreten muß«, hielt ich dem Dnofftrie entgegen. Längst hatte ich erkannt, daß in der Mentalität dieser blau häutigen Kegel die kriegerischen Tugenden besonders hoch eingeschätzt wurden. Die Balgmuskeln der übrigen Würdenträger er zeugten reine Töne der Zustimmung. Ich wandte mich dem Vorschweber zu, als ich fortfuhr: »Bedenkt meine Lage, Erhabener! Durch widrige Umstände, die zu beschreiben ich jetzt keine Töne finde, in dein Reich ver schlagen, fand ich mich allein. Meine Lage schien aussichtslos, da kam dein Expediti onsleiter vorbei und half mir. Meine Freude kannte keine Grenzen, wußte ich doch, daß du ein weiser und gerechter Herrscher bist. Aber wer beschrieb mein Entsetzen, als wir plötzlich von den Piraten überfallen wurden. Ich half deinen Leuten, so gut ich konnte, das wirst du sicher berichtet bekommen ha ben. Aber die Übermacht war zu groß, au ßerdem war ich noch geschwächt von den Strapazen meiner langen Irrfahrt …« Ich sprach und sprach und ließ mich dabei ganz von den Impulsen meines Extrasinns
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leiten, der fortwährend alle bewußten und unbewußten Wahrnehmungen meiner Sinne empfing und entsprechend auswertete. Und ich schloß mit den Worten: »Konnte ich etwas anderes tun als das, wozu man mich zwang? Außerdem bin ich ein Kämpfer. Ich lehre meine Kunst dem, der sie bezahlt. Was ist daran verwerflich?« Das Schweigen dauerte lange. Hatte ich etwas falsch gemacht? Zu dick aufgetragen? »Du warst genau richtig«, beruhigte mich der Logiksektor. Und als der Vorschweber zu sprechen be gann, wurden meine Vermutungen zur Ge wißheit. »Es kamen viele Kämpfer in mein Reich«, sang der eine Mund, der zweite fuhr fort: »Viele kannten den Kampf nur aus Er zählungen. Ich jagte sie davon. Sie wollten nur durchgefüttert werden, ohne etwas dafür zu leisten. Aber ein kleiner Teil von denen, die ich aufnahm, war brauchbar. Sie lehrten meine Wächtern vieles – aber als ich von deinen Methoden hörte, wußte ich, daß sie vieles noch nicht kannten. Verstehst du?« Ich verstand sehr gut. Es bestand kein Zweifel daran, daß Brä gatz Ovrosi in mir eine willkommene Berei cherung seiner Sklaven sah. Außerdem rech nete er damit, einen bedeutenden Prestigege winn bei seinen Untertanen zu erlangen und gleichzeitig seinen Gegnern eine deutliche Warnung zukommen zu lassen. Ich verstand ihn wirklich gut. Wer sonst in diesem Mikrokosmos konnte von sich be haupten, ein Monstrum mit gewaltigen Kräf ten in seinen Diensten zu haben? Wohl nie mand.
* Die Szene hatte gewechselt, die Beteilig ten nicht. Der Raum war ganz und gar in den Fels gehauen, obwohl sich diese Arbeit meinem Vorstellungsvermögen entzog. Die Dnoff tries kannten weder Sprengstoffe noch hat
ten sie irgendwelche mechanischen Bearbei tungsmaschinen. Unzählige von ihnen muß ten lange und ununterbrochen an dem Bau der Festung gearbeitet haben. »Das Prinzip der Feudalherrschaft«, mel dete sich mein Logiksektor. »Jeder ist hier Diener oder Sklave des Vorschwebers. Ihr Lohn ist, daß sie leben dürfen. Einige weni ge gut, die meisten schlecht.« Der Raum war hell ausgeleuchtet. In vie len tiefen Nischen schimmerten die Metall statuen der Nachbildungen des Vorschwe bers, spiegelten sich im polierten Fußboden. Mißtrauisch betrachtete ich eine große Platte voller seltsamer Früchte aller Arten und Farben, die mir ein Dnofftrie präsentier te. Ich rührte sie nicht an. Statt dessen nahm ich mir von den Kornfladen, die ich schon kannte, griff mir einige Stücke Fruchtfleisch der Baumschoten und aß. Die Sitztröge waren rings an der Wand des kreisrunden Saales angebracht; ich fühl te mich unglücklich in diesem ungewohnten Sitzmöbel, hatte aber der Aufforderung des Vorschwebers folgen müssen, der mich ne ben sich bat. Er verschlang große Stücke undefinierba ren Zeugs, während er sich mit mir unter hielt; er hatte ja Münder genug, um beides gleichzeitig tun zu können. »Höre, Atlan«, sagte er. »Ich höre!« »Willst du nicht in meine Dienste treten? Du könntest meinen Wächtern das gleiche lehren, was du den Piraten beigebracht hast. Du hättest große Vorteile davon. Vor allem wärst du meiner Gunst sicher.« Ich schwieg. »Tu, was er verlangt«, riet mir der Logik sektor. »Bedenke die Möglichkeiten, die sich dir auf tun. Als Ovrosis Protege bist du rela tiv sicher. Man wird dich überall mit Zuvor kommenheit behandeln, wird sich deinen Fragen kaum verschließen. Allerdings wirst du auch auf der Hut sein müssen. In einem derart feudalistisch regierten System sind Intrigen und Korruption an der Tagesord nung. Du schläfst also besser immer mit dem
20 Schwert in der Faust.« Eines der visuellen Organe hinter Ovrosis Augenband starrte mich an. »Wirst du hierbleiben?« Ich gab mit der bekannten zweioktavigen Tonfolge meine Zustimmung. Ovrosis Balgmuskel signalisierte Zufrie denheit. »Allerdings«, so schränkte ich ein, »nur für eine gewisse Zeit. Dann muß ich mich wieder auf die Suche machen.« »Du suchst etwas? Was ist es?« »Den Weg zurück zu der Ebene meines Volkes«, erwiderte ich. Ohne daß ich es merkte, hatte sich mein Gesichtsausdruck verändert. Ich war traurig und gleichzeitig verbittert, haderte mit meinem Schicksal. Ei ner der dnofftriesischen Sklaven reichte mir eine kopfgroße Frucht, in der ein Halm stak. Mechanisch sog ich daran; der Saft schmeckte kühl und scharf. »Atlan!« rief einer der Würdenträger plötzlich. »Ja?« gab ich in gleicher Lautstärke zu rück. »Woher kommst du?« Diese Frage mußte früher oder später ge stellt werden. Ich wunderte mich nur, daß sie so spät an mich gerichtet wurde. »Das ist eine lange Geschichte«, antwor tete ich. »Werde ich euch nicht damit lang weilen?« »Berichte!« entschied Ovrosi. Ich lehnte mich in dem vertrackten Sitz trog so bequem wie möglich zurück und streckte die Beine aus. Ein oder zwei Sekun den lang überlegte ich, ob ich ihnen die Wahrheit sagen oder lügen sollte. Nur zu gut hatte ich noch Ssumas totales Unverständnis in Erinnerung, als ich ihm zu erklären ver suchte, was Sterne und Planeten waren. Ich beschloß, eine modifizierte Version meiner Geschichte zu erzählen, in der der tote Maahk eine nicht unerhebliche Rolle spielen würde. Ich entwarf in der musikalischen Sprache der Dnofftries ein Drama, um das mich die Künstler Arkons beneidet hätten. Berichtete von zwei Stämmen, die sich seit
Conrad Shepherd undenklichen Zeiten bekriegten, und daß ich von den Schergen des gegnerischen Herr schers gefangengenommen und verschleppt worden war. »… unzählige Tagesreisen von meinem Volk entfernt, in einer Gegend, die mir völ lig unbekannt war, warf man mich in ein Verlies. In der Folge hatte ich viele Demüti gungen zu erleiden. Aber ich gab nicht auf. Ich sann fortwährend über ein Entkommen nach. Dann gelang mir die Flucht«, fuhr ich nach einer kurzen Pause fort. »Ich tötete alle meine Wächter und floh über die Mauern ins Freie.« »Sprich weiter«, bat der Vorschweber, »auch wenn die Erinnerung dich würgt.« Ich räusperte mich. »Auf meinem Weg zurück zu meinem Volk kam ich in das Gebiet eines mächtigen Zauberers, der Gefallen an mir fand. Er zwang mich in seine Dienste, obwohl ich mich vor Sehnsucht nach meiner Ebene ver zehrte.« Die Balgmuskeln der Dnofftries signali sierten Verständnis; sie schienen ausnahms los von meiner Geschichte fasziniert. »Wie entkamst du ihm?« wollte Ovrosi wissen. »Ich lernte viele seiner Zaubersprüche, so konnte ich ihn eines Tages überlisten. Ich versetzte ihn in tiefen Schlaf und floh aus seiner Festung. Aber seine Macht reichte weit. Tagesreisen von seiner Festung ent fernt, belegte er mich mit einem fürchterli chen Bann, der mir die Erinnerung an den Weg in meine Heimat nahm. Dafür schwor ich ihm Rache und machte mich schnur stracks auf, um ihn zu töten. Um meinem gewaltigen Zorn zu entgehen, hatte er je doch seine Festung verlassen. Ich zerstörte sie, tötete seine Diener und Dämonen und setzte mich auf seine Fersen. Unerbittlich folgte ich ihm, verlor jedoch seine Spur – bis ich ihn in deiner Festung wiedersah.« »Du meinst …?« »Ja. Als ich ihn deine Festung bewachen sah, glaubte ich zuerst, er stünde in deinen Diensten. Mich beherrschte nur ein Gedan
Irrfahrt ins Nichts ke: Ich mußte ihn töten. Deshalb entledigte ich mich meiner Fesseln und bohrte ihm ei ne Lanze durch die Brust. Erst danach er kannte ich, daß jemand anderer bereits mei ne Rache vollendet hatte. Wer hat ihn getö tet? Warst du es?« Erwartungsvoll blickte ich Ovrosi an. Das Schweigen des Vorschwebers dauerte lange. Offensichtlich überlegte er, was er mir antworten sollte. Daß er den Maahk nicht getötet haben konnte, war ja klar. Der Methanatmer war an dem ihm unverträgli chen Sauerstoff gestorben. Es fragte sich bloß, ob Ovrosi ahnte, daß mir dieser Um stand bekannt war. Schließlich verneinte der Vorschweber meine Frage. Ich konnte ein Lächeln nicht unter drücken. Sicher war die Versuchung für Brägatz Ovrosi nicht unbeträchtlich gewesen, das Gegenteil zu behaupten. »Ein anderer hat also meine Rache vollen det«, bedauerte ich in klagenden MollAkkorden, die mir das Mitgefühl aller anwe senden Dnofftries sicherten. »Wer war es? Kennt jemand seinen Namen? Ich muß es wissen, denn ich schulde ihm Dank und Be lohnung gleichermaßen.« »Wir kennen den Tapferen nicht«, ant wortete einer der drei Münder des Erhabe nen. »Wie das?« wunderte ich mich. »Die Crew eines meiner vielen Segler fand jenen, den du Mächtigen Zauberer nennst …« Besser konnte der Vorschweber den Begriff »Maahk« nicht übersetzen. »Wo?« »In einem Gravo-Wirbel nahe der Grenze meines Reiches. Er lebte bereits nicht mehr.« »Wann haben ihn deine Untertanen ge funden, o Erhabener?« Meine Frage kam rein mechanisch, ohne eine bestimmte Ab sicht zu verfolgen. Mich beschäftigte etwas ganz anderes. »Vor etwa …« Ovrosi nannte einen Zeit punkt, der sich in etwa mit jenem deckte, als
21 ich erstmals bewußt dieses Kontinuum wahrnahm. Hmm – der Maahk mußte also während des Überfalls seiner Artgenossen in das Wir kungsfeld der eigenen Waffe geraten sein. Dank meines photographischen Gedächtnis ses sah ich das Bild des arkonidischen Flot tenstützpunkts so deutlich vor mir, als be trachtete ich es auf dem Sichtschirm eines Raumschiffs – und die Erkenntnis traf mich mit brutaler Deutlichkeit.
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Ich wagte kaum zu atmen. Was war geschehen? Amarkavor Heng, der Maahk, ich – wir konnten niemals als einzige in das Wir kungsfeld des maahk'schen Molekularver dichters gekommen sein. Diese neuartige Waffe war von den Methanatmern in einem Großeinsatz getestet worden, ein Großein satz, der die Vernichtung Trantagossas zum Ziel hatte. Durch meine aufgewühlten Empfindun gen brachen sich die Impulse meines Extra sinns eine Bahn. »Es müssen viele von der Waffe der Maahks getroffen worden sein. Die Wahr scheinlichkeit, daß sich außer dir noch wei tere Arkoniden hier befinden, ist demnach entsprechend hoch. Suche und finde sie, At lan, und du wirst nicht mehr allein sein. Ge meinsam gelingt es euch dann vielleicht, einen Weg zurückzufinden.« Das war es! Ich war am Scheideweg angelangt und zö gerte keine Sekunde, die Richtung zu wäh len, die mir der Logiksektor aufzeigte. In Ovrosis Diensten mußte ich danach trachten, einen möglichst hohen Rang zu erreichen, der mir die größtmöglichsten Freiheiten ließ. Dadurch würde ich in die Lage versetzt wer den, weitreichende Nachforschungen dar über anzustellen, ob sich außer mir noch an dere Ungeheuer in diesem Kontinuum auf hielten. Ich atmete tief durch, hob den Blick und
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starrte an die Kuppeldecke des Thronraums, jedem Fall die »Schätze« des Vorschwebers unter der die Leuchtwürmer in ihren Käfigen zu bewundern. Egal, was mich erwartete. hingen. Doch nun war ich ehrlich begeistert von »Gefallen sie dir?« trompetete mich dem, was ich sah. Wir befanden uns auf einer Rampe, die Ovrosi an. Ich schrak zusammen. sich in halber Höhe an die Innenwand der »Wie …?« Schatzkammer schmiegte und zur Mitte hin »Du bist mit Recht begeistert«, summte abfiel. der Vorschweber, und der Balgmuskel sand Eine wahre Lichterflut umspielte uns. Un te Signale des Stolzes aus. »Es sind ausge sere Körper warfen tiefe Schlagschatten. suchte Exemplare, ich konnte sie nur unter Das Gleißen und Glitzern stammte von dem Mühen auftreiben.« guten Hundert Leuchtwürmer, das sich in Ich beherrschte mich nur mühsam. Nur der schüsselförmigen Vertiefung der Kaver das Wissen, daß der Dnofftrie keine Ahnung ne träge bewegte. hatte, was in mir vorging, hinderte mich, et Die anorganischen Lebewesen strahlten in was Unüberlegtes zu tun. Statt dessen sagte einer Reinheit, daß ich Ovrosis Besitzerstolz ich: nachfühlen konnte. »Es stimmt – sie sind schön.« Erbrüstete sich: Ovrosis Balgmuskel vibrierte vor Eitel »Was du hier siehst, Atlan, hat manche keit. Crew und manches gute Schiff gekostet. Du mußt wissen, die Mahlströme, in denen al »Ich sehe, du bist ein Kenner. Habt ihr in eurer Ebene auch derart ausgesuchte Leucht lein diese Leuchtwürmer entstehen, sind würmer?« tückisch. Sie sind tödlich für den, der sich Ich verneinte. ohne Mut und Entschlossenheit in sie wagt.« »Schmeichle ihm«, wisperte mein Extra »Ich glaube dir«, erwiderte ich und erin sinn. »Er ist eitel und arrogant und von nerte mich des gefährlichen Schauspiels, als Speichelleckern umgehen. Du mußt dich auf ich im Schlepp der ROBA-SUR einen sol deren Niveau begehen, wenn du etwas errei chen Mahlstrom an Gravitationsenergien chen willst.« passierte. Ich stimmte ein Fünfzigsekundenkonzert In diesem Moment geschah das völlig Un an, in dessen Verlauf ich durch meine erwartete. Schmeicheleien Ovrosis Psyche in Ekstase Von einem Augenblick zum anderen versetzte. Und der blauhäutige Bursche fiel wechselte die Szene. tatsächlich darauf herein. Ich hatte keine Veränderung bemerkt – Er schob seine Greifpfoten unter der Ke und trotzdem lag ich plötzlich inmitten der gelbasis heraus, setzte sie auf den Boden Leuchtwürmer. und stand auf. Ovrosi kreischte entsetzt auf, während ich »Komm, Atlan!« befahl er. »Du sollst verdutzt versuchte, auf die Beine zu kom meine Schatzkammer sehen.« men. Doch eine tonnenschwere Last nagelte mich fest. »Die Schwerkraftströmung hat sich bin * nen Sekundenbruchteilen mehrmals geän Die Wache öffnete auf einen Befehl dert«, ermittelte mein Logiksektor. »Das Ovrosis hin die schweren hölzernen Türen. ging so schnell, daß dein relativ langsames Ich trat hindurch – und verhielt mitten im Bewußtsein die Veränderungen erst regi Schritt. strierte, nachdem sie bereits wieder auf ge »Phantastisch!« entfuhr es mir ungewollt. hört hatten. Kein Grund zur Panik.« Ich war mit dem Vorsatz gekommen, in Er hatte gut reden. Als mein Blick auf den
Irrfahrt ins Nichts tobenden Vorschweber fiel, hätte ich mich am liebsten in irgend ein Loch verkrochen. Ich hätte vielleicht genauso reagiert. Wäh rend meines Sturzes hatte mein gewichtiger Körper den größten Teil der Leuchtwürmer zerschmettert. Was übrigblieb, war nur noch ein trauriger Rest der ehemaligen Pracht. Die Luft knisterte vor Elektrizität, die ent standen war, als sich die Leuchtwürmer auf lösten. »Komm sofort da heraus!« kam das For tissimo des Vorschwebers. Das Augenband des Erhabenen wechselte fortwährend die Farbe. Er schien völlig geschockt zu sein. »Ich kann nicht!« schrie ich zurück und stemmte mich mit aller Kraft diesem Zerren entgegen – und Augenblicke später änderte sich erneut die Schwerkraftströmung. Die Folge war, daß ich einen gewaltigen Satz hinauf machte, mich mit den Händen an der Decke abbremste und durch den Schwung wieder zurückfiel. Als sich das Gravitationsfeld wieder so weit stabilisiert hatte, daß ich es als normal empfand, hatte ich noch einige der energeti schen Lebewesen zerstört. Mit gemischten Gefühlen machte ich mich an den Aufstieg. Im Licht der übrig gebliebenen Leucht würmer sah ich, daß Ovrosis Augenband in zwischen völlig blind geworden war. Der Dnofftrie hatte sich in sich selbst zu rückgezogen. Da er in diesem Zustand nicht ansprech bar war, hockte ich mich mit untergeschla genen Beinen auf die Rampe und harrte der Dinge, die unweigerlich über mich herein brechen würden. Ich schickte einen projizierenden Impuls an die Adresse meines Logiksektors: »Kein Grund zur Panik, wie?« »In der Tat«, kam die spöttische Antwort. »Er wird es überleben, zumal du für ihn von fast noch größerem Wert sein wirst als jeder Leuchtwurm.« »Hast du dich schon mal geirrt?« erkun digte ich mich. »Ich irre mich nie – und du weißt das.«
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Der dnofftriesische Herrscher schien sich wieder gefaßt zu haben. Sein Augenband wurde klar, und alle drei Organe starrten mich an. Ich starrte zurück. Sekundenlang fochten wir beide ein Duell mit Blicken aus. Schließlich öffnete sich die Hautfalte zwi schen den beiden mir zugewandten Armen, der Mund stülpte sich heraus und sang eine traurige Folge von Tönen. »Du hast mich zu einem armen Mann ge macht, Atlan, bist du dir darüber klar?« Ich sang die zweioktavige Zustimmung. »Hast du etwas zu deiner Entschuldigung zu sagen?« »Vieles …«, begann ich eifrig und legte ihm in einem schnellen Dreißigsekunden konzert, daß die Zerstörung der Leuchtwür mer niemals meine Absicht gewesen sei, sondern nur eine Häufung unglücklicher Zu fälle, an denen ich keine Schuld trüge. Ich endete mit dem Versprechen, alles zu tun, um mich auch weiterhin seines Wohlwollens zu erfreuen. Ovrosi schwieg zunächst. Ich überlegte, ob es zu wenig gewesen war, was ich ihm versprach. »Du warst hervorragend«, meldete sich mein Logiksektor sarkastisch. »Ich an Ovro sis Stelle würde jetzt in Tränen ausbrechen ob dieses Treuebekenntnisses.« Der Dnofftrie rührte sich. »Gut denn, ich erwarte von dir, daß du mir zumindest die gleiche Anzahl Leucht würmer verschaffst!« Ich atmete langsam aus. »So soll es geschehen. Aber das muß nicht heißen, daß ich jetzt sofort damit be ginne, oder?« Ovrosi verneinte. »Um so weniger, da ich dir nicht gestatte, auf eigene Faust etwas zu unternehmen, At lan. Wer in Su-Ra etwas tut oder nicht und wann er es tut, bestimme ich.« »Ganz wie du möchtest.« »Du wirst also vorläufig keinen Ton dar über verlieren, was hier geschehen ist. Du verstehst?« Ich verstand überhaupt nichts, aber das
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behielt ich für mich. Statt dessen fragte ich: »Und die Wächter?« Ovrosis Balgmuskel produzierte erstmals wieder so etwas wie Heiterkeit. »Sie sind weder in der Lage etwas zu hö ren, noch können sie sprechen. Zufrieden?« Ich bejahte, obwohl mich anbetrachts die ser Grausamkeit schauderte.
* Nach diesem Vorfall sahen wir uns nur immer für kurze Augenblicke. Mir war es recht so. Inzwischen nahm ich die Gelegenheit wahr, mich in Su-Ra umzu sehen. Die Bevölkerung – es waren höch stens zehntausend Dnofftries, von denen fast alle im Dienste des Vorschwebers standen – begegnete mir mit Zurückhaltung, ja sogar mit offener Ablehnung, die ich mir anfangs nicht erklären konnte und fälschlicherweise darauf zurückführte, daß ich wohl noch im mer als Freund der Piraten galt, die in Su-Ra beheimatet gewesen waren, ehe sie ausge stoßen wurden. Täglich unterwies ich die Leibgardisten des Vorschwebers in meiner Art des Kamp fes mit dem Schwert oder der Lanze, die ich mehr als Kampfstock benutzte. Aber ich war nicht mit jener Freude dabei, wie ich sie in Ssumas Felsenfestung empfunden hatte. Auch hier die gleiche Zurückhaltung. Trotzdem fand ich einen zernarbten Dnoff trie, der mir einige Fragen beantwortete. Und von ihm erfuhr ich, daß nicht meine Freundschaft mit den Ausgestoßenen der Grund ihrer Zurückhaltung war, sondern die Tatsache, daß ich als Favorit des Vorschwe bers galt. Damit war mir vieles klar. Ich hatte schon vorher die Vermutung gehabt, daß Brägatz Ovrosi alles andere als beliebt bei seinen Untertanen war. Jetzt hatte ich den unum stößlichen Beweis. Ich tat nichts dagegen, diese Unbeliebtheit zu ändern. Ich hatte eine klar umrissene Vorstellung von dem, was ich tun mußte, um mir jene Vorteile zu verschaffen, die für
meine Nachforschungen unumgänglich wa ren. Im Gegenteil. Auf Grund meines Ge wichts sorgte ich mehr als einmal für Zwi schenfälle. Wenn ich mich durch die Korri dore und über die Galerien der ausgehöhlten Felsen von Ovrosis Reich bewegte, geschah es häufig, daß ich einfach einbrach und in den privaten Bereichen empörter Dnofftries landete. Ich wurde sogar offen angefeindet. Doch niemand wagte es, sich mit mir in einen Kampf einzulassen. Der Ruf meiner Unbesiegbarkeit schien sich wie ein Lauf feuer in Su-Ra ausgebreitet zu haben, nach dem ich in einer Phase tiefster Depression die Crews zweier Gravo-Segler buchstäblich aufgerieben hatte, die es wissen wollten. Danach ließ man mich endgültig in Ruhe. Seltsamerweise kannte der Ehrenkodex der Dnofftries keinerlei Meuchelmorde. Die ersten paar Tage lebte ich in ständiger Angst, einen vergifteten Harpunenbolzen oder eine Lanze zwischen die Schulterblätter zu bekommen. Diese Angst nahm mir Oira, der Anführer von Ovrosis Leibgardisten. Wir hatten mehr als eine Stunde in der Arene geübt. Nun hockte ich am Rand der Übungsfläche und trocknete mir mit einem grob gewebten Tuch, das ein stummer Sklave bereitgelegt hatte, den Schweiß ab. An der lederharten Haut des Dnofftries konnte ich keinerlei An zeichen von Transpiration erkennen. Wir hielten uns in den Kavernen der Wächter auf, waren also innerhalb der Fe stung des Vorschwebers. Die Leibgardisten genossen nächst den Würdenträgern, die mir nur plappernde Marionetten zu sein schie nen, die meisten Privilegien. Ihre Speisen waren ausgesucht und reichhaltig. Ständig waren Sklaven bereit, ihre Wünsche zu er füllen. Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen die Felswand und überlegte meine Worte sorgfältig, ehe ich fragte: »Hat es eigentlich schon viele Attentate auf den Vorschweber gegeben?«
Irrfahrt ins Nichts Oiras Augenband überzog sich mit einem Schleier. »Ich verstehe deine Frage nicht, Freunddes-Vorschwebers.« Der Anführer der Gardisten war vorsich tig. Und in diesem System von Korruption und Intrigen, das am Hofe des Vorschwe bers herrschte, war eine solche Haltung wichtig, wollte man nicht in Ungnade fallen. Allein Oiras Bezeichnung für mich war ty pisch. »Nenne mich Atlan«, sagte ich hart. »Es hat also noch keiner versucht, den Er habenen durch einen blitzschnellen Dolch stoß oder Schwerthieb zu töten?« »Niemand hat es gewagt. Und niemand wird es je wagen wollen.« »Weshalb nicht?« blieb ich hartnäckig. »Es ist Gesetz.« »Wessen Gesetz?« »Das unsere, Atlan. Wie es in deiner Ebe ne sein mag, weiß ich nicht. Hier jedenfalls töten wir nur im Zweikampf – wenn wir uns nicht gerade im Krieg befinden.« »Dann lasse mich meine Frage anders stellen: Hat noch niemand versucht, den Vorschweber in einem Duell zu töten?« »Doch.« »M-hm.« Ich war einigermaßen verwirrt. »Ich habe nicht den Eindruck gewonnen, das Ovrosi ein Mann des Schwertes oder der Lanze ist.« »Das braucht er auch nicht. Weißt du nicht, daß bei einem Duell nicht die Gegner aufeinandertreffen müssen?« Ich sang den schrillen Ton der Vernei nung. »Es ist üblich«, fuhr Oira fort, und sein Balgmuskel vibrierte nachsichtig, »daß man Vertreter ernennt. Und wir sind die Vertreter des Erhabenen.« »Damit ist eine deiner früheren Fragen beantwortet«, meldete sich mein Extrasinn, »weshalb der Erhabene Wächter braucht.« Natürlich! Mit einemmal sah ich klar. Oira und seine Gefährten waren die Ga rantie für das Fortbestehen der Macht Brä
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gatz Ovrosis. Wer immer seinen Rücktritt forderte, mußte dies durch einen öffentli chen Zweikampf tun. Ein hoffnungsloses und in jedem Fall töd liches Unterfangen. Ich begann langsam zu begreifen, weshalb Ovrosi so erpicht darauf gewesen war, mich in seine Dienste zu nehmen, daß er mir so gar die Zerstörung seiner Leuchtwürmer nachsah. Indem ich seinen Wächtern meine Art des Kampfes lehrte, machte ich sie noch unschlagbarer. Und nun sah ich auch den Überfall auf Ssumas Felsenfestung in einem anderen Licht. »Seit er von Logatzoi gehört hatte, wel che gewaltige Kräfte du besitzt, lebte er in ständiger Angst, Ssuma könnte dich für einen Umschwung der Verhältnisse in Su-Ra gewinnen. Dem mußte er zuvorkommen.« Ich mußte den Ausführungen meines Lo giksektors zustimmen. Sie waren, wie im mer, äußerst genau. Ich warf das Tuch zur Seite und stand auf. »Wollen wir noch eine Runde kämpfen?« fragte ich Oira.
* Daß dieser Ehrenkodex, niemals jeman den hinterrücks zu ermorden, nicht für Fremde zu gelten schien, mußte ich eines Abends auf sehr drastische Art und Weise erkennen. Ich war wieder an der Mole gewesen, um mich mit den Crews zu unterhalten, die mehr über das uns umgebende Medium wußten, als jeder anderer Dnofftrie. Ich spendierte Unmengen der Trinkfrüchte und stellte jedem meine Frage, und ich bekam immer die gleiche Antwort: Geschöpfe wie mich habe man in den letzten fünfzig Tages perioden und wahrscheinlich noch länger nicht gesehen. Ich merkte wieder einmal, daß man mich mit einer gewissen Nachsicht behandelte. Ich konnte es ihnen nicht verdenken. In einer Kaverne neben einer Schiffswerft machte sich ein alter Dnofftrie an mich her
26 an, der weit herumgekommen schien. Er be richtete mir, daß am Nachmittag ein Segler angelegt hätte dessen Mannschaft mir viel leicht einen nützlichen Hinweis geben könn te. »Zeige mir den Weg«, bat ich. Der zernarbte, lederhäutige Bursche pro duzierte eine rasche Tonfolge. »Du wirst den Liegeplatz nicht verfehlen …« Er beschrieb mir einige markante Punk te, nach denen ich mich richten sollte, dann tauchte er zwischen den anderen Dnofftries unter. Ich warf dem Wirt eines der farbigen Hölzchen zu, das in Su-Ra begehrtes Zah lungsmittel war, und schob mich nach drau ßen. Die Festung des Vorschwebers trug die größte Mole und war gleichzeitig Hauptha fen der Gravo-Segler, ein lauter, geschäfti ger Mittelpunkt für stattliche Schiffe. Und hier standen auch die meisten Werften. Die Farben der Nacht zogen über den Himmel und veränderten das Aussehen der Docks. Ich ging mit raumgreifenden Schritten über die Mole. Links wiegten sich die Gra vo-Segler an ihren Distanzhaltern in der Schwerkraftströmung, rechts war die Fels wand ausgehöhlt und zu großen Stapelplät zen erweitert, in denen ich Tuchballen, Seil rollen und Kanthölzer erkannte. Dann mußte ich durch eine Dockanlage gehen; dahinter, so der Dnofftrie, lag der Segler, der mein Ziel war. Ich schritt zwischen den aufge dockten Kastenrümpfen der halbfertigen Gravo-Segler hindurch. Tagsüber arbeiteten viele Dnofftries hier. Jetzt war der Platz leer. »Gefahr!« sagte mein Extrasinn scharf. Wo? »Vor dir!« Ich durchforschte das Terrain vor mir mit meinen Blicken, während ich langsamer ging. Am Ende der Dockanlage führte mein Weg dicht an einem Kastenrumpf vorüber, auf der anderen Seite erhob sich die Galerie eines doppelstöckigen Stapelplatzes. Die
Conrad Shepherd Stelle war für einen Überfall wie geschaffen. Ich nickte grimmig, lächelte und schlug einen Haken. So leise wie nur möglich ging ich in die niedrige Säulenhalle des Stapel platzes hinein und war noch keine zwanzig Schritte gelaufen, als ich die aufwärtsführen de Rampe entdeckte. Ich lockerte das Schwert am Gürtel und trat leise auf. Ich hoffte nur, daß ich auf ge wachsenem Fels blieb. Jetzt in einen darun terliegenden Korridor zu krachen, würde sich als fatal erweisen. Mein Aufstieg blieb unbemerkt. Gleich darauf huschte ich zwischen Se geltuchballen und Seilrollen wieder nach vorn. Dann blieb ich eng an eine Säule gepreßt stehen und betrachtete das Bild von links nach rechts; es hätte nicht romantischer sein können. Die Farben der Nacht schimmerten und Übergossen die Szene mit ihrem Schein, der alle Kanten abrundete, weicher machte und nirgends harte Übergänge schuf. Unter mir lagen die Rümpfe der halb- und drei viertelfertigen Schiffe, weiter draußen schaukelten die Mastspitzen der Segler. Was war das? Eine Bewegung oder Täuschung meiner Sinne? Rechts vor mir, im Schatten einer dicken Säule erkannte ich einen blauen Fleck. Ich verschmolz mit meiner Umgebung, wagte kaum zu atmen. Ich kannte die Emp findlichkeit der dnofftriesischen Hörorgane. Ich war außerdem durch den Umstand ge handikapt, daß die Dnofftries Allseitenseher waren. Der blaue Fleck vor mir am Rand der Ga lerie bewegte sich. Ich sah den matten Glanz von Metall; Schwert und Lanze. Etwas klirr te leise, und nun huschten weitere blaue Flecke auf den ersten zu. Von beiden Seiten kamen die Dnofftries – ich sah nur ver schwommen ihre kegelförmigen Gestalten und darauf Lichtreflexe. Sie trugen Rüstun gen! Ich bewegte mich nun meinerseits. Wie gut, daß die Stapelplätze aus dem gewachse
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nen Fels herausgearbeitet waren, wobei man vor mir bewegte sich einer der Dnofftries. »Wann kommt der Fremde denn?« summ die dicken Säulen als Restmaterial hatte ste henlassen. So war eine homogene Verbin te ein verhaltenes Organ. dung entstanden, die bei weitem nicht jenen »Er müßte schon längst da sein«, wurde Grad der Zerbrechlichkeit aufwies, wie es ihm geantwortet. bei einem gemauerten Gebäude unweiger Trotz meiner Lage huschte ein Grinsen lich der Fall gewesen wäre. Nicht einmal ein über mein Gesicht. Sandkorn knirschte unter meinen nackten Ich spannte meine Muskeln und schob Sohlen. mich seitlich aus meiner Deckung. Ich hielt die widerhakenbewehrte Schnei »Hier bin ich!« sagte ich laut. de des gekrümmten Schwertes waagrecht Ein erschrockenes Trompeten ertönte. vor mich hin. »Der Fremde …!« Langsam schlich ich näher. Auf meinem »Der Günstling des Vorschwebers … Gesicht bildete sich ein Schweißfilm; die hierher! Schnell!« salzige Feuchtigkeit sickerte in meine Au Ein metallenes Knacken, und ein Harpu gen und ließ mich blinzeln. nenbolzen jaulte knapp an meiner rechten Das Pochen meines Herzens erschien mir Wange vorbei und schlug einen beträchtli übermäßig laut in der Stille um mich herum. chen Felssplitter aus der Säule hinter mir. »Das sind Dnofftries!« sagte mein Logik Ich machte sechs schnelle Schritte, wech sektor. »Aber keine Wächter, auch wenn sie selte das Schwert in die linke Hand und griff Rüstungen tragen.« mir im Vorbeilaufen ein mehr als zwei Me Noch fünfzehn Meter trennten uns jetzt. ter langes Kantholz von einem Stapel. Die blauhäutigen Burschen warteten. Ich holte gerade aus, um mit einem Rund Worauf? schlag die Dnofftries vor mir von der Gale »Auf das Signal zum Losschlagen«, wis rie zu befördern, als wieder einmal die Sze perte mein Extrasinn. ne wechselte. Ich setzte vorsichtig einen Fuß vor den Der Überbau des darunterliegenden Sta anderen und ging noch näher heran – noch pelplatzes schien doch nicht meinen Anfor immer im Schatten innerhalb der niedrigen derungen zu genügen. Ein Krachen und Prasseln – und ich fand Halle, während die Dnofftries, sieben an der mich auf der darunterliegenden Ebene inmit Zahl, draußen am Rand der Galerie lauerten. ten eines Trümmerberges wieder. Staub wir Hinter mir war niemand, sonst hätte mich mein Extrasinn gewarnt. belte auf, legte sich ätzend auf die Schleim Nur sieben! häute und versperrte mir die Sicht. Über mir »Es sind nicht alle, verlaß dich darauf«, lösten sich noch weitere Trümmer und pol kamen die Impulse meines Extrasinns. »Sie terten herab. sollen dich vermutlich von oben nur bewe gungsunfähig machen, indem sie dir Lassos 5. über den Kopf werfen.« Ich fluchte. Wahrscheinlich sollte es so ablaufen. Warm rann es an meinem linken Ohr her Ich verhielt meinen Schritt, nachdem ich unter. Blut floß … ein Brocken hatte meine hinter einem Segeltuchpacken angelangt Schläfe gestreift. Ich registrierte zusätzlich war. Irgendwann würden die Burschen auf einige Schürfwunden, ansonsten war mir merksam werden, weil ich nicht zwischen nicht viel geschehen. den Rümpfen auftauchte – doch bis dahin Anders war es den Dnofftries ergangen. hoffte ich, die Angelegenheit für mich ent Drei bewegten sich nicht mehr. Zentner schieden zu haben. schwere Platten hatten sie unter sich begra Mit angespannten Sinnen lauschte ich;
28 ben. Der Rest befreite sich eben aus den Trümmern und trompetete: »Hierher! Wir haben ihn!« Das war eine voreilige Bemerkung. Als sie sich auf mich stürzten, Lassos, Keulen und Schwerter in den Klauen schwingend, ließ ich mich nach rückwärts fallen, riß beide Beine hoch und trat mit der Wut eines gepeinigten Lasttiers aus. Mit einem orgelnden Stöhnen wirbelten zwei von ihnen wie von einem Katapult ab geschossen durch die Luft und klatschten in einiger Entfernung gegen die Felswand. »Wir haben ihn nicht!« knurrte ich und rappelte mich auf. Der einsame Dnofftrie, der noch übrig war, tat das einzig Richtige: er zog seine Greifpfoten unter sich, verdun kelte sein Augenband und verharrte re gungslos. Links über mir polterte es in dem aufge dockten Rumpf eines Gravo-Seglers. Etwa dreißig Dnofftries fielen von oben; sie hatten dort gelauert. Sie griffen an, und es war deutlich zu erkennen, daß sie den Auftrag hatten, mich umzubringen. Nur der Umstand, daß sie sich in ihrem Eifer gegen seitig in die Quere kamen, verhinderte in dieser Phase des Kampfes Schlimmeres, denn es bremste ihren Schwung. Ein Dnoff trie sprang mir mit voller Wucht in den Rücken, andere hängten sich mir an Beine und Arme. Endlich hatte ich einen festen Stand. Ich drehte mich selbst mehrmals um meine Ach se und schleuderte die blauhäutigen Bur schen von mir. Ich schlug mit dem Schwert zu, blitzschnell und doch methodisch. Die scharfe Klinge schlug grausige Wunden, verstärkt durch meine für dnofftriesische Verhältnisse sagenhafte Kraft drang sie tief durch die Lederhäute der Angreifer. Lange, kreischende Schreie ertönten. Und aus den umliegenden Rümpfen tauchten noch mehr Dnofftries auf. Wen hatte ich derart verärgert, daß er mir diese Armee auf den Hals schickte? Müßig, jetzt einen Gedanken daran zu verschwenden.
Conrad Shepherd Ich wütete. Die seit langem aufgestauten Spannungen brachen sich Bahn. Mein Schwert war nur noch als schimmernder Kreis zu sehen, so wirbelte ich es herum. Ich fühlte, wie mir der Schweiß ausbrach. Die Balgmuskel der Dnofftries erzeugten einen auf und ab schwellenden Ton, der an eine defekte Sirene erinnerte. Längst war aus der Lautlosigkeit des ver steckten Überfalls eine Kakophonie an Ge räuschen geworden. Ich stand nun mit dem Rücken gegen die Bordwand eines Seglers, der auf seinen Rollen lag. Um seine Unter seite reparieren zu können, hatte man ihn mit einem System von Latten gekielholt und abgestützt. Ich zerschlug mit einigen Hieben die Stützbalken, und knirschend legte sich der kastenförmige Rumpf in die Normallage, mindestens zehn der Angreifer unter sich be grabend. Drei, vier Dnofftries sprangen mich an, und ein Hieb mit einer Keule traf meine rechte Schulter. Der Schmerz fuhr wie ein Stromstoß meinen Arm entlang und ließ ihn nahezu gefühllos werden. Ich nahm das Schwert in die Linke, schleuderte, nachdem ich mich halb herumgedreht hatte, die zap pelnden Körper in eine Gruppe von Angrei fern, die sich eben anschickten, ein Netz über mich zu werfen. Sie verstrickten sich in ihren eigenen Maschen. Und dann war einen Moment lang Ruhe. Es war so überraschend für mich, daß ich es erst merkte, als ich sinnlos mit der Klinge die Luft zerschnitt. Ich sah, wie sich die Dnofftries etwas zu rückgezogen hatten und sich in rund zwan zig Schritten Entfernung wieder zum An griff gruppierten. Diesmal mit geänderter Taktik, wie ich mit deutlichem Schrecken erkennen mußte. Sie würden sich jetzt auf die weitragenden Harpunen und Lanzen verlassen. »Flieh!« gellte mein Extrasinn. Mit fliegenden Pulsen sah ich mich ge hetzt nach einem Versteck um. Und plötzlich wimmelte die Szene vor mir von Gestalten in mattschimmernden Rü
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stungen, über die einige Leuchtwürmer träge durch die Luft zogen. Ein Dreiecksmund heulte erschrocken: »Die Garde des Vorschwebers – wir sind verloren!« Ich stieß pfeifend den Atem aus und stütz te mich auf den Schwertknauf. Meine unbekannten Gegner wurden jetzt von den Rufen und den Klingen der Wächter aufgescheucht und rannten ziellos in alle Richtungen davon. Die Garde des Vor schwebers trieb sie unerbittlich zurück auf die Mole. Der Kampf zwischen ihnen war schnell beendet. Schließlich hörte ich einen Mund orgeln. »Atlan! Hier ist Oira! Lebst du?« »Ich lebe«, schrie ich zurück. »Hierher, Anführer der Garde!« »Halte aus!« Von allen Seiten kamen sie nun, schlos sen einen Ring um mich, und dann war der Kampf endgültig vorbei. Ich schüttelte mich, atmete tief ein und aus und fühlte erst jetzt die Schmerzen. Ich schob das Schwert zurück und starrte Oira an. »Weißt du, weshalb man mich töten woll te?« Oiras Balgmuskel vibrierte. »Noch nicht, aber ich werde es bald wis sen. Gehen wir, Atlan?« Ich versicherte wütend: »Gehen wir. Und morgen werde ich Ovrosi eine lange, doch wenig schöne Ge schichte erzählen, die sich hauptsächlich mit seiner Gastfreundschaft befassen wird.« Ich hatte eine Menge blauer Flecken und Abschürfungen eingesammelt, und meine Wut war dementsprechend. Mehr denn je verspürte ich den Wunsch, Su-Ra schnellstens zu verlassen, zumal ich hier keinen Schritt weitergekommen war.
* In der Folge hielt ich mich mehr innerhalb als außerhalb der Festung auf. Begreiflicher weise verspürte ich keine übermäßige Lust,
in einen neuerlichen Hinterhalt zu geraten. Die Felsen, Molen und Schiffsliegeplätze von Ovrosis Reich Su-Ra schienen mir nicht mehr sicher genug. Der Überfall war von langer Hand geplant gewesen, soviel erkannte sogar ich. Zeit punkt und Ort waren hervorragend aufeinan der abgestimmt gewesen. Nur wußte ich noch immer nicht, wem ich ihn zu verdanken hatte. Dann erschien zwei Tage später Oira un ter dem Spitzbogen meiner Unterkunft, die sich innerhalb der Kavernen der Garde be fand. Er stimmte ein höfliches Zweisekun denkonzert an, das mit der Bitte endete, sich setzen zu dürfen. Ich summte die zweioktavige Zustim mung. Oira schob die breite Basis seines Körpers über den Sitztrog, zog die Greifpfoten unter sich und blähte den Balgmuskel auf, bis die ser dicht mit dem Rand der schüsselförmi gen Vertiefung abschloß. Wir vollzogen das Ritual der Begrüßung. Dann sah ich ihn erwartungsvoll an. »Du bringst Neuigkeiten?« fragte ich. Zustimmung. »Welcher Art?« »Es ist bekannt, wer den Zorn des Erhabe nen herausforderte.« Ich war einen Augenblick lang verblüfft. Dann lachte ich hart. »Du meinst: wer mich beseitigen wollte!« Oiras Balgmuskel signalisierte Verlegen heit, die sich auch darin äußerte, daß er mit dem für mich nicht sichtbaren Mund auf sei ner Rückseite antwortete. »Ja.« Ich beugte mich gespannt vor. »Und wer ist es?« »Logatzoi – du kennst ihn.« »Ich kenne ihn. Er war es, der mich als er ster fand und dann an die Piraten verlor. Aber weshalb er?« »Du hast seine Gründe bereits genannt«, sang Oira. Ich verstand nicht, was das sollte. Und ich sagte es Oira.
30 Eines der drei Organe hinter dem kristalli schen Augenband fixierte mich. Selbst mit meiner noch immer ziemlich unvollkomme nen Kenntnis der dnofftriesischen Sprach modulation hörte ich die Verwunderung aus der Stimme des Anführers der Gardisten heraus, als dieser sagte: »Es gibt zwei Dinge, die der Erhabene überhaupt nicht schätzt. Da ist erstens jegli che Konspiration gegen sein Amt. Und zweitens: Unfähigkeit.« Mir fiel es wie Schuppen von den Augen. »Du willst doch nicht behaupten, daß Lo gatzoi in Ungnade gefallen ist, weil er den Kampf gegen die Piraten verloren hat?« »Er hat nicht nur den Kampf gegen die Piraten verloren, er hat auch dich verloren, was viel schwerer wog.« Ich protestierte. »Aber das konnte der Vorschweber zu diesem Zeitpunkt doch noch gar nicht wis sen. Er hatte keine Kenntnis von meiner Exi stenz.« »Zuerst nicht«, räumte Oira ein. »Aber als er Einzelheiten von einigen Crewmitgliedern hörte, unterzog er Logatzoi ein hochnotpein liches Verhör. Als unmittelbare Folge wurde der Expeditionsleiter seines Amtes enthoben und mußte Dienst in den Docks tun.« »Jetzt unterhalten wir uns einmal im Ernst«, wurde ich ärgerlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß Logatzoi mich aus schließlich dieser Gründe wegen beseitigen wollte.« »Nicht ausschließlich«, wurde mir geant wortet. »Hatte er denn noch mehr?« Oiras Balgmuskel vibrierte unter der An deutung eines Lächelns. »Du störtest seine Pläne auf ganz emp findliche Weise.« »Pläne?« Ich war ratlos. »Berichte!« »Kurz nachdem er in Ungnade gefallen war, bekamen wir von unseren Spionen den Hinweis, daß er sich der Untergrundbewe gung angeschlossen hatte und dort einer der führenden Köpfe geworden war. Wir ließen ihn in Ruhe und verfolgten jeden seiner
Conrad Shepherd Schritte peinlichst genau. Als du zu uns kamst und er merkte, wie sich seine Anhän ger vor dir fürchteten und keine Lust zeig ten, sich an dem Umsturzversuch zu beteili gen, gab es für ihn nur eine Möglichkeit, sei ne Pläne zu retten: er mußte dich beseiti gen.« »Das ist eine Erklärung«, murmelte ich. »So war es!« kam die Stimme meines Ex trasinns. »Zum Glück hatten wir ihn dauernd unter Kontrolle«, fuhr der Dnofftrie melodiös fort. »Und so waren wir schnell zur Stelle, als wir erfuhren, was sich auf der Mole tat. Wir konnten in der Zwischenzeit Logatzoi alle diese Vergehen nachweisen – seine gedun genen Mörder redeten schnell und viel, als wir sie fragten.« »Und wo ist er jetzt?« »In einem Verlies, vor dem ständig eine Wache steht.« »Eine beruhigende Vorstellung«, sagte ich. Als Oira gegangen war, beschäftigte ich mich noch immer mit dem Gehörten. Obwohl er mir nach dem Leben trachtete, fühlte ich Bedauern für den Expeditionslei ter, denn ich war es, der als Fremdkörper in diesem Kontinuum für Aufregung und Kämpfe sorgte. Langsam mußte ich mich entscheiden, was ich tun wollte. Ich war bereits zu lange hier. Mehr und mehr merkte ich, wie diese fremde Umgebung sich lähmend über meine Gedanken legte. Doch diese Entscheidung wurde mir ab genommen. Große Dinge taten sich im Palast Brägatz Ovrosis. Boten kamen und gingen, Schiffs bauer schleppten Zeichenrollen und Pläne, und Proviantmeister setzten sich mit Segel machern zusammen. Und zwanzig Tage nach meinem Kampf auf der Mole rief mich der Vorschweber zu sich.
*
Irrfahrt ins Nichts »Ich habe einen Auftrag für dich, Atlan«, summte Ovrosi. »Ich höre?« sagte ich. Abgesehen von den allgegenwärtigen Leibgardisten auf dem Balkon, über den man in Ovrosis Allerheiligstes gelangte, war ich mit dem Vorschweber allein. »Die Aufgabe, die du erfüllen sollst, er fordert einen wahren Kämpfer mit Schlau heit und Unerschrockenheit; einen Mann oh ne irgendwelche Bindungen; einen Mann …« »… wie mich!« unterbrach ich ihn. Ovrosi bejahte. »Da in meinem Reich außer mir nur einer diese Eigenschaften besitzt, nämlich du, konnte meine Wahl nicht anders lauten.« »Ich bin gerührt«, bekannte ich. Ein Sklave huschte über die polierte Fels platte und näherte sich mit einem Tablett voll Früchten. Ich nahm eine davon und hör te weiter zu. »Dieser Auftrag verlangt große Entschlos senheit und Mut. Wenn du Erfolg haben solltest, wirst du großzügig belohnt werden. Wenn du versagst, mußt du mit dem Tod rechnen.« Ich sog an dem Röhrchen, das in der Frucht stak und löste meinen Blick von dem riesigen Standbild des Vorschwebers, das drohend auf mich herabsah. »So schwierig kann es doch nicht sein, dir deine Leuchtwürmer zu verschaffen. Wenn es deinen Untertanen gelungen war, kann es auch mir nicht schwerfallen.« »Darum geht es nicht. Für diese Arbeit habe ich tatsächlich genug Untertanen. Und sie übernehmen diese Aufgabe mit Freuden, wie du weißt.« »Ich weiß«, bestätigte ich und dachte an die Verstümmelungen, die Ovrosis Wächter jenen zufügten, die es wagten, sich seinen Wünschen zu widersetzen. »Sprich weiter, o Erhabener.« »Während der letzten Jahrzehnte –« (Natürlich sprach der Dnofftrie nicht von der Zeitnorm, wie sie mir geläufig war, aber sei ne Angaben entsprachen in etwa diesem Be
31 griff!) »– habe ich viele Expeditionen losge schickt, um die Grenzen meines Reiches ab zustecken. Unter anderem auch zum Ende der Ebene. Wanderer haben mir von dort seltsame Dinge berichtet, die zu der Vermu tung Anlaß geben, daß sich dort merkwürdi ge Völker aufhalten. Es gelang mir jedoch nie, Handel mit ihnen aufzunehmen. Es war mir nicht einmal möglich, Beobachter einzu schmuggeln.« Ich grinste. »Mit anderen Worten – deine Spione hat ten Pech.« Ovrosis Balgmuskel erzeugte einen Laut der Heiterkeit. »So ist es.« »Und nun hast du einen anderen Plan?« »Ja. Du wirst dieses Ende der Ebene su chen, wirst offen dort eindringen und denen, die dich erwarten, das gleiche erzählen, was du mir erzählt hast. Dir wird man glauben. Du bist vermutlich noch fremder als jene ge heimnisvollen Bewohner.« »Ich verstehe nichts von Spionage«, wandte ich ein. »Was soll ich überhaupt tun, wenn ich dort bin – ich meine, falls ich es schaffe, hinzukommen?« »Nichts.« Ratlosigkeit meinerseits. Ovrosis Heiterkeit war nun offensichtlich. »Deine Mannschaft besteht aus Spionen.« »Aber wozu brauchst du mich dann über haupt?« »Aus den eben genannten Gründen. Dich wird man nicht so ohne weiteres töten. Be stimmt hört man dich erst einmal an. Sicher bleibst du auch lange genug am Leben, um ihnen zu sagen, daß deine Crew harmlos ist. Mehr brauchst du nicht zu tun.« Es hörte sich ganz einfach an. Ich würde eine Reise machen. Wenn ich zurückkam, erwartete mich reicher Lohn, der aber für mich nicht ausschlaggebend war, Ovrosis Plan zuzustimmen. Ich hatte inzwischen je doch soviel über das Ende der Ebene gehört, daß ich es unbedingt sehen mußte. Ich wäre früher oder später mit dem gleichen Ansin nen an den Vorschweber herangetreten, ein
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fach deshalb, um herauszubekommen, wo diese ganzen Gravitationsströmungen ent standen oder endeten. Und vielleicht hatten jene unbekannten Völker eine Vorstellung davon, wie man vom Mikrokosmos in den Makrokosmos zurückkehren konnte. Und al lein das zählte. »Ich mache mit«, sagte ich. »Aber das er fordert einige Vorbereitungen.« Ovrosi brachte es fertig, sein Fünfsekun denkonzert gelangweilt klingen zu lassen. »Sie sind abgeschlossen. Komm und sieh selbst!«
* Der Segler, den mir der Vorschweber an der Mole zeigte, war riesig für die Verhält nisse dieses kleinen Volkes. Und er war nagelneu. Offenbar hatte Ovrosi seinen Bau gleich nach meinem Eintreffen in seiner Festung in Auftrag gegeben. Als wir über die schwankende Planke an Deck kletterten, erwartete uns der Steuer mann im Heck vor dem Windruder. Er kam mir bekannt vor. Tatsächlich! Es war Quandd, der Steuermann der ROBA-SUR. Ihn hatte Ovrosi ausersehen, die Expedition zu führen. »Sei mir gegrüßt, Steuermann!« rief ich und winkte der übrigen Mannschaft. »Willkommen an Bord der TOPTAN KAU«, sang Quandd und ignorierte mich völlig. »Ist das Schiff fertig zum Auslaufen, Steuermann?« erkundigte sich der Vor schweber. »Es wartet nur darauf, den Wind in den Segeln zu spüren, o Erhabener.« »Dann lege ab, Steuermann!« Quandd wartete, bis der Vorschweber mitsamt seinen Leibwächtern von Bord ge gangen war, dann schrie er seine Komman dos. Die Planke wurde auf die Mole gezo gen. Seile spannten sich, Rollen knirschten, als die Distanzhalter hochgehievt wurden. Und knallend schlug der Wind in das halb
gereffte Segel der TOPTAN-KAU. Unsere Ausfahrt vollzog sich völlig un dramatisch. Niemand winkte, keine Wimpel flatterten. Ich stand an der Heckreling ge lehnt und sah zu, wie der Gravo-Segler schwerfällig herumschwang und Kurs auf das offene Ende der U-förmigen Felsforma tion nahm. Kurze Zeit darauf passierte die TOPTAN KAU jene hochragende Felsnadel, die mir wie ein Leuchtturm erschien. Ich blickte zu rück, bis seine Umrisse in dem roten Dunst der Atmosphäre verschwammen. Dann drehte ich mich herum und blickte nach vorn. Die Crew, mit dem Steuermann aus dreißig Dnofftries bestehend, schuf Ord nung an Deck. Würde die TOPTAN-KAU überhaupt ihr Ziel erreichen? fragte ich mich. Ich wußte es nicht. Ich wußte nur, daß dies wieder einmal der Beginn einer phanta stischen Odyssee war. Eine Reise über die Ebene ins Nichts.
6. Wir hatten einen guten halbachterlichen Wind und kamen relativ schnell vom Fleck. Dieser schwerfällige Kasten mochte in der Stunde seine zehn bis fünfzehn Kilometer fahren – in Gravitationsfeldern ohne jegliche Strömung. Die Crew sah keineswegs wie Spione aus, und vermutlich waren auch nur einzelne Be satzungsmitglieder für diese Aufgabe vorge sehen. Sie gingen mir meist aus dem Weg und schwiegen. Ein oder zwei ließen sich in Unterhaltungen ein. Die übrigen blieben ver schlossen, Quandd inbegriffen. Ich kümmerte mich nicht darum, sondern sah mich an Bord um. Ovrosis Schiffbauer hatten hervorragende Arbeit geleistet. Das Deck und der flache Kiel bestanden aus kräftigen Balken, über die man zusätz lich starke Platten befestigt hatte, um ein durchkrachen meiner gewichtigen Person zu verhindern. Die Bodenwrangen waren in der
Irrfahrt ins Nichts Kimm durch wuchtige, schräg stehende Stützen mit den Decksbalken verbunden. Ich konnte mich erstmals an Bord eines Gravo-Seglers bewegen, ohne Angst haben zu müssen, Deck und Boden durchzuschla gen. Nur einen Nachteil gab es: Durch das zu sätzliche Gewicht lag die TOPTAN-KAU tiefer in den Gravitationsfeldern als jedes andere Schiff, was sich auch auf die Ge schwindigkeit auswirkte. Alle für eine derartige Expedition not wendigen Ausrüstungsgegenstände waren doppelt vorhanden. Stengen, Rahe, Segel und Taue. Ein zweiter, jedoch kleinerer Mast war an der Innenseite der Steuerbor dreling festgezurrt, und es war genügend Holz für den Bau eines neuen Windruders an Bord. Am Ende des zweiten Tages erreichten wir den Großen Strom, der sich gleich einer Strahlenbrücke über dem Tiefen Land er streckte. Und Quandd ging ein wenig aus sich heraus. »Ich sehe, daß du dich um das Schiff sorgst!« »Ich sorge mich nicht«, antwortete ich, »ich habe mich nur vergewissert, daß es mich auch unbeschadet tragen wird.« Wir glitten an einer Nebelbank vorüber, die sich an Backbord wie ein skurriles Schloß erhob. Der Wind blähte das Hauptse gel und zerrte an meinen Haaren. Quandd sagte: »Es wird dich tragen.« Eine plötzliche Bö ließ den Rand des Segels knattern. »Hoo, auf die Beine, ihr Nichtsnutze!« orgelte er über das Deck. »Das Segel – seht ihr nicht?« Und zu mir sagte er: »Wie ist es dir ergangen, Atlan? Ich hörte, daß man dir nach dem Leben trachtete.« »Wahr gesprochen«, erwiderte ich und lehnte mich mit dem Rücken gegen das schmucklose Heckkastell der TOPTAN KAU, unter dem meine Kabine lag. »Man tat es, wenn auch ohne Erfolg, wie du un schwer erkennen kannst.« »Willst du es mir nicht erzählen?«
33 Ich produzierte jene Töne, die Erstaunen ausdrückten. »Gibt es etwas an der Geschichte, wor über du nicht informiert sein solltest?« Quandds Balgmuskel signalisierte erst mals seit Beginn unserer Reise Heiterkeit. »Recht gesprochen«, summte er. »Aber mich würde deine Version des Kampfes weit mehr interessieren. Wir haben eine lange Reise vor uns, laß dir also Zeit.« Ich wischte mir mit dem Handrücken den Schweiß aus den Augen und verstrich ihn auf der Seilrolle, auf der ich hockte. Um die TOPTAN-KAU herrschte leichter Dunst. Die Atmosphäre war mit Wasserdampf ge sättigt wie ein nasser Schwamm. Der heiße Wind, der unser Segel prall füllte, brachte kein Jota Abkühlung. Dann berichtete ich soviel von meiner Ge schichte, wie ich es für richtig hielt, und schloß mit den Worten: »Logatzois gedungene Mörder waren zahlreich, ich sah schon mein Ende gekom men, als mir die Garde des Vorschwebers zur Hilfe eilte und mir den Tod ersparte.« »Logatzoi hat weniger Verstand, als ich gedacht hätte«, sang der Steuermann. Sein Balgmuskel vibrierte vor Verachtung. »Was ist aus ihm geworden?« Ich entgegnete: »Wenn du es nicht weißt, woher soll ich dann Kenntnis haben? Der Erhabene ließ mich nicht an seinen Entscheidungen teilha ben.« »Ich weiß es«, bekannte Quandd. »Ovrosi hat ihm das Leben gelassen, dafür aber in die Bergwerke gesteckt.« Das kristallische Augenband des Steuer manns verschleierte sich vor Schrecken. Ich verstand seine Reaktion. Für einen Dnofftrie, dem die Weite der Atmosphäre zur zweiten Heimat geworden war, konnte die Vorstellung, in den engen Schächten und Stollen arbeiten zu müssen, zum Wahnsinn führen. Quandd korrigierte den Kurs der TOP TAN-KAU ein wenig, als der Dnofftrie im Ausguck schrie:
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»Steuerbord voraus Schiffe!« In den gegenlaufenden Randströmungen der Strahlenbrücke kam uns eine Flotte von fünf Gravo-Seglern entgegen. »Kannst du erkennen, wessen Schiffe es sind?« trompetete Quandd. Wieder einmal verblüffte mich die Viel seitigkeit der Dreieckmünder; der mit dem Quandd im Augenblick sprach, hatte sich wie ein Sprachrohr herausgestülpt. »Es sind Schiffe des Vorschwebers, Steu ermann«, kam die Antwort in gleicher Laut stärke. Die gespannte Aufmerksamkeit der Dnofftries an Deck ließ nach; es würde kei nen Kampf geben. Die Flotte lief in einer Entfernung von knapp einem Kilometer an uns vorbei. Zwi schen den Steuerleuten wurden lauthallend Begrüßungen gewechselt. Dann waren wir wieder allein. Es sollte für lange Zeit die letzte Begeg nung mit anderen Gravo-Seglern sein.
* Nun hielten wir uns schon den neunten Tag im Großen Strom auf. Ich konnte mir zunächst die Unruhe unter den Dnofftries nicht recht erklären, bis ich durch Zufall ein paar Worte aufschnappte, die mir verrieten, daß wir uns unaufhaltsam jener unsichtbaren Grenze näherten, bis zu der Dnofftries je vorgedrungen waren – von einigen wenigen Einzelgängern abgesehen. Dahinter lagen absolut fremde Gebiete, die noch von keinem gesichtet worden wa ren. »Woher weißt du das?« fragte ich den Steuermann. »Was?« »Daß die Gebiete, in die wir jetzt kom men, unbekannt sind.« Quandds Balgmuskel produzierte jene Be wegung, die einem Achselzucken gleich kam. »Wir wissen es«, versetzte er.
»Offenbar hat es mit dem ›Zielsehen‹ zu
tun«, ermittelte mein Logiksektor. »Viel leicht ist diese Grenze auch die Grenze ihrer Fähigkeit, in den Heimathafen zurückzufin den.« Möglich war es. Ich wandte mich erneut an den Steuer mann. »Sag mir eines: warum sind deine Leute mir gegenüber so abweisend? Fast möchte man meinen, ich hätte ihnen persönliches Leid zugefügt, oder wie siehst du das?« Quandd gab Befehl, einige Leinen fester zu zurren. Der Wind hatte zugenommen und kam in kurzen, harten Stößen von achtern. »Was das betrifft«, beantwortete er meine Frage, »so gibt es mehrere Gründe für das Verhalten der Crew: Erstens mißfällt den Leuten deine Anwesenheit an Bord. Aber das legt sich spätestens dann, wenn sie wäh rend eines Kampfes plötzlich feststellen, welchen Verbündeten sie in dir haben wer den. Das ändert aber nichts an der Tatsche, daß sie abergläubisch sind wie Sklaven. Lei der hast du bis jetzt noch niemand Glück ge bracht. Wer immer mit dir zusammentraf – früher oder später ereilte ihn ein schreckli ches Schicksal.« »Da hat er nicht unrecht«, wurde mein Logiksektor sarkastisch. »Du hast mehrere Gründe genannt«, be harrte ich. »Ich höre!« »Und zweitens: Das Ziel unserer Expedi tion. Du weißt, manch einer ist in seiner ge wohnten Umgebung mutig wie zehn zusam men. Sobald ihm aber bewußt wird, welcher Gefahr er sich aussetzt, ist das alles ausge löscht.« »Verstehe, sie haben Angst.« »Es ist nicht nur Angst, Atlan. Keiner hat sie gefragt, ob sie diese Reise machen wol len. Sie wurden gezwungen, wie ich auch.« »Und die Belohnung, die auf sie wartet, wenn sie von dieser Reise zurückkommen?« »Pah! Erwartest du tatsächlich, daß der Erhabene Vorschweber sein Wort hält?« »Mir gegenüber wird er es halten«, versi cherte ich grimmig, während ich mir insge heim eingestehen mußte, nicht aufrichtig zu
Irrfahrt ins Nichts sein. Ich erwartete gar nicht zurückzukeh ren, sondern hoffte, am Ende der Ebene eine Antwort auf meine Fragen zu finden. Mein ganzes Sinnen und Trachten war nur auf ei nes gerichtet: die Rückkehr in mein RaumZeit-Kontinuum. Ich ging von der Annahme aus, daß es tatsächlich möglich wäre. Doch würde nichts Gutes daraus erwachsen, wenn ich diese Überlegungen Quandd preisgab. Die Nacht kam mit ihren düsteren Farben und tauchte das Schiff in blutiges Rot. Und bis auf die Ruderwache schlief jeder an Bord des Gravo-Seglers. Ungewöhnliche Dinge werfen ihren Schatten voraus. Am nächsten Morgen kam ein ungewöhn liches Tier durch die Luft geflogen und klammerte sich an die Takelung. Es sah aus wie ein kleiner Dnofftrie mit Fledermausflü geln. Die Crew verjagte es. Dann fiel auf einmal Regen. Er war rot und dick. Offenbar hatte ein Sturm Unmen gen von Staub und Sand aus dem Tiefen Land emporgerissen, jetzt wusch der Regen die Atmosphäre rein. Die Crew verfiel fast in Panik. Ihre Balg muskeln zuckten konvulsivisch und erzeug ten tiefe, tremolierende Töne. In der dritten Nacht – seit wir uns in den unbekannten Regionen aufhielten – lag ich an Deck, weil mich die heiße Enge der Ka bine fast erstickte. Plötzlich fuhr ich hoch. Mich hatte kein unbekanntes Geräusch geweckt, sondern die Impulse meines Extrasinns. Über mir knarrte das Tauwerk; der Mast ächzte in den Fi schungen. Es war wie immer. Oder doch nicht? Hinter mir ein Geräusch. Ich fuhr herum – es war Quandd, der sei nen Platz am Windruder nicht eine Sekunde verlassen hatte, seit er kurz vor Einbruch der Dunkelheit ein Segel hinter einem Wolken turm ausgemacht haben wollte. »Was gibt es, Atlan?« fragte er mit seiner orgelnden Stimme. »Ich weiß nicht«, sagte ich zweifelnd,
35 »aber ich kann nicht mehr schlafen. Bist du sicher, daß alles in Ordnung ist?« »Ja, bis auf den Segler, der hinter uns her ist.« »Was …!« entfuhr es mir. »Kein Grund zur Besorgnis«, beruhigte mich der Dnofftrie, und seine kegelförmige Gestalt wirkte wie ein blauer Schemen in dem düsteren Rot der Nacht. »Bis uns der Segler eingeholt hat, wird die Nacht vollends vergehen. Falls es also zu einem Kampf kommt, wird er am Tag stattfinden. Schlaf weiter, du wirst deine Kräfte brau chen. Du wirst uns doch helfen?« Ich rechnete mir aus, wieviel Zeit mir noch blieb, gähnte und streckte mich dann wieder aus. »Natürlich helfe ich euch. Wecke mich, falls sie früher näher kommen sollten als er rechnet.« Eine Stunde verstrich. Die zweite. Ich konnte nicht mehr schlafen und setzte mich deshalb auf. Die TOPTAN-KAU glitt durch eine dünne, kaum wahrnehmbare Ne belbank, die sanft glühte. Dann kam der Morgen. Und hinter der TOPTAN-KAU schälten sich langsam die Umrisse des Verfolgers aus dem Dunst. Alles an ihm war schwarz. Schwarz der Rumpf und schwarz das große Segel, das sehr bauchig geschnitten war und wie ein Ballon vor dem Mast hing. Quandd orgelte Befehle. An Deck wurde mit hektischer Betrieb samkeit versucht, dem unvermeidlich schei nenden Kampf zu begegnen. Waffen blitz ten, und Enterhaken wurden bereitgelegt. Der schwarze Segler war jetzt deutlicher zu sehen. »Er ist schneller als wir?« fragte ich. »Wir sind zu schwer«, bestätigte Quandd meine Befürchtungen. »Unsere Segelfläche ist für diese Last zu klein.« »Hmm.« Ich überlegte fieberhaft, suchte nach einem Ausweg. Dann durchzuckte es mich wie ein Blitz. Natürlich, so mußte es gehen! Ich wandte mich an den Dnofftrie.
36 »Haben wir nicht ein zweites Segel an Bord?« »Ja. Warum fragst du?« »Weil ich mir überlegt habe, daß wir mit einer zusätzlichen Takelung dem schwarzen Verfolger davonsegeln könnten.« Quandd schien zu zweifeln. »Was soll das? Es ist heller Wahnsinn, während einer Verfolgung die Takelung zu ändern. Bis wir das Segel herabgelassen und wieder neu aufgezogen haben, sind sie schon über uns hergefallen. Glaub mir das.« »Ich will ja die alte Takelung stehenlassen und nur eine zusätzliche anbringen.« »Bist du sicher, daß es dir gelingt?« »Natürlich.« »Und wie?« »Das werde ich dir zeigen – aber dazu brauche ich jeden verfügbaren Mann an Deck.« »Es soll geschehen.« Wenig später wurde mein Plan bereits in die Tat umgesetzt. Ich war mir meiner Sache bei weitem nicht so sicher, wie ich Quandd gegenüber behauptet hatte. Aber alles war besser, als tatenlos zuzusehen, wie der schwarze Gravo-Segler unausweichlich auf holte. Mein Plan bestand in nichts geringe rem, als zusätzlich zur jetzigen Besegelung ein Lateinsegel anzubringen, was ich mit Hilfe des zweiten Mastes zu vollbringen ge dachte. Als erstes gingen mehrere Dnofftries dar an, das Reservesegel diagonal zu druch schneiden und an zwei der drei Kanten in re gelmäßigen Abständen Löcher zu bohren. Dann jagte Quandd zwei seiner Leute die Wanten hoch und ließ an der Mastspitze ei ne schwere Talje anbringen, durch die ein starkes Tau gezogen wurde, dessen beide Enden auf dem Deck liegenblieben. Dann holte man den zweiten und etwas kleineren Mast aus seinen Zurrings und schleppte ihn auf das Achterdeck. Das Tau wurde um sein Ende geschlungen und der Mast langsam hochgehievt. Er schwankte gefährlich, und die Dnofftries an den Geitauen, die die blan ke Stange links und rechts hielten, orgelten
Conrad Shepherd mehrmals erschrocken auf. Doch schließlich hing der Reservemast neben dem richtigen und wurde dort, wo er auf Deck aufsaß, mit tels starker Zurrings so befestigt, daß er in bestimmten Grenzen beweglich blieb, um nach achtern abgefiert werden zu können. Die Schiffszimmerleute nagelten zusätzliche Fischungen auf das Deck und verlängerten den Mastschuh nach hinten, um dem zwei ten Mast mehr Halt zu verleihen. An den Enden des Heckquerholzes befestigte man zwei Taljen. Die Dnofftries auf der Beobachtungsplatt form verknoteten die Geitaue in dem metal lenen Ring am oberen Ende des zweiten Ma stes, diese wurden dann durch die Taljen reeps gezogen und konnten zum Trimmen benutzt werden. Inzwischen hatte sich die Position der bei den Gravo-Segler geändert. Der Verfolger hatte noch mehr aufgeholt und lag nun auf äußerste Bogenschußweite rechts von der TOPTAN-KAU entfernt. Hinter seiner Re ling erkannte ich Enterhaken, Lassos und Keulen in den Klauen der Piraten. Und ich sah, daß sich mehrere von ihnen auf dem Vorderdeck an einer klobigen Maschine zu schaffen machten. Ich hörte, wie der Wind ihre Rufe her übertrug. Die letzte Phase des Duells wurde einge leitet. Beide Gravo-Segler strebten gemein sam einem unsichtbaren Punkt zu. Die Lini en ihrer Fahrtrichtungen berührten sich ir gendwo dort vorn im rotleuchtenden Dunst der Atmosphäre. Immer wieder warf mir Quandd mißtraui sche Blicke zu. »Wirst du rechtzeitig fertig?« fragte er mit gepreßt klingenden Tönen. »Wenn du mich nicht von der Arbeit ab hältst – ja.« Nachdem der zweite Mast an Ort und Stelle stand, hißten die Dnofftries die Längs seiten des dreieckigen Segels an die Masten, befestigten das starke Tuch mittels Be schlagzeisingen an den Hölzern, wobei sie es immer höher zogen, bis das ganze Segel
Irrfahrt ins Nichts angeschlagen war. Was so entstanden war, bildete ein Mittel ding zwischen Latein- und Schratsegel. »Fiert ab!« rief ich den Dnofftries am Mastfuß zu. Dort war inzwischen neben dem Schotenknecht, an dem die Taue des Rah falls belegt waren, eine zweite große Talje angeschlagen worden, durch die das neue Fall gezogen war. »Beeilt euch, ihr Nichtsnutze!« donnerte Quandd, der unverrückbar wie ein Fels am klobigen Holz des Windruders stand und je de Möglichkeit ausnutze, die TOPTAN KAU im rauhen Wind segeln zu lassen. Der Piratensegler hatte noch mehr aufge holt. Sein Bug lag jetzt in einer Linie mit dem Heck der TOPTAN-KAU, als ein ge waltiges Organ von Steuerbord orgelte: »Nehmt die Segel herunter! Ergebt euch! Im Namen Onnus!« Quandd trompetete zurück: »Wir sind schneller als ihr!« »Nicht mehr lange«, sagte ich. Und der Steuermann orgelte: »Ihr werdet gleich sehen, wie schnell wir sind!« Ein Zischen wie von einer Schlange ließ mich zusammenzucken. Ich fuhr herum, starrte hinüber zu dem Piraten. Ein schwar zer Punkt schwoll zu einer Steinkugel an, die in einem Bogen durch die Luft flog und eine knappe Schiffslänge vor unserem Bug in das Gravitationsfeld eindrang, um dort abgebremst zu werden. Die Maschine auf dem Vorderdeck des Piratenseglers entpuppte sich als eine Stein schleuder. »Jetzt wird es ernst«, sagte ich zu Quandd. Endlich hatten die Dnofftries die Arbeit an der neuen, zusätzlichen Takelung been det. Der zweite Mast bildete einen nach oben offenen Winkel von knapp fünfund vierzig Grad. Mehr Spielraum hatte er nicht, wenn wir nicht die Konstruktion des Wind ruders gefährden wollten. »Falleinen festmachen!« rief ich. »Braßt den Baum vier Grad nach Steuerbord!«
37 Ich drehte mich zu Quandd um und bat: »Du mußt aus dem rauhen Wind heraus, bis sich das neue Segel gefüllt hat, dann kannst du neu austrimmen lassen.« »Ich habe verstanden.« Noch hing das Dreiecksegel schlaff und schlug leicht im Wind. In den nächsten Se kunden würde ich wissen, ob sich mein Plan als brauchbar entpuppte. Jetzt, nachdem die Arbeit getan war, war ich mir nicht mehr so sicher. Doch nun war es zu spät, um noch Änderungen vornehmen zu können. Wieder dröhnte drüben das Katapult auf. Die Steinkugel flog bedrohlich nahe an mir vorbei und nahm ein ganzes Stück der Back bordreling mit. Das splitternde Krachen ver setzte die Crew in Unruhe. Quandd stieß ein erschrockenes Stöhnen aus und drückte den Steuerarm des Windru ders nach Steuerbord. Die TOPTAN-KAU reagierte langsam und träge. Der Wind füllte das Dreiecksegel und glättete es. Und die Nase unseres Gra vo-Seglers tauchte unter wie in schwerer See. Der neue Mast begann zu flattern, als er den Druck auf den Rumpf übertrug. Er war nicht hart genug angebraßt. Ich schrie: »Holt die Leinen dicht!« Das Flattern hörte auf. Quandd steuerte die TOPTAN-KAU mit großem Können nach links von dem Piratenschiff weg. Der mit Dnofftries dicht besetzte Bug des schwarzen Seglers war bedrohlich nahe. Quandd sagte: »Mir scheint, wir werden schneller, At lan.« Ich wandte den Blick vom neuen Baum ab und sah mich nach dem verfolgenden Gravo-Segler um. Er war tatsächlich leicht abgefallen. Aber inzwischen hatte sich der Kanonier am Katapult eingeschossen. Die Steinkugeln kamen nun schnell hintereinander und waren genauer gezielt. Wir verloren ganze Stücke unserer Reling. Einmal näherte sich ein Ge schoß dem Mast … und ich schloß entsetzt die Augen. Das fehlte noch, daß wir durch
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Conrad Shepherd
einen Volltreffer um unseren Mast gebracht wurden. Aber das befürchtete Splittern blieb aus. Die Steinkugel hatte ihn um Haaresbrei te verfehlt. »Die zielen immer besser«, stöhnte Quandd. »Wenn wir nur auch eine solche Steinschleuder hätten!« »Die haben wir nicht«, erwiderte ich. »Aber dafür habe ich eine Idee!« »Schon wieder?« »Gib mir keinen Anlaß, böse zu werden«, drohte ich. Ich nahm die scharfe, widerha kenbewehrte Klinge von meinem Gürtel, wog das Eisen in der Hand und nahm an der Steuerbordreling Aufstellung. Der Winkel war zwar etwas kurz, aber ich war sicher, daß mir der Wurf gelingen wür de. Ich holte aus und warf mit aller Kraft, zu der ich fähig war. Die Klinge wirbelte durch die Luft, bilde te einen blitzenden Kreis und schlug in das prall gespannte Segel des Verfolgers. Die Schärfe des Stahls, sowie die Geschwindig keit ließen das Schwert durch die Leinwand dringen wie durch Wasser. Ein reißender Knall ertönte, und das Segel riß von oben nach unten auf, schlug knatternd im Wind und wickelte sich um die Leinen. Ein vielstimmiges Wutgeheul war die Folge. Gleich darauf war der Piratensegler so weit zurückgefallen, daß seine Umrisse im Dunst zu verschwimmen begannen. Die Crew führte ein wildes Orgeln auf, und ihre Balgmuskeln vibrierten ekstatisch vor Begeisterung. Quandd legte sich ins Ruder, und die TOPTAN-KAU rauschte mit ihrem zusätzli chen Segel davon. In kürzester Zeit war von dem schwarzen Piraten nichts mehr zu se hen.
7. Sechs Tages- und Nachtreisen hatten wir inzwischen seit dem Passieren der Grenze von Ovrosis Reich hinter uns. Die Schäden,
die die Steinkugeln des schwarzen Seglers verursachten, waren inzwischen beseitigt. Seit unserem Sieg über die Piraten, an dem ich nicht unerheblichen Anteil hatte, war die Stimmung an Bord beträchtlich ge stiegen. Ich lehnte faul im Heck. Es war nach dnofftriesischer Norm Nach mittag, und die Crew polierte ihre Waffen, schlief oder aß. Unser Proviant reichte aus, und auch das Wasser war keineswegs knapp. Ich hatte jeden Morgen einen halben Lede reimer zum Waschen zur Verfügung. Welch ein Luxus! Ich betrachtete mich in einem polierten Schild. Mein Haar war ungepflegt, der wu chernde Bart auf der Oberlippe und dem Kinn ließ mich verwegen aussehen. Ich trug nichts als einen Lendenschurz und den brei ten Gürtel, an dem ein gekrümmtes Schwert hing. Plötzlich verspürte ich den Wunsch, in dieser Aufmachung auf einem der Bälle am Hofe des Imperators zu erscheinen. Ich grin ste unwillkürlich, als ich an das Entsetzen dachte, das mein Erscheinen hervorrufen würde … Ich schüttelte den Kopf. Offensichtlich ein Rückfall in vorpubertäre Wunschträume, würde jetzt Fartuloon sagen, wäre er bei mir. Fartuloon! In meiner Kehle bildete sich ein harter Klumpen, der mich würgte, als ich an die Freunde dachte, die ich zurückgelas sen hatte … »Nimm dich zusammen, Atlan«, erreichten mich die Impulse meines Logiksektors. »Wehleidige Reminiszenzen an das, was war, helfen dir nicht. Du mußt vorwärts schauen. An das denken, was vor dir liegt, nur das hat Sinn.« Er hatte recht, ich schnitt mir selbst eine Grimasse. »Gefahr!« warnte mich im gleichen Au genblick mein Extrasinn. »Hinter dir!« Ich fuhr herum – und erstarrte vor eisigem Erschrecken. Die TOPTAN-KAU glitt seit einiger Zeit durch leichten Nebel, der einem die Sicht
Irrfahrt ins Nichts nach oben und unten versperrte. Über dem Schiff war er dichter und ließ kaum die Mastspitze erkennen. Und aus diesem Nebel kam ein armdicker Tentakel und näherte sich dem ahnungslos am Ruder stehenden Quandd. Sein Ende war ein rotgeränderter Mund, aufgerissen und hungrig. Langsam pendelte er tiefer. Ich stieß einen Schrei aus, stürzte mich mit gezogenem Schwert auf den Steuer mann, der in diesem Moment wohl sein letz tes Stündchen gekommen sah. Die Klinge vollführte einen blitzenden Kreis und trennte den fleischigen Arm ab. Hilflos klatschte er vor Quandd auf das Deck. Der Mund öffnete sich sinnlos einigemal, dann lag er still. Die Gravo-Echse hatte sich unbemerkt dem Schiff nähern können. Erneut sank ein Maultentakel herab. »Achtung – über dir!« schrie ich und riß Quandd vom Ruder weg. Im gleichen Augenblick schob sich das ganze Ungeheuer aus dem Nebel auf die TOPTAN-KAU zu. Groß wie ein Berg. Und unaufhaltsam. Meine Gedanken überstürzten sich, wäh rend ich fieberhaft nach einem Ausweg suchte. »Wir müssen unter Deck!« rief ich keu chend und hieb den zweiten Arm ebenfalls entzwei. »Die zusätzlichen Platten werden uns Schutz vor der Bestie bieten.« »Wahr gesprochen!« orgelte der Steuer mann, und zwei seiner Münder trompeteten die entsprechenden Befehle hinaus. Inzwischen hatte die Gravo-Echse ge merkt, daß sie auf Widerstand gestoßen war. Oder die Schmerzempfindungen der abge trennten Arme erreichten jetzt, das Nerven zentrum. Jedenfalls schickte sie mehr als zwei Dutzend ihrer Greiftentakel herunter, sondierende Fühler züngelten über das Deck und wurden von den schreienden Dnofftries auseinandergehackt, ehe einer nach dem an deren unter Deck verschwanden. Quandd und ich schlitterten über die Planken und warfen uns förmlich in den Niedergang. Mit keuchendem Atem schlug ich die starke Lu
39 ke hinter mir zu und verriegelte sie mit den drei Querhölzern. Dann atmete ich mehrmals tief ein und aus, bis sich meine Pulse wieder beruhigt hatten. »Das war knapp«, sagte ich und merkte erst jetzt, daß mich keiner hörte. Die Augenbänder der Dnofftries, von de nen jeder das Unterdeck erreicht hatte, wie ich rasch zählte, waren milchig geworden und völlig undurchsichtig. Das Zeichen ihrer absoluten Panik. Da sie in diesem Zustand nicht ansprechbar waren, zuckte ich die Achseln und hörte auf das Geräuschtohuwa bohu über mir. Die Gier der Bestie schien keine Grenzen zu kennen. Da ihre Fühler das Leben unter sich spürten, versuchte sie alles, um es zu er reichen. Die starken Greiftentakel peitschten über das Deck der TOPTAN-KAU, zerstör ten das Windruder, zerfetzten binnen Minu ten die gesamte Besegelung, knickten die Masten und ließen nichts als einen Torso zu rück, der steuerlos in den Gravitationsströ men trieb.
* Wann die Gravo-Echse verschwand, konnte ich nicht genau sagen. Ich hatte es mir in dem lichtlosen Raum unter Deck auf einem Stapel Segeltuch bequem gemacht, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und mußte wohl ein wenig eingeschlafen sein, als ich aus meinen Träumen geschreckt wur de. Ich lag am Boden, aufgegangene Seilrol len und Proviantsäcke um mich herum. »Was war das?« fragte ich in die Dunkel heit. Quandd antwortete: »Wir kommen in einen Gravitationssturm, das ist alles.« Er schien von tiefer Ent schlußlosigkeit übermannt worden zu sein. »Das ist alles«, äffte ich ihm nach. »Mehr weißt du nicht dazu zu sagen?« Ein neuer Stoß warf mich zu Boden. Das Deck unter mir schwankte wie wild. »Das Schiff überschlägt sich«, schrie ich
40 Quandd zu. »Unter dieser Belastung wird es bald auseinanderbrechen. Wir müssen nach oben, müssen versuchen, wenigstens einige Fetzen Tuch zu setzen, um unseren Kurs zu stabilisieren.« »Da gibt es nichts mehr zu setzen«, erwi derte Quandd. »Die Anzeichen sind untrüg lich – wir kommen in einen Gravitations strum. Selbst wenn es uns gelänge, die Schä den an Deck zu reparieren, wäre unser Schicksal besiegelt. Um die TOPTAN-KAU auch nur annähernd in einen manövrierfähi gen Zustand zu versetzen, brauchen wir Ta ge. Und wir haben nur noch eine knappe Stunde. Wir sind verloren«, schloß er dumpf. Inzwischen hatten sich meine Augen an das herrschende Dunkel gewöhnt. Ich sah die Dnofftries, wie sie an den Wänden hock ten und sich anklammerten. Ihre Balgmus keln erzeugten ein tiefes Stöhnen, das mir durch Mark und Bein ging. Es war offenkundig: sie waren von tiefer Panik erfüllt. Von ihnen konnte ich im Augenblick kei ne Hilfe erwarten. Ich schien der einzige an Bord des Wracks zu sein, der noch klarer Gedanken fähig war. Gedanken, die sich da mit beschäftigten, einen Ausweg aus der Mi sere zu finden. Ich taumelte hoch, klammerte mich an die Deckswrangen und hatte nur Sekunden spä ter das Gefühl, daß mich ein Stiefel gegen den Boden drückte. Danach setzten plötzlich Schwindel und Übekeit ein. »Ein Feld absoluter Schwerelosigkeit«, analysierte mein Extrasinn das Geschehen. Wir hatten es schnell durchquert. Erneut erschütterten schwere Stöße die TOPTAN-KAU. Vor meinen Augen sprang eines der Stützhölzer aus der Kimm und knallte gegen die Bordwand. Der Balken durchschlug die starken Planken, als wären sie aus Papier. Licht fiel herein. Es war nicht länger mehr rot, sondern ste chend gelb. Untrügliches Zeichen eines auf-
Conrad Shepherd ziehenden Gravitationssturms. Und als ich mir das Bild jenes gewaltigen Zyklons vor Augen rief, den ich im Schlepp der ROBA SUR gesehen hatte, wurde mir übel. Ein neuer Stoß riß mir die Beine unter dem Körper weg. Die TOPTAN-KAU legte sich auf die Seite und hing in einem Winkel von dreißig Grad nach Steuerbord. Alles geriet in Bewegung, rutschte auf die abschüssige Seite und vergrößerte nur das Durcheinander. Ich hatte nur einen Gedanken, ich mußte hinauf an Deck. Hier erstickte mich die räumliche Enge und die fast körperlich fühl bare Furcht er Dnofftries, die sich mehr und mehr in sich zurückzogen. »Kommst du!« rief ich Quandd zu, der als einziger noch ansprechbar schien. Der Dreiecksmund stülpte sich aus der Hautfalte. »Was hast du vor?« »Ich werde nicht tatenlos zusehen, wie wir vor die Hunde gehen«, erwiderte ich zornig. »Du kannst deinem Schicksal nicht entge hen«, sang Quandd in getragenen MollAkkorden, und etwas von seiner Todesah nung übertrug sich unwillkürlich auch auf mich. Ich biß die Zähne zusammen. Nein, ich würde nicht aufgeben, nicht eher jedenfalls, bis ich keinen noch so winzigen Hoffnungs schimmer mehr sah. Hart versetzte ich: »Jeder ist selbst seines Schicksals Schmied, Steuermann. Das ist eine Maxime unseres Handelns.« Ich wartete eine Phase der relativen Ruhe ab, dann hangelte ich mich an einem Tau in Richtung des Aufgangs und merkte mit ei nem Gefühl der Befriedigung, daß mir Quandd folgte. Gemeinsam arbeiteten wir uns durch das Chaos unter Deck auf die Treppe zu. Gravitationsstöße packten das Schiff, vielmehr das, was noch von ihm übrig war, zerrten an den Verbindungen und ließen die Hölzer aufknirschen.
Irrfahrt ins Nichts Ich entriegelte die Luke und kroch an Deck. Die TOPTAN-KAU war tatsächlich nur noch ein Wrack. Neben mir orgelte Quandd entsetzt auf, als er das Tohuwabohu an Deck seines stol zen Schiffes sah. Nichts war mehr heil. Vom Hauptmast war nur noch ein kurzer Stumpf übrig, dort, wo ihn die Fischungen hielten. Ich warf einen Blick hinaus in die Atmosphäre. Mast und Hauptrahe trieben in etwa siebenhundert Metern Entfernung und trudelten um eine gemeinsame Achse. Ein Rest vom Segel blähte sich und flatterte. Es sah aus, als winkte uns eine große Hand. Trümmer, bestehend aus Stücken der Re ling und der Wantenblöcke, trieben neben dem Torso her. Und eine Wolke winziger Holzsplitter enfernte sich in einer großen Spirale. Mein Blick kehrte zum Deck zurück. Die Planken waren dick mit den Verdau ungssäften der Gravo-Echse beschmiert, die die abgeschnittenen Maultentakel abgeson dert hatten. Es stank bestialisch. Von den Ausrüstungsgegenständen, die ander Innenseite der Reling festgezurrt ge wesen waren, fehlte jede Spur. Zerfaserte und aufgedrehte Taue hingen herum. Das Windruder existierte nicht mehr; die metallene Klaue, mit der es am Heck befe stigt gewesen war, hing nur noch an einem einzigen Nagel. Quandd trat an meine Seite. »Glaubst du nun, daß es hoffnungslos ist?« Ich biß auf meiner Unterlippe herum. »Was den Zustand des Schiffes betrifft – ja.« Das Deck unter uns schwankte wild. Der Torso der TOPTAN-KAU bockte wie ein auskeilendes Reittier. Dann begannen wir uns zu fürchten. Das Wrack trieb immer schneller voran. In der Atmosphäre vor uns begannen sich die charakteristischen Spiralmuster zu bil den, die das Entstehen eines Mahlstroms an
41 kündigten. Das Schwerefeld, in dem wir trieben, wechselte von einer Sekunde zur an deren seine Intensität. Eine Höllenfahrt be gann. Einmal rasten wir scheinbar einem tie fen Tal hinab, um im nächsten Augenblick von einer gewaltigen, unsichtbaren Woge wieder hochgeworfen zu werden. Der Wind pfiff und heulte, und ich konnte mich nur schreiend bemerkbar machen. »Wir müssen wieder unter Deck, anson sten reißt uns der Sturm von den Planken!« Krampfhaft umklammerte ich die Kanthöl zer des Schotenknechts, der als einziger die Wut der Gravo-Echse überstanden hatte. »Wir haben eine echte Chance, davonzu kommen, glaub mir das. Der Rumpf hält we sentlich mehr aus als je ein Schiff zuvor. Und noch etwas: Wenn wir in einen Sog kommen, werden uns die Fliehkräfte nach einer bestimmten Zeit von selbst herauskata pultieren.« Das war nur eine Vermutung von mir, denn ich war mir nicht sicher, ob hier die gleichen physikalischen Gesetze wie im normalen Raum-Zeit-Kontinuum herrschten. Aber das würde sich schon noch heraus stellen, darin war ich mir sicher. Quandd öffnete die Luke, und wir kletter ten wieder ins Innere des Torsos. Ich deutete auf seine Gefährten. »Nimm sie dir der Reihe nach vor«, sagte ich. »Sie müssen sich festbinden.« Ich selbst suchte mir neben dem Mastfuß einen Platz, schlang ein Tauende um meine Hüften und wickelte es dann mehrmals um den Mastfuß, den ich zusätzlich noch mit Armen und Beinen umklammerte. Wir waren keine Sekunde zu früh damit fertig. Der Höllentanz begann.
* Die Geräusche der aufgewühlten Natur schwollen orkanartig an. Die Kräfte des Gravitationsstrums rüttelte an den Spanten und Verbindungen des Wracks. Unter enor men Drücken sprangen lange Splitter aus dem Holz der Decksbalken.
42 Der Torso der TOPTAN-KAU sackte durch und fiel, daß ich glaubte, mit dem Kopf durch die Decke zu stoßen, schoß wie der nach oben und verharrte dort einige Se kunden in Schwerelosigkeit. Dann packten die Kräfte der entfesselten Elemente erneut zu. Proviantsäcke und schwere Taurollen flogen wie Geschosse durch den niedrigen Raum, trafen meinen ungeschützten Rücken und übersäten ihn mit Beulen, blauen Flecken und Schnitten. Dann waren wir im Zentrum des Sturmes. Enorme Fliehkräfte packten das Wrack, wirbelten es im Kreis, bis ich farbige Schlei er vor meinen Augen sah. Äderchen platzten und überschwemmten die Netzhaut mit Blut. Ich krallte mich förmlich in das Holz des Mastfußes, klammerte mich mehr oder we niger besinnungslos fest, nur von dem Wil len beseelt, diesen Kampf gegen die Ele mente zu meinen Gunsten zu entscheiden. Es war ein Alptraum. Ein Heulen und Kreischen gellte in mei nen Ohren und versetzte die Trommelfelle in unerträgliche Schwingungen. Durch den roten Blutnebel vor meinen Augen sah ich, wie einer der Dnofftries von seinen Leinen losgerissen wurde und wie ei ne Rakete in die gegenüberliegende Wand schlug. Und als ich glaubte, die Fliehkräfte des Sogs müßten mich in der Mitte entzwei schneiden, geschah das, was ich gehofft hat te: Der Mahlstrom konnte den schweren Torso der TOPTAN-KAU nicht länger hal ten und spie ihn aus. Ich hatte jegliches Zeitgefühl verloren, als wir wieder in einer Zone relativer Ruhe trie ben. Ich war zu erschöpft, um Freude dar über zu empfinden. Und gleich darauf ver sank ich in eine halbe Bewußtlosigkeit. Wieviel Stunden wir so dahintrieben, wußte ich nicht. Ich wurde ein paarmal wach, um gleich darauf wieder in den Er schöpfungsschlaf zurückzufallen. Dann erwachte ich durch ein merkwürdi ges Geräusch. Es klang wie das Jammern unzähliger Dämonen.
Conrad Shepherd Aus blutunterlaufenen Augen starrte ich um mich – das seltsame Konzert kam von den Dnofftries. Ihre Balgmuskeln vibrierten synchron und erzeugten diesen in der Ton höhe fast gleichmäßigen Klang tiefer Trauer. Ich hatte ihn schon einmal gehört. Da mals, als die Festung der Ausgestoßenen von ihrer Verankerung geschnitten und dem Untergang preisgegeben worden war. Aber was war jetzt der Grund? Ich mußte mehrmals meine Frage stellen, ehe ich Quandd aus seiner Trance in die Wirklichkeit zurückholte. »Sieh hinaus«, antwortete er mir. Unmittelbar vor mir fehlte ein großes Stück des flachen Kiels, und mein Blick fiel ungehindert auf die unter uns hinwegrasende Ebene. Der Schreck saß mir in den Gliedern, als ich erkannte, daß wir knapp über dem Tiefen Land waren. Nicht höher als zwanzig Meter vielleicht. Das Wrack befand sich in den letzten Ausläufern einer Neutralen Zone und sank immer tiefer. Nichts konnte es aufhalten. Unter uns huschten Felsen vorbei, dann Dü nen. Und ich begann zu hoffen. Es bestand eine geringe Chance, den Absturz zu überle ben, wenn wir in einem Gebiet mit Sand herunterkamen. Wunderbarerweise lag der Torso der TOP-TAN-KAU auf ebenen Kiel. Das Heck lag sogar noch etwas tiefer, wenn mich meine Sinne nicht in Stich ließen. Ich glaube, es war der erste Gravo-Segler, der eine Landung auf der Ebene machte. Und dafür, daß es das erste Mal war, gelang sie ganz ordentlich. Der Rest des kastenförmigen Rumpfes plumpste herunter, grub eine tiefe Furche in den Sand und schleuderte ganze Wolken von Dreck und Staub wie eine immense Bugwel le zur Seite. Ich hatte den Mastfuß umklam mert und wartete auf das Bersten, mit dem das Wrack an einem Felsen zerschellen wür de. Es kam. Und in meinem Kopf explodierte etwas.
*
Irrfahrt ins Nichts Die Dunkelheit wich nur zögernd. Ich kam zu mir und versuchte mich zu bewegen. Es gelang mir nur unter großen Anstrengun gen, die mich fast wieder in die Bewußtlo sigkeit zurücksinken ließen. Doch dann wur de mein Blick klar. »Ich lebe!« sagte ich. Ich lebte tatsächlich. Durch die geborstene Steuerbordwand sah ich die Wüste. Mein Blick fiel ungehindert über die Sandfläche, über der die Hitze flirrte. Mühsam richtete ich mich auf, wälzte die Taurolle von meinen Beinen und kam schwankend auf die Füße. »Quandd!« rief ich. Dann erst übersah ich das ganze Ausmaß der Tragödie. Der Kiel der TOPTAN-KAU war von vorn bis hinten aufgerissen. Aber das war nicht das Schlimmste. Die Dnoff tries waren beim Aufprall herausgeschleu dert worden. Ich humpelte mühsam von ei nem zum anderen. Bei siebenundzwanzig kam jede Hilfe zu spät. Drei Besatzungsmit glieder lebten und waren relativ unverletzt. Zwei namens Occy und Danju. Das dritte war Quandd. Ich fühlte mich miserabel. Und eine riesi ge Beule an meinem Hinterkopf trug nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei. Ich sah zum Himmel auf. Die Farben des Mittags spielten darüber. Ich verlor keine Zeit. Die TOPTAN-KAU war gut ausgerü stet und mit den nötigen Vorräten versehen worden – für einunddreißig Besatzungsmit glieder, mich eingeschlossen, die längere Zeit unterwegs sein würden. Wir hatten zwar einiges an Vorräten verloren, als wir diese unsanfte Landung praktizierten. Aber es war noch immer genug da, um uns vier Überlebende ausreichend zu versorgen. Die Dnofftries schienen von tiefer Lethar gie erfüllt zu sein, die sie handlungsunfähig machte. Ich kümmerte mich vorerst nicht darum, sondern trug den Proviant auf einen Haufen zusammen, den ich zweimal durch forstete, so daß zum Schluß alles Überflüssi ge wegblieb. Ich schuftete wie ein Irrer, der Schweiß
43 lief mir über Gesicht und Körper. Aus Tau en, Resten von Segeltuch und dem Proviant machte ich drei kleine und einen riesigen Packen. Letzterer war für mich. Als ich fast fertig war, erwachte Quandd aus seiner Lethargie. Er hatte regungslos im Sand gehockt, mit verschleiertem Augen band und verschlossenen Ohren und Mün dern. Jetzt sah er mich an. »Was hast du vor, Atlan?« Die Töne kamen gepreßt aus der Hautfal te, die er kaum öffnete. Offenbar fürchtete er sich vor dem Sand, den der Wind pausenlos gegen die Überreste der TOPTAN-KAU trieb. »Ich habe vor, mit euch zum Ende der Ebene zu marschieren«, erklärte ich. Quandds Reaktion kam augenblicklich und für mich nicht unerwartet. Der Balg muskel des Steuermanns zuckte konvulsi visch und erzeugte den charakteristischen tiefen, tremolierenden Ton der absoluten Furcht. »Du hast ihn in Panik versetzt«, kommen tierte mein Logiksektor überflüssigerweise Quandds Verhalten. »Ich werde ihn und die beiden anderen noch öfter in Panik versetzen«, gab ich zu rück. »Jetzt ist keine Zeit mehr, auf ihre Empfindungen Rücksicht zu nehmen.« Da Quandd keine Anstalten machte, aus seiner selbstgewählten Hölle zurückzukeh ren, ging ich mit einem Knurren zu ihm und gab ihm mit der flachen Hand einen klat schenden Schlag auf die blaue Lederhaut. Es knallte förmlich. Und das Geräusch wirkte – oder war es die Erschütterung? Egal. Quandds kristallisches Augenband blickte wieder hell. »Wir bleiben hier«, erklärte er, »und war ten, bis uns ein Expeditionsschiff des Vor schwebers findet.« »Ohne mich«, versetzte ich. Der Dnofftrie schwieg. Ich wartete einige Sekunden, dann wandte ich mich schulterzuckend ab und wuchtete mir die schwere Last auf den Rücken. Ich
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rückte sie zurecht, zog die Stricke etwas fe ster und gürtete mich dann mit meinem Schwert. Eine Harpune und ein Beutel mit Bolzen für diese weittragende Waffe ver vollständigte meine Ausrüstung. Ich hatte wohl gemerkt, daß sich inzwi schen die drei Dnofftries um mich geschart hatten, doch ich ignorierte sie weiterhin. »Du gehst?« sang plötzlich Quandd. »Ich breche sofort auf. Ich habe nur noch für ein paar Stunden Tageslicht.« »Du hast wirklich vor, uns hier allein zu rückzulassen?« »Richtig«, erwiderte ich hart. »Von jetzt ab ist euer Weg eure Sache. Ihr könnt euch noch entscheiden. Wenn ihr euch entschei det, mit mir zu gehen, gibt es vermutlich kein Zurück mehr. Und – ich kann keine Bummler gebrauchen. Wer zurückbleibt, auf den warte ich in keinem Fall.« »Wir gehen mit.« »Gut. Ihr habt anfangs schwere Lasten zu tragen, aber sie werden mit der Zeit leich ter.« Als ich mich nach einer Stunde umdrehte, konnte ich in der Wüste nichts mehr vom Wrack der TOPTAN-KAU sehen.
8. Wir schafften etwa zehn Kilometer, ehe die Farben der Nacht über den rotleuchtenden Himmel zogen und den Horizont ver schwimmen ließen. Quandd, Occy und Dan ju scharrten sich mit ihren Greifpfoten eine muldenförmige Vertiefung im Sand und hockten sich hin. Wenig später zeigte mir das mit dem Blau ihrer Haut verschmelzen de Augenband, daß sie schliefen, wenn Dnofftries überhaupt schliefen. Merkwürdi gerweise hatte ich nie darüber genaue Er kundigungen eingeholt. Ich beschäftigte mich eine ganze Weile mit diesem Problem, ehe ich darüber einschlief. Die Farben des Tages leuchteten noch nicht voll, als wir unseren Marsch fortsetz ten. Wir gingen weiter, über rauhes Gelände
jetzt. Felsblöcke ragten aus dem Sand. Der Boden stieg an, und meine nackten Sohlen spürten schmerzhaft die Härte kleinerer Stei ne. Ohne Murren blieben mir die drei Dnoff tries dicht auf den Fersen. Hatte ich anfangs befürchtet, sie würden mehr eine Last sein, so sah ich mich nun angenehm enttäuscht. Als ich gegen Mittag anhalten ließ, hatten wir weitere fünfzehn Kilometer geschafft. Wir stärkten uns in einem kleinen Sand kessel, der ringsum von niedrigen Felsen eingeschlossen wurde. Dahinter erstreckte sich die Ebene des Tiefen Landes in gleich förmiger Eintönigkeit. »Was erwartest du eigentlich zu finden, Atlan«, richtete Quandd die Frage an mich. Ich zuckte die Schultern, was kein Echo hervorrief, Dnofftries kannten die Bedeu tung dieser Bewegung nicht. Sie hatten da für eine ganz bestimmte Tonfolge. Ich sang sie. »Das Ende der Ebene – wie es mir der Vorschweber aufgetragen hat«, versetzte ich dann. »Und vielleicht einen Weg zurück in mein eigenes Raum-Zeit-Kontinuum«, fügte ich in Gedanken hinzu. Nach einer schweigenden Mahlzeit und einer Rast von dreißig Minuten, gingen wir weiter. Ich hatte gerade den Rand des Kes sels erkommen, als etwas durch die Luft zischte und sich mit einem peitschenden Knall um meinen linken Fuß schlang. Der unerwartete Schmerz ließ mich auf schreien. Dann zwang ich mich zur Ruhe und blickte hinab; die biegsame, daumen dicke Ranke, die sich um meine Knöchel schlang, entpuppte sich als geflochtenes Lasso, dessen Ende mit kleinen Metallge wichten versehen war. Ich bückte mich und riß kräftig an dem Seil. Zuerst hatte ich einen gewissen Wider stand zu überwinden, dann merkte ich, daß etwas nachgab und hinter der Felskante er hob sich schwankend eine merkwürdige Konstruktion. Sie erschien mir zunächst wie ein riesiges Blatt, ehe ich erkannte, daß das
Irrfahrt ins Nichts Rippengerüst aus dünnen Stäben bestand, die in ein Segel eingenäht waren. Spann schnüre gaben dem Drachengleiter die nöti ge Steifheit. Unter der Segelfläche und offenbar im Schwerpunkt dieses fliegenden Segels, hockte in einem korbähnlichen Sitz ein We sen, das verblüffend einem blau bepelzten Dnofftrie glich. Als es merkte, daß es sich mit mir einen zu großen Happen geangelt hatte – ich holte nämlich das Lasso Zug um Zug ein –, kapp te es das Seil. Der Gleiter bäumte sich auf, schüttelte sich wie ein riesiger gefiederter Räuber und legte sich dann in eine enge Kehre. Als ich den Felsrand erreicht hatte, sah ich das zerbrechliche Gefährt rasch über die Ebene dahingleiten. War das ein Vertreter jener sagenhaften Völker, von denen in Su-Ra geredet worden war? Ich beschäftigte mich noch mit dem be pelzten Flieger, als hinter mir Quandds Or gan orgelte: »Achtung, Atlan! Gefahr!« Ich fuhr herum, und was ich sah, ver schlug mir fast die Sprache. Mit dem Wind kam eine ganze Anzahl dieser blattähnlichen Gleiter über die Ebene heran. Sie schwebten so tief, daß sie fast den Boden streiften. Die Piloten trugen kurze Bogen und Pfeile in den Klauen. Als einer der Pfeile dicht vor mir in den Boden zischte, warf ich mich hinter einem Felsen in Deckung. Ein ganzer Hagel von Pfeilen prasselte herab, traf aber keinen von uns. Dann war der Spuk vorbei. Ich verfolgte den Flug der Gleiter mit den Augen und sah, daß sie in einiger Entfer nung in großen Schwüngen an Höhe gewan nen. Ich ahnte, was dieses Manöver bezweckte. Und tatsächlich zogen sie Gleiter in einer fast exakt militärischen Formation in Gegenrichtung über uns dahin, bis sie im Dunst verschwanden. »Bleibt in Deckung!« schrie ich, als mei
45 ne drei Begleiter sich anschickten, zu mir heraufklettern zu wollen. »Der Spuk ist noch nicht vorbei!« Mit furchterfüllten Trompetenstößen ver krochen sich meine drei Dnofftries unter dem überhängenden Felsdach, das ihnen mehr schlecht als recht Schutz bot. Ich suchte mit meinen Blicken den Him mel in der Richtung ab, aus der sie angreifen würden. Und da waren sie schon! Es hatte keine fünf Minuten gedauert. Die gleiche Taktik wie vorher – auch diesmal wieder dicht über dem Boden. Sie kamen näher und näher, zo gen dicht vor dem Kessel die Gleiter etwas hoch und huschten darüber hinweg, während sie ihre Pfeile auf uns abfeuerten. Ich hörte den Wind in den Spanndrähten pfeifen. Wie eine angreifende Staffel Jagdflugzeu ge sah das aus. Die Piloten konnten maximal sieben Pfei le verschießen, ehe die Distanz für einen ei nigermaßen sicheren Schuß zu groß wurde. Ich hielt das Ganze für ein zeitraubendes Verfahren, das wenig Nutzen brachte. Inzwischen war ich nicht untätig geblie ben. Nach dem dritten Angriff hatte ich mir aus meiner Last eine Art Schutzdach gebaut, mir eine Reihe handlicher Steine zurechtge legt und beim vierten Angriff meinerseits das Feuer eröffnet. Anfangs traf ich immer nur die Segel und riß große Löcher hinein, die allerdings we nig am Flugverhalten der Gleiter änderte. Dann machte ich einen Sonntagsschuß und traf einen Piloten. Der Felsbrocken, groß wie meine Faust, traf ihn voll, und er kippte aus seinem Korb sitz. Genau das war der Zweck meines Bom bardements gewesen. Meine kostbaren Bol zen zu verschießen, hielt ich nicht für nötig. Auch wollte ich einen der blauen Piloten le bend. Der Abgeschossene fiel etwa vierhundert Meter von meinem Standort entfernt herun ter.
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Conrad Shepherd
Sein Segler raste führerlos weiter, kippte über die linke Fläche ab und zerschellte auf der Ebene. Ich stellte gerade Überlegungen an, wie ich meine Beute an mich bringen konnte, ohne von einem Pfeilhagel durchbohrt zu werden, als ich sah, daß der letzte Segler ei ne kleine Kursänderung vollführte und auf den am Boden sitzenden Piloten zuhielt. Ein Lasso fiel herab und schleifte nach. Der in Not geratene Pilot ergriff es, und sein Retter zog den Segler in einer Steilkur ve hoch. Rasch entschwanden beide meinen Blicken. Ich wartete mehr als dreißig Minu ten, aber es erfolgte kein Angriff mehr. Alles in allem hatte der Spuk eine knappe Stunde gedauert. Mehr nicht. Während wir endlich unseren Weg fort setzten, fragte ich mich, was alles noch an unvorhersehbaren Dingen unseren Marsch beeinträchtigen würde. Die blau bepelzten Piloten sahen wir nicht wieder.
* Die Landschaft wechselte nie. Als ich das Gefühl hatte, schon eine Ewigkeit unterwegs zu sein – das war so um den zehnten Tag –, merkte ich plötzlich, daß es keine Gezeiten wechsel mehr gab. Die Farbe des Himmels blieb ständig die gleiche. Jeder Tagesmarsch war wie der vorherge hende. Wenn wir müde wurden, legten wir uns dort schlafen, wo wir uns gerade befan den. Wenn wir ausgeruht waren, machten wir uns wieder auf die Beine, schlangen un sere Rationen hinunter und zogen weiter. Während einer solchen Ruhepause er wachte ich urplötzlich und merkte, wie ich an allen Gliedern zitterte. Ich setzte mich erschrocken auf. »Kein Grund zur Aufregung«, kamen nach langer Zeit wieder einmal die Impulse meines Extrasinns. »Es ist kalt geworden, nichts weiter.« Tatsächlich! Der Boden um unser Lager war mit einem Hauch Reif bedeckt. Und
mein Atem stand als dichte Wolke vor mei nen Mund. Ich durchsuchte mein Bündel, entnahm ihm eine Rolle Segelleinwand und machte mich an die Arbeit, mir einen Mantel und Fußbekleidung zu fabrizieren. Als ich fertig war, sah ich den Dnofftries ähnlicher als einem Arkoniden. Das steife Segeltuch fiel glockenförmig von meinen Schultern herab. Ich dachte kurz nach, dann schnitt ich entlang des Halsabschlusses klei ne Löcher, durch die ich eine dünne Leine zog. Auf diese Weise konnte ich den Um hang eng um meinen Hals zuziehen, und der Wind, der stürmisch über die Ebene fegte, fing sich nicht mehr in dem Kleidungsstück. Die Dnofftries waren meinem Tun ge folgt, ohne eine Reaktion zu zeigen. Erst, als ich fertig war, erkundigte sich Quandd – die beiden anderen sprachen kaum einen Ton mit mir –, warum ich mir eine zweite Haut anlegte. Ich betrachtete den blaukegeligen Körper mit der lederharten Haut nachdenklich. »Spürt ihr keine Kälte?« erkundigte ich mich dann. Quandds Balgmuskel signalisierte Ratlo sigkeit. »Kälte! Was ist das?« »Registriert ihr keine Temperaturunter schiede um euch herum?« Verneinung. Dann: »Wir registrieren lediglich den Wechsel der Luftfeuchtigkeit, wenn es das ist, was du meinst.« »Das trifft nicht ganz den Kern der Sa che«, erwiderte ich. Immerhin würden die Dnofftries nicht unter der Kälte zu leiden haben. Als ich mir meine klammen Finger rieb, wünschte ich, ich könnte das gleiche auch von mir behaupten. Es wurde kälter und windiger. Harte Böen peitschten geradezu über die Ebene, die sich mehr und mehr mit Eiskristallen bedeckte, je weiter wir marschierten. Ein weiteres Phänomen: Ich hatte kein Zeitgefühl mehr. Ich konnte nicht mehr sa gen, waren jetzt zehn Stunden oder mehr
Irrfahrt ins Nichts vergangen, seit unserer letzten Mahlzeit, oder nicht. Vielleicht basierte meine Zeitan gaben der letzten Tage auf falschen Voraus setzungen. Mehr und mehr wuchs in mir die Ahnung, daß in diesem Kontinuum alles möglich sein konnte. Ich fror jetzt ganz erbärmlich. Unablässig wehte ein eisiger Wind. Ich rationierte die Nahrungsmittel, da ich nicht wußte, wann wir das Ende unseres Marsches erreichten. Daran, was uns eventu ell dort erwartete, wagte ich gar nicht zu denken. Mit Sicherheit nicht die Zivilisation, von der der Vorschweber träumte. Meine drei Begleiter murrten über die kleineren Portionen. Der Himmel verdunkelte sich. Mehr den je hatte es den Anschein, daß wir einen Marsch ins Nichts unternahmen. Kurzzeitig auftretende Nebelbänke, grau und trostlos, verstärkten diesen Eindruck der Leblosigkeit noch. Mit den Dnofftries ging eine deutliche Wandlung vor. Ihren wenigen Unterhaltungen konnte ich entnehmen, daß sie sich in einer Phase der fortwährenden Angst befanden. Sie waren in der Region des Todes ange langt. Die Landschaft veränderte sich. Aber sie veränderte sich nicht zu ihrem Vorteil. Der Boden stieg leicht an. Eisflächen, grün und blau schimmernd, hinderten uns an einem schnellen Vorankommen. Die Füße fanden oft keinen Halt. Bei der nächsten Ruheperiode meuterten Occy und Danju erstmals offen über die kleineren Portionen. Sie deuteten unumwun den an, daß es nicht richtig wäre, daß ich die gleiche Menge bekäme. »Wie denkst du darüber?« wandte ich mich an Quandd, der offenbar noch Autori tät bei dem Rest seiner Besatzung genoß. Er schwieg lange. Dann meinte er: »Wir sollten uns überlegen, ob es nicht besser wäre, umzukehren.« »Du kannst das nicht ernsthaft wollen!« entfuhr es mir. Er wollte.
47 »Weshalb gehst du nicht allein weiter?« wollte Danju wissen. »Wir lassen dir ein Viertel der Vorräte.« Ich sang eine Tonfolge der Verachtung. »Geht nur zurück. Kümmert euch nicht um mich. Aber ich bezweifle, ob es euch ge lingt, den Gefahren zu entkommen, die auf euch warten.« Quandd stand auf. Der seinen Artgenos sen zugewandte Mund orgelte: »Ich entscheide, wann es soweit ist.« Die drei Augenbänder sahen mich an. »Von jetzt an sei vorsichtig, wenn du dich hinlegst«, warnte mich mein Logiksektor. Wir aßen zu Ende und nahmen unsere Bündel wieder auf. Ich ging nun als letzter und beobachtete die Dnofftries; mein Schwert trug ich offen in der Rechten.
* Während der folgenden Ruheperiode blieb ich wach. Ich wartete lange. Schließ lich bewegte ich mich lautlos auf die drei Kegel zu, die dicht nebeneinander aus der dünnen Schneedecke ragten; es schneite seit einiger Zeit. Ich hielt unwillkürlich den Atem an, ob wohl der Wind jedes andere Geräusch über tönte. Nacheinander nahm ich mir die Bün del der Dnofftries vor und entfernte alles aus ihnen, das man als Waffe gebrauchen konn te. Ich fühlte ein kurzes Bedauern über mein Tun, aber ich wollte schließlich weiterleben. Die Schwerter warf ich mit äußerster Kraft von mir; sie würden sie niemals wiederfin den. Die Rohre der Harpunen quetschte ich in meinen Fingern zusammen, bis sie un brauchbar geworden waren. Und die Bolzen verstreute ich im Schnee. Erst dann legte ich mich auf mein ausge rolltes Bündel, zog den Umhang fest um die Schultern und schlief ein. Durch meinen un ruhigen Schlummer geisterte ein monotones Geräusch, das aus unermeßlichen Fernen zu kommen schien. Ich war noch vor den Dnofftries wach, die
48 mir irgendwie erschöpft vorkamen. Auch klagten sie über die hohe Luftfeuchtigkeit, womit sie den Schnee meinten. Dann spannte ich unwillkürlich meine Muskeln, als sich Danju an seinem Bündel zu schaffen machte. Er öffnete es und stapel te einen Teil seiner Nahrungsmittel. Sein Balgmuskel erzeugte Töne der Über raschung. »Seht doch!« Eines seiner Sehorgane starrte auf mich. »Er hat uns unsere Waffen genommen. Wir sind schutzlos den Geistern dieser Zone ausgeliefert!« Seine Stimme er hob sich zu einem nervenstrapazierenden Tremolo. Als ich ihm befahl, aufzuhören, wollte er sich auf mich stürzen. Aber ein scharfes Kommando Quandds hielt ihn zurück. »Er hat es von Anfang an so geplant«, sang Occy verbittert. Der Steuermann wandte sich an mich. »War das dein Ziel? Hast du vor, uns jetzt in Stich zu lassen?« »Wir gehen weiter«, sagte ich. »Ich habe nur eine bestimmte Vorsichtsmaßnahme ge troffen, mehr nicht.« »Und wenn wir uns weigern?« Damit mußte ich rechnen. Ich überlegte keine Sekunde. »Dann lasse ich euch den größten Teil der Vorräte hier und ziehe allein weiter«, ver setzte ich. Quandd ging an seinen Platz und schnürte sein Bündel zusammen. Ich fühlte mich keineswegs als Sieger, als wir losmarschierten. Während der folgenden Ruhepause ent ging ich nur knapp einem Angriff Danjus. Ich konnte mich gerade noch zur Seite rol len. Und der Felsbrocken verfehlte meinen Kopf nur knapp. Mit einem Wutgeheul stürzte sich Danju auf mich. Ich schleuderte ihn mit einer Armbewegung zur Seite, mü helos. Für die hier herrschenden Verhältnis se besaß ich noch immer eine geradezu tita nische Kraft. Occy wollte ebenfalls über mich herfal len. Doch ein scharfer Befehl Quandds
Conrad Shepherd brachte beide zur Vernunft. Von da an blieben die drei in sich gekehrt. Mit mir sprachen sie nicht mehr, ließen mich aber in Ruhe. Keiner versuchte mehr einen Angriff auf mich. Gegenseitig halfen sie sich über schwierige Wegstücke hinweg und lehnten meine Hilfe ab. Der Himmel verdunkelte sich mehr und mehr. Auch gewann ich den Eindruck, als rückte der Horizont seitlich zusammen und auf uns zu. Mit etwas Phantasie konnte man meinen, am Beginn eines immensen Tunnels zu ste hen. Unser Marsch geriet in die Nähe des Alp traumhaften. Der ferne Lärm schwoll an. Es war ein Geräusch, wie ich es noch nie vernommen hatte. Es ließ mir das Blut in den Adern stocken. Er verwandelte auch meine kleinen Begleiter. Die Farbe ihrer Lederhaut, sonst in reinem Blau schimmernd, wurde dunkel und schmutziggrau. Die Balgmuskeln sende ten nun ununterbrochen Signale der Furcht aus. Unser Vorwärtskommen gestaltete sich immer mühsamer. Auf dem unwegsamen Gelände kamen wir nur langsam voran, und die Dnofftries hatten jetzt echte Schwierig keiten, mit ihren Greifpfoten sicheren Halt zu finden. Wir durchquerten ein breites, flaches Tal und marschierten weiter. Bis an den Rand des Horizonts war nichts als Flachland und schimmernder Schnee zu sehen. Weiter und weiter wanderten wir. Meine Beine suchten sich automatisch ihren Weg über die Ebene, bis ich mir klar wurde, daß ich erst dann anhalten würde, wenn ich das Ende der Ebene erreichte. Weit vor uns traf die Dunkelheit des Him mels mit der der Ebene zusammen, wie Schiefer in Schichten gelagert, zwischen de nen es dunkelrot glimmte. Dann blieb Quandd mit einemmal stehen und weigerte sich, weiterzugehen. »Ich lasse dich allein zurück«, drohte ich.
Irrfahrt ins Nichts Als ich den beiden anderen befahl, ihm hochzuhelfen, damit ich meinen Marsch fortsetzen konnte, reagierten sie nicht dar auf. »Er ist von den Geistern der Ebene beses sen«, sang Occy tremolierend. »Werfen wir uns auf ihn. Noch können wir umkehren, zu rück nach Su-Ra und den anderen …« Erst da begriff ich, daß sie von mir spra chen. Ich packte die eiskalte Klinge fester und hielt sie ausgestreckt von mir weg. »Versucht es nur«, erwiderte ich und hatte auf einmal unerklärliche Mühe, auf dem glatten Untergrund nicht den Halt zu verlie ren. Der Wind war stärker geworden und zerrte in kräftigen Stößen an mir. Schmerz haft flatterte der grobe Segeltuchumhang ge gen meine Beine, um die ich dicke Lagen Tuch gewunden hatte, um mir nicht die Füße zu erfrieren. Ich taumelte und wäre fast gestürzt. Der Wind riß immer kräftiger an mir. »Das kann nicht sein«, erklangen die Im pulse meines Logiksektors in mir. »Der Wind ist niemals imstande, deine ungeheure Masse zu bewegen.« Und in diesem Moment erkannte ich die Gefahr, in der wir uns befanden. Es war ein Gravitationssog, in dem wir uns aufhielten. Ich warf mein Packen von den Schultern und zerrte das Seil heraus. Auch die Dnofftries mußten erkannt ha ben, was um sie herum vorging. Sie klam merten sich aneinander, schlangen die Ten takelarme umeinander und begannen einen mächtigen Singsang, mit dem sie die Geister und Dämonen zu beschwichtigen gedachten. Ich verhedderte mich in der Leine, fluchte und schimpfte und wußte, daß es keine Ret tung mehr für die leichten Dnofftries gab, als sich das Zerren um mich herum schlagar tig vervielfachte. Die Dnofftries begannen über die Ebene zu rollen. Danju löste sich von den anderen beiden, stieß einen orgelnden Schrei aus und wehte
49 davon. Sekunden später war nichts mehr von ihm zu sehen. Inzwischen hatte ich das Seil Quandd und Occy zugeworfen. »Haltet euch fest!« schrie ich gegen das Toben der Luft an. Sie versuchten es. Aber das Tau rutschte durch ihre Klauen, als die übermächtigen Kräfte des Schwerkraftsogs noch eine weite re Steigerung erfuhren. Sie verschwanden, als hätte es sie nie ge geben. Und nun war ich wirklich allein.
* Ein fauchendes, pfeifendes Geräusch schwoll hinter meinem Rücken an. Der Gra vitationsorkan brachte die Luft zum Schwin gen, fegte Schnee und Erdreich hoch, ver mischt mit Kies und kleineren Felsbrocken, die sich aus dem Untergrund lösten. Hinter mir bildete sich eine Wand aus Schnee und Dreck. Ich stemmte die Fersen in den Boden und versuchte, mich gegen den Sog aufrecht zu halten. Vergeblich. Meine Füße gruben tiefe Fur chen in den Schnee und den darunterliegen den Sand. Ein kopfgroßer Stein traf meine Schulter und ließ mich vor Schmerz aufstöh nen. Ich nahm meine eigene Stimme gar nicht wahr. Dann wurde ich wie eine Feder hochgeho ben, durch die Luft geschleudert und hun dert Meter weiter wieder zu Boden gewor fen. Ich hatte das Glück, auf eines der relativ dicken Schneefelder zu landen, und wenn mir auch alles weh tat, so hatte ich mir doch nichts gebrochen. Da ich gegen die Naturgewalten nicht an kämpfen konnte, krümmte ich mich in mei nem Segeltuchmantel wie eine Kugel zu sammen, verbarg mein Gesicht in den Un terarmen und ließ mich rollen. Eine Reihe von Gedanken schossen mir durch den Kopf, wie ich meine Lage verbessern könn
50 te, aber sie halfen mir nicht viel. Ein anderer Gravitationsstoß hob mich wieder empor, ich wirbelte wie verrückt her um, berührte den Boden mit einem Fuß, überschlug mich wie die groteske Parodie einer Marionette und prallte aufs neue vom Boden ab. Der Gravitationssturm wehte im wesentli chen in Richtung der Dunkelheit, die ich vorhin am Horizont zu erkennen glaubte. Immer wieder prallte ich auf den Boden, wurde wieder hochgewirbelt und blieb dann schließlich einige Meter über der Ebene in einer starken Strömung, die mich in rasender Fahrt davontrug. Einen kurzen Augenblick lang hörte ich von weitem einen entsetzlichen Krach. Mit tränenden Augen sah ich, daß der Schwer kraftorkan in Richtung der schwarzen Wand zog, die die Ebene weit vor mir abzugrenzen schien. Die Staub- und Sandwolken, vermischt mit Eiskristallen, bildeten lange Spiralen um mich herum, die alle in die Schwärze einzu münden schienen. So plötzlich, wie er begonnen hatte, hörte der Gravitationsorkan auch auf. Ich prallte ein letztes Mal auf den Boden, rollte eine Strecke und lag dann platt auf dem Untergrund. Das chaotische Zerren hat te geendet. Benommen blieb ich eine Weile liegen. Dann fiel mir auf, daß der entsetzliche Krach, der meinen Schädel in der vergange nen Zeitperiode zu sprengen drohte, kaum noch hörbar war. Er hatte sich auf eine ande re Ebene verlagert, die ich mehr in mir spür te, als daß es ein wirkliches Geräusch war, das von draußen über mich hereindrang. Überraschung und Erleichterung wirkten wie ein heilsamer Schock. Ich konnte meine Gedanken wieder ordnen. Nach einer Weile richtete ich mich auf – und verhielt in fassungslosem Erstaunen. Vor mir grenzte eine dunkle Wand die Ebene ab. Sie erstreckte sich in alle vier Dimensionen, gewaltig, schweigend, die Sinne verwirrend. Mir war, als schaute ich von den
Conrad Shepherd
Rundumschirmen eines Raumkreuzers in ein sternenloses All, das nur von innen heraus zu glühen schien. »Es ist das totale Nichts, in das du blickst«, wisperte mein Extrasinn, um dann triumphierend fortzufahren: »Das geheimni sumwitterte Ende der Ebene liegt vor dir, von dem die Dnofftries nur mit Furcht rede ten. Es ist gleichzeitig das Ende dieses Mi kro-Universums. Tu ein übriges – tritt hin ein. Vielleicht bringt dich dieser Schritt in dein Raum-Zeit-Kontinuum zurück.« In mir kämpften widerstreitende Gefühle. Dann straffte ich meine Schultern. Ich hatte mich entschlossen, das Äußerste zu wagen, um in mein Kontinuum zurückkeh ren zu können. Doch wieder hatte dieses Mikro-Uni versum seinen Charakter geändert und mir ein neues Geheimnis offenbart. Schattenhaft erkennbare Derwischgestal ten tauchten plötzlich um mich auf. Ihre Umrisse verschwammen zu diffusen Linien, in denen winzige Lichtpunkte schimmerten. Ihre Konturen wurden ganz offensichtlich von den Schwerkraftfeldern verzerrt, in de nen sie lebten. Sie hängten sich an mich, versuchten, mich abzudrängen. Meine Glie der begannen konvulsivisch zu zucken; ich erhielt durch die Berührungen Gravitations schocks, die mein Innerstes nach außen zu kehren schienen. »Eine gewisse Anzahl von Parasiten im Pelz ist gut«, knurrte ich und setzte Fuß vor Fuß. »Der Betreffende wird von ihnen abge halten, darüber nachzudenken, wie dreckig es ihm wirklich geht.« Ich taumelte, stürzte und kam wieder auf die Füße. »Ich werde es euch zeigen!« stöhnte ich auf und merkte, wie sich meine Sinne unter dem Ansturm der energetischen Felder ver wirrten. Meine Widerstandskraft war be grenzt. Zu viele Anforderungen waren in der allerjüngsten Vergangenheit an sie gestellt worden. Dann erschienen mir alle diese Überle gungen müßig – oder dachte ich bereits im
Irrfahrt ins Nichts beginnenden Delirium? Es erschien mir unwichtig. Ich lachte – und sah plötzlich mit erschreckender Klar heit das Ende der Ebene vor mir. Ich mußte nur einen Schritt hinaus ins Leere machen, um den heulenden Dämonen um mich her um zu entkommen. Ich machte ihn …
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»Decke« dehnte und spannte und immer weiter ausgebeult wurde. Dann zerriß sie. Es geschah ohne hörba rem Lärm. Aber der Energieschock traf mich mit der Gewalt eines explodierenden Meilers. Hilflos wirbelte ich in dieser sinn verwirrenden Zone zwischen zwei Kontinua und mußte mitansehen, wie aus der Ein bruchsteile Körper aus dem Makrokosmos in dieses Mikro-Universum hereinschlüpf * ten. Körper, die auf fatale Art und Weise Er Was nun folgte, war eine Periode der ab innerungen in mir wachriefen … soluten Verwirrung. Ich konnte nicht sagen, In mir erstarrte alles. Die Sekunden, die ob sie kurz oder lang war, ob sie nur Sekun ich zum Überlegen brauchte, schienen Äo den oder Jahre dauerte. Ich konnte nicht an nen zu dauern. Es handelte sich um Arkoni geben, ob es hell oder dunkel war, ob ich lag den! oder stand, und ich wußte nicht, ob ich mich Eine Gedankenkette entstand klar vor bewegte oder an einem Ort verharrte. meinen innerem Auge, und das Erscheinen Wohin hatte mich mein Schritt gebracht? der Blutverwandten war nicht länger mehr In die Zukunft? In die Vergangenheit? Oder ein Rätsel für mich. Sie mußten vom Flot blieb ich nun auf ewig in diesem Nichts. tenstützpunkt Trantagossa kommen und wa Aber dann begann mein Verstand zu ar ren wie ich vom Wirkungsfeld des beiten. Ich hatte jetzt den Eindruck, in einem maahk'schen Molekularverdichters erfaßt hellen Medium zu schweben, das merkwür worden. dig belebt wirkte. Mit unbekannter Richtung und ebenso un Mein Verstand klärte sich mehr und mehr bekanntem Schicksal trieben sie in jener – und ich glaubte, einen Fiebertraum zu erle Energieströmung an mir vorbei, die ihr Ein ben. Über mich spannte sich eine wallende bruch hervorgerufen hatte. Decke, die transparent schien. Sie war in Ich haderte mit meiner Unfähigkeit, ihnen ständiger Bewegung, verformte sich, beulte helfen zu können. Aber ich konnte mich sich aus, glättete sich wieder, nur um an an nicht von der Stelle rühren. Schnell ver derer Stelle sich bis zum Zerreißen zu span schwanden sie in der Ferne. nen. Ich spürte die Verzweiflung wie einen »Einmalig!« erreichten mich die Impulse körperlichen Schmerz und merkte, daß mich meines Extrasinns. »Was du hier siehst, ist eine unwiderstehliche Kraft packte und auf die Grenze zwischen Makro- und Mikrokos jene Stelle zutrieb, wo ich noch das Leck in mos. Dort, die Unregelmäßigkeiten und der Grenze zwischen den Makro- und dem Beulen, sie deuten jene Stellen an, wo im Mikrokosmos erkennen konnte. Normalraum Körper mit zu großer Masse Mein Verstand setzte für Augenblicke einen Einbruch in den Mikrokosmos versu aus, dann arbeitete er wieder mit der ge chen.« wohnten Klarheit und analysierte den Vor Ich war vermutlich das erste lebende We gang als ein Rückfluten der Kräfte. Solange sen, das diesen Vorgang bewußt miterlebte. das Leck noch offen war, würde dieser Aus Jetzt hatte ich den Eindruck, daß an einer tausch von Energie anhalten. Stelle über mir ein gewaltiger Einbruch be Und ich begriff mit einemmal, daß ich un vorzustehen schien. wahrscheinliches Glück hatte, als ich er Ich sah leichte Nebelschleier entstehen kannte, daß ich durch einen unbegreiflichen und wieder vergehen, sah, wie sich die physikalischen Vorgang allmählich meine
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normale Gestalt zurückbekam. Ich wurde größer und größer, je näher ich durch den Rückfluß der Energie an das Leck gerissen wurde. Der Mahlstrom der zurückflutenden Ener gien wirbelte mich herum. Ein umgekehrter Effekt trat auf. Mir schien es plötzlich, als fiele ich aus ungeheurer Höhe in einen schwarzen Trichter, an dessen Ende ich
einen winzigen Lichtpunkt wahrnahm. Dies war mein letzter klarer Eindruck, ehe ich das Bewußtsein verlor.
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ENDE