Flucht ins Nichts von Manfred H. Rückert
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Flucht ins Nichts von Manfred H. Rückert
Der Blick über den Rand der Schwebeplatte war erschütternd und faszinierend zugleich. Fünfzig Meter unter Sarn und seinen beiden Begleitern befand sich die im Nichts schwebende Blaue Stadt. An drei von der Stadt ausgehenden Seiten wurde der Planet Karenja regelrecht zerfressen. Nur dort, wo sich die welken Regenbogenblumen befanden, widerstand diese Welt dem Nichts. Der schmale Steg wirkte wie eine Brücke, die den Planeten mit der in verschiedenen Blautönen schimmernden Stadt verband. Selbst die Drois, die doch wirklich schon viel Elend und Verwüstung gesehen hatten, erschraken, als sie den Grad der Zerstörung erblickten. Zur Erfüllung des großen Planes mussten sie die Del’Alkharam unbedingt an einen anderen Ort versetzen. Doch das konnten sie nur, wenn die Stadt unzerstört blieb …
Im Winterbereich von Avalon herrschte das wildeste Schneetreiben, das die Bewohner der Insel je gesehen hatten. Dicke Schneeflocken schwebten dem Boden entgegen. Sie wirkten, als wären sie eine Armee aus Myriaden weißer Wattebällchen, die, winzigen Fallschirmspringern gleich, diese Gegend überschwemmen wollten. In dieser Region von Avalon herrschte seit Urzeiten Permafrost, keine der Priesterinnen konnte sich daran erinnern, dass es hier jemals schneefrei gewesen war. Und dennoch schienen die Schneefälle der letzten Tage alles in den Schatten stellen zu wollen; die Niederschlagsmenge war schier unbeschreiblich. Hier in der Ebene betrug die Höhe des Schnees über zwei Meter, in den Bergen sogar schon mehr als sechs Meter. Wenn jemand die Gegend hätte besuchen wollen, er wäre kaum noch durch die Schneemassen durchgekommen. Jedes Mal, wenn eine der Flocken auf den Boden auftraf, konnte man ein leises, schmatzendes Geräusch vernehmen. Die Bäume bogen sich unter der weißen Pracht, viele Äste waren schon unter der Last abgebrochen. Ein kalter Wind strich von den Bergen her über das Land und wirbelte die oberen Schneemassen auf, sodass sie eine wandernde, blauweiß schillernde Wolke bildeten. Der Wind schuf, seltsamerweise genau auf einem der Wege in die Schneewelt hinein, eine Schneise, so breit, dass mindestens drei Pferdefuhrwerke darin nebeneinander Platz gehabt hätten. Mitten in der Ebene stand ein Gehöft, auch sein Dach war meterhoch mit Schnee bedeckt. Das Ächzen und Knarren verhieß nichts Gutes, lange würde das Dach des Haupthauses den Schneemassen nicht mehr Widerstand leisten können. Vor dem Gehöft, dort, wo sonst immer Pferde auf einer Koppel standen, befand sich eigenartigerweise eine freie Fläche, ein Kreis von annähernd drei Meter Durchmesser. Ein weißes Einhorn lag frei
ausgestreckt auf dieser schneefreien Insel. An der Flanke des Einhorns lehnte ein kleines blondes Mädchen. Es mochte wohl dreieinhalb Jahre alt sein, die großen blauen Augen blickten in unendlich erscheinende Ferne. Ihre Lippen formten unhörbare Worte, doch es schien, als würde das Einhorn alles verstehen, was gesagt wurde. Die Kleine war absolut unpassend für diese Temperaturen angezogen, sie trug nur ein zerfetztes Kleid mit kurzen Ärmeln. Wärmende Schuhe oder eine dicke Jacke fehlten vollständig. Dennoch schien sie die Minusgrade, die Kälte, die wie Millionen stechender Nadeln wirkte, nicht zu spüren – im Gegenteil, ihrer Gestik nach schien sie sich äußerst wohl zu fühlen. Der Kreis, in dem sich das Mädchen und sein Einhorn befanden, lag genau auf dem Weg des Windes, der die Schneise in die winterliche Landschaft schlug. Das konnte kein Zufall sein. Und dann war der überstarke Windstoß auch schon vorbei und zog dem endlos erscheinenden Meer entgegen, das Avalon, die verwunschene Feeninsel, die sich zwischen den Zeiten bewegte, umgab. Weder das Mädchen noch das Einhorn wurden verletzt; noch nicht einmal eine Schneeflocke war in den Kreis geschwebt. Gerade so, als würde eine unsichtbare Schutzkuppel über der schneefreien Zone befinden. Das Dach des Gehöfts hingegen lag nun schneefrei da. Auch das konnte kein Zufall sein. Irgendjemand musste dafür verantwortlich sein. Jemand, der Magie vollendet beherrschte. Das blonde Mädchen mit den blauen Augen lächelte zufrieden, als es die schneefreie Zone sah, und kuschelte sich enger an sein Reittier. Dabei blickte es immer noch in endlose Weiten. Das Fabelwesen drehte den Kopf zur Seite und berührte die Kleine mit dem Horn an der Schulter. Es kitzelte, als Weiße Magie zwischen beiden floss. Das Mädchen lachte und versuchte, den Hals des Tieres zu umarmen. Natürlich war sie zu klein dafür, ihre Ärmchen reichten gerade einmal halb um den Hals herum, doch das machte ihr nichts aus. Ihr war nur wichtig, dass sie und ihr geliebtes Fabelwesen eine Einheit bildeten.
Erneut blickte sie in den Himmel. Diesmal formten ihre Lippen nur ein Wort, einen Namen, den sie wie einen Hilferuf ausstieß. Sie besaß ein besonderes Verhältnis zu der Frau, deren Namen sie nun mehrere Male nannte. Deutlich war zu vernehmen, dass es sich um die wichtigste Person im Leben des Mädchens handelte: »Sara …« Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: »Sara, wo bist du? Bring mich weg von hier.«
* »… auf keinen Fall!«, zischte Monica Peters. Die durchtrainierte Blondine, eine von Robert Tendykes zwei Gefährtinnen, ballte die Hände zu Fäusten und blickte ihren Liebhaber abschätzend an. Sie befanden sich im Wohnzimmer von Tendykes Home, einem Bungalow im Dade County, in der Nähe von Miami, Florida. »Ich weiß nicht, was du hast, Moni«, versuchte Tendyke sich zu verteidigen. Wie so oft trug er einen Lederanzug mit Fransen sowie die dazugehörigen Cowboystiefel und wirkte dadurch wie einer der Pioniere des Wilden Westens. In Wahrheit war er Anfang Februar 1495 geboren, weit älter als der älteste Pionier. Aber auch die PetersZwillinge waren extrem langlebig. Beide alterten nicht mehr, seit sie vor fast 30 Jahren das Lebenswasser des Laird u’Coulluigh Mac Abros, des 17. Earl of Glenstairs, getrunken hatten. »André Croquet wusste, auf was er sich einließ. Als Geschäftsmann darf ich nicht so zimperlich sein!« »Aber das geht so nicht, Rob«, mischte sich Monicas Zwillingsschwester Uschi ein, Tendykes zweite Gefährtin. Sie war aufgestanden und gestikulierte ebenfalls voll unterdrückter Wut. »Du hast André Croquet so fertig gemacht, dass er keinen anderen Ausweg als Selbstmord sah. Und jetzt ist er tot, und du trägst die Schuld daran. Fühlst du dich nun besser?« »Das ist doch seine Sache, wenn er Suizid verübt, nicht meine. Ich
bot ihm eine Chance an, die er nicht ergreifen wollte«, entgegnete der Chef der Tendyke Industries anstatt einer Antwort. »Woher hätte ich wissen sollen, dass Croquet nach meiner Forderung so leicht einknickt? Bei der Heilsarmee wäre er besser aufgehoben gewesen.« Jede Bewegung des Mannes zeigte an, dass er sich unwohl fühlte, richtiggehend in die Enge gedrängt, und dass er bald ausbrechen würde wie ein Vulkan unter Überdruck. Monica und Uschi Peters kannten ihren Gefährten seit vielen Jahren, aber in den letzten Monaten war er ihnen richtiggehend fremd geworden. Sein Wesen hatte eine Änderung erfahren, die ihnen unheimlich war. Aus dem großzügigen, entspannten Robert wurde mehr und mehr ein geiziger, ungeduldiger Mann, der keinen Fehler duldete und mit drastischen Strafen aufwartete. Er reagierte härter und unnachgiebiger als früher. Dazu kam eine innere Unruhe, die ihn schier aufzufressen drohte und mit jedem Tag größer wurde. Tendyke hatte schon früher als seine Freunde, Bekannte und Angestellte festgestellt, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Die Unruhe war schon kurz nach dem Ende der Hölle das erste Mal in ihm aufgetaucht, die Wesensveränderung datierte er in etwa auf das Verschwinden der ersten Blauen Stadt aus der Antarktis. Ob dieses Ereignis etwas mit ihm zu tun hatte, wusste er hingegen nicht. Bei der zweiten Del’Alkharam, mitten in undurchdringlicher Wildnis in den Sümpfen Louisianas, hatte er dann das erste Mal übermäßig hart reagiert, als er eine Amazone verbrannte, die ihn bedroht hatte. Und auch später, auf dem Planeten Karenja, beim Kampf gegen einen Taschtwan, verhielt er sich härter als zuvor. Wie die Amazone, so wurde auch der Taschtwan allein durch Tendykes Geisteskraft verbrannt. Allerdings vermochte der Abenteurer nicht zu erklären, wie er das geschafft hatte. Doch nicht nur in der Dämonenbekämpfung war er härter als früher geworden. Er übertrug diese harsche Haltung ebenfalls auf den Geschäftsbereich. Einzig die Forschungsabteilung, in der Artimus
van Zant arbeitete, litt noch nicht unter Tendykes Launen. Seltsamerweise gab es dann immer wieder länger andauernde Phasen, in denen er so war, wie man ihn von früher her kannte. »Bei der Heilsarmee?« Uschi kniff die Augen zusammen. Sie schüttelte langsam den Kopf. »Was ist nur aus dir geworden, Robert?«, klagte sie. »Ich bin so wie immer«, verteidigte sich der Sohn des Asmodis. Er schenkte sich einen Whisky ein, hob das Glas auf Brusthöhe und stellte eine Gegenfrage: »Vielleicht habt ihr beide euch verändert und seid übermäßig weich geworden?« Monica zuckte zusammen, deutlich war zu erkennen, dass er sie mit seinen Worten empfindlich traf. »Du wirst deinem Vater immer ähnlicher«, murmelte sie so leise, dass nicht klar war, ob sie mit ihm oder mit sich selbst sprach. »Du benimmst dich als wärst du Asmodis. Manchmal habe ich Angst vor dir!« Tendyke hatte ihr Wispern dennoch gehört. Er nahm das Whiskyglas von den Lippen und warf es an die Wand. Erschrocken fuhren seine Gefährtinnen zusammen. »Asmodis ist nicht mein Vater!«, brüllte Robert Tendyke und hielt sich mit beiden Händen am Tisch fest. Seine Augen waren schwarz vor Zorn. »Dieses Stück Dämonendreck ist nur mein Erzeuger. Sonst nichts! Ihr wisst genau, dass ich nichts mit ihm zu tun haben will!« Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: »Ein für alle Mal: Ich will auch nicht mit ihm verglichen werden.« »Dann verhalte dich nicht wie er, sondern menschlicher!«, stieß Uschi hervor. »Mir geht es ähnlich wie Moni. Manchmal wirst du mir richtig unheimlich. Ich weiß ja, dass Menschen sich im Lauf ihres Lebens ändern … aber so stark wie du, quasi um hundertachtzig Grad in nur ein paar Monaten?« Tendyke zeigte mit keiner Bewegung an, ob er ihr überhaupt zuhörte. Er aktivierte die hauseigene Sprechvorrichtung, rief Scarth,
den Butler, und befahl ihm, das zerbrochene Glas wegzuräumen und den verschütteten Whisky aufzuwischen. Der glatzköpfige alte Mann mit dem Totenkopfgesicht erschien nur wenige Sekunden später. Es schien, als hätte er nur auf einen Befehl seines Brötchengebers gewartet. Mit geübten Handbewegungen sorgte er dafür, dass wieder Ordnung herrschte. Tendykes Blick folgte jeder Bewegung seines Untergebenen. Ihm fiel auf, dass der stets britisch-vornehm-steif wirkende Butler fast unmerklich zitterte. Ob das an einem beginnenden Nervenleiden lag, oder ob sich auch Scarth vor ihm fürchtete, wusste der Sohn des Asmodis nicht zu sagen. Doch ihm fiel auf, dass sein Bediensteter viel älter und müder aussah als noch vor wenigen Monaten. Weshalb habe ich das nicht mitbekommen?, fragte er sich. Bin ich so mit meinen eigenen Problemen beschäftigt, dass mir meine Mitmenschen egal sind? Er wusste, dass seine Gefährtinnen mit ihren Vorwürfen ihm gegenüber im Recht waren, doch wollte er es sich selbst nicht eingestehen. Übernahm die Schwarze Seite, die er von seinem Vater geerbt hatte, langsam die Oberhand über sein Wesen? Asmodis hatte einst als Fürst der Finsternis an der Spitze der Höllenhierarchie gestanden. Zahllose Wesen waren im Lauf der Jahrzehntausende entweder durch sein grausames Handeln oder aufgrund seiner Befehle gestorben. In dieser Zeit hatten sich Angst und Pein ohne Ende verbreitet. Von all seinen Kindern war ihm Robert eigenartigerweise das Liebste; noch vor der frühzeitig verstorbenen Aiwa Taraneh. Aber Tendyke war auch der Einzige, der offen seine Abscheu gegen den Erzeuger zeigte – wenn jemand den Erzdämon zum Teufel jagte, dann der ehemalige Zigeunerjunge Roberto. Als dieser war Tendyke vor nunmehr 517 Jahren geboren worden. Als seine Mutter Elena 1494 versuchte, einem betrunkenen Adeligen den Geldbeutel zu stehlen, fiel dieser über sie her. Um sich zu verteidigen, stach sie ihn mit seinem eigenen Dolch nieder. Sie wur-
de gefasst und verurteilt, aber sie erinnerte sich an ihre Magie und beschwor den Teufel, dass er sie retten sollte. Asmodis erschien und half ihr, verlangte dafür aber einen Sohn. Elena musste den Handel eingehen, sie floh nach Frankreich und fand auf dem Gut der Tourennes, westlich von Orleans, eine Anstellung als Magd, weil die Gutsherrin mit der jungen »Witwe«, als die Elena sich ausgab, Mitleid hatte. Roberto, ihr Sohn, schwor sich: »Ich will nie wieder arm sein!«, verließ schließlich das Gut, und nannte sich Robert deNoir. Im Lauf der folgenden unglaublich langen Zeit trat er unter verschiedenen Namen auf wie Robert deBlanc, Robert deDigue, Robert van Dyke, Ron Dhark oder Royce Bane. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts agierte er am Hof des Sonnenkönigs, danach zog es ihn als Jäger nach Nordamerika. Immer wieder geriet er in lebensgefährliche Situationen, und mehr als einmal wurde er ermordet. Dank eines Geschenks seines Erzeugers Asmodis und dessen Bruders, des Zauberers Merlin Ambrosius, konnte er, wenn er es rechtzeitig schaffte, sich auf den Schlüssel und die dazugehörigen Zauberworte zu konzentrieren, zur Insel Avalon wechseln, wo sein Körper regeneriert wurde. Bis auf ein Mal, wo er gegen Ty Seneca, sein negatives Ich aus der Spiegelwelt, ausgetauscht worden war, hatte das bisher immer funktioniert. Der Vorgang der Regenerierung war insgesamt unglaublich schmerzhaft, weshalb Tendyke nicht in Leichtsinn verfiel und das Umgebrachtwerden möglichst zu vermeiden suchte. Angesichts seines früheren abenteuerlichen Lebenswandels war genau das allerdings unglaublich schwierig. Was nach seinem Tod in Avalon mit ihm geschah, darüber sprach er mit niemandem. Vielleicht wusste er es auch selbst nicht, oder er wollte sich nicht daran erinnern. Es lag ebenfalls im Bereich des Möglichen, dass ihm die Erinnerung an diese Tortur genommen wurde. Seit der Ermordung Merlins vor knapp vier Jahren verhielt sich Tendyke bei seinen Exkursionen noch vorsichtiger. Er wusste nicht,
ob ihm nach dem vorzeitigen Ableben seines Onkels die Möglichkeit der Regeneration noch zur Verfügung stand. Tendyke bemerkte nicht, wie Scarth den Raum verließ, ihm fielen auch die Blicke seiner Gefährtinnen nicht auf. Gedankenverloren starrte er auf die Tür, durch die sein Butler schon vor zwei Minuten das Wohnzimmer verließ. Ihn beschäftigte ein weiteres Problem. Vor knapp sechs Monaten hatte er wie aus dem Nichts heraus einen Schwächeanfall erlitten. Von einer Sekunde auf die nächste wurde ihm schwarz vor Augen, er brach zusammen und war mehrere Stunden ohnmächtig. Der eilig herbeigerufene Arzt murmelte etwas von »totaler Erschöpfung«, aber woher sollte die kommen? Tendyke war gesund und durchtrainiert, und er hatte vor dem Zusammenbruch weder an Schlafstörungen noch unter Entkräftung gelitten. Es hatte damals mehr als drei Tage gedauert, bis er wieder genug Energie besaß, sich um seine Geschäfte zu kümmern. Seitdem hatte er mehrere kleinere Schwächeanfälle erlitten, was ihn verständlicherweise mit Furcht erfüllte. Was konnte alles passieren, wenn ihm diese Schwäche während einer Expedition widerfuhr? Woher dieser Erschöpfungszustand kam, hatte Tendyke bislang nicht herausgefunden, denn auch die besten Ärzte seiner Firma wussten keine Antwort darauf. Er hatte den Peters-Zwillingen verboten, mit ihren Freunden darüber zu reden, auch Professor Zamorra und dessen Gefährtin Nicole Duval gegenüber sollten Monica und Uschi nichts sagen. Mit Mutmaßungen war ihm nicht gedient, er wollte nicht weiter darüber nachdenken. Doch die Zweifel holten ihn immer wieder ein. Insgeheim befürchtete Robert Tendyke, dass die Ohnmacht und ihre Folgen ihn auf die Seite seines Schwarzblütigen Erzeugers ziehen würden. Er konnte nicht sagen, woher er diese Idee hatte, ob sie seine eigene war oder ob man sie ihm eingepflanzt hatte. Aber er war überzeugt, dass Asmodis seine Finger im Spiel hatte, auch die seiner künstlichen Hand.
Tendyke wusste nicht, ob diese Einschätzung stimmte. Auch wenn sich Asmodis nicht im Geringsten bewusst war, was er damals angestellt hatte.
* »Avalon, was hat man nur mit dir angestellt? Was ist nur aus dir geworden? Ich erkenne dich nicht wieder!«, flüsterte Sara Moon, als sie zum wiederholten Mal in den letzten Wochen über die Insel nachdachte. Langes, bis zu den Schultern reichendes, silbernes Haar umfloss das Gesicht der schlanken jungen Frau. Durch hoch angesetzte Wangenknochen wurde ihrem Gesicht ein leicht asiatisches Flair verliehen. Das machte es nicht leicht, ihr wahres Alter zu erraten. Ihre dunklen Augen fixierten den Raum, als hätten sie ihn noch nie zuvor gesehen. Dabei hatte sie einen Großteil der letzten Jahre hier verbracht. Sara hatte nach ihrem letzten Ausflug nach Avalon gehofft, nicht mehr so schnell wieder in diese Dimension zurückkehren zu müssen, in der sie viele Jahre lang die Aufgabe einer Wächterin erfüllt hatte. Und doch wählte sie gerade diesen Ort als Zuflucht für die nächste Zeit aus. Nach ihrer Gefangenschaft in einer Zeitschleife passte sie auf eine Welt mit geringerer Wahrscheinlichkeit als die der Erde, auf der Zamorra, Nicole und die anderen lebten, auf. Das würde sie bis zu deren entropischem Ende machen müssen, um durch ihre Rückkehr vor diesem Zeitpunkt kein Zeitparadoxon auszulösen. Sara Moon war die Tochter des Zauberers Merlin Ambrosius und der Zeitlosen Morgana leFay. Morgana, die konstant jung wirkende, blauhäutige Frau mit Schmetterlingsflügeln und schockgrünen Druidenaugen, ritt stets nackt auf einem blauen Einhorn. Sie war dem in die Vergangenheit versetzten Merlin auf dem Silbermond
begegnet. Aus beider Verbindung entstand Sara Moon. Die Zeitlose selbst entsprang der Paarung eines MÄCHTIGEN und eines EWIGEN. Sie war losgelöst von Raum und Zeit, in sich selbst versehen mit der Macht der Dhyarra-Kristalle. Sie konnte sich in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft bewegen – bis zu dem Zeitpunkt, in dem sie Merlin in einen Kokon aus gefrorener Zeit einspann und damit für lange Zeit in Stasis versetzte, woraufhin Merlins dunkler Bruder Asmodis sie im Zorn über diese Tat erschlug. Wie ihr Vater, so besaß auch Sara eine Affinität zu Avalon; von Merlin hatte sie die Druidenkräfte, von Morgana die Fähigkeit, Dhyarra-Kristalle zu erschaffen, geerbt. Sie zählte zu den wenigen Lebewesen, die ohne besondere Erlaubnis die Feeninsel besuchen durften. Jeder andere wurde entweder gefangen genommen oder aber mit Nachdruck wieder weggeschickt. Und wer sich zu stark wehrte, wurde getötet. In den letzten Monaten stattete Sara Avalon öfter Besuche ab, hauptsächlich, um ihre dreieinhalbjährige Halbschwester Eva zu besuchen. Eigentlich war »Eva« nur ein Platzhalter für den bislang unbekannten Namen der jüngsten bekannten Merlinstochter. Ihren richtigen Namen kannte niemand. Als sie als schöne junge Frau Mitte Februar 1998 nur mit einem leichten ledernen Fantasy-Outfit bekleidet vor den Toren von Professor Zamorras Schloss Château Montagne lag, hatte Nicole Duval sie der Einfachheit halber Eva genannt. Es stellte sich heraus, dass Eva die Para-Fähigkeit besaß, Magie in sich aufzusaugen und zu speichern, um sie später wieder abzugeben. Das konnte sie nicht kontrollieren und wollte es auch nicht. Mordversuche per Magie an ihr scheiterten aber aus diesem Grund – letztlich wurde der Gegner von seiner eigenen Macht getötet. Ob Eva diese Fähigkeit mittlerweile wieder besaß, wusste Sara Moon nicht. Eva war das Resultat der Liebesnacht zwischen einer Priesterin
Avalons und Merlin Ambrosius. Die Herrin vom See jedoch hatte Eva als Kind der Schande bezeichnet und das Mädchen – und nicht etwa die Eltern, die sich bei der Zeugung durchaus bewusst waren, etwas Verbotenes zu tun – mit einem furchtbaren Fluch belegt. Eva war dazu verdammt gewesen, rückwärts zu altern. Ihr Lebensweg führte vom Tod zur Geburt, sie verjüngte sich also unaufhörlich. Jedoch in gleichem Maße, wie Evas Verjüngung fortschritt, verschlechterte sich auch der Geisteszustand von Merlin kontinuierlich. Es war ein offenes Geheimnis unter den Bewohnern Avalons, dass er auf diese Weise für die Zeugung der Tochter bestraft worden war. Nachdem sich Evas und Saras Cousin Robert Tendyke vor Jahren bei einem Besuch auf Avalon während des Kampfs um die Dritte Tafelrunde darüber ereifert hatte, dass das unschuldige Mädchen für Merlins Fehltritt büßen musste, hatte die Herrin vom See den Fluch von ihr genommen. Damit war auch Merlins Auffassungsgabe wiederhergestellt. Als Eva das Stadium eines Säuglings erreichte, brachte Sara ihre Schwester zurück nach Avalon. Dort kümmerten sich die Priesterinnen um Eva, die Herrin vom See hielt das Rückwärtswachstum auf. Mit der Ermordung ihres Vaters durch den Erzdämon Lucifuge Rofocale hatte sich langsam einiges in Saras Leben geändert. Sie und Merlin hatten nicht immer das beste Verhältnis zueinander gehabt – dazu war der alte Zausel durch seine Aufgabe als Diener des Wächters der Schicksalswaage notgedrungen zu Ichbezogen gewesen – doch traf sie sein Ableben zutiefst. Nachdem ihr erzählt wurde, dass Lucifuge Rofocale seinerseits vom Vampir Fu Long getötet worden war, kümmerte sie sich verstärkt um ihre Aufgaben. Zu dieser Zeit begann Eva wieder normal zu wachsen und zu altern. So oft es Sara möglich war, besuchte sie ihre Schwester und versuchte, so viel Zeit wie möglich mit ihr zu verbringen. Nur selten wich sie von Evas Seite und versuchte, ihre anderen Pflichten so schnell wie möglich zu erledigen. Und sie stellte fest, dass ihre Druidenkräfte gewachsen waren, sie
war stärker als jemals zuvor. Doch vor Kurzem, nach dem Untergang der Hölle, und nachdem Asmodis und Zamorra nacheinander auf Avalon erschienen waren, war auf der Zauberinsel vieles anders geworden. Dass das Wetter in bestimmten Regionen außer Kontrolle geriet, war dabei noch das geringste Problem. Schlimmer waren die Reaktionen der Priesterinnen, und vor allen Dingen, der Herrin vom See, nachdem die ehemalige oberste Priesterin Onda gegen sie rebelliert hatte und deren Nachfolgerin Valantia mit der Führung ihrer Schwestern absolut überfordert war. War es da ein Wunder, dass Sara Moon die neue Situation nicht gefiel und sie erneut murmelte: »Avalon, was ist nur aus dir geworden? Ich erkenne dich nicht wieder …« Und genau aus diesem Grund hatte sie sich vorgenommen, Eva wieder von der Zauberinsel zurückzuholen. Wer konnte schon wissen, wie sich die Situation für das Mädchen entwickeln würde? Würde Merlins Tochter in die Reihen der Priesterinnen gedrückt werden? Oder erhielt Sara irgendwann einmal das Verbot, Avalon zu besuchen? Nach den Ereignissen der letzten Zeit schien alles möglich zu sein. Um gegen alle Eventualitäten gewappnet zu sein, legte die Tochter der Zeitlosen besonders großes Augenmerk darauf, möglichst unauffällig zu agieren. Bevor die Priesterinnen bemerkten, dass sie Eva mitnehmen wollte, mussten die Schwestern schon weg sein. Sara beschäftigte zudem ein weiteres Problem. Vor knapp sechs Monaten hatte sie – wie aus dem Nichts heraus – einen Schwächeanfall erlitten. Von einem Augenblick auf den nächsten wurde ihr schwarz vor Augen; sie brach zusammen und war mehrere Stunden ohnmächtig. Ein heilkundiger Zauberer, den sie aufsuchte, murmelte etwas von »totaler Erschöpfung«, aber woher sollte die kommen? Sara Moon war bis zu diesem Zeitpunkt und kurz danach absolut fit, und sie litt vor dem Zusammenbruch weder an Störungen der Nachtruhe noch unter Erschöpfung.
Es hatte damals ungefähr drei Tage gedauert, bis sie wieder genug Energie besaß, sich um ihre Aufgaben zu kümmern. Zum Glück hatte sie sich hier befunden und nicht in einem Einsatz oder während einer Reise. Der Gedanke daran, dass der Zusammenbruch in der Fremde, möglicherweise während einer heimlichen Erkundung, erfolgt sein könnte, bereitete ihr Unbehagen. Besonders, weil sie seitdem weitere kleinere Schwächeanfälle erlitten hatte. Vielleicht konnten Professor Zamorra und seine Freunde ihr dabei helfen herauszufinden, was hinter dem Zusammenbruch steckte. Sara hatte aber nichts darüber gesagt, als sie Zamorra und dessen Gefährtin Nicole Duval vor Kurzem auf Avalon angetroffen hatte – gleich nach Einsetzung Valantias als oberste Priesterin. Zum einen fehlte die Zeit dazu, andererseits wollte sie Zamorra gegenüber keine Schwäche offenbaren. Sie hatte eine Vermutung, woher der Erschöpfungszustand kam, doch schienen ihr die Zusammenhänge zu abgedreht und nicht miteinander vereinbar zu sein …
* »So langsam werden mir die Zusammenhänge klarer«, sagte Professor Zamorra zu Nicole Duval, seiner Gefährtin, Sekretärin und Kampfpartnerin gegen die Mächte der Dunkelheit in Personalunion. »LUZIFERS Träne in Kolumbien steht in engem Zusammenhang mit ihren Artgenossen, die wir an mehreren Stellen fanden. Und Asmodis sammelt die Tränen, zum Beispiel die aus Abruceta in Andalusien, weil er einen bestimmten Zweck verfolgt.« »Und diesen Zweck siehst du in der Wiederbelebung von LUZIFER?«, vermutete Nicole und strich eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. »Entweder das oder in der Wiederherstellung der Hölle. Oder vielleicht auch beides«, antwortete der Parapsychologe. »Meiner
Ansicht nach sollte Asmodis sehr daran gelegen sein, den verlorenen Status quo wieder herzustellen. Mit allen Konsequenzen. Wie immer er das auch anstellen will.« Sie saßen im Esszimmer von Château Montagne und frühstückten zu einer Zeit, in der normale Menschen das Mittagessen zu sich nahmen. Ihr Butler William und die Köchin Madame Claire wussten um die Gewohnheit ihrer Herrschaften, spät aufzustehen, und sie richteten sich danach. Die Berufung Zamorras und Nicoles als Dämonenjäger brachte es mit sich, dass ihre Einsatzzeiten zumeist nachts lagen. Dafür schliefen sie meistens bis zur Mittagszeit. Ihre letzten Einsätze hatten sie an die verschiedensten Orte geführt, sowohl auf als auch außerhalb der Erde. Vor wenigen Wochen hatten sie Avalon besucht, wo Onda, die oberste Priesterin, gegen die Herrin vom See rebellierte. Dort trafen Zamorra und Nicole zum ersten Mal nach Merlins Tod wieder auf dessen Tochter Sara Moon. Im weiteren Verlauf dieses Einsatzes wurde ihnen der Eintritt zu Avalon verboten. Kaum zurück auf der Erde, hatte Zamorra seinem Freund, dem Silbermond-Druiden Gryf ap Llandrysgryf gegen die Erzdämonin Stygia geholfen, die in Wales ihr Unwesen trieb und dort für mehrere Morde verantwortlich war. Dort hatte er mit Branwen eine junge Frau kennengelernt, bei der Zamorra sicher war, dass er sie in Zukunft öfter sehen würde. Das Negative an diesem Einsatz war, dass Stygia den Kampf überlebt hatte. Sie saß bestimmt irgendwo herum, leckte ihre Wunden und überlegte sich eine neue Teufelei – im wahrsten Sinne des Wortes. Zuletzt wurden sie vom Ex-CIA Agenten Devaine nach Kolumbien angefordert, wo sich eine halbe LUZIFER-Träne befand. Gemeinsam mit dem Vampir Fu Long hatten Nicole und Zamorra die Träne zerstört. Fast wie nebenbei war die Chinesin Chin-Li vom gefährlichen Einfluss der Sphäre befreit. Das alles war einige Tage her, nun saßen sie hier beim Frühstück und ließen die letzten Erlebnisse Revue passieren. Es gab neue Er-
kenntnisse für sie, die sich aber mit den bisherigen Puzzlestücken nur schlecht vereinbaren ließen. Dennoch versuchten die beiden Dämonenjäger, alles in einen gemeinsamen Kontext zu stellen, auch wenn ihnen noch einige Teilstücke fehlten. »Am meisten zu denken gibt mir Fu Longs Aussage zum Schluss«, sagte Duval und hob die Kaffeetasse an die Lippen. »Du meinst, dass sich eine Träne in einer Blauen Stadt im Weltall befinden soll?«, erkundigte sich Zamorra, obwohl ihm die Szene nicht aus dem Kopf ging: »Da ist etwas, das ihr wissen solltet«, sagte der Vampir Fu Long. »Die halbe Träne wollte nicht sterben. Sie wehrte sich mit aller Kraft. Und ich glaube, kurz vor ihrem Ende ist es ihr gelungen, mit wenigstens einer ihrer Schwestern Kontakt aufzunehmen. Da ich durch das Ritual mit dem Artefakt verbunden war, konnte ich für einen winzigen Moment in meinem Geist Bilder dieser anderen Träne sehen.« »Was für Bilder?«, fragte Zamorra beunruhigt. »Sie ergaben für mich nur teilweise Sinn«, erwiderte Fu Long nachdenklich. »Aber diese andere Träne befindet sich offenbar irgendwo im Weltall – in einer Stadt, deren Gemäuer blau waren wie der Himmel …« »Eine Stadt im Weltall, deren Gemäuer blau wie der Himmel sind«, bestätigte Nicole Duval, nachdem sie die Tasse auf dem Tisch abstellte. »Und der einzige Ort, der mir dazu einfällt, ist Karenja mit seiner Chaosstrahlung.« »Erinnere mich bloß nicht daran.« Zamorra hob abwehrend beide Hände. »Wenn ich nur an diese Strahlung denke, wird mir noch im Nachhinein schlecht. Mir ging es selten beschissener als damals.« »Damals – das hört sich aber nach uralter Zeit an, Chéri.« Nicole lächelte und strich Marmelade auf ein Croissant. »Dabei ist das gerade mal ein halbes Jahr her.« »Manche Ereignisse können gar nicht lange genug her sein, damit
man sie vergisst«, knurrte der Meister des Übersinnlichen. »Schließlich mussten du und Monica Peters Robert und mich retten.« Mit Robert meinte er Robert Tendyke, den Chef der Tendyke Industries. Bei den damaligen Ereignissen verbrannte der Abenteurer einen Taschtwan, der ihn erwürgen wollte – ohne hinterher zu wissen, wie er die Tötung geschafft hatte. Erst nach dem Sieg über den Taschtwan hatte Tendyke die Frage des Hünen registriert, die der Hüne ihm vor seinem Tod gestellt hatte: »Warum habt ihr uns auf diese Welt geholt?« und »Weshalb werden wir hier so von euch durch das verfluchte Ding im Zentrum gequält?« »Und dieses verfluchte Ding müssen wir finden«, murmelte der Parapsychologe vor sich hin. »Was sagtest du?« Nicole kniff die Augen etwas zusammen und blickte ihren Gefährten aus braunen Augen an. »Von welchem verfluchten Ding sprichst du?« »Ich rief mir gerade die letzten Worte des Taschtwan ins Gedächtnis, den Rob aus dem Nichts heraus verbrannte«, erklärte Zamorra. »Dass er aus sich heraus diese Kräfte entwickelt, ist mindestens schon zweimal geschehen – immer dann, wenn er sich in Lebensgefahr befand. Ich denke oft daran, was passieren mag, wenn er seinen Zorn ein drittes Mal rauslässt. Wird es dann noch schlimmer werden? Müssen dann noch mehr Lebewesen sterben?« »Glaubst du, dass das ein Erbe seines Vaters ist? Dass sich Robert von unserer auf die Seite der Schwarzblütigen bewegt und dämonisch wird?« Zamorra zog die Schultern hoch. Er blickte seine Gefährtin ernst an. »Ich habe keine Ahnung, aber ich mache mir Sorgen um ihn«, gestand er. »Falls deine Befürchtung wirklich der Fall sein sollte, müssen wir wissen, was der Auslöser dazu war.« Nicole presste die Lippen aufeinander. »In dem Fall müssen wir uns nicht nur Sorgen um ihn machen,
sondern auch um seine zukünftigen Opfer«, sagte sie langsam. »Falls es sich dabei um Dämonen handelt, wäre es mir egal, aber stell dir mal vor, er lässt seinen Zorn an Unschuldigen aus. Was würden wir dazu sagen? Wie würden wir uns fühlen, wenn wir das nicht vereiteln könnten? Und, gib es zu, eigentlich war der Taschtwan ein Unschuldiger.« Der Schlossherr von Château Montagne kratzte sich am Hinterkopf, seine dunkelblonden Haare stellten sich dabei etwas auf. Sein Blick wanderte von der unter dem Schloss liegenden Loire in weite Fernen. Er gab Nicole recht, dennoch nahm er sich vor, dass Robert Tendyke bei seinem nächsten Unternehmen dabei sein sollte. »Die Blaue Stadt auf Karenja wurde verlassen«, sagte er. »Die Demontagetrupps und die Drois sind abgereist, es dürfte sich also niemand mehr dort aufhalten.« »Und die Taschtwan?«, gab Duval zu bedenken. »Die hast du vergessen.« »Stimmt, aber sie befinden sich nicht in der Blauen Stadt. Falls die Chaosstrahlung immer noch existiert – woran ich übrigens keinen Zweifel habe –, dann halten sie weiten Abstand dazu. Wenn wir also zu der Träne vorstoßen, dürften wir die Taschtwan überhaupt nicht zu sehen bekommen.« »Ich hoffe nur, dass du dabei recht hast, Chef.« »Du kennst mich doch, recht ist mein vierter Vorname, gleich nach Chef und Chéri.« Seine Gefährtin blickte ihn lange schweigend an, sie verzog das Gesicht, als hätte sie Essig getrunken, dann schüttelte sie den Kopf. »Wir haben als Nächstes also vor, nach Karenja zurückzukehren, gemeinsam mit Rob«, fasste sie zusammen. »Wir stehlen die Träne und hauen anschließend ab, damit Assi unser kleines Schmuckstück nicht bekommt.« »Du bist ein Genie. Kürzer und besser hätte ich es nicht erklären können«, gab Zamorra zu. »Wie spät ist es gerade in Florida?«
Nicole besaß die bessere Sicht auf die Wanduhr. Äußerlich sah diese antik aus, doch innerlich war sie mit einer Menge Elektronik ausgerüstet, unter anderem mit der Zeit für Miami und Sydney. Duval nannte die momentane Uhrzeit für die US-amerikanische Ostküste. Über die hauseigene Visofon-Sicht-Sprechverbindung rief Zamorra bei Robert Tendyke an. Schon nach kurzer Zeit erschien das Abbild seines Freundes auf dem Bildschirm. Der Abenteurer sah äußerst nachdenklich aus. »Kannst du Gedanken lesen, Alter?«, erkundigte er sich in seiner üblichen burschikosen Weise. Dennoch war unüberhörbar, dass er sich nicht wohlfühlte. »Ich wollte dich ebenfalls gerade anrufen. Ich habe da eventuell ein Problem.« »Wir kommen sofort«, sagte der Meister des Übersinnlichen. »Sei versichert – nicht nur du hast Probleme …«
* Noch vor wenigen Jahren war Karenja ein blauweiß strahlender Planet im Reich der fünf weißen Sonnen gewesen, der wie eine Zwillingswelt der Erde wirkte. Doch Karenjas Bewohner hatten ihre Heimatwelt vor Jahrtausenden in einem nie zuvor von einem anderen Volk erlebten Exodus verlassen und es war nicht bekannt, weshalb sie fast kollektiv vom Planeten ausgewandert waren. Überall stieß man immer noch auf Spuren der ehemals technisch hochstehenden Bewohner, obwohl sich die Natur zum größten Teil wieder das zurückgenommen hatte, was ihr gehörte. Ganz selten nur traf man auf Nachkommen, die jedoch die technischen Errungenschaften ihrer Vorfahren längst nicht mehr beherrschten und deren Benutzung wie Magie auf sie wirken musste. Gegenwärtig befanden sich nur einige Hundert intelligente Lebewesen auf dem Planeten. Auf der einen Seite war das in der Blauen
Stadt die zahlenmäßig kleinere Schar der Drois, einmeterneunzig große, haarlose, weißhäutige Humanoiden, die silberne Uniformen trugen. Die Halbandroiden besaßen Anweisung, den großen Plan zu erfüllen, den Transfer der Blauen Stadt, in ihrer Sprache Del’Alkharam genannt, über viele Lichtjahre hinweg. Doch sie waren nicht die einzigen Besucher von Karenja. Wie aus dem Nichts waren vor einigen Monaten monströs aussehende Wesen, die sich selbst Taschtwan nannten, erschienen. Sie wirkten wie eine Mischung zwischen Wolf und entfernt humanoid aussehendem Urmenschen, die größten von ihnen maßen beinahe drei Meter in der Höhe. Abgesehen davon waren sie muskelbepackt und besaßen scharfe Klauen und Reißzähne, die anzeigten, dass man mit ihnen besser nicht aneinandergeriet. Sie griffen die Drois sofort an und konnten selbst durch den Einsatz von Desintegratoren nur schwer vertrieben oder getötet werden. Untersuchungen der Drois hatten ergeben, dass die Taschtwan von einem unbekannten Gegner über die Regenbogenblumen geschickt worden waren. Bei diesen Blumen handelte es sich um ein interstellares Transportsystem, ein Netzwerk, ähnlich einer Reihe von Transmitterabstrahl- und -empfangsstationen. Die Verbindung beruhte jedoch nicht auf Technik, sondern auf Magie. Weshalb nur den wenigsten dieser Kraftbündel die Flucht über die Regenbogenblumen gelang, konnte nicht ergründet werden. Am wahrscheinlichsten erschien, dass sie eine mentale Sperre erhielten, die sie davon abhielt, den Rückweg auf die gleiche Art wie den Weg hierher zu nehmen. Der unbekannte Gegner wollte aus nicht ersichtlichen Gründen, dass die Taschtwan für Mord und Zerstörung unter den Drois sorgten, deshalb war ein Rückzug ausgeschlossen. Gleichzeitig mit dem Eintreffen der ersten Taschtwan begann sich der Bereich um die siebeneckige Pyramide im Zentrum der Del’Alkharam beständig aufzuheizen. Giftige Dämpfe stiegen auf und schwebten in großen Schwaden über die Blaue Stadt hinweg. Der korydische Wächter Theronn hatte nur die Möglichkeit gesehen, be-
stimmte Bezirke der Stadt abzugrenzen und mittels eines wabernden Energieschirms auszusperren. Um die Taschtwan damals weiter daran zu hindern, die Stadt zu betreten, löste der Wächter den lautlosen Vibrationsalarm aus. Dieser versetzte durch schnelle, sehr kurze und dadurch unhörbare, dafür aber sehr energiereiche Schwingungen alles in Vibration und löste in jedem Wesen Warnschwingungen aus, ja, vermochte es sogar aus tiefstem Schlaf herauszureißen. Er ließ sich nicht ignorieren, da auch die Körper in schnelle schmerzhafte Schwingungen versetzt wurden. Obwohl es oft und gern behauptet wurde, konnte ein Vibrationsalarm natürlich keine Toten aufwecken. Dieser Alarm wurde nur bei höchster Gefahr für die Blauen Städte ausgelöst und hatte keine gesundheitlichen Folgen für den Koryden und die speziell konditionierten Halbandroiden. Auf Wesen mit einer anderen Konstitution wirkte der Alarm je nach Struktur wie eine minutenlange Lähmung der Lebensfunktionen oder wie eine Vollnarkose mit starken Schmerzen beim Erwachen. Die Erfahrung mit den Taschtwan hatte gezeigt, dass sich die starken Monster an die Vibrationen gewöhnen oder sie zumindest eine Zeit lang ignorieren konnten; in diesem Fall musste extrem schnell reagiert und die Frequenz höher gestellt werden. Im Regelfall hatte Theronn die Blauen Städte als Ganzes abzuliefern. Nach der Abschottung von innen und der Versiegelung von außen wurden die Blauen Städte in einen Zustand gebracht, durch den sie – ähnlich wie bei einem Transmitter – über Lichtjahre hinweg an einen geheim gehaltenen Ort transportiert wurden. Doch galt die Aufgabe nur dann als erfüllt, wenn die Städte so vollständig wie möglich »abgeliefert« wurden. Wie viele Blaue Städte es insgesamt gab, wussten weder der Wächter noch die Drois. Karenjas Del’Alkharam galt nach diesen Ereignissen, die sich vor einem halben Jahr zugetragen hatten, schon als verloren: Damals, als giftige Dämpfe über der Stadt aufstiegen und eine Chaosstrahlung aus der siebeneckigen Pyramide im Zen-
trum der Blauen Stadt austrat. Die Pyramide bildete in vielerlei Hinsicht den Mittelpunkt jeder Stadtwelt, auch im geistigen und religiösen Sinn. Auf der Spitze der Karenja-Pyramide befand sich etwas, das eine Strahlung aussandte, die die Drois langsam aber sicher zermürbte. Der Drois Sarn holte, auf Beeinflussung eines unsichtbaren Bewohners der Blauen Stadt, damals Professor Zamorra und Robert Tendyke, damit sie gegen die Chaosstrahlung helfen sollten. Doch der Einsatz hatte nicht zum gewünschten Ergebnis geführt, und so musste die Del’Alkharam aufgegeben werden und die Drois abreisen. Der Wächter Theronn wurde vor seine Auftraggeber zitiert, um die Strafe für sein Scheitern zu empfangen. Vor wenigen Wochen war die Chaosstrahlung von einem Augenblick auf den nächsten erloschen. Gerade so, als habe es sie nie gegeben. Fest installierte Sensoren meldeten diese Neuigkeit an die unbekannten Auftraggeber. Als die ersten Drois ausgesandt wurden, um die Stadt erneut für den großen Plan bereit zu machen, stellten sie voll Entsetzen fest, dass sich der Planet rings um die Del’Alkharam langsam aufzulösen begann. Nur die Blaue Stadt und die davor stehenden Regenbogenblumen wurden von der Auflösung ausgespart. Niemand wusste, woher dieses Phänomen kam, und weshalb ausgerechnet dieser Bereich geschützt blieb. Nachdem die Chaosstrahlung erloschen war, wagten sich auch die Taschtwan wieder in die Nähe der Blauen Stadt. Erstaunt bemerkten sie, dass sich von der Stadtgrenze ausgehend, dort, wo kurz vor der Aufgabe der Stadt die Versiegelung von außen erfolgte, die Erde aufzulösen begann, zuerst nur langsam, doch mit der Zeit immer schneller. Niemand vermochte sich zu erklären, wohin der vergehende Teil des Planeten verschwand. Und als sich die ersten Taschtwan direkt an den Rand der Zerstörung wagten, griff der Vorgang auf sie über. Die Unvorsichtigen unter ihnen verschwanden zentimeterweise unter grausamen Qualen. Ihre restlichen Artgenossen konnten zuerst nicht glauben, was vor
ihren Augen geschah. Doch bald überwanden sie ihren Schrecken und flohen, so schnell ihre Beine sie trugen. Doch wohin sollten die Taschtwan fliehen, wenn es Karenja nicht mehr gab? Wenn sich die Sauerstoffatmosphäre aufgrund der fehlenden Schwerkraft von den Bruchstücken Karenjas löste, lange bevor es den Planeten nicht mehr gab, würden sie ersticken, bevor der Auflösungsvorgang sie erreichte. Während der Katastrophe wurden Bäume und Büsche in Brand gesteckt. Riesige Brände zogen sich kilometerweit dahin und begleiteten das allmähliche Verschwinden von Karenja. Gibt es etwas Grausameres, als einem Planeten beim Sterben zuzusehen, ohne eingreifen zu können?
* Gibt es etwas Grausameres, als einem Wesen beim Sterben zuzusehen, ohne ihm helfen zu können?, dachte Sazhar, Anführer und Sprecher der Drois der L-Klasse, als er Theronn sah. Er ließ sich das Erschrecken über das Aussehen des Wächters jedoch nicht anmerken. Stattdessen begrüßte er seinen alten und neuen Vorgesetzten, wie es der Brauch verlangte. Sazhar ballte die rechte Hand zur Faust und legte sie gegen den Brustkorb als Zeichen seines Gehorsams. »Wie lauten Ihre Befehle, Malham?« Theronn blickte zum um zwei Köpfe größeren Sazhar auf, als er die Anrede vernahm, die seinem Rang angemessen war. Fast alle der haarlosen, weißhäutigen Drois mit den silbernen Uniformen besaßen eine Standardgröße, die weit oberhalb der eines Koryden lag. Der Wächter verzog die wulstigen Lippen zu einem abfällig wirkenden Lächeln, als er seinen Untergebenen ansah. Sein Gesicht, das rissig und aufgesprungen wie ein ausgetrocknetes Flussbett wirkte, sah unnatürlich grau aus, weitaus schlimmer, als Sazhar in Erinne-
rung hatte. Der Wächter war so stark abgemagert, dass die Kleidung an seinem Körper herabhing; die Falten lagen tiefer in seinem Gesicht, doch am allerschlimmsten war der fehlende Glanz in den Augen. Theronn wischte mit dem Ärmel seiner schmucklosen schwarzen Uniform über die Stirnglatze und verstrubbelte die bis zu den Schultern hängenden hellbraunen Haare. Vor wenigen Minuten erst war Theronn aus dem Transmitter herausgetreten, der die Blaue Stadt mit der Welt verband, auf der sie ihre Befehle erhalten hatten. Er bewegte sich nicht mehr so agil, wie noch vor ein paar Monaten, er hinkte und musste öfter anhalten, um zu verschnaufen. Nichts ist beständig im Universum. Es gibt auch keine Ausnahme. Nicht einmal die Ewigkeit hat Bestand, denn auch sie hat Anfang und Ende. In Gedanken zitierte Theronn aus den Millionen von Jahren alten Habek-Schriften von Okan, wie immer, wenn er sich auf seine Aufgabe vorbereitete. »Zuerst möchte ich einen Statusbericht erhalten«, sagte der Wächter mit müder, heiserer Stimme. »Und sobald alles in Ordnung ist, lassen wir einen Testlauf starten. Die Del’Alkharam muss sobald wie möglich versetzt werden, schließlich wurde die Versiegelung vor unserer … Flucht so gut wie abgeschlossen.« Er betonte das Wort Flucht als wäre es eine Beleidigung. Und für ihn war es das auch, denn nach Aufgabe der Blauen Stadt hatte er sich vor seinen Auftraggebern verantworten müssen und war dafür mit dem langsamen Tod auf der Giftwelt Narom verurteilt worden. Die Gefangenen mussten dort unter unbeschreiblich dreckigen Zuständen ohne Schutzanzug strahlende Gesteine abbauen. Die wenigsten Verurteilten überlebten die ersten zwei Sonnenumläufe dort. Wer schnell starb, der wurde von seinen Leidensgenossen beneidet. Theronn hatte ein halbes Jahr auf Narom verbracht und sich während dieser Zeit vergiftet, selbst mit seiner Magie konnte er nicht dagegen angehen. Die Ärzte gaben ihm höchstens noch ein paar Mona-
te, aber seine Auftraggeber hatten dennoch befohlen, dass der Koryde dafür sorgen sollte, die Del’Alkharam zu versetzen, um sie ihrem Zweck zuzuführen. Er wurde als Wächter auf Zeit eingesetzt und sollte dafür büßen, die Blaue Stadt zu früh aufgegeben zu haben. Trotz der starken Medikamente, unter denen Theronn stand, fühlte er sich unendlich schwach; dennoch griff er nach dieser Chance, seinen Namen reinzuwaschen. Er war der erste Wächter der Blauen Städte, der mit der Aufgabe der Karenja-Del’Alkharam eine Niederlage hatte einstecken müssen. Das fraß mehr als alles andere an ihm, nur die Aussicht auf Rehabilitation hielt ihn am Leben. »Die Statusmeldung, Malham«, hörte er die Stimme von Syrta, Sazhars Stellvertreterin. »Sowohl die Abschottungs- als auch Verschließungsarbeiten konnten abgeschlossen werden. Es ist alles zur Versetzung bereit. Es befinden sich keine Fremden mehr in der Del’Alkharam. Alle Leichen wurden entweder desintegriert oder ins Freie geschafft. Eine Schwebeplatte unter Sarns Leitung ist noch als Spähtrupp unterwegs, wird aber bald wieder zurück erwartet. Die Chaosstrahlung ist vollständig verschwunden. Es konnte auch nichts mehr davon aufgefunden werden. Aber wir haben eine Bildaufnahme von dem Zeitpunkt, an dem die Chaosstrahlung aufhörte zu senden. Jemand hat den Auslöser der Chaosstrahlung gestohlen …« »Eine Bildaufnahme?«, echote Theronn. »Wen zeigt sie?« Syrta strich mit einer Hand über das Kinn. Statt einer Antwort zeigte sie das Bild des Diebes als übergroßes Hologramm. Theronn stieß die Luft aus, als er den Mann erkannte. »Chiu, das ist eine Überraschung!«, stieß er aus. »Aber ich hatte auch nie etwas anderes von diesem Kretin erwartet.« »Zusatz zur Statusmeldung«, sagte Syrta. »Der Grad der Zerstörung des Planeten verläuft immer schneller. Wir nehmen an, dass die Del’Alkharam durch die Abschottung geschützt ist.« »Weshalb gibt es dann noch die Regenbogenblumen?«, wollte The-
ronn wissen. »Sie werden doch nicht abgeschottet, irgendetwas schützt sie.« »Das stimmt, Malham. Die Wissenschaftler sagen, dass die Blumen irgendwie noch zur Blauen Stadt gehören würden und deshalb in die Strahlung mit eingeschlossen sind.« »Mit anderen Worten: Diese Narren haben keine bessere Erklärung dafür.« Theronn lachte heiser und wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. »Auf jeden Fall kann die Versetzung der Del’Alkharam wie geplant vonstattengehen, Malham. Damit können wir den großen Plan erfüllen, und das noch weit vor dem neu verfassten Zeitrahmen«, warf Sazhar ein. »Hoffen wir das Beste, Kommandant«, erwiderte Theronn. Für mich kommt das sowieso zu spät, dachte er voller Verbitterung. Ich kann nur noch versuchen, meinen Status für die Nachwelt wiederherzustellen. Dieser Gedanke erfüllte ihn am meisten, noch vor seiner offiziellen Aufgabe. »Sollen wir mit dem Testlauf beginnen, Malham?«, erkundigte sich Sazhar. »Es wurde alles vorbereitet, sämtliche Systeme meldeten Vollzug. Wir warten nur noch auf Ihren Befehl.« Hast du es so eilig, meine jämmerliche Gestalt nicht mehr sehen zu müssen?, durchfuhr es den Wächter. Musst du unbedingt so drängeln? Geht es dir nicht schnell genug? Er wusste, dass er dem Anführer der Drois unrecht tat, denn die Halbandroiden handelten stets im Sinne ihrer Auftraggeber. Doch seit er von Narom zurückgekehrt war, war er nicht mehr derselbe Koryde wie zuvor. Statt der Worte, die ihm auf der Zunge lagen, sagte er nur: »Starten Sie den Versuch, Kommandant.«
*
Die blau schimmernde Kunststoffkuppel über der Stadt wurde undurchsichtig. Nun war die Abschottung komplett, niemand konnte die Del’Alkharam verlassen. Aber es gelangte auch niemand mehr hinein. Die Drois und ihr Befehlshaber waren absolut von der Umwelt abgeschlossen. Theronn nickte zufrieden, der erste Teil der Aktion hatte zu hundert Prozent geklappt. Aber noch war das Wichtigste nicht erreicht: die teilweise Entmaterialisierung der Blauen Stadt. Erst wenn dieser Zustand erreicht war, konnte von einem Erfolg gesprochen werden. Die Entmaterialisierung bildete die Vorstufe zur Abstrahlung. Wenn die Verbindung zwischen Abstrahlpunkt und Zielkoordinaten geschaltet war, konnte keine bekannte Macht des Multiversums den Transfer mehr aufhalten. Die größte Befürchtung des Wächters war, dass jemand die Koordinaten verstellen und die Blaue Stadt entführen könnte. Aber das war noch nie passiert und Theronn hoffte, dass er nicht der Erste wäre, dem das zustieß. Sobald die Zeitschaltung lief, mussten alle Lebewesen die Stadt über Transmitter oder über die Regenbogenblumenverbindung verlassen. Niemand durfte zurückbleiben, keiner hatte bisher den Transportvorgang überlebt; noch nicht einmal, wenn er einen Schutzanzug trug. Die entfesselten Energien der Entmaterialisation und der folgenden Versetzung zu weit entfernten Sternen waren zu gewaltig. Dröhnend liefen Maschinen an, selbst hier im gesicherten Raum verspürten Theronn und sein Team ein Zittern, das sich mit jeder Sekunde und der erhöhenden Lautstärke steigerte. Den Drois machte die Lärmbelästigung nicht viel aus, notfalls fuhren sie die Leistung ihrer Hörfähigkeit zurück. Doch ihrem Befehlshaber machte der Lärm weit mehr zu schaffen. Dennoch stand der Wächter mit stoisch wirkendem Gesichtsaus-
druck da, einer abgemagerten Bulldogge gleich, die sich an nichts störte und nur ihre Ruhe haben wollte. »Malham, da draußen passiert etwas Unvorhergesehenes«, meldete Sazhar. »Einige Taschtwan kehren zurück.« »Sollen sie doch«, knurrte der Wächter mit seiner neuerdings so heiseren Stimme. »Sie können auf keinen Fall in die Del’Alkharam gelangen.« »Sie laufen über den kurzen Steg, der die Regenbogenblumen mit der Stadt verbindet.« Syrtas Stimme hörte sich ungläubig an, obwohl gerade das bei einem Drois nur schlecht möglich war. »Ich weiß nicht, was sie sich davon versprechen.« »Die Ersten erreichen die Abschottung«, wurde sie von Sazhar unterbrochen. Er blickte Theronn ernst an. »Sie verbrennen an der Grenze der Del’Alkharam. Ihre restlichen Begleiter weichen zurück.« »Welche Narren!«, hauchte der Wächter. Er zeigte nicht, ob ihn der Tod der Fremden berührte. »Ihnen müsste doch klar sein, dass sie keine Chance haben, ins Innere zu gelangen.« Natürlich wusste er seinen Worten zum Trotz, was Lebewesen alles anstellten, wenn sie keinen Sinn mehr in ihrem Dasein sahen. Wie oft im vergangenen halben Jahr hatte Theronn sich auf Narom gewünscht, dass sein Leben vorbei wäre! Einfach so, von einer Sekunde auf die nächste. Doch seine Auftraggeber hatten Theronns Magie so weit gedimmt, dass er damit keinen Suizid verüben konnte. Der Koryde wusste, was es hieß, keinen Sinn mehr im Leben zu sehen. Er hatte selbst in fast jeder Nacht die Sternengötter gebeten, dass sie seiner endlos erscheinenden Qual ein Ende bereiteten. Aber das würde er niemandem im Multiversum eingestehen. »Es hat alles geklappt. Wir beenden den Versuch«, sagte er mit unbeteiligt wirkender Stimme, obwohl in seinem Inneren ein Sturm tobte. »Schließlich müssen wir noch den Trupp mit der Schwebe-
plattform aufnehmen. Machen Sie alles zur letzten Evakuierung bereit, Kommandant. Gleich, nachdem die Schwebeplattform gelandet ist und Sarn seinen Bericht abgegeben hat, wird die Del’Alkharam versetzt.«
* Ein eiskalter Wind strich über den Winterbereich von Avalon. Sara Moon zog die Kapuze ihres Mantels über den Kopf und beobachtete aus dem Schutz mehrerer Bäume und Sträucher heraus das Gehöft, in dem sich Eva aufhielt. Ihr fiel die Schneise auf, die sich von den Bergen gerade zu dem Anwesen und von dort weiter in Richtung Ufer zog und direkt an ihrem Standort am Zugangsweg vorbeiführte. Sie bemerkte auch den schneefreien Kreis vor dem Gehöft und spürte, dass Magie dafür verantwortlich war. Sara war froh, dicke Kleidung mitgenommen zu haben, um der Kälte trotzen zu können. Zwar konnte sie dank ihrer Druidenkräfte auch ohne wärmenden Mantel gegen den Frost bestehen, aber das kostete wiederum Energie – magische Kräfte, die sie unter Umständen noch dringend benötigte. Sara war nicht so unvorsichtig darauf zu hoffen, dass alles glattging. Derartige Überheblichkeit war schon anderen zum Verhängnis geworden, und die Tochter Merlins und der Zeitlosen hatte nicht vor, die Liste der größten Narren mit ihrem Namen zu verlängern. Nach den katastrophalen Ergebnissen ihres letzten Besuchs verhielt sie sich extrem vorsichtig. Schließlich hatte sie Professor Zamorra und Nicole Duval aus ihrem Gefängnis befreit und wurde gemeinsam mit ihnen und der verstoßenen Priesterin Onda zur Herrin vom See gebracht. Die mysteriöse Herrscherin der Insel hatte zwar verkündet, dass es sie alle nichts anginge, was auf Avalon geschah, und unmissverständlich klargemacht, dass sie nicht erwünscht seien, aber das wollte Sara nicht hinnehmen.
Sie würde als Besucherin ihrer Halbschwester erscheinen, wie sonst auch immer. Obwohl ich mir eher wie eine Einbrecherin vorkomme, die sich holt, was ihr nicht gehört, durchfuhr es Sara. Aber Eva gehörte zu ihr, sie war die wichtigste Person in Saras Leben. Niemand sonst hatte sie so bedingungslos geliebt. Ihr Blick ging sekundenlang in die Ferne. Dort, wo sich der Horizont befinden sollte, verschwand alles hinter dichten dunklen Nebelschwaden. Über Avalon wurde es nie richtig dunkel. Während der Nachtphase herrschte eine eigenartige Düsternis aus Rot und Grau vor, aber die Druidin besaß ein ausgezeichnetes Sehvermögen. Sara berührte ihren Bauch, genau dort, wo sich anstelle des Nabels ein drittes Auge befand. Mithilfe des Zeitauges war es ihr möglich, ein kleines Stück weit in die Zukunft zu sehen. Sein Blick hatte sie noch nie getrogen, doch hier und heute schien es zu versagen. Die ehemalige Wächterin der Zeitlinien schob es auf die große Anspannung, unter der sie stand. Nach der Drohung der Herrin vom See fühlte Sara Moon sich auf Avalon nicht mehr als Gast, sondern eher als Eindringling. Aber das ist egal, dachte sie trotzig. Nach diesem Besuch werde ich eine Weile nicht mehr hierher kommen. Zumindest so lange nicht, bis Eva erwachsen ist. Bis dahin konnte sich die Situation wieder grundlegend verändert haben. Möglicherweise sogar zum Besseren hin. Nichts dauerte ewig an, alles unterlag einem ständigen Wandel; warum nicht auch die Meinung der Herrin vom See? Mit der Begnadigung Evas hatte sie schließlich schon vor Jahren bewiesen, dass sie flexibel auf Veränderungen reagieren konnte. Ob die mysteriöse Beherrscherin das allerdings ein zweites Mal machen würde, stand in den Sternen, aber was wäre das Leben ohne die Hoffnung, dass die Zukunft besser werden würde als die Vergangenheit?
Sie bewegte sich die Schneise entlang auf das Anwesen zu. Mithilfe ihrer Druidenkräfte sondierte Sara Moon das Gehöft, in dem sich Eva und ihr Einhorn sowie die Amme und einige Helferinnen normalerweise aufhielten. Als Erstes fiel ihr die Ausstrahlung des Einhorns auf, dem Zauberwesen, das Eva ständig begleitete. Auch in ihrer vorigen Zustandsform, als sie fortwährend jünger wurde, befand sich dieses Fabelwesen fast immer bei ihr. Aus diesem Grund wurde Eva auch oft »die Einhornreiterin« genannt. Soweit Sara bekannt war, hatte Eva das Einhorn von ihrer Mutter geschenkt bekommen, kurz bevor diese in den tödlichen Schlund zur Herrin vom See hatte gehen müssen. Seitdem war die Priesterin nie wieder gesehen worden. Nach der Erfahrung, die Sara vor wenigen Wochen gemacht hatte, wusste sie, dass Evas Mutter nicht mehr lebte. Als Nächstes nahm Moon die Aura der Amme wahr, einer älteren Frau, zu der die Bezeichnungen »Aufpasserin« oder »Glucke« sehr gut passten. Auf der einen Seite umhegte und pflegte sie ihre kleine Schutzbefohlene, als wäre diese ihre eigene Enkelin, zum anderen war sie selbstverständlich der Herrscherin der Insel und ihrer Oberpriesterin zum Gehorsam verpflichtet. Sara wusste, dass die Alte alles weitererzählte, was sich um die Einhornreiterin herum zutrug, doch sie machte ihr keinen Vorwurf daraus. Doch was Sara nicht spüren konnte, war Eva. Verdammt noch mal, wo ist Eva? Saras Herz schien mit einem Mal härter zu schlagen, das Atmen fiel der Druidin schwerer, als sie die vertrauten Impulse nicht vernahm. Selbst dann, wenn eine Person schlief oder ohnmächtig war, konnte sie die vertraute Ausstrahlung spüren. Wenn sie aber nichts vernahm, dann befand sich die gesuchte Person nicht hier. Sie war doch wohl nicht etwa von hier fortgebracht worden? Doch wohin? Bei einem Aufenthalt in der Nähe Valantias würden die Chancen, Eva mitzunehmen, um ein Vielfaches sinken. Daran
wollte Sara lieber nicht denken. Sie atmete tief ein und konzentrierte sich erneut auf ihre Schwester. Sie dachte an ein bestimmtes Schaltwort und innerhalb von Sekundenschnelle wurde sie ruhiger. Und dann fand Sara Moon, wonach sie suchte. Anscheinend hatten die starken Impulse des Einhorns Evas Aura überlagert. Anders konnte Sara Moon sich die fehlende Verbindung nicht vorstellen. Aber da war noch etwas anderes. Etwas, das … Sie stand nur wenige Meter von dem Anwesen entfernt und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. In den anderen, nur wenige Kilometer entfernten Hütten und Gehöften brannte Licht, hier jedoch stieg noch nicht einmal Rauch aus dem Kamin. »Da stimmt doch etwas nicht«, raunte die silberhaarige Frau. Sie verstärkte ihre Anstrengung, das Innere des Gutshofes zu sondieren. Und sie wurde fündig. Sie bemerkte zwei kaum vorhandene Gedankenmuster, so schwach wie einige verwehende Staubkörnchen im Wind. Dennoch nahm sie sich vor, noch vorsichtiger als bisher zu agieren. Die beiden kaum sichtbaren Schatten fielen ihr erst auf, als sich einer davon, schnell wie der Wind, auf sie zu bewegte. Bevor sie reagieren konnte, lag sie schon auf dem Boden und verspürte Schmerzen in ihrer rechten Schulter. Der zweite Schatten drückte ihr einen Speer gegen den Hals. »Wen haben wir denn da?«, fragte die Kriegerin, die Sara zu Boden stieß. Sie gab sich auch gleich selbst die Antwort: »Auf jeden Fall jemand, der unentdeckt bleiben will.« Merlins Tochter schalt sich im Stillen selbst für die eigene Unvorsichtigkeit. In der Nähe des Anwesens wäre doppelte Vorsicht geboten gewesen. Außerdem verstand es die Herrin vom See bestimmt, die Gedankenimpulse ihrer Untergebenen so abzudämpfen, dass sie nicht gelesen werden konnten. »Schleicht sich her wie eine Diebin! Oder wie eine Mörderin!«,
zischte die zweite Kriegerin. »Dann sollten wir mit ihr auch wie mit einer solchen umgehen.« »Ich habe nichts gemacht, was eine feindliche Behandlung rechtfertigt«, verteidigte sich Sara Moon, obwohl ihr das Reden mit der Speerspitze an der Gurgel schwerfiel. Sie hatte die Schrecksekunde halbwegs überstanden und konzentrierte sich auf ihre Fähigkeiten. »Du hast nichts gemacht, außer heimlich im Dunkeln hier herumzustrolchen«, sagte die erste Fremde. »Wie sollte ich das auch anders machen?«, versetzte die Druidin. »Schließlich gibt es hier keine Straßenlampen oder Laternen.« »Willst du uns zum Narren halten?«, fragte diejenige mit dem Speer. Noch während Sara »Nein« sagte, verschwand sie. Gleichzeitig glühte eine Mini-Sonne vor den Augen der Avalon-Kriegerinnen auf und explodierte, ohne dabei ein Geräusch zu verbreiten. Geblendet schlossen beide die Augen, dabei fielen ihnen die Waffen aus den Händen. Sie hielten die Hände schützend vor die Gesichter und stöhnten vor Schmerz laut auf. Die zweite Frau stolperte und fiel hin. Sara lähmte die Kriegerin, die sie zu Boden gestoßen hatte, dann kümmerte sie sich um die Speerträgerin. Sie half ihr wieder auf, und bevor die Frau reagieren konnte, schlug Sara mehrmals mit der flachen Hand zu. Die Kriegerin wurde durch den Angriff überrascht. Sie fiel wieder auf den Boden, wo sie sich, auf dem Rücken liegend, das Gesicht mit den Händen bedeckte. Die Schmerzen der Blendung waren weitaus größer als Moons Schläge. »Meine Augen!«, hauchte die Frau. Saras Magie sorgte dafür, dass sie sich nicht laut verständigen, sondern nur noch zischend reden konnte. »Ich bin blind! Ich kann nichts mehr sehen!« »Das vergeht wieder, meine Beste«, erwiderte Sara ebenso leise und schaute ihre Gegnerin grimmig an. Auf den Wangen der Krie-
gerin zeichneten sich deutlich sichtbar die Finger der Druidin ab. Sara Moon nickte halbwegs zufrieden, sie ärgerte sich mehr über die eigene Unvorsichtigkeit als über die Reaktion der Wächterinnen. Schließlich gehorchten die nur ihren Befehlen, als sie die Eindringende stellten. »Wie viele Wächterinnen seid ihr?«, stellte sie die dringlichste Frage. Die Geblendete presste die Lippen zusammen. Nur das Stöhnen und Seufzen, das sie nicht ganz unterdrücken konnte, war zu vernehmen. Freiwillig würde sie nichts sagen, was ihrer Gegnerin helfen konnte. Die Druidin sondierte die Umgebung, dann kniete sie neben der auf Zeit Erblindeten. Ihre Hände woben einen Zauber, die Lippen murmelten unhörbare Sprüche aus längst vergangenen Tagen. Eine durchscheinende Gestalt, einer Qualle gleich, erschien über Saras Gegnerin und stand in der Luft. Auf ein Nicken der Druidin hin senkte es sich langsam abwärts, bis es auf dem Brustkorb der Frau zum Erliegen kam. Dort drang es in den Körper ein, ohne eine Verletzung zu verursachen. Die Wächterin verkrampfte sich, ihre Glieder zuckten konvulsivisch. Sie schnappte nach Luft und schien dabei kurz vor dem Ersticken zu stehen. »Nur wir beide sind als Wachen da«, ächzte sie. Sara nickte zufrieden. »Und wer befindet sich noch in dem Haus?«, lautete ihre nächste Frage. »Nur zwei Ammen«, lautete die unverzüglich folgende Antwort. »Außer ihnen befindet sich niemand dort drinnen?«, erkundigte sich die Tochter des Königs der Druiden in lauerndem Tonfall. Die Geblendete krümmte sich zusammen, obwohl sie in diesem Zustand keine Schmerzen erleiden konnte. Trotz der Hypnose, in die Sara sie versetzt hatte, schienen ihr die Antworten unglaublich schwerzufallen.
»Nur … das Mädchen … und … das Einhorn«, keuchte die Wächterin, dann erlöste eine Ohnmacht sie von ihrem Leid. Nach dem Erwachen würde sie wieder normal sehen können. Die Qualle löste sich aus ihrem Brustkorb heraus, stieg höher und verblasste dabei innerhalb von Sekunden. Sara überzeugte sich davon, dass auch die Kollegin der Bewusstlosen noch schlief, dann schlich sie weiter auf das Haus zu. Sie erkundete das Innere erneut mit ihren Sinnen – nach den bisher gemachten Erfahrungen noch vorsichtiger geworden –, dann versetzte sie sich dorthin, wo sie die Aura ihrer Schwester spürte.
* Im Keller von Château Montagne befand sich in einem Kuppelsaal eine Regenbogenblumenkolonie. Der Kuppelsaal konnte hermetisch abgeschlossen werden, als Schutz gegen überraschend auftauchende Besucher. Mittels der mannshohen Regenbogenblumen konnten Zamorra und seine Leute überall hinreisen, wo Gegenstationen standen; sogar auf andere Welten. Eine dieser Gegenstationen befand sich auf Tendyke’s Home, direkt neben der kombinierten Garage mit Werkstatt von Firmenchef Robert Tendyke. Zur Sicherung gegen Eindringlinge von außen wurde die Regenbogenblumenkolonie mit einem Gitter abgesperrt. Erst auf Tendykes Befehl hin konnte dieses Gitter geöffnet werden. Tendyke’s Home war ein eineinhalbstöckiges Haus in Bungalowbauweise auf einem sehr großen Privatgrundstück im Dade County. Der wiederum lag an der Südostspitze Floridas. Hinter dem abgeschirmt umgeben von großen Bäumen und Büschen gelegenen Haus befanden sich der Swimmingpool und eine weit ausgedehnte, parkähnliche Grasfläche. Das Grundstück war fast so gut beaufsichtigt wie die Goldvorräte des berühmt-berüchtigten Fort Knox. Sicherheitsleute bewachten
Tendyke’s Home bei Tag und Nacht, sie patrouillierten ständig umher. Meist hielten sie sich im Verborgenen auf und überraschten damit Einbrecher, die glaubten, leichtes Spiel zu haben. Aber da kannten sie Robert Tendyke schlecht. Der Sohn des Asmodis kannte alle Tricks und Schliche aus seinen früheren Leben. Wer ihn überlisten wollte, musste das äußerst geschickt anstellen. Professor Zamorra und Nicole Duval wollten Tendyke nicht überlisten. Sie wollten ihn nur überreden, ihnen zu helfen. Zamorra hatte über Visofon nicht weiter erörtern wollen, was er von dem Abenteurer wollte, der Anruf diente nur dazu, festzustellen, ob sich Tendyke zu Hause befand. Der Parapsychologe war der Ansicht, dass sich solche Gespräche am besten unter vier Augen erledigen ließen. Als Nicole und er aus dem Regenbogenfeld traten und sie Tendyke und die Peters-Zwillinge als Empfangskomitee sahen, wurde Zamorra klar, dass zumindest ein Gespräch unter zehn Augen daraus werden würde. Die vergitterte Tür wurde geöffnet und die Freunde begrüßten sich herzlich. Dennoch nahmen Duval und Zamorra wahr, dass zwischen den Zwillingen einerseits und dem Firmenchef andererseits Unstimmigkeiten herrschten. Tendyke hingegen bemerkte, dass seine beiden Gäste Lederkleidung trugen, gerade so, als würden sie auf eine Expedition gehen. Er wusste nicht, dass diese Expedition schon begonnen hatte – mit ihm als Mitglied. Bei den hier vorherrschenden Temperaturen von über 35 Grad Celsius waren die Franzosen froh, schnell im klimatisierten Bungalow Zuflucht zu finden. Im Esszimmer wurden ihnen von Butler Scarth alkoholfreie Erfrischungsdrinks gereicht, danach verschwand der gute Geist von Tendyke’s Home wieder. Er wusste genau, wann seine Herrschaften mit ihren Gästen allein sein wollten. Das hatte er mit Zamorras Butler William gemein. Gleich nach dem Hinsetzen und noch bevor die französischen Gäs-
te etwas sagen konnten, richteten die Peters-Zwillinge das Wort an sie. Monica und Uschi berichteten von Tendykes Ausrastern in der letzten Zeit und baten Zamorra darum, ihnen zu helfen. Tendyke war das schnelle Vorpreschen seiner Gefährtinnen überhaupt nicht recht, er war dementsprechend ungehalten, da er mit Zamorra unter vier Augen darüber sprechen wollte, aber er zeigte keine Anzeichen übermäßiger Wut. Robert gab zu, dass er »in gewissen Situationen« ein hitzigeres Temperament bekommen hatte, er berichtete in Kurzfassung, seit wann er sich unwohl fühlte. Zamorra machte Tendyke keine Vorwürfe, dass er sich nicht vorher damit gemeldet hatte, obwohl sich bei zwei Einsätzen einiges an Schwierigkeiten hätte vermeiden lassen – hätten sie vorher von Tendykes Handicap gewusst. Der Parapsychologe vermutete, dass sich sein Freund in einer der ruhigeren Phasen befand. Er war auch nicht sehr froh darüber, dass die Zwillinge mit ihrem Problem so schnell vorgeprescht waren. Die Diskussion darüber hätte er lieber auf die Zeit nach dem Einsatz verschoben. Und das sagte er Uschi und Monica auch deutlich. Ehe beide empört reagieren konnten, schwenkte er zu einem anderen Thema über und erzählte von ihrem Einsatz in Kolumbien und von Fu Longs Worten. »… und dabei kann es sich nur um den Planeten Karenja handeln, den wir vor etwas mehr als einem halben Jahr besuchten«, schloss er seinen Bericht. »Nach allen Erkenntnissen, die wir bisher gesammelt haben, schließen wir daraus, dass wir diese Welt unverzüglich aufsuchen müssen.« »Und bei diesem Besuch soll ich dabei sein?« Man konnte nicht behaupten, dass Robert Tendyke übermäßig erfreut aussah, als er diesen Schluss zog. »Du warst damals mit dabei, Rob«, sagte Zamorra. »Und was wichtig ist: Du kennst dich mit den Verhältnissen auf Karenja aus.« »Bei den paar Stunden, die wir dort verbrachten? Das glaubst du
doch selbst nicht.« Tendyke verzog die Stirn und schüttelte den Kopf. »Und es gibt niemand, dem ich bei einem Einsatz so vertraue wie dir. Wer außer dir besitzt eine so große Erfahrung?« Zamorra blickte seinen Freund prüfend an. Er wusste, dass seine Argumentation äußerst dürftig war und dass der Abenteurer nicht auf billige Komplimente reagierte, aber er hoffte, dass sein Auftreten überzeugend genug war. »Wie wäre es mit Gryf ap Llandrysgryf?«, stellte Robert Tendyke eine Gegenfrage. »Der olle Silbermond-Druide hat noch 7500 Jahre mehr auf dem Buckel als ich …« »Aber im Gegensatz zu dir kennt Gryf sich mit der blauen Stadt auf Karenja nicht aus.« »Jede Blaue Stadt besitzt den exakt gleichen Grundriss«, widersprach der Chef der TI. »Warst du in einer, kennst du alle. Das weißt du doch selbst gut genug …« »Aber du kennst die Begebenheiten dort …« »Die Chaosstrahlung, die ich nicht noch mal erleben möchte …« »Du hast gegen die Taschtwan gekämpft …« »Was ich nicht unbedingt ein zweites Mal machen möchte.« Zamorra atmete tief ein und aus. Langsam wurde er ungeduldig. Er besaß nur noch ein Argument, und wenn dieser Trumpf nicht stach, dann würden er und Nicole allein reisen müssen. »Dein Erzeuger … Asmodis.« Tendyke verengte die Augen zu Schlitzen und blickte Zamorra fragend an. »Was ist mit dem gottverdammten Hurensohn?«, wollte er wissen. Er stand auf und ging unruhig hin und her. »Er sammelt mit hoher Wahrscheinlichkeit die Tränen ein, die LUZIFER einst weinte. Wenn er alle zusammenhat, könnte er dafür sorgen, dass der Herr der Hölle wiederbelebt wird.« Tendyke blieb vor Zamorra stehen, er umfasste die Tischenden mit
beiden Händen und blickte dem Meister des Übersinnlichen in die Augen. »Wenn es darum geht, dem alten Scheißkerl eins auszuwischen, bin ich dabei«, sagte er mit heiserer, zorniger Stimme.
* Als die ersten Taschtwan bemerkten, dass die Blaue Stadt nebliger und durchsichtiger wurde, wussten sie nicht, wie sie reagieren sollten. »Wir müssen schnell hineingelangen, sonst werden wir mit dieser Welt vernichtet«, fauchte Chand’on, er war der Anführer der kleinen Horde. Einige Hundert seiner Art waren schon vor wenigen Tagen nach Süden geflüchtet, in der Hoffnung, dort dem Auflösungsvorgang Karenjas zu entkommen. »Die Grenze zu der Blauen Stadt ist tödlich«, gab seine Gefährtin Sh’daar zu bedenken. »Aber es ist unsere einzige Möglichkeit«, beharrte Chand’on auf seinem Befehl. »Wir müssen zu den Blumen und dann über den Steg in die Stadt hinein.« Er trieb seine Leute an, genau diesen Weg zu nehmen. Einige seiner Untergebenen äußerten ihr Missfallen über die Anordnung, aber schlussendlich fügten sie sich ihrem Anführer. Er war der bei Weitem größte und stärkste von ihnen, außerdem würde er schon wissen, was für die Horde am besten war. Aber wie groß war der Schock, als die ersten Taschtwan die Grenze zur Blauen Stadt erreichten und dort mit einem Mal tot umfielen, noch bevor sie auch nur einen Gedanken an Flucht verschwenden konnten! »Alle zurück!«, gellte der Schrei Sh’daars über den Steg. »Sofort, sonst sterben wir alle!« Chand’on stand wie zur Salzsäule erstarrt da. Er wollte es nicht
glauben, dass einige Mitglieder der Horde nur gestorben waren, weil sie seinem Befehl gefolgt waren. Er bewegte sich langsam auf die Blaue Stadt zu, als würde er von irgendetwas automatisch gesteuert. Eine Hand krallte sich von hinten in sein Schulterfell. »Zurück, du Narr!«, brüllte ihn seine Gefährtin an. »Willst du etwa auch sterben?« »Ich … sie sind tot, und ich … ich bin schuld daran …«, stammelte Chand’on. Sh’daar zog ihn mit sich, vorbei an den Regenbogenblumen, von denen knapp die Hälfte schon verwelkt war. Sie schenkte den in allen Farben des Spektrums leuchtenden Transportblumen, die ihr nur bis zur Brust reichten, keinen Blick. Die Taschtwan wussten, dass gewisse Lebewesen verschwanden, wenn sie zwischen die Blumen traten, aber wie das geschehen konnte, war ihnen ein Rätsel. Einmal war einer der ihren für eine knappe halbe Stunde verschwunden, als er einen Drois verfolgte. Er war tot wieder aufgetaucht. Auf dem Rücken trug er ein großes Loch, und als er umgedreht wurde, sahen seine Artgenossen Dutzende kleine Metallsplitter in seiner Brust stecken. Sie wussten nicht, dass Robert Tendyke für das Loch im Rücken verantwortlich war. Er hatte mit dem Desintegrator des Drois Sarn auf den Taschtwan geschossen, als dieser fliehen wollte. Die Patronen indessen stammten aus den Waffen von Tendykes Sicherheitsdienstmitarbeitern. Der Tod ihres Artgenossen war den Taschtwan eine Warnung, niemals wieder die Regenbogenblumenverbindung zu benutzen. Sie nahmen an, dass jeder Fluchtversuch auf diese Weise enden würde. Abgesehen davon wussten sie nicht, dass sie sich nur auf ihr Ziel konzentrieren mussten, um von Karenja zu verschwinden. Sh’daar fletschte die Zähne und fauchte ihren Gefährten an, um ihn zu größerer Schnelligkeit anzutreiben.
»Wir müssen ebenfalls dorthin flüchten, wo auch die anderen vor ein paar Tagen hin sind«, bellte sie. »Und du glaubst wirklich, dass wir dort sicher sind?«, fragte Chand’on. Er hatte den Schock über den Tod seiner Artgenossen immer noch nicht ganz überstanden. »Es ist doch nur noch ein dünner Streifen vorhanden, über den wir auf die andere Seite gelangen können .« »Wir sind nirgends sicher«, antwortete sie, »aber wir können doch nicht einfach aufgeben!« Sie befanden sich mittlerweile etwa zweihundert Meter hinter den Regenbogenblumen, als der Schrei eines ihrer wenigen überlebenden Mitglieder Sh’daar und Chand’on aufrüttelte. »Die Blaue Stadt ist wieder richtig sichtbar!« Das Alphapaar der Taschtwanhorde hielt an und drehte sich um. Und wirklich, die Del’Alkharam stand wieder genauso da wie vorher. Kein Nebel trübte die Sicht auf die Stadt. Chand’on kniff die Augen zusammen. Er stieß seine Gefährtin an. Was er sah, konnte, zeitlich gesehen, kein Zufall sein. Drei Gestalten erschienen zwischen den Regenbogenblumen.
* Die Schwebeplatte flog in einer Höhe von etwa 50 Metern über Karenja, um die Auswirkungen des Planetenfraßes zu erkunden. Die drei Drois sandten dazu ständig alle aufgenommenen Daten an die Station in der Blauen Stadt. Aber die eifrigsten Informationssammler waren von der Körpergröße her die kleinsten. Drohnen waren Wunderwerke der Mikrotechnik, zumindest für Menschen. Sie waren kaum größer als eine irdische Biene, aber durch die geringe Größe natürlich überaus erfolgreich im Aufspüren. Niemand kam so nah an ein Objekt heran wie eine Drohne. Die Mini-Aufklärer kreisten ständig in unter-
schiedlichen Höhen über der Schwebeplatte, um Sarn über alle Vorgänge in seinem Bereich zu informieren. Die Qualität der aufgenommenen Bilder und Filme war gestochen scharf. Dennoch waren die Drois nach Sichtung des Materials und Berechnungen der Computer so schlau wie vorher. Fest stand nur, dass die Zerstörung an drei Seiten der Blauen Stadt begann und sich in Form einer schiefen Hand mit unregelmäßig geformten Fingern schon einige Hundert Kilometer weit zog. Dabei erreichte die Tiefe des Riesengrabens mehrere Tausend Meter. Der Planet wurde also richtiggehend ausgehöhlt. »Auf keiner der Welten, die wir jemals besuchten, haben wir Derartiges gesehen«, meldete Sozhar die Ergebnisse des Rechners. »Wir wissen noch nicht einmal, wann und wo genau diese Katastrophe ihren Anfang genommen hat«, sagte Sarn. »Aber wir wissen, dass alles, was mit diesem Schlund in Kontakt gerät, rettungslos verloren ist.« »Alles bis auf die Del’Alkharam und die Regenbogenblumen«, verbesserte Sozhar seinen Kollegen. »Nicht auszudenken, würde die Zerstörung auf die Stadt übergreifen.« »Stell dir vor, dieser Planetenfraß würde auf andere Welten übergreifen, auf denen wir uns befinden«, warnte Sysra, die einzige Frau an Bord. »Wir müssen uns dagegen schützen können. Wenn wir wüssten, weshalb die Del’Alkharam widersteht, könnten wir versuchen, uns auf diesen anderen Welten zu schützen.« »Widersteht sie etwa, weil sie nicht von hier ist, ebenso wie die Transportblumen?«, vermutete Sozhar. »Sie sind schließlich das Einzige, das von der Zerstörung nicht betroffen ist.« »Das liegt zwar im Bereich des Möglichen. Aber dann dürften sie nicht unseren Leuten oder den Taschtwan gefährlich werden.« »Eventuell liegt es auch daran, dass die Versiegelung schon vor einiger Zeit durchgeführt wurde, bevor … seine Strafe erfolgte«, überlegte Sarn laut.
Theronns Bestrafung und sein derzeitiger Zustand galten als Tabu unter den Halbandroiden, deren Sehkraft, Muskeln und Knochen mit technischen Mitteln verstärkt wurden. Außerdem konnten sich Drois über weitere Entfernungen untereinander mittels Funk unterhalten. »Es ist unglaublich, wie schnell dieser Planetenfraß schon vorangekommen ist«, sagte Sysra. Sie zoomte ein Bild heran, auf dem sie eine fliehende Horde von über 100 Taschtwan ausmachte. »Zuerst dachte ich, sie wären unsere größten Gegner hier, aber jetzt tun sie mir leid.« »Sie haben viele der unseren dezimiert«, wandte Sozhar ein. »Das schon, aber zum einen wissen wir jetzt, dass sie nur Opfer höherer Mächte sind«, verteidigte Sysra ihren Standpunkt. »Und außerdem können sie im Gegensatz zu uns nicht von Karenja weg.« »Das bedeutet, dass dieser Planet ihr Grab wird«, schloss Sarn. Ein Funkspruch kam herein, dass die Blaue Stadt den Testlauf zur Versetzung bestanden hatte. Die Besatzung der Schwebeplatte sollte so schnell wie möglich wieder zurückkommen.
* »Die sind schuld daran, dass es soweit gekommen ist!«, stieß Ch’darn, der jüngste der Horde, hervor, als er die drei Fremden sah. »Woher willst du das wissen?«, erkundigte sich Chand’on. »Die Stadt verschwindet fast, und kurz nachdem alles wieder so ist wie vorher, kommen die Fremden«, zischte Ch’darn. »Sie wollen nachsehen, ob alles in Ordnung ist und ob wir noch leben.« »Glaubst du, dass wir ihnen so wichtig sind?« Sh’daar fauchte, um ihren Unglauben über Ch’darns Theorie zu demonstrieren. »Es kann nur so sein!«, behauptete der junge Mann mit dem heißen Blut. »Und deshalb müssen wir sie töten!« Chand’on blickte Sh’daar an und schloss nur für eine Sekunde die
Augen. Seine Gefährtin wusste dadurch, dass er sich Ch’darns Forderung anschloss. »Töten wir sie!«, befahl der Anführer der Horde. In ihrer Lage fehlte den Taschtwan die Fähigkeit, ein Ereignis vom anderen zu trennen. Sie griffen nach jedem Strohhalm, der sich ihnen bot. »Töten wir sie! Sie haben es sich verdient!« »Töten wir sie!«, antwortete ihm der zahlenmäßig kleine Chor seiner Leute. »Stopp!«, forderte Sh’daar. »Nehmen wir sie doch lieber gefangen und zwingen die Bewohner der Blauen Stadt, dass sie uns helfen sollen.« »Wir töten sie!«, brüllte Ch’darn. Seine Artgenossen folgten ihm, ohne lange zu überlegen. Der ständige Kampf ums Überleben und der Verlust ihrer Leute sorgten dafür, dass sie sich in einer Ausnahmesituation befanden. Sie rannten den Regenbogenblumen entgegen, um die drei gerade erst angekommenen Menschen anzugreifen. Einer von ihnen trug etwas Dunkles auf dem Kopf, er griff in seine Jackentasche und zog etwas Längliches heraus. Ein Zweiter legte die Hand auf den Arm des ersten Mannes. Eine dritte Person, etwas kleiner und schmaler als die beiden anderen – wahrscheinlich ein Weibchen –, hielt einen kleinen, dunklen Gegenstand in der Hand. »Lass die Flammenpeitsche stecken, Rob«, hörte Chand’on den zweiten Mann sagen, als er näher kam. Er blieb nur wenige Meter vor den Menschen stehen. Seine Horde, die, ihn eingeschlossen, nur noch aus zwölf Taschtwan verschiedenen Alters bestand, breitete sich zu beiden Seiten neben ihm aus und umschloss damit das Blumenbeet zur Hälfte. »Bist du sicher mit dem, was du da anordnest, Zamorra?«, fragte der Mann mit der Kopfbedeckung. »Die Zottel machen Hackfleisch aus uns.« Chand’on wusste weder was eine Flammenpeitsche war, noch kann-
te er den Begriff Hackfleisch. Aber instinktiv bemerkte er, dass die fremden Wesen gefährlich waren. Auch vor dem Weibchen mit dem dunklen Ding in der Hand sollten sie sich besser in Acht nehmen. Die Drois besaßen ähnliche Waffen, mit denen sie schon viele Taschtwan umgebracht hatten. Ein Blick von ihm reichte aus, um sich zuerst mit Sh’daar und dann mit der gesamten Horde zu verständigen. Zwei der Fremden bewegten sich vorsichtig einige Schritte nach rückwärts, hinaus aus dem Regenbogenblumenfeld. Der Mann mit der Kopfbedeckung schimpfte mit ihnen. »Seid ihr wahnsinnig geworden? Die Blumen sind unsere einzige Möglichkeit zu verschwinden. Wenn die Zottel Salat aus ihnen machen …« Als hätte er mit seinen Worten das Kommando gegeben, stürmten die Taschtwan auf einmal nach vorne und zertrampelten dabei die Regenbogenblumen, wobei ihnen der Mann mit der Kopfbedeckung erbitterten Widerstand leistete. Er holte mit dem länglichen Ding aus und verfehlte Ch’darn zum Glück um wenige Zentimeter. Doch als er die Flammenpeitsche aus dem neutralen Futteral zog und eine der Regenbogenblumen traf, fing diese mit einem Mal Flammen. Der Mann beeilte sich, die Flammenpeitsche weit von sich gestreckt, aus dem Blumenbeet zu gelangen. »Rob, du Idiot! Ich habe doch gesagt, dass du die Peitsche stecken lassen sollst!«, rief der Mann, der Zamorra genannt wurde. Er erhielt keine Antwort. Ch’darn wollte den Augenblick der Ablenkung nutzen und sich der Waffe bemächtigen. Doch der Mann, der von seinem Begleitern Rob genannt wurde, wich ihm aus. Der Taschtwan wurde kaum merklich vom Riemen der Peitsche gestreift, dennoch stand er in Sekundenschnelle in Flammen. Er heulte vor Schmerz laut auf und versuchte, die Flammen dadurch zu ersticken, dass er auf dem Grasboden herumrollte, jedoch ohne Erfolg.
Seine Artgenossen und auch die drei Menschen sahen fassungslos zu, wie der junge Taschtwan innerhalb von weniger als einer halben Minute verbrannte. Niemand vermochte ihm noch zu helfen. Auf jeden, der das versuchte, setzte sonst ebenfalls der unlöschbare Brand über. Deswegen wehrten die Menschen auch jeden ab, der dem armen Ch’darn helfen wollte. Der Mann mit Namen Rob trat einige Schritte zurück und gab seinen Gefährten ein Zeichen, sich ebenfalls einige Meter zurückzuziehen, dann zog er speziell gefertigte Handschuhe an und verstaute die Flammenpeitsche im neutralen Futteral. Sh’daar blickte die Menschen anklagend an. Alles war so furchtbar schnell gegangen, es hatte noch nicht einmal zwei Minuten gedauert. Der kurze Angriff, der Tod des Artgenossen, die brennenden Blumen. Aus dem Nichts heraus erklang ein Schreien. Menschen und Taschtwan hielten sich die Ohren zu, doch es half nichts, der Schrei ertönte weiter in ihnen. Alle blickten verwundert auf die Regenbogenblumen, denn sie hatten das Gefühl, dass das telepathische Klagen aus den Blumen heraus kam. Der älteste Taschtwan brach zusammen, doch keiner der Anwesenden bemerkte es. Und dann brach der Schrei unvermittelt ab. Die Taschtwan blickten sich zu Tode erschrocken an. Sh’daar legte ihrem Gefährten eine Hand auf den Oberarm und zog ihn mit sich. Der Tod des jungen Ch’darn und der Schrei der Regenbogenblumen hatten Chand’on vollends gebrochen. Er blickte die Fremden voller Abscheu an, dann gab er seinen Leuten das Zeichen zum Aufbruch. Wie von wilden Teufeln gejagt, rannten die Taschtwan davon. Sie schafften es gerade noch, an der engsten Stelle durchzukommen, ehe der Planetenfraß das Gebiet um die Blaue Stadt abgrenzte und sie als Insel inmitten der Zerstörung zurückließ. Doch sie bemerkten nicht, dass sie einen der ihren zurückließen.
* Das Sehvermögen von Sara Moon war so gut, dass sie sich auch im Dunkeln des Gehöfts zurechtfand. Sie materialisierte in Evas Schlafraum. Ihre Schwester lag gut zugedeckt auf dem Bett. Flache, gleichmäßige Atemzüge verrieten, dass sie schlief. Sara lächelte, als sie Eva erblickte. Ein Gefühl der Zuneigung, so stark, wie sie es ganz selten verspürt hatte, erfüllte die Druidin. Wenn man so wollte, war Eva ihre Familie. Aber jemand fehlte dabei, jemand, ohne den ihre Schwester nicht komplett war. Das Einhorn befindet sich im Stall nebenan, rief Sara sich ins Gedächtnis. Wir dürfen es nicht vergessen. Eva war ohne ihr Reittier nicht vorstellbar. Sie würde überall mit hingehen, wo sich auch das Einhorn befand. Ohne das Fabelwesen konnte sie nur kurze Zeit glücklich sein. Dessen war sich Moon bewusst. Also musste das Einhorn mit ihnen reisen. Sara streckte die Hände aus um ihre Schwester sanft zu wecken, in diesem Augenblick schlug das Zeitauge an und warnte sie. Aber hier drinnen arbeitete es nicht so gut wie gewohnt. Ein Bild erschien in Saras Gedanken und verblasste gleich darauf. Übersetzt bedeutete der innere Alarm soviel wie: Aufpassen! Gefahr! Das können nur die beiden Ammen sein!, durchfuhr es die Druidin. Da erhielt sie schon einen Stoß in den Rücken, fiel gegen die Kante von Evas Bett und rollte sich ab. Sara unterdrückte einen Fluch, die Hüfte, mit der sie angestoßen war, schmerzte. Sie stand auf und erwartete ihre Gegnerinnen. Aus dem Nichts heraus erschien ein Feuerball und raste auf die Wächterin der Zeitlinien zu. Im letzten Augenblick konnte Sara den Angriff abwehren. Die Kerze auf dem Tisch wurde angezündet und tauchte die Szenerie in unwirkliches Licht. Eine der Ammen, eine ältere, schlanke
Frau, verfügte über eine starke Magie und versuchte Sara damit in Schach zu halten, doch die Druidin konterte die Angriffe. Aus Rücksicht auf ihre Schwester hielt sie sich zurück. Sie wollte nicht, dass der Kleinen etwas passierte. Doch auch die Amme hielt sich zurück und spielte ihr Potenzial noch nicht ganz aus. Offensichtlich hatte sie Anweisungen erhalten, dass die Einhornreiterin zu schützen war – vor wem auch immer. Sara blickte kurz zu ihrer Schwester und bemerkte, dass Eva von dem Kampflärm wach wurde. Sie öffnete langsam und verschlafen die Augen und hielt die kleinen Fäuste vor den Mund. Den Augenblick der Ablenkung nutzte die Amme, sie ließ ein magisches Netz über Sara entstehen und auf die Druidin fallen. Noch bevor das Netz Sara treffen konnte, war sie verschwunden. Sie versetzte sich hinter die Amme und ließ einen Stromstoß in ihre Widersacherin fahren. Die Amme schrie gellend auf und versuchte sich umzudrehen. Sie stolperte dabei über die eigenen Füße und geriet ins Taumeln. Sara sorgte mit einem Fußhebel dafür, dass ihre Gegnerin erneut stolperte und dabei auf den Boden fiel. Ein Donnern ertönte, eine Wand des Anwesens zitterte, doch gleich darauf war nichts mehr zu hören. Die beiden Frauen waren so aufeinander fixiert, dass sie es nicht hörten. Mit einem Lähmzauber hielt Sara die vor Schmerz stöhnende Amme in Schach. Die Frau konnte sich kaum bewegen, doch am Leuchten ihrer Augen erkannte Sara, dass etwas für sie Ungünstiges eingetreten sein musste. Und wirklich, gleich darauf vernahm sie eine unbekannte Stimme von hinten. »Gib auf oder es wird dir schlecht ergehen!« Sara drehte sich zur Seite und erblickte die Silhouette einer kräftig gebauten Frau. Mit ihren übersinnlichen Fähigkeiten versuchte sie, das Magiepotenzial der anderen zu erkennen. Die zweite Amme trat zu Eva und hielt sie am Arm fest.
»Au! Du tust mir weh!«, beschwerte sich das Mädchen. »Lass meine Schwester in Ruhe!«, forderte Sara Moon »Irrtum, Sara. Du lässt meine Schwester in Ruhe!«, konterte die Amme. »Sonst töte ich dich und verschwinde mit der Einhornreiterin.« »Was von beidem jetzt?«, wollte die Druidin wissen. Sie hatte gleich den Fehler in den Worten der anderen erkannt. »Was meinst du?« »Wenn du mich tötest, brauchst du nicht mehr zu verschwinden«, erklärte Sara Moon. »Verstehst du, was ich meine?« »Ach?« »Andererseits, wenn du verschwindest, brauchst du mich nicht mehr zu töten.« Beide Frauen blickten sich eindringlich an. »Du bist böse!«, schrie Eva. »Du tust mir weh! Du böse, alte, hässliche Frau!« Die Amme ließ sich durch die Worte des Mädchens nicht provozieren. Dennoch fasste sie kräftiger zu, in der Hoffnung, dass die Klagelaute der Einhornreiterin ihre Schwester zum Einlenken bewegten. Erneut donnerte es, gerade so, als würde ein Pferd mit den Hufen gegen eine Bretterwand trommeln. »Der Kleinen geschieht nichts, wenn du mit zu Valantia kommst. Du bist auf Avalon nicht mehr willkommen, Merlinstochter.« Eva kratzte an der Hand, die sie festhielt. Die Amme griff mit einer Hand noch fester zu, mit der anderen schlug sie Eva auf die Finger. Sara zuckte zusammen, sie musterte die Amme mit grimmigem Blick. »Lass sie los!«, forderte sie, sie betonte jedes einzelne Wort und ließ dazwischen Pausen, um anzudeuten, wie ernst ihr die Sache war. Das Mädchen heulte vor Schmerz und Überraschung darüber auf,
dass die beiden Ammen, die sie bis jetzt liebevoll betreut hatten, dazu fähig waren, ihr Schmerzen zuzufügen. »Böse, alte Frau!«, schrie sie erneut. »Lass mich los!« Die Amme schüttelte sie, und noch bevor Sara reagieren konnte, sprangen einige Funken, die aus dem Nichts zu kommen schienen, von Evas zusammengepresster Hand auf den Arm der Kinderbetreuerin über. Die ließ die Hand des Mädchens los und versuchte, die entstehende Flamme auszuschlagen. Doch es handelte sich dabei um kein normales Feuer, ihr Arm wurde vereist. Sie stöhnte und biss sich auf die Lippen, doch die Eis-Flamme wurde immer größer. Sie setzte sich, zusammen mit einem unglaublich quälenden Schmerz, innerhalb weniger Sekunden bis zur Schulter der Frau fort. Sie hielt den Arm von sich und blickte aus weit aufgerissenen Augen ungläubig darauf. Ihr Arm schien in bläulichen Flammen zu stehen, das Blut verkochte, die Knochen wurden sichtbar. Aber es entstand kein Qualm dabei. Etwas Dampf stieg auf, wie bei einem stark tiefgefrorenen Stück Fleisch, das aus der Tiefkühlkammer kam. Einen gurgelnden Laut ausstoßend, fiel die Aufpasserin auf die Knie. Sie wälzte sich hin und her, ihr Gesicht wurde dunkelrot, und dann schrie sie ihren Schmerz hinaus. In diesen Sekunden vergaß Sara ihre zweite Gegnerin und entließ sie ungewollt aus der Lähmung. Als die zweite Amme erkannte, was mit ihrer Schwester geschah, stand sie blitzschnell auf und drückte Eva die Kehle zu. Sara Moon stand wie in der Bewegung eingefroren da. Sie rührte sich für einige Sekunden nicht, um Eva nicht zu gefährden. Die gefrierende Kinderfrau schrie immer noch ihren Schmerz hinaus, doch an der Schulter endete der Frostherd seltsamerweise. Sara kam die ganze Situation zunehmend unwirklicher werdend vor. Das Donnern ertönte zum dritten Mal, gerade als Sara beide Hände erhob, um der Aufpasserin anzuzeigen, dass sie aufgeben wollte.
Schlussendlich war ihr Evas Leben wichtiger, als von Avalon zu verschwinden. »Lass sie bitte los. Tu ihr nichts an«, bat sie. »Ich bleibe friedlich.« Die Amme blickte von Sara zu ihrer schreienden Schwester. Dann bewegte sie sich zwei Schritte rückwärts, der Tür entgegen. Erneut ertönte das Donnern, einen Augenblick später flog das Einhorn durch die Tür hindurch, ohne sie zu zerstören, und hielt direkt an der Kinderfrau an. Sein Horn bohrte sich vom Rücken aus durch die Frau und die Spitze schaute aus dem Brustkorb heraus. Voller Unglauben starrte die Aufpasserin auf die Spitze, die zwischen ihren Brüsten herausragte. Das Zauberwesen trat einen Schritt zurück und zog sein Horn aus dem Oberkörper der zusammenbrechenden Amme. Ihre kraftlosen Hände konnten Evas Hals nicht mehr umklammert halten. So genau Sara Moon auch hinblickte, konnte sie doch weder einen Blutstropfen noch eine Wunde auf dem Oberkörper der Frau erkennen. Das Horn schien die Amme nur innerlich verletzt zu haben. Die andere Aufpasserin schrie nicht mehr. Eine gnädige Ohnmacht hielt sie umfangen. Das Gefrieren ihres Armes hatte aufgehört, auch waren keine Spuren von kochendem Blut oder durchsichtigen Knochen mehr zu erkennen. Der ganze Arm sah fast wie zuvor aus. Lediglich eine dunkelbläuliche Verfärbung von den Fingern bis zur Schulter hinauf zeigte an, dass der Frau etwas Außergewöhnliches zugestoßen war. Also besitzt Eva wieder die Para-Fähigkeit, Magie in sich aufzusaugen und zu speichern, um sie später wieder abzugeben. Die Erleichterung der großen Schwester war grenzenlos. Ihre Skrupel, die Einhornreiterin in Gefahr zu bringen, hätten beinahe alles zerstört. Sara kümmerte sich kurz um die zwei Frauen, und als sie erleichtert bemerkte, dass beide am Leben waren, nahm sie sich vor, sofort von hier zu verschwinden.
Was für ein wundervoller Plan, dachte sie voller Ärger auf sich selbst. Von wegen kurz herkommen und gleich wieder unbemerkt verschwinden. Bis jetzt ging alles voll in die Hose. Gut gemacht, Sara. »Die sind beide richtig böse«, beschwerte sich Eva, als sie von Sara liebevoll umarmt wurde. »Böse, alte Frauen.« »Ja, das sind sie, mein Schatz«, bestätigte die Druidin und strich ihrer Schwester mit der Hand über die Haare. »Aber jetzt verschwinden wir so schnell wie möglich von hier.« »Ja«, sagte Eva und nickte bekräftigend dazu. »Das tun wir.« Und dann versetzte Sara Moon sich zusammen mit ihrer Schwester und dem Einhorn weg von dem Gehöft. Sie nahm an, dass es hier noch weitere Fallen oder Wächter gab, von denen sie noch nichts wusste. Sie wollte sich nur kurz außerhalb des Gehöfts orientieren und dann von Avalon verschwinden. Zumindest versuchte sie es …
* Nicole Duval blickte den davoneilenden Taschtwan hinterher. Automatisch steckte sie den auf Lähmung geschalteten E-Blaster wieder ein, nachdem die Gefahr vorbei war. Ihr wäre lieber gewesen, sie hätte den Blaster benutzt, als Tendyke die Flammenpeitsche. Sie schaute auf die Asche des verbrannten Ch’darn und die brennenden Regenbogenblumen. Die Exemplare, die noch nicht in Flammen standen, verwelkten innerhalb von Sekunden. Zamorras Gefährtin stand noch unter dem Eindruck des Geschehens. Der Tod des jungen Taschtwan war absolut sinnlos gewesen, genauso wie die Zerstörung der Regenbogenblumen. Und dass die Transportblumen einen Todesschrei ausstießen, hatte Nicole auch noch nicht erlebt. Das bedeutete, dass die Blumen lebendiger waren, als man ihnen gemeinhin zugestand. Damit waren wahrscheinlich auch die Gliederschmerzen erklärt,
die Nicole seit dem Transport quälten. Die welken Blumen mussten sich sehr angestrengt haben, um die körperliche Versetzung der drei Menschen zu gewährleisten. Nachfragen bei Zamorra und Tendyke ergaben, dass es ihnen ebenso erging. Sie trat einen Schritt zurück und stieß gegen einen auf dem Grasboden liegenden Körper. Beim ersten Hinsehen erkannte sie einen Taschtwan. Aufgrund von Größe, Statur und dem schlechten Zustand des Fells schloss sie daraus, es mit einem älteren Exemplar der Außerirdischen zu tun zu haben. Sie untersuchte das urtümlich wirkende Wesen. Es atmete tief, ließ sich aber selbst durch starkes Schütteln nicht aufwecken. Zamorra und Tendyke versuchten zu helfen, doch auch bei ihnen wachte der Taschtwan nicht auf. Durch die Vernichtung ihres Transportmittels kam ein neues Problem auf die drei Menschen zu. Wie sollen wir von hier wieder wegkommen?, fragte sich Duval. Die Blaue Stadt vor ihnen schwebte über einem riesengroßen Loch, außerdem war sie hermetisch abgeschlossen. Nur dort, wo sich noch die Überreste der Blumen befanden, verband eine Art Steg die Stadt mit Karenja. Das Gebirge, das die Stadt weiträumig umschlossen hatte, fehlte völlig. Was ist nur mit dieser Welt geschehen? Das müssen doch mindestens mehrere Hunderttausend Kubikmeter Gestein sein, die fehlen. Wenn nicht sogar einige Millionen … die können doch nicht einfach so verschwinden?, wunderte Nicole sich. Sie bemerkte jetzt erst, dass die beiden Männer stritten. »Vielen Dank, Monsieur Tendyke«, knurrte Zamorra. »Das hätte ich nicht besser machen können.« »Mit was denn, du Aufschneider? Du besitzt doch gar keine Flammenpeitsche!«, zischte Robert Tendyke zurück. »Aber ich hatte dich gebeten, deinen brennenden Liebling nicht einzusetzen.« Zamorras graue Augen funkelten vor Zorn.
»Hört sofort damit auf, ihr Kindsköpfe!«, rief Nicole Duval. »Uns ist nicht damit geholfen, wenn ihr euch gegenseitig angiftet. Wenn es die Regenbogenblumen nicht mehr gibt, müssen wir uns einen anderen Weg suchen, von hier zu verschwinden. Beispielsweise durch Erschaffung eines Weltentors. Außerdem habt ihr noch nicht bemerkt, dass das Gebirge verschwunden ist.« »Das Gebirge?« Zamorra schaute seine Gefährtin ungläubig an, dann glitt sein Blick weiter zur Blauen Stadt, über das Kilometergroße Loch und dorthin, wo sich noch vor kurzer Zeit zweitausend Meter hohe Berge erhoben hatten. »Das ist ja so ähnlich wie vor zehn Jahren auf K’oandar mit den Seelen-Tränen – nur größer, viel größer.« »Unglaublich«, flüsterte Robert Tendyke ergriffen. »Wer macht denn so was?« Er räusperte sich und verbesserte seinen letzten Satz: »Wer kann derart massiv in diese Welt eingreifen?« »Die Stadt schwebt über dem Planeten, das Loch dahinter reicht bis mindestens zum Horizont. Und überall raucht und qualmt es«, sagte Zamorra und schüttelte den Kopf. Dann fiel ihm auf: »Wohin sind die unglaublichen Mengen an Gestein und Sand verschwunden? Die kann man nicht einfach so beiseiteschaffen.« »Und weshalb greift dieser Vorgang nicht auf die Blaue Stadt und das Regenbogenblumenfeld über?«, stellte Robert Tendyke die nächste Frage, obwohl er natürlich wusste, dass niemand seiner Begleiter eine Antwort parat hielt. »Schaut doch mal etwas genauer hin. Dort drüben«, forderte Nicole Duval und zeigte mit der Hand die Richtung an. Mit der anderen Hand zog sie ein Handy Marke TI-Alpha aus der Innentasche ihrer Jacke, filmte die Umgebung, und sorgte auf diese Weise dafür, dass nach diesem Einsatz – falls sie ihn überlebten – die Datenbank von Château Montagne weitere Informationen erhielt. Wer wusste schon, ob sie die Daten nicht bald benötigen würden? »Weiter hinten, wo sich die rote Felsnadel befindet. Die wurde in der letzten Minute ständig kleiner.«
Die Männer schauten in die angegebene Richtung. Beiden war die Betroffenheit anzumerken. »Der Planet löst sich auf«, sagte Tendyke und biss sich auf die Unterlippe. »Die Horde, die uns eben angriff, hat gerade noch das rettende Ufer erreicht und setzt ihre Flucht auf der anderen Seite fort. Das bedeutet, dass wir keine Möglichkeit besitzen, von hier zu entfliehen.« »Genau das meinte ich.« Nicole Duval steckte das TI-Alpha wieder ein und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. »Dann ergibt es einen Sinn, dass uns die Taschtwan angriffen. Sie hielten uns bestimmt für die Schuldigen an dieser Katastrophe.« »Konntest du ihre Gedanken lesen?«, erkundigte sich Zamorra. »Nein, das mit dem Angriff war eine Vermutung meinerseits«, gestand Duval. »Vorhin ging alles so schnell, dass ich mich mehr auf die Verteidigung konzentrierte als auf das Gedankenlesen der Taschtwan. Jetzt sind sie zu weit entfernt, als dass ich meine Gabe einsetzen könnte.« Sie spielte darauf an, dass sie zwar Gedanken lesen konnte, aber nur dann, wenn sie die betreffende Person sah. War auch nur eine Wand dazwischen, versagte ihre Telepathie. »Noch sind wir hier einigermaßen sicher«, gab Tendyke zu bedenken, »aber wer weiß, wie lange das anhält.« Er blickte bedauernd auf die Überreste der Regenbogenblumen. »Nicole sagte vorhin etwas von einem Weltentor. Wie wäre es, wenn wir damit von hier verschwinden?« »Sind wir nicht hierher gekommen, um ein Rätsel zu lösen, Rob?«, stellte Zamorra eine Gegenfrage. »Die Erschaffung eines Weltentors werde ich erst als letzte Chance nutzen. Und du weißt, warum.« Mittels seines Amuletts Merlins Stern sowie gewisser Beschwörungen war Zamorra in der Lage, ein Weltentor zu erschaffen, um dadurch auf einen anderen Planeten zu gelangen. Da ihn dies in der Regel extrem viel Energie kostete, wollte er diese Möglichkeit nur
im äußersten Notfall anwenden. »Zumindest gibt es hier keine Chaosstrahlung mehr«, merkte seine Gefährtin an. »Und das kann unter Umständen bedeuten, dass wir zu spät gekommen sind.« »Ich bin froh darüber, dass es keine Strahlung mehr gibt.« Tendyke hob den Stetson kurz an, fuhr sich durch die dunklen Haare und setzte den Hut wieder auf. »Allerdings würde es bedeuten, dass unser Objekt der Begierde entweder nicht mehr funktioniert, oder dass es weggebracht wurde.« »Du meinst gestohlen?« Duval zog die Nase kraus, die letzte Schlussfolgerung gefiel ihr nicht. »Das würde bedeuten, dass uns jemand voraus ist.« »Vielleicht hat derjenige auch gar nichts mit uns zu tun.« Tendyke hielt sich zurück, den Namen seines Erzeugers auszusprechen, stattdessen stieß er Zamorra an. Der Parapsychologe beobachtete die Silhouette der Blauen Stadt. »Hey, Prof, was meinst du dazu? Du bist so seltsam still.« Zamorra nickte, er deutete auf die Blaue Stadt. »Ich bin mir ganz sicher, dass ich eben einen Drois gesehen habe.« Robert Tendyke lächelte, nur sah er dabei fast so aus wie eine Schlange, die ein Kaninchen hypnotisieren will. »Dann sollten wir nichts anderes tun als hineingehen und den Drois die Ohren lang ziehen. Unseren zotteligen Freund lassen wir vorerst hier.« Sie gingen langsam auf die Blaue Stadt zu.
* Eine halbe Stunde zuvor »Malham, die Taschtwan verschwinden über den Steg Richtung Niemandsland.« Das war die Bezeichnung der Drois für das schmale Stück Oberfläche hinter den Regenbogenblumen, das der Zerstö-
rung Stand hielt. »Sie … Malham?« Theronn irritierte das letzte Wort von Sazhar. Er beugte sich ein seinem Kontursitz vor und fragte: »Was ist, Kommandant?« »Gerade eben materialisierten drei Menschen in den Transportblumen«, half Syrta ihrem Kollegen aus. »Und, Malham, wir kennen diese Drei.« Syrta gab einen Befehl in den Rechner ein. Drei kleinere Hologramme tauchten in Gesichtshöhe des Koryden auf. Der Computer meldete akustisch zu jedem Gesicht den passenden Namen: »Nicole Duval – tauchte letztes Mal auf Karenja auf.« Das Zweite Gesicht wurde hervorgehoben: »Robert Tendyke – tauchte in Louisiana und auf Karenja auf.« Theronn verzog das Gesicht, als er Tendykes Antlitz erkannte, beim dritten Namen jedoch verdunkelte sich alles vor seinen Augen: »Professor Zamorra – befand sich bei allen drei Del’Alkharams; in der Antarktis, in Louisiana und auf …« »Lass es sein, ich war überall dabei«, knurrte der Wächter. »Malham, ich bin erstaunt über die Chuzpe der Menschen, besonders von ihrem Anführer«, gestand Sazhar. »Und ich erst, Kommandant!«, brüllte der Koryde. Er stand auf und ballte die Hände zu Fäusten. »Noch nie habe ich eine solche Frechheit gesehen wie heute. Dieser Zamorra ist das Allerletzte, was mir je begegnete. Wir sollten ihn auf der Stelle erschießen!« »Noch ist das keine Kampfhandlung, Malham«, wagte Syrta einzuwerfen. Der Blick, den Theronn ihr zuwarf, war geeignet, einen Mammutbaum zu fällen. Syrta gab sich, als sähe sie es nicht. Die Drois hatten einen Teil ihres Respekts vor ihm verloren, erkannte der Koryde. Aber war das ein Wunder bei seinem derzeitigen Status? »Die Taschtwan kehren zurück und kämpfen gegen die Menschen«, berichtete Sazhar. »Ich sehe es selbst.« Theronn klang extrem erbost. Er setzte sich
wieder. Das Hologramm blendete um auf die Szene an den Blumen. Sazhar kommentierte das Verhalten seines Vorgesetzten mit dem kurzen Hochziehen beider Augenbrauen. Er sprach weiter als wäre nichts geschehen: »Tendyke besitzt eine Art Flammenpeitsche, damit entzündet er die Regenbogenblumen. Außerdem verbrennt er einen der Taschtwan damit.« Theronn stand erneut auf. Er schaute das Hologramm an und griff mit den Händen nach oben, gerade so, als wollte er in das Bild hineinkriechen. »Ist der wahnsinnig, die Blumen zu verbrennen? So kommt er nicht mehr zurück!« Die Drois sahen ihn fragend an, reagierten aber nicht weiter. »Wenn dieser Narr die Transportblumen verbrennt, hat er vor, hier zu bleiben und die Del’Alkharam zu entern«, erklärte der Wächter seinen Zornanfall. »Anders kann es doch gar nicht sein. Dieser Tendyke ist mit weitem Abstand der verrückteste unter allen Leuten, die ich je kennengelernt habe.« »Es sah aus, als hätte er das nicht absichtlich gemacht«, entfuhr es Sazhar. Theronn blieb stehen, als hätte er einen Stock verschluckt. Er drehte sich langsam zum Anführer der Drois um und musterte ihn eingehend. »Kommandant, es ist weder Ihre noch die Aufgabe Ihrer Stellvertreterin, mich ständig zu kritisieren oder zu verbessern«, sagte er langsam und leise zugleich. Beide Drois ballten die rechte Hand zur Faust und legten sie gegen den Brustkorb als Zeichen ihres Gehorsams. »Wir erwarten Ihre Befehle, Malham«, sagte Sazhar als der Ranghöhere. »Funken Sie die Schwebeplatte an. Die Drois sollen auf der Stelle zurückkommen und die Datensammlung beenden. Sobald sie hier sind, werden wir die Del’Alkharam an ihren Bestimmungsort ver-
setzen.« Theronn begann unruhig im Raum auf und ab zu laufen. »Ich setze Sarn unverzüglich in Kenntnis, dass der Einsatz vorbei ist. Ich habe ihn schon beim letzten Gespräch darauf vorbereitet, dass es nicht mehr lange dauert«, gestand Syrta. »Er hat insofern reagiert, dass die Schwebeplatte sich schon auf dem Rückweg befindet.« »Aber bevor wir diesen Ort verlassen, werde ich mit diesem Zamorra reden.« Zum ersten Mal, seit er sich innerhalb der Blauen Stadt befand, funkelten die Augen des Wächters. »Ich werde dieses Stück Dreck so fertig machen, dass er sich hinterher freiwillig das Leben nimmt.« Sobald die Del’Alkharam verschwunden ist, wird sich die Zerstörung ohnehin ausbreiten. Spätestens dann ist es mit ihm vorbei. Daran, dass er vielleicht selbst nicht so lange leben könnte, wie er Zamorra zugestand, wollte der Wächter nicht denken. »Malham, kein Zweifel, die Menschen bewegen sich auf die Del’Alkharam zu«, meldete Sazhar. »Ich dachte zuerst, dass nur dieser Tendyke allein so paranoid wäre«, gestand Theronn. »Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Der Wahnsinn scheint der Menschheit in den Genen zu liegen.«
* Es befand sich noch ein Wesen in der Blauen Stadt, eins, von dem weder Theronn noch Zamorra wussten, dass es noch existierte. Die beiden Kontrahenten hatten durch einen Bericht von Robert Tendyke von diesem namenlosen Geistwesen gehört, aber beide nahmen an, dass es sich nicht in dieser Blauen Stadt aufhielt. Dabei hatte der Durchsichtige damals dafür gesorgt, dass Sarn zur Erde floh und Hilfe gegen die Chaosstrahlung holte – was leider in einem Fiasko geendet war. Im Gegensatz zur Stadt in den Bayous von Louisiana zeigte der Durchsichtige sich dem Sohn des Asmodis nicht auf Ka-
renja. Als die Drois die Stadt vor einem halben Jahr verlassen hatten, dachte der Durchsichtige zuerst an Flucht, da ihn die Chaosstrahlung fast um den Verstand brachte, doch schlussendlich war er hiergeblieben, denn aus bestimmten Gründen konnte er sich nur dort aufhalten, wo sich eine Blaue Stadt befand. Der Durchsichtige wollte zuerst nicht glauben, dass Tendyke, der Mann mit der schwarzmagischen Ausstrahlung, noch einmal hergekommen war. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sie sich noch einmal begegnen würden, schätzte er als nicht sehr hoch ein. Er hatte den Abenteurer – dessen Para-Begabung es war, Geister zu sehen, als seien sie körperlich vorhanden – zweimal als Mittel zum Zweck missbraucht, damit sollte es für ihn genug sein. Bei ihrer zweiten Begegnung antwortete er dem Asmodissohn auf dessen Frage, wer er sei, mit: Eine verlorene Seele. Dass diese Aussage nur halb zutraf, musste Tendyke ja nicht wissen, denn der Durchsichtige bestand aus weit mehr als nur einer Seelenkomponente. Vor Kurzem erst hatte er ein Lebewesen auf Karenja entdeckt, das bis ins Zentrum der Stadt vorgedrungen war und sich an der siebeneckigen Pyramide im Zentrum zu schaffen gemacht hatte. Das Wesen war wieder verschwunden, und gleich darauf hatte die Chaosstrahlung aufgehört. Der Durchsichtige hatte den Fremden anhand seiner Ausstrahlung erkannt, doch nie hatte er für möglich gehalten, dass ausgerechnet er hätte kommen können. Wie erstaunt war er dann gewesen, als die Chaosstrahlung wirklich von einer Sekunde auf die andere verschwunden war! Und welch eine Wohltat war es, diese Tortur hinter sich zu haben! Er konnte sich wieder überall in der Blauen Stadt bewegen, und das tat er dann auch ausgiebig. Der Schock kam, als er gleich am nächsten Tag einen Ausflug an den Stadtrand machte und über die Grenze blickte. Genau dort, wo
die Stadt den Planeten berührte, schien das blanke Gestein zu kochen und sich aufzulösen. Die Vegetation verschwand ebenfalls, auch die Tiere, die sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen konnten. Überall stieg Rauch zum Himmel empor, die Zerstörung setzte sich unaufhaltsam und in großem Tempo fort. Er war ratlos, denn das hatte er noch nie erlebt. Weder vorher, als er noch viele gewesen war, noch beim Tod einer Komponente in Peru. Mit jedem Tag wuchs seine Angst, dass das Nichts auch auf die Blaue Stadt übergreifen könnte. Die Rückkehr der Drois und der nachfolgende Testlauf zur Versetzung der Del’Alkharam erfüllten den Durchsichtigen mit Aufregung. Und dass sich der Sohn des Teufels jetzt auch hier aufhielt, gab ihm zu denken. Sollte Theronns Vermutung wirklich zutreffen, dass die Menschen die Blaue Stadt einnehmen wollten?
* Irgendetwas war anders als sonst. Sara Moon hatte die räumliche Versetzung mittels ihrer Druidenkräfte nur auf wenige Hundert Meter vom Gehöft entfernt angesetzt, um sich dort zu orientieren und gleich danach von Avalon zu verschwinden. Sie fühlte sich, als würden sie und ihre beiden Begleiter mitten aus der Versetzung gerissen. Es war der gleiche Vorgang wie schon Tausende Male vorher erlebt, und dennoch erschien er ihr fremd. Etwas war während der Versetzung passiert. Sie kamen nicht am gewünschten Ausgangspunkt heraus, mitten im Winterbereich, sondern in der Siedlung, in der sich die meisten Priesterinnen aufhielten. Hier herrschten nicht dichtes Schneetreiben und Permafrost vor, wie auf dem Gehöft. Sara war erstaunt, als sie mitten in einer südländisch anmutenden Landschaft materialisierten. Um sich und ihre
beiden Begleiter standen mindestens 30 Priesterinnen. Sie kannte sich aus, war schon oft hier gewesen und hatte sich manchmal mit den Priesterinnen unterhalten. Stets waren die Gespräche voll Höflichkeit und gegenseitigem Respekt verlaufen, zu ein oder zwei Priesterinnen hatte Sara sogar Freundschaft verspürt. All das, was ihr Verhältnis bisher ausgezeichnet hatte, fehlte heute. Höflichkeit und Freundschaft suchte Sara Moon in diesen Augenblicken vergebens. Die Druidin hielt ihre Hand in der Mähne des Einhorns verkrallt, als wollte sie es nie mehr loslassen. Eva hingegen saß auf dem weißen Fabelwesen, sie beugte sich etwas nach vorne und klammerte ihre Ärmchen, soweit sie reichten, um den Hals ihres Reittiers. »Die gucken aber böse, Sara«, entfuhr es dem Mädchen. »Ich will die gar nicht sehen.« Wenn’s nach mir ginge, würde ich das am liebsten auch nicht, dachte Sara Moon. Aber darauf werden die Priesterinnen keine Rücksicht nehmen. Genauso war es. Die heiligen Frauen kamen näher und verkleinerten den Kreis um die Ankömmlinge wider Willen. Sara blickte sich um, doch sie konnte keine Lücke erkennen, durch die sie entkommen könnten. Die Priesterinnen blickten die Ankömmlinge stumm an. Sie verschränkten die Arme vor dem Oberkörper und ließen stattdessen ihre Blicke sprechen. Nur besagten die wahrlich nichts Gutes. »Die Herrin vom See sagte mir, dass eine unerwünschte Person auf Avalon weilt«, unterbrach die schneidende Stimme der Oberpriesterin die Stille. »Sie sagte mir fernerhin, dass das der unerwünschten Person auch schon mitgeteilt wurde. Du weißt, von wem ich rede?« Eva sah ihre Schwester an und zog das Genick ein. Sie versuchte sich auf dem Einhorn so klein wie möglich zu machen. Das Mädchen spürte genau, dass es bei dem folgenden Gespräch um viel ging.
»Ich habe ein sehr schlechtes Kurzzeitgedächtnis, Valantia«, antwortete Sara Moon. »Aber wenn du mich so nett fragst …« »Fast alle Mitglieder deiner Sippe haben es in der letzten Zeit perfekt verstanden, es sich mit der Herrin vom See zu verscherzen.« Der Blick und die Stimme der Oberpriesterin bekamen etwas Lauerndes. »Das gibt uns zu denken, und es sollte dir auch zu denken geben. Dein Onkel Asmodis ist nicht sehr beliebt in unseren Reihen, dein Vater hätte unsere Schwester nicht berühren dürfen, und du hast mit deinen letzten Aktionen sämtliche Sympathiepunkte verloren.« »Bleiben noch mindestens meine Halbschwester Eva und mein Cousin Robert Tendyke übrig«, überlegte Sara laut. »Roberto ist ein Sonderfall«, bekannte Valantia. »Genauso wie das ehemalige Kind der Schande.« »Solange die Betonung auf ehemalig liegt, bin ich zufrieden.« Moon klang schnippischer, als sie es wollte – und für ihre Situation gut war –, aber das arrogante Verhalten der Oberpriesterin ging ihr gegen den Strich. »Ich lege meine Betonungen auf was ich will, und das solltest du akzeptieren, wenn du klug bist.« Nie hatte Valantias Stimme frostiger geklungen. Eins zu null für dich. »Woher wusstet ihr, dass ich Eva zu mir holen will?«, erkundigte sich Moon. »Die Weisheit der Herrin vom See übertrifft alles, was du dir nur vorzustellen vermagst«, lautete die schwammige Antwort. Sara biss sich auf die Unterlippe, angesichts der Übermacht wollte sie sich zu keiner weiteren bissigen Aussage hinreißen lassen. Es war besser zu versuchen, im Guten aus dieser Geschichte herauszukommen. »Das weiß ich, Valantia, aber ich meinte, wie das im Einzelnen abgelaufen ist«, erklärte sie mit ruhiger Stimme. »Niemand konnte wissen, ob und wann ich wiederkomme.«
»Das stimmt, aber wir rechneten schon lange damit, dass du Eva wieder mit zu dir nehmen willst. Wir kennen dich besser, als du denkst, Merlinstochter.« Das glaubst du aber auch nur. »Unsere Schwestern, die als Ammen für Eva da waren, stehen selbstverständlich mit uns in Verbindung.« Du kannst mich selbstverständlich gern haben. »Auch diejenige, die Eva verstümmeln wollte. Was zum Glück nicht geklappt hat, ebenso wenig der Mordversuch des Einhorns bei der andern Schwester.« Bei diesen Worten schaute Valantia das Mädchen scharf an. Eva drehte den Kopf etwas zur Seite und verbarg das Gesicht in der Mähne ihres Einhorns. »Es stimmt, dass ich meine Schwester zu mir holen will«, gestand Sara Moon. »Aber dabei sollte niemand ein Leid geschehen. Was passiert ist, tut mir von Herzen leid. Ich bin mir bewusst, dass die Priesterinnen meinen Dank verdient haben.« »Und weshalb kommst du dann heimlich wie eine Diebin in der Nacht?« Sara presste die Lippen aufeinander. Eine Sekunde lang war sie versucht, eine Ausrede zu erfinden, doch dann entschloss sie sich, die Wahrheit zu sagen. »Avalon ist in einer Veränderung begriffen und ich habe Angst davor, dass mir meine Schwester fremd wird. Ich fürchte mich außerdem vor dem, was mit Avalon geschieht.« Valantia spürte, dass ihre Kontrahentin ehrlich war. »Dann nimm deine Schwester mit dir, Merlinstochter«, sagte sie. »Wir sind froh, dass wir diese Bürde los sind. Ihr habt ab sofort etwas gemein. Ihr seid beide nicht mehr auf Avalon erwünscht. Du, weil du die Herrin vom See mehr als einmal erzürntest, und Eva, weil sie eine unserer Schwestern verstümmeln wollte. Sie speichert Magie und gibt sie im falschen Augenblick gegen die falsche Person ab. Das können wir nicht dulden.«
Ach, leck mich doch am Arsch. »Verschwindet auf der Stelle von hier, Merlintöchter, und kommt nicht wieder zurück«, forderte Valantia. »Und zögert nicht, denn sonst verfluche ich euch. Und was ein Fluch der Herrin vom See vermag, dafür ist eurer Vater das beste Beispiel. Wir wollen euch nicht mehr hier sehen.« Sie drehte sich um und ging davon, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Die Priesterinnen folgten ihr, ohne dass eine sichtbare Aufforderung gegeben wurde. Eva drehte den Kopf etwas zur Seite und schaute Sara aus einem Auge an. »Die war aber auch böse, gell?«, fragte sie. Was haben wir für ein Glück gehabt. Sie hätte noch sehr viel böser werden können. Sara streichelte ihrer Schwester über die Wange und nickte. »Ja, das war sie. Aber jetzt hält uns hier nichts mehr. Komm, wir gehen heim.« Und sie versetzte sich mit ihrer Schwester und dem Einhorn. Diesmal hinderte sie niemand daran,
* Professor Zamorra und seine beiden Begleiter hatten gerade die ersten Schritte zur Blauen Stadt hinter sich gebracht, als sie ein Stöhnen hinter ihren Rücken vernahmen. »Unser Zottel hat ausgeschlafen!«, sagte Robert Tendyke, noch bevor er sich umdrehte. »Er ist ein Taschtwan, und nicht anders sollten wir ihn nennen«, forderte Nicole Duval. Sie drehte sich um und sah, wie sich der alte Taschtwan auf den Bauch rollte und versuchte, aufzustehen. Das gelang ihm jedoch erst nach dem fünften Versuch. Die drei Menschen liefen die wenigen Meter zurück zu dem ge-
schwächten Wesen. Es war zwar um einiges kleiner als seine Artgenossen, aber immer noch mindestens zwei Köpfe größer und dementsprechend auch um einiges schwerer als Zamorra und Tendyke. Der Meister des Übersinnlichen verhielt sich dementsprechend vorsichtig. Seine Gefährten stellten sich neben ihn und betrachteten den schwankenden Taschtwan. »Wie geht es dir?«, fragte der Parapsychologe. Er wusste seit den Vorkommnissen vor einem halben Jahr, dass ihn die Fremden verstehen konnten. Zusätzlich las Nicole Duval die Gedanken des Alten, sie hoffte das Versäumnis von vorhin wieder wettmachen zu können. »Du willst das nicht wissen, es geht dich auch nichts an«, antwortete der alte Taschtwan abweisend mit gutturaler Stimme. »Zumindest nicht dann, wenn du mich umbringst.« »Ich heiße Zamorra, das sind Duval und Tendyke«, erklärte der Dämonenjäger und zeigte auf seine Gefährten. »Sagst du uns deinen Namen?« Ein böser Blick aus dunklen Augen und Schweigen waren die Antwort auf die Frage. »Ch’doun!«, sagte Nicole Duval. »Er wird Ch’doun genannt und ist das älteste Mitglied seiner Horde.« Der Alte zuckte zusammen, er sah zutiefst erschrocken aus. Er verzog die Lefzen, es sah aus, als wollte er Duval beißen. »Woher weißt du das?«, knurrte Ch’doun. Er wich zurück, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. »Kannst du etwa meine Gedanken lesen, Duval Rothaar?« Nicole zuckte die Schultern, im gleichen Augenblick wurde ihr bewusst, dass der Taschtwan nichts mit der Geste anfangen konnte. »Die Gedanken anderer Wesen liegen offen vor mir«, bestätigte sie. »Aber nur dann, wenn diese Wesen nicht mit uns reden wollen. Wer unsere Fragen beantwortet, hat nichts zu befürchten.«
»Du hast Ch’darn getötet!«, bellte der Fremde Tendyke entgegen. »Warum?« »Ihr wolltet uns angreifen, wir haben uns verteidigt«, entgegnete der Sohn des Teufels. »Außerdem wollte ich deinem Freund nichts tun, ich bin ihm ausgewichen.« »Ch’darn war nicht mein Freund, er war viel mehr für mich«, sagte Ch’doun mit brüchiger Stimme. »Er war der Sohn meines Bruders.« Die Menschen sahen sich betroffen an. Robert Tendyke biss sich auf die Unterlippe. Wenn sie etwas erfahren wollten, mussten sie richtig reagieren. »Es tut mir leid, dass dein Neffe durch meine Hand starb«, begann der Chef der Tendyke Industries. »Aber wir wollen keinen Kampf auf Leben und Tod. Wir kamen hierher, weil wir etwas suchen.« »Wir wollten keinem Taschtwan etwas zuleide tun.« Zamorra übernahm das Gespräch, damit Ch’doun von Tendyke und Duval abgelenkt wurde und Letztere ihre telepathischen Fähigkeiten spielen lassen konnte. »Aber du musst zugeben, dass ihr uns angegriffen habt. Wir verteidigten uns nur. Und jeder hat gesehen, dass Tendyke die Flammenpeitsche zur Seite hielt, damit Ch’darn nichts passieren sollte. Es ist bedauerlich, dass dein Neffe dadurch zu Tode kam, aber leider nicht mehr zu ändern.« Ch’doun fauchte die Menschen an, Zamorra nahm an, dass es Trauer und Hilflosigkeit darstellen sollte. »Stellt eure Fragen, damit ich euch nicht mehr lange ertragen muss«, bellte der Alte sie an. Nach kurzer Zeit wussten sie, dass Ch’douns Horde sie angriff, weil sie glaubten, dass die Dämonenjäger an der Zerstörung dieser Welt Schuld hatten. Der alte Taschtwan erzählte, dass die Chaosstrahlung seit kurzer Zeit nicht mehr existierte und gleich danach die Zerstörung angefangen hatte. Zamorra und seine Begleiter konnten daraus nur schließen, dass beide Ereignisse in einem zeitlichen Zu-
sammenhang standen. Ch’doun warnte sie als Letztes noch davor, sich der Stadt zu nähern, da eine Berührung mit der Außenwand tödlich war. Nicole Duval nickte dazu, alles, was der Alte ihnen erzählte, schien zu stimmen. Nach Beantwortung der letzten Frage drehte sich Ch’doun um. »Ich habe euch nichts mehr zu sagen«, knurrte er. »Jetzt hat der Planetenfraß bald auch uns erreicht.« »Dann komm mit uns«, forderte Nicole, doch der Alte reagierte nicht. Zamorra, Duval und Tendyke machten sich erneut bereit, zur Blauen Stadt zu gelangen. Sie hielten Ausschau, ob sie den Drois wieder sehen würden, dabei bemerkten sie nicht, dass Ch’doun fortging und sich auf dem kürzesten Weg dem Rand des Planetenfraßes näherte. Dort angekommen ließ er sich einfach in die Tiefe fallen. Beim Aufprall, über fünfzig Meter tiefer, war er sofort tot. Nicole Duval konnte seinen telepathischen Todesschrei nicht vernehmen, da sie sich außerhalb seiner Sichtweite befand.
* Mit jedem zurückgelegten Meter erschien ihnen die Blaue Stadt strahlender. Von Weitem schon erschien sie den Menschen als einzigartig und unglaublich, nun, nur wenige Meter vom abgesperrten Stadtrand entfernt, empfanden sie erst richtig die atemberaubenden Größenverhältnisse. Wer war schon so wahnsinnig und transportierte eine kompakte Stadt mit vielen Quadratkilometern Fläche auf einen weit entfernten Planeten? »Diejenigen, die dafür sorgen, dass die Stadt wieder an ihren Platz kommt, müssen einen genauso großen Sprung in der Schüssel haben«, sagte Zamorra. »Wir sollten nicht zu nahe herangehen«, warnte Robert Tendyke.
»Davor warnte uns unser neuer Zottelfreund.« Er blickte sich um, konnte Ch’doun aber nicht mehr erkennen. Woher sollte er auch wissen, dass sich der alte Taschtwan gerade in die Tiefe gestürzt hatte? »Das sieht aus wie eine Mischung aus Metall und Kunststoff«, murmelte Nicole Duval, als sie die Stadtrandabsperrung genauer in Augenschein nahm. Dabei vergaß sie die Warnung des Alten nicht, sich auf keinen Fall näher als auf eine Taschtwanlänge heranzutrauen. »Ich …« »Ich habe euch erwartet«, hallte eine Stimme aus der Blauen Stadt über die Ebene. Die Menschen blickten sich um, doch den Sprecher sahen sie nicht. Ein überlebensgroßes Hologramm erschien am Eingang zur Blauen Stadt. Es mochte um die fünf Meter groß sein und zeigte den korydischen Wächter der Del’Alkharam. »Theronn!«, hauchte Zamorra, als er den Sprecher erkannte. Er musste zweimal hinsehen um sich zu vergewissern, dass es sich wirklich um den Koryden handelte, den er schon kennengelernt hatte. Der Wächter hatte sich sehr zu seinem Nachteil verändert, er war extrem abgemagert und sah um mindestens fünfzig Jahre älter aus als bei ihrem letzten Zusammentreffen. »Ich freue mich genauso, dich zu sehen, mein lieber Freund«, sagte Theronn mit ätzendem Spott. Besonders das letzte Wort betonte er auffällig stark. »Genauso intensiv begrüße ich die liebreizend dumm-naive Nicole Duval und den geistig inaktiven Robert Tendyke.« »Fragt sich nur, wer hier nicht ganz bei Trost ist«, knurrte der Chef der TI. Der Wächter beachtete die Worte nicht, es war deutlich zu erkennen, dass er unter großer Anspannung stand. Er hustete, seine Augen tränten. »Diese Del’Alkharam wird in kurzer Zeit an ihren Bestimmungs-
ort versetzt«, verriet Theronn, und ihm war der Triumph darüber deutlich anzuhören. »Ihr habt also noch ein bisschen Zeit, ehe ihr euer mieses, erbärmliches Dasein aushaucht. Ihr habt es euch nämlich sehr verdient, erbärmlich zu verrecken! Besonders du, Zamorra!« »Theronn, was …« Der Meister des Übersinnlichen fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. Was war auf einmal mit dem Koryden los? »Sei still!«, brüllte der Wächter seinen unglaublich großen Zorn hinaus. Er hatte die Lautstärke extra hochstellen lassen, um die Menschen einzuschüchtern. Die drei Gefährten hielten die Hände gegen die Ohren, dennoch verstanden sie jedes Wort überdeutlich. »Ich habe schon sehr viele Wesen im Laufe meines langen Lebens kennengelernt, Zamorra, aber du bist das größte Stück Dreck, das mir jemals begegnete. Keiner kann einen mit Worten so umgarnen wie du, aber ich habe schon bei unserem ersten Zusammentreffen gewusst, dass ich dir noch nicht einmal eine Fingerbreite weit trauen darf.« »Bist du jetzt fertig?«, rief Zamorra. Er trat mehrere Schritte zurück, denn er konnte das große Gesicht im Hologramm kaum mit einem Blick erfassen. »Mit dir bin ich noch lange nicht fertig, du größter Kretin, der jemals zwischen den Sternen reiste!«, schrie Theronn, seine Stimme überschlug sich fast. Seine Augen schienen aus den Höhlen zu quellen. »Dass deine Begleiter, oder sollte ich besser sagen, Untergebenen, nur von dir beredet werden, deine Ziele zu erfüllen, bemerkte ich schon bei unserem ersten Treffen mit dem Silbermond-Druiden in der Antarktis. Aber dass du zu so etwas imstande bist, habe selbst ich nicht gedacht. Wie tief kann ein Wesen sinken, dass es einen ganzen Planeten zerstört?« »Ich … was?« Zamorra wollte nicht glauben, was er soeben hörte. »Bist du taub? Soll ich es noch einmal wiederholen?«. brummte
Theronn. »Einmal nur für dich, mein lieber Freund: Wie tief kann ein Wesen sinken, dass es einen Planeten zerstört?« »Bist du wahnsinnig?«, ereiferte sich der Meister des Übersinnlichen. »Ich habe noch nie einen Planeten zerstört! Wie käme ich dazu? Selbst wenn ich wollte, könnte ich das nicht schaffen.« »Dann sieh genau zu«, forderte der korydische Malham. »Ich bin gespannt, mit welcher Ausrede du kommst, nachdem du meine Beweise gesehen hast.« »Beweise?« Zamorra war außer sich vor Zorn. »Welche Beweise? Was redest du für einen Unsinn?« Die Szene auf dem überlebensgroßen Hologramm wechselte. Theronns Gesicht verschwand und machte der siebeneckigen Pyramide im Zentrum der Del’Alkharam Platz. Auffällig war, dass sich niemand hier aufhielt, noch nicht einmal einer der rollenden Putz- und Arbeitsroboter. Selbst die Maschinen konnten nicht unter der Chaosstrahlung arbeiten. Die Kameraeinstellung wechselte, der Film wurde eindeutig von mehreren Drohnen aufgenommen. Ganz oben auf der Zentrumspyramide sahen sie nur ein schwarzrot schimmerndes Gebilde, dessen Inneres wie Wasser bei starkem Wind umherschwappte, aber die Form dieses Dings konnten sie nicht erkennen. Mit einem Mal erschienen Menschen, Drois und Arbeitsroboter im Kampf gegen die Taschtwan. Darunter waren Tendyke und Zamorra deutlich zu erkennen. Sie kamen nicht gegen die Chaosstrahlung an und zogen sich zurück. Ganz kurz waren auch Monica Peters und Nicole Duval zu sehen. »Dies wurde bei eurem letzten offiziellen Besuch aufgenommen«, ertönte Theronns Stimme aus dem Off. »Und jetzt passt auf!« Auf den nächsten Szenen verschwanden die Drois, es herrschte wieder Ruhe vor. Kein Lebewesen war zu erkennen, bis … … Professor Zamorra wie aus dem nichts erschien, einfach so, als
wäre er teleportiert. Er lief den Vorplatz entlang und als er das Objekt seiner Begierde gefunden hatte, blieb er stehen und verbeugte sich. Dann schloss er die Augen und breitete die Arme aus. Es wirkte gerade so, als würde er ein Heiligtum anbeten. »Das bin nicht ich!«, behauptete Zamorra mit einer unglaublich heiseren Stimme. Er wollte nicht glauben, was er sah. Das war doch nicht er selbst! Sein Abbild auf dem Hologramm öffnete die Augen wieder und stellte sich direkt vor die Pyramide. Dann schwebte er langsam empor, bis er kurz vor dem Ende in der Luft stehen blieb. Er streckte die Hand nach dem schwarzrot schimmerndem Ding aus, doch es bereitete ihm Mühe dranzukommen. »Bei allem, was mir heilig ist«, stammelte der Original-Zamorra. »Aber das habe ich nie im Leben gemacht!« Sein Ebenbild auf dem Holo machte es schwer, ihm das zu glauben. Dieser Zamorra streckte sich, um näher an das Objekt zu kommen. Er ließ seinen rechten Arm fast einen halben Meter wachsen, dennoch erreichte er das Ding nicht, das für die Chaosstrahlung verantwortlich war. »Ein schöner Trick, Zamorra«, gab Theronn zu, »aber das war noch nicht der Höhepunkt deiner Vorstellung, der kommt nämlich gleich.« Der Arm wuchs weiter, bis er das Gefäß fast erreichte, dann löste sich die rechte Hand vom Handgelenk und schwebte unter das Behältnis, in dem sich das Objekt befand. Die Hand schwebte mitsamt der Beute zurück und verband sich mit dem Gelenk. Zamorras Augen leuchteten auf wie schwarze Edelsteine. Er hielt seine Beute, groß wie ein Präsentkorb, vor die Brust gepresst und ließ sich wieder auf den Boden sinken. Er drehte sich um und verschwand mitten während des Laufens. »Und da wagst du es, mir vorzulügen, du wärest das nicht!«, donnerte Theronns Stimme über die Ebene. »Möchtest du so bescheiden
erscheinen? Jeder andere würde sich mit einer solchen Tat brüsten, zumindest das muss ich dir zugestehen.« »Weshalb sollte ich das tun? Ich war das wirklich nicht«, behauptete Zamorra zum wiederholten Mal. »Ich …« »Meine Auftraggeber sind damit hochzufrieden, dass dieses Ding verschwand«, gab der Wächter zu. »Aber mit den Folgen, die das heraufbeschwor, können wir nicht zufrieden sein.« Eine weitere Szene erschien auf dem Holo, dieses Mal war die Blaue Stadt von außen zu sehen. Durch Heranzoomen wurden Einzelheiten auf dem Boden sichtbar gemacht. War eben noch festes Gestein zu sehen, so erschienen eine Sekunde darauf Bläschen auf den Felsen. Man konnte regelrecht zusehen, wie die Landschaft zentimeterweise verschwand. »Wir haben den Zeitpunkt verglichen, Zamorra.« Theronn hörte sich an als wäre er ein Richter, der kurz vor der Urteilsverkündung steht. »Und weißt du, was wir feststellten? Die Zerstörung der Umgebung geschah in genau dem Augenblick, in dem du dieses Ding mitnahmst.« »Ich war das nicht!«, wehrte sich Zamorra vehement. Er hatte zwar eine Ahnung, wer derjenige gewesen sein konnte, der sich dort in der Aufzeichnung als er selbst ausgegeben hatte, doch wie sollte er Theronn das nur beweisen? »Das war jemand anders! Wie oft soll ich es noch sagen?« »Egal, wie oft du deine Unschuld beteuerst, ich glaube dir nicht!«
* Es ist unglaublich. Weshalb wartet Theronn nur so lange mit der Versetzung der Blauen Stadt?, fragte sich der Durchsichtige. Und das alles nur, damit er seine Egozentrik befriedigen kann? Ohne jeden Zweifel hätte der Wächter die Rückkehr der Schwebeplatte forcieren können. Aus welchem Grund benötigten die Auf-
traggeber des Koryden so viele Daten zum Planetenfraß? Der Durchsichtige erkannte, dass es dem Malham darauf ankam, mit Zamorra und Tendyke abzurechnen, und dass er deshalb bereit war, den Zeitplan ein wenig in seinem eigenen Sinn zu interpretieren. Was er nicht wusste, war, dass Theronn einen zweiten Grund dazu besaß, die räumliche Versetzung um einige Minuten zu verzögern. Der Wächter wollte die letzten Minuten genießen, die ihm für seine Aufgabe und den Abgang blieben. Der Durchsichtige nahm Kontakt mit Theronns Bewusstsein auf, natürlich so, dass der Wächter nichts von dem ungebetenen Gast in seinem Inneren mitbekam. Mit sanften, kaum bemerkbaren Impulsen versuchte er, den Malham dazu zu bringen, das Gespräch mit Zamorra so schnell wie möglich abzubrechen. Theronn bemerkte nichts von der Beeinflussung, denn er stand unter starken Medikamenten, nach deren Einnahme ihm stets übel wurde. Er glaubte, dass es seine eigenen Entscheidungen wären, nicht die eines Geistwesens, das aus mehreren Komponenten bestand. Wenn schon, dann sollten sich die Drois auf der Schwebeplatte um die Menschen kümmern. Der Durchsichtige litt unter Spätfolgen der Chaosstrahlung, denn er hielt Zamorra und seine Gefährten allen Ernstes für fähig, die Blaue Stadt einnehmen zu wollen. Dabei waren sie nicht halb so verrückt, wie Theronn und der Durchsichtige sie sahen.
* »Aber ich glaube ihm«, mischte sich Robert Tendyke in das Gespräch ein. Der Abenteurer stand noch ganz im Bann des Gesehenen. »Du hast nämlich etwas vergessen, Wächter, zwei Dinge die Zamorra von seinem Doppelgänger unterscheiden.«
»Ach, und was sollte das wohl sein?«, höhnte Theronn. Sein Husten wurde schlimmer. »Der Zamorra, den wir im Holo sahen, kann seinen Arm fast auf doppelte Länge dehnen, außerdem besitzt er eine künstliche Hand, die er offenbar werfen kann. Und ich wette, dass er sie etwa einen Gedanken weit werfen kann. Das kann mein Gefährte beides mit absoluter Sicherheit nicht«, stellte Tendyke klar. »Aber wir wissen, wer LUZIFERS Träne raubte und für diese größte aller Katastrophen, die ich je sah, verantwortlich ist.« Zamorra hielt die rechte Hand in die Höhe und streifte den Jackenärmel zurück. »Hier, damit du siehst, dass ich keine Prothese trage.« Mehr sagte er nicht. Das Gesicht des Wächters erschien wieder auf dem Holo. »Wenn du unbedingt darauf bestehst, sorgen wir dafür, dass du bereit bist, eine Prothese zu empfangen. Abgesehen davon, selbst wenn du nicht der Täter sein solltest, seid ihr alle drei zu bestrafen, denn ihr kennt den Schuldigen«, forderte er. »Bisher wusste niemand von uns von einer künstlichen Hand, die man einen Gedanken weit werfen kann. Und der Begriff LUZIFERS Träne für dieses Ding ist weder mir noch irgendjemand sonst im Sonnenreich Almoth bekannt. Für mich bist du der Schuldige, Zamorra.« »Der Schuldige ist Asmodis, der ehemalige Fürst der Finsternis«, verriet Nicole Duval. »Er stand einst an der Spitze der Höllenhierarchie und ist seit einiger Zeit Diener des Wächters der Schicksalswaage. Vor vielen Jahren schlug ich ihm auf der Welt Ash’Naduur die rechte Hand ab, kurz danach erhielt er eine künstliche Hand, eben jene, die er …« »… einen Gedanken weit werfen konnte?«, vervollständigte Theronn den Satz. Er hustete und konnte sich fast nicht mehr beruhigen. »Nicht nur das. Die Art, wie er hier ankam und wieder verschwand, erinnert mich an die Benutzung einer Para-Spur.«
Para-Spuren bestanden zwischen den meisten magischen Orten der verschiedensten Welten und Unterwelten. Nur wenige Wesen konnten die Para-Spuren benutzen, um in ihnen an den gewünschten Zielort zu reisen. »Das wäre es zwischen uns«, sagte Theronn. »An eurer Stelle würde ich von hier so schnell wie nur möglich verschwinden. Die Del’Alkharam wird gleich anschließend an ihren Bestimmungsort versetzt, und es wäre nicht sehr ratsam, in der Nähe zu verweilen. Es ist nur euer Pech, dass jede Verbindung an die zumindest zeitweise rettenden Kontinente abgebrochen ist.« »Ich glaube, du spinnst, Wächter!«, rief Robert Tendyke. Sein Gesicht war zornesrot. »Du kannst uns doch nicht hier zurücklassen! Die Blaue Stadt trotzt hier als einziges der Auflösung. Nur in ihr sind wir sicher. Noch dazu wird es bald dunkel. Ich verlange Einlass für mich und meine Gefährten.« Aus dem Hintergrund hörten die Menschen die Meldung, dass die Schwebeplatte gleich zurück wäre. Gleich darauf sahen sie auch schon etwas silbernes am Himmel auftauchen. »Es tut mir ja fast leid für euch«, lehnte Theronn die Forderung mit süffisantem Grinsen ab. »Aber ein Aufenthalt in der Del’Alkharam während der Versetzung wäre euer ebenso schneller wie sicherer Tod. Und ihr wollt doch bestimmt etwas vom Sterben haben.« »Und wohin können wir fliehen?«, fragte Zamorra. »Die Regenbogenblumen existieren schließlich nicht mehr.« »Ja, das war ganz übel von Tendyke, dass er in seiner Dummheit die Blumen vernichtet hat.« Erneut musste der Wächter husten, dennoch hörte man den Sarkasmus deutlich heraus. »Aber weißt du was, Freund Zamorra? Es ist mir egal, was aus euch wird.« Gleich darauf erlosch das Hologramm. »Ist der Idiot denn jetzt total irregeworden?« Robert Tendyke kochte innerlich vor Zorn. »Der kann uns doch nicht so einfach abservieren.«
»Robert, bitte beruhige dich.« Zamorra berührte den Abenteurer am Unterarm. Tendyke zuckte zurück und blickte seinen Freund böse an. »Wir verlassen besser diesen Ort«, sagte der Meister des Übersinnlichen. Er bemerkte, dass der Chef der Tendyke Industries mit einem Mal wie aufgeladen war. »Ich muss mich konzentrieren, damit ich ein Weltentor erschaffen kann.« »So kann der Idiot nicht mit uns umgehen!«, schrie Tendyke und ballte die Hände zu Fäusten. Die Schwebeplatte flog langsam näher und ging dabei tiefer. »Wenn der uns nicht hineinlassen will, dann erzwingen wir uns den Eintritt.« Tendyke griff in die Innentasche seiner Jacke. »Rob, mach keinen Blödsinn!« Noch selten hatte Nicole Duval in diesem Ton mit ihm gesprochen. Tendyke holte eine Heckler & Koch P2000 hervor, eine halb automatische Rückstoßladerpistole, die normalerweise als Dienstwaffe für die Polizei gedacht war. Die Waffe besaß er seit vielen Jahren, sie funktionierte stets perfekt. So auch dieses Mal. Noch ehe ihm Zamorra oder Nicole in die Arme fallen konnten, entsicherte er die Pistole, zielte kurz und traf einen der Halbandroiden. Drei weitere Schüsse fanden ebenfalls ihr Ziel. Dann reagierte Sarn. Der Drois ließ die Schwebeplatte etwas tiefer fliegen, dann sprang er auf den Boden. In mehreren Meter Höhe entstand ein Spalt, gerade groß genug, die Platte hineinzulassen. Sozhar ließ die Schwebeplatte höher steigen und flog in den Spalt hinein. »Reiß dich zusammen, Robert!«, rief Zamorra. »Steck die Waffe sofort weg!« Tendyke blickte ihn kurz an, dann sicherte er die HKP und steckte sie wieder zurück in das Schulterholster. »Malham Theronn befiehlt Ihnen, diesen Platz zu ihrem eigenen Schutz umgehend zu verlassen«, sagte Sarn anstelle einer Begrü-
ßung. »Und das ist die letzte Warnung, die er Ihnen zukommen lässt.« »So, der korydische Scheißkerl befiehlt und warnt uns? Weißt du, was der mich mal kann?« Tendyke spuckte Gift und Galle. Zamorra und Duval hatten ihren Freund in all den Jahren noch nie so außer sich gesehen. Nun verstanden sie auch die Bedenken der PetersZwillinge. In diesem Zustand musste man befürchten, dass er jemand umbrachte. »Kein intelligentes Wesen verhält sich so aggressiv wie Sie«, lautete Sarns Antwort. »Ich pflege mich nicht auf diesem Niveau zu unterhalten.« Er drehte sich um und ließ die Menschen einfach stehen. »So nicht, Freundchen«, brummte Tendyke. Er eilte dem Drois hinterher und hielt ihn am Arm fest. Sarn bewegte sich weiter. Der Abenteurer überholte ihn und stellte sich ihm in den Weg. Die Blaue Stadt befand sich in Tendykes Rücken. »Was soll das, Rob? Lass ihn in Ruhe!«, rief ihm Zamorra nach, doch sein Freund hörte nicht auf ihn. »Wir haben nur noch ein paar Meter Platz, ehe uns dieser Planetenfraß einholt!«, schrie Tendyke den Drois an. »Und ihr Dreckstücke wollt uns hier verrecken lassen!« »Das ist nicht meine Entscheidung«, stellte Sarn klar. »Ich befolge nur meine Befehle. Und jetzt stellen Sie sich mir nicht weiter in den Weg.« »Wir haben euch geholfen, als du uns hierher holtest. Und jetzt versagt ihr Scheißkerle uns die Hilfe. Weißt du, wie die Flammenpeitsche schmeckt?« Sarns Antwort bestand aus Schweigen. Er legte den Kopf leicht nach rechts und blickte den Chef der Tendyke Industries sezierend an. Die Szene besaß etwas Surreales. Im Hintergrund brannten Bäume und Büsche, die ersten Sterne zeigten sich am tiefblauen Himmel, und zwei Wesen standen sich feindlich gegenüber. Wer die beiden
sah, besaß keinen Zweifel daran, dass der Mensch unterliegen würde. Sarn wollte an Tendyke vorbei, doch der Sohn des Asmodis hielt ihn an den Handgelenken fest. Es war dem Halbandroiden ein leichtes, den Menschen zurückzustoßen, da zuckten einige Blitze aus Tendykes Fingerspitzen und setzten auf den Drois über. Die Blitze ringelten sich um Sarns Beine, und als er den rechten Arm hochhielt, züngelten sogar einige Blitze über seine Handinnenfläche. Sarn hielt immer noch den Kopf leicht nach rechts geneigt. Die Uniform war total verbrannt und von seinem Körper abgefallen. »Um Gottes Willen, Rob, lass das sein!«, rief Zamorra, doch Tendyke gab ihm mit einer abwehrenden Bewegung zu verstehen, dass er keinen Wert auf den Ratschlag legte. »Ich glaube, das war das Dümmste, was Sie machen konnten«, sagte Sarn, immer noch ohne jede Regung in der Stimme. »Bitte, halten Sie sich zurück. Ich gehe jetzt.« In diesem Augenblick zerbrach etwas in Robert Tendyke. Er wusste nicht zu sagen weshalb, aber der Zorn erreichte eine Stärke, die jedes Denken zunichtemachte. Der große, kräftige Mann legte dem Drois beide Hände um den Hals und drückte zu, so fest er konnte. Sarn ergriff Tendykes Handgelenke und wollte ihn wie vorhin zurückstoßen, da fuhren mehrere Blitze, vom Sohn des Asmodis ausgehend, auf den Halbandroiden zu und in ihn hinein. Sarns Augen weiteten sich, dann fiel er in sich zusammen und lag verkrümmt auf dem Boden. Der Spalt in der Blauen Stadt, in den Sarns Kollegen hineinflogen, öffnete sich wieder. Die Schwebeplatte flog aus dem Spalt heraus, genau auf die Menschen zu. »Weg von hier!«, forderte Nicole ihre Gefährten auf. »Die sind schneller als wir, Nici«, sagte Zamorra, dennoch wollte er der Aufforderung seiner Gefährtin nachkommen. Er schaute zum
dritten Mitglied ihres Teams. Robert Tendyke stand wie angewurzelt an seinem Platz und beobachtete die Schwebeplatte. Sein Verstand schaltete in diesen Sekunden ab. Er befand sich in einem nie zuvor erlebten Trance-Zustand. Alles schien an ihm vorbeizulaufen. »Komm mit, Rob!«, rief der Meister des Übersinnlichen und zog den Abenteurer am Oberarm mit sich. Nur langsam setzte sich Tendyke in Bewegung. Er folgte seinen Freunden, jedoch erheblich langsamer als sie. Und dann blieb er ganz zurück. Zamorra blieb stehen, weil er ein Kribbeln am ganzen Körper verspürte, und blickte sich nach Tendyke um. Der Firmenchef lag auf dem Boden, alle viere von sich gestreckt. Er machte Nicole darauf aufmerksam, dass der Teufelssohn nicht mehr weiterkonnte. Die Schwebeplatte drehte ab. Die Drois nahmen Sarn mit an Bord, dann verschwanden sie wieder im Inneren der Blauen Stadt. Eine kurze Untersuchung bestätigte Zamorras Befürchtung, dass Tendyke eine volle Ladung des Vibrationsalarms abbekommen hatte. Dann haben sie auch die Möglichkeit den Alarm zielgerichtet auszulösen und nicht flächendeckend wie bei den letzten beiden Malen. »Chef, du solltest besser gleich anfangen, ein Weltentor zu erschaffen«, drängelte Duval. Sie zeigte auf die Zerstörung, die in der letzten Stunde seit dem Ende der Regenbogenblumen, überhandgenommen hatte. Der Planetenfraß war unaufhaltsam näher gekommen, ihnen blieben nur noch wenige Meter Platz. »Also ist dieser Bereich nicht mehr geschützt«, murmelte Zamorra. Er wandte sich an Nicole: »Was hältst du von seinem Benehmen in der letzten halben Stunde?« »Er ist total übergeschnappt«, antwortete seine Gefährtin. »Ich hatte den Eindruck, dass sein dämonisches Erbe voll durchschlägt. Ich wundere mich nur, dass Merlins Stern nicht auf ihn reagiert.« Zamorras Amulett versuchte, seinen Träger vor Angriffen feind-
lich gesinnter Magie durch eine Art grünlich wabernden Energieschirm zu schützen, dabei verschoss es silberne Blitze. Doch in den letzten Minuten hatte es sich nicht einmal erwärmt – allerdings hatte Zamorra es dem Amulett auch nicht befohlen. Immerhin handelte es sich ja um Robert Tendyke! Aus Richtung der Blauen Stadt wurden Geräusche laut, die an das Hochfahren von extrem starken Triebwerken erinnerten. Dazu glühte die Stadt in Hellblau auf. Nicole Duval reagierte sofort und nahm den Start der Versetzung mit dem TI-Alpha auf. Ihre Ohren schmerzten bei der unglaublichen Lautstärke, die Augen tränten ohne Ende, aber Nicole hielt bis zum Ende durch. Und dann war die Blaue Stadt verschwunden.
* Kurz vor der Versetzung der Blauen Stadt hatte Malham Theronn die Drois über eine Transmitterverbindung zum verabredeten Treffpunkt geschickt. Natürlich gehorchten sie und nahmen ihren Kollegen Sarn mit. Es bestand eine geringe Hoffnung, dass er wiederhergestellt werden konnte. Der Kapitän ging auch bei den Koryden normalerweise als Letzter von Bord. Aber Theronn hatte nicht vor, aus der Blauen Stadt zu verschwinden. Er wollte die Reise ganz bewusst mitmachen, besonders da es das Letzte war, was er machen konnte. Er wollte so nicht mehr weiterleben. Das Leben ist ein Kreis. Du kannst ihn nie verlassen. Auch nicht mit deinem Sterben. Denn Sterben ist auch Leben. So besagten es die uralten Pido-Schriften aus dem Glaktian von Okan, die Theronn wieder im Geist rezitierte. Die alten Schriften nahmen einen großen Raum in seinen Gedanken ein. Die Demutsbezeugungen vergangener Tage halfen ihm, sich besser auf seine Arbeit zu konzentrieren zu können.
Und dies war die letzte Arbeit, die er in Auftrag gab. Theronn hustete, wie so oft in der letzten Zeit, er bemerkte nicht, dass der Durchsichtige neben ihn trat und ihn beobachtete. Der Koryde aktivierte die Versetzungsautomatik. Er blieb auch nach Ablauf der Frist an Bord, zumindest sein Körper. Das Leben ist ein Kreis. Du kannst ihn nie verlassen. Auch nicht mit deinem Sterben. Denn Sterben ist auch Leben. Wie recht die Pido-Schriften doch hatten. Im Augenblick der Versetzung starb der Malham Theronn. Doch sein Gesicht trug nicht den Ausdruck, als hätte er im Tod Frieden gefunden.
* Dort, wo viele Tausend Jahre die Blaue Stadt gestanden hatte, herrschte nun gähnende Leere vor. Nur ein riesengroßes Siebeneck mit einer Kantenlänge von mehreren Kilometern zeugte davon, dass sich hier einst eine Metropole ohne Bewohner befunden hatte. Noch. Nachdem die Blaue Stadt verschwunden war, holte sich der Planetenfraß unglaublich schnell Zentimeter für Zentimeter der einstigen Grundfläche. »Hast du das gesehen, Chef?« Nicole Duval steckte das TI-Alpha wieder ein, nachdem sie sich überzeugt hatte, dass die Videoaufnahmen gelungen waren, sodass sie später analysiert werden konnten. »Das war einzigartig!« »Nicht nur das.« Zamorra hielt beide Hände gegen die Ohren gepresst, er schüttelte den Kopf. »Noch ein bisschen länger, und wir wären taub geworden. Aber wir können uns später darüber unterhalten. Wichtiger ist, dass wir von hier verschwinden. Und das so schnell wie möglich.« Er zeigte auf die Umgebung. Sie konnten nirgendwohin, mittlerweile befanden sie sich auf einer Insel inmitten der Zerstörung.
»Ich muss mich beeilen, sonst ist es zu spät für uns«, murmelte er. Zamorra hielt beide Hände gegen die Brust gepresst, wo sich sein Amulett befand. Er konzentrierte sich darauf, ein Weltentor zu erschaffen, das Einleiten eines Transports, um auf einen anderen Planeten oder an einen anderen Ort zu gelangen. Unter geflüsterten Beschwörungen schuf er ein Weltentor. Merlins Stern war eine handtellergroße Silberscheibe aus unbekanntem Material, die gewöhnlich von Zamorra oder Nicole an einer silbernen Halskette vor der Brust getragen wurde und per Schnellverschluss rasch ein- und ausgehakt werden konnte. In der Mitte befand sich ein stilisierter Drudenfuß, der bei der Zeitschau auch als Mini-Bildschirm diente. Um diesen zog sich ein Kreis mit den Symbolen der 12 Tierkreiszeichen. Den äußeren Rand bildete ein Silberband mit bisher unentzifferbaren hieroglyphischen Zeichen. Zur Aktivierung der Amulett-Magie ließen sich die an sich festen, etwas erhaben gearbeiteten Hieroglyphen auf dem äußeren Silberband mit leichtem Fingerdruck millimeterweit verschieben, um einzeln oder in Kombination bestimmte magische Funktionen auszulösen. Sofort danach glitten die Hieroglyphen wieder in ihre alte Position zurück und waren wieder fest. Zamorra hörte nicht, dass Nicole bat: »Mach schneller, Chef. Bald ist der Planetenfraß hier!« Er benötigte noch ein paar Augenblicke der Konzentration, um seine Kräfte wirken zu lassen. Vor seinen Augen tanzten feurige Schlieren, dann hatte er Erfolg: mitten in der Luft bildete sich aus dem Nichts heraus eine Aussparung. Sie wurde größer und erweiterte sich zu einer Öffnung, die für einen Fußgänger mühelos zu durchschreiten war. Aber Robert Tendyke war in seinem gegenwärtigen Zustand nicht in der Lage, durch das Tor zu gehen. Da Zamorra sich auf das Erstellen des Durchgangs konzentrierte, musste Nicole Duval den
großen, schweren Mann auf die andere Seite schleifen. Sie blickte kurz hinter sich und war erschrocken, wie nah der Planetenfraß kam. Daraufhin verstärkte sie ihre Anstrengungen, denn Zamorra konnte und durfte ihr nicht helfen. Was sich auf der anderen Seite des Weltentors befand, war nicht auf den ersten Blick ersichtlich, aber das war Zamorra egal. Schlimmer als dort, wo sie sich gerade befanden, konnte es nicht mehr kommen, fand er. Der Planetenfraß hatte sie fast erreicht, er bildete schon Ausläufer zum Weltentor. Ihnen blieben nur noch wenige Sekunden des Durchgangs. Nicole packte Robert noch einmal fester und zerrte ihn mit aller Kraft durch das Weltentor. Zamorra folgte. Erleichtert sah sie, dass sich die trostlose, ja gefährliche Umgebung mit einem Schlag geändert hatte.
* Sara Moon fühlte sich so gut wie schon lange nicht mehr. Nun befanden sie sich schon einige Tage in ihrer Wächterdimension. Die Befürchtungen der Druidin, ihre Schwester könnte sich hier nicht wohlfühlen, waren mittlerweile zerstreut worden. Sara blickte von ihrem Aussichtshügel hinunter in das angrenzende Wäldchen. Ein kleines Mädchen mit blondem Haar ritt auf einem Einhorn durch den Wald. Eva jagte das wunderbare, weiße Tier mit den leuchtenden Augen verspielt über die Pfade und über die Lichtungen. Andere Tiere gesellten sich hinzu. Sie neckten sich, lieferten sich Hetzjagden. Schließlich hielten sie ein in ihrem Spiel. Eva rutschte vorsichtig vom Rücken ihres Einhorns, sprach zu ihm, und als es sich hinlegte, klopfte sie ihm den Hals, streichelte das Fell und berührte es mit den Lippen. Das Einhorn stupste Eva sanft mit den Nüstern gegen
Schulter und Rücken. Die Kleine lachte hell auf, wirbelte um ihre Achse und zog das Einhorn am Schweif. Das Fabelwesen keilte spielerisch aus, natürlich ohne sie zu treffen. Eva ließ los, machte einen Überschlag rückwärts. Ein anderes der Tiere zupfte leicht an ihren Haaren. Sie kreischte auf, lachte wieder, bis ihr die Tränen kamen. Dann jagten die Tiere im Galopp davon, verschwanden in der Tiefe des Waldes. Die Augen des Mädchens leuchteten. Eva war glücklich. Für Sara Moon war es wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Sie erinnerte sich daran, ähnliche Szenen vor einigen Jahren schon mehrere Male beobachtet zu haben. Damals, als sie ihre Schwester zum Jüngerwerden mitgenommen hatte, hatte Eva fast jeden Tag hier gespielt. Sara spielte ab und zu mit dem Gedanken, mit Eva nach Brocéliande zu gehen, Merlins Zauberwald, in dem sich jede Menge magisch begabte Wesen aufhielten. Dann wieder schreckte sie vor dem Gedanken zurück. Solange Eva ihre Para-Fähigkeit nicht kontrollieren konnte, Magie in sich aufzusaugen und zu speichern, um sie später wieder abzugeben, wollte Sara nicht daran denken, in Brocéliande zu leben. Wer wusste schon, wem die Kleine unbeabsichtigt Schaden zufügen konnte? Immer wieder war es in den letzten Tagen vorgekommen, dass Sara an ihren Vater dachte. Zeit ihres Lebens hatte sie keine besonders feste Bindung zu Merlin besessen, doch eigenartigerweise fühlte sie sich ihm jetzt näher als jemals zuvor. Als er noch lebte, war sie hingegen froh gewesen, so wenig wie möglich mit ihm zu tun zu haben. Auf seine eigene Art hatte er seine Töchter geliebt, das wusste Sara jetzt, aber er hatte es nie richtig zeigen können. Und nach seiner Ermordung konnte er es natürlich auch nie mehr nachholen. Ich empfinde doch wohl nicht Trauer darüber? Sara war über sich selbst erstaunt. Sie war aber auch zufrieden damit, wie sie die Dinge entwickelten. Normalerweise eignete Sara sich nicht als Kindermäd-
chen, aber bei Eva war das etwas anderes. Ihre kleine Schwester liebte sie abgöttisch. Das Einhorn kam den Hügel heraufgaloppiert und zog Eva an seinem Schweif hinter sich her. Sara konnte nicht anders, sie musste lachen, bis ihr die Tränen kamen, als sie dies sah. Eva lachte ebenfalls und fiel ihrer Schwester in die Arme. Das Einhorn legte sich in das Gras und diente den beiden als Kissen. »Die böse Frau kommt aber nicht hierher, oder?«, fragte Eva nach einer Weile. Die Begegnung mit Valantia schien für sie wie ein Trauma zu sein. »Nein, mein Schatz, das tut sie nicht«, versuchte Sara sie zu beruhigen. Dabei war sie innerlich selbst nicht ganz so ruhig, wie sie sich gab. Seit gestern wurde sie von einer unerklärlichen Unruhe erfüllt. So, als zerre ein Ruf an ihr, als wolle jemand sie auf sich aufmerksam machen. Aber wer sollte das hier schon tun?
* Die Erleichterung Nicoles angesichts der neuen Umgebung wich schon bald angespannter Neugier. Denn wo vorher akuter Planetenfraß die Bedrohung gewesen war, Brandgeruch, Chaos, waren mit einem Mal zwei grundverschiedene Dinge allumfassend: Stille und Dämmerlicht. Nicole Duval sah nur verwaschene Grautöne ohne irgendein Leuchten oder irgendwelche festen Umrisse. Dafür glaubte sie, hin und wieder wallende graue Nebelschwaden zu sehen. Ein Schwarm von Gefühlen raste auf sie zu, ein wildes Durcheinander an Empfindungen. Ab und zu trieben in einer Entfernung, die sie nicht abzuschätzen vermochte, quallenähnliche Gebilde heran und an ihr vorüber. Ihr kam die Einschätzung von Tieren in den Sinn, die witter-
ten, ob es sich bei dem Neuankömmling um einen Feind handelte. Die Stille zerrte an Nicole Duvals Nerven. Nur ein diffuses Hintergrundrauschen drang an ihr Bewusstsein. Ansonsten vernahm sie das Echo ihrer Gedanken; ein wilder Schwarm von Ideen und ein wüstes Durcheinander an Gefühlen. Sie glaubte zunächst, das Gehör verloren zu haben. Sie konnte noch nicht einmal den eigenen Atem hören oder den Herzschlag fühlen. Aber das war nicht möglich, denn sie besaß keinen Körper mehr. Augenscheinlich existiere ich nur noch als Geistwesen. Diese Tatsache erschreckte sie seltsamerweise nicht. Sie hatte schon so viele gefährliche Situationen überlebt, dass sie sich nur noch vor wenigen Dingen fürchtete. Aber das, was ihr jetzt widerfahren war, brachte sie an die Grenze dessen, was sie zu ertragen imstande war. Ihr geschocktes Bewusstsein wirbelte über einem unerklärlichen Abgrund und versuchte vergeblich, sich gegen die schreckliche Wahrheit zu wappnen. Der Weg durch das Weltentor hat nicht geklappt! Nicht enden wollende Stromschläge durchzuckten ihr Bewusstsein, das wieder schwinden wollte. Die Gedanken tropften träge dahin, als würde alles in Zeitlupe geschehen. Alles konnte ebenso Minuten wie Jahre zu betragen. Traurig und verzweifelt versuchte Nicole das Gefühl zu verdrängen, dass der Denkprozess ihre einzige Lebensfunktion sei. Das muss aber nicht so bleiben, Nici, vernahm sie einen Gedankensplitter. Zamorra! Noch nie war sie so erleichtert gewesen, ihren Gefährten zu erkennen wie gerade eben. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen. Obwohl sie nur die Gedanken ihres Partners empfing, glaubte Nicole den hochgewachsenen Mann mit der starken Ausstrahlung vor sich stehen zu sehen. Nach einigen Sekunden – oder
handelte es sich um mehrere Ewigkeiten? – kam ihr zu Bewusstsein, dass jemand fehlte. Wo ist Rob? Und wo befinden wir uns? Die Antwort schien ewig lange zu dauern, obwohl sie sofort gegeben wurde. Rob sollte sich eigentlich bei uns befinden, sagte Zamorras Geistesstimme. Und ich habe keine Ahnung, wo wir uns gegenwärtig aufhalten. Möglicherweise ist es eine Art Zwischenraum, der bei der Schaffung von Weltentoren errichtet wird. Es könnte sich aber auch um das Nichts handeln. Das Nichts? Nicole klang erschrocken, obwohl das bei einem Telepathiekontakt nicht möglich sein sollte. Du meinst, wir würden mit der Zeit davon verschlungen werden? Alles was ich sage ist nur Spekulation, antwortete der Parapsychologe. Ich besitze keinerlei Anhaltspunkte, um etwas Konkretes sagen zu können. Nach einer gefühlten Ewigkeit erhellte ein grünes Leuchten die verwaschenen Grautöne, gefolgt von einem silbrigen Blitzgewitter. Es stellte eine willkommene Abwechslung ihres einförmigen Einerleis dar. Das ist doch … Das kann nur Merlins Stern sein!, rief Nicole mit ihrer Geistesstimme. Merlins Stern, der gegen irgendetwas oder jemand kämpft, vermutete Zamorra. Anders kann es gar nicht sein. Nicole erschrak, als ihr etwas einfiel. Das Amulett nimmt bei Benutzung deinem Körper die Kraft, teilte sie ihrem Gefährten mit. Wie ist es dann, wenn du dich hier aufhältst? Nimmt es dann alle Energien von dir auf, bis dein Körper tot ist? Die folgende Pause schien wieder endlos lange zu dauern. Dem Gefühl nach mochten Äonen verstrichen sein, bis Zamorra antwortete. Eigentlich sollte es sich vorher abschalten. Aber offenbar hat ja etwas nicht so funktioniert, wie ich mir das dachte. Ich habe keine Ahnung, ob
das Amulett ›hier‹ vorher abschaltet, oder ob es sämtliche Energien aufbraucht. Ich versuche, Kontakt mit Taran zu bekommen. Sind wir nun für alle Zeit verloren? Ich will nur weg von hier! Panik erfüllte die Französin. Bevor der Meister des Übersinnlichen antworten konnte, geschah etwas, das beide Bewusstseine erschütterte. Vor ihnen, in diesem Raum mit den verwaschenen Grautönen, die von grünen Entladungen und silbernen Blitzen geprägt wurden, tauchten die schattenhaften Umrisse einer handtellergroßen Silberscheibe auf. Sie glühte auf, das war deutlich zu sehen. Merlins Stern rotierte langsam um die eigene Achse, er pulsierte dabei, als ob er ein Herz hätte. Aber das war es nicht allein, was beide in helle Aufregung versetzte. Viel wichtiger war, dass Taran, das Bewusstsein, das sich im Medaillon der Macht befand, um Hilfe rief. Aber was konnten sie hier schon tun?
* Das grüne Leuchten und das silberne Blitzgewitter ließen nach. Dafür wurde das Glühen der Silberscheibe intensiver. Irgendwann nach einer Zeit, die Sekunden oder auch Millionen von Jahren hätten sein können, ertönte der nächste Hilferuf von Taran. Wen oder was das Amulett-Bewusstsein rief, wusste Zamorra nicht. Er nahm an, dass der Ruf an die Person ging, die Merlins Stern mit am Nächsten stand. Einen Augenblick konnte Zamorra sich nicht gegen die Furcht wehren, dass das Asmodis sein könnte. Der Erzdämon hatte das Amulett, das nach Merlins Tod unter Funktionsstörungen litt, repariert. Allerdings hatte er bei dieser Gelegenheit Taran aus seinem »Haus«, wie dieser es nannte, vertrieben, was das Amulettwesen ihm überaus übel genommen hatte. Erst Zamorra hatte Taran vor einiger Zeit wieder ermöglicht, ins
Amulett einzuziehen. Um sich zu revanchieren, tat Taran sein möglichstes, um Zamorras Erlebnisse vor Asmodis zu verbergen oder sie so gut es ging abzufälschen. Zumindest hatte er sich so ausgedrückt. Doch die Situation war außergewöhnlich. Es blieb wohl kaum eine andere Möglichkeit, als abzuwarten. Sie spürten die Ausstrahlung von Robert Tendyke, aber der Chef der TI meldete sich nicht. Angesichts dessen, wie er sich auf Karenja verhalten hatte, war es wohl auch besser so. Die beiden Franzosen schauderten bei dem Gedanken, was passieren könnte, wenn sich Rob in dieser Undefinierten und unberechenbaren Umgebung nicht beherrschte – am Ende weckte er Kräfte, die keiner von ihnen kontrollieren konnte. Zamorras Gedanken suchten die mentalen Strömungen zu Nicoles Bewusstsein. Obwohl er Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden konnte, hatte er innerhalb dieser Dimension sein Zeitgefühl verloren. Es gab weder Sekunden, Minuten oder Tage, ihm war unklar, wie viel Zeit bis jetzt verstrichen war. Das Glühen des Amuletts nimmt an Stärke zu, sagte er zu seiner Gefährtin. Ich nehme an, dass ein Kontakt kurz bevorsteht. Zu wem auch immer. Mir ist alles lieber als dieses Taumeln zwischen den Welten, antwortete Nicole Duval. Oder was immer dieser unglaublich fremdartige Raum auch darstellt, in dem wir uns befinden. Zamorra gab es auf, über dieses Problem nachzudenken. Alle Spekulationen führten zu nichts – im wahrsten Sinne des Wortes, befanden sie sich doch hier auch im »Nichts«. Sie brachen den kurzen Gedankenkontakt wieder ab. Zamorra empfand die Gedankenstille als unangenehm, aber im Augenblick wollte er darüber nachdenken, wie er mithilfe von Merlins Stern dieser Falle entgehen konnte. Dann geschah etwas Ungeheuerliches! Nicole Duval wurde stofflich!
Chéri, sieh nur! Das ist unmöglich!, behauptete sie und zeigte auf ihn. Zamorra schaute an sich herab, auch er wurde stofflich. Bei einem Blick zur Seite bemerkte er, dass Tendyke ebenfalls zu sehen war. Ein fluoreszierender Energiemantel umhüllte die drei Menschen, doch eine mögliche Umgebung blieb verschwunden. Sie schwebten mitten im Nichts. In diesem Augenblick schoss etwas Quallenförmiges auf sie zu. An seiner Spitze leuchtete es blau auf.
* Da! Da war er wieder! So drängend wie nie zuvor. Diesmal ertönte der Ruf in einer Form, die Sara Moon wissen ließ, dass sie persönlich damit angesprochen war. Niemand anders wurde von dem Unbekannten gerufen als sie. Weshalb auch immer. Und das mitten in der Nacht!, dachte sie und fuhr sich über die Augen. Sie wollte sich gerade zum Schlafen hinlegen und fühlte sich dementsprechend kaputt. Aber sie war so neugierig auf den ominösen Rufer, dass sie gern ihre wohlverdiente Nachtruhe dafür aufgab. Sie schaute kurz nach Eva. Ihre Schwester schlief im Nebenzimmer an der Flanke ihres geliebten Einhorns. Es war ein Bild unendlichen Vertrauens. Sara versetzte sich hinaus, damit Eva nicht geweckt wurde. Sie überlegte, ob sie dem Ruf Folge leisten sollte. Sie empfand die Geistesstimme des Rufers als sympathisch und wusste, dass sie ihn irgendwoher kannte. Jedoch kam der Ruf verzerrt bei ihr an. Ein Programm, das Sara speziell für solche Fälle eingerichtet hatte, sorgte dafür, dass sich jemand um Eva kümmerte, falls ihr selbst etwas Schlimmes passieren sollte. Für ihre Schwester war also gesorgt.
Aber Sara hatte sowieso nicht vor, sich in Gefahr zu begeben. Sie wollte nur in erster Linie nachschauen, wer etwas von ihr verlangte. Nach kurzer Überlegung entschied sie sich, dem Rufer zu helfen, falls es ihr überhaupt möglich war. Ein Erbe ihrer Mutter Morgana leFay war die Erschaffung und Beherrschung von Dhyarra-Kristallen. Das hatte Sara vor vielen Jahren bewiesen, als sie einen Machtkristall schuf und Ted Ewigk für kurze Zeit als ERHABENE der DYNASTIE DER EWIGEN ablöste. Dhyarras, auch »Sternensteine« genannt, waren kleine, blau funkelnde Kristalle mit ungeheurer magischer Kraft, die ihre Energie aus Weltraumtiefen bezogen. Dazu musste Sara den Dhyarra mit unmittelbarem berühren, sodass Hautkontakt bestand und eine klare, bildhafte Vorstellung von dem haben, was durch die Magie bewirkt werden sollte – ähnlich einem Comic –, was speziell bei abstrakten Geschehnissen starke Konzentration und Fantasie voraussetzte. Um einen Dhyarra zu bedienen, bedurfte es eines entsprechenden Para-Potentials. Wer das nicht besaß, dem brannte der Kristall das Gehirn aus und tötete ihn dadurch. Sara war eine Meisterin ihres Faches, kaum jemand im Multiversum konnte so gut mit den Sternensteinen umgehen wie sie. Sie gab ihrem Kristall den Befehl zu sondieren, woher der Ruf ausgestoßen wurde. Es dauerte einige Minuten, ehe sie die perfekte bildliche Order dazu erstellt hatte. Schließlich musste sie wissen, wo genau sich der Hilferufer befand. Einen Augenblick befürchtete Sara, er befände sich auf Avalon, doch dann würde sie dem Rufer nach den letzten Ereignissen dort nicht helfen können. Sara versank in Konzentration. Doch natürlich meisterte sie alle Schwierigkeiten: Der Kristall zeigte ihr nicht nur an, woher der Ruf kam, er sorgte auch dafür, dass sie eine Möglichkeit fand, dorthin zu gelangen. Über die »Frequenz« des Senders kam sie in die Nähe seines Standorts. Und das, obwohl der Rufer sich außerhalb ihrer Welt befand.
Schlussendlich versetzte der Sternenstein die Druidin mit den silbernen Haaren sogar in die Lage, Kontakt mit dem Rufer aufzunehmen. Warum rufst du nach mir?, wollte sie wissen. Ich benötige deine Hilfe, Sara Moon, lautete die Antwort. Warum gerade meine Hilfe? Woher kennst du mich? Du bist Merlins Tochter und besitzt seine Fähigkeiten. Und ich bin ein Produkt von ihm. Die glühende Silberscheibe tauchte auf, Sara erkannte sie sofort. Das ist Merlins Stern, Zamorras Amulett, sagte sie. Dann bist du Taran. Ich wollte gerade ein Weltentor schließen, als der Planetenfraß von Ka renja uns folgte. Uns? Wen meinst du alles damit? Nun, mich, Zamorra, Nicole Duval und Robert Tendyke. Hilf uns, Tochter meines Schöpfers. Sara zog sich zurück, sie überlegte, wie sie den Verschollenen helfen konnte. Es war nicht einfach, in den Zwischenraum einzudringen und dort etwas zu verändern. Sie musste erst mehr Informationen besitzen, bevor sie eine Rettungsaktion starten konnte. Nicht, dass sie ebenfalls in den unergründlichen Weiten verschollen ging. Ich habe einen Energiemantel um die drei Menschen gelegt, damit sie nicht verloren gehen, sagte Taran. Aber der Erhalt dieses Schutzes kostet viel Kraft, Energie, die ich nicht besitze, und die ich mir abwechselnd von allen Dreien holen muss. Aber irgendwann ist auch das einmal vorbei. Sara begriff, dass die Zeit ihnen davoneilte. Nur, wie oder wo sollte sie die Rettung anfangen? Ich weiß nicht, wie du uns herausfischen willst, aber ich werde dich bei allen Aktionen so weit wie möglich unterstützen, versprach Taran. Er meinte wohl, so weit die Kraft der Menschen reichte, überlegte Sara Moon. Sie dachte noch einmal über Tarans letzte Worte nach.
Irgendetwas löste ein Signal bei ihr aus. Herausfischen! Fischen? Was für eine absurde Idee …
* Zamorras Enttäuschung wuchs, als er erkannte, dass das blaue Licht nicht zu ihnen vordrang. Er hätte selbst nicht sagen können, was er zu sehen erwartet hatte, aber dass er sich mit seinen Gefährten in halbstofflichem Zustand in einem Gebilde mit begrenzter Größe befand, versetzte ihm einen Schreck. Wie lange würde es dauern, ehe der Sauerstoff aufgebraucht war? Er überlegte kurz und stellte fest, dass ihnen die vorhandene Atemluft normalerweise schon längst nicht mehr hätte ausreichen dürfen. Also sind wir wohl eher Avatare als lebende Wesen in dieser Umgebung. Mit einem Mal erhielt er den Eindruck, dass irgendwo eine Öffnung entstand. Er bekam eine Art kosmisches Hintergrundrauschen mit, das er nicht einzuordnen vermochte. Er wusste nicht, dass es sich dabei um das Gespräch zwischen Sara Moon und Taran handelte. Mit einem Schlag wurde das blau Leuchtende größer, es schob sich über den Energiemantel und veränderte die vorhandenen Sichtverhältnisse. Hoffentlich ist es nicht das Letzte, was wir sehen, wünschte sich Zamorra.
* Tarans Worte vom »Herausfischen« gingen Sara Moon nicht mehr aus dem Sinn. Nur, wie sollte sie das so vollendet in Comicform bringen, damit es auch der Sternenstein umsetzen konnte? Die ersten Versuche, Taran und seine Schützlinge aus dem Nichts zu »angeln«, schlugen fehl, stets hatte sie etwas an der eigenen Krea-
tion auszusetzen. Dann fiel ihr etwas ein. Wenn es schon ums Fischen ging, sollte sie dann nicht vielleicht besser an eine Art Netz denken, das die Energieblase umschloss? Ein Netz ohne Löcher? Oder besser wie eine Folie, die sich um die Energieblase legte? Sie benötigte viel Zeit und noch mehr Energie, bis sie dem Dhyarra eingegeben hatte, dass er etwas Sackähnliches um den grünen Energiemantel legen sollte. Langsam sollte dieser Sack die Menschen umhüllen und vorsichtig aus der Zwischendimension ziehen. So sollten die drei Menschen und die Silberscheibe dem Nichts entrissen und alle zusammen in ihre Wächterdimension gebracht werden. Sie unterdrückte alle Gedanken daran, dass etwas schiefgehen konnte – nicht, dass der Dhyarra diese Gedanken noch aufnahm! – und zog. Und es gelang! Der Dhyarra umfasste alles, was sich innerhalb des grünlichen Leuchtens, des Energieschirms von Merlins Stern, befand. Und schließlich hatte sie es geschafft. Sie ließ die Zwischendimension hinter sich und kehrte mit ihrer Beute nach Hause. Dort erlosch zuerst Saras Schöpfung, danach der Energiemantel. Sara Moon fühlte sich so erschlagen wie nur selten zuvor. Zamorra, Duval und Tendyke waren bewusstlos. Der Aufenthalt im Nichts hatte alle drei unglaublich viel Energie gekostet. Sie erwachten erst, als Evas Einhorn sie mit seinem zauberkräftigsten Körperteil berührte und ihnen per Magie neue Energien zuführte.
* Zum Frühstück gab es Tee und Früchte. Kaffee besaß Sara Moon nicht, ebenso wenig wie Toastbrot oder ofenfrische Croissants. Es schmeckte ihnen dennoch besser als alles, was sie in der letzten Zeit
gegessen hatten. »Wir konnten uns erst dann sehen, als wir uns alle drei innerhalb des Energieschirms befanden«, erläuterte Nicole Duval. »Robert und ich wurden von Taran erst nach Zamorra hineingeholt.« Der ruhigste am Tisch war Robert Tendyke. Er war selbst erschrocken darüber, wie er sich aufgeführt hatte. Doch mittlerweile glaubte Zamorra den Grund zu kennen, weshalb sich der Abenteurer nicht in der Zwischendimension zu Wort gemeldet hatte. »Nach allem, was wir besprachen, kann es sich nur so abgespielt haben, dass der Planetenfraß genau in dem Augenblick, als wir Karenja verließen, mit dem Weltentor kollidierte und bei Schließung des Tores gewissermaßen eine Art Kurzschluss herbeiführte. Tut mir leid, Freunde, aber mir fällt keine andere Bezeichnung dafür ein. Mit diesem Kurzschluss wurden alle Wesen genau so konserviert, wie sie beim Durchgang waren. Da Rob durch den Vibrationsalarm bewusstlos wurde, wachte er die ganze Zeit über nicht auf.« »Wobei die ganze Zeit, wie du so schön sagst, nicht mehr als sechs Tage dauerte«, erklärte Nicole Duval. »Sechs Tage, die, gefühlt für mich, mehr als sechs Millionen Jahre andauerten. Ich möchte etwas so Schreckliches nie mehr erleben. Ich habe mich so hilflos gefühlt, dass ich es kaum in Worte fassen kann.« »Wir hatten wie es scheint Glück, dass Taran so klug war, sich an mich zu erinnern. Nicht auszudenken, was passiert wäre, hätte er Asmodis gerufen«, bekannte Sara Moon. Sie fuhr dem neben ihr sitzenden Einhorn über die Mähne und drückte es an sich. Damit wollte sie ihre Dankbarkeit über den Energieschub zum Ausdruck bringen. Das Einhorn schnaubte, es war unverkennbar, dass es sich wohlfühlte. Eva saß auf Saras Schoß und hielt den linken Arm ihrer Schwester an sich gepresst. Scheu blickte sie die drei fremden Menschen an. Sie war erstaunt, dass zwei der Besucher sie anlächelten, doch den drit-
ten, mit dem mürrischen Gesicht, schaute sie nicht an. »Der Mann ist nicht böse«, flüsterte sie in Saras Ohr. »Die Frau neben ihm auch nicht, aber vor dem da habe ich Angst.« Sie nickte kurz in Tendykes Richtung. Der Mann im Cowboyanzug bemerkte es nicht. Sara nickte kurz dazu, über dieses Problem musste sie sich mit Zamorra und Nicole unterhalten. Um abzulenken, erzählte sie ihren Besuchern von den Zuständen auf Avalon und davon, dass Eva und sie zu unerwünschten Personen erklärt worden waren. Nicole und Zamorra konnten trotz ihrer schlechten Erlebnisse beim letzten Besuch nicht glauben, dass die Herrin vom See so handelte. »Bei allem, was mit Avalon zu tun hat, müssen wir von jetzt ab noch vorsichtiger als bisher sein«, forderte Nicole Duval. »Aber wenn die Priesterinnen behaupten, dass Robert ein Sonderfall ist, dann dürfte er als einziger von uns die Berechtigung besitzen, die Insel zu besuchen.« Tendyke nickte kurz bestätigend, dass er verstanden hatte, doch er äußerte sich nicht weiter dazu. Er schwieg und versank wieder in Nachdenklichkeit. Seine Gefährten machten sich Gedanken um ihn, denn so verhielt er sich nie. Hingegen waren die beiden hocherfreut, Eva wiederzusehen. Das Schicksal des Mädchens berührte sie seit Jahren tief. Seit sie Eva damals vor Château Montagne aufgefunden hatten, nahmen sie Anteil an ihrer Geschichte. »Solltest du Hilfe benötigen, dann gib uns Bescheid«, sagte Zamorra, bevor Sara Moon sie zurückbrachte. »Wenn etwas geschehen sollte, kannst du Eva jederzeit nach Château Montagne bringen.« »Vielleicht befindet sich dann Carrie-ohne-Haar auch wieder im Schloss, und Eva hätte eine Spielkameradin«, hoffte Nicole Duval. Hinterher fiel ihr ein, dass das nicht die beste aller Ideen war, da
auch Carrie eine Para-Gabe besaß. Tendyke blieb weiterhin still und geistesabwesend. Er bedankte sich kurz für die Rettung, das war es dann auch schon. Er machte den Eindruck, als würde er sich nur nach Ruhe sehnen, und sonst nach nichts. »Vielen Dank für euer Angebot«, sagte Sara Moon. »Ich freue mich darüber, aber ich hoffe, dass ich es nicht annehmen muss.« Dann half sie ihren Gästen, wieder nach Hause zu gelangen. ENDE
Das Herz von Eden von Adrian Doyle Die Katastrophen reißen nicht ab: Nicht nur der Planet Karenja ist verschwunden – auch Château Montagne verschwindet und materialisiert an einem lebensfeindlichen Ort. Hat das eine mit dem anderen zu tun? Währenddessen sieht sich Carrie, die neue Bewohnerin des Schlosses, mit jemandem konfrontiert, der das Böse nach Eden getragen hat. Doch wer oder was ist Eden überhaupt? Ist es wirklich das Paradies, für das alle es halten? Paul Hogarth und die Kinder der Salehs jedenfalls haben einen ganz anderen Eindruck vom Herrscher Edens – aber was erwartet die Welt, wenn es diesem Cahhjwa gelingt, die Ketten von Eden zu sprengen? Und ist Nele Großkreutz unrettbar in den Fängen Cahhjwas gestorben?