ITALIENISCHE MÄRCHEN Herausgegeben und übersetzt von
Felix Karlinger
Rowohlt
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch ...
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ITALIENISCHE MÄRCHEN Herausgegeben und übersetzt von
Felix Karlinger
Rowohlt
Veröffentlicht im Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg, März 1992 Copyright © 1973 by Eugen Diederichs Verlag GmbH & Co. KG, München
Umschlaggestaltung: Hanke/Lembke/Rothfos (Illustration: Heike Petersen) Gesamtherstellung Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 1280-ISBN 3 499 35036 x
Märchen und Novellen des 13. und 14. Jahrhunderts, der anmutig-fabulierenden Renaissance, des schwelgerischen Barocks und der Neuzeit
OBERITALIEN
1 Die silberne Nase
Es war einmal eine arme Wäscherin, die war Witwe und hatte drei Töchter. Alle vier gingen Wäsche waschen, aber sie konnten arbeiten, soviel sie mochten, sie litten doch Hunger dabei. Eines Tages sagte die größte von den Töchtern: «Ich will von daheim weg, und wenn ich gehen müßte, um dem Teufel zu dienen.» «Sprich nicht so, Tochter», sagte die Mutter, «du weißt nicht, was dir zustoßen könnte.» Es vergingen nicht viele Tage, da stellte sich in ihrem Hause ein Herr ein, der war ganz schwarz gekleidet und hatte eine silberne Nase. «Ich weiß, daß Ihr da drei Töchter habt», sprach er zur Mutter, «wollt Ihr nicht eine davon in meinen Dienst geben? Ich will sie gut entlohnen.» Die Mutter hätte sie sogleich gehen lassen, aber da war diese silberne Nase, die ihr nicht gefiel. Sie rief insgeheim ihre älteste Tochter und sagte: «Paß auf! Hast du in dieser Welt je einen Menschen mit einer silbernen Nase gesehen? Nimm dich in acht, wenn du mit diesem mitgehst!» Die Tochter, welche die Stunde nicht erwarten konnte, da sie von daheim weggehen durfte, reiste bald darauf mit dem Silbernasigen ab. Sie gingen weit und noch weiter, über Berg und Tal, durch Wälder und Wüsten, und an einem Punkt, sehr weit von daheim weg, sah man ein Leuchten wie von einem großen Brand.
«Was ist denn das da drüben?» fragte das Mädchen, das etwas ängstlich wurde. «Das ist mein Haus. Dorthin gehen wir», entgegnete der Silbernasige. Das Mädchen folgte ihm zaghaft, und es konnte sein Zittern nicht verbergen. Sie kamen zu einem großen, großen Palast, und der Silbernasige zeigte ihr alle Zimmer, eines schöner als das andere. Und zu jedem Zimmer gab er ihr den dazu passenden Schlüssel. So kamen sie an die Türe des letzten Zimmers, auch dazu gab ihr der Silbernasige den Schlüssel, aber er sagte: «Diese Türe darfst du niemals und um keinen Preis öffnen, sonst wehe dir!» «Und die andern Zimmer?» «In allen anderen Zimmern bist du die Herrin und kannst machen, was du willst. Von diesem Zimmer hier aber nicht!» Das Mädchen dachte für sich: ‹Da muß aber etwas Besonderes darinnen sein›, und es beschloß bei sich, das Zimmer zu besuchen, sobald es allein sei. Am Abend, nachdem es den Silbernasigen bedient hatte, ging das Mädchen in seine Kammer und schlummerte bald darauf ein. Als sie aber fest schlief, trat der Silbernasige heimlich ein, näherte sich ihrem Bett und steckte ihr eine Rose ins Haar; dann machte er sich wieder leise, leise davon. Am andern Morgen sagte der Silbernasige zum Mädchen: «Ich gehe jetzt meinen Geschäften nach. Sieh zu, daß du das Haus in Ordnung bringst, aber hüte dich, jenes Zimmer zu betreten!» Kaum war er aus dem Hause, da hatte das Mädchen nichts Eiligeres zu tun, als zu dem verbotenen Zimmer zu laufen und die Türe aufzusperren. Als sie die Türe geöffnet hatte, sah sie Flammen und Rauch, und in dem Feuer brannten verdammte Seelen. Da wußte das Mädchen, daß der Silbernasige der
Teufel und das Zimmer die Hölle war. Sie stieß einen Schrei aus und schloß sofort die Türe, dann lief sie in das Zimmer, das von dem höllischen Gemach am weitesten entfernt lag. Aber eine höllische Flamme hatte ihr die Rose versengt, die sie im Haar trug. Der Herr Silbernase kehrte nach Hause zurück und sah sofort, daß die Rose verbrannt war. «Ah! So hast du mir also gefolgt!» sagte er. Und er packte sie bei den Haaren und schleifte sie zu jenem Zimmer, öffnete die Türe und warf sie mitten in die höllischen Flammen. Einige Tage später aber begab er sich zu jener Wäscherin. «Eure Tochter fühlt sich sehr wohl, aber die Arbeit ist zuviel. Sie braucht dringend eine Hilfe. Könnt Ihr mir nicht auch Eure zweite Tochter in Dienst geben?» Und so kehrte er mit der Zweiten in seinen Palast zurück. Er zeigte ihr alle Zimmer und gab ihr zu jedem den passenden Schlüssel. Beim letzten Zimmer aber gab er ihr zwar den Schlüssel, sagte jedoch: «Diese Türe darfst du niemals und um keinen Preis öffnen, sonst wehe dir!» «Das kann mir nicht einfallen», erwiderte das Mädchen, «was gehen mich Eure Geschäfte an.» Am Abend, nachdem das Mädchen den Silbernasigen bedient hatte, ging es in seine Kammer, legte sich zu Bett und schlummerte bald darauf ein. Als sie aber fest schlief, trat der Silbernasige leise, leise ein, näherte sich ihrem Bette und steckte ihr eine Nelke ins Haar. Dann machte er sich so heimlich davon, wie er gekommen war. Am folgenden Morgen, kaum nachdem der Silbernasige ausgegangen war, machte sich das Mädchen sogleich daran, die Türe zum verbotenen Zimmer aufzuschließen. Da sah sie Flammen und Rauch und die verdammten Seelen, und mitten unter ihnen erkannte sie ihre eigene Schwester.
«Schwester!» schrie diese. «Befreie mich aus dieser Hölle!» Aber die Zweite fühlte sich einer Ohnmacht nahe, sie verschloß sogleich wieder die Türe und rannte davon. Aber sie wußte nicht, wo sie sich verbergen solle, denn sie war nun sicher, daß der Silbernasige der Teufel war. Der kam bald darauf zurück, er sah die versengte Nelke im Haar des Mädchens und sagte zu ihm: «Ah, so hast du mir also gefolgt!» Und er packte sie bei den Haaren und schleifte sie zu jenem Zimmer, öffnete die Türe und warf die Unglückliche mitten in die höllischen Flammen. Kurze Zeit danach stellte er sich wieder bei der Wäscherin ein. «Die Arbeit in meinem Haus ist so viel, daß selbst zwei Mädchen nicht alles schaffen können. Wollt Ihr mir nicht auch noch Eure Dritte in Dienst geben?» Und so kehrte er mit der Jüngsten, die Lucia hieß, in seinen Palast zurück. Lucia aber war nicht nur die jüngste, sondern auch die schlaueste von den dreien. Auch ihr zeigte der Silbernasige alle Zimmer und gab ihr dazu die Schlüssel. Und auch zu Lucia sagte er bei der letzten Türe: «Diese Türe darfst du niemals und um keinen Preis öffnen, sonst wehe dir!» Am Abend, nachdem Lucia den Silbernasigen bedient hatte, ging sie in ihre Kammer, legte sich zu Bett und schlief gleich ein. Als sie aber fest schlummerte, trat der Silbernasige leise, leise ein, näherte sich dem Bette und steckte dem Mädchen eine Jasminblüte ins Haar; dann machte er sich so heimlich davon, wie er gekommen war. Am Morgen, als Lucia erwachte, stand sie auf und kämmte sich die Haare. Da sah sie im Spiegel gleich die Jasminblüte und sprach bei sich: «Da schau her! Herr Silbernase hat mir eine Jasminblüte ins Haar gesteckt. Was für ein hübscher Einfall! Aber ich will ihr frisches Wasser geben.» Und sie steckte die Blüte in eine Vase. Nachdem sie sich gekämmt
hatte, ging sie im Hause herum und merkte, daß sie allein war. Da lief sie schnell zum verbotenen Zimmer und öffnete die Türe. Da sah sie Flammen und Rauch, und sie erkannte unter den verdammten Seelen ihre beiden Schwestern. «Lucia, Lucia!» schrien diese. «Lauf fort! Rette dich!» Lucia verschloß zunächst wieder sorgfältig die Türe. Dann dachte sie nach, wie sie ihre Schwestern befreien könnte. Als der Teufel zurückkehrte, hatte sich Lucia die Jasminblüte wieder ins Haar gesteckt und tat, als ob nichts geschehen wäre. Der Silbernasige sah die Blüte und sagte: «Ah, was für eine hübsche frische Blüte!» «Freilich, warum sollte sie nicht frisch sein? Trägt man etwa verwelkte Blumen im Haar?» «Nein, nein», entgegnete der Silbernasige, «ich sagte es nur eben so hin. Du aber scheinst mir ein braves Mädchen zu sein. Und wenn du so weitermachst, werden wir uns immer gut verstehn. Bist du zufrieden?» «Ja, hier geht’s mir gut. Aber es würde mir noch besser gefallen, wenn ich nicht eine Sorge hätte.» «Und was für eine Sorge?» «Als ich von daheim wegging, fühlte sich meine Mutter nicht recht gut. Und nun fehlen mir schon lange alle Nachrichten von ihr.» «Wenn’s nicht mehr ist als das», sagte der Teufel, «dann werde ich gleich hinschauen und dir von ihr Nachricht geben.» «Danke! Ihr seid sehr gütig. Wenn Ihr morgen gehen könntet, würde ich Euch einen Sack mit schmutziger Wäsche mitgeben. Falls es meiner Mutter wieder besser gehen sollte, könnte sie diese gleich waschen. Oder belaste ich Euch damit zu sehr?» «Keine Rede!» sagte der Teufel. «Mir kann niemals etwas zu schwer sein.» Der Silbernasige war kaum ausgegangen, da öffnete Lucia die Türe zum höllischen Zimmer, zog ihre älteste Schwester
aus dem Feuer heraus, steckte sie in den Sack und band diesen zu. «Verhalte dich ruhig», sagte sie, «der Teufel selbst wird dich heim tragen. Wenn du aber merkst, daß er den Sack unterwegs abstellt, dann sagst du: ‹Ich sehe dich, ich sehe dich!›» Als der Silbernasige am nächsten Morgen sich auf den Weg machen wollte, sagte Lucia zu ihm: «Hier ist der Sack mit der schmutzigen Wäsche. Aber werdet Ihr ihn auch wirklich bis zum Hause meiner Mutter tragen?» «Warum traust du mir nicht?» begehrte der Teufel zu wissen. «Doch, ich vertraue Euch. Um so mehr als ich die Gabe besitze, in die Ferne zu sehen. Und wenn Ihr immer wo den Sack abstellen würdet, könnte ich Euch doch sehen!» «Da schau her!» erwiderte der Teufel. Bei sich aber dachte er, daß das Mädchen zuviel Worte mache und man die Geschichte nicht ernst zu nehmen brauche. Er warf sich den Sack über die Schulter. «Der ist aber höllisch schwer!» sagte er empört. «Das kommt davon, weil Ihr so viele Jahre nicht habt waschen lassen», antwortete das Mädchen. Der Silbernasige machte sich auf den Weg. Aber als er die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte, sprach er bei sich: «Verdammt! Ich will doch einmal nachsehen, ob dieses Mädchen mir nicht mit der Ausrede, es sei schmutzige Wäsche, mein Haus ausplündert!» Und er machte sich daran, den Sack abzustellen. «Ich sehe dich, ich sehe dich!» rief sogleich die Schwester im Sack. «Verflucht! Es ist wahr: sie sieht in die Ferne», sprach der Teufel und lud sich fluchend den schweren Sack wieder auf die Schulter. Dann ging er ohne Halt bis zum Hause der Wäscherin.
«Eure Tochter schickt Euch diesen Sack schmutziger Wäsche und will wissen, wie es Euch geht.» Kaum war der Silbernasige aus dem Hause, da öffnete die Mutter den Sack, und ihr könnt euch vorstellen, wie sehr sie sich darüber freute, ihre Älteste zu finden! Nach einer Woche stellte sich Lucia wieder schwermütig, und auf sein Befragen äußerte sie den Wunsch, wieder Nachricht von ihrer Mutter zu erhalten. «Gut, wenn es nicht mehr ist als das, werde ich gleich morgen gehen, um deine Mutter zu besuchen», versprach der Teufel. «Dann könnt Ihr mir auch wieder einen Sack mit schmutziger Wäsche mitnehmen.» Das paßte dem Silbernasigen nun weniger, aber er konnte es Lucia nicht gut abschlagen. Das Mädchen aber versteckte seine zweite Schwester in dem Sack und sagte auch zu ihr: «Verhalte dich ruhig! Der Teufel selbst wird dich heim tragen. Wenn du aber merkst, daß er den Sack unterwegs abstellen will, dann sagst du: ‹Ich sehe dich, ich sehe dich!›» Am nächsten Tag machte sich der Teufel also mit dem Sack auf den Weg, und er hätte gern nachgesehen, ob im Sack wirklich nur schmutzige Wäsche wäre, aber sooft er den Sack abstellen wollte, hörte er eine Stimme: «Ich sehe dich, ich sehe dich.» Und da gab er’s auf und trug den Sack ins Haus der Wäscherin. Als die den Silbernasigen kommen sah, fürchtete sie sich sehr, denn sie wußte nun, daß das der Teufel war, und hatte Angst, er wolle die gewaschene Wäsche mitnehmen. Aber der Silbernasige wischte sich den Schweiß von der Stirne und sagte: «Die frische Wäsche nehme ich ein anderes Mal mit. Hier dieser schwere Sack hat mir genug Plage gemacht, so daß mich der ganze Rücken schmerzt. Ich will ohne Last den Rückweg antreten.»
Als er weg war, öffnete die Mutter den Sack und fand ihre zweite Tochter. Voll Freude umarmte sie diese, aber um so mehr Angst litt sie um Lucia, die nun allein in Händen des Teufels war. Und was machte nun Lucia? Einige Tage darauf plagte sie den Teufel wieder mit ihren Klagen, daß sie sich um ihre Mutter sorge. «Ich habe heute furchtbar Kopfweh!» sagte sie. «Aber ich habe den Sack mit Schmutzwäsche für morgen schon hergerichtet, so daß Ihr ihn morgen früh mitnehmen könnt, ohne daß ich ihn erst richte. Denn wenn mir morgen nicht besser ist, muß ich im Bett bleiben; ich bitte Euch, laßt mich etwas länger schlafen!» Der Teufel war zwar von dieser Aussicht wenig erbaut, aber da das Mädchen immer so brav und folgsam war, konnte er ihr die Bitte schlecht abschlagen. Nun muß man aber wissen, daß Lucia heimlich eine große Puppe genäht hatte. Die legte sie in ihr eigenes Bett, schnitt sich ihre Zöpfe ab und nähte sie der Puppe an den Kopf. Sich selbst aber versteckte sie im Sack. Am Morgen öffnete der Teufel leise die Türe zum Schlafzimmer des Mädchens. Das war ganz unter der Decke begraben, nur die Zöpfe hingen herunter. «Die Arme ist wirklich krank!» sagte der Teufel, nahm den Sack auf die Schulter und machte sich auf den Weg. Nach einer guten Strecke sprach er bei sich: «Wenn Lucia heute krank ist, dann wird sie auch sicher nicht so aufpassen wie sonst. Das ist eine gute Gelegenheit, im Sack nachzuschauen, ob tatsächlich nur schmutzige Wäsche darinnen ist.» Und er stellte den Sack ab. «Ich sehe dich, ich sehe dich!» rief Lucia. «Verdammt! Ganz ihre Stimme, so als ob sie selbst im Sacke wäre! Das ist ein Mädchen, mit dem man besser nicht anbindet!» Und er nahm den Sack wieder auf die Schulter und machte nicht mehr halt, bis er zur Wäscherin kam.
«Ich werde ein andermal vorbeischauen, um die frische Wäsche mitzunehmen», sagte er, «jetzt muß ich gleich wieder heim, weil Lucia erkrankt ist.» So war die Familie glücklich wieder vereint, und da Lucia auch einiges Geld aus dem Palast des Teufels zu sich gesteckt hatte, konnte sie glücklich und zufrieden leben. Am Eingang des Hauses aber stellten sie ein Kreuz auf, so daß sich der Silbernasige nicht mehr nähern konnte. Der aber hatte gar nicht die Absicht, denn er war froh, Lucia losgeworden zu sein.
2 Der Schatz
In jener fernen Zeit, als Jesus noch mit seinen Jüngern durch die Welt wanderte, kamen sie in einer wilden Gegend an einem Baum vorbei, und unter dem Baum sahen sie eine Kiste stehen. Die Jünger sahen die Kiste von weitem und fragten: «Herr, was steht dort in der Wildnis für eine Truhe?» Er antwortete: «Seht nach!» Da gingen die Jünger hin, öffneten die Truhe und sahen, daß sie bis oben voll Goldmünzen war. Auch Jesus sah im Vorbeigehen die geöffnete Truhe, aus der das Gold funkelte, aber er hielt sich nicht auf, sondern schritt ruhig seines Weges. Da wunderten sich die Jünger, liefen dem Meister nach und sprachen: «Herr, hast du nicht das viele Gold gesehen?» «Ja, was soll’s?» «Herr, dort liegt genug für uns alle, um nie mehr Not zu leiden. Erlaube, daß wir uns davon die Taschen füllen!» «Nein», sagte Jesus, «jetzt noch nicht. Wartet!» Da folgten ihm die Jünger murrend und verstanden nicht, warum sie nicht vom Golde nehmen sollten. Jesus aber sprach: «Warum lauft ihr den Dingen nach, welche die Menschen am meisten verwirren? Habt Geduld, und ihr werdet sehen, was es mit dem Geld auf sich hat.» Als Jesus mit seinen Jüngern schon weit von diesem Ort weg war, kamen dort zwei Freunde vorbei, die miteinander eine Reise machten. Als sie die Truhe sahen, gingen sie hin,
öffneten sie und fanden das viele Gold. Da sagte der eine zum andern: «Liebster Freund, jetzt haben wir ausgesorgt. Wir werden brüderlich teilen und ein schönes Leben führen.» «Ja», sagte der andere, «das werden wir. Aber wie können wir den schweren Schatz wegschaffen?» Da sprach der erste: «Höre, Bruder: Nimm einige Münzen und geh in die nächste Stadt! Dort kaufst du ein Lasttier und kommst damit zurück. Dann wollen wir dem Tier den Schatz aufladen und heimkehren.» Der andere war damit zufrieden, und er nahm einiges Geld, während der erste beim Schatz blieb, um ihn zu bewachen. Als sich die beiden aber getrennt hatten, kam ihnen der gleiche böse Gedanke: ‹Wie mache ich es, daß der Schatz mir allein gehört?› Und jeder machte auf seine Weise einen Plan, um den anderen umzubringen. Als derjenige, der um das Lasttier gegangen war, in die Stadt kam, ging er erst zu einem Bäcker und kaufte einige Brote. Dann ging er in eine Apotheke und sagte: «Ich brauche ein starkes Gift, um Ratten und andere schädliche Tiere zu töten.» Und der Apotheker verkaufte ihm das stärkste Gift, das er besaß. Das tat der Böse nun in die Brote. Dann ging er auf den Markt und kaufte einen Maulesel. Und mit dem kehrte er in die Wildnis zu seinem Freunde zurück. Als er bei seinem Freunde ankam, band er den Maulesel an den Baum, unter dem die Truhe stand, und sagte zu seinem Gefährten: «Ich habe gleich in der Stadt gegessen; aber sieh: ich habe auch an dich, teurer Freund, gedacht und dir diese Brote mitgebracht.» Da antwortete sein Freund, der den Schatz bewacht hatte:
«Bester, ich danke dir, aber jetzt habe ich keinen Hunger. Ich werde die Brote unterwegs essen. So versäumen wir keine Zeit und kommen noch in die Stadt, ehe es dunkel wird.» Und sie nahmen die schwere Truhe, um sie dem Maulesel aufzuladen. Und als der, der den Maulesel gekauft hatte, sich bückte, um den Gurt unter dem Bauch des Maulesels durchzuziehen, erstach ihn sein Freund von hinten mit einem spitzen Dolch, den er bei sich führte. «Nun gehört der Schatz mir, und ich habe keine Eile», sagte der Verräter. Dann nahm er eines der Brote, setzte sich nieder und begann zu essen. Bevor er jedoch das Brot aufgegessen hatte, fiel er tot um. Und wie es so kam: nun lag er neben seinem Feind, der einst sein Freund gewesen war. Am nächsten Tag aber führte Jesus seine Jünger wieder in jene wilde Gegend, und die Jünger sahen mit Schaudern die beiden Toten. Da erzählte ihnen Jesus, was sich zugetragen hatte. Dann ließ er eine Grube machen und das Gold hineinschütten. Den Maulesel aber führten sie mit sich fort.
3 Der Zauberbrunnen
Ein König hatte drei Töchter, die er zärtlich liebte. Er war daran gewöhnt, einen großen Teil des Tages bei seinen Büchern zu verbringen, und eines Tages fiel ihm ein Buch in die Hand, in dem er folgendes las: «O König, habe ein Auge auf deine Töchter, und laß sie sich niemals dem Brunnen in deinem Garten nähern, denn sonst würdest du sie für immer verlieren.» Beim Lesen dieser Mahnung erschrak der gute Vater sehr. Nun gab es an seinem Hofe drei Brüder, die in die drei Prinzessinnen ganz und gar verliebt waren, aber es natürlich nicht wagten, um deren Hand anzuhalten. Der König ließ nun die drei Burschen rufen und gab ihnen den Auftrag, sie sollten auf seine drei Töchter aufpassen und verhindern, daß sie sich je dem Brunnen im Garten näherten. Die Burschen waren nur zu gern bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Aber eines Tages, als sie mit den Mädchen im Garten spazierengingen und hierhin und dorthin kamen, sahen sie mit einem Male die Prinzessinnen nicht mehr. Sie suchten sie hier – sie suchten sie dort, aber alles war vergeblich, sie fanden sie nicht. Was sollten sie jetzt tun? Was konnten sie schon dem König sagen? Der Jüngste von ihnen, der – wie wir sehen werden – auch der Gescheiteste war, sagte: «Verliert nicht den Mut, liebe Brüder! Wir werden es so machen: wir werden dem König erklären, daß wir bereit sind, einer nach dem anderen in die Welt zu ziehen, um die Mädchen zu suchen. Wenn nach einem Jahr der erste nicht heimkehrt, dann soll das heißen, daß
er tot ist oder an der Heimkehr verhindert; und dann soll der zweite losziehen und nach einem Jahr der dritte.» – «Uns gefällt dein Plan», sagten die Brüder und nahmen ihn an. Als der König von dem Verschwinden seiner drei Töchter gehört hatte, glaubte er, vor Schmerz sterben zu müssen. Und als er den Plan der drei Brüder hörte, nahm er ihren Vorschlag gerne an. So reiste denn der Älteste ab, und nachdem er lange durch Wälder und Gebirge geritten war, kam er endlich zu einem Wirtshaus, das einsam in der Wildnis lag. Er stieg ab, klopfte an die Türe, und es erschien eine Alte am Fenster und fragte: «Was willst du?» – «Was ich will? Mich und dieses Pferd hier unter Dach bringen, denn das Pferd ist halb tot vor Hunger und Müdigkeit.» – «Höre einmal, für dich – glaube ich – wird sich ein Platz finden lassen, aber für das Pferd nicht, denn hier gibt es keinen Stall.» – «Sei es, wie es wolle, mach mir nur gleich auf!» Da wurde ihm aufgesperrt und er ging hinein. Er fragte die Alte, ob er ein Zimmer haben könne, um sich auszuruhen. Sie führte ihn in eine Kammer, wo drei Männer beim Kartenspiel saßen. Der Bursche war so unvorsichtig, sich von ihnen zum Spielen verleiten zu lassen. Und da er beim Spiel kein Glück hatte, verspielte er erst sein Geld, dann seine Kleider, sein Pferd und schließlich sich selbst. Dann nahmen ihn die drei Männer, banden ihn und sperrten ihn in einen Stall. Unterdessen verging ein Jahr, und als der Älteste nicht zurückkehrte, sagte der Mittlere zum Jüngsten: «Jetzt versuche ich mein Glück.» Er nahm Geld und ein gutes Pferd und machte sich auf den Weg. Er ritt durch Wälder und Gebirge, und schließlich führte ihn sein Schicksal dorthin, wo sein Bruder gefangenlag. Auch er ließ sich zum Kartenspielen verführen, auch er verlor Geld, Kleider, Pferd und Freiheit.
Als wiederum ein Jahr vorüber war und auch der Mittlere nicht heimkehrte, reiste der Jüngste ab. Und nach einiger Zeit gelangte er zu der gleichen Wirtschaft, wo seine beiden Brüder gefangen waren. Auch er ließ sich zwar zum Kartenspielen verleiten, aber das Glück war ihm freundlicher gesinnt als seinen beiden Brüdern. Er gewann den Spielern alles ab und tötete sie schließlich zusammen mit der häßlichen Alten. Dann befreite er seine beiden Brüder. Am nächsten Tag sagte der Jüngste zum Ältesten: «Du wirst hierbleiben und das Essen kochen, während wir zwei auf die Jagd gehen. Schau, daß alles fertig ist, bis wir heimkommen.» Der Älteste, der in der Wirtschaft geblieben war, machte sich also sogleich daran, das Essen zu kochen, damit alles fertig sei, wenn die Brüder heimkämen. Aber nach kurzer Zeit, als es im Kochtopf schon brutzelte, hörte er einen Lärm im Kamin, und als er hinaufschaute, erblickte er ein scheußliches Vieh, das durch den Kamin herunterstieg. Der Schreck ließ ihn so sehr erstarren, daß er weder daran dachte, sich zu verteidigen noch um Hilfe zu rufen, sondern wie verhext einschlief. Als die beiden andern nach einer guten Jagd heimkamen, fanden sie den Ältesten wie betrunken und – was noch schlimmer war – das Feuer ausgelöscht und das Essen verdorben. Sie fragten den Bruder, was da vorgefallen sei, und der Älteste erzählte ihnen von dem scheußlichen Vieh, das er gesehen habe, und wie ihn gleich der Schlaf überfallen habe. «Morgen werde ich daheim bleiben», sagte der Mittlere, «und ihr geht auf die Jagd. Laßt mich nur machen!» Aber ihm erging es ganz genauso und nicht besser und nicht schlechter als dem ältesten Bruder. So kam denn die Reihe an den Jüngsten, daheim zu bleiben und für das Essen zu sorgen. Der nun, der überhaupt der Klügste und Geschickteste war, ließ sich nicht erschrecken, als er das Untier den Kamin herunterklettern hörte. Er stellte sich vielmehr sogleich
schlafend, und kaum daß die Bestie herunten war und anfing, das Feuer zu löschen und das Essen zu verwüsten, sprang er auf die Füße, zog sein Schwert und schlug ihr den Kopf ab. Und als die beiden größeren Brüder von der Jagd heimkamen, sahen sie mit Staunen, was der Jüngste mit dem Vieh gemacht hatte. Aber es gefiel ihnen nun in dieser Spelunke nicht mehr. Sie gingen hinaus, und im Hof sahen sie einen tiefen, tiefen Brunnen. Der Jüngste sagte zu den anderen beiden: «Holt einmal einen Strick, dann wollen wir nachschauen, was in dem Brunnen ist. Laßt mich mit ihm in die Tiefe hinab, und ich werde mich darum kümmern, in welche Abenteuer ich da komme.» Sie machten es so und ließen den Jüngsten hinunter, und als er auf dem Grund des Brunnens ankam, sah er sich in einem großen Saal, in dem an den Wänden ringsum eine Reihe von Statuen stand, und in einer Ecke des Saales saß ein Alter, der der Wächter zu sein schien. Der Alte schlief, und da näherte sich ihm der Jüngste, zog sein gutes Schwert und schlug ihm mit einem Streich den Kopf ab. Aber welch ein Wunder: aus dem abgeschlagenen Haupt fiel ein Schlüssel heraus. Der Jüngste hob den Schlüssel auf und öffnete mit ihm einen Schrank, der dort stand. Und als er den Schrank geöffnet hatte, fand er dort ein Schriftzeichen, das besagte: «O du, der du so tapfer warst, hier herunterzusteigen, öffne die letzte Schublade dieses Schrankes! Du wirst darin ein Gefäß mit Öl finden, und damit kannst du von den Statuen salben, wen du willst. Und die Statuen, die du salbst, werden ins Leben zurückkehren, mit Haut und Bein, Männer und Frauen.» Kaum hatte der Bursche diese Schrift gelesen, da öffnete er die bezeichnete Schublade und fand darin das Gefäß mit dem Öl. Er nahm das Gefäß heraus und ging damit im Saal herum.
Und da fand er in einer anderen Ecke die drei Prinzessinnen, in Statuen verwandelt, die sie gesucht hatten. Er salbte mit dem Öl diese drei Statuen, und sofort wurden sie lebendig, sprangen herum und umarmten unter Dank ihren Erlöser. Er gab sich aber damit nicht zufrieden, sondern er fuhr fort, Statuen zu salben, solange ihm das Öl reichte. Und so sah er sich schließlich von einer Menge hübscher junger Mädchen und eleganter junger Burschen umgeben. Er führte sie alle dorthin, wo der Strick hing, und er ließ einen nach dem andern hinaufziehen. Als er selber aber an die Reihe gekommen wäre, merkte er zu seinem Erstaunen, daß seine Brüder den Strick nicht mehr herunterließen. Er schrie laut, aber niemand antwortete ihm. Da er nicht wußte, wo er sich den Kopf einrennen sollte, begann er verzweifelt zu pfeifen in der Hoffnung, daß ihn vielleicht am Ende doch noch jemand hören würde. In der Tat hatte er noch nicht lange gepfiffen, als ein Schwarm kleiner Teufel erschien und ihn umtanzte. Sie schrien dabei im Chor: «Was willst du, Herr? Was willst du, Herr?» «Ach, was ich will? Ich will hier heraus und sonst nichts», antwortete der Bursche, der sich durch nichts erschrecken ließ. Er hatte es kaum gesagt, da fand er sich schon aus dem Brunnen befreit. Nun verlor er keine Zeit, sondern verfolgte die Spuren seiner Brüder, bis er zum Hof des Königs gelangte, von dem er vor einigen Monaten ausgezogen war. Er fand dort alles auf einem großen Fest zur Feier der Befreiung der drei Prinzessinnen. Die beiden verräterischen Brüder, die allen zu verstehen gegeben hatten, daß sie selbst die Prinzessinnen befreit hätten, fühlten sich nicht recht gut, als sie ihren Bruder kommen sahen. Der zeigte sich dem König und erzählte Punkt für Punkt, was sich zugetragen hatte. Der König war sehr bewegt, umarmte den Burschen und gab ihm
eine seiner drei Töchter zur Frau. Dann wandte er sich den beiden Übeltätern zu und wollte sie töten lassen. Aber der Jüngste, der so klug und tapfer gewesen war, war außerdem auch sehr gutherzig und großmütig. Er bat für seine Brüder um Verzeihung, und der König begnadigte sie. Dann aber feierte man die glänzendste Hochzeit, die es je gegeben hat.
4 Es gibt keinen Teufel mehr
Es war einmal eine arme Familie: Vater, Mutter und Sohn, die sich kaum am Leben erhalten konnten. Eines Tages nahm der Vater die Mutter auf die Seite und sagte: «Höre einmal, jetzt ist unser Sohn schon aus den Kinderschuhen herausgewachsen, er ist stark wie ein Stier und schlau wie ein Fuchs. Er kann jetzt auch beginnen zu arbeiten und sich sein Leben verdienen. Morgen werde ich ihn in die nächste Stadt mitnehmen, und dort wird sich sicher eine gute Familie finden, wo er als Diener angenommen wird.» Seine Frau war damit zufrieden. Am nächsten Tag rief der Mann seinen Sohn und sagte ihm, was er mit ihm machen wolle; und dann machten sie sich auf den Weg in die Stadt. Als sie so dahinmarschierten, sahen sie von weitem einen Wagen kommen, der von zwei pechschwarzen Pferden gezogen wurde. Sowie der Wagen bei den beiden ist, hält er an. Und da steigt aus den Wagen ein Herr heraus, ganz schwarz gekleidet, und er wendet sich an den Vater und sagt: «Wo geht Ihr hin, guter Mann, mit diesem Buben?» – Da antwortet der Vater: «Ich gehe in die Stadt, wo ich für meinen Sohn eine Stelle als Diener bei einer guten Familie suchen will. Wir sind nämlich arme Leute, und man muß sich zu leben verschaffen.» – «Ich werde ihn gern für ein Jahr in Dienst nehmen», sagte der Herr. All sie sich über die Höhe des Lohnes geeinigt hatten, zahlte der Herr diesen im voraus dem Vater aus. Dann stieg der Sohn in den Wagen, und der Vater machte sich mit dem Geld davon. Er hatte aber erst wenige Schritte gemacht, wobei er das Geld
nachzählte, und da fiel ihm auf, daß kein Geräusch des fahrenden Wagens mehr zu hören war. Er drehte sich um und sah nichts mehr. Ihr könnt euch vorstellen, wie verwundert der Mann war. Er meinte, er habe geträumt. Dann aber bildete er sich ein, daß seinem Sohn ein Unheil zugestoßen sei, und er bereute, daß er ihn dem Erstbesten überlassen hatte. Als er daheim angekommen war, erzählte er alles seiner Frau. Diese lief sofort zum Pfarrer, um ihn um Rat zu bitten. Und der Pfarrer meinte: «Meine Liebe, Euer Sohn ist in die Hände des Teufels gefallen. Aber regt Euch deshalb nicht auf, denn auch der Teufel hält sein Wort, wenn er es gegeben hat, und das viel besser als mancher Mensch. Nach einem Jahr werdet Ihr Euren Sohn wiedersehen, aber hütet Euch davor, daß Ihr nicht ein zweites Mal hereinfallt!» Die Frau kehrte etwas getröstet zu ihrem Gatten zurück. Sie warten ein Jahr; eines Abends, als gerade der Mann und seine Frau an ihren Sohn dachten und daß er gerade an diesem Tage eigentlich zurückkehren sollte, hören sie ein Klopfen an der Türe, die zur Straße führt. Sie laufen hin, öffnen und umarmen den Sohn. Mit dem Geld, das der Bub nach Hause brachte, lebte die arme Familie einige Zeit recht gut; aber als der Zeitpunkt kam, da es ihnen an allem möglichen fehlte, ging die alte Mühe und Plage wieder los. Aber der Sohn war nicht umsonst ein Jahr beim Teufel gewesen. Unter anderem hatte er gelernt, sich in was er wollte zu verwandeln. Er sagte deshalb zum Vater: «Hast du kein Geld mehr? Das ist nicht so schlimm. Schau: ich weiß Wege, davon genug zu bekommen. Ich werde mich in einen Jagdhund verwandeln, und ihr werdet mich um einen guten Preis verkaufen; dann werde ich wieder heimkommen.» Der Vater, der von der Armut dazu gezwungen war, machte es so, wie es ihm der Sohn gesagt hatte. Jener verwandelte sich also in einen Jagdhund, den schönsten, den man je gesehen
hatte, und der Vater führte ihn auf den Markt. Alle Leute, die diesen Jagdhund sahen, waren ganz begeistert von ihm. Sie fragten alle, was er koste, und als sie den hohen Preis hörten, gingen sie davon. Da näherte sich ein reicher Herr, sah den Hund, der ihm sehr gefiel, und kaufte ihn um den Preis, den ihm der Mann nannte. Eines Tages nun ruft der Herr einige seiner Freunde, weil er den Jagdhund ausprobieren will. Man geht auf die Jagd, und der Hund ist ein wahres Wunder, es scheint, daß er einen geradezu menschlichen Verstand hat. Aber mitten im schönsten Jagen sehen sie ihn nicht mehr. Sie laufen hierhin, sie laufen dorthin, aber alles ist umsonst. Sie hätten den Hund noch hundert Jahre suchen können und sie hätten ihn doch nicht gefunden, denn der hatte sich wieder in einen Buben verwandelt und war nach Hause zurückgekehrt, um es sich mit dem Geld gutgehen zu lassen, das der Vater durch den Verkauf gewonnen hatte. Als auch dieses Geld verbraucht war, sagt der Sohn zum Vater: «Jetzt werde ich mich in ein Pferd verwandeln, und Ihr werdet mich im nächsten Dorf verkaufen. Aber ich bitte Euch um eine Sache: wenn Ihr mich verkauft, nehmt mir den Zügel ab und tragt ihn heim.» Nachdem er das gesagt hatte, verwandelte er sich in das schönste Pferd, das man je gesehen hatte. Der Vater aber führt ihn auf den Markt im nächsten Dorf. Alle bewundern die große Schönheit des Pferdes, aber sobald sie den hohen Preis hören, der dafür verlangt wird, laufen sie davon und sagen, nur ein Verrückter würde so viel ausgeben. Es versteht sich von selbst, daß auch der Teufel dorthin kam, und sofort erkannte er in dem Pferd seinen Diener. Und weil es ihm mißfallen hatte, daß der Bursche nicht mehr in Dienst zu ihm zurückgekehrt war und ihm sogar das Geheimnis, sich zu
verwandeln, geraubt hatte, näherte er sich dem Mann und kaufte ihm das schöne Tier ab. Er sprang so schnell auf das Pferd und ritt im Galopp weg, daß der Vater den Zügel nicht mehr abnehmen konnte. Traurig kehrte er nach Hause zurück. Der Teufel aber führte das Pferd in seinen Stall und befahl seinen Dienern, sie sollten ihm nichts zu trinken geben. Er wollte sich auf jede mögliche Weise rächen und das Pferd am Durst krepieren lassen. Das arme Vieh war in wenigen Tagen so heruntergekommen, daß es sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Und fliehen konnte es auch nicht, denn es war mit dem Zügel festgebunden. Die Diener aber hatten Mitleid mit dem schönen Tier, und sie warteten auf einen Augenblick, an dem der Teufel nicht da war, dann banden sie das Pferd los und führten es zu einer Quelle, und dort ließen sie es nach Herzenslust trinken. Als der Bursche sich frei fühlte, verwandelte er sich schnell in einen Fisch und entfloh im Wasser. Die Diener aber sahen ihn nicht mehr und standen wie verhext dort. Als der Teufel nach Hause zurückkam, fragte er nach dem Pferd. Die Diener erzählten ihm die Geschichte und daß das Pferd verschwunden sei. Der Teufel konnte sich sofort vorstellen, was passiert war, und er verwandelte sich schnell in einen Raubfisch und machte sich daran, den Burschen zu verfolgen. Der war knapp daran, erwischt zu werden, und als er sich schon verloren sah, verwandelte er sich schnell in einen Vogel und flog davon. Da verwandelte sich auch der Teufel in einen Vogel und flog wie ein Blitz hinter dem andern her. Der Verfolgte sah sich schon verloren, und er verwandelte sich schnell in einen Granatapfel und ließ sich in den Schoß eines schönen Mädchens fallen, das gerade an einem Fenster saß. Das Mädchen nahm den Granatapfel in die Hand, und dieser bat es, ihn doch zu retten, weil er vom Teufel verfolgt werde. Das Mädchen blieb wie
betäubt sitzen und verstand nicht, in welches Abenteuer es geraten sei. Da erschien ein schöner junger Herr und bat es um die Hälfte des Granatapfels. Es war, wie man sich denken kann, der Teufel. Das Mädchen teilt den Granatapfel in zwei Hälften und siehe, da fallen eine Reihe Kerne zu Boden, und der Granatapfel ist verschwunden. Der Teufel verwandelt sich sofort in eine Henne und pickt wie wild die Körner auf. Ein einziges Korn entgeht ihm, denn es ist unter dem Fuß des Mädchens, und so ist der Bursche gerettet. Er verwandelt sich in einen Marder, packt die Henne beim Kragen und tötet sie. Und das ist die Ursache dafür, daß es keinen Teufel mehr gibt.
5 Das Land, wo man nie stirbt
Eines Tages sagte ein junger Mann: «Mir gefällt die Geschichte nicht, daß wir alle sterben müssen. Ich will hingehen und das Land suchen, wo man niemals stirbt.» Und er ging hin und verabschiedete sich von Vater und Mutter und von allen Verwandten, und dann machte er sich auf die Wanderschaft. Überall fragte er nach dem Lande, wo man niemals stirbt, aber sooft er auch fragen mochte, keiner konnte ihm die richtige Antwort geben. So wanderte er landauf, landab und fand doch keinen, der es wußte. Eines Tages begegnete er einem alten Mann, der hatte einen langen, langen Bart und schob auf einem Schubkarren Steine vor sich her. Er fragte den Alten: «He, könnt Ihr mir nicht den Weg in das Land zeigen, wo man niemals stirbt?» «Willst du nicht sterben? So komm mit mir! Solange ich nicht jenes Gebirge Stein um Stein abgetragen habe, wirst du nicht sterben!» «Und wieviel Jahre werdet Ihr brauchen, um das Gebirge abzutragen?» «Hunderttausend Jahre oder etwas mehr.» «Und dann muß ich sterben?» «Natürlich.» «Nein, dann ist das nicht der richtige Ort für mich, denn ich suche das Land, wo man nie, niemals stirbt.» Er grüßte den Alten und machte sich wieder auf den Weg. Er wanderte und wanderte, und endlich kam er in einen großen, großen Wald. Der Wald war so groß, daß er niemals ein Ende
zu nehmen schien. Da traf er einen alten Mann, der hatte einen noch längeren Bart als jener Alte mit dem Schubkarren. Der Alte aber schnitt mit einem Messerehen Zweige von einem Baum. Der Jüngling fragte ihn: «He, Alterchen, könnt Ihr mir den Weg sagen zu dem Lande, wo man niemals stirbt?» «Bleib bei mir!» sagte der Alte. «Ehe ich nicht mit meinem Messerchen alle Zweige dieses Waldes abgeschnitten habe, wirst du nicht sterben.» «Und wie lange wirst du dazu brauchen?» «Mindestens zweihunderttausend Jahre, vielleicht aber auch mehr.» «Und dann muß ich sterben?» «Ja, sicher. Ist es dir denn nicht genug?» «Nein, wenn das alles ist. Ich suche das Land, wo man niemals stirbt.» Er grüßte den Alten und wanderte weiter. Nach vielen Monden kam er schließlich ans Ufer eines Meeres. Da traf er einen Alten, der hatte einen langen, langen Bart, der ihm bis zu den Knien reichte. Der Alte aber hütete eine Ente, die auf dem Wasser schwamm. «He, Alterchen», fragte der Jüngling, «könnt Ihr mir vielleicht den Weg sagen zu dem Lande, wo man niemals stirbt?» «Wenn du Angst vor dem Tode hast, dann bleibe bei mir! Solange diese Ente nicht das Meer ausgetrunken hat, wirst du nicht sterben.» «Und wieviel Zeit braucht sie dazu?» «Über den Daumen gepeilt: fünfhunderttausend Jahre.» «Und dann muß ich sterben?» «Ja, was willst du machen! Wieviel Jahre willst du dich denn auf dieser Erde herumtreiben?»
«Dann ist auch das nicht der rechte Fleck für mich, denn ich suche das Land, wo man niemals stirbt.» Und er grüßte den Alten höflich und lenkte seine Schritte weiter. Er ging und ging, und eines Abends kam er zu einem herrlichen Palast. Er klopfte an, da öffnete ihm ein alter Mann, der hatte einen langen, langen Bart, ja der Bart war so lang, daß er ihm bis auf die Fußspitzen herab reichte. Der Alte aber fragte: «Was willst du, Jüngling?» «Ich suche das Land, wo man niemals stirbt.» «Bravo! Ich kann dich gut verstehen. Du hast Glück gehabt und den rechten Ort gefunden. Solange du hier bei mir bleibst, wirst du niemals sterben.» «Endlich! Das war aber ein gutes Stück Weg! Das ist also endlich der Fleck, den ich so lange gesucht habe! Aber Ihr, seid Ihr selbst zufrieden, hier zu sein?» «Aber ja, vor allem dann, wenn du mir Gesellschaft leistest.» So ließ sich der Jüngling in dem Palast nieder, leistete dem Alten Gesellschaft und führte das Leben eines großen Herrn. Es vergingen die Jahre im Fluge, ohne daß man es merkte. Jahre, Jahre, Jahre… Eines Tages sagte der Jüngling zum Alten: «Hier bei Euch lebt es sich wirklich sehr gut, aber ich habe Sehnsucht, einmal zu den Meinen zu gehen und zu schauen, wie es meiner ganzen Verwandtschaft geht.» «Was für eine Verwandtschaft willst du denn besuchen? Die sind doch alle schon eine ganz schöne Zeit tot!» «Gut. Dann möchte ich wenigstens meine Heimat sehen. Wer weiß, wem ich begegnen werde. Wenn schon nicht meinen Verwandten, dann deren Söhnen oder Enkeln.» «Na, wenn du dir den Gedanken in den Kopf gesetzt hast, will ich dich nicht davon abbringen, sondern dir sagen, wie du es machen mußt. Geh in den Stall, nimm meinen Schimmel, der hat die Gabe, so schnell wie der Wind zu laufen. Aber
vergiß nicht: du darfst niemals absteigen! Auf gar keinen Fall! Wenn du den Sattel verläßt, mußt du sofort sterben!» «Seid nur ruhig! Ich werde schon nicht absteigen, denn ich habe nicht den geringsten Wunsch nach dem Tode.» Er ging also in den Stall hinunter, sah dort den Schimmel stehen, den zog er heraus, sattelte ihn und ritt wie der Wind davon. Er durchritt alle Landschaften, die er einst durchwandert hatte. Da kam er zuerst zu dem Ort, wo der Alte die Ente gehütet hatte, die auf dem Meere schwamm. Doch, wo erst ein weites Meer gewesen war, fand er jetzt eine große Ebene. Und am Rande lag ein kleines Häuflein Knochen, die waren das Gerippe jenes Alten. «Da schau her», sprach der Jüngling bei sich, «ich habe doch gut getan, weitergewandert zu sein. Sonst wäre ich jetzt auch schon längst tot.» Er ritt seine Straße fort. Dort, wo einst der große, große Wald gewesen war, erstreckte sich nun eine Wüste, und es war auch nicht ein Baum zu sehen. «Auch bei diesem wäre ich schon ein gutes Stück Zeit tot!» sagte der Jüngling. Dann ritt er weiter und kam dorthin, wo einst sich das Gebirge erhoben hatte. Das hatte der Alte ganz abgetragen, es war nicht mehr die kleinste Erhebung zu erkennen, der Ort war flach wie ein Tisch. «Auch hier wäre ich schon längst gestorben», sagte der Jüngling und lenkte sein Pferd weiter. Er ritt und ritt bis zu seiner Heimat. Aber da hatte sich alles verändert, so daß er nichts mehr erkannte. Er suchte vergeblich nach den Seinen. Niemand mehr kannte auch nur den Namen. Da wurde ihm weh ums Herz. «Höchste Zeit, daß ich umkehre», sprach er bei sich. Er wandte das Pferd und ritt zurück zum Palaste des Alten. Aber er war noch nicht weit gekommen, da begegnete er einem
Fuhrmann, der hatte seinen Wagen voller alter Schuhe geladen. Der Fuhrmann hielt den Jüngling an und sagte: «Ach, Herr, könnt Ihr mir nicht einen Augenblick helfen! Mir ist das Rad aus der Achse gegangen.» «Tut mir leid», sagte der Jüngling, «ich habe große Eile und kann nicht absteigen.» «Ach», sagte der Fuhrmann, «seid doch so gütig und habt Mitleid mit mir. Ihr seht, daß ich ganz allein bin und daß es schon Abend wird. Wenn Ihr mir nicht helft, komme ich nimmer heim.» Da erfaßte den Jüngling Mitleid mit dem Fuhrmann, und er schwang sich aus dem Sattel. Aber kaum hatte er mit einem Fuß den Boden berührt, als ihn der Fuhrmann mit einem Arm umschlang und sagte: «Ah, endlich habe ich dich erwischt! Weißt du denn nicht, wer ich bin? Ich bin der Tod! Siehst du alle diese vielen Schuhe auf dem Karren? Die habe ich alle durchgelaufen, um dich zu fassen. Jetzt bist du mir endlich in die Falle gegangen. – Früher oder später müßt ihr ja alle in meinen Armen enden. Da gibt es keinen Ausweg.» Und da hatte auch für den armen Jüngling die Todesstunde geschlagen.
6 Der angenommene Sohn
Oben auf der Burg haben einmal ein Graf und eine Gräfin gehaust. Sie haben keine Kinder gehabt, und die Gräfin war auch schon in einem Alter, wo sie kein Kind mehr hat erwarten können. Sie sind darüber recht traurig gewesen, aber weil es halt so Gottes Wille ist, haben sie nicht geklagt, sondern sie haben einen Neffen zu sich genommen, den Sohn von einem Bruder der Gräfin, und der hat einmal alles erben sollen. Einmal im Winter, als sie gerade haben in die Kirche gehen wollen, ist etwas vor dem Tor gelegen: ein Bündel, und daraus hat man weinen gehört. Da hat die Gräfin es aufgehoben und aufgewickelt, und da hat sie gesehen, daß das ein kleiner Bub ist. Sie hat ihn ihrem Mann gezeigt und hat gesagt: «Schau, was für ein kleiner Tropf! Wollen wir ihn nicht behalten?» – «Ja», hat der Graf gesagt, «wenn du willst, dann behalt ihn halt!» Sie sind wieder umgedreht und ins Schloß gegangen, und die Gräfin hat eine Kinderfrau kommen lassen, und die hat für den Buben sorgen müssen. Und da sie nicht gewußt haben, ob das Kind schon getauft ist, haben sie es taufen lassen, und es ist auf den Namen Peter getauft worden. Das Kind war gesund und stark und ist schnell gewachsen. Die Gräfin und der Graf haben den Peter gern gehabt, aber der Neffe von der Frau hat sehr geeifert, denn er hat Angst gehabt, daß er einmal die Burg und die Herrschaft nicht kriegt. Und er hat das Kind immer in den Augen der Herrschaften schlecht
machen wollen, aber der Graf hat ihn nur ausgelacht, denn er hat genau gemerkt, was der Neffe will. Wie nun der Peter so an die zehn Jahre alt war, hat ihn der Graf in eine Schule schicken wollen, damit er was lernt. Und er hat gesagt: «Wir schicken den Peter zusammen mit unserem Neffen in die Schule, denn dem kann es auch nicht schaden, wenn er etwas lernt.» Die Gräfin hat gesagt: «Es wird nicht guttun, wenn wir die beiden zusammen fortschicken, und es wäre besser, wenn wir jeden woanders hinschicken.» Aber der Graf hat gemeint, so schlimm sei es nicht, und die zwei würden sich schon zusammenraufen. Man hat also jedem ein Pferd gesattelt, hat ihnen zu essen und zu trinken in einen Korb gepackt, auch Gewand dazu. Dann haben sie sich vom Grafen und von der Gräfin verabschiedet und sind davongeritten. Wie sie so durch die Berge geritten sind, haben sie einen schmalen Pfad entlangreiten müssen. Und dann ist der Weg so schmal geworden, daß sie haben absitzen und die Rösser hinter sich herführen müssen. Und an der engsten Stelle hat sich der Neffe umgedreht, hat den Peter bei der Brust gepackt und hat gesagt: «Jetzt schmeiß ich dich hinunter.» Da hat der Peter angefangen zu bitten und hat gesagt: «Was hab ich dir denn getan? Laß mich doch leben!» – «Nein», hat der Neffe gesagt, «wenn ich dich leben lasse, dann kriegst du einmal die Burg und die Herrschaft, und ich kann schaun, wovon ich leb. Du mußt jetzt sterben.» Aber der Peter hat so lange gebittet und gebettelt, bis der Neffe gesagt hat: «Also gut! Schwöre mir, daß du überall sagen wirst, daß ich der Peter bin, den der Graf als Kind angenommen hat, und daß du nur mein Knecht bist.» – «Ich schwöre es!» hat der Peter gesagt, und da hat ihn der andere losgelassen. Als sie aus den Bergen herausgekommen und in die Stadt gekommen sind, haben sie das Haus gesucht, wo der Bruder
vom Grafen gewohnt hat. Und als sie dort angekommen sind, hat der Neffe gesagt: «Onkel, ich bin der Peter.» – «So», hat der Bruder vom Grafen gesagt; «dann bist du der Bub, den mein Bruder adoptiert hat.» – «Ja, der bin ich. Und der da» – und dabei hat er auf den wirklichen Peter gezeigt – «ist mein Knecht.» – «Nun, dann kommt’s halt herein!» Nun haben sie dort gewohnt. Der falsche Peter ist in die Schule gegangen, und der echte Peter hat alle Arbeit für ihn machen müssen, Stiefel putzen, Wäsche waschen. Und weil der Falsche auch noch faul und dumm war, hat ihm der Peter auch noch die Aufgaben für die Schule machen müssen. Der alte Graf aber, bei dem sie gewohnt haben, hat eine Tochter gehabt, und die hat den Peter gern mögen. Sie hat ihm oft zu essen gegeben, wenn er sonst wenig gekriegt hat. Und sie hat ihm geholfen, wo sie können hat. Der Falsche hat sich schlecht aufgeführt, aber wenn er etwas zerbrochen hat, dann hat er immer dem Peter die Schuld gegeben. Und so hat langsam der Graf einen Widerwillen gegen den Peter gehabt und hat gesagt: «Der Knecht taugt nichts und macht uns alles hin.» Einmal aber hat der Falsche zum Grafen gesagt: «Der Knecht ist ein Großmaul! Er hat gesagt, er weiß einen alten Weinkeller bei Bozen, von dem niemand etwas weiß, und darin ist ein ganz alter, guter Wein. Aber er sagt, daß er es niemandem verraten will, wo das ist.» Da ist der Graf wütend geworden und hat den Peter kommen lassen und gesagt: «Fang nur nicht erst an zu leugnen! Ich weiß alles, was du gesagt hast. Und wenn du uns nicht von dem Wein bringst, dann laß ich dich einsperren.» Da hat der Peter zu weinen angefangen und hat nicht gewußt, was er machen soll. Wie ihn die Tochter vom Grafen, die Lieserl geheißen hat, hat weinen hören, hat sie zu ihm gesagt: «Warum weinst denn?» Und da hat er ihr erzählt, daß er einen
Wein holen soll, von dem eine Sage geht, daß es ihn wo gibt, aber niemand weiß etwas Genaues. Da hat das Lieserl zu ihm gesagt: «Hab keine Angst! Ich helf dir schon, und das ist keine Sache.» Und sie hat von ihrer Mutter selig her eine Haube gehabt, und wenn man die aufgesetzt hat, dann hat man auch in der Nacht und in der größten Finsternis sehen können. Und sie hat gesagt: «Nimm diese Haube und reit in der Nacht die und die Straße! Wenn du die Haube aufsetzt, kannst du alles ganz gut sehen. Und vielleicht findest du dann auch den Eingang zu dem Weinkeller. Denn der ist nur in der Nacht da, weil sich die Nachtleut dort ihren Wein holen. Geh dann ruhig hinein, wer brav ist, dem tun sie nichts.» Am Abend hat der Peter also sein Roß aus dem Stall geholt, hat die Haube eingesteckt und ist davongeritten. Wie er bei der Stadt draußen war, hat er die Haube aufgesetzt, und wenn es auch pechschwarz war in der Nacht, so hat er doch alles gut gesehen. Und er hat auch kleine Leute gesehen, die sind alle mit Krügen gegangen. Und wie er den Eingang in einen Weinkeller gesehen hat, ist dort ein Mann gestanden und hat gesagt: «Guten Abend, Peter. Steig nur ab und komm herein. Du kannst so viel Wein haben, wie du willst.» Und er hat den Peter viele, viele Stufen hinuntergeführt, bis sie in einen großen Keller gekommen sind, da waren viele Fässer. «Jetzt setz dich erst einmal her und ruh dich aus!» hat der Mann gesagt und hat ihm etwas zum Essen und zum Trinken gebracht. Wie der Peter genug gevespert gehabt hat, ist er aufgestanden, hat sein Faßl genommen und hat aus einem großen Faß von dem Wein, der dort war, abgezapft. Dann hat er «Vergelt’s Gott!» gesagt und ist die Stiege wieder hinaufgegangen, hat das Faßl auf das Roß hinaufgelupft und es am Zügel heimgeführt.
Am nächsten Tag hat der Graf schön geschaut, wie der Peter ihm den Wein gegeben hat. Man hat gleich etwas abzapfen müssen, und der Graf hat den Wein geschmeckt und gesagt: «So einen guten Wein hab ich mein Lebtag lang nicht getrunken.» Und zum Falschen hat er gesagt: «Der Knecht ist gar nicht so schlecht, und du bist ein Dummkopf, weil du nicht merkst, was der Knecht wert ist, und ihn immer schlechtmachst.» Den Falschen hat das fürchterlich gewurmt, und er hat zum Grafen gesagt: «Onkel, was der da kann, das kann ich auch. Und wenn du willst, dann bring ich dir noch einen besseren Wein.» – «Nun, das werden wir ja sehen.» – «Aber», hat der Falsche gesagt, «du mußt halt warten, bis ich Vakanzen hab, denn wenn ich in die Schule gehen muß, dann kann ich nicht in der Nacht einen Wein suchen gehn.» Und damit hat er sich herausgeredet. Und nach ein paar Wochen haben sie wieder den Peter um den alten Wein geschickt, und er hat ihn dort geholt, wo er das erste Mal war. Und als er sich von dem Wirt im Keller verabschiedet hat, hat ihm der eine goldene Kette gegeben und gesagt: «Bring das der Tochter vom Grafen mit, damit sie auch eine Freud’ hat!» Und wie der Peter dem Lieserl die goldene Kette gegeben hat, ist sie erst erschrocken. «Jesus, du wirst doch nichts gestohlen haben!» Da hat er gesagt: «Nein, die hat mir der Mann unten im Keller für dich mitgegeben, und er hat dazu gesagt: ‹Damit du auch eine Freud’ hast›.» Das Lieserl hat sich seine Gedanken gemacht und hat zum Peter gemeint: «Du bist doch kein Knecht! Du hast ja so weiße Hände.» Da hat der Peter geantwortet: «Ich darf nichts sagen, ich darf nichts sagen.» – «Kann schon sein, daß du mir nichts sagen darfst. Aber wenn es dir recht schwer ums Herz ist, dann geh halt in den Stall und erzähl alles deinem Roß! Oder darfst
du dem auch nichts erzählen?» – «Nur zu einem Menschen darf ich nichts sagen.» Da hat das Lieserl die Haube aufgesetzt, denn die hat auch die Eigenschaft besessen, daß man unsichtbar wird. Und sie ist damit in den Stall gegangen, und der Peter hat sie nicht sehen können. Der Peter aber ist zu seinem Roß hingegangen und hat gesagt: «Mein Gott, Hansl, ist das ein Kreuz!» Und er hat die ganze Geschichte erzählt, wie ihn der Falsche gezwungen hat, zu schwören, daß er sein Knecht ist und der andere der Peter. Das Lieserl hat alles ihrem Vater erzählt, doch der hat es nicht glauben wollen. Da hat ihm am andern Tag das Lieserl die Haube aufgesetzt, und der Graf ist in den Stall gegangen und hat die ganze Geschichte gehört, die der Peter seinem Roß erzählt hat. Aber trotzdem hat er es nicht glauben mögen. Und er hat zu seiner Tochter gesagt: «Weißt du was: ich schreibe an meinen Bruder. Der soll herkommen, dann wissen wir schnell, wie alles steht.» Und so hat er es gemacht. Dem Falschen aber hat er nichts erzählt, und den Peter hat er zum drittenmal um einen alten Wein geschickt. Wie der Peter sich beim Wirt bedankt hat, ist der Wirt wieder aufgestanden und zu einer Truhe gegangen. Dort hat er einen Ring herausgenommen, und zum Peter hat er gesagt: «Bring dem Mädel den Ring und sag ihm: Jetzt ist’s bald Zeit zum Heiraten!» Der Peter hat den Ring eingesteckt, sein Faßl genommen und sich auf den Heimweg gemacht. Als er aber dem Lieserl den Ring gegeben und das vom Heiraten ausgerichtet hat, ist sie über und über rot geworden. Bald darauf sind der Bruder vom Grafen und seine Frau gekommen. Wie der Falsche seinen anderen Onkel und die Tante gesehen hat, ist er käsweiß geworden und hat gesagt: «Das war alles nur ein Spaß!» Aber der alte Graf, der Vater
vom Lieserl, hat gemeint: «Bürscherl, du bist ein Lügner und Betrüger!» – «Oho», hat der Falsche gesagt, «und bin ich nicht der Peter, so bin ich doch kein Findelkind, sondern Euer Neffe. Oder etwa nicht? Und heut nacht geh ich um einen Wein, aber der Peter muß mich hinführen, weil er den Weg schon kennt.» Die beiden Grafen haben zwar gemeint, eine Tracht Prügel wäre jetzt das Gesündeste, aber sie wollten noch einmal abwarten, ob er sich bessert. Und am Abend ist der Peter mit dem Falschen zum Eingang vom Weinkeller gegangen. Der Wirt ist schon dagestanden und hat gesagt: «So, Peter, da ist ein Faßl Wein für eure Hochzeit.» Und zum Falschen: «Komm nur herein. Du kriegst, was du verdienst.» Der Peter ist heimgegangen und hat das Lieserl geheiratet. Vom Falschen aber hat man nie mehr etwas gehört. Und den Eingang zum Weinkeller hat man nie mehr gefunden.
7 Die drei Gänse
Drei Gänse waren auf einem Jahrmarkt gewesen und kehrten mit den eingekauften Sachen nach Hause zurück. Aber sie mußten durch einen Wald gehen, und auf dem Wege überraschte sie die Nacht. Sie berieten, was zu tun sei. «Wir armen Gänse können heute unsere Wohnung nicht mehr erreichen. – Was fangen wir nur an, um uns vor dem Wolfe zu schützen?» Sie beschlossen, sich Häuser zu bauen. Jede baute sich ein besonderes Haus, die erste aus Stroh, die zweite aus Holz, die dritte aus Eisen. In der Nacht kam der Wolf und ging zuerst vor das Häuschen aus Stroh. «Liebe Gans», rief er, «mach mir auf, sonst blas ich dein Haus über den Haufen!» Die Gans öffnete nicht, der Wolf blies ihr Haus um und verschluckte sie. Dann ging er vor das Haus der zweiten Gans und sagte: «Liebe Gans, mach mir auf, sonst werf ich dein Haus um!» Als die Gans nicht aufmachte, warf er ihr Haus um und verschlang sie. Dann ging er vor das Haus der dritten, welches von Eisen war, und sagte: «Liebe Gans, mach mir auf, sonst schlag ich dein Haus zusammen!» Die Gans aber öffnete nicht. Da ward der Wolf zornig und schlug auf das Haus los. Das Haus brach nicht, aber der Wolf schlug sich einen Fuß ab. Nun hinkte er auf drei
Beinen zum Schlosser und ließ sich einen eisernen Fuß ansetzen. Dann ging er wieder zum Hause der Gans zurück und bat sie um Einlaß. Aber die Gans lachte nur und tat nicht auf. Da versuchte es der Wolf mit einer List. «Ei, liebe Gans, laß mich nur auf einen Augenblick herein, ich möchte mir eine Suppe kochen, ich habe großen Hunger.» Weil er gar so flehentlich bat, sagte die Gans endlich: «Aufmachen kann ich dir nicht, lieber Wolf, aber ein gutes warmes Süppchen will ich dir kochen, sollst deine Freude daran haben!» Sie ging, schürte ein Feuer an und hing einen Kessel voll Wasser darüber, bis es siedendheiß war. Dann trat sie zum Fenster und rief hinab: «Nun, lieber Wolf, sperre den Rachen recht weit auf, das Süppchen ist fertig, ich gieß es dir hinab.» Der Wolf sperrte den Rachen weit auf, und die Gans schüttete das siedendheiße Wasser hinab, gerade in den Rachen des Wolfes. Es verbrühte ihn, und er mußte jämmerlich verenden. Die Gans aber ging hinaus und riß ihm den Leib auf. Da sprangen ihre beiden Schwestern fröhlich heraus. Und sie setzten ihren Weg fort und kamen alle drei wohlbehalten nach Hause.
8 Der Hirt und die Fee
Im Walde von Beska auf der Insel Veglia hütete ein Hirt seine Herde. Er schlief an einem Wiesenrande ein, und als er wieder erwachte, sah er Wäsche zum Trocknen auf der Wiese ausgebreitet. Er nahm sie sorglich auf und trug sie in seine Hütte. Als er wieder zu seinen Schafen zurückgekehrt war, erschien ein Mädchen und suchte die Wäsche. Schnell holte der Hirt diese und gab sie freundlich hin. «Was verlangst du für den Dienst?» fragte das Mädchen. Der Hirt lächelte und wußte keinen Wunsch zu nennen. Da blickte das Mädchen auf seine Herde und sprach: «Geh nach Hause und sage zu deinen Schafen: ‹Joina biala, joina ciarna!›» Dann verschwand es. Er befolgte die Aufforderung; und kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da blökte es auf allen Seiten: Bäh, bäh, bäh, und je öfter er die Worte der Fee wiederholte, desto mehr Schafe versammelten sich um ihn. Als er mit seiner Herde dann auf den Berg Triskavats gekommen war, drehte er sich um und sah viele weiße und schwarze Schafe aus dem Meere springen und ihm nachlaufen. So wurde er durch die Gunst einer Fee sehr reich und lebte glücklich bis an sein Ende.
9 Der Johanniswein
Auf einem Bauernhof bei Karfreit lebte ein Knecht, der den Wein sehr liebte. Bei jedem neuen Glase pflegte er zu sagen: «Trinken wir noch ein Gläschen zu Ehren des heiligen Johannes!» Einmal ging er in angeheitertem Zustande spätnachts durch einen Wald nach Hause. Auf dem Richtplatz, an dem er vorbei mußte, sah er einen Verbrecher am Galgen hängen. In trunkenem Mute rief er diesem zu: «Komm morgen abend zu mir nachtmahlen!» Der Gehenkte erwiderte laut: «Mache nur alles fertig! Ich komme bestimmt!» Da packte den Knecht ein gewaltiger Schreck; im Nu wurde er nüchtern und rannte, so schnell er konnte, nach Hause. In der Nacht tat er kein Auge zu; am Morgen aber ging er zum Pfarrer und erzählte ihm sein unheimliches Abenteuer. Der Pfarrer sagte: «Hast du ihn eingeladen, so mußt du ihn auch erwarten.» In der Geisterstunde erschien der Tote pünktlich bei dem Knecht, warf die Teller auf dem Tisch durcheinander und machte einen fürchterlichen Lärm. Angstvoll schaute der Knecht zu. Schließlich wandte sich das Gespenst an ihn und sagte: «Heute war ich bei dir, morgen kommst du zu mir!» «Wohin?» «Zum Galgenplatz, wo du mich gestern gesehen hast», erwiderte das Gespenst und verschwand. Der Knecht legte sich in sein Bett, konnte aber nicht einschlafen.
Tags darauf begab er sich nach dem Aveläuten in den Wald. Als er an der Schenke, die er sonst immer aufsuchte, vorbeikam, mochte er nicht einkehren. Da rief ihm ein weißgekleideter Knabe zu: «Kehrst du denn heut nicht ein?» «Hab keine Zeit», sagte barsch der Knecht. Der Knabe aber redete ihm zu, und endlich trat er ein und trank sein Gläschen zu Ehren des heiligen Johannes. Als er nun in der Dunkelheit zum Richtplatz gekommen war, vernahm er die Stimme des Gehenkten: «Du hast den Wein zu Ehren des heiligen Johannes getrunken; nun kann ich dich nicht brauchen. Mach nur, daß du nach Hause kommst!» Der weißgekleidete Knabe, der ihn behütet hatte, war der heilige Johannes gewesen.
10 Seht zu, daß ihr dem Fremden nichts Böses tut
Es trifft sich, daß der Herr und Sankt Peter mitten in einem Wald sind, gerade als die Sonne zur Ruhe gehen will und die Nacht ganz leise heraufkommt. Und es ist schon halb dunkel. Sankt Peter, voll Furcht, sich an diesem Ort voll von Gefahren zu befinden, der sagt zum Herrn: «Herr, wie werden wir es machen diese Nacht? Wo gehen wir hin zu schlafen? Seht, es ist schon fast dunkel und…» «Du brauchst keine Angst zu haben; schau hinüber zu diesem Hügel; siehst du jene Häuser? Dort werden wir zur Nacht essen und schlafen, bis der Tag anbricht.» «Ich bin wirklich müde, nicht wahr, Herr, der Sack, wenn er auch leer ist, der drückt auf die Schultern, und ich bin ein armer Alter…» «Schweig, schweig doch, Schwätzer, wir sind ja schon bei den Häusern; schau durch das Laub hindurch auf den Lichtschimmer! Siehst du ihn?» «Ich ja, ich sehe ihn, ja!» Und Sankt Peter, der macht vor Freude und Zufriedenheit einen Luftsprung. Sie klopfen. «Guten Abend, ihr christlichen Seelen; ihr betet den Rosenkranz? Welch brave Leute!» sagt der Herr beim Hineingehen. «Wir bitten um ein Plätzchen, wir sind Fremde und haben Hunger und brauchen Schlaf.» «Gern, gern, Ihr Herren!» sagt zu ihnen ein Alter, der mit dem Rücken am Ofeneck lehnt, und wirft ihnen einen bösen Blick zu und kehrt wieder zu seinem Rosenkranz zurück.
«Herr, habt Ihr die Augen dieses Mannes gesehen?» «Schweig du, Peter.» «Wie er mit den Zähnen knirschte, als er das Gegrüßt-seistDu betete!» «Hab keine Angst, du!» Nach dem Beten steht der Mann von der Ofenbank auf, er geht zu einem Backtrog hin, zieht eine Schüssel mit grünen Erbsen und ein paar Stückchen Polenta heraus. «Herr, schaut, was er für einen Buckel hat, Gott bewahre uns vor den Gezeichneten!» zischt Sankt Peter dem Herrn in die Ohren. «Wenn Ihr heute nacht schlafen wollt, da ist der Heustadel!» «Recht schön, denn wir sind matt und müde!» «Und morgen, wann wollt Ihr weiterziehen?» «Eh, sobald der Tag anbricht!» «Schön, schön, gute Nacht, schlaft wohl, Ihr Herren!» «Im Namen Gottes, daß der Herr Euch segne!» Und der Herr und Sankt Peter gehen in den Heustadel; sie legen sich zur Ruhe und schlafen. Als der Morgen graut, stehen sie auf und machen sich auf den Weg; sie gehen und gehen und sie kommen an einen Kreuzweg. Auf einmal, da springt ein Mann heraus, der Bucklige vom Abend zuvor, mit einem solchen Messer, und fängt an zu schreien: «Das Geld oder das Leben!» Und er packt Sankt Peter, um ihn zu töten. Armer Sankt Peter, wenn du ihn gesehen hättest! «Ach, ach Herr, er erwürgt mich!» «Auf, schnell, Peter, leg ihm das Halfter um!» antwortet ihm der Herr, und mit einer Hand berührt er den Mann mit dem Buckel und macht, daß er unbeweglich wie ein Stein steht. Peter, schnell wie ein Wiesel, der bindet den Gürtel ab, den er um die Lenden trägt, und legt ihn ihm um den Hals. Der Bucklige, der läßt das Messer fahren, sein Maul wird länger, es
wächst ihm ein Schwanz, das Haar beginnt ihm zu sprießen, und zwei Ohren, lang und breit wenigstens wie Wirsingblätter, die kommen ihm heraus und baumeln, und er beginnt zu schreien: i-aa, i-aa. «Siehst du wohl, jetzt kannst du es aussaufen», fängt da Sankt Peter an und versetzt ihm ein paar Schläge. Mit diesem Esel gehen sie weiter. Sie gehen und gehen, bis sie gegen Mittag zu einer Mühle kommen. Müde und voll Hunger, wie sie sind, gehen sie in die Küche und bitten um ein Almosen. «Recht gern, Ihr Herren, setzt Euch an den Tisch zu uns; wir sind wohl arm, es ist wahr, aber es kommt von Herzen.» Nachdem sie mit diesen guten Leuten gegessen haben, fragt der Herr den Oberknecht: «Ihr braucht wohl einen für die Mühle?» «Ja freilich, Ihr Herren, soviel wir auch gesucht haben, haben wir doch keinen gefunden, der hätte arbeiten wollen», antwortete ihm der Müller. «Nun wohl», sagt jetzt wieder der Herr, «ich kann euch gerade einen Arbeiter geben, der so viel Gold wert ist, als er wiegt.» Und jener Mann schaut sich um und er denkt, als er Sankt Peter sieht: ‹Will er mir wohl diesen ausgemergelten Alten da geben?› «Aber wo ist denn dieser Mann?» sagt er laut. «Schau nur», antwortet ihm der Herr, «der Esel dort im Hof. Komm nur mit mir hinaus.» «O! Ich hab es nie geglaubt, daß Ihr mit Eurem guten Gesicht mich zum besten haben wollt.» «Aber nein, nein, kein Gedanke daran, kommt nur hinaus!» Und der Herr bindet da den Esel los, der an einen Pfahl des Vordaches gebunden war, und versetzt ihm einen Schlag, dem Esel. «Seht Ihr ihn jetzt recht?» Und der Esel, schnell wie der Blitz, der lädt sich selbst zwei, drei Säcke auf den Rücken und
bringt sie zu einem Wagen. Nachdem er diese Arbeit getan hat, stellt er sich wieder vor den Herrn. «Seht Ihr, wie tüchtig er ist?» «Schön, schön, das wird sich noch zeigen. Wieviel wollt Ihr für ihn?» «Ich verkaufe ihn Euch nicht; ich leihe ihn Euch für ein Jahr und einen Tag, und dafür verlange ich nur einen Napoleon.» «Nun gut, schlagt ein und auf Wiedersehen!» Nachdem sie so den Vertrag geschlossen haben, machen sich der Herr und Sankt Peter wieder auf den Weg. Inzwischen macht der Esel alle Arbeiten im Haus: Säcke mit Mehl und Weizen trägt er hinein, hinaus, er versorgt das Vieh, er macht den Stall sauber, er mistet aus, und er beweist, daß er wirklich eine Million und eine halbe wert ist. Und der Müller ist ihm gut gesinnt, aber nicht so seine Frau und der Knecht, die ihn schief ansehen für das, was er tut, und der arme Esel, statt daß er Futter zum Lohn bekommt, der muß eine tüchtige Tracht Prügel einstecken. Aber ein Jahr und ein Tag sind vergangen, und der Herr und Sankt Peter, die durch die ganze Welt gegangen sind, kehren zu diesem Müller in Friaul zurück. «Guten Tag.» «Oh, Ihr seid schon da? Ich hab den Esel ausprobiert, er ist wirklich sein Geld wert; drum bitt ich Euch, ihn mir noch ein paar Monate zu lassen, und ich gebe Euch…» «Nichts da, nichts da, mein Herr, so ist’s ausgemacht und man muß sein Wort halten, verstanden? Wir sind gekommen, um den Esel zu holen», antwortete ihm der Herr. «Ich bitt Euch, Herr, laßt ihn mir! Ich verspreche Euch, daß ich ihn fett mache, kugelrund soll er werden.» «Kein Darandenken, gebt mir den Esel und den Napoleon!» Es hilft kein Priester und kein Klosterbruder, der Müller führt den Esel aus dem Stall heraus und weint wie ein Kind, als er
ihn dem Herrn übergibt; Sankt Peter nimmt ihn am Halfter, und weiter geht es die Straße. «Und dieser Napoleon? Herr, nun wollen wir ein Paar Schuhe kaufen? Oder wollen wir vielleicht etwas zu essen kaufen, Hühnchen oder…?» «Schweig, Peter, gehen wir weiter!» Und Peter geht weiter mit gesenktem Kopf. ‹Der hat dir vielleicht schöne Gedanken, der Herr!› denkt er bei sich. – Auf die Nacht, da kommen sie beim Dämmern an jenen Kreuzweg. «Nun, Peter», fängt der Herr an, «nimm ihm das Halfter ab!» «Nun ja, ja, armes Tier», sagt Sankt Peter, «es ist ganz recht, daß es auch einmal auf die Weide soll, wer weiß, wieviel Prügel es bei dem Müller bekommen hat.» Und er geht zum Esel hin und befreit ihn. Und kaum hat er ihm das Halfter abgenommen, da verwandelt sich der Esel, er verliert das Fell, die Ohren verschwinden ihm, der Schwanz ist fort; kurz, er wird wieder der Bucklige, der er einmal war, gekleidet wie damals, bevor er ein Esel wurde. «Ach, Herr» (als er mit ihnen ging, hatte der Bucklige oft Sankt Peter den Herrn mit diesem Namen anreden gehört) – «verzeiht, ich knie vor Euch, ich werde es nie mehr tun.» «Gut, ist es auch wahr?» Der Herr hebt den Finger, und wie es so seine Art ist, sagt er zu ihm: «Nun wohl, mach das nicht wieder; achte die Fremden, die Pilger, und es wird dir immer gutgehen. Die Prügel, die du bei dem Müller bekommen hast, die sollen dir eine Lehre sein; nimm das Geld, das du verdient hast, diesen Napoleon, und geh nach Hause, gib dich deiner Frau zu erkennen und deinen Kindern, erzähle ihnen die Geschichte, deine Sünde, und die Strafe, die Verzeihung und lebe zufrieden dein ganzes Leben lang. Ich bin der Herr und bin gekommen, um die Menschen zu lehren, gerecht und gut zu sein.»
Ihr könnt mir die Freude glauben, das Fest, das sie dem armen Buckligen gemacht haben, als er nach Hause zurückkam! «Ach, bist du es, oder ist es deine Seele? Über Berg und Tal haben wir dich gesucht; wir haben schon so viele Messen für deine Seele lesen lassen. Bist du wirklich mein Mann?» sagte seine Frau zu ihm, als sie ihn kaum gesehen hatte. «Eh! Ich bin’s, ja!» Und er erzählt ihr seine ganze Geschichte. Und seither sind alle Wanderer, die zu diesen Leuten kamen, immer von Herzen gern aufgenommen worden, und sie bekamen alles, was sie wollten.
11 Der verhexte Ring
Es war einmal eine große Wiese, und auf dieser Wiese lag ein schöner Kuhfladen. Da kamen drei Feen vorbei, und eine von ihnen sagte zu den beiden andern, daß sie diesen Kuhfladen taufen wolle, damit er ein schönes junges Mädchen werde. Die zweite Fee sagte, sie werde diesem Mädchen einen Ring geben; und die dritte Fee sagte, sie werde diesen Ring verhexen, so daß, wer ihn trüge, nur ein Wort sprechen könne: Merda! (Scheiße!) Und in der Tat verwandelte sich dieser Kuhfladen in ein schönes junges Mädchen, das wie eine Königin gekleidet war mit einem Diadem auf der Stirne. Und die drei Feen gingen davon, während das Mädchen auf der Wiese zurückblieb. Nun kam dort zufällig ein König vorbei, und der König machte dem hübschen jungen Mädchen viele Komplimente, aber sie antwortete auf alles nur: «Merda!» Der König fragte das Mädchen, ob es nicht in seinen Wagen steigen wolle, und sie nickte mit dem Kopf und sagte nichts anderes als: «Merda, merda.» Das Mädchen war aber so schön und so liebreizend, daß der König es mit nach Hause nahm. Und er sagte zu seiner Mutter, daß er das Mädchen heiraten wolle. Die Mutter aber antwortete, daß sie so ein Mädchen nicht zur Schwiegertochter haben wolle, weil es keine Erziehung habe. Aber der König sagte, daß er das Mädchen begehre und daß es ja das, was es nicht wüßte, lernen könne. Und er hat es in der Tat so gemacht und hat sich bald darauf verheiratet.
Es kommt ein Sonntag, und die ganze Gesellschaft macht sich auf den Weg in die Messe. Alle Leute, die in der Kirche waren, begeisterten sich für das schöne Mädchen, und viele Herren machten ihr Komplimente. Aber sie wußte auf alles nicht anders zu antworten als: «Merda.» Indessen ging der Sakristan in der Kirche mit dem Klingelbeutel herum, und alle Leute warfen ihr Scherflein hinein. Als der Sakristan zu unserm Mädchen kam, hatte sie auch nicht einen Pfennig, und um keinen geizigen Eindruck zu machen, zog sie den Ring ab, den sie am Finger trug, und warf ihn in den Klingelbeutel. Der Pfarrer, der zufällig gesehen hatte, wie das Mädchen den Ring in den Klingelbeutel warf, gab dem Sakristan einen Wink, er solle zu ihm auf die Kanzel kommen, die er gerade bestiegen hatte. Der Sakristan gehorchte ihm und ging zu ihm hinauf. Darauf nahm der Pfarrer den Ring aus dem Klingelbeutel und steckte ihn sich an den Finger. Nach einem kurzen Seufzer wandte er sich den Gläubigen zu, um ihnen zu sagen: «Meine geliebten Brüder.» Aber weil er den Ring am Finger hatte, konnte er nichts anderes sagen als: «Merda, merda, merda.» Man kann sich gut vorstellen, was für einen Aufruhr das Volk in der Kirche gemacht hat! Alle schrien: «Er ist verrückt, er ist verrückt!» Aber jener fuhr fort, nichts anderes zu sagen als: «Merda, merda!» Daraufhin gingen die Leute auseinander, der eine hierhin, der andere dahin, und auch der König kehrte mit seiner Gemahlin nach Hause zurück. Aber von dem Augenblick ab begann das Mädchen zu reden, wie es alle anderen Leute machen, und zur großen Zufriedenheit ihrer Schwiegermutter vergaß sie ganz und gar das «merda».
12 Das Mönchlein
Es war einmal ein König, der ein großer Jäger war. Eines Tages ging er wie gewöhnlich auf die Jagd mit zwei Dienern und übernachtete unterwegs. Als es dunkel geworden war, machte er sich auf die Suche nach einer Unterkunft für die Nacht. Während er so dahinging, sah er von weitem ein kleines Lichtlein, und als er darauf zuging, fand er ein Haus, in dem keine lebende Seele war, sondern nur ein gedeckter Tisch und zum Schlafen hergerichtete Betten. Am nächsten Morgen nahm der König die Jagd wieder auf und ließ in dem Haus einen Diener, der das Essen vorbereiten sollte. Als der Diener dabei war, die Suppe auf dem Feuer zu kochen, hörte er eine Stimme, die sagte: «Koch, schöner Koch, wenn du Füße hast, so lauf mir nach.» Und gleich darauf hörte er ein Geräusch wie von gestärkten Kleidern. Aus lauter Schreck ließ er alles zu Boden fallen. Und als der König nach Hause kam, erzählte er ihm, was er gehört hatte. Am andern Tag blieb der andere Diener zu Hause, um zu kochen. Aber ihm passierte das gleiche, obwohl er behauptet hatte, er kenne keine Furcht.
Am dritten Tag wollte der König selber daheimbleiben. Und siehe da, in einem bestimmten Augenblick hörte er die gewöhnliche Stimme: «Koch, schöner Koch, wenn du Füße hast, so lauf mir nach.» Und wieder hörte er ein Geräusch wie von gestärkten Röcken. Der König lief hinter dem Geräusch her, das vor ihm floh. Und so nach und nach kam er zu einem Ausgang, vor dem ein Vorhang hing. Er stieß den Vorhang beiseite und sah sich dem schönsten Mädchen gegenüber, das er je im Leben gesehen hatte. «Ich bin die Tochter eines Königs und halte mich in diesem Hause auf, um den Mut aller jener zu erproben, die hier vorbeikommen.» Die beiden verliebten sich sogleich einer in den anderen und verbrachten eine gewisse Zeit miteinander. Und eines schönen Tages brachte die Dame ein Kind zur Welt. Der König aber hatte eine Verpflichtung gegenüber einer anderen Dame: Wenn er diese nicht innerhalb eines Jahres und dreier Tage heirate, müsse er den Kopf verlieren. Als sich dieser Zeitpunkt näherte, erinnerten die Diener den König an jene Bedingung, und er mußte das Haus verlassen, um sein gegebenes Wort einzulösen. Und wenn ihm auch fast das Herz brach, so mußte er doch Abschied nehmen. Er befahl also seinen Dienern, morgens früh aufzustehen, um rechtzeitig abzureisen. Und nachdem er leise, leise aufgestanden war, damit ihn die schöne Dame nicht höre, ging er in den Garten, pflückte eine Rose, einen Zweig Minze und einen Zweig Jasmin, und daraus machte er einen Strauß. Den Strauß steckte er in die Windeln seines Kindes; dann reiste er ab. Als die Dame aufwachte, sah sie ihren Mann nicht mehr. Sie lief zu ihrem Kind und fand es mit dem Strauß in den Windeln: Da
verstand sie alles. Sie nahm das Kind, den Strauß und ging in den Garten, wo sie weinte und sagte: «Warum bist du entschlafen, Damaszenerrose, Minzentriebe und Jasmin aus Spanien? Ich habe verloren meinen Schatz, den ich so sehr liebe.» Jammernd ging sie die Straße entlang, und sie traf dort einen Klosterbruder. Nachdem sie ihm ihre eigene Geschichte erzählt hatte, sagte sie zu ihm, sie wolle ihm ihren ganzen Besitz überlassen, wenn er ihr Kind in Pflege nähme und ihr seine Kutte gäbe. So wurde es gemacht, und sie zog die Kutte des Klosterbruders über ihre Kleider. Auch behielt sie bei sich eine Locke der Haare und den Ring ihres Gemahls. So wurde sie ein hübscher junger Mönch, den niemand wiedererkannt hätte. Sie ging auf die Suche nach ihrem Gatten und fand ihn, als er gerade dabei war, sich auf einem Boot einzuschiffen. Der König empfand sofort eine große Zuneigung zu dem Mönchlein, und ohne daß er seine Frau wiedererkannt hätte, begann sie die Geschichte von einer verlassenen Frau zu erzählen mit dem Vers, den die Arme im Garten gesungen hatte: «Warum bist du entschlafen, Damaszenerrose, Minzentriebe und Jasmin aus Spanien? Ich habe verloren meinen Schatz, den ich so sehr liebe.»
So machten sie zusammen die Reise, und der König wurde nicht müde, sich immer wieder die Verse von der schönen Dame wiederholen zu lassen.
Als sie in die Stadt kamen, wo der König zu Hause war, feierte er die Hochzeit mit jener Dame, der er sich versprochen hatte. Aber er wollte, daß das Mönchlein immer und überall dabei sei; und er nahm das Mönchlein sogar in das Schlafzimmer mit, damit auch seine Gattin das Lied hören könne. Eines Abends, nachdem der König vor dem Einschlafen die gewohnten Verse hatte hören wollen, konnte das Mönchlein sein Leid nicht mehr länger ertragen. Es öffnete die Kutte und dann das Kleid und zog die Locke der Haare und den Ring hervor. Dann stieß sie sich einen Dolch in die Brust. Am nächsten Morgen suchte der König das Mönchlein, um sich die gewohnten Worte vorsingen zu lassen, aber er fand es nicht. Er rief, und er erhielt keine Antwort. Da stand er vom Bett auf und fand das Mönchlein tot auf der Erde, und da entdeckte er, wer sich darunter verbarg. Er hob den Dolch vom Boden auf und stieß ihn sich mit den Worten ins Herz: «Du bist für mich gestorben, und so sterbe auch ich für dich!» Und so starb er über ihr.
MITTELITALIEN
13 Der König im Korbe
Es war einmal ein königlicher Hoftischler, der hatte drei Töchter, aber seine Frau war schon gestorben. Nun gab ihm eines Tages der König den Auftrag, in ein fernes Land zu gehen und dort wertvolle Edelhölzer zu holen. Das gefiel jenem Tischler gar nicht, denn da mußte er seine Töchter auf Jahre hinaus allein lassen. Aber was sollte er machen. «Ich mag nicht», konnte er zum König nicht sagen, denn wie sollte er sich sonst sein Brot verdienen? Und so ging er denn zu seinen Töchtern und sagte: «Meine Mädchen, Seine Majestät hat mir den Auftrag gegeben, in ein fernes Land zu gehen und von dort Holz zu holen. Ich muß euch also für einige Zeit verlassen. Aber ich möchte, daß ihr euch mit einer Sache zufriedengebt.» «Und was ist das, Vater?» «Daß ich, bevor ich fortgehe, die Türe des Hauses vermauere, so daß weder irgendjemand ins Haus hineingehen noch ihr herausgehen könnt.» «Wenn Ihr meint, daß es sein muß», sagten die Töchter, «dann wollen wir es zufrieden sein…» Gesagt, getan. Der Tischler vermauerte die Türe des Hauses, gab den Mädchen reichlich Geld und was sonst notwendig war. Dann sagte er: «Nehmt diesen schönen, großen Korb, bindet ihn an ein Seil, und wenn durch die Straße ein Verkäufer kommt, dann legt Geld hinein und laßt ihn auf die Straße hinab. So könnt ihr euch alles kaufen, was ihr braucht.»
Dann umarmte er die Mädchen, weinte ein wenig, schlüpfte durch die letzte Lücke an der Türe, die er noch frei gelassen hatte, vermauerte auch diese und machte sich auf die Reise. Die drei Mädchen konnten also das Haus nicht verlassen, und teils um sich zu unterhalten, teils um frische Luft zu schöpfen, saßen sie immer am Fenster und streckten ihre Nasen in den Wind. So sah sie denn auch der König, als er eines Tages vorbeiging, und er fand, daß er so hübsche Mädchen noch nie gesehen habe. Er kleidete sich also als Kaufmann und ging unter ihr Fenster, indem er schrie: «Oh, schöne Tücher, goldene Stoffe!» Die Mädchen hörten ihn seine Ware ausrufen, und sie dachten etwas zu kaufen, damit sie sich mit Sticken einen Zeitvertreib schaffen könnten. Sie riefen also den vermeintlichen Kaufmann an: «He, kommt einmal her!» «Was beliebt den Herrschaffen?» «Was kostet so ein Strang Goldfaden?» «Drei Zechinen», sagte der König, der von derlei Dingen keine Ahnung hatte. «Das ist aber teuer!» sagten die Mädchen, und sie handelten und feilschten, bis der Händler bereit war, ihnen einen Strang um eine Zechine zu geben. Dann taten sie das Geld in den Korb und ließen diesen nach unten. «Paßt auf, hier kommt das Geld!» riefen sie. «Nun gebt uns dafür die Ware.» «Ja, aber der Strang ist sehr, sehr schwer, weil er aus reinem Gold ist», sagte der Händler. «Bekümmert Euch darum nicht!» entgegneten die Mädchen. «Wir sind zu dritt und können auch die schwerste Last aufziehen.» «Gut, so zieht! Zieht!» rief der König, der sich schnell in den Korb gesetzt hatte.
Die Mädchen zogen und zogen mit großer Mühe, denn der Korb war in der Tat sehr schwer. Aber wie groß war ihre Überraschung, als der Korb oben ankam und darin ein Mann saß. Vor lauter Schreck hätten sie fast den Korb samt dem König wieder in die Tiefe sausen lassen, aber der König hielt sich am Fenstersims fest und sprach: «Halt! Ich bin der König! Da ich weiß, daß ihr allein seid, bin ich gekommen, um euch Gesellschaft zu leisten.» Die Mädchen drängten sich zusammen und erwiderten: «Majestät, wir sind nur arme Mädchen, wie könnten wir Euch ebenbürtig sein!» Und der König drauf: «Macht euch deshalb keine Gedanken! Ich komme nicht, um Luxus vorzufinden, sondern um bei euch eine Stunde zu verbringen, denn ihr seid schön und sicher auch gut.» Und er seufzte bei sich: «Wie bedauere ich, nicht euer Vater zu sein! Denn ich gebe von morgen ab drei große Feste, und es ist nur zu schade, daß ich euern Vater nicht bitten kann, euch dazu aufs Schloß zu schicken. Ihr würdet euch glänzend unterhalten!» «Zuviel Ehre», sagten die Mädchen, indem sie sich verneigten, «zuviel Ehre für uns.» «Nun schön», seufzte der König, «wenn euer Vater erst zurück ist, werde ich weitere Feste geben, und dann könnt auch ihr kommen.» So verbrachte der König eine Stunde damit, mit den Mädchen Süßholz zu raspeln. Dann ließen ihn die Mädchen wieder auf die Straße hinunter, und der König kehrte in seinen Palast zurück. Die Mädchen aber blieben zurück und schwätzten aufgeregt über den Besuch des Königs. Die Jüngste sagte: «Was meint ihr: wenn ihr mich morgen abend im Korb hinablassen würdet?»
«Hinunterlassen? Und wozu?» «Laßt mich nur erst hinunter, das Weitere erfahrt ihr dann schon noch!» Und sie redete auf ihre Schwestern ein, und schließlich gelang es ihr, sie dazu zu bringen, daß sie einwilligten. Am nächsten Tag am Abend ließen die Schwestern Leonetta, wie die Jüngste hieß, im Korb auf die Straße hinab, und sie hatte nichts Eiligeres zu tun, als zum Palast des Königs zu gehen, den Korb aber nahm sie mit. Sie betrat den Palast aber nicht durch das große Tor, denn dort standen die Wachen, sondern schlich sich durch die Küchentüre hinein. Die Küche war in jenem Augenblick ohne Aufsicht, denn alle Köche und Küchenjungen waren hinaufgegangen, um etwas beim Feste zuzuschauen. Leonetta aber begann schnell, in den Korb zu packen, was nur hineinging: geröstete Hühnchen und Lämmer am Spieß, Nudeln und Mandeltorten, kurz alles, was im Korbe Platz fand, das andere warf sie in die Asche oder ins Wasser, um es zu vernichten. Dann kehrte sie zu ihrem Hause zurück, den Korb voll der guten Gottesgaben. Daheim pfiff sie ihren Schwestern, die erst den Korb hochzogen und ausleerten und dann ihre Jüngste heraufzogen. Am nächsten Tag, als die den Händler rufen hörten: «Schöne Stoffe, schöne Goldfäden!» ließen sie den Korb hinunter und zogen den König herauf. Der machte ein finsteres Gesicht. «Was gibt es denn, Majestät?» fragten die Mädchen. «Ach», antwortete der König, «man hat mir einen üblen Streich gespielt. Gestern, als es Zeit war, zur Tafel zu gehen, liefen die Köche in die Küche und fanden alle Speisen in der Asche oder im Wasser, kurz: das ganze Essen war hin. Sie haben sich alle mir zu Füßen geworfen und haben behauptet, sie seien unschuldig, und ich habe es ihnen geglaubt. Aber entweder gibt es in der Stadt einen Übeltäter, der mich ruinieren will, oder einen Verräter, der mir den Thron
rauben will. Deshalb habe ich heute überall Wachen aufgestellt, um das Fest bewachen zu lassen. Wenn ich den Bösewicht erwische, werde ich ihn so kleinhacken lassen, daß man ihn durch ein Sieb schütten kann.» Da fingen die Mädchen an, den König zu bedauern: «Aber nein! Aber sagt! Ist das die Möglichkeit! Wie kann man denn so etwas anstellen!» Und Leonetta stellte sich am meisten entsetzt: «Man stelle sich vor: so mit einem König umzuspringen, der so gut ist! Wie kann es denn nur Leute geben, die soviel Schlechtigkeit im Kopfe haben!» Und der König ging, getröstet von dem Mitleid der Mädchen, wieder in seinen Palast. Am Abend aber sagte Leonetta: «Los, los! Laßt mich schnell hinunter!» «Aber bist du denn verrückt?» fragten ihre Schwestern entsetzt. «Heute abend ist der Teufel los, und du bleibst am besten daheim. Nach dem, was du heute vom König gehört hast, kannst du dir ein Bild davon machen, was dir passieren würde, wenn man dich ergriffe!» «Ja und nein, laßt mich nur machen.» Und wirklich gelang es Leonetta wiederum, ihre Schwestern zu überreden, und sie ließen sie abermals im Korb auf die Straße hinab, wo Leonetta alsbald mit dem Korb sich auf den Weg zum königlichen Palast machte. Sie ging aber nicht durch die Küchentüre, von der sie wußte, daß sie heimlich bewacht würde, sondern sie schlich sich leise in den Keller. Dort waren viele Flaschen mit dem besten Wein aufgestapelt, und die besten davon steckte Leonetta wieder in ihren Korb. Und als der Korb voll war, zerschlug sie die übrigen Flaschen und machte sich aus dem Staube. Sie eilte heim, ließ den Korb mit den Flaschen hochwinden, und dann wurde sie selbst hochgezogen. Als sie am nächsten Tag den König im Korbe heraufzogen, war er mehr tot als lebendig vor Zorn und Wut.
«Nun, haben Eure Majestät Erfolg gehabt?» fragten sie scheinheilig. «Ach, es ist nicht zu sagen», stöhnte der König, «die Küche wurde zwar gestern nicht geplündert, aber am Höhepunkt des Festes, als ich befahl, den Wein aufzutischen, gingen die Diener in den Keller, und da stand der Wein kniehoch, denn alle Flaschen waren zerschlagen.» «Aber Majestät, was sagt Ihr da!» «Liebe Mädchen, es sind schlimme Zeiten! Es muß eine Verschwörung gegen den Thron geben. Aber heute abend werde ich eine doppelte Wache aufstellen, und wenn ich den Übeltäter erwische, dann lasse ich ihn zermalmen, daß das kleinste Staubkorn größer ist als der größte Teil, der von ihm übrigbleibt.» Darauf sagte Leonetta: «O Majestät, Ihr seid völlig im Recht! So ein guter und lieber König und so schurkische Taten!» An diesem Abend wollten die Schwestern Leonetta nicht gehen lassen. Aber Leonetta redete so lange und machte solche Szenen, daß sie am Schluß sagten: «So geh und tu, was du willst. Wir aber schreiben gleich Vater, daß wir nicht einverstanden sind mit dem, was du tust.» Und sie ließen Leonetta hinunter. Die Eingänge zu Küche und Keller wimmelten diesen Abend von Wachen. Leonetta aber schlich sich durch einen Seiteneingang in die Garderobe, und was sie an Mänteln, Schleiern und Pelzen im Korb unterbringen konnte, das stopfte sie hinein. Das übrige zündete sie an und verschwand wie der Blitz. Daheim ließ sie erst den Korb mit den Gewändern heraufziehen und dann sich selbst. Das erste aber, was die Mädchen am Morgen machten, war, alle Kleidungsstücke so zu verstecken, daß der König nichts fände, wenn er wie gewohnt käme. Sie räumten hin und räumten her, und
schließlich war alles versteckt, nur Leonetta vergaß ein Paar silberne Pantoffeln, die sie zur Probe angezogen hatte. Als der König im Korbe nach oben kam, war sein Haar zerzaust, und um seine Augen hatte er schwere Schatten. «Ach, wißt ihr, Mädchen», sagte er, «jetzt ist die Bande schon so weit, daß sie Feuer an meinen Palast gelegt hat! Zum Glück sind wir gerade noch zurechtgekommen, aber die ganze Garderobe ist verbrannt. Jetzt kann ich keine Feste mehr geben, kann mir überhaupt nichts mehr leisten. Ich bin müde und will abdanken. Möge ein anderer die Krone haben!» «O Verräter!» sagte Leonetta. «So einen guten Herrn und König…» Es kam die Stunde, wo der König wie üblich von den Schwestern Abschied nahm, und wie er im Korbe nach unten schwebte, blickte er noch einmal hinauf, und da sah er die silbernen Pantoffeln von Leonetta! «Verräterin!» heulte er und versuchte, zum Fenster hinaufzuklettern. Aber die Mädchen ließen vor Schrecken das Seil los, so daß der König mehr zu Boden fiel als schwebte und die Mädchen schon glaubten, er habe sich das Genick gebrochen. Es war ihm jedoch nichts zugestoßen, und mißgestimmt kehrte er in seinen Palast zurück. Erbittert brütete er darüber, wie er sich rächen könne, und schließlich schrieb er einen Brief an seinen Hoftischler mit der Weisung, er möge sofort zurückkehren, da er mit ihm zu reden habe. Der Tischler aber, der damit gerechnet hatte, noch viele Monate in der Fremde bleiben zu müssen, war sehr zufrieden damit, sich auf den Heimweg machen zu können, und reiste schleunigst ab. Sobald er zurück war, meldete er sich beim König. Der König aber sagte zu ihm: «Gib mir eine deiner Töchter zur Frau!»
«Majestät, ich bin sehr geehrt», antwortete der Tischler, «daß das Auge Eurer Majestät auf eine meiner Töchter gefallen ist. Welche ist denn die Glückliche?» «Das ist mir gleich. Irgendeine von den dreien. Diejenige, die mich haben will.» Da ging der Tischler heim und rief seine Töchter: «Der König begehrt eine von euch zu heiraten. Willst du ihn?» «Nein», sagte die Älteste, «nein, Vater, ich nehme ihn auf keinen Fall.» «Ich nehme ihn auch nicht», sagte die Zweite, «weißt du, Vater, weil…» Da unterbrach sie Leonetta: «Ich nehme ihn gern!» Der Tischler kehrte in den Palast zurück und sagte zum König: «Die Älteste hat gesagt: ‹Ich nehme ihn auf keinen Fall›, die Zweite hat gesagt: ‹Ich nehme ihn nicht, weil…› und die Jüngste hat gesagt: ‹Ich nehme ihn gern.›» Da sagte der König: «Also ist wirklich sie die Frechste, gerade sie, die mir soviel Schwierigkeiten bereitet hat.» Und zum Tischler sprach er: «Gut, dann werde ich eben deine Jüngste heiraten.» Die Hochzeit wurde vorbereitet, und schon nach wenigen Tagen konnte sie stattfinden. Die Braut erhielt zu ihrer Verfügung viele Hofdamen und Zofen, und zu denen sagte sie: «Ich möchte mir einen kleinen Spaß mit dem König erlauben.» «Ja, Hoheit, und was sollen wir dabei machen?» «Paßt auf: macht mir eine große Dame aus Kuchenteig! Sie muß so aussehen wie ich, soll aber ein Herz aus Zucker und Honig haben. Auch muß sie mit dem Kopfnicken und Zeichen für ‹ja› und ‹nein› machen können. Ich möchte diese Puppe ins Brautbett legen und sehen, ob der König drauf hereinfällt.» Das Gefolge der Braut machte sich sogleich an die Arbeit, und es gelang ihnen, eine Puppe aus Kuchenteig herzustellen,
die sah Leonetta ähnlich wie ein Ei dem anderen. Leonetta aber zog ihr das eigene Hemd an und setzte ihr ein Nachthäubchen auf. Am Hochzeitstag aber war die Trauungsfeierlichkeit, dann ging man zur Tafel, und endlich kam die Stunde, um sich zur Ruhe zu legen. Leonetta bat darum, erst ins Schlafzimmer gehen zu dürfen, um sich auszukleiden, sie verbarg sich aber unterm Bett und nahm die Fäden in die Hand, welche den Kopf der Dame aus Kuchenteig bewegen konnten. Der König kam ins Schlafzimmer, schloß die Türe ab und sagte: «Jetzt ist endlich für uns zwei die Stunde gekommen, meine Liebe! Nun bist du in meinen Händen und wirst mir nicht mehr entrinnen. Erinnerst du dich noch, wie du zu mir sagtest: ‹Ihr seid so ein guter Herr, Majestät…›? Erinnerst du dich noch?» «Ja, ich erinnere mich noch», sagte Leonetta unter dem Bett, indes sie am Faden zog und die Kuchenteigdame nicken ließ. «Ah, gut!» sagte der König. «Und wer war es, der mir die Küche verwüstet hat?» «Ich, Majestät!» sagte Leonetta, und die Dame aus Kuchenteig nickte wieder mit dem Kopf. «Eine schöne Heuchlerin! Und wer hat mir den Weinkeller verwüstet?» «Ich, Majestät!» Und wieder nickte die Dame aus Kuchenteig. «Und wer hat mir die Garderobe angezündet?» «Ich, Majestät!» «Und glaubst du, daß ich diese Untaten ungestraft hinnehmen werde?» «Ich weiß es nicht, Majestät.» Und kaum hatte Leonetta das gesagt, da zog der König seinen Degen und stieß ihn der vermeintlichen Braut so in das Herz, daß der Honig herausspritzte.
«So, jetzt habe ich dich getötet», heulte der König, «du hast es ja so gewollt!» Und dabei leckte er das Blut von den Händen, es war aber Honig. «Süß warst du immer anzuschauen! Wie glücklich hätten wir sein können! Wenn du nur wieder lebendig wärst! Ich würde dir alles verzeihn und dir immer gut sein!» «Ich bin tot», murmelte Leonetta unterm Bett mit weinerlicher Stimme. «Ach, meine Leonetta! Was habe ich getan!» rief der König. «Wenn du noch am Leben wärst, wie gern würde ich dich haben!» Und Leonetta: «Ich bin tot, ganz tot.» «Wenn du tot bist», sagte der König, «dann will ich auch nicht mehr leben! Ich will sterben, damit der Tod uns wieder vereint!» Und damit wollte er sich in sein Schwert stürzen. «Ich bin lebendig, ich bin lebendig!» schrie da Leonetta und kroch unterm Bett heraus. Da umarmten sie sich herzlich, sie küßten und umhalsten sich, und von da an lebten sie fröhlich und vergnügt. «Ich hab alles erzählt, Die Geschichte ist aus; Erzählt jetzt die eure, Dann gehn wir nach Haus!»
14 Die Totenmesse für die Mauleselin
Es war einmal eine verschrobene Alte, die besaß eine Mauleselin, die sie über alle Maßen gern hatte. Wenn sie Laub oder Holz sammeln ging, aber auch zu jeder anderen Arbeit, immer nahm sie die Mauleselin mit. Ja, sie sorgte sogar für ihren Todesfall, daß die Mauleselin gut versorgt sei. Aber wie es so ging, starb die Mauleselin. Die Alte hatte sich zehn Skudi und dreißig Lire vom Mund abgespart, und sie sagte: «Ach du armes Tier! Was soll ich jetzt machen? Ich habe dich so gern gehabt.» Endlich ging sie zum Prior des Klosters in Casale und sagte zu ihm: «Hochwürdiger Herr Prior, ich hatte eine Mauleselin, die mir gestorben ist. Könntet Ihr nicht für sie in der Kirche ein wenig…» – «Hebe dich hinweg, unglückseliges Weib! Für eine Mauleselin ein Opfer bringen! Verschwinde von hier! Ich will das, was du gesagt hast, überhört haben! Verdammt sei, wer an Derartiges auch nur denkt!» Die Alte verließ das Kloster und sprach bei sich: «Was für ein Spitzbube von einem Priester! Was soll ich denn jetzt machen?» Und sie ging zum Prior von Monte Bagno. «Hochwürdiger Herr Prior…» – «Du Arme, was möchtest du denn?» «Ich hatte eine Mauleselin, sie war so fleißig, ich hatte sie so lieb; und jetzt ist sie gestorben. Ich habe zehn Skudi und dreißig Lire auf die Seite gebracht, um für sie eine Wohltat zu opfern. Wenn Ihr…»
«Aber freilich werde ich für sie dieses Opfer annehmen.» Und er ging und holte das Weihrauchfaß, streute Weihrauch auf die Holzkohle und ging damit in die Kirche. Und dort sang er folgende Andacht: «Dies irae, dies illa, Für die Eselin, die so fleißig! Skudi zehn und Lire dreißig. Der Prior von Casale Hat dafür nichts wollen tun. Doch der Prior von Monte Bagno Zieht daraus einigen Gewinn nun.» «Ihr seid ein guter Priester», sagte die Alte. – «Du kannst sicher sein, sie ist nun im Paradies!» antwortete der Priester, nahm das Geld und ging zufrieden weg, die Frau glücklich gemacht und selber noch gewonnen zu haben.
15 Die Vögel und der Fuchs
Es war einmal ein Hahn, der unter einem Apfelbaum spazierenging, und da fiel ihm ein Apfel auf den Kopf. Da schrie der Hahn: «Die Welt geht zugrunde! Die Welt geht zugrunde!» Und er ging weg und traf eine Truthenne, die ihn fragte: «Gevatter Hahn, wo gehst du hin?» – «Ich gehe weg, denn die Welt geht zugrunde. Ich gehe nach Rom, um den Papst zu sehen.» – «Wer hat dir denn gesagt, daß die Welt zugrunde geht?» – «Das habe ich selber gesagt, denn mir ist schon ein Stück auf den Kopf gefallen.» – «Warte ein wenig», sagte die Truthenne, «da will auch ich mitgehen.» – «Komm nur mit, denn es wird für dich und für mich gut sein.» Wie sie so dahingehen, treffen sie einen Schwarm Vögel mit einem Zaunkönig an der Spitze. Der sagt zu ihnen: «Gevatter Hahn, wo gehst du hin?» – «Ich gehe weg, ich geh nach Rom, um den Papst zu sehen, denn die Welt geht zugrunde.» – «Wer hat dir das gesagt?» – «Das habe ich selber gesagt, denn mir ist ein Stück auf den Kopf gefallen.» – «Warte ein wenig, da will auch ich mitkommen.» – «Komm nur, es wird für dich, es wird für euch alle und auch für mich gut sein, nach Rom zu gehen.» Wie sie so weitermarschieren, treffen sie eine Herde Hühner. «Oh, das ist ja mein Gevatter Hahn! Wo gehst du denn hin?» – «Ich gehe nach Rom, um den Papst zu sehen, denn die Welt geht zugrunde.» – «Wer hat dir denn das gesagt?» – «Ich habe es selber gesagt, denn es ist mir schon ein Stück auf den Kopf gefallen.» – «Warte ein wenig, Gevatter Hahn, da wollen wir
auch mitgehen.» – «Kommt nur, denn es wird für euch alle und für mich gut sein.» Sie marschieren also weiter und treffen eine Schar von Enten. «Gevatter Hahn, wo gehst du hin?» – «Ich gehe weg, ich gehe nach Rom, um den Papst zu sehen, denn die Welt geht zugrunde.» – «Wer hat dir das gesagt?» – «Ich selber habe es gesagt, denn es ist mir schon ein Stück auf den Kopf gefallen.» – «Warte ein wenig, denn wir wollen mitgehen.» – «Geht nur alle mit, denn es wird für euch und für mich gut sein.» Als sie ein Stück weitermarschiert waren, wurde es dunkel, und sie sahen mitten im Wald ein Licht. Sie gingen auf das Licht zu, und als sie dort ankamen, da war es das Haus des Fuchses. Der Fuchs sagt: «Oh, wo geht diese ganze Menge Tiere hin?» – «Wir gehen weg, wir gehen nach Rom, um den Papst zu sehen, denn die Welt geht zugrunde.» – «Wer hat das gesagt?» – «Ich habe es selber gesagt, denn es ist mir schon ein Stück auf den Kopf gefallen.» Da sagte der schlaue Fuchs: «Wißt ihr was? Kommt doch in mein Haus herein, denn hier geht die Welt nicht zugrunde.» – «Hier, wo du bist?» – «Ja, hier!» sagt der Fuchs und führt alle ins Haus hinein. Als alle drinnen waren, stellte der Fuchs einen Kochkessel aufs Feuer, nachdem er alle Türen zugesperrt hatte. Dann sagt er: «Jetzt seid ihr Tiere alle zu mir gekommen, und bei mir werdet ihr bleiben.» Da antwortet der Zaunkönig: «Ja, Gevatter Fuchs, Ihr braucht nichts zu befürchten: wir sind alle hier.» Da sagt der Fuchs zum Hahn: «Erinnerst du dich nicht, Hahn, als du einmal dort warst mit der Hühnerherde? Ich wollte mir ein Huhn schnappen, aber du hast angefangen ‹kikeriki, kikeriki› zu schreien, und da habe ich davonlaufen müssen und kein Huhn erwischen können. Jetzt hab ich dich und die ganzen Hühner! Und du, Truthahn, erinnerst du dich, als du
dort warst mit den Truthennen? Da bin ich gekommen und habe mir eine schnappen wollen, aber du hast ‹krekrekre› geschrien, und da ist die Hausfrau gelaufen gekommen, und ich habe keine erwischen können. Jetzt bist du hier bei mir mit allen deinen Truthennen! Und ihr andern Vögel. Auch euch habe ich erwischen wollen, aber der Zaunkönig hat ‹krikrikri› geschrien, und da seid ihr davongeflogen. Und jetzt seid ihr alle bei mir! Und ihr Enten, erinnert ihr euch, wie ich von euch eine nach der andern schnappen wollte, aber ihr seid davongeflogen oder ins Wasser gesprungen. Und jetzt werde ich euch alle fressen!» Da sagt der Zaunkönig: «Gevatter Fuchs, warum willst du dir die Mühe machen, uns alle im Kochtopf zu sieden? Es ist viel einfacher, du machst die Augen zu und den Mund weit auf. Dann werden wir alle in deinen Schlund hineinmarschieren.» Der Fuchs macht es sich also bequem, setzt sich hin, schließt die Augen und macht das Maul weit auf, damit die Vögel alle hineinkönnen. Aber die Vögel öffnen das Fenster und fliegen auf die Eichen hinauf, die dort stehen, und als alle droben sind, schreit der Hahn und mit ihm die ganzen Vögel – aber der Hahn am lautesten: «Kikeriki, kikeriki, du hast uns gehabt!»
16 Die Geschichte von den Gänslein
Es war einmal eine große Gansherde, die war auf dem Weg zum Sumpf, denn die Gänse wollten in Ruhe ihre Eier legen und ausbrüten. Wie sie mitten auf dem Weg waren, blieb eine Gans stehen und sagte: «Meine Schwestern, ich muß euch leider verlassen. Ich muß gleich meine Eier legen und kann nicht mehr so lange warten, bis wir zum Sumpf kommen.» «Warte doch noch etwas!» «Nein, es geht nicht.» «Verlaß uns nicht!» Aber die Gans konnte nicht mehr mit. So umarmten und verabschiedeten sich die Gänse voneinander, nachdem sie sich versprochen hatten, sich auf dem Heimweg wieder zu treffen. Die Gans aber ging geradenwegs in den nächsten Wald. Zu Füßen einer alten Eiche machte sie sich ein Nest aus Zweigen und trockenen Blättern und legte ihr erstes Ei. Dann ging sie weg, um Gräser und Kräuter zu suchen und an einem klaren Wasser Mahlzeit zu halten. Bei Sonnenuntergang kehrte sie zu ihrem Nest zurück, aber das Ei „war nicht mehr da. Die arme Gans war ganz verzweifelt. Am nächsten Morgen dachte sie: ‹Ich muß auf den Baum hinaufsteigen und mir in den Zweigen oben ein Nest machen. So kann ich meine Eier retten.› Gesagt, getan. Dann flatterte sie wieder von der Eiche herab, sehr zufrieden über das gut geborgene Nest, in das sie wieder ein Ei gelegt hatte, und ging wieder, um sich wie am vergangenen Tage Essen und Trinken zu suchen. Als sie aber
am Abend zurückkehrte, war das Ei abermals verschwunden. Da dachte die Gans: ‹Es muß im Walde ein böser Fuchs sein, der mir die Eier stiehlt und austrinkt.› Am nächsten Tage ging sie in ein in der Nähe liegendes Dorf und klopfte an die Türe eines Schmiedes. «Herr Schmied, würdet Ihr mir ein Haus aus Eisen machen?» «Ja», sagte der Schmied, «aber das kostet hundert Paar Eier.» «Gut», erwiderte die Gans, «macht mir nur einen Korb, und während Ihr mir das Haus schmiedet, will ich Euch die Eier legen.» Der Schmied brachte einen großen Korb, die Gans setzte sich dorthin, und bei jedem Hammerschlag, den der Schmied tat, legte die Gans ein Ei. Als der Schmied zweihundert Schläge getan hatte, sprang die Gans vom Korbe und sagte: «Herr Schmied, hier sind die hundert Paar Eier, die ich Euch für Eure Arbeit versprochen habe.» «Frau Gans», antwortete der Schmied, «hier ist das Haus aus Eisen, es ist fertig.» Die Gans dankte dem Schmied, verabschiedete sich und nahm ihr Haus auf den Rücken und trug es in den Wald hinaus, und auf einer schönen Wiese stellte sie das Haus aus Eisen auf. «Das ist genau der Platz, den ich für meine kleinen Gänslein brauche», sagte sie. «Hier gibt es frische Gräslein zum Essen und einen Bach zum Trinken und Baden.» Und sie schloß sich sehr befriedigt in ihrem Haus ein, um endlich ihre Eier in Ruhe legen zu können. Der Fuchs aber war zur Eiche gegangen und hatte vergeblich nach Eiern Ausschau gehalten. Da war nichts mehr zu finden, und so begann der Fuchs den ganzen Wald abzusuchen. Schließlich fand er das eiserne Haus. «Ich möchte wetten, daß da die Gans drinsteckt!» sagte er und klopfte an.
«Wer ist da?» «Ich bin’s, der Fuchs.» «Ich kann nicht aufmachen, denn ich muß meine Eier ausbrüten.» «Gans, mach mir auf!» «Nein, sonst frißt du mich.» «Ich fresse dich nicht; mach auf, sag ich!» «Nein.» «Paß auf, Gans, wenn du nicht sofort öffnest: ‹Dann steig ich aufs Dach Und mach einen Tanz, Dein Haus klein und schwach Zerspreng ich dir ganz.›» Und darauf die Gans: «Steig nur aufs Dach Und tu einen Tanz, Mein Haus ist nicht schwach, Du zersprengst mir’s nicht ganz.» Da sprang der Fuchs aufs Dach und pum-pam, pum-pam begann er zu tanzen und wie ein Bauer zu stampfen. Aber wozu? Je mehr er hüpfte, sprang und tanzte, um so fester wurde das Haus aus Eisen. Der Fuchs wurde bös und wild, aber es nützte nichts. Zuletzt sprang er herab und lief ergrimmt davon, und die Gans wollte schier platzen vor Lachen. Einige Tage ließ sich nun der Fuchs nicht mehr sehen, aber die Gans war immer schlau und vorsichtig, wenn sie ausging. Die Eier waren in der Zeit aufgesprungen, und viele kleine Gänslein waren herausgekommen. Eines Tages aber hörte man wieder an die Türe klopfen.
«Wer ist da?» «Ich bin’s, der Fuchs.» «Und was willst du?» «Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, daß morgen Markttag ist. Willst du nicht zusammen mit mir hingehen?» «Aber gern. Wann willst du mich denn abholen?» «Wann soll ich denn kommen?» «Komm doch gegen neun Uhr. Früher kann ich nicht, weil ich für meine Gänslein sorgen muß.» «Ist recht, ich komme gegen neun Uhr.» Und sie grüßten sich wie gute Freunde, und der Fuchs trollte sich von dannen. Er leckte sich schon die Lippen und dachte daran, wie er die Gansmutter und die vielen kleinen Gänslein sich schmecken lassen würde. Aber die Gans stand am nächsten Morgen sehr früh auf, als eben die Sonne aufging; sie gab ihren Gänslein zu essen und zu trinken, küßte sie zärtlich und befahl ihnen, niemandem zu öffnen. Dann ging sie auf den Markt. Es war kaum acht Uhr vorbei, da klopfte der Fuchs an das eiserne Häuschen. «Wer ist da?» «Ich bin’s, der Fuchs.» «Unsere Mama ist nicht da.» «Macht mir auf!» «Nein, die Mama hat uns verboten, die Türe aufzumachen.» Da sprach der Fuchs bei sich selber: «Gut, so werde ich sie nachher fressen.» Und laut fragte er: «Wann ist denn eure Mama fortgegangen?» «Schon am frühen Morgen ist sie fortgegangen.» Als der Fuchs das hörte, blieb er keine Minute mehr, sondern er lief so schnell er konnte aufs Dorf zu. Die arme Gans sah ihn schon von weitem, als sie gerade auf dem Heimweg war. «Wo verstecke ich mich schnell?» fragte sie sich. Auf dem
Markt hatte sie aber eine Suppenschüssel gekauft; sie nahm schnell den Deckel ab, legte ihn auf die Erde, setzte sich darauf und stülpte sich die umgekehrte Suppenschüssel über. Der Fuchs kam mit heraushängender Zunge an und hielt die umgekehrte Suppenschüssel für einen kleinen Altar. «Was für ein hübsches kleines Altärchen! Ich will schnell ein Gebet sprechen!» Und er kniete sich hin, betete und legte ein Goldstück als Opfergabe auf den vermeintlichen Altar. Dann nahm er seinen Lauf wieder auf. Die Gans streckte langsam ihren Kopf heraus und sah, daß der Fuchs weggelaufen war. Sie steckte die Goldmünze ein, nahm den Suppentopf untern Arm und ging heim, um ihre Gänslein zu umarmen. Indessen war der Fuchs auf dem Markt angekommen, aber soviel er auch nach der Gans suchte, er konnte sie nirgends entdecken. Er schaute unter alle Bänke und hinter alle Körbe, nirgends fand er auch nur eine Spur von der Gans. «Auch auf der Straße bin ich ihr nicht begegnet», sprach er bei sich, «da muß sie doch noch hier auf dem Markt sein!» Und er begann aufs neue alles nach der Gans abzusuchen. Endlich ging der Markt zu Ende, die Händler packten die Waren wieder ein, die sie nicht verkauft hatten, sie schlugen ihre Bänke ab, aber von der Gans war immer noch nichts zu sehen. ‹Sie hat mich wohl hereingelegt›, dachte der Fuchs, und er machte sich auf den Heimweg. Halbtot vor Hunger kam er beim eisernen Häuschen an und klopfte an. «Wer ist da?» «Ich bin’s, der Fuchs. Warum hast du nicht auf mich gewartet?» «Ach, es war so heiß. Und dann dachte ich, wir müßten uns sowieso unterwegs treffen.» «Aber welche Straße bist du denn gegangen?»
«Es gibt ja nur einen Weg zum Dorf.» «Und wieso habe ich dich da nicht gesehen?» «Ich habe dich schon gesehen.» «Das gibt’s nicht!» «Doch! Ich war drinnen in dem Altärchen.» Da wurde der Fuchs ordentlich zornig: «Gans, öffne mir!» «Nein, sonst frißt du mich.» «Paß auf, Gans, mach auf, oder: ‹Dann steig ich aufs Dach Und mach einen Tanz, Dein Haus klein und schwach Zerspreng ich dir ganz.›» Drauf die Gans: «Steig nur aufs Dach Und tu einen Tanz, Mein Haus ist nicht schwach, Du zersprengst mir’s nicht ganz.» Pum-pam, pum-pam, tanzte der Fuchs auf dem Dach herum und stampfte auf wie ein Bauer. Aber je mehr er herumsprang und tobte, um so fester wurde das eiserne Haus. Für viele Tage ließ sich der Fuchs nicht mehr sehen, aber eines Morgens klopfte er doch wieder an die Türe. «Wer ist da?» «Ich bin’s, der Fuchs. Mach auf!» «Ich kann nicht, ich bin beschäftigt.» «Ich möchte dir nur sagen, daß am nächsten Samstag ein großer Markttag ist. Willst du mit mir hingehen?» «Aber gern! Komm doch vorbei, um mich abzuholen!»
«Sag mir die genaue Zeit, damit es mir nicht so geht wie beim kleinen Markttag!» «Sagen wir um sieben Uhr. Früher kann ich nicht.» «Einverstanden!» sagte der Fuchs, und sie schieden, als ob sie die besten Freunde wären. Am Samstag in der Frühe aber, noch vor Morgengrauen, kämmte die Gans ihren Gänslein die Federn, gab ihnen frisches Gras, befahl ihnen, niemandem zu öffnen, und machte sich auf den Weg. Es war kaum sechs Uhr, da kam der Fuchs an. Er klopfte an die Türe. «Wer ist da?» «Ich bin’s, der Fuchs. Mach auf!» «Unsere Mama ist schon fortgegangen, und wir dürfen nicht aufmachen.» Da machte sich der Fuchs schleunigst auf den Weg und lief, was er laufen konnte, um die Gans noch auf der Straße zu erwischen, aber er sah sie nicht. Die Gans hatte indessen ihre Sachen eingekauft und saß vor einem Stand mit Melonen, um sich auszuruhen, da sah sie von weitem den Fuchs kommen. Um davonzulaufen blieb ihr keine Zeit mehr. Sie sah auf der Erde einen großen, großen Melonenkopf liegen, sie machte schnell ein Loch mit ihrem Schnabel und verbarg sich innendrin. Der Fuchs aber begann, auf dem Markt hin und her zu spazieren und nach der Gans zu suchen. «Vielleicht ist sie überhaupt nicht gekommen?» sprach er bei sich, und er ging zu dem Stand mit den Melonen, um sich die schönste und beste Frucht auszusuchen. Er biß eine, er biß eine andere an, aber alle schmeckten ihm zu bitter. Endlich sah er die ganz große Melone auf der Erde liegen, und er dachte: ‹Die muß doch gut schmecken!› Und er biß kräftig hinein. Die Gans aber hatte gerade dort ihren Schnabel, wo der Fuchs hineinbiß, und als sie sah, daß sich ein kleines Fensterchen öffnete, spuckte sie kräftig hinaus.
«Pfui, Pfui! Was für eine schlechte Melone!» rief der Fuchs aus, und er gab der Melone einen Stoß, daß sie davonrollte. Sie rollte die Straße hinunter, stieß endlich gegen einen Eckstein und zersprang. Da hüpfte die Gans heraus und machte sich auf den Heimweg. Der Fuchs aber blieb in der Tageshitze sitzen und wartete auf die Gans. Die Händler hatten längst ihre Stände geschlossen, da gab er sein Warten auf und machte sich übler Laune daran, zum Häuschen der Gans zu laufen. Dort angekommen, klopfte er an die Türe. «Wer ist da?» «Ich bin’s, der Fuchs. Gans, warum hast du nicht dein Wort gehalten? Du bist nicht auf dem Markt gewesen.» «Aber ja! Und ob ich dort war!» «Ich habe dich aber nirgends gesehen.» «Ich war in der großen Melone, in die du hineingebissen hast.» «Ah, du hast mich wieder einmal hereingelegt! Jetzt mach aber auf!» «Nein, sonst frißt du mich!» «Paß auf, Gans, wenn du nicht aufmachst: ‹Dann steig ich aufs Dach Und mach einen Tanz, Dein Haus klein und schwach Zerspreng ich dir ganz.›» Und drauf die Gans: «Steig nur aufs Dach Und tu einen Tanz, Mein Haus ist nicht schwach. Du zersprengst mir’s nicht ganz.»
Pum-pam, pum-pam, der Fuchs tanzte auf dem Dach herum wie auf einem Dreschplatz, aber das eiserne Häuschen rührte sich nicht im mindesten. Der Fuchs schäumte vor Wut und lief davon. Diesmal verstrich eine lange Zeit, aber eines Tages war der Fuchs doch wieder da und klopfte an die Türe. «Wer ist da?» «Ich bin’s, der Fuchs. Komm, Gans, laß uns Frieden schließen! Um das Vergangene zu vergessen, wollen wir miteinander ein fröhliches Mahl halten.» «Recht gern, Fuchs, aber ich habe nichts, was nach deinem Geschmack ist.» «Ah, dafür will ich schon sorgen. Koch du nur alles und richte es schön her!» Und der Fuchs begann allerlei Dinge herbeizuschleppen, zuerst eine Salami, dann eine Mortadella, dann einen Käse, dann ein Hühnchen, lauter Sachen, die er gestohlen hatte. Am Schluß war das eiserne Häuschen schier voll von Waren. So nahte der Tag, für den das Mahl vereinbart war. Der Fuchs hatte zwei Tage lang gefastet, um mehr Hunger zu haben, aber er dachte nicht an die Würste oder den Käse, sondern ihn gelüstete nach der Gans und den Gänslein. So ging er zum eisernen Häuschen und klopfte an. «Wer ist da?» «Ich bin’s, der Fuchs.» «Gut, alles ist fertig. Es gibt nur eine Schwierigkeit: das Haus ist so voll, daß die gedeckte Tafel bis zur Türe reicht. Ich kann dich nur zum Fenster hereinlassen.» «Das macht mir nichts aus, ich komme auch durchs Fenster.» «Dann warte, ich werfe dir ein Seil hinunter, steck du deinen Kopf durch die Schlinge, dann ziehe ich dich herauf.» Der Fuchs, der vor Begierde nach den Gänslein nicht mehr klar denken konnte, steckte wirklich den Kopf in die Schlinge, die sich sogleich um seinen Hals fest zuzog. Er versuchte zwar
gleich, sich wieder davon freizumachen, aber je mehr er zog, um so fester wurde der Knoten. Er riß und zerrte, daß ihm die Augen aus den Höhlen traten, aber alles nützte nichts, er mußte ersticken. Als die Gans merkte, daß sich der Fuchs nicht mehr rührte, ließ sie ihn zu Boden fallen. Dann öffnete sie die Türe und sagte: «Kommt, meine Kinder, kommt, um frische Gräser zu rupfen und im Bach zu baden!» Und die Gänslein kamen herausgewatschelt und freuten sich, daß sie nun nicht mehr eingesperrt sein mußten und frei herumlaufen konnten. Sie schnatterten vor Vergnügen und spielten auf der Wiese. Einige Tage später hörte die Gansmutter ein Flügelschlagen und lautes Geschrei und Geschnatter. Und als sie vor die Türe ging, sah sie, daß die Gansherde auf dem Rückweg aus dem Sumpf war. «Da sind meine Schwestern!» rief sie. Und sie lief schnell auf die Straße, und da sah sie eine große Herde kommen, denn es gab viele junge Gänslein, die hinter ihren Müttern dreinliefen. Da feierte die Gans mit ihren Schwestern große Feste, und sie erzählte, wie es ihr mit dem Fuchs ergangen war. Die Gänse aber besahen sich das eiserne Häuschen, und es gefiel ihnen sehr. Sie liefen alsbald zu jenem Schmied, um sich auch solche eiserne Häuschen machen zu lassen. Und auch jetzt noch leben sie irgendwo, ich weiß den Ort nicht, alle in ihren kleinen Häuschen, wo sie sicher sind vor dem Fuchs.
17 Die hölzerne Maria
Es war einmal ein König, der hatte nicht nur eine überaus schöne Frau, sondern auch ein Töchterchen, das war so schön wie die Sonne. Als das Mädchen, das Maria hieß, fünfzehn Jahre alt war, erkrankte seine Mutter schwer. Sie lag auf dem Sterbebett, und der König kniete weinend bei ihr und sagte, daß er sich nie mehr vermählen wolle. Da sprach die sterbende Königin: «Lieber Gatte, du bist noch jung und hast eine Tochter zu erziehen. Ich lasse dir hier meinen Ring; du sollst nie heiraten, es sei denn eine Frau, der dieser Ring paßt!» Dann umarmte sie noch einmal ihren Gemahl und ihr Töchterchen und starb. Der König trauerte sehr um sie, aber mit der Zeit wurde sein Schmerz geringer, und nach einem Jahr machte er sich wieder auf Brautschau. Aber alle Frauen, die sich bei ihm einstellten, konnten den Ring nicht an den Finger bringen, der einen war er zu groß, der andern zu klein. «Es soll also nicht sein!» sagte der König. «Lassen wir es einstweilen gut sein.» Und er legte den Ring in eine Schublade. Eines schönen Tages stöberte die Prinzessin durchs Haus und dabei fand sie auch den Ring. «Was für ein schöner Ring», sprach sie bei sich, «es ist schade, daß er hier in der Schublade liegt!» Und sie versuchte, ob er ihr wohl passen würde, steckte ihn an den Finger, und da saß er und ging nicht mehr herunter! Da bekam die Prinzessin einen schönen Schreck. Und da sie vor ihrem Vater Angst hatte, machte sie sich einen Verband um den Finger.
«Was hast du denn da?» fragte der Vater, als er den Verband um den Finger entdeckte. «Ach, nichts, Vater», antwortete die Prinzessin. «Ich habe mich nur ein wenig in den Finger geschnitten.» Der König gab sich zunächst damit zufrieden, aber als er nach einigen Tagen sah, daß Maria immer noch einen Verband um den Finger trug, sagte er: «Laß mich doch einmal die Wunde sehen!» Und da blieb Maria nichts anderes übrig, sie mußte den Verband abwickeln, und da sah der König den Ring. «Ah, meine Tochter», sprach er, «du mußt meine Frau werden!» Maria erschrak sehr und ergriff die Flucht und verbarg sich zunächst. Dann aber suchte sie ihre Amme auf und vertraute sich der an: «Was soll ich denn machen?» «Wenn der König wieder davon spricht, dich zur Frau zu nehmen», sagte die Amme, «dann sage ‹ja› unter der Bedingung, daß der König dir ein Brautkleid besorgt, das aus Gold ist und auf dem alle Blumen dieser Erde sind. Ein solches Kleid gibt es nicht, und du hast einen guten Grund, nicht zu tun, was er will.» Maria machte es so, und der König war’s zufrieden. Er rief seinen treuesten Diener, gab ihm einen Sack mit Goldmünzen und ein gutes Pferd und sandte ihn in die Welt hinaus. Sechs Monate reiste der Diener vergeblich durch viele Länder. Schließlich kam er in eine Stadt, in der es viele Juden gab. Dort ging er in ein großes Tuchgeschäft. «Habt Ihr ein seidnes Kleid, aus goldenem Stoff und mit allen Blumen der Welt drauf?» fragte er. «Freilich habe ich so etwas», erwiderte der Jude, «ich habe sogar noch viel schönere.» Auf diese Weise brachte der Diener das Kleid, das Maria gefordert hatte, und der König war sehr vergnügt.
«Nun kann bald die Hochzeit sein!» Maria aber lief weinend zu ihrer Amme. «Beruhige dich, Kindchen», sagte die Amme, «verlange von deinem Vater noch ein zweites Kleid für die Staatsempfänge: das muß aus Silber sein und sämtliche Fische des Meeres drauf! So etwas aber hat noch nie ein Mensch gesehen.» Maria kehrte ins Schloß zurück und sagte zu ihrem Vater: «Ich brauche unbedingt noch ein Kleid für die öffentlichen Feierlichkeiten, das muß aus Silber sein mit allen Fischen des Meeres drauf!» «Gut, auch das sollst du haben», sagte der König. Und er sandte wieder seinen treuen Diener aus. Der fand in der Stadt der Juden auch ein Kleid aus Silber, auf dem alle Fische des Meeres waren. «Hier ist das Kleid, Maria», sprach der König, und er überreichte ihr, was der Diener gebracht hatte. Maria aber eilte schluchzend wieder zu ihrer Amme: «Nun hat er mir auch ein Kleid aus Silber mit allen Fischen des Meeres drauf gegeben!» «Nun fordere noch ein Ballkleid, das soll aus rotem Samt sein und alle Sterne sollen als Edelsteine aufgenäht sein. Ein solches Kleid ist so überaus teuer, daß es auch ein König nicht zahlen kann.» Maria verlangte also vom König ein Ballkleid aus rotem Samt, auf dem alle Sterne als Edelsteine aufgenäht wären. Der König versprach ihr auch noch dieses und sandte abermals seinen Diener aus. Und wieder gelang es diesem, in jener Stadt ein Kleid aufzutreiben, wie es die Prinzessin gefordert hatte. «Nun gilt es, keine Zeit mehr zu verlieren», sagte der König, «du hast nun alle Kleider, die du dir gewünscht hast. In acht Tagen soll die Hochzeit sein!» Die Hochzeitsfeierlichkeiten wurden vorbereitet, und indessen hatte die Amme für Maria ein hölzernes Kleid
gemacht, das reichte vom Kopf bis zu den Füßen und konnte auf dem Wasser schwimmen. Am Tag der Hochzeit aber sagte Maria zu ihrem Vater, daß sie noch ein Bad nehmen wolle. Sie nahm zwei Tauben und band ihnen die Füße zusammen. Die eine Taube warf sie in die Badewanne, die andere aber ließ sie außen über den Rand hängen. Da nun beide Tauben flatterten und sich freizumachen suchten und die Taube in der Wanne mit ihren Flügeln ins Wasser schlug, gab es ein Geräusch wie bei einem Menschen, der sich wäscht. Maria aber zog das goldene, das silberne und das rote Kleid an, und darüber zog sie das hölzerne Kleid und entfloh so. Der König aber hörte die Geräusche im Bade und dachte sich weiter nichts. Maria aber eilte ans Meer und schwamm mit dem hölzernen Kleid davon. Sie schwamm und schwamm, und endlich landete sie in einem anderen Reich, wo ein Prinz gerade am Ufer angelte. Er sah die Frau aus Holz ans Land treiben und sprach: «Was ist denn das für ein Fisch? Hat man je so etwas gesehen?» Und er warf seine Angel aus und zog die hölzerne Maria ans Land. «Wer seid Ihr denn und woher kommt Ihr?» fragte er, und Maria antwortete: «Ich bin Maria aus Holz, Gemacht bin ich mit Stolz, Gemacht mit Kunst und Verstand; Ich reise übers Land.» «Und was habt Ihr gelernt?» «Alles und nichts!» Da nahm sie der Prinz mit in seinen Palast und machte sie zur Gänsehirtin. Am Hofe aber wurde die Nachricht kund, es gäbe
da eine hölzerne Gänsehirtin, die mit den Gänsen über Land ginge oder auf den Teichen schwämme, ganz wie sie wolle. Aber jeden Sonntag, wenn niemand die hölzerne Maria sah, dann zog sie ihr hölzernes Kleid aus, löste ihre Locken, daß sie auf den bloßen Nacken fielen, und kämmte sich unter einem Baum, während die Gänse um sie herumsaßen und sangen: «Paparapa papapa Eine schöne Frau ist da; Sie gleicht der Sonne, gleicht dem Mond, Eine Prinzessin bei uns wohnt.» Jeden Abend aber ging die hölzerne Maria zum Palast, um ein Körbchen mit Eiern hinzubringen. Eines Tages traf sie da den Prinzen, der sich gerade fertig machte, um zu einem Ball zu gehen. Da begann Maria zu scherzen und fragte den Prinzen: «Wohin gehst du, Königssohn?» «Was kümmert’s dich? Mach dich davon!» «Nimmst zum Tanzen du mich mit?» «Nein, zu plump ist mir dein Schritt.» Und damit ließ er sie stehen. Maria aber ging schnell in den Hühnerstall, zog ihr goldenes Kleid heraus mit allen Blumen drauf, zog das hölzerne Kleid aus und das goldene an, und so eilte sie auf den Ball. Auf dem Ball aber war die unbekannte Dame in dem goldenen Kleide die Schönste von allen, und der Prinz lud sie sogleich ein, mit ihm zu tanzen. Und anschließend fragte er sie, woher sie komme und wer sie sei. Da antwortete Maria: «Ich bin die Gräfin von Plumpschritt.» «Das gibt’s nicht», sagte der Prinz, «den Namen habe ich noch nie gehört.» Je länger er aber mit der unbekannten
Schönen tanzte, um so mehr verliebte er sich in sie. Schließlich schenkte er ihr eine goldene Nadel, die steckte sie sich ins Haar, und dann floh sie lachend von dem Tanzfest. Der Prinz schickte sogleich einige Diener hinterher, sie sollten sehen, wo die Schöne wohne, aber Maria ließ eine Handvoll Goldmünzen fallen, und bis die Diener diese aufgeklaubt hatten, war sie verschwunden. Am nächsten Abend machte sich der Prinz, verstimmt, daß er die Wohnung der schönen Dame nicht hatte in Erfahrung bringen können, für das Tanzfest fertig. Da kam die hölzerne Maria vorbei und sagte: «Hoheit gehen auch diesen Abend zum Ball?» Der Prinz aber brummte unwirsch: «Laß mich in Frieden, ich habe andere Sorgen im Kopf.» «Und mich nimmt man nicht mit?» Da wurde der Prinz ungeduldig, er nahm eine Feuerzange und versetzte ihr einen leichten Klaps auf die Kehrseite. Die hölzerne Maria aber ging in den Hühnerstall, zog ihr hölzernes Kleid aus und legte das silberne Gewand an, auf dem alle Fische des Meeres abgebildet waren. So ging sie zum Ball. Der Prinz war außerordentlich vergnügt, als er sie kommen sah, und sprach: «Sagt mir endlich, wer Ihr seid, schöne Dame!» «Ich bin die Baroneß von Feuerzange», sagte Maria. Der Prinz tanzte lange mit Maria, dann schenkte er ihr einen Ring mit schönen Brillanten, und sie entfloh wieder, indem sie wiederum die Diener mit einigen Goldmünzen ablenkte. Der Prinz aber war verliebter denn je, und er war sehr ungeduldig und konnte den Abend und den Ball kaum erwarten. Als am Abend die hölzerne Maria kam, ließ er sie erst gar nicht zu Wort kommen, sondern er versetzte ihr mit einem Zügel, der da lag, einen Hieb über den Rücken. Die hölzerne Maria aber ging wieder in den Hühnerstall, zog das
hölzerne Kleid aus und legte das Kleid aus rotem Samt an, auf dem alle Sterne in Form von Edelsteinen aufgenäht waren. Der Prinz war ganz außer sich, als er seine Schöne in einem so prächtigen Kleid sah. «Nun sagt mir endlich Euren Namen, edle Dame!» sagte er zu Maria, doch sie antwortete nur: «Ich bin die Prinzessin von Zügelschlag.» Und nachdem der Prinz lange mit ihr getanzt hatte, schenkte er ihr ein goldenes Medaillon mit seinem Bild. Und Maria entfloh wieder, und auch dieses Mal konnten die Diener ihr nicht folgen, weil die Prinzessin sie durch ausgestreute Goldmünzen ablenkte. Der Prinz wurde ganz krank vor Liebessehnsucht. Die Ärzte wußten keine Hilfe. Er wollte nicht mehr essen noch trinken, noch schlafen. Eines Tages sagte er zu seiner Mutter: «Wenn Ihr wollt, daß ich etwas esse, dann macht mir bitte mit eigenen Händen eine Pizza!» «Gern, mein Kind, ich will dir gleich eine Pizza machen.» Und die Königin ging in die Küche. Da war die hölzerne Maria und sagte: «Majestät, beschmutzt Euch nicht Eure Hände, und laßt mich die Pizza machen!» Die Königin brachte ihrem Sohn die Speise, und der begann zu essen. Er wollte gerade seine Mutter loben, weil die Pizza so vorzüglich schmeckte, da biß er mit den Zähnen auf etwas Hartes. Er spuckte es aus: da war es die goldene Nadel, die er der schönen Dame geschenkt hatte. «Mama», fragte er, «wer hat diese Pizza gemacht?» «Ich, mein Sohn. Warum?» «Nein, das kann nicht sein. Ich bitte Euch, sagt mir die Wahrheit!» Und da erzählte die Königin, sie hätte sich von der hölzernen Maria helfen lassen. Da befahl der Prinz, daß ihm
noch eine Pizza gemacht würde. Diesmal buk Maria den Ring mit den Brillanten hinein, und der Prinz fand ihn auch. «Die hölzerne Maria muß etwas von der schönen Dame wissen!» sagte sich der Prinz, und er befahl eine dritte Pizza. Nun tat Maria das Medaillon mit dem Bild des Prinzen hinein. Als der Prinz das in der Pizza vorfand, da sprang er aus dem Bett, als wäre er mit einem Schlag gesund geworden, er schlüpfte schnell in seine Kleider und lief in den Hühnerstall. Maria aber war nicht dort, sondern sie saß unter dem Baum, und die Gänschen saßen rund um sie herum und sangen: «Paparapa papapa Eine schöne Frau ist da; Sie gleicht der Sonne, gleicht dem Mond, Eine Prinzessin bei uns wohnt!» «Diesmal entkommst du mir nicht!» rief der Prinz. Aber Maria machte auch gar keine Anstalten, ihm zu entfliehn, sondern sie lächelte den Prinzen an und sagte: «Mit was gedenken Hoheit mich heute zu schlagen?» Da fiel der Prinz vor ihr auf die Knie nieder und bat sie um Verzeihung, und die wurde ihm gern gewährt. «Nun sage mir aber endlich, wer du bist!» bat der Prinz. Da berichtete Maria, wie sie vor ihrem Vater geflohen und als hölzerne Maria hierhergekommen sei. Da war der Prinz sehr froh, er nahm sie bei der Hand und führte sie zu seiner Mutter. «Das ist meine liebe Braut!» sagte er. «Ja, willst du denn eine Gänsehirtin frein?» fragte die Königin. «Sie ist keine Gänsehirtin, sondern eine Prinzessin!» erwiderte der Prinz. Da mußte die hölzerne Maria schnell ihr hölzernes Kleid ausziehen, und als die Königin die schöne
Jungfrau in dem prächtigen Kleid aus rotem Samt mit den aufgenähten Edelsteinen als Sterne sah, sagte sie: «Sohn, eine bessere Braut könntest du schwerlich finden.» Im Handumdrehen wurde die Hochzeit vorbereitet, und Maria lebte mit ihrem Gatten viele Jahre glücklich und zufrieden. «Sie waren glücklich, Das kann ich beschwören. Und nun spitz die Ohren, Wenn du mehr noch willst hören!»
18 Der tapfere Soldat
Es waren einmal drei Soldaten, die waren desertiert von ihrem Regiment und streiften über Land. Einer war ein Römer, einer war ein Florentiner, und der kleinste war ein Neapolitaner. Nachdem sie eine Ebene durchquert hatten, kamen sie in einen großen Wald. Und der Römer, der der älteste von ihnen war, sagte: «Kameraden, wir wollen haltmachen. Es ist aber gut, wenn wir nicht alle drei zur gleichen Zeit schlafen, sondern wenn immer einer wacht. Jede Stunde wollen wir ablösen.» Gesagt, getan. Der Römer zog zuerst auf Wache, während die beiden andern sich niederlegten und sich in ihre Decken wickelten. Es war nahezu eine Stunde vorbei, als aus dem Dickicht des Waldes ein Riese trat. «Was machst du da?» fragte er den Soldaten, der gerade Wache hatte. Und der Römer sagte, ohne überhaupt aufzuschauen: «Das geht dich gar nichts an.» Da wollte ihm der Riese auf den Leib rücken, aber der Soldat war schneller als er, er packte seinen Säbel und schlug dem Riesen den Kopf ab. Dann packte er den Kopf mit der einen Hand, den Leib mit der andern und warf beides in eine nahe Schlucht. Dann kehrte er zurück, putzte seinen Säbel ab und sprach bei sich: «Es ist besser, wenn ich meinem Kameraden nichts sage, sonst kriegt der Florentiner am Ende noch Angst!» Und er
weckte den zweiten Soldaten auf. Als der wach war, fragte er den andern: «Hast du nichts gesehen?» «Nein, nein, alles ist ruhig», versetzte drauf der Römer und legte sich schlafen. Der Florentiner aber übernahm die Wache, und siehe da, als auch er schon fast eine Stunde hinter sich hatte, da kam ein Riese aus dem Dickicht wie vorher und fragte: «Was treibst du da?» Und er: «Das geht weder dich noch sonst jemand etwas an!» Da wollte ihn der Riese angreifen, aber der Soldat war flinker und trennte ihm mit einem Säbelhieb den Kopf vom Rumpf. Dann nahm er beides und warf es in die Schlucht. Er kehrte zurück und nahm wieder seinen Platz ein, putzte seinen Säbel blank und sprach bei sich: «Es ist besser, wenn ich dem Neapolitaner nichts davon sage, sonst fürchtet der sich am Ende!» Und so machte er es dann auch; als er den Neapolitaner weckte und der ihn fragte: «Etwas vorgefallen?» – sagte er: «Sei ruhig, alles in Ordnung», und legte sich schlafen. Der Neapolitaner stand fast eine Stunde auf Wache, da hörte er Schritte nahen. Aus dem Gebüsch kam wiederum ein Riese und fragte ihn: «Was machst du da?» «Das geht dich überhaupt nichts an», erwiderte der Neapolitaner. Da hob der Riese seine Faust, um dem Soldaten den Kopf zu zerschmettern, aber der war schneller und jagte ihm sein Schwert durch die Kehle. Dann warf er die Leiche in die Schlucht. Nun wäre es Zeit gewesen, wieder den Römer zu wecken, aber der Neapolitaner dachte: ‹Zunächst will ich einmal nachschauen, woher der Riese gekommen ist.› Und er schritt wacker ins Dickicht hinein. Da sah er ein Licht durchs Gebüsch schimmern, und als er näher hinging, stand er vor
einem Häuschen. Er blickte durch ein Loch ins Innere und da sah er drei Alte beim Feuer sitzen und sich unterhalten. «Es ist schon Mitternacht, und unsere Männer sind noch immer nicht heimgekommen», sagte die eine. «Ob er wohl Erfolg gehabt hat?» meinte die zweite. Und die dritte sprach: «Vielleicht sollten wir ihnen etwas entgegengehen? Was sagt ihr?» «Los, gehen wir!» sagte die erste. «Ich nehme die Lampe, mit der man tausend Meilen weit sehen kann.» «Und ich», sagte die zweite Alte, «nehme das Schwert, das bei jeder Drehung ein Heer auslöscht.» Und die dritte: «Und ich nehme die Flinte, mit der man die Wölfin des königlichen Palastes töten kann.» «Also los, gehen wir!» Und sie öffneten die Türe. Hinter dem Pfosten aber lauerte bereits der Neapolitaner auf sie. Da ging die erste heraus, und – peng! – zog ihr der Soldat eine über den Kopf, daß niemand mehr «Amen» zu sagen brauchte. Es kam die zweite, und – peng! – da lag sie schon neben der andern Alten. Da ging die dritte heraus, und – peng! – da hatte auch sie genug. Der Soldat aber hatte jetzt die Lampe, mit der man tausend Meilen weit sieht, das Schwert, das bei jeder Umdrehung ein Heer auslöscht, und die Flinte, welche die Wölfin des königlichen Palastes tötet. «Probieren wir die Dinge einmal aus!» sagte der Neapolitaner und hob die Lampe. Da sah er tausend Meilen weit weg ein Heer, das mit Lanzen und Schilden ein Schloß verteidigte, und auf dem Balkon des Schlosses war eine Wölfin angekettet, die hatte ganz glühende Augen. «Weiter im Text!» sagte der Soldat und drehte sein Schwert in der Luft um. Dann nahm er wieder seine Lampe und leuchtete hin und siehe da! Alle Soldaten waren tot zu Boden gesunken. Dann hob er die Flinte und schoß auf die Wölfin, die sogleich krepierte.
«Nun wollen wir doch einmal gehen und uns das Ganze aus der Nähe besehen!» sagte der Soldat. Er ging und ging, und endlich kam er zu jenem Schlosse. Er klopfte an, er rief, aber niemand öffnete ihm. Da trat er denn ein und machte eine Runde durch alle Zimmer. Doch er sah keine einzige Seele. Endlich im letzten, schönsten Zimmer fand er in einem Stuhl ein schlafendes Mädchen. Der Soldat näherte sich ihr, aber jene schlief immer noch. Von ihrem Fuß war ein Pantoffel gefallen; den hob der Neapolitaner auf und steckte ihn in seine Tasche. Dann gab er ihr behutsam einen Kuß und schlich sich auf den Zehenspitzen davon. Er war kaum gegangen, da erwachte das Mädchen. Es rief seine Hofdamen, die alle mit ihr im Zimmer geschlafen hatten. Da erwachten auch die Hofdamen und liefen herbei. «Der Zauber ist gebrochen, der Zauber ist gebrochen!» riefen sie alle. «Die Prinzessin ist erwacht! Wer mag der Ritter sein, der sie geweckt hat?» «Schnell», sagte die Prinzessin, «lauft ans Fenster und seht, wer unser Retter ist!» Die Hofdamen liefen ans Fenster, aber sie sahen nur das tote Heer und die tote Wölfin. Da sagte die Prinzessin: «Beeilt euch und lauft zu Seiner Majestät, meinem Vater! Sagt ihm, daß einer gekommen ist und das Heer getötet und die Wölfin erschossen hat, die mich in Gefangenschaft hielt. Sagt ihm, daß der Zauber gebrochen ist!» Da blickte sie auf ihre Füße und sah den nackten Fuß. «Ja und dann: er hat den Pantoffel von meinem linken Fuß mitgenommen.» Der König war sehr froh und glücklich, und er erließ einen Aufruf, der im ganzen Lande verkündet wurde: «Wer meine Tochter errettet hat, der soll sie zur Frau erhalten, sei er nun ein Prinz oder ein Bettler!» Indessen war der Neapolitaner zu seinen Kameraden zurückgekehrt, und es war schon Tag geworden.
«Warum hast du uns nicht früher geweckt? Wieviel Runden Wache hast du denn geschoben?» fragten sie ihn. Der Neapolitaner wollte nicht die ganze lange Geschichte erzählen und sagte nur: «Ich hatte nicht Schlaf, und deshalb bin ich aufgeblieben.» Es vergingen einige Tage, und im Reich der befreiten Prinzessin hatte sich noch niemand gemeldet, um als Retter den Preis in Empfang zu nehmen und sich mit der Prinzessin zu vermählen. «Was mag das nur sein?» fragte sich der König. Da kam der Prinzessin eine Idee: «Papa, machen wir es doch so: machen wir eine Wirtschaft auf dem Lande auf, wo es auch Betten zum Schlafen gibt, und schreiben wir an: ‹Hier ißt man, trinkt man und schläft man drei Tage umsonst.› Auf die Weise wird da viel Volk zusammenkommen, und vielleicht können wir so etwas in Erfahrung bringen.» «Kein schlechter Gedanke!» sagte der König. «Wir wollen einmal einen Versuch machen!» Gesagt, getan. Sie machten eine Wirtschaft auf, und die Prinzessin selbst spielte die Wirtin. Und siehe da, es kamen auch unsere drei Soldaten an, die waren schon hungrig wie Wölfe. Sie kamen und lasen das Schild «Hier ißt man, trinkt man und schläft man drei Tage umsonst». Da sagte der Neapolitaner: «Kameraden, wir haben längst den Riemen im letzten Loch geschnürt, hier aber ißt man und schläft man umsonst! Gibt’s da noch einen Grund, lange zu warten? Hinein!» Und seine Gefährten sagten: «Das ist doch kaum zu glauben! Ob man das am Ende nicht geschrieben hat, um arme Teufel wie unsereins zu verspotten oder zu betrügen?»
Aber da stand die Prinzessin als Wirtin unter der Türe und sagte: «Kommt nur herein! Es ist kein Schwindel dabei, und das Schild hat schon seine Richtigkeit!» So traten sie denn ein, und die Prinzessin servierte ihnen ein Mahl wie für große Herren. Als sie aber genug gegessen und getrunken hatten, setzte sich die Wirtin zu ihnen auf die Bank und sagte: «Was gibt es Neues draußen in der Welt? Wißt ihr nichts? Hier ist es so langweilig, und ich erfahre rein gar nichts von dem, was sich so zuträgt.» «Was wollt Ihr, daß wir Euch erzählen sollen, Frau Wirtin?» sagte der Römer. «Nun, Soldaten wie ihr kommen doch viel herum.» Kurz und gut, die Prinzessin brachte den Römer so weit, daß er erzählte, wie er Wache gestanden habe und wie sich da ein Riese eingestellt habe, dem er den Kopf abschlug. «Das ist ja ausgezeichnet», rief der Florentiner, «mir ist just das gleiche passiert!» Und auch er erzählte seine Geschichte, wie er Wache gestanden, einen Riesen gesehen und erschlagen habe. «Und Ihr», fragte die Prinzessin den Neapolitaner, «habt Ihr gar nichts erlebt?» Da fingen der Römer und der Florentiner zu lachen an: «Was wollt Ihr denn, daß der schon erlebt haben soll? Unser Freund ist ein Angsthase, der schon vor Schrecken stirbt, wenn sich nachts auch nur ein Blatt im Winde bewegt, und der die Flucht ergreift und für eine Woche verschwunden bleibt!» «Ach, warum setzt ihr denn dem Armen so zu?» sagte die Prinzessin, und sie stand dem Neapolitaner bei, überredete ihn aber schließlich auch, daß er etwas erzähle. Da sprach denn der Neapolitaner:
«Wenn Ihr mir glauben wollt, dann hat sich auch während meiner Wache etwas zugetragen: es kam ein Riese, und ich habe ihn getötet.» «Bum!» schrien seine Kameraden unter Lachen. «Wenn du ihn überhaupt gesehen hättest, wärst du schon vor Angst tot umgefallen! Basta! Uns reichen deine Geschichten, wir sind müde und wollen ins Bett!» Und damit ließen sie den Neapolitaner allein bei der Prinzessin zurück. Der Neapolitaner schwieg verschüchtert, aber die Prinzessin brachte vom besten Wein, und nach und nach taute der Soldat auf und fuhr in seiner Erzählung fort. So erfuhr die Prinzessin langsam die ganze Geschichte: von der wunderbaren Laterne, von dem Zauberschwert und von der Flinte, welche die Wölfin getötet, von dem schlafenden Mädchen, das der Soldat geküßt hatte, und ganz zum Schluß auch von dem Pantoffel. «Und habt Ihr den Pantoffel noch?» fragte die Prinzessin. «Ei freilich», sagte der Soldat und zog ihn aus der Tasche, «hier ist er!» Da war die Prinzessin sehr zufrieden, sie gab ihm noch mehr zu trinken, bis er in Schlaf fiel, und dann sagte sie zu ihrem Hausknecht: «Nehmt ihn und tragt ihn in die Kammer, die ich vorbereitet habe. Zieht ihm behutsam seine Kleider aus und legt ihm königliche Gewänder auf seinen Stuhl!» Am nächsten Morgen wachte der Neapolitaner auf, und wie er sich umschaute, da war er in einer Kammer, in der war alles aus Gold und Brokat. Er rieb sich verwundert die Augen und erhob sich, um seine schäbige Uniform zu suchen. Aber da lagen königliche Gewänder auf dem Stuhl. Da zwickte er sich in den Arm, um sich zu versichern, daß er nicht träume. Da versuchte er die Hofkleider anzulegen, aber er war es nicht gewohnt und kam damit nicht zurecht. Weil da aber eine
Glocke stand, läutete er, und da kamen vier Diener herein, machten eine tiefe Verneigung und sagten: «Haben Hoheit geruht, wohl zu schlafen? Was befehlen Eure Hoheit?» Da glotzte der Neapolitaner sie dumm an und sagte: «Ja seid ihr denn verrückt? Zum Teufel mit eurer Hoheit! Wo ist denn meine Uniform? Gebt mir mein Zeug, und macht mit der Komödie ein Ende!» «Aber wollen Hoheit sich doch beruhigen! Wir werden sogleich den Hofbarbier rufen, damit er Eurer Hoheit den Bart abnehme und das Haar Eurer Hoheit kämme!» «Wo sind denn meine Kameraden? Wo habt ihr meine Kleider gelassen?» «Gleich, gleich werden sie kommen. Aber Hoheit kann sie doch nicht unbekleidet empfangen. Erlaubt, daß wir Eure Hoheit anziehen!» Als der Neapolitaner sah, daß da nichts half, ließ er sich seufzend ankleiden, den Bart abnehmen und kämmen, so daß er kaum wiederzuerkennen war. Dann brachte ihm die Dienerschaft die Schokolade und Torte und allerlei Süßigkeiten. Als er mit dem Frühstück fertig war, sagte er: «Kann ich nun endlich meine Kameraden sehen? Ja oder nein!» «Sofort, Hoheit!» Man führte den Römer und den Florentiner herein. Als die ihren alten Gefährten in königlicher Kleidung sahen, blieben sie mit offenem Munde stehen. «Aber sag, warum hast du dich maskiert?» wollten sie wissen. «Ja, wißt ihr denn das auch nicht?» entgegnete der Neapolitaner. «Ich selbst habe keine Ahnung und hoffte alles von euch zu erfahren.»
«Weiß der Teufel, was du im Suff gemacht hast!» sagten seine Kameraden. «Wer weiß, was du der Wirtin gestern für ein Märchen aufgetischt hast!» «Ich habe gar kein Märchen erzählt!» «Ja, und wie kommt es dann zu diesem Theater? Machst du nur Flausen, oder willst du uns gar zum Narren halten? Die Geschichte stimmt doch nicht!» Da war still der König eingetreten. «Ich will euch alles erklären!» Und damit führte er seine Tochter herein, die hatte nun nicht mehr das Kleid der Wirtin an, sondern sie trug ihren schönsten und kostbarsten Staatsrock. «Meine Tochter war verzaubert, und dieser tapfere Jüngling hat sie von dem bösen Zauber befreit!» «Hol mich doch dieser und jener!» sagte der Römer. «Das hätte ich ihm nie zugetraut!» Und der König fuhr fort und erzählte die ganze Geschichte. «Und nun», sagte Seine Majestät zum Schluß, «nun mache ich den tapferen Soldaten zum Gemahl meiner Tochter und zum Erben meiner Krone. Ihr anderen beiden braucht keine Angst zu haben: ihr wart meinem Schwiegersohn brave Kameraden, und ich ernenne euch zu Herzögen. Hättet ihr nicht die beiden anderen Riesen getötet, dann hätte meine Tochter nicht erlöst werden können.» «Donnerwetter», sagten der Römer und der Florentiner, «wenn das unser Regimentskommandeur erlebt hätte!» Es war nicht schwer, auch für den Römer und den Florentiner eine Braut zu finden, denn einen Herzog nimmt wohl gern jedes Mädchen. Und so ward unter großer Pracht eine dreifache Hochzeit gefeiert. «Sie aßen ein Hühnchen, Sie essen es noch; Der Bräutigam, die Braut, Sie leben hoch!»
19 Der Zwiebelgestank
Es war einmal ein armer Maler, der den Auftrag erhielt, in einer Landkirche das Bildnis des Gekreuzigten zu malen. Als er hinkam, sagte zu ihm der Pfarrer: «Also gut. Wir werden Euch fünfzig Pfennig im Tag geben, außerdem das Frühstück, Mittagessen und Nachtmahl. Seid Ihr zufrieden damit?» – «Besser als gar nichts», sagte der arme Maler, und er machte sich an die Arbeit. Es wurde Mittag, der Maler stellte seine Arbeit ein, schloß die Kirche ab und ging in den Speisesaal. Dort trug man ihm eine gute Zwiebelsuppe auf und einen Teller Bohnen, gewürzt mit Zwiebeln, und sonst nichts. Der Maler kehrte nach dem Essen zu seiner Arbeit zurück und fand sich am Abend wieder im Speisesaal ein. Was gab es diesmal? Einen großen Teller Kartoffelsalat, wiederum kräftig mit Zwiebeln angemacht, und sonst nichts. Da sprach dieser arme Teufel bei sich: «Nun gut, schauen wir, was es morgen gibt!» Aber am nächsten Tag, am übernächsten und am überübernächsten, und an all den weiteren Tagen, an denen der arme Maler in der Kirche an seinem Bildnis des Gekreuzigten arbeitete, gab es nichts anderes als immer wieder bescheidenste Gerichte, die sehr stark mit Zwiebeln zubereitet waren. Und das früh, mittags und abends. Es kam der Tag, wo der Maler mit seinem Gekreuzigten fertig war. Er rief den Pfarrer, der kam in die Kirche, sah sich
das Bild an und sagte: «Er ist sehr schön – oder besser gesagt: er wäre sehr schön, wenn er nicht sein Gesicht zu der anderen Seite hinübergedreht hätte.» Da antwortete der arme Maler: «Mein lieber Herr Pfarrer, da Ihr mir immer und immer wieder große Mengen Zwiebeln zum Essen gegeben habt, kann man sich denken, daß mein Atem sehr nach Zwiebel gestunken hat. Und das hat der arme Gekreuzigte nicht aushalten können, und deshalb hat er den Kopf weggedreht.»
20 Weiß-wie-Milch-und-rot-wie-Blut
Ein Königssohn aß eines Tages bei der Tafel. Als er Quark schnitt, verletzte er sich am Finger, und es fiel ein Tropfen Blut auf den Quark. Da sagte er zu seiner Mutter: «Mama, ich will eine Frau haben weiß wie Milch und rot wie Blut!» «Ach, Sohn», entgegnete die Mutter, «was weiß ist, ist nicht rot, und was rot ist, ist nicht weiß. Aber geh immer und suche, ob du so etwas findest!» Da machte sich der Sohn auf den Weg. Er ging und ging, und als er schon lange gewandert war, begegnete er einer Frau, die fragte ihn: «Junger Mann, wo willst du hin?» «Wohin ich gehe? Weil du eine Frau bist, will ich es dir sagen: Ich suche eine Frau weiß wie Milch und rot wie Blut.» «Aber, Söhnchen, was weiß ist, ist nicht rot, und was rot ist, ist nicht weiß.» Da ließ er die Frau stehen und wanderte weiter. Er ging und ging, und da begegnete er einem alten Manne. Der fragte ihn: «Junger Mann, wohin willst du?» «Wohin ich gehe? Ich werde es dir sagen, weil du vielleicht mehr weißt als ich. Ich suche eine Frau weiß wie Milch und rot wie Blut.» Da antwortete der Alte: «Mein Sohn, was weiß ist, ist nicht rot, und was rot ist, ist nicht weiß. Aber nimm diese drei Früchte hier: die Nuß, die
Haselnuß und die Kastanie. Öffne sie, und du wirst sehen, was herauskommt. Aber mach das nur, wenn du in der Nähe einer Quelle bist!» Da bedankte sich der Königssohn und ging weiter. Er war aber noch nicht weit gekommen, da plagte ihn die Neugier, und er öffnete die Nuß. Da sprang ein Mädchen heraus, das war wunderschön, weiß wie Milch und rot wie Blut, und es rief sogleich: «Jüngling mit den Lippen so rot, Gib mir zu trinken, sonst trifft mich der Tod.» Der Königssohn holte schnell Wasser herbei, aber als er kam, war die Schöne schon gestorben. Da öffnete er die Haselnuß, und heraus sprang ein anderes Mädchen, das war ebenso schön wie das erste, und auch dieses war weiß wie Milch und rot wie Blut, und es rief: «Jüngling mit den Lippen so rot, Gib mir zu trinken, sonst trifft mich der Tod.» Er brachte ihr Wasser, aber sie war schon gestorben. Da ging nun der Königssohn bis zur Quelle, und dort öffnete er die Kastanie. Sogleich sprang ein Mädchen heraus, das war noch schöner als die ersten beiden, und auch dieses Mädchen war weiß wie Milch und rot wie Blut und rief: «Jüngling mit den Lippen so rot, Gib mir zu trinken, sonst trifft mich der Tod.» Da benetzte der Königssohn sogleich ihr Antlitz mit Wasser und ließ sie trinken, und so blieb sie am Leben.
Das Mädchen aber war so nackt, wie es seine Mutter geboren hatte, und so legte ihm der Königssohn seinen Mantel um die Schultern und sagte zu ihm: «Steige auf diesen Baum, während ich heimgehe, um dir Kleider zu holen und mit einem Wagen zurückzukommen. Dann werden wir zum Palast fahren.» Das Mädchen stieg also auf den Baum, der bei der Quelle stand. Zu dieser Quelle kam aber jeden Morgen eine häßliche Mohrin, um dort Wasser zu holen. Als sie nun wiederkam, um ihr Gefäß mit Wasser zu füllen, sah sie das Spiegelbild des schönen Mädchens auf dem Baume im Wasser, und sie hielt es für ihr eigenes Bild und sagte: «Muß denn ich, ein Mädchen so schön, Täglich Wasser holen gehn?» Und ohne weiter nachzudenken, warf sie das Gefäß so zu Boden, daß es in tausend Scherben zerbrach. Dann kehrte sie zu ihrem Hause zurück, und als ihre Herrin sie ohne Wasser und ohne Krug kommen sah, schrie sie: «Häßliche Mohrin, wie kannst du dir erlauben, ohne Wasser und ohne Krug heimzukommen?» Da nahm sie einen anderen Krug und kehrte zur Quelle zurück. Im Wasser aber sah sie wiederum das Spiegelbild des schönen Mädchens und sagte: «Ah! Ich bin doch schön! Muß denn ich, ein Mädchen schön, Täglich Wasser holen gehn?» Und sie warf auch diesen Krug so zu Boden, daß er in Scherben ging. Als sie wieder nach Hause kam, begann ihre Herrin laut zu schrein, und sie mußte mit einem andern Krug
neuerdings zur Quelle. Als das Mädchen auf dem Baum das beobachtete, konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und begann laut zu lachen. Da erhob die häßliche Mohrin ihre Augen und erblickte das Mädchen auf dem Baum. «Ah, Ihr seid es», rief sie, «und Ihr habt mich dreimal den Krug zerbrechen lassen. Ihr seid aber auch wahrlich schön. Erlaubt mir, daß ich Euch kämme!» Das schöne Mädchen wollte nicht vom Baum steigen, aber die häßliche Mohrin drängte so lange, bis sie nachgab und herabstieg. Da kämmte die Mohrin das Mädchen und sah, daß dieses eine Haarnadel hatte. Damit stach die Mohrin das Mädchen ins Ohr, und sofort rann ein Blutstropfen heraus. Das Mädchen stürzte zu Boden und starb, der Blutstropfen aber verwandelte sich in ein kleines Täubchen und flog davon. Die häßliche Mohrin aber stieg auf den Baum. Es dauerte nicht lange, da kehrte der Königssohn mit den Kleidern und der Kutsche zurück. Als er die häßliche Mohrin sah, sagte er: «Warst du nicht weiß wie Milch und rot wie Blut? Und wie bist du jetzt so schwarz geworden?» Da antwortete die häßliche Mohrin: «Die Sonne ist hervorgekommen, Hat Weiß und Rot mit sich genommen.» Drauf der Königssohn: «Aber warum hast du auch die Stimme gewechselt?» Und die Mohrin: «Ach, meine Stimme sanft und lind Hat fortgeblasen mir der Wind.» Und der Königssohn: «Aber du warst doch erst so schön und bist jetzt so häßlich!»
Da antwortete die Mohrin: «Die Schönheit nahm ein Sturm mit sich, Der eben durch die Bäume strich.» Genug, dem Königssohn blieb nichts anderes übrig, als die häßliche Mohrin in die Kutsche zu setzen und nach Hause zu führen. So wurde die häßliche Mohrin die Braut des Königssohnes. Das Täubchen aber flog jeden Morgen ans Fenster der Küche und fragte den Koch: «Koch, ach Koch, sage mir nur: Was macht der König und die schwarze Figur?» «Ißt, trinkt und schläft», antwortete der Koch. Drauf die Taube: «Süppchen für mich, Goldene Federn für dich.» Da gab ihr der Koch einen Teller mit Suppe, und das Täubchen schüttelte sich, und es fielen goldene Federn aus ihrem Gefieder. Dann flog das Täubchen fort. Am nächsten Morgen kehrte das Täubchen wieder und sagte: «Koch, ach Koch, sage mir nur: Was macht der König und die schwarze Figur?» «Ißt, trinkt und schläft», antwortete der Koch. Und das Täubchen fuhr fort: «Süppchen für mich, Goldene Federn für dich.»
Und es aß wieder seine Suppe, und der Koch erhielt die goldenen Federn. So ging es während einer ganzen Spanne Zeit. Aber eines Tages besann sich der Koch und erzählte die ganze Geschichte dem Königssohn. Der dachte nach und befahl schließlich: «Morgen, wenn die Taube wieder kommt, fang sie und bring sie mir, denn ich will sie bei mir behalten!» Die häßliche Mohrin, die im Verborgenen alles mit belauscht hatte, dachte, daß jenes Täubchen nichts Gutes bedeuten könne. Und als sich am nächsten Morgen das Täubchen am Fenster der Küche niederließ, war die häßliche Mohrin schneller zur Hand als der Koch, sie fing die Taube und durchbohrte sie mit einem Spieß, so daß sie starb. Aber während das Täubchen starb, fiel ein Blutstropfen zur Erde, und auf der Stelle wuchs dort ein Kastanienbaum. Der Kastanienbaum aber hatte die wunderbare Eigenschaft, daß, wenn von seinen Früchten einer aß, der im Sterben lag, er sogleich geheilt wurde. Und so kam immer eine ganze Reihe von Leuten, welche die häßliche Mohrin um eine Kastanie von jenem Baum baten. Schließlich war am Baum nur noch eine einzige Kastanie, und die häßliche Mohrin sagte: «Diese Kastanie will ich für mich selbst behalten.» Da kam ein altes Mütterchen und bat: «Gebt Ihr mir wohl die Kastanie? Mein Mann liegt im Sterben!» «Nein, ich habe nur noch eine, und die behalte ich für mich selbst.» Da wollte der Königssohn vermitteln und sagte: «Ach, die Arme, du mußt sie ihr geben, damit ihr Mann nicht stirbt.» Da blieb der Mohrin nichts anderes übrig, und sie gab der Frau die Kastanie mit. Als aber die Alte nach Hause kam, da war es schon zu spät, denn ihr Mann war bereits gestorben.
Sie legte die Kastanie auf das Fensterbrett und kümmerte sich nicht mehr weiter darum. Jeden Morgen aber, wenn die Frau in die Messe ging, stieg ein Mädchen aus der Kastanie heraus, machte Feuer im Herde, reinigte das Haus und kochte das Essen, so daß die Frau, wenn sie heimkam, schon eine gedeckte Tafel fand. Das Mädchen aber schlüpfte immer wieder rechtzeitig in seine Kastanie zurück, und die Frau wunderte sich, wer das Haus besorgte, und verstand nicht, was eigentlich vorging. Eines Tages aber ging sie zu ihrem Beichtiger und erzählte ihm alles. Und der sagte: «Wißt Ihr, was Ihr machen müßt? Morgen tut Ihr so, als ob Ihr aus dem Hause ginget, aber Ihr versteckt Euch so, daß Ihr alles beobachten könnt. Auf diese Weise werdet Ihr in Erfahrung bringen, wer bei Euch die Küche macht.» Die Alte tat am nächsten Morgen so, als würde sie das Haus verlassen und abschließen, in Wirklichkeit aber versteckte sie sich hinter der Türe. Das Mädchen aber kam wie gewöhnlich aus der Kastanie heraus und begann, die Küche sauberzumachen. Da kam die Alte aus ihrem Versteck hervor, und das Mädchen konnte sich nicht rechtzeitig in seiner Kastanie verstecken. «Wo kommst du denn her?» fragte die Alte. «Sei gesegnet, Großmütterchen, bitte töte mich nicht! Töte mich nicht!» «Nein, ich töte dich sicherlich nicht. Ich will nur wissen, wo du herkommst.» «Ich komme aus der Kastanie», sagte das Mädchen und erzählte seine ganze Geschichte. Da kleidete die Alte das Mädchen wie ein Bauernmädchen, so wie sie auch selbst angezogen war, denn das Mädchen war immer noch ganz nackt. Am Sonntag aber nahm die Alte das
Mädchen mit in die Messe. Auch der Königssohn war in der Messe, und er sah das Mädchen. «Mein Gott», rief er, «das scheint mir das Mädchen von der Quelle zu sein!» Und er folgte der Alten auf der Straße. «Sag mir, Mütterchen, woher kommt jenes Mädchen?» fragte er sie. «Töte mich nicht!» heulte die erschrockene Alte. «Nein. Du brauchst keine Angst zu haben, ich will dir nichts zuleide tun, sondern nur wissen, woher jenes Mädchen kommt.» «Es kommt aus jener Kastanie, die Ihr mir gegeben habt.» «Auch sie kommt also aus einer Kastanie!» rief der Königssohn aus. Und er fragte das Mädchen selbst: «Wie kommt Ihr denn in die Kastanie?» Da erzählte das Mädchen seine ganze Geschichte. Der Königssohn aber kehrte mit dem Mädchen in den Palast zurück, und er ließ sie alles noch einmal vor der häßlichen Mohrin erzählen. «Hast du alles gut gehört?» sagte er zu der häßlichen Mohrin. «Ich will dich nicht verurteilen, sondern du sollst selbst dein Urteil sprechen!» Und als die häßliche Mohrin sah, daß es keinen Ausweg mehr gab, sagte sie: «Laß mir ein Hemd aus Pech machen und mich mitten auf dem Platz verbrennen!» Gesagt, getan. Die Mohrin wurde verbrannt, der Königssohn aber heiratete das Mädchen Weiß-wie-Milch-und-rot-wie-Blut.
21 Der Waldkönig
Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter; die älteste und die mittlere waren weder schön noch häßlich, aber die jüngste war eine wahre Schönheit. Sooft ein Freier kam, der um die Hand der Ältesten anhalten wollte, sah er die Jüngste und verliebte sich in sie. Und so waren die beiden älteren Schwestern einfach nicht an den Mann zu bringen. Das verdroß die beiden Mädchen sehr, und eines Tages verschworen sie sich gegen die Jüngste. Sie gingen zum König, ihrem Vater, und sagten: «Wir haben heute nacht beide den gleichen schrecklichen Traum gehabt: Unsere jüngste Schwester wird eines Tages mit einem gemeinen Soldaten durchbrennen.» Da erschrak der König sehr, und da er glaubte, es müsse wohl ein übles Zeichen sein, wenn seine beiden Töchter den nämlichen Traum gehabt hätten, beschloß er, der Prophezeiung zuvorzukommen, damit sein Haus nicht mit Schimpf beladen würde. Er ließ deshalb seinen General rufen; zu dem sagte er: «Nehmt meine jüngste Tochter und führt sie zu einem Spaziergang in das Gebiet des Waldkönigs. Wenn Ihr aber dort seid, dann zieht Euer Schwert und tötet sie!» Der General tat, wie ihm der König befohlen hatte, und begleitete das Mädchen ins Gebiet des Waldkönigs. Als sie mitten im Wald waren, sagte das Mädchen: «Wir sind genug gelaufen, laßt uns doch wieder heimgehen!» Da sagte der General:
«Nein, Hoheit, sosehr es mir mißfällt, aber ich habe Befehl, Euch hier zu töten.» Und dabei zog er seinen Degen. Da fing das Mädchen bitterlich zu weinen an und warf sich vor dem General auf die Knie. Und als der die Arme zittern und weinen sah, wurde er von Mitleid gerührt, er steckte sein Schwert in die Scheide, nahm dem Mädchen das Kleid ab, durchstach es und tauchte es in das Blut eines Lämmchens. Und mit diesem blutigen Unterpfand machte er sich auf den Heimweg. Die Schwestern aber waren zufrieden, als sie hörten, daß die Jüngste umgekommen sei. Indessen blieb das arme Mädchen allein im Walde zurück, voll Angst und Furcht vor dem Waldkönig, von dem die Sage ging, daß er ein Menschenfresser sei und alle Kinder töte, die er im Wald fände. Aber schließlich wurde sie müde und schlief im Schatten eines Baumes ein. Am nächsten Morgen ging der Waldkönig sehr frühzeitig auf die Jagd. Er verfolgte einen Hirsch, schoß einen Pfeil auf ihn ab und verwundete ihn. Und als er den Spuren folgte, fand er das schlafende Mädchen. Er betrachtete die schlafende Schöne, dann weckte er sie zart auf und sagte: «Du brauchst keine Angst vor mir zu haben! Ich tu dir nichts zuleide. Willst du mit mir kommen und in meinem Hause wohnen?» Als das Mädchen sah, daß der Waldkönig gar kein Menschenfresser, sondern ein einsamer und trauriger alter Mann war, ging es gern mit und zog in sein Haus ein, das mitten im Wald stand. Der Waldkönig lebte dort ganz allein, er hatte kein Gefolge und keine Diener, ja es gab auch nicht eine lebende Seele dort. Die Prinzessin aber begann sogleich, in dem Hause Ordnung zu machen, und da sie auch gut zu kochen verstand, wurde der Waldkönig sehr zufrieden und vergnügt. Er liebte das Mädchen wie eine Tochter und ließ es ihr an nichts fehlen.
Jeden Morgen aber, sobald sich das Mädchen erhoben hatte, setzte es sich ans Fenster, um sich die Haare zu kämmen und die Zöpfe zu flechten. Der König aber ging auf die Jagd. Eines Morgens nun kam ein Papagei angeflogen, der setzte sich aufs Fensterbrett und sprach: «Umsonst flichtst du dir Zöpfe fürwahr, Der Waldkönig frißt dich mit Haut und Haar!» Als das Mädchen das hörte, begann es zu weinen. Und als der Waldkönig von der Jagd zurückkehrte, da sah er ihre verweinten Äuglein und fragte: «Was hast du? Warum bist du so traurig?» Da antwortete die Prinzessin: «Heute morgen ist ein Papagei gekommen, der hat gesagt: ‹Umsonst flichtst du dir Zöpfe fürwahr, Der Waldkönig frißt dich mit Haut und Haar!›» «Ach», sagte der Waldkönig, «du mußt dich nicht so erschrecken lassen. Weißt du, was du das nächste Mal dem Papagei antworten mußt? Sprich nur: ‹Papagei, Papagei, Deine Federn ich mir leih, Mach mir einen Fächer draus, Aus dem Fleisch mir einen Schmaus. Und dann werde ich als Braut Deinem Herrn bald angetraut!› Wenn du so sagst, wird sich der Papagei furchtbar ärgern, und du kannst ihn auslachen.» «Gut», sagte das Mädchen, «so will ich’s machen.» Am nächsten Morgen setzte sie sich wieder ans Fenster und
kämmte ihre Haare und flocht ihre Zöpfe. Da kam der Papagei angeflogen und sprach: «Umsonst flichtst du dir Zöpfe fürwahr, Der Waldkönig frißt dich mit Haut und Haar!» Als die Prinzessin dies hörte, antwortete sie: «Papagei, Papagei, Deine Federn ich mir leih, Mach mir einen Fächer draus, Aus dem Fleisch mir einen Schmaus. Und dann werde ich als Braut Deinem Herrn bald angetraut!» Da wurde der Papagei so wütend, daß er sich vor Zorn die Hälfte seiner Federn ausriß und ganz zerzaust nach Hause flog. Als nun der König, dem der Papagei gehörte, sah, wie zerzaust sein Vogel heimkam, fragte er seine Diener: «Wer hat denn meinen schönen Papagei so gerupft?» Und diese erwiderten: «Jeden Morgen fliegt der Papagei in das Gebiet des Waldkönigs; und heute ist er nun so zerrupft zurückgekommen.» Da sprach der König jenes Landes: «Morgen werde ich dem Tier folgen, um zu sehen, wer mir meinen Vogel so verschandelt!» Gesagt, getan. Als am nächsten Morgen der Papagei fortflog, schwang sich der König auf sein Pferd und folgte ihm ins Gebiet des Waldkönigs. Er ritt und ritt, und endlich erspähte er zwischen den Bäumen ein Haus, und der Papagei ließ sich dort auf einem Fensterbrett nieder. Da stieg der König vom Pferde und näherte sich leise, und da sah er, daß am Fenster ein
wunderhübsches Mädchen saß, das kämmte sich die Haare und flocht sich die Zöpfe. Und der König hörte den Papagei sprechen: «Umsonst flichtst du dir Zöpfe fürwahr, Der Waldkönig frißt dich mit Haut und Haar!» Und weiter hörte der König, wie das Mädchen antwortete: «Papagei, Papagei, Deine Federn ich mir leih, Mach mir einen Fächer draus, Aus dem Fleisch mir einen Schmaus. Und dann werde ich als Braut, Deinem Herrn bald angetraut!» Da riß sich der Papagei vor Verdruß auch die andere Hälfte seiner Federn aus. Der König aber, der noch nie ein so schönes Mädchen gesehen hatte, stellte sich dem Waldkönig vor und bat ihn um die Hand des Mädchens. Der Waldkönig war zwar sehr traurig, daß er nun die Prinzessin, die ihm so lieb wie eine Tochter geworden war, wieder verlieren sollte, aber er war auch zufrieden, daß sie nun einen König zum Gatten erhielt. So nahm das Mädchen Abschied vom Waldkönig, nachdem es ihm versprochen hatte, ihn bald wieder einmal zu besuchen. Der König aber führte die Prinzessin auf sein Schloß und ließ die Hochzeit vorbereiten. Und nach drei Tagen war das Hochzeitsfest, und zur Tafel kam auch der Vater der Prinzessin, und als er seine Tochter erkannte, bat er sie vielmals um Verzeihung dafür, daß er befohlen hatte, sie umzubringen.
Die bösen Schwestern aber ließ er in einem Turm einmauern. Und der Papagei? Der ist fortgeflogen, und man hat nie wieder von ihm gehört.
22 Die Feldmaus und die Stadtmaus
Eine Maus, die gerade in der Küche an einem Stück Käse naschte, wurde so jählings von der Hauskatze überrascht, daß sie sich plötzlich – ohne zu wissen wie – mitten im Garten wiederfand. Sie verbarg sich unter einem Salatkopf und begann nachzudenken. Und wie sie so dachte und dachte, fiel ihr ein, daß ihr Vater selig ihr einmal von einem Vetter Landmaus erzählt habe, der im Garten unter einem Feigenbaum wohne. Und sie lief hierhin und dorthin, bis sie das Mauseloch fand, und ging hinein. Zwar war der Vetter des Vaters bereits gestorben, aber es lebte der Sohn, der die Stadtmaus begrüßte. Sie schlossen also Bekanntschaft, machten sich viele Komplimente, fanden Gefallen aneinander, und es ergab sich, daß die Stadtmaus für zwei Tage bei der Feldmaus blieb. Und in diesen zwei Tagen vergaß sie die Küche, die Katze und alles, was sich da zugetragen hatte. Am dritten Tag aber konnte sie die ewigen Rüben, die es bei der Feldmaus als tägliches Gericht gab, schon nicht mehr riechen. Und so sagte sie zur Feldmaus: «Gevatter, ich falle dir nun langsam lästig.» – «Aber gar nicht», antwortete die Feldmaus, «bleibe wenigstens noch einen Tag!» – «Nein, Vetter, es geht nicht. Man erwartet mich daheim.» – «Und wer erwartet dich da?» – «Ein Oh, ein Oheim. Aber ich mache dir den Vorschlag: begleite mich und komm mit! Wir werden
zusammen frühstücken, und dann kannst du wieder nach Hause gehen.» Die Feldmaus, die noch nie ein Haus von innen gesehen hatte, war recht neugierig, und so ging sie auf den Vorschlag ein. Sie liefen also in den Garten, durchquerten einen Laubengang und kletterten zum Küchenfenster hinauf. «Ah», sagte die Feldmaus, «was für ein herrliches Haus! Was für ein guter Geruch!» – «Nur vorwärts, Gevatter, mach keine Umstände, und tu so, als ob du zu Hause wärst!» sagte die Stadtmaus. «Danke sehr, Gevatter. Aber weißt du, ich bin nicht so gewandt wie du. Wenn ich noch weiter mitgehe, so werde ich den Rückweg nicht mehr finden. Es wird besser sein, wenn ich hier am Fensterbrett bleibe…» «Gut, so warte, bis ich zurückkomme mit dem Frühstück», sagte die Stadtmaus, indem sie in die Küche hinabsprang. Aber als sie sich einem Stück Speck näherte, schlich sich die Katze an, die gelauert hatte, und mit einem Sprung erwischte sie die arme Maus. Die heulte und schrie: «Oh… Oh…» Da fing der armen Feldmaus das Herz zu klopfen an, und sie dachte: «Was sagt der Vetter? Oh… Oh… Dann muß das also der Oheim sein? Was für einen sauberen Empfang hat der doch für seinen Neffen. Wenn er schon zu seinem Neffen so grob ist, wie wird er dann erst mit mir umspringen, den er gar nicht kennt!» Und damit sprang die Feldmaus in den Garten hinunter und lief schleunigst in ihr Loch zurück.
23 Die falsche Großmutter
Es war einmal eine Frau, die wollte ihr Mehl sieben. Nun hatte sie aber kein Mehlsieb, und deshalb sagte sie zu ihrer kleinen Tochter: «Geh zur Großmutter und leih dir das Mehlsieb!» Das Mädchen nahm das Körbchen mit dem Vesperbrot: Brezeln und Brot mit Öl, und machte sich auf den Weg. Es ging und ging und kam an den Fluß Jordan. «Fluß Jordan, läßt du mich wohl hindurch?» «Ja, wenn du mir deine Brezeln gibst!» Der Fluß Jordan war nämlich sehr naschhaft und besonders begierig nach Brezeln, mit denen seine Wellen spielen konnten. Das Mädchen warf nun die Brezeln in den Fluß, und sogleich hielt der seine Wasser an, und das Mädchen konnte trockenen Fußes hinübergehen. Das Mädchen ging weiter und kam zum Tor Rastrello. Da sagte es: «Tor, läßt du mich hindurchgehen?» «Ja, wenn du mir dein Brot mit Öl gibst.» Seine Angeln waren nämlich schon sehr rostig, und mit dem Öl wollte es die schmieren. Das Mädchen gab dem Tor das Brot mit dem Öl, und da tat sich das Tor auf, und das Mädchen konnte hindurchgehen. So ging es weiter und kam endlich zum Haus der Großmutter, aber die Haustüre war zugesperrt. «Großmutter», rief das Mädchen, «Großmutter, komm und sperr mir auf!»
«Ich liege krank im Bett. Steig durchs Fenster!» «Da komme ich nicht hinauf.» «Dann krieche durch das Katzenloch!» «Das ist zu klein, da komme ich nicht hindurch.» «Dann warte ein wenig!» Sie nahm ein Seil und warf das zum Fenster hinunter. Das Mädchen kletterte an dem Seil hinauf und gelangte so ins Zimmer der Großmutter. Im Zimmer aber war es ganz dunkel, denn im Zimmer war nicht die Großmutter, sondern eine Menschenfresserin, die hatte die Großmutter verschlungen, nur die Zähne und die Ohren hatte sie übriggelassen, um sie auf dem Feuer zu kochen und zu backen. Das Mädchen aber sagte: «Großmutter, ich bin gekommen, um das Mehlsieb auszuleihen.» «Heute ist es schon zu spät. Ich werde es dir morgen geben. Komm zu mir ins Bett!» «Großmutter, ich habe so Hunger. Ich möchte erst nachtmahlen.» «Dann geh zum Herd. Dort kochen einige Bohnen; die kannst du essen.» Das Mädchen suchte im Dunkeln und fand auf dem Herd die Zähne der Großmutter. Die hielt sie für die Bohnen. Sie rührte mit einem Löffel darin um und sagte: «Großmutter, die Bohnen sind noch nicht gar.» «Dann iß das Gebackene, das daneben in der Pfanne steht!» Das Mädchen drehte die Ohren mit einer Gabel um und sagte: «Großmutter, das Backfleisch ist noch nicht knusperig.» «Dann komm ins Bett! Du kannst morgen essen!» Da kam das Mädchen zum Bett und berührte die Hand der Großmutter und sagte: «Großmutter, warum hast du eine so haarige Hand?»
«Das kommt von den vielen Ringen, die ich an den Fingern getragen habe.» Und das Mädchen berührte den Hals. «Großmutter, warum hast du einen so haarigen Hals?» «Das kommt von den vielen Halsketten, die ich getragen habe.» Da berührte das Mädchen die Seite. «Großmutter, warum hast du eine so haarige Seite?» «Das kommt von dem engen Korsett, das ich getragen habe.» Da berührte das Mädchen den Schwanz, und haarig oder nicht, einen Schwanz hatte die Großmutter nie im Leben gehabt! Das konnte nicht ihre Großmutter sein! Sicher war es eine Menschenfresserin! Da sagte das Mädchen: «Großmutter, ich kann noch nicht ins Bett gehen, ich muß erst noch ein Bedürfnis verrichten.» «Dann geh und mach das im Stall! Ich werde dich am Seil hinunterlassen und dich dann wieder heraufziehen.» Und damit schlang sie dem Mädchen das Seil um die Hüfte. Aber kaum war das Mädchen unten im Stall, band es sich los und wickelte das Seil um eine Ziege. «Bist du noch nicht fertig?» fragte die Großmutter. «Warte noch ein wenig!» entgegnete das Mädchen und öffnete leise die Stalltüre. «So, jetzt ziehe mich auf!» Die Menschenfresserin zog und zog, das Mädchen aber lief davon und schrie: «Haarige Menschenfresserin, haarige Menschenfresserin!» Die Alte aber zog, bis sie die Ziege in ihren Klauen hatte. Da merkte sie, daß sie angeführt worden war, und sprang mit einem Satz aus dem Bett. ‹Ich werde dich schon erwischen!› dachte sie bei sich und begann hinter dem Mädchen herzulaufen. Als sie sich dem Tor Rastrello näherten, schrie die Alte schon von weitem: «Tor Rastrello, laß sie nicht hindurch!»
Aber das Tor antwortete: «Aber ja! Freilich lasse ich sie durch, denn sie hat mir das Brot mit dem Öl gegeben.» Und so konnte das Mädchen weiterlaufen, und die Menschenfresserin, der schon die Zunge zum Halse heraushing, rannte weiter hinter ihm her. So näherten sie sich dem Fluß Jordan. «Fluß Jordan», schrie da die Alte, «Fluß Jordan, laß sie nicht hindurch!» Doch der Fluß Jordan antwortete: «Aber ja! Freilich lasse ich sie hindurch, denn sie hat mir ihre Brezeln gegeben.» Und gleich hielt der Fluß seine Wasser an, und das Mädchen konnte trockenen Fußes hindurchgehen. Als jedoch die Menschenfresserin hinterhersprang, ließ der Fluß Jordan plötzlich ein gewaltiges Hochwasser kommen, das die Alte mitriß. Das Mädchen aber blieb am Ufer zurück und machte ihr eine lange Nase.
24 Zio Pepe
Einmal – ihr seid alle noch nicht auf der Welt gewesen, und eure Väter waren noch Kinder – hat hier ein Bauer gelebt, der war ein Schlaukopf. Die Leute haben ihn ‹Zio Pepe› geheißen. Nun war es damals, daß die ersten Fremden in unsere Gegend kamen, vor allem Amerikaner, und sie haben auch den Markt besucht und mancherlei gekauft. Eines Tages kommt da auch ein Amerikaner und hat sich alles angeschaut und hat sich ein Andenken kaufen wollen, um es seiner Frau mitzubringen. Und es war damals ein Vogelhändler, der hatte gerade von den Erben einer alten Dame einen Papagei gekauft. Und weil der Papagei pausenlos redete, hat der Vogelhändler einen großen Zulauf gehabt, denn alles hat den Papagei hören wollen. Wie der Amerikaner die vielen Leute gesehen hat, ist er dort hingegangen und hat gefragt: «Was gibt es da?» Und sie haben ihm gesagt: «Da ist ein Papagei, der kann sprechen und vor allem, er kann ganz unchristlich fluchen.» Der Amerikaner hat sich den Papagei angehört, und er ist ganz begeistert gewesen, wenn er auch nicht verstanden hat, was der Vogel sagt. Und er hat deshalb den Händler gefragt, was er für den Papagei verlangt. Der Händler hat eine sehr hohe Summe genannt, und da hat der Amerikaner gesagt, er solle ihn nicht verkaufen, denn er würde wiederkommen und den Vogel kaufen, er müsse nur erst auf die Bank gehen, um Geld zu holen.
Wie der Amerikaner weg war, ist dem Zio Pepe, der auf dem Markt war, um einige Hühner zu verkaufen, ein Gedanke gekommen. Und er hat ihn einigen Freunden erzählt. Und als der Amerikaner wieder zurückgekommen ist und den Papagei um teures Geld gekauft hatte, haben ihm einige Freunde des Zio Pepe gesagt: «Herr, da drüben ist noch jemand, der hat einen ganz seltsamen Vogel.» – «Und was kann der Vogel?» – «Der Vogel kann denken.» – «Das gibt es nicht!» – «O doch, Herr, bei uns gibt es Vögel, die können sprechen, singen, pfeifen, tanzen und denken.» Und sie haben ihn in die Mitte genommen und hinüber zu Zio Pepe geführt. Zio Pepe hatte gerade unter seinen Hühnern eine ganz kleine, schwarze Henne, häßlich wie die Nacht. Die hat er eigens auf einen umgedrehten Topf gesetzt und hat ihr die Augen verbunden. Als der Amerikaner dorthin gekommen ist, hat Zio Pepe gesagt: «Der Herr will sicher meinen Zaubervogel sehen?» – «Was heißt Zaubervogel?» hat der Amerikaner gefragt. «Es ist der einzige Vogel, den wir hier haben, der denken kann. Nicht einmal in Rom haben sie einen.» – «Ja», hat einer der Freunde von Zio Pepe gesagt, «es war schon der Direktor des Tiergartens von Rom hier, um den Vogel anzuschauen. Er hat nicht genug Geld dabeigehabt, aber er wird nächste Woche wiederkommen und den Vogel kaufen.» – «Aber kann denn dieser Vogel, der wie ein Huhn aussieht, auch sprechen?» – «Nein», hat Zio Pepe gesagt, «sprechen kann er nicht. Und deshalb will ich ihn ja auch verkaufen.» – «Ja, aber wenn er nicht sprechen kann, wie kann er dann mitteilen, was er denkt?» – «Man muß einen Papagei besitzen; dann sagt der Vogel dem Papagei, was er denkt, und der Papagei kann wieder sagen, was das Huhn ihm gesagt hat. Deshalb will ja auch sonst niemand diesen Zaubervogel kaufen als der Direktor des Tiergartens, denn der hat dort viele, viele
Papageien, aber er besitzt keinen einzigen Vogel, der denken kann.» Da hat der Amerikaner gefragt, was die Henne kostet, und Zio Pepe hat ihm eine Summe genannt, die war doppelt so hoch wie die für den Papagei. Und der Amerikaner hat lange überlegt. Aber alle Umstehenden haben ihm gesagt, daß das eine einmalige Gelegenheit sei, denn solche Vögel gäbe es in Amerika wohl kaum. Und am Ende hat wirklich der Amerikaner die Henne als einen Zaubervogel um teures Geld gekauft. Er hat die Henne zu dem Papagei gesetzt, aber der Papagei hat die Henne nur mißtrauisch angeschaut. Da hat Zio Pepe gesagt: «Ihr müßt Geduld haben, denn die beiden müssen erst die Fremdsprache lernen.»
UNTERITALIEN
25 Die drei Zaubergaben
Es war einmal eine arme Frau, die hatte einen Sohn. Die Mutter wollte, daß aus ihrem Sohn etwas Ordentliches würde, und deshalb schickte sie ihn zu einem Mönch, damit er einen Geistlichen aus ihrem Sohn mache. Aber der Bursche wollte nichts lernen, und der Mönch verlor bald die Geduld mit ihm. Da rieten die Nachbarn der Mutter, sie sollte den Jungen doch in eine Schule zu Meister Refolo schicken, der den Ruf hatte, ein berühmter Lehrer zu sein. So schickte die Mutter ihn zu Meister Refolo. Aber auch der mochte sein Bestes tun, mit dem Burschen war nichts anzufangen, er hatte nur dumme Streiche im Kopf und ärgerte seinen Lehrer so lange, bis der ihn davonjagte. Als seine Mutter sah, daß mit dem Burschen nichts anzufangen war, gab sie ihm eine Ohrfeige und schrie: «Mach dich aus dem Staub, und komm mir nie mehr unter die Augen!» Da packte er sein Bündel und machte sich davon. Er ging und ging, und endlich kam er zu einem Garten, der hatte keine Mauer und keinen Zaun. Da der Bursche sehr hungrig war, bedachte er sich nicht lange, sondern er trat ein und begann einige Birnen zu essen. Und da sie ihm schmeckten, stieg er auf den Birnbaum, um sich richtig satt zu essen. Mittendrin hörte er eine Stimme: «Hm, hm, hier riecht es nach Menschenfleisch!» Und da sah er zu seinem Schrecken, daß unter dem Birnbaum der Menschenfresser Nanni stand, dem der Garten gehörte.
«Freilich bin ich von Fleisch und Blut», sagte der Junge, «aber ich bin nur ein armer Bursche, der von seiner eigenen Mutter davongejagt worden ist.» «Gut, so komm herunter und geh mit mir heim!» Der Junge tat, wie der Menschenfresser gesagt hatte, und begleitete ihn ins Haus. Dort sah ihn der Menschenfresser noch einmal an und sagte: «Bleib ruhig bei mir, hier wird dich niemand schlagen oder davonjagen!» Und so blieb der Bursche und begleitete jeden Tag Nanni und half ihm bei seiner Arbeit. Zwei Jahre lang führte er so ein gutes Leben, und Nanni ließ es an nichts fehlen. Eines Tages aber merkte Nanni, daß der Bursche ein trauriges Gesicht machte, und er fragte ihn: «Was ist denn mit dir los?» «Ach», sagte der Junge, «ich möchte meine Mutter gar zu gern wieder einmal sehen; seit zwei Jahren bin ich nun schon weg, und sie mag wer weiß wie viele Seufzer meinetwegen ausgestoßen haben.» Da sagte Nanni drauf: «Hast du wirklich Sehnsucht nach deiner Mutter? Dann will ich dich nicht mehr halten, sondern gehen lassen. Ich werde dir aber einen Esel schenken. Das ist aber kein gewöhnliches Tier, sondern wenn du zu ihm sagst: ‹Vorwärts, mein Eseltier, Scheiß goldnes Geld gleich hier!›, dann wird der Esel eine goldne Flut aus dem Hintern lassen. Aber paß gut auf, daß sie dir nicht schon unterwegs den Esel stehlen!» «Keine Angst! Ich will schon aufpassen.» Der Knabe nahm seinen Esel und machte sich auf den Heimweg. Nach einer halben Meile aber sagte er:
«Nun will ich doch einmal sehen, ob der Esel wirklich goldene Eier legt.» Er sah sich also um, ob niemand in der Nähe wäre, führte den Esel hinter ein Gebüsch und sagte: «Vorwärts, mein Eseltier, Scheiß goldnes Geld gleich hier!» Und tatsächlich – brrr –, der Esel hob seinen Schwanz, und die goldenen Münzen rollten nur so in der Gegend herum. Der Menschenfresser Nanni aber, der daheim auf seinen Turm gestiegen war und dem Jungen nachgeschaut hatte, sprach: «Natürlich! Er hat es gleich ausprobieren müssen!» Nachdem der Junge alle Münzen aufgeklaubt und in die Tasche gesteckt hatte, nahm er seinen Weg wieder auf. Er konnte aber an diesem Tage nicht mehr heimkommen, und so suchte er sich abends ein Wirtshaus, um dort zu übernachten. «He, Wirt», rief er, «gib mir gleich die beiden besten Zimmer, die du hast: eines für mich und eines für meinen Esel!» «Hat man so etwas schon gehört!» versetzte der Wirt. «Warum willst du denn den Esel in ein schönes Zimmer stellen, statt in den Stall?» «Weil mein Esel Gold scheißt.» «Ja, gibt es denn so was! Und wie macht er das?» «Es genügt, wenn man zu ihm sagt: ‹Vorwärts, mein Eseltier, Scheiß goldnes Geld gleich hier!› Dann läßt er die Münzen springen.» «Aber nein, mein Sohn», entgegnete der Wirt, «wir wollen ihn trotzdem nicht in ein Zimmer stellen, denn im Stall fühlt er sich viel wohler. Wir decken ihn auch mit einem Sack gut zu,
damit er sich nicht erkältet, wenn er schwitzt. Und hab nur keine Angst: ich paß schon auf, daß ihn keiner anrührt!» Der Junge ließ nun ein üppiges Mahl auftragen, da er sich mit dem vielen Geld in der Tasche wie ein Fürst fühlte. Und nachdem er gut gegessen und getrunken hatte, legte er sich zu Bett. Der Wirt aber holte, während der Junge schlief, einen anderen Esel, der dem Geldscheißer aufs Haar glich, und den stellte er in den Stall. Den Esel des Knaben aber versteckte er. Am nächsten Morgen stand der Junge auf und fragte den Wirt: «Habt Ihr mir auch nicht mit meinem Esel gesprochen?» «Ich?» sagte der Wirt. «Was sollte ich denn zu dem Vieh sagen?» «Nun; es ist schon gut!» Und damit nahm er den vertauschten Esel und machte sich wieder auf den Weg. Noch am gleichen Tag kam er daheim an. «Mach auf, Mama, dein Toni ist wieder da!» «Ach, mein Schatz, bist du endlich zurückgekommen! Ich dachte schon, daß du aus der Welt verschwunden wärest!» Und damit öffnete sie die Türe. «Mutter, wie geht’s?» fragte der Junge. «Nunja, wie es eben so geht. Ich habe mich abgeschunden und einen Berg Wäsche für zwei Pfennige gewaschen.» «Wirklich? Vom Waschen mußt du leben? Das hat jetzt ein Ende! Wegen anderer Leute schmutziger Dinge wirst du dir in Zukunft nicht mehr die Hände blutig reiben.» Und der Junge warf das Schaff mit der Wäsche zur Türe hinaus, daß die frisch gewaschenen Stücke in den Dreck fielen. «Aber Toni», schrie die Mutter, «was machst du da? Nun kann ich wieder von vorn anfangen.» «Nun heule nicht gleich, Mama», sagte der Junge, «ich habe genug, um dich reich zu machen!» Und damit zog er seinen
Esel ins Haus. Dann nahm er eine Decke vom Bett und sagte zum Esel: «Vorwärts, mein Eseltier, Scheiß goldnes Geld gleich hier!» Aber das Vieh machte keinerlei Anstalten, dem Befehl seines Herrn nachzukommen. Der Junge wartete ein Weilchen, dann schrie er von neuem: «Vorwärts, mein Eseltier, Scheiß goldnes Geld gleich hier!» Doch der Esel rührte sich nicht. Da nahm Toni einen Stock, und – bum-bum – versetzte er dem Grautier solche Hiebe, daß es vor Schreck und Schmerz alles von sich gab, was es im Leibe hatte. Kaum hatte jedoch die Mutter gesehen, daß der Esel ihre schöne Decke mit stinkendem Kot besudelte, als sie auch schon Toni den Stock entriß und ihm so viele Schläge versetzte, daß sie ihm schier die Knochen zerbrach. Da rannte der Junge so schnell er konnte davon, und sobald er außer Reichweite der Mutter war, kehrte er wieder auf den Weg zurück, der zum Menschenfresser Nanni führte. Als ihn Nanni kommen sah, sagte er: «Ah, du bist wieder da! Nun, so bleib bei mir! Ich hoffe, daß dir für einige Zeit die Lust vergangen ist, zu deiner Mutter zurückzukehren.» Zunächst hatte Toni wirklich keine große Sehnsucht nach daheim, denn die Prügelsuppe hatte ihm schlecht geschmeckt. Aber nach einigen Jahren bekam er doch wieder Heimweh, und eines Tages sagte er Nanni, er wolle wieder einmal nachsehen, wie es seiner Mutter ginge.
«Nun gut», sagte Nanni, «so zieh deines Weges. Hier hast du ein Tischtuch. Und paß auf, daß du nicht wieder Dummheiten damit machst. Wenn du daheim bist, dann mußt du sagen: ‹Tischtuch mein, Bring mir Essen fein!› Und so wirst du alles erhalten, was zu einem prächtigen Mahl gehört.» Der Junge bedankte sich und nahm Abschied von Nanni. Er war aber noch nicht weiter gekommen als das erste Mal, da plagte ihn die Neugierde, und er zog das Tischtuch heraus und breitete es auf den Boden und sagte: «Tischtuch mein, Bring mir Essen fein!» Und in der Tat! Auf einmal war das Tischtuch bedeckt mit den erlesensten Speisen: Makkaroni, Braten, Wurst, Obst und Wein. «Ah», sagte Toni, «diesmal wird meine Mutter keine Ursache haben, mich zu prügeln.» Er ließ es sich schmecken, und dann nahm er seine Wanderung wieder auf. Am Abend kam er zu dem Wirtshaus, wo er schon das erste Mal genächtigt hatte. «Toni, wie geht’s?» fragte ihn der Wirt. «Gut. Was gibt es zu essen?» «Rüben und Bohnen gibt’s, denn das ist eine Einkehr für Fuhrleute.» «Bah! Solch ein Saufraß ist nichts für mich! Jetzt werde ich dir einmal zeigen, was ein Herrenessen ist!» Und damit zog der Junge das Tischtuch aus der Tasche und sagte:
«Tischtuch mein, Bring mir Essen fein!» Und wiederum deckte sich das Tischtuch von Zauberhänden, und der Wirt sah so schmackhafte Gerichte dort stehen, daß ihm das Wasser im Munde zusammenlief. Als Toni genug gegessen hatte, sagte er: «Diesmal wird man mir meinen Schatz nicht stehlen wie das letzte Mal!» Und er steckte das Tischtuch in die Brusttasche. Da er aber viel gegessen und noch mehr getrunken hatte, schlief er bald so fest ein, daß ihn auch ein Kanonenschuß nicht geweckt hätte. Da schlich sich nun der Wirt heran, stahl ihm das Tischtuch aus der Tasche und steckte ihm dafür ein anderes, das genauso aussah, ein. Am nächsten Morgen machte sich Toni zeitig auf den Weg, denn er konnte es schon kaum mehr erwarten, bei seiner Mutter zu sein. So kam er ans Haus und klopfte: «Hallo, wer ist da?» fragte die Mutter. «Ich bin es, Toni.» «Verfluchter Tropf! Schau, daß du weiterkommst!» «Aber Mama, mach mir doch auf! Diesmal werde ich dir genug zu essen verschaffen für den Rest des Lebens!» Da stieg die Mutter hinunter und öffnete. Toni trat ein und fragte: «Mama, was gibt es heute abend zum Nachtmahl?» «Was wird es schon geben! Etwas Gemüse, das ich aus einem Garten gestohlen habe.» Als der Junge die Schüssel mit dem Gemüse erblickte, warf er alles zum Fenster hinaus. «O du Bestie! Willst du mich schon wieder hungern lassen?! Und dabei habe ich Blut geschwitzt, als ich das Zeug heimlich aus dem Garten entwendet habe! O du Scheusal!»
«Sei nur ruhig, Mama, ich werde dir ein besseres Mahl verschaffen.» Und damit zog er das Tischtuch aus der Brusttasche und sagte: «Tischtuch mein, Bring mir Essen fein!» Aber sooft er auch seinen Spruch wiederholte, es geschah nichts, und das Tischtuch blieb leer. Da langte sich die Mutter einen Stock und schlug so auf ihn ein, daß ein Ochse hätte tot umfallen mögen. Toni aber lief aus dem Hause und hinkte zum Menschenfresser Nanni zurück. Als Nanni ihn kommen sah, sprach er: «Wie schaust du denn aus? Habe ich dich nicht gewarnt? Und du hast wieder die gleiche Dummheit begangen! Nun bist du wohl von deiner Sehnsucht nach deiner Mutter geheilt!» In der Tat verging einige Zeit, in der Toni nicht an seine Mutter denken konnte, ohne sich den Rücken zu reiben. Aber nach einigen Jahren fing er doch wieder an, Heimweh zu spüren. Und schließlich gestand er Nanni, er möchte doch noch einmal heimgehen, um zu sehen, wie es seiner Mutter ginge. Da sagte Nanni: «Gut, mein Sohn. Das ist aber das letzte Mal! Ich gebe dir hier einen Prügel, und wenn du bei deiner Mutter bist, dann sage: ‹Stock, gib mir!› Und ihr werdet zufrieden sein.» Toni bedankte sich und machte sich wieder auf den Weg. Er kam aber auch dieses Mal nicht weiter als früher, sondern wurde von Neugierde geplagt, machte halt und sagte: «Stock gib mir!» Da begann der Prügel, ihn tüchtig durchzuwalken. Und Nanni, der wieder auf den Turm gestiegen war und dem Schauspiel von fern zusah, rief: «Diesmal bist du gleich hereingefallen!» Und er bog sich vor Lachen. Der Junge indessen hüpfte herum und schrie:
«Stock, sei ruhig, Stock, sei ruhig!» Aber Nanni auf dem Turm schrie noch lauter: «Gib ihm! Gib ihm!» Und erst, als der arme Junge sich kaum mehr auf den Füßen halten konnte, schrie Nanni: «Stock, steh still!» Und der Stock hörte auf zu prügeln. Toni kam diesmal mit sehr schlechter Laune beim Wirtshaus an. «Was gibt es Neues, Toni?» fragte ihn der Wirt. «Warum machst du ein so finsteres Gesicht?» «Nichts! Ich bin müde und will gleich ins Bett gehen. Hier: hebt mir diesen Prügel auf, aber hütet Euch zu sagen: ‹Stock, gib mir!›» Der Wirt führte Toni in die Kammer, und als es dunkel geworden war, nahm er den Prügel, um ihn auszuprobieren, und sagte: «Stock, gib mir!» Da begann denn der Knüppel sogleich auf den Wirt einzuschlagen, daß ihm Hören und Sehen verging. Und er verprügelte nicht nur den Wirt, sondern auch dessen ganze Familie, die herbeigeeilt war, um den Zauber des Stockes zu sehen. «Hilfe, ihr Christenmenschen! Man bringt uns um!» So schrien sie, so daß Toni erwachte und eilig herzulief. «Gebt mir den Esel und das Tischtuch heraus!» Da blieb nun dem Wirt nichts anderes übrig, wenn er noch länger am Leben bleiben wollte. Und so gab er dem Jungen den richtigen Esel und das richtige Tischtuch. Nachdem Toni ausprobiert hatte, ob es auch sein Esel und sein Tischtuch sei, machte er sich auf den Heimweg. So kam er diesmal mit dem Esel, dem Tischtuch und dem Prügel zu Hause an. Er klopfte, und die Mutter öffnete oben das Fenster, um zu sehen, wer unten wäre. Als sie aber Toni mit einem Esel erkannte, schrie sie: «Räuber! Gauner! Scher dich hinweg! Oder ich zieh dir die Haut ab!»
Da sagte Toni zum Prügel: «Stock, gib ihr zwei, aber nicht zu fest!» Da flog der Prügel durchs Fenster, und – bum-bum – versetzte er ihr zwei ordentliche Hiebe! «O du Verbrecher! Du Lump! Schlägst deine eigene Mutter!» «Mach mir auf, wenn du nicht eine weitere Abreibung willst!» sagte Toni. Da stieg die Mutter von Toni hinunter und schloß die Türe auf. Als sie jedoch sah, daß er den Esel mit ins Haus nehmen wollte, keifte sie: «Nein, den Esel nicht! Der kommt mir nicht herein! Oder glaubst du, ich lasse mir wieder das ganze Haus verdrecken wie damals?» «Na schön!» sagte Toni. «Stock, gib ihr noch zwei!» Und der Prügel versetzte ihr zwei weitere Schläge, so daß die Mutter sich sofort aufs Bitten verlegte. Da zog Toni die Decke vom Bett und legte sie dem Esel unter. «Vorwärts, mein Eseltier, Scheiß goldnes Geld gleich hier!» Und der Esel ließ einen Strom goldener Münzen fahren, daß die Mutter nur so staunte. Noch hatte sie die Münzen nicht alle aufgesammelt, da breitete Toni das Tischtuch auf und sagte: «Tischtuch mein, Bring mir Essen fein!» Und mit einem Augenblick stand das prächtigste Mahl da. Da setzten sie sich denn an die Tafel: «Sie aßen und tranken und blieben zufrieden, Wir aber sind trocken und durstig geblieben.»
26 Die Frau unter den Sirenen
Es war einmal eine schöne, junge Frau, die hatte einen Seemann zum Mann. Dieser Seemann mußte oft aufs Meer und blieb dann jahrelang aus. Während er nun auch wieder einmal auf einer großen Fahrt war, kam der König jenes Landes an seinem Hause vorbei und sah die hübsche, junge Frau. Er verliebte sich in sie, und er setzte ihr so lange zu, bis sie mit ihm auf das Schloß des Königs zog. Als aber der Seemann nach Hause kam, fand er sein Heim leer und verlassen, und von seiner Frau fehlte jede Spur. Es verging eine geraume Zeit, und jener König wurde eines Tages der jungen Schiffersfrau überdrüssig und jagte sie davon. Und die Arme wußte nicht, was sie tun sollte. Von Reue über ihre Tat geplagt, kehrte sie nach Hause zurück und warf sich vor ihrem Gatten auf die Knie nieder, um ihn um Verzeihung zu bitten. Der Seemann aber, so sehr er seine Frau einmal geliebt hatte, war zu sehr erzürnt und ergrimmt, als daß er ihren Verrat hätte vergessen und verzeihen können. Er kehrte ihr den Rücken zu und sagte: «Ich kann dir nicht verzeihen und werde dir niemals vergeben; du wirst die Strafe erhalten, die du verdienst. Bereite dich darauf vor zu sterben!» Die Frau raufte sich die Haare, sie bat ihn, sie flehte ihn an, aber er ließ sich nicht erweichen. Er richtete sein Schiff, warf seine Frau über die Schulter, als wäre sie ein Sack, lichtete die Anker und segelte ab. Als er auf hoher See war, sagte er:
«Jetzt ist deine Stunde gekommen!» Und damit stieß er sie vom Boot hinab in die Wellen. Dann sprach er bei sich: «Nun bin ich gerächt», und segelte in seinen Hafen zurück. Die Frau aber sank langsam immer tiefer ins Meer, und da, wo sie in die Tiefe glitt, war der Platz, wo die Sirenen sich zu treffen pflegten. Kaum hatten die Sirenen die schöne, junge Frau gesehen, da riefen sie: «Seht da! Was für eine hübsche, junge Frau! Eine so schöne Frau soll sterben und von den Fischen gefressen werden! Nein! Wir wollen sie retten und sie mit uns führen!» Und damit nahmen sie die junge Frau bei der Hand und führten sie in ihren Palast, der am Grunde des Meeres lag. Dort war alles hell und erleuchtet, und die Sirenen geleiteten die Frau in einen Saal, und eine Frau kämmte ihr die schwarzen Haare, eine andere besprengte ihr Arme und Brust mit wohlriechenden Essenzen, eine dritte hängte ihr eine Kette aus Korallen um den Hals, und weder eine andere steckte ihr Ringe mit Smaragden an die Finger. Die junge Frau wußte kaum, wie ihr geschah, sondern sah sich um, als ob sie träumte. «Schiuma, komm mit uns, Schiuma!» riefen die Sirenen. Da verstand die junge Frau, daß dies der Name war, den ihr die Sirenen geben wollten. Sie begleitete sie in einen anderen Saal des Palastes, wo alles voll von jungen Männern und Frauen war, die miteinander tanzten. Auch Schiuma mußte sich in diesen Reigen mischen. Aber in all dem festlichen Trubel und in aller Freude dachte die junge Frau traurig an ihren Gatten, und so konnte sie nicht lachen wie die anderen. «Schiuma, was ist mit dir los? Bist du nicht glücklich?» fragten sie die anderen Sirenen. «Warum hast du so ein trauriges Gesicht? Warum verharrst du immer in Schweigen?» «Ach nichts, ich habe nichts», sagte die junge Frau, aber es gelang ihr nicht, zu lächeln.
«Komm mit uns, wir wollen dich singen lehren!» sagten die Sirenen, und sie brachten ihr einige von ihren Liedern bei, mit denen sie die Seeleute so betörten, daß sie sich in die Fluten stürzten. So wurde auch Schiuma in den Chor der Sirenen aufgenommen, der in den Vollmondnächten auftauchte, um zu singen und seine Schlingen nach den Seeleuten auszuwerfen. Eines Nachts sahen die Sirenen ein großes Schiff kommen, das mit ausgebreiteten Segeln dahinfuhr. «Komm mit uns, Schiuma», sagten die Sirenen, «komm mit uns, denn wir wollen singen!» Und sie tauchten auf und sangen folgendes Lied: «Und das ist unser Lied beim Mond, dem hellen, Und das ist unser Lied beim vollen Mond: O Seemann, stürze kühn dich in die Wellen, Willst sehen du, wo die Sirene wohnt!» Da stürzte sich vom Schiff ein Mann kopfüber in die Fluten, verzaubert von der Musik der Sirenen. Schiuma aber hatte ihn im Schein des Mondes erkannt: es war ihr Gatte! «Den werden wir in eine Koralle verwandeln!» sagte eine Sirene. «Nein, in weißen Kristall!» sagte eine andere. «Nein, wir werden aus ihm eine Muschel machen!» wieder eine andere. «Halt! Wartet! Ich bitte euch!» rief Schiuma. «Tötet ihn nicht! Verzaubert ihn nicht!» «Aber warum nimmst du dir sein Schicksal so zu Herzen?» fragten die Sirenen. «Ach, ich weiß nicht. Ich möchte auch einmal ausprobieren, ob ich zaubern kann, auf meine Weise. Ich bitte euch, überlaßt ihn mir wenigstens für einen Tag! Dann…» Die Sirenen, die Schiuma immer nur traurig gesehen hatten, konnten ihr die Bitte nicht abschlagen, und so sagten sie:
«Gut, so nimm du ihn mit und mach, was du willst!» Es war aber schon Morgendämmerung, und die Sirenen legten sich zur Ruhe. Da nahm Schiuma ihren Mann mit hinunter in den Palast der Sirenen auf dem Grunde des Meeres und schloß ihn in einem Zimmer ein. Als die Sirenen schliefen, näherte sie sich dem Raum, wo sie ihren Gatten eingesperrt hatte, und sang: «Und das ist der Gesang beim Mond, dem hellen, Ich kannte dich im Leben und war undankbar, Jetzt muß mich, die Sirene, Reue quälen; Doch rett ich dich auf eigene Gefahr.» Da hob der Seemann den Kopf, und er verstand, daß jene, die da sang, nur seine einstige Frau sein konnte. Er begann etwas Hoffnung zu schöpfen, und er fühlte, daß er ihr im Grunde seines Herzens schon vergeben hatte und daß es falsch gewesen war, der Reuigen nicht zu verzeihen. Die Sirenen aber schliefen am Tage, und am Abend erhoben sie sich, um ihre Netze nach den Schiffen auszuwerfen. Schiuma wartete, bis es dunkel geworden war. Dann öffnete sie das Zimmer, wo ihr Mann eingesperrt war, fand ihn und sagte: «Still! Die Sirenen sind fortgeschwommen, aber sie sind noch nicht weit und könnten dich hören. Setze dich auf meinen Rücken und halte dich fest! Ich werde dich hinauftragen.» Und so schwamm sie mit ihrem Gatten zur Oberfläche des Meeres. Sie schwamm Stunde um Stunde, endlich sah sie ein großes Schiff kommen. «Schrei um Hilfe!» befahl sie ihrem Gatten. Und er rief: «Zu Hilfe! Zu Hilfe!» Da setzten die Seeleute ein kleines Boot aus und holten den Schiffbrüchigen an Bord. Kaum war er oben, da stammelte er:
«Die Sirene, die Sirene… Die Sirene, meine Frau…» «Er ist verrückt geworden», sagten die Seeleute. Und zu ihm selbst sprachen sie: «Beruhige dich nur! Du bist gerettet! Hier gibt es weit und breit keine Sirene!» So kehrte der Seemann in seinen Hafen zurück, aber er konnte keine Ruhe finden und mußte immer an seine junge Frau denken. Und er war ganz unglücklich, wenn er daran dachte, daß seine junge Frau bei den Sirenen war, und er sprach für sich: «Ich habe sie zurückgestoßen, als sie mich um Verzeihung gebeten hat, und sie hat mir das Leben gerettet.» Und er beschloß, so lange durch die Welt zu segeln, bis er sie wiedergefunden hätte. In diesen Gedanken ging er so dahin und kam in einen Wald, und endlich schritt er an einem Nußbaum vorbei, von dem man sagt, daß sich dort die Feen treffen. Und da saß auf einem Ast eine Fee und sprach ihn an: «Schöner Jüngling, warum bist du so traurig?» Da hob er seinen Kopf, erblickte sie und entgegnete: «Ich bin traurig, weil meine Frau zu einer Sirene geworden ist und weil ich nicht weiß, wie ich sie wiedererlangen soll.» «Du scheinst mir ein guter Kerl zu sein», sprach die Fee, «und ich will dir gern helfen, deine Frau wiederzugewinnen. Aber ich muß eine bestimmte Bedingung stellen. Bist du dazu bereit?» «Ich tue alles, was Ihr mir sagt.» «Paß auf! Es gibt eine gewisse Blume, die wächst nur im Palast der Sirenen, und sie heißt ‹die Schönste›. Du mußt sehen, in den Besitz dieser Blume zu gelangen, und mußt sie mir nachts unter diesen Nußbaum legen. Dann wirst du deine Frau wieder zurückerhalten.» «Aber wie soll ich es machen, eine Blume vom Grunde des Meeres zu bekommen?»
«Das ist deine Sache», sagte die Fee, «wenn du deine Frau wiederhaben willst, wirst du schon die Wege finden.» «Ich werde es versuchen!» versprach der Seemann. Er kehrte auf sein Schiff zurück und lichtete die Segel. Als er auf hoher See war, begann er den Namen seiner Frau zu rufen. Nach einiger Zeit hörte er etwas plätschern, und da sah er, daß sie im Kielwasser seines Schiffes schwamm. «Meine Gattin», sagte er, «ich möchte dich retten; aber um dich zu retten, muß ich eine Blume haben, die im Palast der Sirenen auf dem Grunde des Meeres wächst und die ‹die Schönste› heißt.» – «Das ist unmöglich, denn das ist eine Blume, die die Sirenen den Feen geraubt haben, und an dem Tage, an dem die Feen diese Blume wiedergewinnen würden, müßten die Sirenen sterben. Da auch ich eine Sirene bin, müßte also auch ich sterben.» «Du würdest nicht sterben», sagte der Seemann, «weil die Fee mir versprochen hat, dich zu retten.» «Gut, ich will es bedenken», antwortete die Sirene, «komme morgen wieder hierher, dann werde ich dir Bescheid geben.» Am nächsten Tag kehrte der Seemann zur gleichen Stunde an den Ort zurück, wo er seine Frau getroffen hatte. «Was nun?» fragte er sie. «Um dir die Blume, welche ‹die Schönste› heißt, bringen zu können, mußt du alles verkaufen, was du besitzt. Und mit dem Erwerb aus dem Verkauf mußt du die schönsten Edelsteine kaufen, die du auftreiben kannst. Die Edelsteine aber mußt du rings um das Schiff hängen. Da die Sirenen sehr begierig nach Schmuck sind, werden sie dann alle kommen, um die Edelsteine anzustaunen, und so werden sie sich aus dem Palast entfernen, so daß ich dir die Blume bringen kann.» «Gut, ich werde es so machen, wie du mir rätst», entgegnete der Seemann. Dann kehrte er in seinen Hafen zurück, verkaufte all sein Hab und Gut und erwarb die schönsten und
leuchtendsten Edelsteine, die er im ganzen Lande auftreiben konnte. Mit den Ketten und Schnüren aus diesen Juwelen schmückte er sein Schiff. Dann stach er wieder in See. Als er auf das Meer gekommen war, begannen alle Edelsteine im Lichte der Sonne zu glänzen und zu gleißen. Dieser Schein lockte die Sirenen an und weckte ihre Habgier. Sie umschwammen das Schiff und begannen zu singen: «Und das ist der Gesang der leuchtenden Sonne, Dein Schiff erstrahlt in farbenprächtigem Scheine. O Seemann, was gäbe es noch größere Wonne, Wenn du uns schenktest deine Ketten, Ringe, Steine!» Aber der Seemann hörte nicht auf ihre Bitten, sondern er fuhr langsam fort, und die Sirenen folgten ihm, und so entfernten sie sich immer mehr von ihrem Palast. Auf einmal hörte man ein dumpfes Donnergrollen vom Grunde des Meeres, und die Wasser hoben sich zu einer nie gesehenen Woge, und alle Sirenen versanken tot in der Tiefe. Aus der Woge aber erhob sich ein gewaltiger Adler, und auf diesem Adler ritt jene Fee, die der Seemann auf dem Nußbaum gesehen hatte. Und hinter der Fee saß die junge Frau, die mit davonflog. Und als der Seemann zu Hause ankam, da war seine Frau schon dort und erwartete ihn. Und sie lebten nun glücklich und zufrieden beisammen.
27 Vom Riesen, der ein Auge auf der Stirne hatte
Es war einmal eine arme alte Frau, der war der Mann gestorben. Sie hatte zwei Söhne, von denen war der eine recht von Herzen gut, der andere aber war bös. Während der eine immer auszog, um das Kleinvieh des Dorfes zu hüten und so seiner Mutter half, das tägliche Brot zu verdienen, war der andere zu keiner Arbeit zu bewegen, sondern er lag faul zu Hause. Eines Tages trieb der Jüngere wie gewöhnlich die Schafe und Geißen auf die Weide, aber als er am Abend heimkehren wollte, fehlte ihm ein Schaf. Da ließ er den Hund bei seiner Herde und machte sich auf den Weg, um das fehlende Schaf zu suchen. Er ging und ging und kam in ein anderes Tal, in dem er noch nie gewesen war. Da hörte er mit einemmal eine Stimme, die weinte und um Hilfe rief. Der Junge ging dem Geräusch nach und gelangte an einen Felsspalt, der mit einem großen Stein verschlossen war. «Hilf mir hier heraus», erklang eine Stimme, «dann will ich dich auch reich belohnen.» Der Junge mühte sich lange vergeblich. Endlich konnte er den Block, der die Höhle versperrte, ein wenig bewegen, und es kam ein kleiner Zwerg herausgeschlüpft. Der Zwerg aber sagte: «Du hast mir das Leben gerettet, denn ein gräßlicher Einauge hat mich hier eingesperrt, und er würde mich aufgefressen haben, wenn du nicht gekommen wärst. Nimm zur Belohnung
diesen Beutel; wenn du ihn unter dein Kopfkissen legst, dann wirst du jeden Morgen ein Geldstück darin finden.» Dann half er dem Jungen noch, das entlaufene Schaf zu suchen, das gar nicht weit weg war, bedankte sich noch einmal und verschwand in der Dunkelheit. Der Junge aber ging heim – geh auch du mit –, und er lief und lief, weil es schon so spät geworden war. Seine Mutter aber ängstigte sich schon sehr, und nur sein großer Bruder war sehr zufrieden und dachte bei sich: ‹Hoffentlich hat er sich den Hals gebrochen!› Endlich kam der Junge heim und erzählte, was ihm alles zugestoßen war. Er zeigte auch seiner Mutter den Beutel, den ihm der Zwerg gegeben hatte, und sprach: «Jetzt hat alle Not ein Ende, und du brauchst nicht mehr wegzugehen, um Wäsche zu waschen, denn wir können leicht von dem leben, was wir dem Beutel entnehmen.» Richtig lag am nächsten Morgen eine Münze in dem Beutel, und die Mutter war sehr zufrieden. Dagegen platzte der Ältere schier vor Neid und Eifersucht. «Wer weiß, was du uns für eine Lügengeschichte aufgetischt hast», sagte er, «und wem du den Beutel gestohlen hast.» «Wenn du mir nicht glaubst», entgegnete der Jüngere, «dann komm mit mir, und ich will dir zeigen, wo sich alles zugetragen hat.» «Ja, aber wenn du mir nicht den Zwerg zeigen kannst, dann soll der Beutel mir gehören! Und wenn es wirklich deinen Zwerg gibt, so muß er auch mir einen Beutel schenken!» Dem Jüngeren war nicht recht wohl bei der Sache, denn er dachte an den schrecklichen Einäugigen, von dem der Zwerg erzählt hatte. Aber es blieb ihm nichts anderes übrig, denn sein Bruder ließ ihm keine Ruhe und drohte, ihm den Beutel abzunehmen und damit in die Stadt zu wandern. So machten sich schließlich beide auf den Weg, stiegen über das Gebirge und wanderten in das fremde Tal. Es war fast
Abend geworden, bis sie die Höhle fanden, aus der der Jüngere den Zwerg befreit hatte. Sie schlüpften durch den schmalen Spalt in die Höhle hinein, die sich sehr ausweitete. «Komm, laß uns wieder gehen», sagte der Jüngere, «du hast nun gesehen, daß es diese Höhle wirklich gibt.» «Du bist ein Hasenfuß», entgegnete der Ältere, «nun wollen wir warten, um zu sehen, ob der Zwerg oder dein Einäugiger kommt. Dann werde ich sie schon zwingen, mich auch zu beschenken.» Indessen war es Abend geworden, und der Riese mit einem Auge auf der Stirne kam mit seiner Herde heim. Er war überrascht, in seiner Höhle Licht zu finden, denn der ältere der Brüder hatte eine Fackel angezündet. «Was ist das», sagte der Riese, «einer ist mir entschlüpft und zwei kommen gelaufen!» Damit trieb er seine Herde von Ziegen und Schafen in die Höhle und verschloß sie mit dem Felsklotz. Als der Ältere sah, daß der Riese zornig und ein Menschenfresser war, trat er vor und sagte: «Dieser, mein schlechter Bruder, hat neulich den Zwerg befreit, den du eingesperrt hast. Ich habe dir nun meinen Bruder gebracht, damit du ihn bestrafen und auffressen kannst, denn er hat nichts anderes verdient.» «Brav», antwortete der Einäugige, indem er den Älteren grimmig mit seinem einen Auge auf der Stirne betrachtete, «aber dich will ich zuerst fressen, denn du bist viel fetter als dein Bruder, den ich erst mästen muß.» Und er ergriff den Älteren und schlug ihm den Kopf ab. Dann machte er ein Feuer, steckte den Körper des Toten auf einen Spieß und briet ihn über den Flammen. Dann fraß er den grauslichen Braten, und nach dem Mahle streckte er sich neben dem Feuer nieder und schlief bald ein. Der Jüngere, der so getan hatte, als schliefe auch er, wartete, bis der Riese sich nicht mehr rührte. Dann versuchte er zu entfliehen, aber soviel er sich auch
abmühte, es gelang ihm nicht, den Felsbrocken auch nur eine Handbreit zu bewegen. Wäre jemand außen gewesen, der hätte helfen können, aber von innen konnte nur der Riese den Eingang freimachen. Ganz verzweifelt wollte der Junge schon mit seinem Leben abschließen, da sah er den Bratspieß im Schein des Feuers blinken. Vorsichtig nahm er ihn an sich, legte ihn mit der Spitze in die Glut, fachte das Feuer stärker an, und als der Spieß rot zu glühen begann, nahm er ihn aus dem Feuer und stieß ihn – zisch – dem Riesen in sein einziges Auge auf der Stirne. Der Riese sprang heulend auf und griff nach seinem schmerzenden Auge. Den Augenblick benutzte der Knabe und mischte sich mitten unter die Herde, die ihn bereitwillig unter sich aufnahm, da er den Geruch der Schafe und Ziegen an sich trug. Als der Riese den Knaben nicht ertasten konnte, kroch er zum Eingang und rief: «Du entkommst mir nicht! Oh, hätte ich doch zuerst dich gefressen statt deinen Bruder, denn du bist ein Schlimmer! Besser ein schlechter Braten als ein Augenausstecher! Aber warte nur, morgen hole ich meine Brüder und Schwestern, dann werden wir dich zerreißen!» Als es Morgen wurde, wollte der Riese erst seine Herde austreiben und dann seine Verwandten herbeirufen. Aber in der Zwischenzeit hatte der Junge ein Schaf geschlachtet und abgeweidet. Als nun der Riese den Eingang öffnete und Stück um Stück die Herde aus der Höhle hinausging, hing der Junge sich das Schaffell über und kroch auf allen vieren zum Ausgang. Der Riese betastete den Rücken und sagte: «Ah, ein Schaf.» Und er ließ den Jungen hindurch. Kaum aber war der Junge draußen, da warf er seinen Schafpelz ab und rief:
«Einauge, du bist dumm, Bist dumm wie ein Schaf! Sperrst eine Tierleiche ein, Läßt mich heraus brav!» Da brüllte der Riese auf, daß die Berge vom Donner seiner Stimme widerhallten, der Junge aber nahm seine Beine in die Hand und lief und lief, bis er glücklich bei seiner Mutter angekommen war. Und von dort an lebte er glücklich und zufrieden von den Münzen, welche der Beutel des Zwerges spendete. «Und sie aßen viel und schenkten sich ein, Mir aber gaben sie Wasser statt Wein.»
28 Das Märchen von den Katzen
Es war einmal ein Mädchen, dem war die Mutter gestorben, und da hatte der Vater wieder eine Frau genommen. Aber einige Jahre darauf war auch der Vater gestorben, und so lebte das Mädchen allein bei seiner Stiefmutter und einer Stiefschwester. Die Stiefmutter aber war sehr böse zu ihr, und sie erhielt mehr Schläge als Essen und mehr böse Worte als gute. Während ihre Stiefschwester faul herumlag, mußte die Arme alle Arbeit allein machen. Eines Tages schickte sie ihre Stiefmutter fort, sie solle Zichorie holen. Das Mädchen ging und ging, aber es fand nirgends Zichorie. Dagegen sah sie auf dem Felde einen großen Kopf Blumenkohl stehen. Da dachte sie: ‹Wenn ich schon keine Zichorie gefunden habe, dann will ich doch wenigstens diesen Blumenkohl mit nach Hause nehmen!› Der Blumenkohl war aber ungewöhnlich groß. Das Mädchen zog und zog, und als sie ihn endlich entwurzelte, da sah sie, daß darunter ein tiefer Schacht war. Es gab auch ein Leiterchen dort, und das Mädchen stieg hinunter, um zu sehen, was da wäre. Als sie unten angekommen war, sah sie ein Haus, was war voll von Katzen. Alle arbeiteten fleißig: es war ein Kätzchen, das wusch die Wäsche, ein anderes Kätzchen holte Wasser an einem Ziehbrunnen, ein Kätzchen kochte das Essen, wieder ein anderes Kätzchen spülte das Geschirr, und schließlich war noch ein Kätzchen da, das buk Brot. Das Mädchen ließ sich von einem Kätzchen einen Besen geben und kehrte das Haus aus. Dann nahm es einem anderen Kätzchen einen Teil der
schmutzigen Wäsche ab und wusch sie, bis sie schön sauber war. Dann half sie einem andern Kätzchen beim Wasserholen, und schließlich schob sie das Brot in den Backofen. Indessen war es Mittag geworden, und da kam auf einmal eine große Katze, das war die Mutter von all den Kätzchen, und sie läutete mit einem Glöckchen, bim-bam, und sang dazu: «Wer fleißig war, Der komme zum Mahl; Wer nichts getan hat, Schau her doch einmal!» Da kamen die Kätzchen alle angelaufen und sagten: «Mama, wir haben alle fleißig gearbeitet, aber dieses Mädchen hat noch viel mehr geschafft als wir.» «Brav», sagte die Katze zum Mädchen, «nun komm auch mit uns zum Essen!» Sie gingen nun ins Haus und setzten sich zu Tisch. Die Katzenmutter setzte sich inmitten der Kätzchen und teilte das Essen aus. Dem Mädchen gab sie Fleisch, Makkaroni und ein gebratenes Hühnchen, ihren Kindern aber gab sie nur Bohnen. Aber das Mädchen hatte Mitleid mit den kleinen Kätzchen, die nur Bohnen essen sollten, und sie gab ihnen von allem ab, was sie von der großen Katze erhalten hatte: Fleisch, Makkaroni und gebratenes Hühnchen. Als sie von der Tafel aufstanden, trug das Mädchen flink das Geschirr in die Küche, spülte es ab und machte dann das Zimmer sauber. Dann ging sie zur Katzenmutter und sprach: «Liebe Frau Katze, ich muß jetzt gehen, sonst sorgt sich meine Stiefmutter.» «Warte noch ein Weilchen», sagte die Katze, «denn ich möchte dir noch etwas mitgeben.» Und sie führte das Mädchen in eine Kleiderkammer, die war zur einen Hälfte voll feiner
Wäsche, seidener Kleider, zierlicher Schühlein, die andere Hälfte war voll Wäsche aus grobem Linnen, Hauskleider, derber Schuhe und wollener Halstücher. «Nun wähle dir aus, was du willst!» sagte die Katze. Das arme Mädchen, das barfuß war, wollte nur ein Paar grobe Holzpantoffeln erbitten, aber die Katze sagte: «Nein, das gibt es nicht! Du bist brav und gut zu meinen Kätzchen gewesen, und du hast so fleißig gearbeitet. Ich will dir ein schönes Geschenk machen!» Und sie wählte für das Mädchen ein schönes seidenes Kleid, seidene Strümpfe, ein feingewirktes Halstuch, ein Paar hübsche Schuhe aus Atlas aus und half dem Mädchen, die schönen Sachen anzuziehen. Das Mädchen war so überwältigt von den schönen Dingen, daß sie keine Worte fand, um sich zu bedanken. Die Katze aber sagte: «Wenn du jetzt hinaufsteigst, dann findest du in der Mauer gewisse Löcher; stecke dort deine Finger hinein, und dann hebe deinen Kopf in die Höhe!» Damit umarmte sie das Mädchen, das nun auf der Leiter nach oben stieg. Kurz vor dem Ausstieg aus dem Schacht sah sie die Löcher, steckte ihre Finger hinein, und als sie die wieder herauszog, hatte sie an allen Fingern Ringe, goldene Ringe mit kostbaren Edelsteinen geschmückt, ein Ring schöner als der andere. Das Mädchen hob den Kopf, da fiel ihr ein Stern auf die Stirne. So kehrte sie festlich geschmückt wie eine reiche Braut nach Hause zurück. Als ihre Stiefmutter sie so sah, brachte sie vor Staunen kaum den Mund zu. «Wie bist du zu diesen prächtigen Dingen gekommen?» fragte sie wütend die Stieftochter. «Wo hast du das alles gestohlen?» «Ach, Stiefmutter», versetzte drauf das Mädchen, «ich habe ein Haus mit lauter Kätzchen gefunden. Ich habe ihnen bei der Arbeit geholfen, und da hat man mir diese Geschenke gemacht.» Und sie erzählte ihr Wort für Wort, wie es ihr
ergangen war. Am nächsten Morgen konnte die Stiefmutter die Stunde vor Ungeduld nicht erwarten, da sie ihre eigene Tochter zu den Katzen fortschicken konnte. Endlich graute der Tag, und die Alte sprach zu ihrer Tochter: «Auf, meine Tochter, mach dich auf den Weg und geh zu dem Katzengesindel, so wirst auch du so schönen Schmuck haben wie deine Stiefschwester.» «Ich will nicht», sagte diese, «ich mag jetzt nicht fortgehen, denn ich habe noch nicht ausgeschlafen, und draußen ist es noch so kalt.» Aber die Mutter, die auf die Juwelen begierig war, versetzte ihr einige Schläge und trieb sie aus dem Hause. Jene ging schlecht gelaunt auf das Feld, fand auch richtig den großen Blumenkohl, zog ihn schimpfend heraus und stieg die Leiter hinunter. Unten erblickte sie die Katzen, die fröhlich ihre Arbeit taten. Aber sie machte keinerlei Anstalten, ihnen zu helfen. Im Gegenteil: die erste riß sie am Schwanz, die zweite kniff sie ins Ohr, die dritte zupfte sie am Schnurrbart, einer, die nähte, zog sie den Faden aus der Nadel, derjenigen, die das Wasser aus dem Ziehbrunnen gezogen hatte, verschüttete sie das Wasser. Kurz und gut: sie tat nichts anderes als die armen Kätzchen plagen und in ihrer Arbeit stören. Und so trieb sie es den ganzen Vormittag. Die armen Kätzchen miauten vor Schmerz und Schreck, aber das rührte das Mädchen nicht im mindesten. Endlich war es Mittag geworden und es kam die Katzenmutter mit der Glocke, bim-bam, und sang: «Wer fleißig war, Der komme zum Mahl; Wer nichts getan hat, Schau her doch einmal!»
Da kamen die Kätzchen angelaufen und sagten: «Mama, wir hätten ja gern gearbeitet, aber da ist jenes Mädchen gekommen, hat uns an den Schwänzen gezogen und alles mögliche getan, um uns bei der Arbeit zu stören. So haben wir nichts zustande gebracht.» «Nun gut», sagte die Katzenmutter, «gehen wir zu Tisch!» Und sie gingen in das Haus hinein und setzten sich an die Tafel. Dem Mädchen gab die Katze einen Gerstenbrei, den Kätzchen jedoch Fleisch und Nudeln. Aber dem Mädchen schmeckte der Gerstenbrei nicht, und da nahm es den Kätzchen das Fleisch weg. Als sie mit dem Essen fertig waren, kümmerte sich das Mädchen gar nicht weiter um das Geschirr, sondern sagte zu der Katzenmutter: «Was ist? Gib mir auch solche Kleider, wie du sie meiner Stiefschwester geschenkt hast!» Da ließ die Katze sie in die Kleiderkammer eintreten und fragte: «Was willst du?» Da antwortete das Mädchen: «Ich möchte das schönste Kleid, das kostbarste Tuch und die Schuhe mit den höchsten Absätzen!» «Nun, dann zieh dich aus, und ich werde dich bekleiden!» sagte die Katze. Und sie zog ihr einen alten Rock an, der vor Dreck starrte, ein schmutziges und zerrissenes Halstuch und klobige Stallpantoffeln. Dann sprach sie zu dem Mädchen: «Jetzt geh, und bevor du aus dem Schacht steigst, vergiß nicht, deine Finger in die Löcher zu stecken und deinen Kopf zu heben!» Aber das hätte sie gar nicht zu sagen brauchen, denn das Mädchen gierte schon nach den goldenen Ringen mit den kostbaren Edelsteinen. Ohne ein Wort des Abschieds stieg das Mädchen die Leiter hinauf und steckte seine Finger in die Löcher, doch als sie ihre Hände zurückzog, klebten an den Fingern ekelhafte Würmer, die sich nicht abreißen ließen. Und als sie ihren Kopf hob, fiel
ihr eine Blutwurst in den Mund, von der sie ständig abbeißen mußte, wenn sie nicht ersticken wollte. Als sie befleckt nach Hause kam, schmutziger und häßlicher als ein Ferkel, traf ihre Mutter vor Wut der Schlag. Und auch das Mädchen starb bald aus Zorn über die Blutwurst, von der sie ständig abbeißen mußte. Das gute Mädchen aber erbte das Haus, und es dauerte nicht lange, bis ein hübscher, junger Mann kam, der sie als Frau heimführte. «Und sie lebten glücklich und liebten sich sehr! Und wer noch etwas hören will, komm morgen wieder her!»
29 Die Geschichte von dem Prinzen, der eine Prinzessin befreite
Es waren einmal ein König und eine Königin, die hatten keine Kinder. Der König war sehr traurig, weil er nicht wußte, wem er einmal sein Reich vererben sollte. Er ließ also alle Ärzte und Magier des Landes rufen, um sie um Rat zu fragen. Es kamen viele Doktoren und viele weise Männer und Frauen. Die einen rieten dies, die andern das, aber was auch der König und die Königin versuchten, kein Mittel wollte helfen. Eines Tages kam ein alter Diener, der schon lange am Hofe lebte, und sagte: «Ich wüßte vielleicht jemand, der Eurer Majestät helfen kann, aber…» «Was aber?» fragte der König. «Aber das ist ein garstiges altes Weib, und sie spricht sehr unflätig.» «Wenn sie wirklich hilft, soll mich das nicht kümmern, wenn sie aber nicht helfen kann, dann lasse ich ihr den Kopf abschlagen!» sagte der König. Der König ließ sein Pferd satteln und ritt mit dem Diener in den Wald hinaus. Als sie mitten im wüstesten Dickicht waren, sah der König eine verfallene alte Hütte. Er stieg ab und band sein Pferd an einem Haken der Mauer des Hauses an. Kaum hatte er das getan, da erschien eine abscheuliche Alte an der Türe und sagte:
«Welcher unverschämte Bauernlümmel, welcher dumme Tölpel bindet denn seinen elenden Schindergaul hier an, um mir meinen Palast zu verunreinigen!» «Daß ich nicht lache», sprach der König, «diese alte, schmutzige Hütte einen Palast zu nennen! Was glaubst du wohl, mit wem du sprichst? Ich bin der König!» «Und wenn du der Papst wärst, so würde ich dir trotzdem verbieten, deinen Roßmist hier abzuladen! Du krummbeiniger, scheeläugiger Kerl, was willst du eigentlich hier auf meinem Grund und Boden?» Als der König die Alte so geifern hörte, hätte er fast zu lachen angefangen. Aber er besann sich, daß sie ihm vielleicht helfen könnte, und erzählte ihr, daß er keine Kinder hätte. Die Alte besann sich nicht lange, sondern sagte: «Gut, einen Sohn sollst du haben, aber nur unter einer Bedingung: er muß meine Tochter heiraten!» «Du verlangst da allerhand!» sagte der König. «Wenn es dir nicht paßt, dann troll dich!» schimpfte die Alte und wollte schon die Türe zuschlagen, aber der König zwängte den Fuß zwischen Türe und Türpfosten, und er dachte: ‹Laß uns nur erst einmal einen Sohn haben, dann wollen wir schon weiter sehen, was wird.› Laut aber sagte er: «Nun, zum Henker, ich bin einverstanden. Weißt du aber auch, daß ich dir den Kopf abhacken lasse, wenn du mich enttäuschst und ich keinen Sohn bekomme?» «Schau, daß du nicht selbst den Grind verlierst, und laß es meine Sorge sein, ob du einen Sohn haben wirst!» Und damit gab sie dem König einen Apfel. «Da, diese Frucht muß deine Frau essen, dann wird sie schwanger werden.» Der König steckte den Apfel ein, sah sich nicht weiter nach der Alten um, sondern schwang sich aufs Pferd und ritt heim. Und richtig, zu ihrer Zeit gebar die Königin einen Knaben, schön wie die Sonne.
Der Königssohn war nicht nur schön, sondern er wuchs auch zu einem starken und klugen jungen Mann heran. Und eh man sich umsah, war er so alt, daß man daran denken mußte, ihn zu verheiraten. Nun gab es da ein benachbartes Königreich, und der König und die Königin dort hatten eine Tochter, die war noch schöner als der Mond. Nun schickte unser König hin und ließ fragen, ob man die Prinzessin seinem Sohn zur Braut geben wollte. Und da ihr Vater und ihre Mutter einverstanden waren, machten sie sich alsbald auf, um in das Nachbarreich zu reisen und die Verlobung zu vollziehen. Man hatte ein schönes Fest vorbereitet, und alles war auf das trefflichste hergerichtet: Die Säle waren geschmückt, der Koch hatte seine besten Speisen gekocht und der Mundschenk den besten Wein aus dem Felsenkeller geholt. Als nun alle beisammen waren, um die Verlobung zu feiern, trat auf einmal das alte, garstige Weib ein, und sie zog auch ihre Tochter hinter sich her, das war eine schwarze, bucklige Kleine, und sie war so häßlich, daß man sie kaum anschauen konnte. «Treuloser!» schrie die ergrimmte Alte den König an. «Die Pest wünsche ich dir an den Hals! Weißt du nicht, was wir vereinbart haben, als wir den Handel schlossen? Und nun willst du deinen Sohn einer anderen geben? He?» «Gebt dieser alten Hexe tausend Goldstücke, und jagt sie zum Teufel!» befahl der König. «Was?» brüllte die Alte. «Du willst mich betrügen? Dein Sohn soll niemals jene blonde Larve zur Frau nehmen!» Und eh man sich des versehen hatte, stürzte sie sich auf die arme Prinzessin und riß ihr ein Haar aus. Dann stürzte sie zum Kamin und warf das Haar der Prinzessin in das Herdfeuer, und in demselben Augenblick tat sich die Erde auf, und die Prinzessin verschwand vor den Augen der entsetzten Umstehenden in die Tiefe.
Der König war außer sich vor Zorn. Er ließ auf der Stelle die Alte und ihre Tochter köpfen und die Leichname verbrennen. Aber das brachte die schöne Prinzessin nicht wieder zurück. Deren Vater war auch erbost und sagte zum Vater des Königssohns: «Warum habt Ihr mir nichts von dem schmutzigen Handel erzählt! Wenn meine Tochter nicht übers Jahr wieder gefunden und zurückgebracht ist, will ich mit meinem Heer über Euch herfallen, so wahr ich ein König bin!» Und er reiste auf der Stelle mit seiner weinenden Frau zurück in sein Königreich. Der König jenes Landes aber war ganz erschöpft, und er wußte nicht, was er machen sollte. Da näherte sich ihm sein Sohn und sagte: «Ach, Vater, gebt mir Euren Segen und laßt mich fortziehen! Ich will mich auf die Suche nach der schönen Prinzessin machen.» Was hätte der Vater da sagen sollen? Er umarmte ihn, ließ ihm das beste Roß satteln, und der Königssohn ritt zusammen mit einem treuen Diener davon. Der junge Mann durchritt nun viele Länder und kam in viele Städte, aber soviel er auch nach der verlorenen Prinzessin fragte, niemand konnte ihm sagen, wo sie hingeraten sei. Als er so traurig über die Straße ritt, begegnete er einem alten Hirten, der bettelte ihn an und sagte: «Herr, schenkt einem armen, alten Mann ein Almosen.» Und der Königssohn gab ihm einige Goldmünzen. «O Herr», rief der Hirte, «Ihr seid ein großzügiger und reicher Mann. Wie aber kommt es, daß Ihr so ein trauriges Gesicht macht?» Da erzählte ihm der Jüngling seine Geschichte. «Leider weiß ich Euch auch keinen Rat», sagte der alte Hirte, «aber wenn Ihr die Straße weiterreitet, dann kommt Ihr am Fuße eines hohen Berges zu einem kleinen Häuschen, dort wohnt mein Vater. Vielleicht weiß er mehr als ich. Wenn Ihr
ihm etwas weißes Brot mitbringt, dann wird er Euch sicher weiterhelfen.» Da schickte der Königssohn seinen Diener zurück in die nächste Stadt und ließ ihn schönes, weißes Brot einkaufen. Dann setzten sie ihre Reise fort. Sie ritten und ritten, und nach sieben Tagen kamen sie an den Fuß eines hohen Berges. Und richtig: da lag ein Hüttchen am Rande des Waldes. Der Königssohn klopfte an. «Bitte, macht auf!» Da kam ein verschrunzeltes altes Männchen heraus und sagte: «Was begehrt Ihr?» «Euer Sohn hat mich zu Euch geschickt. Und hier habe ich Euch weißes Brot mitgebracht», antwortete der Königssohn. Der Alte betrachtete das Brot und sagte: «Ach, wie lange hab ich schon kein weißes Brot mehr gegessen. Und nun erzählt mir Eure Geschichte!» Da erzählte ihm der Königssohn alles von der Alten und der verlorenen Prinzessin. Der Alte dachte lange nach, dann sagte er: «Leider weiß ich Euch keinen Rat. Wenn Ihr aber die Pferde hier laßt und zu Fuß den Berg hinaufsteigt, dann findet Ihr auf halber Höhe eine kleine Hirtenhütte. Dort wohnt mein Vater, der ist viel älter und klüger. Vielleicht kann er Euch helfen. Wenn Ihr aber hinaufsteigen wollt, dann bringt ihm doch ein Stück Kuchen mit, denn er hat keine Zähne mehr und kann das Brot nicht mehr beißen.» Da sandte der Königssohn abermals seinen Diener zurück in die Stadt und ließ ihn Kuchen holen, den besten und weichsten, der zu finden war. Als der Diener aber zurück war, nahm er Abschied von dem Alten und bat ihn, auf die Pferde aufzupassen. Dann stieg er mit seinem Diener den steilen Berg hinauf. Sie mußten durch ein Dickicht hindurch, und als sie endlich auf halber Höhe des Berges waren, da sah der
Königssohn, daß seine Kleider ganz zerrissen waren. Nun fanden sie gleich das alte Hirtenhüttchen, das war aus Stein und mit Zweigen gedeckt. Es hatte keine Türe, sondern nur eine Öffnung, die mit einem Fell zugehängt war. Der Königssohn streckte seinen Kopf durch die Öffnung, da sah er einen uralten Mann mit langen weißen Haaren auf einem Lager liegen. «Hier, Großväterchen, wir haben Euch Kuchen gebracht!» sagte er. Und der Greis hob den Kopf, dann stand er auf und kam näher. «Kuchen? Wirklich Kuchen! Ich glaube, es ist bald hundert Jahre her, daß ich zum letztenmal Kuchen gegessen habe. Und nun erzählt mir Eure Geschichte!» Da erzählte ihm der Königssohn denn alles. Der Alte dachte lange nach, dann sagte er: «So ist es! Die Prinzessin muß zu den Unterirdischen gegangen sein.» «Und wie komme ich dorthin?» wollte der Königssohn wissen. «Ihr müßt auf den Berg steigen. Nahe bei seiner Spitze gibt es eine große Höhle, in die geht Ihr hinein, dann kommt Ihr ins Land der Unterirdischen. Es ist aber nicht leicht, die Prinzessin zu befreien, denn sie wird von einem Drachen bewacht. Wenn Ihr die Prinzessin befreien wollt, so braucht Ihr viererlei: Wein, Zucker, die Blume Vergessen und den Mantel, der unsichtbar macht.» «Nun», antwortete der Königssohn, «Wein und Zucker habe ich unten bei meinem Gepäck.» «Dann soll es dein Diener gleich holen!» befahl der Alte; und sogleich wurde der Diener fortgeschickt. «Die Blume Vergessen will ich dir zum Lohne dafür schenken, daß du mir Kuchen mitgebracht hast», sprach der Greis, «aber den Mantel, der unsichtbar macht, mußt du dir selbst holen. Die Frau des Drachen hat ihn in ihrer Lade liegen.
Und nun paß auf, wie du es machen mußt! Der Drache geht jeden Morgen aus dem Hause, vorher aber sperrt er die Prinzessin in seinem Keller ein und steckt den Schlüssel in die Tasche. Nun mußt du der Frau des Drachen den Zucker geben, denn in jenem Lande haben sie keinen Zucker. Dann wird sie Lust darauf bekommen, noch mehr Zucker zu erhalten, und sie muß dich vor dem Drachen verstecken, weil der dich sonst auffrißt. Sie wird dir also den Mantel leihen, der unsichtbar macht. Dann mußt du den Weinschlauch auf den Tisch legen, und wenn der Drache davon getrunken hat und eingeschlafen ist, ihm den Schlüssel aus der Tasche ziehen. Dann kannst du die Prinzessin aus dem Keller holen und mit ihr fliehen. Vergiß aber nicht, vorher die Blume Vergessen beim Drachen aufs Fensterbrett zu legen, weil er sonst erwacht und euch einholt. Geht dann in die Stadt zum großen Brunnen und springt dort hinein, so werdet ihr wieder zurück in diese Welt finden.» Darauf suchte der Greis lange in seinen Sachen und gab schließlich dem Königssohn eine getrocknete Blume und sagte: «Du darfst nie an dieser Blume riechen, sonst vergißt du alles und findest den Weg nicht mehr zurück!» Nun wartete der Königssohn noch, bis der Diener den Schlauch mit dem Wein und das Beutelchen mit dem Zucker gebracht hatte, dann umarmte er den Alten und bedankte sich für seinen Rat, steckte die Blume ein und stieg den Berg hinauf. Er fand auch die Höhle, und nachdem er einen Augenblick gezögert hatte, ging er hinein. Zuerst war es ganz dunkel, und er mußte sich an der Wand entlangtasten; dann wurde es auf einmal hell, und er kam auf eine schöne Wiese hinaus. Er wanderte nun über die Wiese und dann durch einen Wald und kam schließlich in eine große Stadt. Er brauchte auch nicht lange, bis er das Haus des Drachen gefunden hatte, denn es lag am Rande der Stadt. Da es heller Tag war, wußte der Königssohn, daß der Drache ausgegangen sein müsse. Er
klopfte also an die Türe, und die Frau des Drachen öffnete ihm. «Was hast du für einen seltsamen Geruch?» sagte sie. «Bist du vielleicht nicht aus unserm Land?» «Nein, Mütterchen», entgegnete der Königssohn, «ich stamme aus einem anderen Reich und bin gekommen, um Euch Zucker zu bringen, weil ich gehört habe, daß es hier keinen gibt.» «Zucker? Was ist das?» fragte die Frau des Drachen. «Hier, versucht einmal!» Und der Königssohn hielt ihr sein Beutelchen mit dem Zucker hin. Die Frau des Drachen kostete ein wenig davon und sagte: «Das schmeckt ja herrlich! Hast du noch mehr von dem Zeug?» «Hier, nehmt nur das ganze Beutelchen.» Da nahm die Frau des Drachen den Beutel mit dem Zucker und führte den Königssohn ins Haus. «Könnt Ihr mir nicht noch mehr von Eurem Zucker bringen?» fragte sie. «Aber natürlich kann ich das. Nur heute ist es schon zu spät.» «So bleibt bei mir. Ich will Euch auch zu essen geben. Morgen könnt Ihr dann in Euer Reich zurückkehren und mir neuen Zucker bringen. Legt aber diesen Mantel um Eure Schultern, denn wenn Euch sonst mein Mann sieht, frißt er Euch auf.» Und damit öffnete sie eine Lade und nahm den Mantel heraus, der unsichtbar macht. Der Jüngling legte sich den Mantel um, setzte sich an den Tisch und sagte: «Seht, für Euern Mann habe ich Euch auch etwas mitgebracht. Es ist Wein, und in unserem Lande trinken ihn die Männer, damit sie starke Söhne haben.» «Das muß ja ein wunderbares Land sein, in dem es so herrliche Dinge gibt. Legt nur den Schlauch dort auf den
Tisch!» Es dauerte nicht lange, da kam der Drache nach Hause. Er schnupperte und sagte: «Hier riecht es aber eigenartig!» «Ja», sagte die Drachenfrau, «stell dir nur vor, es war ein Händler da und hat uns ein Getränk aus einem andern Lande gebracht, das dort die Männer trinken, damit sie starke Söhne bekommen. Ich habe einen Schlauch voll gekauft. Er liegt dort auf dem Tisch. Davon kommt wohl der Geruch!» Da setzte sich der Drache an den Tisch und brummte: «Fleisch von Menschen wäre mir lieber.» Aber da er neugierig war, öffnete er doch gleich den Weinschlauch und nahm einen kräftigen Schluck. «Das schmeckt gut!» sagte er. «Ich spüre schon, wie ich davon stark werde. Es ist so rot wie Blut.» Und er trank den ganzen Schlauch aus. Er war aber den Wein nicht gewöhnt, und es dauerte nicht lange, da schlief er so fest, daß ihn nicht einmal ein Kanonenschuß aufgeweckt hätte. Der Königssohn wartete nun, bis auch die Frau des Drachen eingeschlafen war, dann zog er dem Drachen den Schlüssel aus der Tasche, öffnete das Schloß und machte die Falltüre auf und ließ die Prinzessin heraussteigen. Die Prinzessin war sehr froh, daß sie endlich aus der finsteren Gruft befreit war, und der Königssohn erzählte ihr genau, wie er es gemacht hatte, um sie zu finden. Dann legte er die Blume aufs Fensterbrett, hüllte sich und die Prinzessin in den Mantel, der unsichtbar macht, und schlich sich aus dem Hause. Als der Drache erwachte, brummte ihm der Schädel, und als er aufsah, erblickte er die Blume Vergessen am Fensterbrett. Da ging er hin und roch daran, und mit dem gleichen Augenblick hatte er alles vergessen. Er wußte nichts mehr von der Prinzessin und sagte zu seiner Frau nur: «Du hast wieder einmal die Türe zum Keller nicht zugemacht.» In der Zwischenzeit war der Königssohn mit der Prinzessin durch die ganze Stadt gewandert, und als sie zum
Mittelpunkt kamen, sahen sie einen großen Brunnen. Sie schwangen sich über den Rand, aber ihre Füße berührten kein Wasser, sondern sie sanken und sanken immer tiefer, und auf einmal waren sie im Palast, wo der Königssohn daheim war. Als seine Eltern ihn sahen, umarmten sie ihn froh, und ebenso ihre Schwiegertochter. Dann sandte der König sogleich aus und ließ den Vater der Prinzessin holen. Der andere König kam mit seiner Frau und dem ganzen Gefolge, und nun konnte fröhlich Hochzeit gehalten werden. – Das ist die Geschichte von dem Prinzen, der eine Prinzessin befreite, und morgen werde ich euch erzählen, was mit dem Mantel, der unsichtbar macht, noch geschehen ist.
30 Das Geheimnis der Schlange
Es war einmal in alten, alten Zeiten ein Mann, der besaß viele Ländereien und große Herden. Er hatte drei Söhne: sein Erstgeborener war stark und groß, der Vater war sehr stolz auf ihn. Der zweite war gerissen und schlau, auch den liebte der Vater sehr. Der dritte aber war ein Dummling, und deshalb schätzte ihn der Vater gering. Und als die Söhne erwachsen waren, da vermählte er den ältesten mit einer Prinzessin. Dem mittleren aber kaufte er ein Schiff und ließ ihn Kaufmann werden. Mit dem jüngsten hingegen wußte er nichts anzufangen, deshalb sagte er zu ihm: «Du kannst unsere Ziegen hüten.» Und also wurde der dritte Sohn ein Ziegenhirt. Nun werdet ihr vielleicht denken, daß der Jüngste auf seine Brüder eifersüchtig oder neidisch gewesen wäre. Aber er hatte ein einfaches Herz und strebte weder nach hohen Ehren noch nach Geld, und das Hirtenleben behagte ihm recht wohl. An Brot und Käse fehlte es ihm nie, für warme Kleider sorgte sein Vater, und so war er den ganzen Sommer über mit den Geißen in den Bergen, und nur im Winter stieg er ins Tal in die Nähe des väterlichen Hauses. Eines schönen Tages im Frühling, da er mit seiner Herde eben wieder aufwärts zog, sah er im Schatten eines Baumes ein altes Weiblein sitzen, die rief ihn an: «He du da, Bürschlein!» «Was willst du, Großmütterchen?»
«Würdest du mir wohl einen Gefallen tun? Ich würde dich auch gut belohnen.» «Gern. Sag mir nur, was ich machen soll!» «Siehst du diese Quelle da? Wenn du dem Wasser entlang aufwärts steigst, kommst du zu einer Höhle. Die ist so niedrig, daß du durch den Eingang kriechen mußt. Aber wenn du weiter drinnen bist, wird sie so hoch, daß du die Decke nicht mehr greifen kannst. Du wirst ein schwaches Licht sehen. Geh nur immer weiter, dann kommst du in eine Kammer, darin liegt eine Schlange, die mußt du totschlagen. Wenn du sie getötet hast, wirst du in ihrem Munde einen goldenen Ring finden. Bring mir den Ring, und ich werde dir viele Goldstücke dafür geben!» Der junge Hirt ließ seine Herde zurück und stieg zur Quelle empor, die hoch im Felsen aus einem dunklen Loch sprudelte. Daneben gähnte die Öffnung einer Höhle. Der Jüngling besann sich nicht lange, sondern kroch mutig durch den Eingang hindurch, und bald konnte er sich aufrichten. Die Höhle wurde so hoch, daß man die Decke nicht mehr erreichen konnte. Aus der Tiefe der Höhle aber schien ein Licht zu schimmern, dem ging er nach, und bald kam er in eine Kammer, da sah er eine Schlange, die lag in einem Korbe. Als sich der Jüngling näherte, richtete sie sich auf und sprach: «Törichter! Willst du dich von einem Weibe verführen lassen. Weißt du nicht, daß sie auch dich töten würde, wenn du mich umbringst. Sie ist eine Hexe und will nur meinen Zauberring. Geh hinaus und töte sie mit deinem Hirtenstab, dann sollst du den Ring haben, und ich will dich seinen Zauber lehren!» Da besann sich der junge Hirte, und die Worte der Schlange klangen ihm gut. Er kehrte um, kroch wieder ans Tageslicht, erschlug die Hexe mit seinem Prügel, schnitt ihr mit dem Hirtenmesser den Kopf ab und brachte ihn der Schlange.
«Da siehst du, daß ich gehandelt habe, wie du es gewünscht hast.» «Du hast klug gehandelt, daß du mir gefolgt hast und nicht dem bösen Weibe», sprach diese, «und nun setz dich her zu mir und höre, was ich dir zu sagen habe!» Da setzte sich der Jüngling nieder, und die Schlange kroch ihm auf den Schoß. «Solange du den Ring hier trägst und solange du keinem Menschen das Geheimnis verrätst, wirst du der weiseste Mensch auf Erden sein. Du wirst mit allen Tieren sprechen können, und du wirst die verborgenen Schätze in aller Welt sehen, in der Tiefe der Erde, in der Tiefe des Meeres und in der Höhe des Himmels. Wenn du aber davon sprichst, dann mußt du sterben, und der Mensch, zu dem du gesprochen hast, wird dein Erbe sein. Und nun öffne deinen Mund und empfange die Gabe der Unsterblichkeit!» Da machte der Jüngling den Mund auf, und die Schlange spie ihm dreimal hinein. Da war dem Jüngling, als ringele sich in seinem eigenen Innern eine Schlange, aber er spürte keine Schmerzen dabei, sondern ihm war so wohl wie nie zuvor. Und ehe er sich umgesehen hatte, um der Schlange zu danken, war diese verschwunden. Als der Jüngling aus der Höhle wieder ans Tageslicht gekommen war, hörte er eine Geiß zu einer andern sagen: «Hier der Busch, an dem ich knabbere, ist ein heiliger Strauch, wer von seinen Blättern einem Kranken gibt, der wird ihn wieder gesund machen.» Da brach der Hirt einen Zweig ab und steckte ihn in seine Hirtentasche. Dann machte er sich mit der Herde auf den Heimweg. «Herr, was ist das für eine Art?» fragte der Leithammel. «Willst du schon zu Tal ziehen, und ist doch eben erst der Sommer gekommen.»
«Du wirst dir einen anderen Herrn suchen müssen», entgegnete der Jüngling, «denn ich werde euch bald verlassen.» Sie waren noch nicht weit gekommen, da war dem Burschen, als sehe er es in der Tiefe der Erde glänzen. Er ließ die Herde sich im Schatten einiger Bäume lagern und fing an zu graben. Da kam sein Hund zu ihm und sagte: «Herr, was tust du denn da?» «Ich glaube, ich habe einen Schatz entdeckt», antwortete sein Herr. «Ich sehe nichts, und ich rieche nichts, und auf meine Nase kann ich mich wahrscheinlich verlassen», sprach der Hund. «Von diesen Dingen verstehst du nichts, gib lieber auf die Herde acht, daß sich kein Tier verläuft!» Der Jüngling grub und grub, und plötzlich stieß er mit der Schaufel auf etwas. Vorsichtig wühlte er weiter, und siehe da: er hatte einen ledernen Sack gefunden, der war schon ganz zerschlissen, und in dem Sack war eine Urne mit alten Goldmünzen. Die leerte der Jüngling in seine Hirtentasche und nahm den Weg in seine Heimat wieder auf. Am andern Tag kam er in seinem Dorf an. «Sohn, bist du krank geworden?» fragte ihn sein Vater. «Es ist doch erst ein paar Wochen her, daß du ausgezogen bist, und nun kommst du bei der größten Hitze wieder mit dem Vieh ins Tal.» – «Vater, Ihr werdet Euch einen andern Hirten suchen müssen.» Und er zeigte ihm das Gold. Da war der Vater freilich sehr überrascht, und er hielt seinen Sohn nicht mehr zurück, sondern ließ ihn ziehen, damit er in der Fremde sein Glück suche. «Er wird es vielleicht doch auch noch zum Kaufmann bringen», sagte der Vater bei sich, und er schenkte ihm noch sein einziges Pferd, denn sonst hatte er nur Esel und Maultiere im Stall.
«Wohin willst du, daß ich dich trage?» sagte das Pferd. «Trage mich in die Stadt!» bat der Jüngling. Und er ritt, bis er vor das Tor kam. Über dem Tor aber saßen zwei Tauben, und die eine sagte zur andern: «Gerade war ich wieder im Palast des Königs. Seine Tochter ist immer noch krank. Es waren viele Ärzte da, aber keiner kann ihr helfen. Dabei wäre es ganz leicht: man müßte ihr nur ein paar Blätter von einem ganz bestimmten Zweig als Tee zu trinken geben, dann würde sie auf der Stelle gesund werden.» «Trage mich zum Palast!» gebot der Jüngling seinem Pferd und ritt eilends dorthin. Als der Jüngling vor dem Palast ankam, war da eben ein Ausrufer, der rief: «Wer die Prinzessin wieder gesundmachen kann, der soll sie zur Frau und ein halbes Königreich dazu haben. Wer es aber versucht, und er macht sie nicht gesund, der muß sterben.» So sagte er, weil schon viele Quacksalber gekommen waren. Unser Jüngling war frohen Mutes, er meldete sich: «Ich will die Prinzessin heilen!» «Gut, dann komm nur gleich herein!» Er ging hinein, ließ sich heißes Wasser bringen, da legte er die Blätter hinein, und von dem Sud gab er der Prinzessin zu trinken. Und ehe man sich besinnen kann, setzt sich die Prinzessin im Bett auf und sagt: «Ich bin gesund.» Da gab es eine große Freude bei Hofe, der König umarmte zuerst den Retter und dann seine Tochter und sagte zu ihr: «Hier ist dein Gatte!» Die Prinzessin war damit zufrieden, aber die Königin sagte: «Ehe er meine Tochter heiratet, muß er zeigen, daß er kein Dummling ist, denn an den nächsten besten Dummkopf gebe ich meine Tochter nicht her.»
Der König wollte nicht, denn er hatte ja gesagt: «Wer meine Tochter gesundmacht, der soll sie zur Frau und ein halbes Königreich noch dazu haben.» Aber seine Frau gab nicht nach, und der Jüngling fragte: «Was soll ich denn tun?» «Du sollst mir drei Rätsel lösen, und wenn du das nicht kannst, dann schlitze ich dir den Bauch auf!» – «Halt, das gibt es nicht», unterbrach sie der König, «wenn er die Rätsel nicht lösen kann, dann soll er ungestört seines Weges ziehen.» Der Jüngling aber sprach: «Gut, ich bin bereit.» «Nun», begann die Königin, «was ist das süßeste, was das stärkste und was das schwächste Ding auf Erden?» Der Jüngling wußte keine Antwort darauf, und als das der König merkte, sagte er: «Du brauchst erst morgen zu antworten, und jetzt geh und ruh dich aus.» Und er ließ ihm eine Kammer herrichten und zu essen und zu trinken bringen. Der Jüngling saß traurig am Fenster seiner Kammer und dachte nach – denk auch du nach und hol einen, der’s kann! –, da sah er ein Vöglein vorbeifliegen. Da rief es der Jüngling zu sich und sprach: «Weißt du wohl, welches Ding auf Erden das süßeste, das stärkste und das schwächste ist?» «Da könnte man sich viele Antworten einfallen lassen. Wer hat dir denn diese Frage gestellt?» Da berichtete der Jüngling alles, und das Vöglein versprach ihm zu helfen. Es flog ans Fenster des königlichen Schlafzimmers, und da hörte es, wie der König zu seiner Frau sagte: «Da hast du aber ein schweres Rätsel aufgegeben. Ich könnte es wenigstens nicht lösen.»
«Es ist nicht so schwer, wie du meinst: das süßeste Ding auf Erden ist die Liebe, das stärkste ist der Haß und das schwächste ist die Verschwiegenheit.» «Darauf wäre ich nie gekommen», sagte der König, «denn ich hätte gedacht, daß das süßeste Ding Honig oder Zucker sein müsse.» «Ja, so seid ihr Dummköpfe von Männern.» Das Vöglein war sehr vergnügt und flog gleich zum Jüngling zurück. «Hüte dich vor der Königin! Sie ist ein falsches Weib. Und das Süßeste ist die Liebe, das Stärkste der Haß und das Schwächste die Verschwiegenheit.» Da dankte der Jüngling dem Tier und legte sich vergnügt zur Ruhe. Am andern Tage aber ließ die Königin den Jüngling rufen und sagte: «Antworte mir auf meine Fragen!» «Das Süßeste auf Erden ist die Liebe, das Stärkste der Haß und das Schwächste die Verschwiegenheit des Menschen.» Da wurde die Königin ganz blaß vor Wut, der König aber sprang in die Höhe und klatschte in die Hände vor Freude. «So, jetzt soll aber gleich die Hochzeit sein!» Und so wurde es gehalten. Die Königin aber dachte bei sich: ‹Da ist irgendein Zauber dabei, denn der Jüngling hat zuerst nichts gesagt, und am andern Tag hat er es plötzlich gewußt.› Zu ihrer Tochter aber sagte sie: «Wenn du dich mit deinem Gatten zu Bett begibst, dann frage ihn, wie er die Lösung des Rätsels gefunden hat.» Sie hatte nämlich den Vogel am Fensterbrett sitzen sehen. Am Abend also fragte die Prinzessin den Jüngling: «Liebster, wie bist du denn auf die Lösung des Rätsels gekommen? Sicher hat es dir jemand gesagt?»
«Nein, ich habe nur nachgedacht», entgegnete der Jüngling, der sich recht wohl auf das besann, was ihm die Schlange gesagt hatte: «Wenn du das Geheimnis verrätst, dann mußt du sterben.» Die Prinzessin ging also am nächsten Morgen zu ihrer Mutter und sagte: «Durch Nachdenken.» «Du Schäfchen! Glaubst du, daß dein Mann so klug ist? Er mißtraut dir nur; und ich sage dir: du wirst nie glücklich werden, solange er es dir nicht sagt.» Am Abend aber, als der Jüngling seine junge Gemahlin umarmen wollte, sagte die: «Nein, sage mir zuerst, wer dir das Geheimnis des Rätsels verraten hat! Alle Welt hätte anders geraten, und nur du hast gewußt, so zu reden, wie meine Mutter redet. Solange du mir nicht sagst, wer es dir verraten hat, werde ich dich nicht mehr küssen.» Da war der Jüngling sehr traurig, aber er sagte nichts. Am nächsten Abend aber ging es ihm ebenso und am dritten Abend auch wieder. Am Morgen danach traf der König seinen Schwiegersohn, der sah, daß der Jüngling ganz traurig dreinsah, und sprach: «Warum machst du ein so betrübtes Gesicht?» Da erzählte ihm der Jüngling, daß die Prinzessin wissen wolle, wie er zur Lösung des Rätsels gekommen wäre. «Nun, so sage es ihr halt! Was ist da schon dabei?» Da wurde der Jüngling noch trauriger und dachte: ‹Nun muß ich heute abend sterben, denn noch länger halte ich es nicht aus, sie zu sehen und sie nicht zu küssen. Und die Königin hat schon recht: das schwächste Ding auf Erden ist die Verschwiegenheit des Menschen.› Und er stieg hinab in den Stall, um von seinem treuen Pferde Abschied zu nehmen. «Herr, was schaust du so niedergeschlagen?»
«Ach, ich muß heute abend sterben.» Und der Jüngling vertraute sich dem Pferde an. «Ja, weißt du denn nicht, daß der Mann der Herrscher ist und die Frau gehorchen muß?» sagte das Pferd. «Du mußt ihr den Stock zu schmecken geben, dann wirst du Ruhe haben.» Als es dunkelte, schnitt sich der Jüngling eine Haselrute, dann stieg er hinauf ins Schlafgemach. «Nun», fragte ihn die Prinzessin, «willst du mir heute endlich sagen, wer dir die Lösung des Rätsels verraten hat?» «Ja, das will ich: der da!» Und er zeigte ihr den Stock und prügelte sie damit ordentlich durch. Die Prinzessin bat ihn um Gnade und sagte: «Laß nur, jetzt glaube ich dir!» Da ließ der Jüngling von ihr ab, und sie lebten von da an glücklich und vergnügt. Die Königin aber merkte, daß sie dem Jüngling nicht beikommen konnte, und sie ärgerte sich darüber zu Tode. Der Jüngling aber übernahm, nachdem auch der König gestorben war, die Herrschaft über das ganze Königreich, und indes seine Kinder und Enkel alterten und ins Grab sanken, konnte er nicht sterben. Er war vereinsamt, denn seine Frau war ihm auch gestorben, aber unter seinen Urenkeln hatte er einen, den liebte er vor allen. Doch eines Tages wurde er des Lebens müde, und er dachte bei sich: ‹Nun will ich auch dorthin gehen, wo meine Frau und meine Kinder sind.› Und er ließ seinen Urenkel rufen, den er besonders liebte, und sagte zu ihm: «Willst du König sein?» «Ja, ich möchte wohl, aber du bist ja noch am Leben, Großväterchen, und die Leute sagen, daß du nie sterben wirst.» «Ja, mein Kind. Freilich: wenn ich wollte, könnte ich noch lange leben, denn wie du siehst, habe ich noch nicht einmal graue Haare. Aber ich bin müde geworden und möchte zu meiner Frau und zu meinen Kindern. Deshalb will ich dir ein Geheimnis anvertrauen: hier an meiner Hand ist ein goldener
Ring. Wenn du dir den an den Finger steckst, wirst du die Sprache der Tiere verstehen, du wirst verborgene Schätze erkennen, und du wirst so lange nicht sterben, solange du das Geheimnis bewahrst. Wem du es aber anvertraust, der wird dein Erbe sein, so wie ich jetzt dich zum Erben einsetze.» Damit zog er den Ring vom Finger und stülpte ihn seinem Liebling über den Finger. Alsbald sank er tot um, und bis ihn die Diener hinwegtragen konnten, zerfiel er zu Knochen, nur sein blondes Haar war unberührt geblieben. Der Urenkel aber war König, und er verstand es wie sein Ahne, das Geheimnis vor der Neugier der Frauen zu wahren, und so wurde er weise und blieb jung bis in die hohen Tage seines Lebens hinein. Man sagt, daß er fortgezogen ist und heute noch in einem andern Lande lebt. Das ist die Geschichte, und wer zuerst spricht, der ist ein Dummkopf!
31 Der Zauberring
Es war einmal eine Familie: Vater, Mutter und neun Söhne, also lauter männliche Nachkommen. Als die Mutter wieder schwanger wurde, sagten die Söhne zu ihr: «Um uns zufrieden zu machen, müßtest du nun halt einmal ein Mädchen zur Welt bringen.» Die Mutter antwortete darauf: «Es wird das geschehen, was der Herr will; wir müssen das halt so annehmen.» Aber die Söhne antworteten darauf: «Nein, nein, wir wollen eine Schwester, und wir machen deshalb folgenden Vertrag: Wenn du ein Mädchen zur Welt bringst, wirst du eine Haube aufs Fensterbrett legen, so daß wir, wenn wir von der Arbeit heimkehren, gleich sehen können, daß wir eine Schwester haben und zufrieden sein können. Wenn du aber einen Buben gebären solltest, müßtest du einen Hut auf das Fensterbrett legen.» Dieses Mal gebar die Mutter wirklich ein Mädchen, aber die Hebamme brachte alles durcheinander, und statt aufs Fensterbrett eine Haube zu legen, gab sie dort einen Hut hin. Als die Brüder von der Arbeit heimkehrten, sahen sie von weitem den Hut und dachten, sie hätten einen weiteren Bruder. Da sagten sie: «Gehen wir fort, denn unsere Mutter hat schon wieder einen Buben zur Welt gebracht!» Und sie gingen davon, um nie mehr heimzukehren. Sie wanderten und wanderten, und endlich sahen sie einen Palast. Sie klopften an die Türe, aber niemand antwortete. So gingen sie einfach hinein. Das war ein Palast von Räubern,
aber es war niemand mehr dort, denn die Räuber waren alle getötet worden. Da beschlossen die neun Brüder, dort zu wohnen. Als die Mutter vom Bett aufstehen konnte, ging sie ans Fenster, da sah sie den Irrtum der Hebamme und war ganz verzweifelt, weil sie ihre neun Söhne ohne Grund verloren hatte. Indessen wuchs das Mädchen Tag um Tag. Als das Mädchen einmal sich auf dem Balkon kämmte, sah es einen Vogel, der das Band ergriffen hatte, mit dem sie sich die Haare band. Als der Vogel davonflog, sagte er: «Ruk, Ruk, Ruk, zu deinen Brüdern bring ich dich!» Weinend erzählte das Mädchen seiner Mutter, was sich zugetragen hatte. Da brach auch die Mutter in Tränen aus und erzählte ihrer Tochter von den neun Brüdern, und wie sie das Haus verlassen hatten. Sie sagte: «Sie wünschten sich so sehr eine Schwester, und sie trugen mir auf, aufs Fensterbrett eine Haube zu legen, wenn ich ein Mädchen, und einen Hut, wenn ich einen Buben zur Welt brächte. Als du geboren wurdest, hat die Hebamme alles verwechselt, und sie hat einen Hut aufs Fensterbrett gelegt. Und deshalb sind deine Brüder nicht nach Hause zurückgekehrt, weil sie glaubten, du seist männlich. Wenn du morgen diesen Vogel wieder siehst, folge ihm und nimm dir das Band wieder.» Als der Vogel wiederkam, um ihr das Band wegzunehmen, sagte er: «Ruk, Ruk, Ruk, zu deinen Brüdern bring ich dich!» Da lief das Mädchen hinter ihm her, bis es zu dem Palast kam, wo die Brüder wohnten. Dort gelang es ihr, ihm das Band wieder abzunehmen. Im gleichen Augenblick verschwand der Vogel. Das Mädchen wollte nach Hause zurückkehren, aber es erinnerte sich an den Weg nicht mehr. So ging sie in den Palast hinein. Sie traf darin niemand. Sie sah, daß es neun Zimmer
und neun Betten gab. Sie machte die Betten, kochte das Essen und versteckte sich in einem Schrank. Als die Brüder nach Hause zurückkamen, wunderten sie sich sehr, daß alles in Ordnung gebracht war, und sie beschlossen, die Wahrheit aufzudecken. Der größte Bruder sagte: «Ihr geht morgen arbeiten, während ich mich verstecken werde, um zu sehen, wer in unser Haus kommt.» Er setzte sich in einen Lehnstuhl, aber während er wartete, wurde er vom Schlaf überwältigt, und so sah er gar nichts. Als die Brüder heimkamen, sagte er: «Ihr wollt etwas wissen? Ich kann euch nichts sagen, denn ich habe niemand gesehen.» Einer nach dem anderen versteckten sich alle Brüder, aber alle mit dem gleichen Ergebnis. Endlich kam der Jüngste an die Reihe, und er sagte: «Morgen werde ich mich verstecken, um das Geheimnis zu lüften.» Die Brüder antworteten ihm: «Aber geh, geh! Wenn es uns nicht gelungen ist, dann willst du uns glauben machen, daß du es kannst?» Aber er blieb zu Hause; er setzte sich in den Lehnstuhl und stellte sich ein spitzes Stöckchen unter das Kinn. Sooft er daran war, einzuschlafen, und den Kopf nach vorne neigte, stach ihm das Stöckchen in die Kehle, und er wurde wieder wach. Und so sah er schließlich das Mädchen aus dem Schrank kommen. Er sagte zu ihr: «Bist du es, die bei uns immer saubermacht?» Sie erschrak und antwortete: «Töte mich nicht, dann werde ich dir alles erzählen.» Sie machte es so, und der Bruder rief aus: «Dann bist du also meine Schwester?» Und er küßte sie und sagte dann: «Versteck dich in dem Schrank. Wollen wir abwarten und sehen, was meine Brüder heute abend sagen.» Als die Brüder nach Hause kamen, sagte er zu ihnen: «Ich habe nichts gesehen.» Sie setzten sich alle zu Tisch, und der Jüngste fing ein Gespräch an: «Wenn wir eine Schwester hätten, würden wir sie
gern haben?» Da antworteten sie: «Um einer Schwester willen haben wir unser Haus verlassen; sollten wir sie da nicht gern haben?» Aber er wiederholte: «Könnt ihr mir das beschwören, daß ihr sie gern haben würdet?» Wie sie auch daraufhin ja sagten, ging der Jüngste zum Schrank und rief: «Komm heraus!» Als die Brüder ihre Schwester sahen, waren sie alle glücklich, und alle Tage brachten sie ihr Geschenke mit. Sie schenkten ihr so viele Ringe, daß sie an allen Fingern ihrer Hände einen Ring tragen konnte. Die Brüder sagten ihr: «Von allem, was du auf dem Boden findest, mußt du einen Teil auch dem Kater geben, denn sonst löscht er das Feuer aus, und wir können es nicht mehr anzünden.» Eines Tages, als das Mädchen gerade zusammenkehrte, fand sie eine Bohne, und sie aß sie, ohne an den Kater zu denken. Da löschte der Kater das Feuer aus. Als das Mädchen kochen wollte, fand sie das Feuer ausgelöscht, und sie erinnerte sich des Katers und sagte: «Was habe ich da angestellt! Ich habe den Kater vergessen! Wie soll ich jetzt kochen? Was werden meine Brüder sagen?» Sie schaute zum Fenster hinaus, und da sah sie in der Ferne ein Licht. Sie beschloß, dorthin zu gehen und um Feuer zu bitten. In jenem Hause aber wohnte ein Menschenfresser mit Frau und drei Söhnen. Als das Mädchen dort ankam, war der Menschenfresser gerade fort, aber seine Frau wollte gleich das Mädchen fressen. Doch da kamen die Söhne und sagten: «Nein, Mutter, sie ist zu schön, wir dürfen sie nicht essen!» Sie öffneten ihr die Türe und sagten: «Wie bist du bis hierher gekommen?» Sie erzählte ihnen alles und sagte: «Könnt ihr mir ein wenig Feuer geben?» Sie gaben ihr eine Schaufel voll Glut, und die Frau des Menschenfressers gab ihr außerdem
noch eine Handvoll Bohnen und sagte: «Die kannst du auf dem Heimweg essen.» Unterdessen kam der Menschenfresser heim, der sofort den Geruch von Menschen roch und wissen wollte, wer das Haus betreten habe. «Niemand», sagte die Frau. Da schrie der Menschenfresser: «Wenn ihr mir nicht die Wahrheit sagt, werde ich euch alle fressen.» Da erzählten sie ihm alles. Der Menschenfresser aber sagte: «Was habt ihr ihr gegeben?» – «Eine Handvoll Bohnen.» «Dann werde ich sie schon finden», sagte der Menschenfresser. Er ging fort und folgte den Spuren der Bohnenschalen und kam so zu dem Haus des Mädchens. Er rief das Mädchen an und sagte, er sei der älteste von den Brüdern, aber als er merkte, daß sie sich nicht überreden lasse, sprach er: «Es genügt, daß du heruntersteigst und einen Finger durchs Schlüsselloch streckst.» Kaum streckte sie einen Finger hindurch, da steckte ihr der Menschenfresser einen Zauberring hinauf, der bewirkte, daß sie wie tot zu Boden fiel. Als die Brüder nach Hause kamen, riefen sie nach ihrer Schwester, und als sie keine Antwort erhielten, stieg einer von ihnen durchs Fenster ein. Nachdem er alle Zimmer durchsucht hatte und selbst in den Schrank geschaut hatte, stieg er die Treppe ins Erdgeschoß hinunter, und dort sah er seine Schwester nahe bei der Türe auf dem Boden liegen. Er öffnete das Tor, und alle Brüder kamen herein. Als sie die tote Schwester sahen, weinten sie alle über dieses Unglück. Sie machten einen Sarg aus Glas und hängten ihn in den Gipfel eines Baumes, der auf der Vorderseite ihres Hauses stand. Und alle Morgen, wenn sie zum Arbeiten weggingen, betrachteten sie die Tote seufzend. Eines Tages kam dort ein Prinz vorbei, der auf die Jagd ritt.
Der Hund des Prinzen begann zu Füßen des Baumes, wo das Mädchen war, zu bellen. Der Prinz aber bemerkte nichts und sagte: «Was hat dieser Hund da, daß er bellt?» Er schaute den Baum hinauf, und weil gerade ein Sonnenstrahl auf den gläsernen Sarg fiel, bemerkte er das Flimmern. Als er in den Sarg sah, sagte er: «Was für ein schönes Mädchen! Auch wenn es tot ist, nehme ich es mit mir und trage es nach Hause. Dort will ich es in meiner Kammer einschließen, und es wird meine Braut sein.» So machte er es. Als die Brüder von der Arbeit heimkehrten, fanden sie den Sarg nicht mehr, und sie wurden ganz verzweifelt. Der Prinz aber hatte drei Schwestern, und diese begannen sich zu wundern, weil ihr Bruder immer sein Zimmer verschlossen hielt. Und um das Geheimnis aufzudecken, sagten sie zur jüngsten Schwester: «Tu so, als ob dir nicht gut wäre, so daß dich unsere Mutter in die Arme nimmt. Und dann wirst du ihr heimlich den Schlüsselbund aus der Tasche ziehen.» Die Jüngste machte es so, und heimlich schlossen sie das Zimmer des Bruders auf. Sie sahen das Mädchen in dem Sarg und die Jüngste, die feststellte, daß die Tote die ganzen Hände voll Ringe habe, versuchte einen davon abzuziehen. Zufällig erwischte sie den Zauberring, den der Menschenfresser dem Mädchen aufgesteckt hatte, und das Mädchen erwachte. Da steckten sie den Ring zurück, und die Prinzessinnen verschlossen wieder das Zimmer und steckten die Schlüssel heimlich der Mutter wieder in die Tasche. Als der Bruder heimkam und in sein Zimmer gehen wollte, liefen sie hinzu und sagten: «Bruder, lebt jenes Mädchen?» – «Wenn das sein könnte», antwortete der Bruder, «würde ich euch ein großes Geschenk machen.»
Da fragte die Jüngste: «Wenn sie lebendig wäre, was würdest du mir geben?» – «Die Hälfte meiner Schätze», antwortete er. Da näherte sich die Schwester dem Sarg, zog den Zauberring vom Finger des Mädchens, und es erwachte. Der Prinz fiel vor Bewegung in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, sagte er zu dem Mädchen: «Ich habe dich versteckt gehalten, weil ich glaubte, daß du tot und einbalsamiert seist.» Da erzählte sie ihm alles, was vorgefallen war, und sagte: «Wie komme ich hierher?» Der Prinz erzählte ihr, wie er sie gefunden habe, und er bat sie, ihn zu heiraten. Sie gingen und holten die Brüder, die Mutter und den Vater und lebten glücklich.
32 Der Sohn des Kaufmanns
Vor langer Zeit lebte einmal ein reicher Kaufmann, dessen Schiffe durch die ganze Welt fuhren und ihm aus vielen Ländern Gold und Edelsteine brachten. Als nun dieser Kaufmann sich verheiratete und als seine Frau ein Kind erwartete, ließ er den besten Sternkundigen rufen, den man kannte. Und der Weise befragte die Sterne und weissagte dem Kaufmann: «Dein Sohn wird schön und klug sein, aber in seinem zwanzigsten Lebensjahre wird er einem Mörder zum Opfer fallen.» Da erschrak der Kaufmann sehr, und er überlegte, wie er das Kind, das auf dem Wege zur Welt war, retten könnte. Und nachdem der Sohn glücklich geboren war, ließ er einen Turm errichten. Und als der Sohn das Alter erreicht hatte, in welchem andere Kinder in die Schule kommen, ließ er ihn zusammen mit einigen Dienern und zusammen mit einem weisen Lehrer in den Turm bringen. Den einzigen Schlüssel aber steckte er ein und behielt ihn für sich. Am Turm aber war eine Glocke, und der Kaufmann sagte zu seinem Sohn: «Wenn dir irgend etwas fehlt oder wenn du krank bist, dann läute die Glocke, und ich werde kommen und nachschauen, wie es dir geht und was du brauchst.» So wuchs der Sohn im Turme auf, er erhielt einen guten Unterricht und las viel in Büchern. Als er so an die achtzehn Jahre alt war, las er auch in dem Heiligen Buch, und da fand er die Stelle, die da sagt: «Fürchtet euch vor nichts und vertraut
auf Gott. Seine Hand erreicht die Höhen des Himmels und die Tiefen des Meers.» Als er das gelesen hatte, dachte der Bursche: ‹Es ist richtig: warum und wovor soll ich mich fürchten, wenn ich auf Gott vertraue?› Und er ging hinauf und läutete die Glocke, und alsbald kam sein Vater, um nachzusehen, was der Sohn brauche. Und der Bursche zeigte seinem Vater die Stelle, die er in der Heiligen Schrift gefunden hatte, und er überzeugte seinen Vater, daß man seinem Geschick nicht entgehen könne und daß es das beste sei, sich Gott anzuvertrauen. Der Vater gab seufzend nach und stimmte zu, daß sein Sohn den Turm verließ und in seinem Hause, einem großen Palast, wohnte. Und der Sohn besuchte fleißig die Kirche, und er nahm jeden Abend an der Vesper teil und betete fleißig. An einem Nachmittag nun, als er in seinem Garten saß und in einem Buch las, vergaß der Bursche, daß es Zeit für die Vesper sei, und als er es bemerkte, war es schon zu spät. Zwar eilte er noch zur Kirche, aber als er ankam, verließen gerade die Leute die Kirche. Unter ihnen war aber ein anderer Bursche, der sagte laut: «Verflucht sei der, der mich überredet hat, in die Vesper zu gehen! Nun ist mir ein gutes Geschäft entgangen.» Da fragte ihn der Sohn des Kaufmanns: «Wieviel ist dir denn entgangen?» – «Ich hätte dreihundert Goldstücke gewinnen können», entgegnete jener andere. «Nun, ich hätte gern die gleiche Summe darum gegeben, wenn ich an dem Gottesdienst hätte teilnehmen können, denn mir bedeutet der Aufenthalt im Hause Gottes mehr als Geld.» – «Nun», sagte jener andere, «du kannst ja auch jetzt noch gehen, wenn du willst. Gib mir das Geld, das ich verloren habe, und ich laß dir die Kirche nochmals aufsperren.» Der Sohn des Kaufmanns gab ihm das Geld, und man sperrte ihm die Kirche wieder auf. Er sagte: «Geh zu meinem Vater und sag ihm, er solle heute nicht auf
mich warten. Ich will die Nacht über in der Kirche bleiben und komme erst morgen in der Frühe zurück.» Jener andere versprach, das zu tun. Und als er auf dem Weg zum Palast des Kaufmanns war, wurde er von Raubmördern überfallen, die ihn für den Sohn des Kaufmanns hielten. Sie erstachen ihn und nahmen ihm die dreihundert Goldstücke ab. Dann ließen sie ihn liegen und liefen davon. Als der Sohn nicht heimkam, schickte der Kaufmann Diener aus, um ihn zu suchen, und nahe beim Palast fanden sie jenen Burschen, den man umgebracht hatte. Und als der Kaufmann von weitem sah, daß seine Diener einen Toten zum Palast trugen, brach er in laute Klagen aus: «Nun hat sich sein Schicksal doch erfüllt. Nächste Woche aber wäre er einundzwanzig Jahre geworden.» Doch als die Diener mit dem Toten in den Palast eintraten, sah der Kaufmann, daß es sich nicht um seinen Sohn handelte, wenn auch um einen jungen Menschen, der ihm ähnlich sah. Der Kaufmann wartete die ganze Nacht in Angst und Furcht, aber am nächsten Morgen kam sein Sohn frisch und gesund heim. Da erzählte der Sohn alles, was sich zugetragen hatte und wie er jenem Burschen das Geld übergeben, selbst aber in die Kirche gegangen sei. Und der Kaufmann ließ den Toten bestatten. Dann veranstaltete er ein Freudenmahl für die Errettung des Sohnes, und er ließ alle Armen der Gegend einladen, und nachdem sie gegessen hatten, noch mit Geld beschenken. Zu seinem Sohne aber sagte er: «Du hast klug getan, daß du dich Gott anvertraut hast.» Das ist alles, was ich von dieser Geschichte weiß.
33 Der hilfreiche Bär
Diese Geschichte hat sich zugetragen, als wir alle noch nicht auf dieser Welt waren. Da lebte einmal ein König, der hatte eine Frau, die sehr kränklich war. Lange Zeit hatten sie keine Kinder, und als eines Tages die Königin schwanger wurde, da war die Freude ebenso groß wie die Sorge. Der König ließ deshalb den besten Arzt und die beste Hebamme des Landes rufen und sagte zu ihnen: «Die Gesundheit der Königin ist, wie ihr wißt, sehr zart. Seht zu, daß das Kind gut auf die Welt kommt und daß auch der Mutter nichts zustößt!» Aber Gott hat so seine eigenen Gedanken mit den Menschen. Das Kind kam gesund zur Welt, aber die Königin starb während der Geburt. Lange trauerte der König um seine Frau. Aber als die Weisen des Landes sagten: «Majestät, Ihr müßt wieder eine Frau nehmen! Wollt Ihr denn ewig allein bleiben? Was geschieht dann, wenn Euer Erbe, der noch jung an Jahren ist, stirbt wie seine Mutter?» Da gab der König schließlich nach, und er heiratete die Prinzessin eines benachbarten Reiches. Aber war die erste Königin lieb und gut gewesen, so war die zweite ein böses Weib. Vor allem haßte sie den Sohn des Königs, der Luigi hieß, weil sie dachte, daß er ihren eigenen Kindern einmal im Wege stehen und das Königreich nehmen würde. Es kam ein Tag, da mußte der König in den Krieg ziehen. Und hatte es Luigi schon vorher nicht leicht, so wurde nun sein Schicksal noch schlimmer. Nach einiger Zeit ging das Gerücht umher, der König sei im Kampfe gefallen. Da sah die
böse Königin ihre Zeit für gekommen, und sie rief ihren Leibjäger und befahl ihm: «Höre: ich habe einen Auftrag für dich. Erfüllst du ihn gut, so will ich dich reich belohnen. Sieh her: diesen Beutel voll Goldmünzen sollst du erhalten! Tust du aber nicht, was ich sage, so werde ich dich in den Kerker werfen und foltern lassen.» – «Majestät, was soll ich tun?» – «Du sollst mit Luigi auf die Jagd gehen. Wenn du im Wald bist, wirst du ihn töten und sagen, ein Bär habe ihn umgebracht. Zum Beweis wirst du die zerrissenen und blutigen Kleider von Luigi mitbringen. Den Leichnam magst du begraben, wo der Wald besonders dicht ist.» Der Jäger nahm also seine Waffen. Es war ihm nicht wohl, denn er liebte, wie alle am Hofe, den Luigi sehr. Aber was sollte er tun? Gegen eine Königin kann man nichts machen, denn sie erhält in allem recht, und hätte er auch die Wahrheit bekannt, es hätte ihm doch niemand geglaubt. So führte er also den Prinzen aus der Stadt hinaus, wanderte mit ihm über ein hohes Gebirge und durch eine Steinwüste. Endlich kamen sie in einen tiefen Wald. Dort machte der Jäger halt und sagte zu dem Kind, das etwa sieben Jahre alt sein mochte: «Luigi, höre, was ich dir zu sagen habe. Deine Stiefmutter hat mir befohlen, dich in den Wald zu führen und zu töten. Die blutigen Kleider soll ich dann heimbringen und sagen, ein Bär habe dich zerrissen.» Da fing Luigi an zu weinen. Aber der Jäger sagte: «Höre auf zu weinen und beunruhige dich nicht! Ich könnte dir nichts tun, aber ich weiß auch nicht, wie ich dich retten soll. Ich werde es also so machen: ich werde ein Tier erlegen, deine Kleider zerreißen und in das Blut tauchen. Du selbst mußt hier im Walde bleiben und darfst dich nicht zu den Menschen wagen, weil man dich sonst tötet. Etwas zu essen will ich dir hierlassen, und mein eigenes Hemd will ich ausziehen und dir geben, damit du nicht nackt laufen mußt.»
Gesagt, getan. Der Jäger schoß einen Hasen, zerriß die Kleider des Prinzen, tauchte sie in das Blut und steckte alles in einen Sack. Dann zog er sein eigenes Hemd aus, gab Luigi alles, was er an Essen dabeihatte, und machte sich auf den Heimweg. Luigi blieb im Wald zurück. Als es Abend wurde, begann er zu frieren und zu zittern, denn er hatte auch Angst vor Wölfen und anderen wilden Tieren, die kommen könnten und ihn fressen. Er begann zu weinen, aber da hörte er hinter einem Baum eine Stimme: «Luigi, fürchte dich nicht! Ich werde dir helfen.» Als Luigi hinter den Baum schaute, sah er einen großen braunen Bären, der auf ihn zukam. Der Bär sah den Buben mitleidig an und sagte: «Armer Luigi, sei nicht traurig! So wie dir geht es vielen Waisenkindern. Aber komm mit mir, denn ich will gut für dich sorgen.» Er nahm das Kind bei der Hand und führte es in eine Höhle, wo er wohnte. Und dort wuchs Luigi auf, und der Bär sorgte für ihn, als wäre es sein eigener Sohn. Er machte ihm aus den Fellen von Tieren Kleider, kochte ihm genug zu essen und brachte ihm Früchte. In der Zwischenzeit war das Königreich, wo die böse Stiefmutter von Luigi regierte, in große Bedrängnis gekommen. Mauren waren an der Küste gelandet und ins Land vorgedrungen. Sie verbrannten die Häuser, zerstörten die Kirchen und schleppten die Menschen weg in die Gefangenschaft nach Afrika. Und da kein richtiger Feldherr da war, setzten sich die Männer nicht zur Wehr, sondern sie flohen und ließen ihre Hauptstadt im Stich. Endlich eroberten die Mauren die Stadt und nahmen die böse Königin gefangen. Der König der Mauren aber, dem die weiße Frau gefiel, fragte sie: «Willst du mich heiraten, oder sollen dich meine Soldaten
auf den Sklavenmarkt in Afrika bringen und dort verkaufen?» – «Ich will dich heiraten.» War es den Menschen jenes armen Landes schon vorher schlecht gegangen, so ging es ihnen nun noch schlechter. Das Gerücht von der Not des Landes erreichte sogar den Bären, der für Luigi sorgte. Und eines Tages sagte er: «Luigi, deinem Volk geht es schlecht.» – «Ja, was ist da zu machen?» – «Hör mir nur zu: erinnerst du dich noch, wie es im Palast des Königs aussieht?» – «Ja, ich erinnere mich noch recht gut.» – «Das ist ausgezeichnet. Jetzt paß auf: ich werde dich und mich in zwei Falken verwandeln. Dann werden wir in den Palast des Königs fliegen. Wir werden warten, bis es finster ist, und dann werden wir durchs Fenster in die königliche Schlafkammer fliegen. Dort werde ich uns in Bären verwandeln. Ich werde den Maurenkönig nehmen, du deine Stiefmutter, und mit ihnen werden wir in den Wald zurücklaufen. Hast du alles verstanden?» – «Ja.» Der Bär verwandelte sich und Luigi in Falken, und dann flogen sie übers Gebirge in die Stadt, setzten sich auf dem Palast aufs Dach und warteten, bis die Nacht kam. Als es ganz finster geworden war und als alle maurischen Soldaten im Palast schliefen, flogen der Bär und Luigi durch das Fenster in die königliche Schlafkammer. Dort verwandelten sie sich in zwei Bären. Der alte Bär nahm den maurischen König, der junge Bär ergriff die falsche Königin, und mit ihnen liefen sie dann aus dem Palast hinaus, aus der Stadt hinaus, über das Gebirge und durch die Wüste, bis sie in den tiefen Wald kamen. Dort sperrte der Bär zwei Höhlen auf, warf in die eine Höhle den maurischen König und in die andere die Königin hinein, dann verschloß er beide Höhlen wieder sorgfältig und steckte den Schlüssel ein. Luigi, der nun wieder in menschlicher Gestalt war, fragte seinen Freund: «Was wird jetzt weiter geschehen?» Der Bär
sagte: «Nun sollst du schöne Kleider anziehen, in die Stadt wandern und dein Erbe antreten. Wenn du aber in Not kommst, so nimm diesen kleinen Knochen. Man kann auf ihm blasen. Und wenn du darauf pfeifst, dann werde ich zu dir eilen und dir helfen.» Dann öffnete er eine Truhe, in der er silberne und goldene Kleider aufbewahrte, und zog sie dem Luigi an. Schließlich gab er ihm noch eine Tasche mit Essen und eine Flasche mit Wein mit, und dann verabschiedeten sie sich. Luigi wanderte einige Wochen, bis er in der Hauptstadt ankam. Dort gab man gerade ein großes Fest, denn der alte König, den man schon tot geglaubt hatte, war aus dem Krieg heimgekehrt. Als Luigi durch ein Fenster des Palastes sah, erblickte er neben dem König einen Mann mit einem grauen Bart. «Wer ist der dort?» fragte er einen Soldaten, der neben ihm stand. «Das ist derjenige, der den maurischen König und die falsche Königin getötet hat. Der alte König will ihn nun zum Ersten Minister machen, und wenn er, der König, einmal stirbt, dann soll der Graubart König werden, weil der König keinen Erben hat.» Da ging Luigi hinein und ließ sich vor den König führen. Dort verneigte er sich und sprach: «Lieber Vater, nicht dieser, sondern ich habe das Land vom maurischen König befreit.» Da fragte der König: «Wer bist du, der du dich erdreistest, meinen Minister einen Lügner zu nennen?» – «Ich bin Luigi, Euer Sohn.» – «Nun erkenne ich, daß du ein Betrüger bist, denn mein Sohn wurde von wilden Tieren zerrissen. Mag die Königin auch böse gewesen sein, aber der Beweis ist hier: die blutigen Kleider Luigis!» – «Nein, ich lebe trotzdem.» – «Aber nicht mehr lange!» schrie der König ergrimmt. «Wachen, ergreift diesen Lügner und Betrüger, und werft ihn in den Kerker! Dieses Land ist giftig geworden durch lauter Verrat, aber ich werde es mit Feuer und Schwert reinigen.»
Da wurde Luigi gepackt, und ehe er noch etwas sagen konnte, wurde er unter dem höhnischen Grinsen des Graubarts abgeführt und in den Kerker gesperrt. Der Graubart aber sagte: «Majestät, ich danke Euch, daß Ihr unser Land von den Betrügern befreit. Man kann gar nicht streng genug gegen dieses Gesindel vorgehen. Man sollte jeden von ihnen an den Galgen hängen.» Luigi aber saß betrübt im Kerker, da fiel ihm das Knochenpfeifchen ein. Er zog es aus der Tasche und blies hinein. Und es dauerte nicht lange, da steckte der Bär seinen Kopf durchs Gitter. «Ach, Luigi! Ich hätte nie gedacht, daß du hier bist.» – «Lieber Freund Bär, mein eigener Vater hat mich hierherbringen lassen. Er hat mich nicht erkannt. Und ein Graubart ist Minister geworden und behauptet, er hätte das Land von dem Maurenkönig und von der bösen Königin befreit. Mich aber hat man als Lügner und Betrüger bezeichnet, und man will mich aufhängen.» – «Luigi, habe keine Angst. Morgen wird man dich vor den König führen. Dann frage ihn, wo denn die Leichen des Maurenkönigs und der bösen Königin seien. Und wenn man sie dem König nicht zeigen kann, dann sage, dein Freund würde die beiden in drei Tagen hierherbringen!» Am nächsten Tag bat Luigi, vor den König geführt zu werden. Und da der König eigentlich ein gutes Herz hatte, er war nur durch den Krieg etwas rauhe Sitten gewöhnt, ließ er ihn heraufkommen. «Majestät, erlaubt Ihr mir eine Frage?» – «Ja, frage!» – «So frage ich den Herrn Minister: Wo sind denn die Leichen des Maurenkönigs und der bösen Königin?» Da drehte und wand sich der Graubart und sagte: «Das weiß ich nicht mehr so genau.» Der König wurde dadurch unsicher und sagte zu dem Graubart «Wie? Du mußt doch wissen, wo die Leichen derer sind, die du selbst umgebracht hast?» – «Ach, Majestät, man
geht einmal hierhin und einmal dorthin. Ich muß erst nachdenken und suchen.» – «Und du, weißt du, wohin die Leichen der beiden gekommen sind?» fragte der König den Luigi. Und der antwortete: «Majestät, gebt mir drei Tage Zeit, dann will ich Euch den Maurenkönig und die falsche Königin übergeben.» - «Gut, es sei! Diener, nehmt diesem hier die Ketten ab! Aber es soll immer jemand bei ihm bleiben, damit er nicht davonläuft. Und auch beim Minister soll immer jemand sein. Dann werden wir sehen. Ich gebe euch drei Tage Zeit.» Am Morgen des dritten Tages wollte der Graubart fliehen, aber die Wachen ergriffen ihn und brachten ihn gebunden vor den König. «Einen Schwindler haben wir schon», sagte der König, «nun wollen wir sehen, ob der Bursche sein Wort hält.» Luigi aber sagte zum Vater: «Majestät, schaut einmal zum Fenster hinaus!» Da ging der König ans Fenster, und was sah er? Ein Bär, der führte an einer Kette den maurischen König und die böse Königin hinter sich her. «Das ist einmal etwas Neues!» rief der König aus. «Sonst führen Menschen die Bären an der Kette, hier führt ein Bär die Menschen.» Und als der Bär die beiden in den Saal vor den König geführt hatte, sagte der König: «Bursche: einmal hast du die Wahrheit gesagt. Aber du hast auch behauptet, du seist mein Sohn Luigi. Beweise es!» Da sagte der Bär: «Herr König, laßt doch den Leibjäger rufen!» Der König befahl, dieser solle hereinkommen. «Nun, wie steht’s?» sagte der König. «Hat ein Bär meinen Sohn zerrissen?» – «Nein, Majestät. Ich habe einen Hasen getötet und mit dem Blut die Kleider Eures Sohnes beschmiert.» – «Und warum hast du das getan, Schurke?» – «Herr, weil die Königin mir befohlen hatte, Luigi umzubringen und zu sagen, wilde Tiere hätten ihn zerrissen.» – «Vater», sagte Luigi, «er hat mir das Leben gerettet und sein
eigenes Hemd gelassen. Dann ist dieser Bär gekommen und hat mich bei sich aufgenommen. Und er und ich haben den Maurenkönig und die Königin entführt und in Höhlen gesperrt.» – «So ist es», sagte der Bär. Da befahl der König, man solle die drei Bösewichter, den Graubart, den Maurenkönig und die Königin, aufhängen. Seinen Sohn aber umarmte er, und den Bären ernannte er zum Minister; aber der wollte nicht im Palast bleiben, sondern verabschiedete sich von Luigi und sagte: «Wenn du einmal heiratest, werde ich dir ein Hochzeitsgeschenk bringen. Pfeif mir, und ich werde kommen.» – «Da sollst du nicht lange warten», sagte Luigi, der auf dem Weg durch die Stadt schon ein hübsches Mädchen gesehen hatte, das ihm gefiel. Nun möchtet ihr wohl gern wissen, wen Luigi geheiratet hat und was ihm der Bär als Hochzeitsgeschenk brachte? Ja? Aber ich sage es nicht. Vielleicht erzähle ich es ein anderes Mal.
34 Die Königin des Meeres
Es waren einmal zwei Schwestern, eine reich, die andere arm. Die Arme hatte viele Kinder, und so war sie gezwungen, im Hause der reichen Schwester zu dienen. Eines Tages, als sie gerade Brotteig machte, um Brot zu backen, kam eine ihrer Töchter und zog sie an der Schürze. «Mama, gib mir ein wenig Teig, damit ich mir einen Kuchen machen kann.» Um sie loszuwerden, gab ihr die Mutter eine kleine Portion Teig und sagte: «Geh, geh und back dir das und iß es am Ende der Welt!» Die Tochter lief sofort mit dem Teig davon. Aber als sie sich an die Worte ihrer Mutter erinnerte, wagte sie nicht, ihn daheim zu backen. So fing sie an, den Strand entlangzuwandern, und sie suchte einen Ort am Ende der Welt. Sie wanderte und wanderte, und endlich kam sie an einem einsamen Ort an, wo sie niemanden fand und auch kein Zeichen sah, daß dort irgendjemand lebe. Da sprach sie bei sich: «Ist hier endlich das Ende der Welt?» Da kam plötzlich aus dem Meer heraus eine schöne Dame, die von anderen hübschen Mädchen begleitet war: Es war die Königin des Meeres mit ihrem Hofstaat von Sirenen. «Was suchst du, Mädchen?» sagte die Königin. «Herrin, könnt Ihr mir diesen Teig backen lassen, denn ich habe großen Hunger, und meine Mutter hat mir gesagt, daß ich ihn nur dort essen darf, wo das Ende der Welt ist.»
Da kamen auf ein Zeichen der Königin die Sirenen und machten ein Feuer. Und in dem Feuer buken sie den Teig, und es entstand eine schönes, knuspriges und duftendes Brot. «Hier ist dein Brot», sagte die Königin des Meeres, «iß es und sättige dich. Erinnere dich in Zukunft immer, wenn du in Gefahr bist, an mich, und ich werde kommen, um dir in allem beizustehen.» Das Mädchen bedankte sich und ging wieder heim. Aber als es durch einen Wald ging, kam eine Räuberbande, nahm sie gefangen und band sie an einen Baum. Sie stachen ihr die Augen aus und ließen sie zurück. Gegen Abend wollte es das Glück so, daß dort ein Königssohn vorbeikam. Als er das Mädchen sah, befreite er es, setzte es auf sein Pferd und führte es in den königlichen Palast. «Armes Mädchen», sagte der Prinz, «wer hat dich in diesen Zustand versetzt?» – «Die Räuber, mein Prinz. Ich danke Euch, daß Ihr mich vom Tode errettet habt; aber wie bin ich traurig, daß ich Euch nicht sehen kann! Ich habe keine Augen mehr!» Da erinnerte sie sich plötzlich des Versprechens, das ihr die Königin des Meeres gemacht hatte, und sie rief aus: «Meine schöne Königin des Meeres, Ihr habt mir versprochen, mir in jeder Lage zu helfen. Nun bin ich ohne meine Augen. Gebt mir mein Augenlicht, damit ich das Gesicht des Königssohns sehen kann!» Unter diesen Bitten schlief sie ein, und als am nächsten Tag der Königssohn kam, um sie zu besuchen, sah er zu seinem Staunen, daß das Mädchen seine Augen wieder hatte. Und es besaß wunderbar schöne Augen! Die Königin des Meeres hatte nämlich vom Grunde des Meeres zwei leuchtende Sterne geholt und sie dem Mädchen eingesetzt.
Es waren so schöne Augen, daß der Königssohn sich sofort verliebte. Er heiratete das arme Mädchen und lebte glücklich zusammen mit ihr und ihrer Familie.
35 Der Orco als Pate
Nun erzähl ich eine Geschichte, die ist sehr seltsam. Wer sie nicht hören will, der soll hinausgehen, und wer sie hören will, der soll hereinkommen. Wem sie nicht gefällt, der soll zur Strafe hundert Lire zahlen, und wem sie gefällt, der schuldet mir ein Glas Wein. Also: paßt gut auf! Ich erzähle nichts zweimal. In einem Land waren einmal ein armer Mann und eine arme Frau. Sie besaßen nichts als eine kleine Hütte und eine Ziege. Als die Frau schwanger wurde, sahen sie sich nach einem Paten um. Nun, die Nachbarn rissen sich nicht gerade darum, bei ihnen Paten zu werden. Aber es gab da einen Mann und eine Frau, die sagten: «Wird es ein Sohn, so soll der Mann, wird es eine Tochter, so soll die Frau die Patin machen.» Aber, o Schreck! Die Frau brachte Zwillinge, zwei Mädchen, zur Welt. Da sagte die Nachbarin: «Nein, davon war nicht die Rede. Das ist mir zuviel! Sucht euch jemand anderen zum Paten.» Suche, wo du magst, du wirst nicht leicht einen Paten für Zwillinge finden. Oder – he, ihr Herrschaften! – ist jemand unter euch, der Pate von Zwillingen ist oder einen solchen kennt? Also weiter! Pate findet sich keiner, und am andern Tag soll die Taufe sein. Da klopft es abends an die Türe. Der Mann geht hin und schaut hinaus. Draußen steht im Finstern ein Mann, man kann ihn nicht deutlich sehen. «Was wollt Ihr?» fragt der Vater. «Ich habe gehört, Ihr sucht einen Paten.» – «So ist es. Aber ich sage
Euch gleich: es sind zwei Zwillingsmädchen.» – «Das macht mir nichts aus», sagt der draußen. «Gut, so kommt herein und schaut Euch die Mädchen an!» meint der Vater. Da kommt ein großer Mann mit einem langen schwarzen Bart herein. Er beugt sich über die Wiege und sagt: «Allerliebst!» Und dann richtet er sich wieder auf, zieht einen Beutel heraus. «Hier ist Taufgeld. Aber sagt dem Pfarrer: die Taufe kann erst morgen abend sein. Untertags habe ich zu tun. Gebt ihm ein gutes Taufgeld, sonst wird er ärgerlich.» Der Vater macht alles so, wie es der Fremde gesagt hat. Und am nächsten Abend ist der wieder da. ‹Das muß ein reicher Herr sein›, so denkt der Vater, und er hat es auch seiner Frau gesagt; denn der Beutel war voll Gold, und für die Familie sind die Sorgen für einige Zeit fern. Der Fremde klopft zur vereinbarten Stunde am Abend, und wie der Vater aufmacht, sieht er: der Fremde hat zwei Frauen mitgebracht. Und die Frauen nehmen die beiden Mädchen auf den Arm, und los geht’s. Nach der Taufe gibt es noch ein Nachtmahl. Der Vater hat auch den Herrn Pfarrer eingeladen, aber der traut sich im Finstern nicht mehr vor das Dorf hinaus. Aber der Fremde und die beiden Frauen essen mit. Und als sie aufstehen, um zu gehen, bedankt sich der Vater. Aber der Fremde sagt: «Merke dir: wenn die Mädchen einmal Hilfe brauchen, so sollen sie nur bis zum Fluß gehen. Und das Mädchen, das Maria heißt, soll einfach ‹Maria!› rufen; und das Mädchen, das Anna heißt, soll ‹Anna!› rufen. Dann wird jemand kommen und helfen.» Nun, ich will mich nicht lange aufhalten. Die Mädchen werden groß, und je größer, um so schöner. Die Maria möchte gern heiraten, die Anna sagt, ihr hätte es damit keine Eile. Aber es finden sich keine Burschen, die Maria heiraten wollen, weil die Eltern arm sind.
Doch der Vater hat eines Abends den Mädchen von ihrem Paten und von den beiden Frauen erzählt, und am nächsten Tag geht Maria hinaus an den Fluß und ruft: «Maria!» Da kommt, als hätte sie nur darauf gewartet, eine Frau und sagt: «Ich bin Maria, du bist Maria. Was will Maria von Maria?» – «Ach, ich möchte gern heiraten, aber es findet sich niemand.» – «Gut, ich werde dafür sorgen, daß sich morgen jemand meldet. Aber, Maria, Heiraten ist schön, was nachher kommt, ist manchmal bitter.» Maria geht heim, und am nächsten Tag reitet der Sohn des Königs an der Hütte vorbei, wo Maria und Anna wohnen. Er bittet um etwas zu trinken, und als Maria ihm etwas bringt, verliebt er sich in sie. Das Weitere entwickelt sich, wie es soll, und drei Wochen später heiratet der Königssohn Maria, sehr zum Ärger der alten Königin, wie sich denken läßt. Der wäre eine Prinzessin lieber gewesen. Maria und der Königssohn sind so lange glücklich, bis er in den Krieg ziehen muß. Dann fängt das Elend an, denn nun regiert die Königin. Und die Königin ist ein böses Weib; sie überlegt: ‹Wie kann ich diese Maria loswerden?› Und sie besticht einen jungen Ritter, und der klettert in der Nacht auf einer Leiter zum Schlafzimmerfenster der Maria hinauf und steigt in ihre Schlafkammer ein. Darauf hat die Königin nur gewartet, sie stürzt aus dem Nebenzimmer herein, schreit nach Dienern, läßt den jungen Ritter entkommen und die Maria in den Kerker werfen. Am nächsten Tag stellt man Maria vor Gericht. Sie beschwört zwar ihre Unschuld, aber was nützt das? Die Königin hat die Richter bestochen, und sie verurteilen sie zum Tode. In drei Tagen soll sie geköpft werden. Die Schreckensnachricht dringt auch bis zu Anna und den Eltern. Da läuft die Anna sogleich an den Fluß und ruft: «Anna!» Und sofort erscheint eine Frau und sagt: «Ich bin
Anna, du bist Anna. Was will Anna von Anna?» – «Meine Schwester ist unschuldig zum Tode verurteilt worden und soll enthauptet werden.» – «Hier, nimm diese goldene Feile und diesen silbernen Faden. Geh in der Nacht vor den Turm, wo Maria eingesperrt ist. Sag zur Feile nur: ‹Gitter auf!› und zum Faden nur: ‹Faden los!› und Maria wird herausklettern können. Dann komm mit ihr hierher! Das andere werdet ihr dann sehen.» Anna wartet also, bis es dunkel geworden ist, dann läuft sie zum Schloß, wo Maria im Kerker liegt. Und wie sie sagt: «Gitter auf!», da gleitet die Feile ganz von selber die Mauer hinauf und zerschneidet das Gitter wie Käse. Und als sie sagt: «Faden los!», da rollt sich der Faden ab, klettert die Mauer hinauf, wird immer dicker und verschwindet durch das Fenster im Kerker. Nun brauchte Maria nur noch herunterzusteigen. Am Fluß wartet aber nicht nur die Frau von Anna, sondern auch die Frau von Maria. Und die beiden Feen, denn das waren sie, führen die Zwillinge durch einen tiefen, blauen Wald. Am Morgen kommen sie zu einem Häuschen. «Hier wohne ich», sagt die eine Fee und geht hinein. Da sind auch die andern hineingegangen, und sie haben gegessen und getrunken, und am Abend haben sie sich ins Bett gelegt. Am nächsten Tag hat die Fee, welche Anna hieß, sich verabschiedet, und die Zwillinge sind mit der Fee Maria weitergewandert. Und sie kamen zu einem Wald, der war ganz aus Silber. Durch den sind sie hindurchgegangen, und da kamen sie wieder zu einem Häuschen. Dort hat die Fee Maria gewohnt. Sie sind hineingegangen, haben gegessen, getrunken und geschlafen, und am andern Tag hat die Fee gesagt: «Nun müßt ihr allein weitergehen. Ihr werdet zu einem Wald kommen, der ist ganz aus Gold. Geht durch ihn hindurch, dann kommt ihr zu einem großen Palast, in dem wohnt der Orco. Ihr
braucht aber keine Angst vor ihm zu haben, denn er ist ja euer Pate, und so wird er euch nichts tun.» Die Zwillinge sind gewandert, haben den goldenen Wald gesehen und sind durch ihn hindurchgegangen. Und am andern Ende liegt ein herrlicher Palast! Maria ist mit Anna mutig in den Palast hineingegangen. In ihm wohnt der Orco ganz allein. Nur Tiere gibt es dort: Bären, Füchse, Rehe und Hirsche, die versorgen den Haushalt. Aber nun sind ja Maria und Anna da, und die lassen es sich nicht nehmen und machen die Hausarbeiten. Der Orco ist sehr zufrieden. Nach einigen Monaten bringt Maria einen Sohn zur Welt, der Königssohn hat sie als Schwangere verlassen. Der Orco sorgt für alles, auch einen Pater hat er geholt für die Taufe. Nur eines fehlt: es gibt keine Milch im Palast, denn der Orco hat weder Kühe noch Ziegen, noch Schafe. Aber er weiß sich zu helfen. Es gibt eine Hirschkuh, und die melkt der Orco selber jeden Morgen, denn sonst läßt sie niemanden an sich heran. Wie das Kind zwei Jahre alt ist, ruft der Orco Maria und Anna und sagt: «So, jetzt könnt ihr wieder heimkehren. Die böse Königin ist tot. Der Königssohn aber ist wieder in seinem Schloß. Hier habt ihr einen Brief des Ritters, der damals versucht hat, zu Maria ins Schlafzimmer zu steigen. Er gesteht darin, daß die Königin ihn angestiftet hat und daß Maria unschuldig ist. Der Ritter ist ins Heilige Land gezogen.» Am nächsten Tag, als sich Maria und Anna verabschieden, sagt der Orco: «Wenn ihr durch den Wald aus Gold und durch den Wald aus Silber kommt, darf sich jede von euch einen Zweig abbrechen, damit ihr nicht mehr als Arme in die Residenz des Königs geht.» Maria und Anna haben es so gemacht. Und der Königssohn hat sich sehr gefreut, daß er seine Frau wieder bei sich hat und daß sie einen Erben mitgebracht hat. Und Anna hat ihre
Zweige für die Aussteuer verwendet. Maria aber hat den goldenen Zweig und den silbernen Zweig nicht gebraucht, und sie hat das Geld den Armen geschenkt.
36 Der böse Onkel
Es waren einmal zwei Brüder: ein Priester und ein Verheirateter. Dem Verheirateten war seine Frau gestorben, und sie hatte ihm zwei Kinder hinterlassen, einen Sohn und eine Tochter. Diese Tochter war neunzehn Jahre alt und nie aus dem Haus gekommen, nicht einmal, um in die Kirche zu gehen. Eines Tages ging der Vater mit seinem Sohn auf den Markt. Sein Bruder, der Priester, schickte ihm einen Brief, in dem er schrieb, seine Tochter habe viele junge Burschen bei sich aufgenommen und mit ihnen gescherzt. Da schickte der Vater den Sohn heim, damit er seine Schwester in ein Gebirge führe. Dieser machte es so, führte sie ins Gebirge und sagte zu ihr: «Ich will dir nichts Böses, aber der Vater hat mir gesagt, daß ich dich töten soll und daß ich außerdem dir die Zunge herausschneiden und das blutige Hemd wegnehmen soll, um es ihm zu bringen.» – «Du willst mich töten? Mache es, wie du willst, ich werde keine Hand rühren, denn ich habe nichts Böses getan.» – «Der Onkel hat gesagt, daß du es mit Burschen getrieben hast.» – «Der Onkel sagt so, weil ich nicht mit ihm habe scherzen wollen. Wenn du mir nicht glaubst, zeige ich dir meinen Leib so, wie er ist.» Und sie entblößte sich. «Siehst du? Jetzt glaubst du mir vielleicht, welche Leiden ich ausgehalten habe.» – «Ja, aber was soll ich machen, um dich nicht zu töten?» – «Du kannst nichts anderes machen, als die
Hündin zu töten und ihr die Zunge herauszuschneiden. Mein Hemd gebe ich dir dann, damit du es davontragen kannst.» «Ich werde es so machen, wie du es mir sagst.» Er tötete also die Hündin und schnitt ihr die Zunge heraus. Das Mädchen aber blieb in jenem Gebirge zurück. Sie ging bis zu einer Buche und richtete sich dort für die Nacht ein. Am nächsten Morgen sah sie vierzehn Männer, die einen Schlüssel herauszogen, eine Grotte aufsperrten und in sie eintraten. Am nächsten Tag verließen die Männer die Grotte wieder und versteckten den Schlüssel unter einem Stein. Das Mädchen nahm den Schlüssel heraus und öffnete damit die Grotte und ging hinein. Sie verteilte das Stroh für die Pferde, bereitete das Licht vor, damit die Männer bei ihrer Rückkehr sehen konnten, und machte die Betten. Dann kochte sie das Essen und legte die Teller auf. Als am Abend die Männer kamen, fanden sie alles schon vorbereitet. «Wer hat hier alles hergerichtet?» Der Hauptmann von ihnen stellte alles in der Höhle auf den Kopf, um denjenigen zu suchen. Er fand das Mädchen unter einem großen Korb und fragte sie: «Was machst du hier?» – «Mein Schicksal hat mich hierhergeführt. Jetzt, wenn ihr wollt, dann tötet mich!» Jener Hauptmann aber sagte zu seinen Gefährten: «Liebt sie mehr wie eine Schwester!» So machten sie es, und dann gingen sie wieder ihren Geschäften nach, nachdem sie ihr noch gesagt hatten: «Mach deine Sachen, wie du willst.» Es gingen fünf Tage vorbei und da kam eine Frau und sah unser Mädchen in der Sonne sitzen. Und das Mädchen sagte zu der Frau: «Geh fort von hier, denn sonst kommen meine Brüder und töten dich.» Jene Frau aber ging weg und suchte den Priester auf und sagte zu ihm: «Eure Nichte lebt noch.» Der Priester gab ihr einen Ring und sagte zu ihr: «Los, bring ihr diesen Ring, und
ich will dir dafür geben, soviel du willst. Aber reise nicht von dort ab, bevor sie sich nicht den Ring an den Finger gesteckt hat.» Da ging jene Frau wieder zurück zu dem Mädchen und sagte: «Was machst du hier an der Sonne?» – «Ich sitze hier, um mich auszuruhen.» – «Laß mich dir einen Ring schenken.» Nachdem sich das Mädchen den Ring an den Finger gesteckt hatte, fiel es tot um. Am Abend kehrten die Brüder nach Hause zurück und machten sich auf die Suche nach dem Mädchen. Sie fanden sie tot am Boden liegen, hoben sie auf und trugen sie hinein. Sie begannen ihr alles auszuziehen, was sie anhatte, und sagten: «Nehmt ihr alles weg!» So zogen sie ihr auch den Ring vom Finger. Da stand das Mädchen auf und sagte: «Was für einen guten Schlaf habe ich gehabt!» Sie sagten zu ihr: «Das war kein Schlaf! Geh nicht mehr aus der Höhle heraus!» Fünf Tage lang blieb sie in der Höhle, dann ging sie wieder hinaus. Da kam wieder jene Frau und brachte ein Paar Pantoffeln und steckte ihr diese an die Füße. Da fiel sie wieder tot um. Am Abend kehrten die Brüder zurück und begannen zu weinen. Nachdem sie geweint hatten, begann einer von ihnen, ihr alles auszuziehen, was sie an Kleidung anhatte. Dabei zog er ihr auch die Pantoffeln aus. Das Mädchen setzte sich auf und sagte: «Was für einen schönen Schlaf ich gehabt habe!» Jene sagten: «Es war kein Schlaf! Wir haben dir gesagt, du sollst nicht hinausgehen!» Jene Frau aber kehrte wieder zu dem Priester zurück und sagte ihm: «Eure Nichte ist nicht tot.» – «Geh noch einmal hin und bring ihr diese Kette und hänge sie ihr um den Hals!» Die Frau ging zu der Höhle, traf das Mädchen und hängte ihr die Kette um den Hals. Da fiel das Mädchen tot um.
Am Abend kamen die Brüder und fanden das Mädchen tot. Sie hoben es auf, legten es in einen Sarg und beerdigten es. Es verging viel Zeit. Eines Tages ging dort ein Königssohn auf die Jagd, und seine Hunde fanden den Sarg und gruben ihn aus. Da befahl der Königssohn, daß vier Leute den Sarg nähmen und ihn nach Hause trügen. Daheim ließ er den Sarg dorthin bringen, wo sein Bett stand, und dort ließ er ihn niederstellen. Zu seiner Mutter aber sagte er: «Öffnet nicht mein Schlafzimmer!» Die Mutter antwortete: «Wieso? Sonst hast du mich immer in dein Schlafzimmer gehen lassen; jetzt soll ich nicht mehr hinein?» Kaum war ihr Sohn fortgegangen, da öffnete die Königin das Schlafzimmer und fand darin einen Sarg und in dem Sarg eine Frau. Sie schloß den Sarg und ging weg. Dabei vergaß sie aber, die Türe abzuschließen. Nun gab es dort ein junges Mädchen, das ging auch in das Schlafzimmer hinein, fand den Sarg, öffnete ihn und sah unser Mädchen. Sie begann mit ihm zu scherzen und nahm ihr die Kette weg. Da setzte sich die junge Frau auf und sagte: «Was für einen schönen Schlaf habe ich gehabt!» Da lief das junge Mädchen davon und sagte zur Mutter des Königs: «In dem Sarg ist eine lebendige junge Frau.» – «Ich gehe sogleich, um die Türe zu schließen, damit mein Sohn nicht hineingeht.» Ein wenig später kehrte der Königssohn zurück, fand die junge Frau lebend und sagte zu ihr: «Wie bist du denn hierhergekommen?» – «Ich weiß es nicht.» – «Du mußt meine Frau sein.» Er nahm sie und sie heirateten. Sie riefen alle Leute zusammen, auch den Vater des Mädchens und ihre ganze Familie. Als sie beim Essen versammelt waren, sagte der Königssohn: «Jetzt soll jeder eine Geschichte erzählen, die er weiß.» Und zu seiner Frau: «Erzähl erst du die deine!» Und die Frau erzählte ihre Geschichte.
Dann sagte er zum Priester: «Jetzt erzähl du deine Geschichte!» – «Ich hab nichts zu erzählen.» Da fragte der Königssohn: «Erkennst du, wer hier neben mir sitzt?» – «Nein, ich kenne sie nicht.» Und er fragte den Vater und den Bruder: «Erkennst du sie?» – «Ja!» – «Geht und macht einen großen Backofen! Dann werft den Priester hinein!» Sie machten es so, und der Priester starb im Feuer. Die anderen blieben alle im Haus des Königs, und wir hier sind leer ausgegangen.
SIZILIEN
37 Cola Pesce
Es war einmal in Messina eine Mutter, die hatte einen Sohn, der hieß Cola. Vom frühen Morgen bis zum Abend blieb er immer im Meer und badete. Die Mutter rief ihm oft vom Ufer aus zu: «Cola, Cola, komme ans Land! Was machst du? Du bist doch nicht etwa ein Fisch!» Er aber schwamm immer weiter hinaus. Die arme Mutter litt große Ängste und begann fürchterlich zu schreien. Eines Tages brachte Cola seine Mutter so zum Schreien, daß die Arme, als sie sah, daß sie ihn mit Rufen nicht mehr erreichen könne, ihm einen wilden Fluch nachschickte: «Cola, daß du doch ein Fisch würdest!» Man sieht, daß an jenem Tage die Himmelspforten offen waren, denn der Fluch der Mutter erfüllte sich sofort: Cola wurde halb Mann, halb Fisch. An den Händen wuchsen ihm Schwimmhäute wie einer Ente, und sein Mund wurde zu einem Froschmaul. Cola kehrte nun nicht mehr an Land zurück, und die Mutter wurde von Verzweiflung ergriffen und starb über kurze Zeit. Das Gerücht, daß im Meer von Messina ein Wesen, halb Mensch, halb Fisch, sei, gelangte bis zum König. Der König befahl allen Schiffern, wenn einer von ihnen Cola Pesce sähe, so möge er ihm sagen, der König wolle ihn sehen. Eines Tages fuhr ein Schiffer auf dem hohen Meer und sah Cola Pesce in der Nähe vorbeischwimmen. «Cola», rief er, «der König von Messina will mit dir sprechen!» Und Cola Pesce schwamm sofort zum Königspalast. Der König empfing
ihn huldvoll. «Cola Pesce», sprach er, «da du ein so guter Schwimmer bist, sollst du mir um ganz Sizilien herumschwimmen und mir kundtun, wo das Meer am tiefsten ist und was man dort sieht!» Cola Pesce gehorchte und begann, um Sizilien herumzuschwimmen. Bereits nach kurzer Zeit war er zurückgekehrt. Er erzählte, er habe auf dem Meeresgrund Berge, Täler, Höhlen und Fische aller Art gesehen, aber er habe nur Furcht gehabt, als er das Cap Faro umschwommen habe, denn dort sei es ihm nicht gelungen, den Meeresgrund zu finden. «Und dann will ich noch wissen: Worauf ist Messina gebaut?» befahl der König. «Du mußt hinuntertauchen und sehen, worauf es ruht!» Cola tauchte und blieb einen ganzen Tag lang unter Wasser. Dann kehrte er an die Oberfläche zurück. «Messina ist auf einem Felsen erbaut, und dieser Felsen ruht auf drei Säulen: eine ist heil, eine gespalten und eine geborsten.» O Messina, o Messina, Eines Tages liegst du in Trümmern. Der König war sehr verwundert und ließ Cola Pesce nach Neapel kommen, damit er dort den Grund des Vulkans erforsche. Cola stieg hinab und erzählte dann, er habe erst kaltes Wasser vorgefunden, dann warmes und an einigen Stellen sogar Quellen mit Süßwasser. Der König wollte das nicht glauben, aber da ließ sich Cola zwei Flaschen bringen, mit denen tauchte er und brachte die eine mit warmem Wasser, die andere mit Süßwasser zurück. Nun ließ dem König der Gedanke, daß das Meer bei Cap Faro ohne Grund sein solle, keine Ruhe. Er ließ Cola Pesce wieder nach Messina zurückrufen und befahl ihm: «Cola, du
mußt mir sagen, wie tief das Meer beim Cap Faro ist!» Cola glitt in die Tiefe und blieb zwei Tage unten, und als er wieder auftauchte, sagte er: «Ich habe den Meeresgrund nicht gesehen, denn dort ist eine Rauchsäule, die unter einem Felsen hervorquillt und das Wasser trübt.» Der König konnte seine Neugier nicht mehr bezähmen und sprach: «Stürze dich vom Turm des Felsens auf Cap Faro ins Meer!» Der Turm stand auf der Spitze des Caps Faro, und vor Zeiten befand sich dort eine Wache, welche die Schiffe, die vorbeifuhren, warnte, sobald eine gefährliche Meeresströmung einen Strudel bildete. Cola Pesce stürzte sich von dort oben kopfüber hinunter. Der König wartete einen ganzen Tag, einen zweiten und einen dritten. Aber Cola ließ sich nicht erblicken. Endlich tauchte er auf, aber er war totenbleich. «Was gibt’s, Cola?» fragte der König. «Ich bin schier gestorben vor Schrecken», versetzte Cola Pesce. «Ich habe einen riesigen Fisch gesehen mit einem so großen Maul, daß ein ganzes Schiff darin Platz hätte. Um nicht verschluckt zu werden, mußte ich mich hinter einer der drei Säulen verstecken, die Messina stützen.» Der König hörte mit offenem Munde zu; aber seine verfluchte Neugier, wie tief das Meer dort sei, ließ ihn nicht ruhen. Doch Cola sagte: «Nein, Majestät, ich tauche nicht mehr dorthin. Ich habe Angst!» Der König sah, daß er ihn durch nichts überreden konnte. Da nahm er seine Krone vom Haupt; die war übersät mit kostbaren Edelsteinen. Mit einem großen Schwung warf er sie ins Meer. «Geh und bring sie mir zurück, Cola!» befahl er. «Was habt Ihr gemacht, Majestät? Die Reichskrone!» – «Eine Krone, wie es keine zweite auf der Welt gibt», entgegnete der König. «Cola, du mußt sie mir um jeden Preis wiederbringen!» – «Wenn es Euer Wille ist, Majestät, dann werde ich eben hinabsteigen, aber mein Herz sagt mir, daß ich nicht
zurückkommen werde. Laßt mir eine Handvoll Linsen geben. Wenn ich dem Ungeheuer entrinne, dann werde ich wiederkehren, wenn Ihr dagegen die Linsen aufsteigen seht, dann nehmt das als Zeichen, daß ich nie wieder auftauchen werde.» Der König ließ ihm die Linsen bringen. Cola stieg in die Tiefe. Der König aber wartete und wartete, und endlich, nach langem, vergeblichem Warten, erschienen die Linsen auf der Oberfläche des Wassers. Auf die Rückkehr von Cola Pesce jedoch wartet man noch heute.
38 Vom grünen Vogel
Es war einmal ein König, der hatte ein einziges Töchterlein, das er über alle Maßen liebte. Eines Tages, als er oben auf der Terrasse mit der kleinen Maruzza spielte, ging ein Wahrsager vorbei und schüttelte den Kopf, als er die kleine Königstochter ansah. Da ward der König sehr zornig und befahl, den Wahrsager zu ergreifen und vor ihn zu führen. «Warum hast du den Kopf geschüttelt, als du meine Tochter ansahst?» fragte er ihn. «Ach, Majestät, ich habe es nur in Gedanken getan», antwortete der Wahrsager. «Wenn du mir nicht sogleich antwortest», sprach der König, «so lasse ich dich in den tiefsten Keller werfen.» Da mußte der arme Wahrsager wohl gehorchen und sprach: «Wenn die Königstochter elf Jahre alt sein wird, so wird ein schweres Schicksal sie erreichen.» Da war der König tief betrübt und ließ in einer einsamen Gegend einen Turm ohne Fenster bauen und sperrte sein Töchterlein mit seiner Amme hinein. Er kam aber und besuchte sie oft. Maruzza wuchs heran und wurde mit jedem Tage größer und schöner. Sie gaben ihr aber beim Essen das Fleisch immer ohne Knochen, damit sie sich kein Leid antun könne, und nahmen ihr auch alles weg, womit sie sich verletzen konnte. Als sie nun beinahe elf Jahre alt war, brachte ihr die Amme eines Tages einen Braten von einem Zicklein, in dem war ein spitzer Knochen zurückgeblieben. Als Maruzza den spitzen
Knochen fand, wollte sie gerne damit spielen, und weil sie wußte, daß die Amme ihn ihr wegnehmen würde, so versteckte sie ihn hinter einer Kiste. Als sie nun allein war, nahm sie den Knochen wieder hervor und fing an, die Mauer damit aufzukratzen. Es war aber gerade eine hohle Stelle in der Mauer, so daß sie schnell ein kleines Loch gebohrt hatte; da bohrte sie immer weiter, bis das Loch so groß war, daß sie den Kopf hinausstecken konnte. Da sah sie all die schönen Blumen und den blauen Himmel mit der Sonne und freute sich darüber so sehr, daß sie den ganzen Tag dort hinausschaute. Wenn aber die Amme ins Zimmer kam, so zog sie einen kleinen Vorhang vor das Loch. So trieb sie es mehrere Tage, an dem Tag aber, so sie elf Jahre alt wurde, in demselben Augenblick, als sie in ihr elftes Jahr trat, rauschte es in den Lüften, und durch das Loch kam ein wunderschöner, leuchtend grüner Vogel hereingeflogen, der sprach: «Ich bin ein Vogel und werde ein Mensch», und bald war er in einen schönen Jüngling verwandelt. Als Maruzza ihn sah, erschrak sie heftig und wollte anfangen zu schreien, er bat sie aber mit freundlichen Worten und sprach: «Edles Fräulein, fürchtet Euch nicht vor mir, ich will Euch ja kein Leid zufügen. Ich bin ein verwunschener Prinz und muß noch manches Jahr verzaubert bleiben. Aber wenn Ihr auf mich warten wollt, so sollt Ihr einst meine Gemahlin werden.» Mit solchen Worten beruhigte er sie; nach einer Stunde wurde er wieder zum Vogel und verließ sie mit dem Versprechen, am andern Tage wiederzukommen. Von da an kam er jeden Tag um Mittag, und wenn es ein Uhr schlug, so verließ er sie wieder. Als nun ein Jahr vergangen war, dachte der König: ‹Nun wird auch die Gefahr für meine kleine Maruzza vorüber sein›, und kam in einem schönen Wagen und holte sie ab in sein Schloß. Als aber Maruzza in dem prächtigen Schlosse ihres Vaters
wohnte, war sie sehr traurig, denn der schöne, grüne Vogel kam nicht wieder zu ihr, und sie war so schwermütig, daß sie gar nicht mehr lachen konnte und immer in ihrem Zimmer blieb. Da ließ der König im ganzen Lande verkünden: «Wer die Königstochter zum Lachen bringen könnte, den wolle er reich beschenken.» Das hörte auch ein altes Mütterchen, das auf einem Berge wohnte, und machte sich auf, um zum König zu gehen. Wie die alte Frau nun ihres Weges zog, begegnete sie einem Maultiertreiber, der trieb sein Maultier vor sich her, das war mit Geldsäcken beladen. «Gib mir eine Handvoll von deinem Geld», bat sie ihn. Der Maultiertreiber antwortete: «Hier kann ich dir nichts geben, wenn du aber mit mir kommst bis zu dem Schloß, wo ich die Säcke abliefern muß, so will ich dir einiges geben.» Da ging die alte Frau mit ihm, und er führte sie in ein wunderschönes Schloß, in welchem zwölf Feen wohnten. Als sie nun die Treppe hinaufgestiegen waren, öffnete der Maultiertreiber seine Säcke und ließ die Münzen auf dem Boden herumrollen. Da waren es aber so viele, daß die alte Frau vom bloßen Ansehen genug hatte und weiter nicht danach verlangte. Nun ging sie durch die Zimmer, um sie zu betrachten, und sah alle die kostbaren Schätze, die da angesammelt waren. Alle die Stühle, die Tische, die Betten waren von lauterem Gold. Da kam sie in ein Zimmer, wo ein gedeckter Tisch stand mit zwölf goldenen Tellern und zwölf goldenen Bechern, und dabei standen auch zwölf goldene Stühle. Da ging sie weiter und kam in die Küche, da standen die zwölf Feen in einer Reihe, und jede hatte einen goldenen Herd, auf dem sie in einem goldenen Kessel kochte. Als die Suppe fertig war, nahmen die Feen ihre Kessel vom Feuer und stellten sie auf den Tisch. Weil sie nun die alte Frau unbeachtet gelassen hatten, wurde sie vorwitzig und sprach:
«Edle Frauen, ihr sagt mir nichts, so werdet ihr es mir auch nicht übelnehmen, wenn ich mich selbst bediene.» Da nahm sie einen goldenen Löffel und schöpfte sich etwas Suppe. Als sie aber den Löffel zum Munde führen wollte, fuhr ihr die Suppe ins Gesicht, daß sie sich jämmerlich verbrannte. In demselben Augenblick rauschte es in den Lüften, und der grüne Vogel flog geradenwegs in den Saal. «Ich bin ein Vogel und werde ein Mensch!» sprach er und wurde sogleich zum schönen Prinzen. Der jammerte aber laut und rief: «O Maruzza, meine Maruzza, habe ich dich denn ganz verloren? Kann ich dich nirgends wiederfinden?» Die Feen umringten ihn, um ihn zu trösten, die alte Frau verließ leise und unbeachtet das Schloß und dachte: ‹Diese Geschichte muß ich der jungen Königstochter erzählen; wenn das sie nicht zum Lachen bringt, so ist wohl alles vergeblich.› Als sie nun in das königliche Schloß kam, ließ sie sich beim Könige melden und sagte ihm, sie sei gekommen, die Königstochter zum Lachen zu bringen. Der König führte sie hinein und ließ sie mit seiner Tochter allein. Nun begann die Alte zu erzählen, wie sie von dem Maultiertreiber in das schöne Schloß geführt worden sei und wie sie sich den Mund verbrannt habe, als sie die Suppe versuchen wollte. Maruzza aber fing an laut zu lachen, als sie diese Geschichte hörte. Das hörte der König draußen und freute sich, daß es endlich jemandem gelungen war, sein liebes Töchterlein zum Lachen zu bringen. Die Alte aber sprach: «Hört mich nun noch zu Ende, Fräulein!» und erzählte ihr von dem grünen Vogel, der ein schöner Prinz geworden war und immer nach seiner lieben Maruzza gefragt hatte. Da wurde Maruzza noch froher und sprach: «Mein Vater wird dir ein schönes Geschenk machen, von mir aber sollst du ebensoviel bekommen, wenn du mich morgen
um dieselbe Stunde abholst und heimlich in das Schloß der zwölf Feen führst.» Die Alte versprach es, und am nächsten Tag kam sie und führte die Königstochter über Berg und Tal, einen weiten Weg, bis sie an das Schloß der zwölf Feen kamen. Da saßen die zwölf Feen wieder vor ihren goldenen Herden, und die Suppe war eben fertig und wurde in den goldenen Kesseln vom Feuer genommen. «Seht einmal, Fräulein», sprach die Alte, «so wollte ich neulich die Suppe versuchen», und nahm mit einem goldenen Löffel ein wenig Suppe. Wie sie ihn aber zum Munde führen wollte, fuhr ihr die Suppe ins Gesicht. Da sprach Maruzza: «Laß es mich einmal versuchen», nahm den goldenen Löffel und schöpfte etwas Suppe und siehe da, sie konnte die Suppe ruhig zum Munde führen. Mit einem Male rauschte es in den Lüften, und der grüne Vogel flog herein und verwandelte sich in den schönen Prinzen. Als er nun anfing zu jammern: «O Maruzza, meine Maruzza!», da stürzte ihm die Königstochter in die Arme und rief: «Hier bin ich!» Aber der Prinz wurde ganz traurig und sprach: «Ach, Maruzza, was hast du getan? Warum bist du hergekommen? Nun muß ich fort und muß herumfliegen ohne Ruh und ohne Rast sieben Jahre, sieben Tage, sieben Stunden und sieben Minuten.» «Wie», rief die arme Maruzza, «willst du mich nun verlassen, nachdem ich deinethalben so traurig gewesen bin und nun diesen weiten Weg gemacht habe, um dich zu sehen?» Da antwortete der Prinz: «Ich kann dir nicht helfen; wenn du mich aber erlösen willst, so will ich dir sagen, was du tun mußt.» Da führte er sie auf eine Terrasse und sprach: «Wenn du sieben Jahre, sieben Tage,
sieben Stunden und sieben Minuten hier auf mich wartest, dem Sturm und Sonnenschein ausgesetzt, nichts ißt, nichts trinkst und nicht sprichst, so kann ich erlöst werden, und dann sollst du meine Gemahlin sein.» Damit wurde er wieder ein Vogel und flog davon. Nun saß die arme Maruzza auf der Terrasse, und als die Feen kamen und sie baten, nun in das Schloß zu kommen, schüttelte sie nur ihren Kopf und blieb in einer Ecke sitzen, aß nicht und trank nicht, und es kam auch kein Wort über ihre Lippen. So blieb sie sieben Jahre, sieben Tage, sieben Stunden und sieben Minuten, im Sturm und Regen und unter der glühenden Sonnenhitze, und ihre feine weiße Haut wurde schwarz, und ihr Gesicht wurde häßlich und entstellt, und ihre zarten Glieder wurden steif. Da nun die lange Zeit herum war, rauschte es in den Lüften, und der grüne Vogel kam geflogen und wurde ein schöner Prinz. Da stürzte sie in seine Arme und weinte und rief: «Nun bist du erlöst, und nun sind auch meine Leiden zu Ende.» Als er aber sah, wie häßlich sie geworden war und wie schwarz, da mochte er sie nicht mehr – denn alle Männer sind so – und stieß sie hart von sich und sprach: «Was willst du von mir? Ich kenne dich nicht.» Da weinte sie und sprach: «Du kennst mich nicht? Habe ich nicht um deinetwillen meinen alten Vater verlassen? Bin ich nicht um deinetwillen sieben Jahre, sieben Tage, sieben Stunden und sieben Minuten hier oben geblieben, dem Regen und Sonnenschein ausgesetzt, habe nicht gegessen und nicht getrunken und ist auch kein Wort über meine Lippen gekommen?» Er aber sprach: «Und um eines irdischen Mannes willen hast du hier oben gelegen wie ein Hund und hast all das über dich ergehen
lassen?» und spuckte ihr zweimal ins Gesicht, drehte ihr den Rücken zu und verließ sie. Da fiel Maruzza zu Boden und weinte bitterlich, die Feen aber kamen und trösteten sie und sprachen: «Habe nur guten Mut, Maruzza, du sollst noch schöner werden, als du bisher warst, und dich an dem bösen Mann rächen.» Da brachten sie sie in das Schloß und wuschen sie mit Rosenwasser viele Tage lang, bis sie wieder ganz weiß wurde und so schön, daß sie niemand mehr erkennen konnte. Dann zog Maruzza in das Land, wo der Prinz mit seiner Mutter, der alten Königin, wohnte, und die Feen begleiteten sie mit allen ihren Kostbarkeiten und bauten ihr in einer Nacht ein wunderschönes Schloß, dem königlichen Schlosse gerade gegenüber. Als der Prinz am Morgen zum Fenster hinausschaute, sah er verwundert auf den schönen Palast, der viel schöner war als sein eigenes Schloß, und während er sich noch darüber verwunderte, erschien Maruzza am Fenster gegenüber, mit prächtigen Kleidern und so schön, daß der Prinz kein Auge von ihr wenden konnte. Er erkannte sie aber nicht und machte eine tiefe Verbeugung und wollte sie anreden. Maruzza aber schlug ihm heftig das Fenster vor der Nase zu. ‹Oh›, dachte er, ‹wer ist denn diese Dame, die sich gar besser dünkt als ich?› und rief seine Mutter herbei, um sie zu fragen. Sie wußte es aber nicht, und wen er auch fragen mochte, niemand konnte ihm Auskunft geben. Nun stellte er sich jeden Morgen auf seinen Balkon, wenn er sie drüben an ihrem Fenster erblickte. Wenn er aber versuchte, sie zu begrüßen und anzureden, so drehte sie ihm stolz den Rücken zu und schlug das Fenster zu. Da war der Prinz traurig, denn er hätte gern das schöne Mädchen zu seiner Gemahlin gemacht.
«Mutter», sprach er eines Tages zur alten Königin, «tut mir den Gefallen und geht einmal zur schönen Dame, die gegenüber wohnt, und bringt ihr in meinem Namen Euer schönstes Stirnband und fragt sie, ob sie meine Gemahlin sein wolle.» Da machte sich die alte Königin auf und ging in das Schloß zur schönen Maruzza, und ein Diener trug auf einem silbernen Präsentierteller das goldene Stirnband, das glänzte von Perlen und edlen Steinen. Als nun Maruzza hörte, die Königin sei da und wünsche mit ihr zu sprechen, eilte sie ihr entgegen und sprach: «O Frau Königin, warum habt Ihr mich nicht zu Euch rufen lassen und habt Euch zu mir bemüht? An mir wäre es, zu Euren Füßen zu kommen.» Da führte sie sie mit vielen schönen Worten in ihren besten Saal, der strahlte von Gold und Edelsteinen, und sprach: «Womit kann ich Euch dienen, edle Königin?» Da antwortete die Königin: «Mein Sohn hat mich hierher gesandt, er ist in heftiger Liebe zu Euch entbrannt und bietet Euch seine Hand an, und als Zeichen seiner Liebe sendet er Euch dieses köstliche Stirnband.» «O welche Ehre!» erwiderte Maruzza. «Eurem Sohn gebührt die reichste, vornehmste Königin, nicht aber ein armes Mädchen, wie ich es bin. Ich bin dieser Ehre nicht würdig.» Während sie so sprach, hatte sie das kostbare Stirnband genommen und ganz in kleine Stücke zerpflückt und rief nur «kur, kur, kur, kur», da kamen die zwölf Feen herein, die hatten sich in zwölf kleine Gänschen verwandelt und schluckten begierig die Goldkörner und die edlen Steine auf. Die alte Königin aber war sprachlos vor Erstaunen und Zorn. «Frau Königin», sagte Maruzza, «was seht Ihr so zornig aus? Ich pflege meine Gänschen immer mit lauterem Golde zu füttern.» Dabei winkte sie einem Diener, der brachte ihr auf
einem Präsentierteller den kostbarsten Schmuck, Stirnbänder und Armbänder, und sie zerpflückte alles in tausend Stückchen und streute sie den Gänschen vor. Also mußte die Königin gekränkt und beschämt nach Hause zurückkehren. Der Prinz aber stand wieder am Balkon und schaute nach dem schönen Mädchen aus. Als nun Maruzza die Königin bis zur Tür begleitet hatte, kehrte sie eilends zurück und trat auf ihren Balkon. Als aber der Prinz sie begrüßen wollte, wandte sie ihm den Rücken zu und schloß heftig das Fenster. Da merkte der Prinz, daß sie ihn zurückgewiesen hatte, noch ehe seine Mutter ihm ihre Antwort überbringen konnte, und war von Herzen traurig. Er konnte es aber doch nicht lassen, sich jeden Morgen auf den Balkon zu stellen und nach der schönen Maruzza zu schauen. Sie aber wandte ihm immer stolz den Rücken zu und schloß heftig das Fenster. Nach einiger Zeit sprach der Prinz wieder zur alten Königin: «Mutter, tut mir den Gefallen und geht noch einmal zu der schönen Dame hier gegenüber und fragt sie, ob sie meine Gemahlin werden will.» «Ach, mein Sohn», antwortete die Mutter, «bedenke doch nur, wie grausam sie mich beleidigt hat, ich kann doch nicht zu ihr zurückkehren.» Der Prinz aber sprach: «Mutter, wenn Ihr mich liebhabt, so erfüllt meine Bitte und bringet ihr in meinem Namen meine Krone.» Da nahm er die Krone vom Kopf und gab sie seiner Mutter, und die alte Königin ließ sich überreden, der schönen Maruzza einen Besuch zu machen. Als nun Maruzza sie kommen sah, eilte sie ihr entgegen und empfing sie mit großer Höflichkeit, und als sie beieinander saßen, fragte sie wieder: «Womit kann ich Euch dienen, edle Königin?» Da antwortete die Königin:
«Mein Sohn ist in heiliger Liebe zu Euch entbrannt und hat mich hierhergeschickt, Euch zu fragen, ob er nicht die Ehre haben kann, Euer Gemahl zu werden. Als Zeichen seiner Liebe sendet er Euch seine goldene Krone, die er von seinem Haupte genommen hat.» «Ach, edle Königin», sprach Maruzza, «wie könnte ich diese Ehre annehmen? Ein so armes Mädchen, wie ich bin, kann Euer Sohn nicht zu seiner Gemahlin machen.» Wie sie das gesagt hatte, rief Maruzza ihren Koch und sprach: «Hier, Koch, nimm diese goldene Krone, sie paßt gerade als Reif um meinen Kessel.» Als sie aber wieder sah, daß die Königin ganz entstellt wurde vor Zorn, fuhr sie fort: «Edle Königin, was entstellt Ihr Euch so? Ich pflege immer um meine Kessel einen goldenen Reif zu legen.» Da winkte sie dem Koch, der brachte ihr eine ganze Menge Kessel, die waren alle von reinem Gold und hatten einen goldenen Reif. Da kehrte die Königin beschämt und gekränkt nach Hause zurück, Maruzza aber eilte an das Fenster, um dem Prinzen die gewohnte Beleidigung zuzufügen. Nun wurde der Prinz vor Zorn und Kummer krank und lag einen ganzen Monat schwerkrank darnieder. Kaum ging es ihm etwas besser, so schlich er auch gleich zu seinem Balkon, und als er Maruzza gegenüber stehen sah, versuchte er es wieder, sie zu begrüßen. Sie aber drehte ihm den Rücken zu und schlug ihm das Fenster vor der Nase zu. Da sprach der Prinz zu seiner Mutter: «Mutter, wenn Ihr mich liebhabt, so geht noch einmal zu der schönen Dame und fragt sie, ob sie meine Gemahlin werden will.» Die Königin wollte nicht, er bat aber so lange, bis sie «ja» sagte. Da nahm er seine schwere goldene Kette vom Hals und gab sie seiner Mutter, sie solle sie der schönen Dame bringen. Die Königin wurde von Maruzza wieder mit aller Höflichkeit empfangen, und Maruzza fragte sie:
«Womit kann ich Euch dienen, edle Königin?» Da sagte die Königin wieder, der Prinz wolle sie zu seiner Gemahlin und schicke ihr seine goldene Kette. Maruzza aber erklärte wieder, sie sei zu arm und niedrig für den Prinzen. Dann winkte sie ihrem Diener, gab ihm die Kette und sprach: «Lege sie dem Hund an.» Als nun die Königin wieder sprachlos dastand über diese neue Beleidigung, sprach Maruzza: «Frau Königin, was seid Ihr so erzürnt? Meine Hunde haben immer Ketten von lauterem Gold.» Da winkte sie ihrem Diener, der brachte ihr auf einem Präsentierteller eine Menge Hundeketten, die waren alle von schwerem Gold und dick und lang. Die Königin mußte wieder unverrichteterdinge nach Hause zurückkehren. Maruzza aber eilte auf den Balkon, und als sie den Prinzen sah, der mit traurigem Gesicht nach ihr ausschaute, drehte sie ihm den Rücken zu und schloß das Fenster. Da wurde der Prinz so krank, daß alle Leute glaubten, er müsse sterben; aber als er nach langer Zeit wieder etwas besser war, sprach er gleich zu seiner Mutter: «Mutter, ich bitte Euch, geht noch einmal zur schönen Dame und fleht sie an, doch meine Gemahlin zu werden, und sagt ihr, daß, wenn sie mich zurückweist und noch einmal das Fenster so verächtlich zuschlägt, so werde ich vor ihren Augen tot niedersinken.» Die Königin wollte durchaus nicht gehen, da sie aber sah, wie schwach und krank ihr Sohn war, ging sie dennoch zur schönen Maruzza. Da wurde sie freundlich empfangen und sprach: «Edles Fräulein, ich komme mit einer Bitte zu Euch, die Ihr mir nicht abschlagen dürft. Mein Sohn ist mehr denn je in Liebe für Euch entbrannt und fleht Euch an, daß Ihr seine Gemahlin werden wollet. Wenn Ihr ihn aber zurückweiset und
ihm das Fenster vor der Nase zuschlagt, so wird er vor Euren Augen tot niedersinken, denn ohne Euch kann er nicht leben.» Da antwortete Maruzza: «Saget Eurem Sohn: Wenn er aus Liebe zu mir sich entschließt, in einem Sarge, unter dem Geläute der Totenglocken, begleitet von den Priestern, die Grabsänge singen, aus seinem Haus sich in das meinige tragen zu lassen, so wird uns hier der Geistliche erwarten, der uns trauen soll.» Mit dieser Antwort kehrte die Königin zu ihrem Sohn zurück, der ließ gleich einen schönen Sarg herrichten und legte sich hinein. Da wurden in der ganzen Stadt die Totenglocken geläutet, und der Prinz wurde in dem Sarg aus seinem Schloß herausgetragen, und die Priester begleiteten ihn mit brennenden Kerzen und sangen Grabgesänge. Maruzza aber stand königlich geschmückt auf ihrem Balkon und betrachtete stolz den traurigen Zug. Als aber der Sarg unter ihrem Fenster angekommen war, beugte sie sich heraus und rief mit lauter Stimme: «Und aus Liebe zu einem irdischen Weib hast du dich dazu hergegeben, bei lebendigem Leib als Toter im Sarge zu liegen?» und spuckte ihm zweimal ins Gesicht. Da erkannte er sie und rief laut: «Maruzza, meine Maruzza.» Als er aber so rief, da eilte sie zu ihm hinunter und sprach: «Ja, ich bin deine Maruzza, den Kummer, den du mir zugefügt hast, habe ich dich auch fühlen lassen wollen; doch nun ist alles gut, und der Geistliche, der uns trauen soll, wartet schon.» Da wurde ein glänzendes Hochzeitsfest gefeiert, und der Prinz wurde König und Maruzza wurde Königin.
39 Zaubergerte, Goldesel und Knüppelchen schlag zu
Es war einmal ein armer Maurer, der hatte eine Frau und eine Menge Kinder und konnte doch nicht genug verdienen, um sie zu ernähren. Als sie nun eines Tages vor Hunger weinten und der arme Mann keine Arbeit hatte, sprach er zu seiner Frau: «Ich will über Land gehen, vielleicht finde ich woanders Arbeit und kann euch Geld und Speise mitbringen.» Also machte er sich auf den Weg und wanderte fort, und als er ein gutes Stück gegangen war, kam er auf einen Berg. Da sah er eine wunderschöne Frau liegen, die sprach zu ihm: «Du brauchst nun nicht weiterzuwandern, denn ich bin dein Glück, und ich will dir helfen.» Da schenkte sie ihm eine Zaubergerte und sprach: «Wenn du essen willst, dann befiehl nur dieser Gerte, so wird vor dir stehen, was dein Herz begehrt.» Der Maurer dankte der unbekannten schönen Frau und ging fröhlich heim. Weil es aber schon dunkel war, konnte er nicht mehr bis nach Hause kommen, sondern mußte in einem Wirtshause einkehren. Da ließ er einen Tisch decken und schlug dann mit der Gerte auf den Tisch. «Befiehl», antwortete die Gerte. «Ich wünsche mir einen Teller Makkaroni, Braten und Salat und eine gute Flasche Wein», sprach er, und alsobald stand alles vor ihm auf dem Tisch, und er aß sich satt und dachte: ‹Jetzt habe ich für alle Zeiten genug.›
Der Wirt und die Wirtin hatten aber alles mit angesehen, und als der Maurer fest eingeschlafen war, kam der Wirt leise hereingeschlichen, nahm die Zaubergerte fort und legte ihm eine gewöhnliche Gerte hin. Am nächsten Morgen machte sich der Maurer ganz früh schon auf den Weg und kam bald nach Hause. «Hast du uns gar nichts mitgebracht?» fragte ihn seine Frau. «Ich habe etwas mitgebracht, das ist besser als alle Einkäufe», antwortete er, «deck nur schnell den Tisch.» Als der Tisch nun gedeckt war, schlug er mit der Gerte darauf und rief: «Ich wünsche Makkaroni, Braten, Salat und Wein für mich und meine Familie», aber es erschien nichts, er mochte fragen und rufen, soviel er wollte. Da fing seine Frau an zu weinen, denn sie dachte, der Mann wäre verrückt geworden. Er aber sprach: «Nun, laß es gut sein; ich muß eben noch einmal über Land gehen.» Also machte er sich auf und wanderte bis zu demselben Berg und fand auch die schöne Frau noch dort. Die sprach zu ihm: «Du hast die Gerte verloren, ich weiß es wohl, ich will dir aber doch wieder helfen. Nimm diesen Esel; wenn du ihn auf ein Tuch stellst, so speit er dir Geld, soviel du willst.» Da nahm der Maurer den Esel, dankte der schönen Frau und ging heim. Weil es aber anfing, dunkel zu werden, mußte er in demselben Wirtshause einkehren. Da ließ er auftragen, was sein Herz begehrte, und als er gegessen und getrunken hatte, ließ er sich ein Bettuch geben, nahm den Esel in sein Zimmer und stellte ihn darauf. Da spie der Esel ihm Geld, bis er ihn wegtat. Die Wirtin aber hatte durchs Schlüsselloch alles mit angesehen, und als der Maurer schlief, schlich sich der Wirt
hinein, nahm den Goldesel fort und stellte ihm einen gewöhnlichen Esel hin. Am frühen Morgen machte sich der Maurer vergnügt auf den Weg, kam nach Hause und rief schon von weitem seiner Frau zu: «Heute aber bringe ich etwas mit, das ist besser als alle Zaubergerten. Breite ein Bettuch aus, so sollst du etwas sehen, was du noch nie gesehen hast.» Die Frau tat, wie ihr Mann sie geheißen, als aber der Maurer den Esel aufs Bettuch stellte, spie der Esel kein Geld, und der Maurer kratzte sich im Haar und dachte: ‹Wie geht das nur zu? Gewiß haben mir der Wirt und seine Frau einen schlimmen Streich gespielt!› Da seine Frau nun anfing zu weinen sprach er: «Sei nur still, ich muß eben noch einmal mein Glück versuchen.» So ging er denn wieder fort, und als er auf den Berg kam, war die schöne Frau auch noch da und sprach: «Du hast auch den Goldesel verloren, ich weiß es. Dieses Mal will ich dir noch helfen, es ist aber das letzte Mal. Nimm diese Knüppelchen, und wenn du sprichst: ‹Knüppelchen, schlagt zu›, so schlagen sie so lange drauflos, bis du ihnen zurufst: ‹Knüppelchen mein, nun ist’s genug.›» Der Maurer nahm die Knüppelchen, dankte der schönen Frau und dachte: ‹Damit kann ich meine Zaubergerte und den Goldesel wiedererlangen. Vorher aber will ich einmal selbst ihre Kraft versuchen. Knüppelchen mein, schlagt zu!› Alsbald schlugen die Knüppelchen auf seinem Rücken herum, daß er gleich wieder rief: «Knüppelchen mein, nun ist’s genug!» Und die Knüppelchen wurden gleich wieder ruhig. Abends kam der Maurer in dasselbe Wirtshaus, und der Wirt und die Wirtin sprachen untereinander: «Da kommt derselbe Maurer noch einmal und bringt gewiß wieder ein Zauberstück mit.»
Der Maurer aber rief: «Knüppelchen mein, schlagt zu!» Und die Knüppelchen fuhren auf den Wirt und seine Frau los und prügelten sie wacker durch. Da fingen die beiden an zu schreien: «Nimm doch die Knüppelchen wieder von uns.» Der Maurer aber antwortete: «Nicht eher, als bis ihr mir meine Zaubergerte und meinen Goldesel wieder herausgebt.» Da liefen sie hin und holten die Gerte und den Esel, und der Maurer rief: «Knüppelchen mein, nun ist’s genug!» Und alsbald hörten die Knüppelchen auf zu schlagen. Am frühen Morgen machte sich der Maurer wieder auf den Weg nach Hause. Als ihn seine Frau kommen sah, rief sie ihm entgegen: «Bringst du uns schon wieder einen schmutzigen Esel, der mir die ganze Stube übel zurichtet? Ich wollte doch, du kämest gar nicht wieder.» «Knüppelchen, nun schlagt zu, aber nicht zu stark», sprach der Maurer, und die Knüppelchen prügelten die Frau, bis sie wieder zur Besinnung kam und der Mann ihnen gebot, einzuhalten. Die Frau aber deckte still den Tisch. «Befiehl!» antwortete die Gerte. Da wünschte sich der Mann ein schönes Mittagessen für sich und seine Familie, und alsbald stand alles da, und sie aßen vergnügt miteinander. Nach dem Essen sprach der Maurer: «Nun breite ein Bettuch aus, liebe Frau.» Das tat sie, und als er den Esel darauf stellte, spie das Tier so viel Geld, als sie nur wollten. Da lebte der Maurer mit seiner Familie herrlich und in Freuden, und es mangelte ihnen an nichts. Die Nachbarn aber, als sie das Glück des Maurers sahen, wurden neidisch und kamen zum König und sprachen:
«Königliche Majestät, da ist ein Maurer, der ist bisher immer fast Hungers gestorben, und jetzt ist er auf einmal ein reicher Mann geworden, das geht nicht mit rechten Dingen zu.» Da schickte der König seine Diener hin, sie sollten den Maurer zu ihm bringen, der aber sprach: «Knüppelchen mein, schlagt zu!» und ließ sie alle durchprügeln. Die Diener liefen zum König zurück und klagten ihm, der Maurer habe sie alle durchprügeln lassen, und der König wurde zornig, versammelte seine Soldaten und zog mit ihnen vor das Haus des Maurers. Der war unterdessen ein wenig spazierengegangen und hatte einen Mann angetroffen, der trug ein dreieckiges Hütlein, das war ganz sonderbar anzuschauen. «Was du für ein sonderbares Hütlein hast», rief der Maurer. «Ja», sagte der Mann, «mein Hütlein hat aber eine eigene Tugend. Wenn ich dran drehe, so schießt es aus allen drei Ecken, und niemand kann mir dann widerstehen.» Da sprach der Maurer: «Und ich habe ein Paar Knüppelchen. Wenn ich zu denen sage: ‹Knüppelchen mein, schlagt zu›, so prügeln sie die Leute durch, bis ich sie zurückrufe und spreche: ‹Knüppelchen mein, nun ist’s genug.› Weißt du was, wir wollen um meine Knüppelchen und um dein Hütchen spielen, und wer gewinnt, soll beides haben.» Da spielten sie drum, und der Maurer gewann, nahm das Hütlein und ging vergnügt heim. Kaum war er nach Hause gegangen, so langte der König mit seinen Soldaten an, die wollten ihn gefangennehmen. Er aber drehte sein Hütlein herum, daß es aus allen drei Ecken schoß und die Soldaten alle totmachte. Da der König sah, wie unbezwingbar der Maurer war, versprach er, ihn in Ruhe zu lassen, und der Maurer setzte sein Hütlein fest und sprach:
«Wenn Ihr mich ungestört laßt, so verspreche ich Euch auch, daß ich Euch jedesmal mit meinem Hütlein und meinen Knüppelchen zu Hilfe kommen will, wenn Ihr in den Krieg müßt.» Von da an lebte der Maurer ungestört ein herrliches Leben, und wenn ein Krieg ausbrach, kam er dem König zu Hilfe, also daß der König immer siegte. So blieben sie reich und getröstet, wir aber sind hier sitzen geblieben.
40 Die Sprache der Tiere
Es war einmal ein junger Ehemann, der konnte in seinem Landstrich keine Arbeit finden und wanderte in ein anderes Land. Dort trat er in den Dienst eines Priesters. Eines Tages fand er bei der Arbeit auf dem Felde einen ungewöhnlich großen Pilz, den pflückte er und brachte ihn seinem Herrn. Dieser dankte ihm und sprach: «Geh morgen zu dem Platz zurück, wo du den Pilz gefunden hast; grabe dort nach, und was du an dem besagten Platz findest, das bringe mir!» Der Bauer tat, wie ihm befohlen war, und fand beim Ausgraben zwei Schlangen. Er tötete sie und brachte sie seinem Patron nach Hause. – Am gleichen Tag hatte man dem Priester Aale gebracht, und er sagte seiner Magd: «Nimm von den Aalen die beiden kleinsten und backe sie für unsern jungen Mann!» Die Magd aber verwechselte die Aale mit den beiden Schlangen, buk die letzteren und servierte sie dem jungen Bauern. Dieser aß sie und fand Geschmack an dem Gericht. Kaum war er mit dem Essen fertig, da hörte er, daß die Katze und der Hund des Priesters miteinander sprachen: «Ich muß mehr Fleisch haben als du», begann der Hund. «Nein», sagte die Katze, «ich bin es, die mehr verdient.» – «Ich gehe täglich mit meinem Herrn aus dem Hause», versetzte der Hund, «und deshalb muß ich auch mehr zum Fressen erhalten als du, die du den ganzen Tag daheim sitzt.» – «Wenn du mit dem Herrn ausgehst, so ist das deine Pflicht, sowie es die meine ist, zu Hause zu bleiben.»
Der Bauer begriff nun, daß er durch das Schlangengericht die Gabe, die Sprache der Tiere zu verstehen, erworben hatte. Er ging in den Stall, um den Maultieren ihre Gerste vorzuwerfen. Die Maultiere aber sprachen untereinander. «Mir muß man mehr Gerste geben als dir», sagte das eine, «denn ich bin ein Reittier und du nur ein Lasttier.» – «Oho», entgegnete das andere Maultier, «meine Lasten sind noch schwerer als dein Reiter, und deshalb muß ich genauso viel Gerste erhalten wie du!» Als der Bauer dieses Gespräch vernahm, teilte er die Gerste in gleiche Teile. «Siehst du, daß er es genauso macht, wie ich es gesagt habe», sprach das Lasttier. Der junge Mann kehrte ins Haus zurück, da kam ihm die Katze entgegen und sagte zu ihm: «Hör mich an: ich weiß, daß du unsere Sprache verstehst. Paß auf: dein Patron hat die Schlangen gesucht, weil er in einem Zauberbuch gelesen hat, daß, wer diese Schlangen ißt, die Sprache der Tiere zu verstehen vermag. Nun hat ihm die Magd gestanden, daß sie die Schlangen mit den Aalen verwechselt und dir als Speise vorgesetzt hat. Der Herr wird jetzt wissen wollen, ob du die Sprache der Tiere verstehst. Wenn er dich fragt, dann antworte ‹nein!›, und wenn er in dich dringt, dann beharre auf deinem ‹nein›, denn sonst mußt du sterben, und die Gabe, die Tiersprache zu verstehen, geht auf deinen Patron über.» Der Bauer verhielt sich so, wie ihm die Katze geraten hatte, und leugnete, die Sprache der Tiere zu verstehen. Schließlich wurde der Priester des Fragens überdrüssig und schickte den Mann fort. Als der Bauer seinen Weg verfolgte, stieß er auf eine Herde. Die Hirten waren ganz verzweifelt, weil ihnen Nacht für Nacht einige Schafe verlorengingen. – «Was gebt ihr mir, wenn ich dafür sorge, daß euch keines mehr verlorengeht?» fragte der Bauer. «Wenn du das fertigbringst», sagte der älteste der Hirten, «dann geben wir dir eine Stute und ein junges Maultier.» Der Bauer blieb
nun bei der Herde und legte sich am Abend bei den Tieren aufs Stroh. Um Mitternacht hörte er, daß Wölfe kamen und mit den Hunden ein Gespräch begannen: «Oh, Gevatter Vito.» – «Oh, Gevatter Cola», antworteten die Hunde. «Können wir wohl einige Schafe bekommen?» – «Nein, ihr könnt heute nichts bekommen, weil sich draußen ein Hirte bei den Schafen auf die Lauer gelegt hat.» Acht Tage lag so der Bauer bei den Schafen und hörte jede Nacht, wie die Hunde die Wölfe davor warnten, näher zu kommen. So gingen keine Schafe mehr verloren. Dann ließ der Bauer die alten Hunde töten und neue Wachhunde kaufen. In der nächsten Nacht schrien die Wölfe wieder: «Oh, Gevatter Vito, können wir kommen?» – «Kommt nur her», riefen die neuen Hunde, «eure Freunde hat man umgebracht, und wenn ihr näher kommt, dann wollen wir schon ordentlich Krach schlagen; ihr könnt so viel Kugeln in den Bauch bekommen, wie ihr wollt!» Am andern Morgen erhielt der Bauer die versprochene Stute und das junge Maultier und machte sich damit vergnügt auf den Weg nach Hause. Dort angekommen, fragte ihn seine Frau, wem denn die beiden Tiere gehörten. «Das sind unsere Tiere», entgegnete der Bauer. «Wie hast du sie denn erworben?» wollte die Frau wissen. Aber der Mann blieb ihr die Antwort schuldig. Einige Zeit später war in einer benachbarten Ortschaft ein Fest. Der Bauer beschloß, es zusammen mit seiner Frau zu besuchen; sie setzten sich beide auf den Rücken der Stute, indes das Fohlen hinterdrein lief. «Mama, wart auf mich», rief das Kleine. Die Stute antwortete: «Spring nur zu, denn du hast es leichter, während ich zwei Leute auf meinem Rücken tragen muß.» Als der Bauer das hörte, brach er in ein Gelächter aus. «Warum lachst du?» fragte ihn seine Gattin. «Nur so, wegen nichts», entgegnete er. «Sag
mir sofort, warum du lachst! Sonst steig ich ab und geh nach Hause.» – «Gut, ich werde es dir sagen, wenn wir bei der Kirche angekommen sind.» Als sie bei der Kirche angekommen waren, fragte die Frau erneut: «Also, warum hast du gelacht?» – «Ich werde es dir sagen, sobald wir wieder daheim sind.» Die Frau wollte nun nicht mehr das Fest besuchen, denn sie brannte vor Neugier. So kehrten sie gleich wieder nach Hause zurück. «Jetzt aber sag es mir!» fing die Frau zu Hause von neuem an. «Geh und rufe den Beichtvater, und dann werde ich es dir sagen!» befahl der Bauer. Die Frau legte erzürnt das Kopftuch um und holte eilends den Beichtiger. Der Mann dachte indessen bekümmert: Jetzt ist es aus: ich werde sterben. Aber erst will ich beichten und kommunizieren, um in Frieden gehen zu können. Und während er diese traurigen Gedanken wälzte, streute er den Hühnern etwas Kleie hin. Die Hühner kamen in Scharen herbei, um die Kleie aufzupicken, aber der Hahn sprang mitten unter sie und scheuchte sie mit einem Flügelschlag weg. Der Bauer sagte zum Hahn: «Warum willst du die Hennen nicht fressen lassen?» Der Hahn antwortete: «Die Hennen müssen das tun, was ich will, sie mögen noch soviel sein. Ich mache es nicht wie du, der du nur eine Frau hast und dabei dich von ihr beherrschen läßt. Nun willst du gar noch sagen, daß du unsere Sprache verstehst, und so wirst du sterben.» Der Bauer überlegte die Geschichte und sprach: «Du hast doch wahrlich mehr Hirn als ich!» Er nahm seinen Leibriemen, legte ihn ins Wasser, bis er schön geschmeidig war, und wartete auf die Rückkehr seiner Frau. Kaum war sie zurück, da begann sie: «Aber jetzt kommt der Beichtvater, und nun sag mir endlich, warum du gelacht hast!» Da nahm der Mann den Gürtel und verprügelte seine Frau nach
Strich und Faden, bis sie genug hatte. Als der Priester kam und fragte: «Wer will beichten?» entgegnete der Bauer: «Meine Frau!» Der Priester durchschaute die Situation und ging wieder heim. Als die Frau sich wieder erholt hatte, fragte der Mann sie: «Weißt du nun, was du wissen wolltest?» Da antwortete die Neugierige: «Ja, ich weiß mir nun genug.» Und von diesem Tag an war sie nicht mehr neugierig.
41 Die Geschichte vom mutigen Mädchen
Es waren einmal drei Schwestern, die hatten weder Vater noch Mutter und ernährten sich kümmerlich durch Spinnen. Jeden Tag spannen sie zusammen ein Rottolo Flachs, den brachten sie ihrer Herrschaft und bekamen zwei Tari dafür, davon mußten sie leben. Nun begab es sich eines Tages, daß sie eine große Sehnsucht nach einem Stückchen Leber bekamen. «Wißt ihr was?» sprach die älteste Schwester zu den beiden anderen. «Heute ist an mir die Reihe, das Gespinst zur Padrona zu tragen; wenn sie mir nun das Geld gibt, so will ich etwas Leber, etwas Brot und Wein kaufen, daß wir uns auch einmal einen vergnügten Tag machen.» «Gut», antworteten die Schwestern. Am Abend ging die älteste Schwester mit dem Gespinst zur Stadt, und als ihr die Padrona das Geld gegeben hatte, kaufte sie ein Stück Leber, etwas Brot und Wein, legte alles fein säuberlich in ihr Körbchen und machte sich auf den Weg nach Haus. Als sie nun durch eine einsame Gasse kam, fiel ihr das Körbchen aus der Hand. Sogleich sprang ein Hund hervor, ergriff das ganze Körbchen und lief damit davon. Sie lief ihm nach, konnte ihn aber nicht erreichen und mußte endlich ohne Körbchen und ohne Lebensmittel nach Hause gehen. «Bringst du gar nichts mit?» fragten die Schwestern.
«Ach, liebe Schwestern», antwortete sie, «was kann ich dafür? So und so ist es mir ergangen.» Den nächsten Abend mußte die zweite Schwester zur Padrona gehen und sagte: «Heute will ich die Leber mitbringen.» Als sie nun das Geld empfangen hatte, kaufte sie etwas Leber, Brot und Wein, packte es in ihr Körbchen und ging nach Hause. In einer einsamen Gasse fiel aber auch ihr das Körbchen aus der Hand, der Hund sprang hervor und lief mit ihrem Körbchen davon, so schnell, daß sie ihn nicht einholen konnte. Als sie nun nach Hause kam und ihren Schwestern alles erzählte, sprach die Jüngste: «Morgen will ich einmal gehen, und mir soll der Hund gewiß nicht entwischen.» Also ging sie am nächsten Abend mit dem Gespinst zur Padrona, nahm das Geld in Empfang und kaufte dafür die Leber, das Brot und den Wein. Als sie nun in die Gasse kam, entfiel das Körbchen ihrer Hand. Sogleich stürzte der Hund hervor, ergriff es und sprang fort. Sie aber war leichtfüßiger als ihre Schwestern, und so schnell er auch laufen mochte, sie lief ihm nach und verlor ihn auch nicht aus dem Gesicht. Der Hund lief durch viele Straßen und schlüpfte endlich in ein Haus, das Mädchen aber schlüpfte ihm nach. Sie ging die Treppe hinauf und rief, aber niemand antwortete ihr. Nun ging sie durch alle Zimmer und sah die herrlichsten Sachen; in dem einen Saal einen schön gedeckten Tisch, in einem andern gute Betten, in einem dritten Schätze und Kostbarkeiten, einen Menschen aber sah sie nicht. Da kam sie auch in ein kleines Zimmer, da saß der Hund am Boden und hatte die drei Körbe vor sich, sie dachte aber nicht mehr an die Körbe, als sie alle die Kostbarkeiten sah.
Als sie weiterging, kam sie endlich in einen Saal, wo Schätze ohne Zahl aufgespeichert waren, Schubladen und Kisten voll Edelsteine und am Boden ganze Säcke mit Goldstücken. Da nahm sie einen kleinen Sack voll Goldstücke, verließ das Schloß und ging damit nach Haus. «Liebe Schwestern», rief sie voll Freude, «jetzt kehrt der Überfluß bei uns ein, seht, was ich euch mitbringe.» Da die beiden Schwestern den Sack voll Goldmünzen sahen, freuten sie sich sehr, die jüngste aber sprach: «Liebe Schwestern, unsere Habe wollen wir alle den Armen geben und unser Häuschen leer stehen lassen. Das Gold aber wollen wir hier vergraben und dann zusammen in das Schloß gehen und sehen, was es damit für eine Bewandtnis hat. Wenn es uns dort schlecht gehen sollte, so bleibt uns ja das Gold, das wir hier zurücklassen.» So taten sie denn auch, schenkten all ihr Hab und Gut den Armen, vergruben ihr Gold in dem leeren Hause und gingen dann alle drei in das geheimnisvolle Schloß. In dem leeren Saale fanden sie noch den schön gedeckten Tisch, setzten sich und aßen und tranken nach Herzenslust und beschauten dann alle die Schätze und Herrlichkeiten, die in dem Hause aufgespeichert waren. Als es Abend wurde, sprach die jüngste Schwester zur ältesten: «Wir können uns nicht alle schlafen legen, denn es könnte uns ein Unglück begegnen. Deshalb ist es am besten, wenn du diese erste Nacht wachest, während wir beiden schlafen.» Also legten sich die jüngeren schlafen, die älteste aber wachte. Um Mitternacht hörte sie auf einmal einen lauten Schrei, der durch das ganze Haus schallte. «Wart, ich komm herauf!» rief es mit drohender Stimme. Da erschrak sie so, daß sie schnell ins Bett schlüpfte und die Decke über die Ohren zog. Darauf wurde alles still. Den nächsten Morgen aber fragten die beiden anderen:
«Hast du heute nacht nichts gehört oder gesehen?» Sie aber antwortete: «Gar nichts, es blieb alles ruhig.» Am nächsten Abend mußte die zweite Schwester wachen, und die beiden anderen legten sich schlafen. Um Mitternacht aber rief es wieder mit drohender Stimme: «Wart, ich komm herauf!» Da erschrak sie, kroch schnell ins Bett und zog die Decke über den Kopf. Nun wurde alles wieder still. Am nächsten Morgen fragten sie die beiden anderen, ob sie nichts gesehen oder gehört habe. Da antwortete sie: «Nein, gar nichts, es blieb alles ruhig.» Zur ältesten Schwester aber sprach sie im Vertrauen: «Hast du auch diesen entsetzlichen Schrei gehört?» «Ja freilich, sei nur stille. Haben wir den Schrecken gehabt, so kann es unsere jüngste Schwester auch durchmachen.» Am Abend legten sich die beiden älteren Schwestern schlafen, die jüngste aber wachte. Um Mitternacht ertönte auf einmal derselbe Schrei: «Wart, ich komm herauf!» «Wie es Euch beliebt!» antwortete sie. Da ging die Türe auf, und eine große schöne Gestalt trat herein, mit einem langen schwarzen Gewand und einer langen Schleppe. Da ging sie auf sie zu und sprach: «Ich sehe, daß du ein mutiges Mädchen bist; wenn du auch ferner denselben Mut zeigst und alles genau tust, was ich dir sage, so soll dieser Palast mit allem, was darinnen ist, dir gehören, und du sollst eine Fürstin sein, wie ich eine gewesen bin.» «Edle Frau», erwiderte das Mädchen, «saget mir nur, was ich tun soll, so will ich alles vollbringen.» «Sieh», antwortete die Gestalt, «ich bin eine Fürstin und kann in meinem Grabe keine Ruhe finden; denn derjenige, der mich
ermordet hat, geht noch ungestraft umher. Du sollst mir nun zu meiner Ruhe verhelfen. In jenem Schrank sind viele schöne Kleider; eines davon mußt du morgen anziehen und dich damit auf den Balkon stellen. Gegen Mittag wird ein Edelmann vorbeikommen und dich anreden, denn weil du mein Kleid trägst, wird er dich für mich halten. Antworte ihm freundlich, und lade ihn ein, heraufzukommen. Wenn er nun bei dir ist, so halte ihn mit höflichen Gesprächen fest, bis es Abend wird, und dann lade ihn ein, mit dir zu essen. Nimm diese beiden Flaschen, in der einen ist Wein, in der anderen ein Schlaftrunk; beim Essen mußt du ihm aus der zweiten Flasche einschenken, und wenn er eingeschlafen ist, so schneide ihm mit diesem Messerchen die Halsadern auf, daß er in seinen Sünden sterbe. Denn so wie ich keine Ruhe finden kann, soll auch er im anderen Leben keine Seligkeit genießen.» Mit diesen Worten verschwand die schwarze Gestalt, und das Mädchen blieb allein. Am nächsten Morgen legte sie ein prächtiges, reiches Gewand an und stellte sich auf den Balkon. Gegen Mittag ging ein vornehmer Herr vorbei, und da er sie am Fenster stehen sah, redete er sie an: «Ei, edle Frau, seid Ihr nun genesen? Ihr wart ja so lange krank!» «Jawohl, edler Herr, aber ich bin nun wieder wohl. Wollt Ihr mir nicht die Ehre erweisen heraufzukommen?» Da kam der Edelmann herauf, und als er die beiden Schwestern sah, fragte er, wer sie seien. «Meine Mägde», antwortete sie, und mit viel Höflichkeit hielt sie den Edelmann hin, bis es Abend war. «Kann ich nun auch die Ehre haben, Euch bei mir zum Nachtessen zu sehen?» sagte sie, und der Edelmann blieb bei ihr. Während des Essens aber reichte sie ihm die Flasche mit dem Schlaftrunk, und kaum hatte er ein wenig davon getrunken, so versank er in
einen tiefen Schlaf. Da nahm sie das Messerchen und schnitt ihm die Halsadern auf, daß er in seinen Sünden starb, ohne Beichte und ohne Absolution; dann rief sie ihre Schwestern, und alle drei schleppten ihn an einen tiefen Brunnen und warfen ihn hinein. Um Mitternacht aber ging auf einmal die Türe auf, die schwarze Gestalt trat herein und sprach zu der Jüngsten: «Du hast mich durch deinen Mut erlöst, und nun sollen auch alle diese Schätze dir gehören. Lebe wohl, heute bin ich zum letztenmal gekommen, denn nun habe ich Ruhe gefunden.» Damit verschwand sie und kam nie wieder. Die drei Schwestern aber blieben in dem wunderschönen Palast und heirateten jede einen vornehmen Herrn, und so blieben sie glücklich und zufrieden, wir aber haben das Nachsehen.
42 Von der schönen Cardia
Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter und einen Sohn. Da er nun fühlte, daß er sterben müsse, rief er seinen Sohn und sprach: «Mein Sohn, ich muß nun sterben, und du wirst König sein. Ich empfehle dir deine drei Schwestern, sorge für sie und höre, was ich dir zu sagen habe. Auf der Terrasse steht ein Nelkenstrauch, der wird drei Knospen treiben. Wenn die erste Knospe sich öffnet, so gib wohl acht; den ersten Mann, der vorbeigeht, mußt du deiner ältesten Schwester zum Mann geben. Ebenso mußt du es bei der zweiten und dritten Knospe tun, um deine jüngeren Schwestern zu verheiraten!» Dann starb der Vater, und sein Sohn wurde König. Jeden Morgen ging der junge König nun auf die Terrasse, um den Nelkenstrauch zu betrachten. Nicht lange, so trieb der Strauch drei Knospen, die wurden immer größer, und eines schönen Morgens war die erste Knospe zu einer schönen Nelke erblüht. Da pflückte der junge König die Nelke ab und beugte sich über die Terrasse. In demselben Augenblick ging unten ein schöner, vornehmer Mann vorbei, dem rief er zu: «Mein Herr, nehmt diese Nelke von mir an und erweiset mir die Ehre, in mein Schloß heraufzusteigen.» Als nun der fremde Herr ins Schloß kam, fragte ihn der König, wer er sei. «Ich bin der König der Raben», antwortete der Fremde. Da trug ihm der König seine älteste Schwester zur Gemahlin an, und der König der Raben war wohl zufrieden damit, und es ward eine
prächtige Hochzeit gefeiert. Dann nahm der König der Raben seine junge Gattin mit sich fort, und der junge König hörte nichts mehr von seiner Schwester und seinem Schwager. Einige Tage später öffnete sich auch die zweite Knospe, und der König pflückte sie wiederum und beugte sich über die Terrasse. Eben ging ein stattlicher Herr vorbei, dem warf der König die Nelke zu und bat auch ihn, ins Schloß zu kommen. Auf die Frage, wer er sei, entgegnete er: «Ich bin der König der wilden Tiere.» Da gab ihm der junge König seine zweite Schwester zur Frau, und nach der Hochzeit, die wieder mit großem Gepränge gefeiert wurde, zog der König der wilden Tiere mit seiner Frau heimwärts, und nichts mehr ward von beiden gehört. Nun war der junge König mit seiner jüngsten Schwester allein, und er wurde sehr traurig, wenn er die letzte Knospe ansah, die nun bald aufblühen sollte. Er hatte nämlich seine jüngste Schwester sehr lieb und trennte sich nur sehr ungern von ihr. Aber er konnte doch nicht gegen den Letzten Willen seines Vaters handeln. Eines Tages war auch die letzte Knospe zu einer Nelke erblüht, da pflückte sie der König und bot sie einem jungen Herrn an, der eben vorbeiging, und bat auch diesen, in sein Schloß zu kommen. «Ich bin der König der Vögel», sagte dieser, und der König gab ihm seine jüngste Schwester zur Frau. Wiederum ward eine prächtige Hochzeit gefeiert, und dann nahmen der König der Vögel und seine junge Gattin Abschied, und der König ließ sie schweren Herzens ziehen. Als nun der König ganz allein in seinem Schloß geblieben war, ward er ganz traurig, und er dachte immerfort nur an seine Schwestern. Eines Tages begab es sich, daß er traurig auf dem Felde umherirrte, da begegnete ihm ein altes Mütterchen, das wollte die Ursache seiner Trauer wissen. «Ach, laß mich in Ruhe, Mütterchen», sagte der König, «ist es dir nicht genug,
daß ich so betrübt bin, muß ich dir auch noch den Grund erzählen?» Die Alte aber gab nicht nach und verfolgte ihn mit ihren Bitten und Fragen, bis er endlich ganz erzürnt sie unsanft von sich stieß, so daß sie zu Boden fiel. Da geriet das alte Mütterchen in einen großen Zorn und rief: «So mögst du denn wandern ohne Ruhe und Rast, bis du Cardia, meine Seele, gefunden hast!» Da wurde der König noch trauriger, als er bis dahin gewesen war, und eine große Sehnsucht erwachte in ihm, diese Cardia zu finden; und endlich konnte er es nicht mehr aushalten, und er begab sich auf Wanderschaft, um Cardia zu suchen. So wanderte er nun viele, viele Tage lang immer geradeaus, aber niemand konnte ihm sagen, wo Cardia zu finden sei. Endlich kam er in einen wilden und finstern Wald, und als er lange darin umhergeirrt war, sah er von ferne ein hübsches Haus auf einer Lichtung stehen. Aus einem Fenster des Hauses aber sah eine Frau, und als der König näher gekommen war, erkannte er in der Frau seine älteste Schwester. Als sich die Geschwister so fanden, da war ihre Freude übergroß. Die Schwester umarmte ihren Bruder und sprach: «Mein lieber Bruder, wie kommst du denn in diese verlassene Wildnis? Ach, wenn nur mein Mann dich nicht sieht!» – «Würde denn dein Mann mir etwas zuleide tun?» wollte der König wissen. «Ach», antwortete seine Schwester, «wenn er nach Hause kommt, will er jeden Unbekannten, der ihm über den Weg läuft, zerreißen. Wenn er sich aber beruhigt hat, dann ist er freundlich und milde gegen alle.» Da versteckte die Schwester ihren Bruder im Keller, und als ihr Gatte nach Hause kam, sprach er: «Es ist mir, als ob dein Bruder hier wäre; wenn er sich sehen läßt, so werde ich ihn zerreißen!» Da redete ihm seine Frau es aus, und nach und nach beruhigte er sich. Da fragte die Frau: «Was würdest du nun mit meinem Bruder tun?» – «Ich würde ihn umarmen und herzlich willkommen
heißen.» Da rief sie ganz erfreut ihren Bruder, und der König der Raben umarmte ihn und wollte erfahren, warum er in dieser einsamen Wildnis herumirre. Da erzählte ihm der König, daß er ausgezogen sei, um die Cardia zu suchen, und der König der Raben schenkte ihm eine Mandel und sprach: «Bewahre diese Mandel wohl, sie wird dir nützen!» Und sie nahmen Abschied voneinander, und der König wanderte weiter in die Wildnis hinein. Nach einigen Tagen kam er wiederum an ein Haus und fand dort seine zweite Schwester. Die freute sich sehr, ihren Bruder zu sehen, versteckte ihn aber ebenso wie ihre Schwester im Keller, weil sie sich vor ihrem Gatten fürchtete. Als ihr Mann am Abend heimkam und fragte, ob nicht ihr Bruder dagewesen sei, redete sie es ihm so lange aus, bis sie sah, daß er sich besänftigt hatte. Dann aber rief sie ihren Bruder aus dem Keller herauf, und der König der wilden Tiere umarmte seinen Schwager und hieß ihn herzlich willkommen. Da er nun hörte, daß der junge König ausgezogen sei, die schöne Cardia zu suchen, schenkte er ihm eine Kastanie und sprach: «Bewahre diese Kastanie gut, sie wird dir nützen!» Dann wanderte der junge König wieder weiter durch die Einöde, immer tiefer hinein in den Wald, bis er nach Tagen das Haus seiner jüngsten und liebsten Schwester fand. Diese umarmte ihn herzlich und wußte vor Freude nicht aus noch ein. Es ging ihm aber nicht besser als bei seinen andern Schwestern, auch hier mußte er sich verstecken, um nicht den Zorn des Königs der Vögel zu reizen. Als sich aber dieser beruhigt und die Schwester ihren Bruder aus seinem Versteck gerufen hatte, war der König der Vögel sehr erfreut, seinen Schwager zu sehen. Als er nun hörte, warum der junge König sein Reich verlassen habe, schenkte er ihm eine Nuß und sprach: «Verwahre sie wohl, denn sie wird dir nützen. Du bist nun nicht mehr weit von Cardia entfernt. Wenn du immer
weiter in den Wald hineingehst, so wirst du endlich zu dem Haus der Hexe kommen, bei der Cardia wohnt. Es sind aber noch viele andere junge Mädchen dort, und wer die schöne Cardia will, muß sie unter allen herausfinden. Sie sind zwar alle verschleiert, aber sei nur getrost, Cardia hat sieben Schleier, die andern aber haben alle nur deren zwei. Da du das weißt, kannst du nicht irren.» Damit nahm der König Abschied von seiner Schwester und seinem Schwager und wanderte weiter in den Wald hinein, bis er endlich das Haus der Hexe vor sich sah. Da trat er keck vor die alte Hexe hin und sprach: «Ich bin gekommen, die schöne Cardia zu erlangen und als meine Gattin mitzunehmen.» – «Schön», sagte die Hexe, «wer aber die schöne Cardia erlangen will, der muß sie sich auch verdienen und erst drei Aufgaben lösen.» Da entgegnete der König: «Gut, so sage mir, was ich zu tun habe, dann werde ich es ausführen.» Die Hexe aber führte ihn in einen großen Keller, der war bis oben angefüllt mit Bohnen. «Diese Bohnen müssen bis morgen früh verschwunden sein; ob du sie ißt oder was du sonst damit machst, das ist mir ganz gleichgültig. Wehe aber, wenn ich morgen auch nur eine einzige Bohne erblicke: dann werde ich dich fressen!» Damit sperrte sie den König zu den Bohnen in den Keller und entfernte sich. Der König aber blieb ratlos zurück und starrte den großen Berg von Bohnen an. Wie er noch so stand und dachte: ‹Es bleibt mir nichts anderes übrig, als mich auf den Tod vorzubereiten›, da fiel ihm die Mandel ein, die ihm der König der Raben gegeben hatte. Sogleich zerbiß er die Mandel, und im selben Augenblick stand der König der Raben vor ihm und sprach: «Wie kann ich dir helfen?» Da klagte ihm der junge König seine Not. Der König der Raben aber ließ nur einen Pfiff erschallen, und alsbald kam ein großer Schwarm Raben in den Keller geflogen und rief: «Was befiehlt unser Gebieter?» – «Freßt mir geschwind alle
die Bohnen hier auf, und laßt mir auch nicht eine einzige liegen!» Da fielen die Raben über die Bohnen her, als ob sie drei Wochen nichts gefressen hätten, und im Nu war der Keller leer und auch nicht eine Bohne übriggeblieben. Die Raben aber und ihr König verschwanden ebenso schnell, wie sie gekommen waren. Als nun die alte Hexe am nächsten Morgen die Türe öffnete und sich schon auf den guten Braten freute, stand der König da in dem leeren Keller, und die Aufgabe war gelöst. Die Hexe wurde ganz gelb vor Ärger, als sie das sah, und sie führte den König in einen andern Keller, der war voller Leichen. «Das ist die zweite Aufgabe», sagte sie höhnisch. «Hier siehst du diese Leichen, alle sind von Prinzen und Königen, die versucht haben, die schöne Cardia zu gewinnen. Bis morgen früh müssen sie alle weggeräumt sein, und wenn ich nur ein Knöchelchen oder ein Härchen finde, so werde ich auch dich töten! Und nun: Guten Appetit!» Damit schloß sie die Türe hinter ihm zu. Der König aber stand wieder allein und ratlos da. Schließlich zerbiß er die Kastanie, und sogleich erschien der König der wilden Tiere und fragte ihn: «Wie kann ich dir helfen?» Und als er ihm seine Not geklagt hatte, ließ der König der wilden Tiere einen Pfiff erschallen, und im Augenblick wimmelte es im Keller von wilden Tieren, welche riefen: «Was befiehlt unser Gebieter?» – «Räumt mir alle diese Leichen aus dem Keller und laßt mir weder ein Knöchelchen noch ein Härchen davon übrig!» Da stürzten sich die wilden Tiere auf die Leichen und verzehrten sie, und im Nu war nichts mehr von allem zu sehen. Die wilden Tiere aber und ihr König verschwanden, wie sie gekommen waren. Am Morgen öffnete die Hexe die Türe und war nicht wenig erstaunt, auch die schwere zweite Aufgabe erfüllt zu sehen. Sie wurde vor Ärger bitter wie Galle und schrie: «Nun kommt noch das Schwerste, und wenn du die dritte Aufgabe nicht
lösen kannst, so hilft dir alles andere nichts!» Und sie führte ihn in einen großen Saal. In dem lag nun eine Unmenge leerer Matratzen am Boden. «Bis morgen früh mußt du mir alle diese leeren Matratzen mit den weichsten und feinsten Federn füllen, sonst fresse ich dich!» Kaum hatte sie die Türe hinter dem König verschlossen, da knackte dieser seine Nuß. Augenblicklich erschien der Gatte seiner Lieblingsschwester, der König der Vögel, und fragte ihn: «Wie kann ich dir helfen?» Und als er gehört hatte, was der König wünschte, stieß er einen Pfiff aus, und es flogen zahllose Schwärme von Vögeln in den Saal, und alle riefen: «Was befiehlt unser Gebieter?» – «Schüttelt euren Flaum ab und füllt mir damit diese Matratzen da!» Da schüttelten sie sich, daß der Flaum nur so herumflog und man glauben mochte, es schneie. Mit dem Flaum füllten sie die leeren Bezüge, und im Handumdrehen waren alle Matratzen gefüllt. Dann verschwanden sie und ihr König mit ihnen. Als nun die Hexe am Morgen mit wäßrigem Munde die Türe öffnete, lagen alle die Federbetten schön gefüllt, eines neben dem andern, und so war auch die dritte Aufgabe gelöst. «Nun mußt du aber noch die schöne Cardia unter all ihren Gefährtinnen herausfinden, sonst hilft dir alles andere nichts», sagte die Hexe boshaft und führte den König in einen anderen Saal, darin standen eine Menge Betten, und auf jedem Bett lag ein tiefverschleiertes Mädchen. Da berührte der König leise mehrere Mädchen, um die Schleier zu zählen, und jedesmal machte die Hexe ein ganz vergnügtes Gesicht, weil sie dachte, nun würde er einen Fehlgriff tun und sie könne ihn doch noch fressen. Er aber sagte kein Wort, bis er endlich an ein Mädchen kam, das war mit sieben Schleiern bedeckt. Da riß er ihm die sieben Schleier ab und rief: «Dieses ist meine Cardia, und sie soll meine Gemahlin sein!» Die alte Hexe aber konnte nicht anders als es zugeben, denn er hatte die Richtige getroffen. Sie
dachte aber noch nach, wie sie beide verderben könnte, und sprach: «Wohl, meine Kinder, ihr sollt heute noch heiraten. Wenn ihr mir aber morgen nicht ein kleines Enkelchen vorzeigt, das ‹Großmama› zu mir sagt, so werde ich euch doch noch alle beide fressen!» Da wurde die Hochzeit gefeiert, und die andern jungen Mädchen dienten der schönen Cardia als Brautjungfern. Als aber die Hexe das junge Paar in das Brautgemach geführt hatte, bereiteten die jungen Mädchen eine kleine Puppe, und diese nahm Cardia mit sich ins Bett. Kurz nach Anbruch des Tages erschien die alte Hexe und rief: «Nun, ist mein Enkelchen da?» Da antwortete Cardia mit verstellter Stimme: «Großmama, Großmama», und hielt der Hexe die Puppe hin. Da nun aber die Hexe sich niederbeugte, um das Kind genauer zu betrachten, sprang der König hinzu und schlug ihr mit seinem Schwerte den Kopf ab. Nun war die Freude erst vollkommen. Die jungen Mädchen dankten alle dem König, daß er sie von der schlimmen Hexe befreit hatte, und kehrten vergnügt in ihre Heimat zurück. Der junge König aber und Cardia zogen auch durch den Wald in ihr Reich zurück und versäumten nicht, den König der Vögel, den König der wilden Tiere und den König der Raben zu besuchen, die ihm herzlich dankten, weil nun auch sie vom Banne der Hexe erlöst und befreit waren. So zogen alle miteinander an den Hof des Königs und der schönen Cardia und lebten dort glücklich und zufrieden zusammen, wir aber sitzen hier und halten uns bei den Händen.
43 Von Maruzzedda
Es war einmal ein armer Schuster, der hatte drei schöne Töchter; aber die jüngste war die schönste, die hieß Maruzzedda. Die älteren Schwestern aber hatten Maruzzedda nicht gern, weil sie so überaus schön war. Der Schuster war arm und mußte oft tagelang herumziehen, ohne etwas zu verdienen. Eines Tages nun sprach er zu seiner ältesten Tochter: «Begleite mich morgen, wenn ich ausziehe, Arbeit zu suchen, vielleicht ist mir dann das Glück günstiger.» Da ging die älteste Tochter mit ihm, und er verdiente einen Tari. Da sprach er: «Höre, ich bin so hungrig; wir wollen zehn Grani verzehren und zehn Grani den anderen mitbringen.» Das taten sie, kauften sich etwas zu essen und brachten den anderen nur die Hälfte des Geldes. Den nächsten Morgen nahm der Schuster die zweite Tochter mit und verdiente drei Carlini. Da sprach er: «Wir wollen fünfzehn Grani verzehren und fünfzehn Grani den anderen mitbringen.» Das taten sie und brachten nur die Hälfte des Geldes mit nach Hause. Am dritten Tag nahm der Schuster die Maruzzedda mit, und dieses Mal verdiente er zwei Tari. Da sprach er: «Höre, Maruzzedda, wir wollen einen Tari verzehren und deinen Schwestern nur einen Tari nach Hause bringen.» Sie aber antwortete: «Nein, Vater, wir wollen lieber gleich nach Hause gehen, und alle miteinander essen.»
Als nun der Vater nach Hause kam, erzählte er es den zwei Schwestern, die sprachen: «Nein, seht doch einmal diese ungeratene Tochter, sollte sie nicht immer tun, was Ihr wollt?» Mit solchen Worten hetzten sie den Vater gegen die unschuldige Maruzzedda auf. Den nächsten Morgen aber nahm er sie doch wieder mit und verdiente drei Tari. Da sprach er wieder: «Höre, Maruzzedda, wir wollen drei Carlini verzehren und den Schwestern die anderen drei mitbringen.» Sie aber antwortete: «Nein, lieber Vater, wir wollen lieber gleich nach Hause gehen; warum sollten wir nicht zusammen essen?» Als der Vater nach Hause kam, erzählte er es wieder seinen anderen Töchtern, die sprachen noch härtere Worte über die arme Schwester: «Was wollt Ihr das unverschämte Mädchen noch länger im Hause behalten? Jagt sie fort, so seid Ihr sie los.» Der Vater aber wollte nicht. Da sprachen die Schwestern: «Nehmt sie morgen mit und laßt sie in irgendeiner einsamen Gegend allein zurück, daß sie den Weg nach Hause nicht finden kann.» Da ward der Vater verblendet und ließ sich von den Schwestern betören und nahm am nächsten Morgen seine Maruzzedda mit. Als er aber weit gewandert war und in eine ganz unbekannte Gegend kam, sprach er zu ihr: «Warte einen Augenblick auf mich und ruhe dich unterdessen aus, ich komme gleich wieder.» Da setzte sich Maruzzedda hin, und der Schuster ging fort. Sie wartete und wartete, aber ihr Vater kam nicht wieder. Die Sonne neigte sich, und der Vater kam immer noch nicht. Da dachte sie endlich ganz traurig:
‹Mein Vater hat mich gewiß verstoßen wollen; so will ich denn in die weite Welt wandern.› So wanderte sie denn fort und wanderte, bis sie müde ward und es schon anfing, Abend zu werden. Wie sie nun gar nicht wußte, wo sie ein Obdach finden sollte, sah sie in der Ferne ein prachtvolles Schloß stehen. Da ging sie darauf zu, trat hinein und stieg die Treppe hinauf, sie begegnete aber niemandem. Da ging sie durch die Zimmer, die waren kostbar geschmückt, und in dem einen stand eine wohlbesetzte Tafel, aber Menschen waren keine da. Endlich gelangte sie in das letzte Zimmer, da sah sie auf einem Katafalk eine schöne Jungfrau liegen, die war tot. «Es ist ja niemand hier, so will ich hier bleiben, bis jemand kommt und mich verjagt.» Also setzte sie sich an die Tafel, aß und trank, soviel ihr Herz begehrte, und legte sich dann in ein schönes Bett schlafen. So lebte sie da eine lange Zeit, und kein Mensch störte sie. Eines Tages aber begab es sich, daß eben ihr Vater des Weges daherkam, als sie zum Fenster hinausschaute. Als er sie sah, begrüßte er sie freudig, denn es tat ihm leid, sie verlassen zu haben, und fragte sie, wie es ihr gehe. «Oh, es geht mir gut», antwortete Maruzzedda, «ich habe hier einen Dienst angenommen, und ich habe es gut.» – «Darf ich ein wenig heraufkommen?» fragte der Vater. «Nein, nein», erwiderte sie, «meine Herrschaft ist in diesem Punkt sehr streng und erlaubt mir nicht, irgend jemanden hereinzulassen. Lebt wohl und grüßt mir meine Schwestern.» Der Schuster ging nach Hause und erzählte seinen Töchtern, daß er Maruzzedda wiedergefunden hätte. Da betörten sie ihn wieder mit falschen Worten, daß er der unschuldigen Maruzzedda gram ward, und nach einigen Tagen buken die neidischen Schwestern einen Kuchen, in den taten sie viel Gift
hinein und gaben ihn dem Vater, daß er ihn dem armen Mädchen bringen sollte. In der Nacht aber, als Maruzzedda schlief, erschien ihr die tote Jungfrau im Traum und rief sie: «Maruzzedda! Maruzzedda!» «Was wollt Ihr?» fragte Maruzzedda halb im Schlaf und halb im Wachen. «Morgen wird dir dein Vater einen wunderschönen Kuchen bringen, hüte dich aber, davon zu essen, denn er ist vergiftet, sondern gib erst der Katze ein Stück.» Da erwachte Maruzzedda und sah sich allein. Also dachte sie: ‹Ich werde wohl geträumt haben›, und schlief wieder ruhig ein. Am nächsten Morgen sah sie ihren Vater kommen. Da ließ sie ihn zwar die Treppe heraufkommen, wollte ihn aber nicht einlassen. «Wenn Euch meine Herrschaft sieht, so wird sie mich aus dem Dienst jagen.» «Nun denn, mein Kind», antwortete der Schuster, «deine Schwestern lassen dich schön grüßen und schicken dir diesen Kuchen.» «Antwortet meinen Schwestern, der Kuchen sei sehr schön», erwiderte Maruzzedda, «und ich danke ihnen vielmals dafür.» «Willst du denn nicht ein Stückchen versuchen?» fragte der Vater. «Nein, ich kann nicht», antwortete sie, «denn ich habe jetzt zu arbeiten. Später, wenn meine Arbeit fertig ist, will ich ihn versuchen.» Da gab sie ihm etwas Geld und hieß ihn gehen. Als er aber fort war, gab sie der Katze ein Stück von dem Kuchen, und nach einigen Augenblicken starb die Katze. Da erkannte sie, wie treu die tote Jungfrau sie gewarnt hatte, und sie warf den Kuchen weg.
Die neidischen Schwestern aber hatten zu Hause keine Ruhe und wollten gerne wissen, was aus ihr geworden sei. Also begab sich der Schuster eines Morgens wieder auf den Weg nach dem Schloß. Als er aber dort anklopfte, kam ihm Maruzzedda ganz gesund und munter entgegen. «Wie geht es dir denn, liebes Kind?» fragte er. «Mir geht es ganz gut, lieber Vater», antwortete sie. «Laß mich doch einmal das Schloß besehen», bat er. «Wo denkt Ihr hin!» sagte sie. «Das würde mich den Dienst kosten.» Da gab sie ihm etwas Geld und schickte ihn fort. Als aber der Vater zu seinen Töchtern kam und ihnen erzählte, Maruzzedda sei ganz gesund, haßten sie ihre arme Schwester noch mehr als bisher. Da verfertigten sie einen schönen Hut, der war verzaubert, also, daß, wer ihn aufsetzte, starr und bewegungslos blieb, und diesen Hut mußte der Schuster seiner Tochter bringen. In der Nacht aber erschien die tote Jungfrau wieder der Maruzzedda im Traum und rief sie: «Maruzzedda! Maruzzedda!» «Was wollt Ihr?» fragte sie. «Morgen früh wird dir dein Vater einen schönen, feinen Hut bringen», sagte die Tote. «Hüte dich aber, ihn aufzusetzen, sonst wirst du starr und bewegungslos.» Am anderen Morgen kam richtig der Schuster und brachte seiner Tochter den schönen Hut mit. «Sagt meinen Schwestern, der Hut sei sehr schön, und ich danke ihnen vielmals», sagte sie ihrem Vater. «Willst du ihn nicht eben aufsetzen, daß ich sehe, wie er dir steht?» fragte er. «Nein, nein, ich muß jetzt arbeiten», antwortete sie, «später, wenn ich in die Messe gehe, will ich mich damit schmücken.»
Damit gab sie ihm etwas Geld und hieß ihn gehen. Den Hut aber steckte sie in einen Kasten und zerriß ihn nicht, wie sie hätte tun sollen. Die Schwestern aber waren nun überzeugt, Maruzzedda hätte sich mit dem Hut einen Schaden angetan, und bekümmerten sich nicht weiter um sie. Durch Gottes Gnade ward es nun der toten Jungfrau vergönnt, in die himmlische Herrlichkeit einzugehen. Da erschien sie zum letztenmal der Maruzzedda im Traum und sprach: «Gott vergönnt mir, zu meiner Ruhe einzugehen. Dir lasse ich dies Schloß und alles, was darinnen ist. Lebe glücklich, und genieße diese Reichtümer.» Damit verschwand sie, und der Katafalk blieb leer stehen. Nun war eine geraume Zeit verstrichen, da fiel es eines Tages der Maruzzedda ein, ihre Kisten und Kasten aufzuräumen. Dabei fiel ihr auch der verzauberte Hut in die Hände, und weil es so lange her war, vergaß sie, wer ihn ihr geschenkt hatte, und dachte: ‹Ei, der hübsche Hut! Den will ich doch anprobieren.› Kaum aber hatte sie den Hut aufgesetzt, so blieb sie starr und bewegungslos und konnte sich gar nicht mehr rühren. In der Nacht aber erschien ihr die tote Jungfrau, denn der Herr hatte ihr vergönnt, auf die Erde zu kommen; sie nahm die arme Maruzzedda und legte sie auf den Katafalk, dann flog sie wieder ins Paradies. Da lag nun Maruzzedda wie tot; sie wurde aber nicht blaß und auch nicht kalt. Als sie aber schon eine lange Zeit so gelegen hatte, begab es sich, daß eines Tages der König auf die Jagd ging und in die Gegend des Schlosses kam. Da er nun einen schönen Vogel sah, schoß er danach und traf ihn auch, aber der Vogel fiel gerade in das Zimmer hinein, wo Maruzzedda auf dem Katafalk lag. Nun wollte der König in das Schloß eindringen, es waren aber alle Türen verschlossen, und auf sein Klopfen
antwortete niemand. Also blieb nichts übrig, als durch das Fenster einzusteigen, und weil das Fenster nicht sehr hoch war, so gelang es zweien von seinen Jägern einzusteigen. Als sie aber das wunderschöne Mädchen sahen, vergaßen sie den Vogel und den König und schauten immer nur die tote Maruzzedda an. Der König wurde ungeduldig und rief endlich: «Was macht ihr denn da drinnen? Eilt euch doch!» Da kamen sie ans Fenster und baten den König, auch hereinzusteigen, es sei da ein Mädchen von so wunderbarer Schönheit, wie sie nie etwas gesehen hätten. Da stieg der König durch das Fenster in das Zimmer, und da er Maruzzedda erblickte, konnte er auch seine Augen nicht mehr von ihr abwenden. Als er sich aber über sie beugte, merkte er, daß sie noch warm war, und rief: «Das Mädchen ist nicht tot, sondern nur ohnmächtig, wir wollen sie ins Leben zurückrufen.» Da versuchten sie, sie zu erwecken, rieben sie, schnürten ihr Kleid auf, aber es war alles vergebens, Maruzzedda blieb starr. Da streifte der König endlich ihren Hut ab, um ihre Stirn zu kühlen, und sogleich schlug sie die Augen auf und erwachte aus ihrem Schlummer. Da rief der König: «Du sollst meine Gemahlin sein», und umarmte sie. Der König aber hatte eine Mutter, die war eine böse Zauberin. Er fürchtete sich also, Maruzzedda mit in sein Schloß zu nehmen, und sprach: «Bleibe hier, ich werde kommen, sooft ich kann.» Also lebte Maruzzedda in dem Schloß und wurde heimlich mit dem König getraut, und der König kam und besuchte sie, sooft er auf die Jagd ging. Nach einem Jahr gebar sie ihren ersten Sohn und nannte ihn «Ich liebe dich» (T’amo). Wieder nach einem Jahr gebar sie ihren zweiten Sohn und nannte ihn «Ich liebte dich» (T’amai).
Und als sie nach einem Jahr ein drittes Söhnchen bekam, nannte sie es «Ich werde dich lieben» (T’amero). Die alte Königin aber hatte wohl gemerkt, daß ihr Sohn so oft auf die Jagd ging und so lange abwesend blieb; und forschte so lange, bis sie von seiner Heirat hörte. Da rief sie einen vertrauten Diener und sprach: «Gehe hin in das Schloß, wo des Königs Gemahlin wohnt, und sage zu ihr: ‹Meine Herrin, die Königin, will Euch zu Gnaden annehmen, wenn Ihr ihr heute Euren ältesten Sohn schickt.›» Das tat der Diener, und die arme Maruzzedda ließ sich betören und gab ihm ihren ältesten Sohn mit. Am nächsten Tag ließ die Königin den zweiten Sohn holen und dann auch noch den dritten. Als sie aber die drei Kinder bei sich hatte, rief sie ihren Koch und sprach zu ihm: «Diese drei Kinder mußt du töten und mir die Leber und das Herz als Wahrzeichen bringen.» Der Koch aber hatte selbst Kinder, und sein Vaterherz erbarmte sich über die armen, unschuldigen Kleinen, so daß er sie nicht tötete, sondern sie in sein Haus brachte und sie dort versteckte. Der Königin aber brachte er Herz und Leber von drei Zicklein. Zu der Zeit aber war der König krank und lag in seinem Bette darnieder. Da schickte die Königin wieder einen Boten zu Maruzzedda und ließ ihr sagen: «Euer Gemahl ist krank, kommet ihn zu pflegen.» Da legte Maruzzedda drei Kleider übereinander und ging aufs Schloß. Als sie aber in den Hof eintrat, brannte da ein großes Feuer und die alte Königin stand dabei und rief: «Werft die Dirne ins Feuer!» Da bat Maruzzedda: «Laßt mich erst meine Kleider abwerfen», und warf das erste Kleid ab und rief mit lauter durchdringender Stimme:
«T’amo!» Nun hatte aber die Königin vor des Königs Tür eine ganze Schar Musikanten aufstellen lassen, die mußten aus Leibeskräften spielen, damit der König nichts hören sollte von dem, was im Hofe vorginge. Er hörte aber doch den Ruf seiner Frau, wenn auch nur ganz schwach. «Haltet ein mit eurer Musik», rief er, aber die Musikanten spielten kräftig weiter. Da warf Maruzzedda auch das zweite Kleid ab und rief noch lauter: «T’amai!» Diesmal hörte es der König schon besser und rief wieder: «Haltet ein mit eurer Musik!» Die Musikanten aber hatten von der Königin den Befehl erhalten, ihm nicht zu gehorchen, und spielten weiter. Da warf Maruzzedda das dritte Kleid ab, und in der Angst ihres Herzens rief sie so laut sie nur konnte: «T’amero!» Da hörte der König den Schrei, sprang aus dem Bett und lief in den Hof hinunter. Wie er hinkam, waren die Diener im Begriff, die arme Maruzzedda in das Feuer zu werfen. Da gebot er ihnen Einhalt und befahl ihnen, statt ihrer die alte Königin zu binden und in das Feuer zu werfen. Dann umarmte er seine Frau und sprach: «Nun wirst du Königin sein.» «Ach», erwiderte sie, «führe mich vor allem zu meinen Kindern.» «Wo sind denn die Kinder?» fragte der König. «Wie, sind sie nicht hier!» rief die arme Mutter. «O meine Kinder, meine lieben Kinder!» Da erzählte sie dem König, wie seine Mutter die Kinder alle habe holen lassen, aber es wußte kein Mensch um sie, und es war große Trauer im Schloß. Da ließ sich aber der Koch bei dem König melden und sprach zu ihm:
«Majestät, und Ihr, Frau Königin, tröstet Euch! Die Kindlein sind wohlbehalten in meinem Haus. Die alte Königin hatte mir freilich befohlen, sie zu töten, aber mein Herz erbarmte sich ihrer, und ich ließ sie leben.» Da wurden die drei Kinder gebracht, und die Eltern umarmten sie mit großer Freude. Dann feierten der König und die Königin ein schönes Fest, den treuen Koch aber beschenkten sie reichlich. So lebten sie glücklich und zufrieden, wir aber gehen leer aus.
44 Von der Schwester des Muntifiuri
Es waren einmal ein Bruder und eine Schwester, die hatten weder Vater noch Mutter und lebten allein miteinander und hatten sich von Herzen lieb. Der Bruder war ein schöner Jüngling und hieß Muntifiuri, die Schwester aber war schöner als die Sonne. Nun begab es sich, daß eines Tages der König einen neuen Kammerdiener suchte, da erzählte man ihm von Muntifiuri, der ein so schöner Jüngling sei; also schickte er ihm eine Botschaft, er solle an den Hof kommen, der König wolle ihn zu seinem Kammerdiener machen. Ehe Muntifiuri nun verreiste, ließ er ein Bild von seiner Schwester machen und nahm es mit sich. Der König gewann seinen Diener bald sehr lieb, hielt ihn gut und wollte ihn immer um sich haben. Wenn aber Muntifiuri nichts zu tun hatte, ging er oft in seine Kammer, betrachtete das Bild seiner Schwester und weinte. Die anderen Diener waren neidisch auf die Gunst, die der König dem Muntifiuri zeigte, und dachten, wie sie ihn verderben könnten. Darum gingen sie zum König und sprachen: «Muntifiuri sitzt immer in seiner Kammer, und kein Mensch weiß, was er darinnen tut, denn er läßt niemals jemanden hinein.» Der König wurde neugierig, schlich sich zur Kammer seines Dieners und schaute durch das Schlüsselloch. Da sah er, daß
Muntifiuri immer ein Bild anschaute und dazu weinte. Als nun Muntifiuri aus seiner Kammer heraustrat, fragte ihn der König: «Wer ist auf dem Bild, das du immer anschaust? Zeige es mir einmal.» Er wollte es aber nicht zeigen, denn seine Schwester war sehr schön. Da drohte ihm der König: «Wenn du mir nicht sogleich das Bild zeigst, so lasse ich dir den Kopf abhauen», und so mußte denn Muntifiuri das Bild herbeiholen. Als der König nun das Bild gesehen hatte, fragte er: «Wer ist das?» «Königliche Majestät, das ist meine Schwester», antwortete Muntifiuri. «Ist sie wirklich so schön?» fragte der König. «Noch tausendmal schöner», sprach Muntifiuri. «Wenn sie wirklich noch tausendmal schöner ist», rief der König, «so laß sie herkommen; denn ich will sie zu meiner Gemahlin machen.» Da machte sich Muntifiuri auf, kam zu seiner Schwester und sprach: «Denke dir, liebe Schwester, der König will dich zu seiner Gemahlin erheben. Nun ist dein Glück gemacht.» «Ach», antwortete sie, «wie kann ich denn zum König kommen? Ich darf nicht über das Meer, denn als ich noch ein kleines Kind war, verwünschte mich eine böse Zauberin und sprach: ‹Möge dich die Sirene des Meeres holen.›» Da ließ der Bruder ein großes Schiff bauen, das war von allen Seiten geschlossen, und sprach: «Siehe, liebe Schwester, in diesem Schiff kannst du sicher fahren, denn es hat kein Fenster und keine Öffnung, also kann auch die Sirene nicht hereinkommen und dich holen.» Neben den Geschwistern nun wohnte eine böse Frau, die sah mit neidischen Augen das Glück, das die schöne Schwester des Muntifiuri getroffen hatte. Sie hatte auch eine Tochter, die war aber häßlicher als die Schulden. Da ging sie zu Muntifiuri und sprach:
«Wir sind doch immer gute Freunde gewesen, Muntifiuri. So tu mir nur den Gefallen und laß meine Tochter deine Schwester begleiten. Sie kann ja bei ihr im Dienst bleiben.» Muntifiuri war damit zufrieden, schiffte seine Schwester und ihre häßliche Begleiterin ein und ließ dann auch von oben das Schiff schließen, damit seine Schwester sicher zum König käme. Die böse Nachbarin aber hatte ihrer Tochter einen Bohrer gegeben und gesagt: «Wenn ihr euch auf dem Meere befindet, so bohre ein Loch in die Wand des Schiffes, damit die Sirene des Meeres komme und die zukünftige Königin hole, so wirst du Königin werden.» Das tat das häßliche Mädchen, bohrte ein Loch in die Wand des Schiffes und alsbald kam die Sirene und nahm die schöne Schwester des Muntifiuri mit. Die Tochter der Nachbarin aber legte die Kleider der Schönen an. Da nun das Schiff im Hafen einfuhr, ließ Muntifiuri das Verdeck auseinanderschlagen, um seine Schwester herauszuholen; er fand aber nur die häßliche Tochter der Nachbarin, die in den schönen Kleidern noch viel häßlicher aussah. Da ging Muntifiuri zum König, fiel ihm zu Füßen und sprach: «Königliche Majestät, unterwegs ist meine Schwester ins Wasser gefallen und gestorben, und ich habe nur die Tochter meiner Nachbarin mitgebracht.» Da war der König sehr betrübt und sprach: «Wenn denn deine Schwester gestorben ist, so will ich die Tochter deiner Nachbarin heiraten.» Also wurde die Tochter der Nachbarin hereingeführt, und als der König sie sah, entsetzte er sich vor ihrem häßlichen Gesicht. Weil er aber versprochen hatte, sie zu heiraten, wollte er sein königliches Wort nicht brechen, sondern feierte eine glänzende Hochzeit und heiratete das häßliche Mädchen.
Die junge Königin aber sann nur darüber nach, wie sie den Muntifiuri töten könne, den der König so liebhatte. Da kam sie zu ihrem Gemahl und sprach: «Muntifiuri rühmt sich großer Dinge; er hat sich unterfangen, in einer Nacht einen wunderschönen Brunnen auf dem großen Platz vor dem Schloß zu errichten, mit springendem Wasser und schön gearbeitet.» Da ließ der König seinen treuen Diener kommen und sprach: «Muntifiuri, du hast dich gerühmt, in einer Nacht auf dem Platz vor dem Schloß einen schönen Brunnen zu errichten, mit springendem Wasser und schön gearbeitet. So führe das nun aus, sonst jage ich dich aus meinem Dienst.» Da war Muntifiuri sehr betrübt und ging an den Meeresstrand, weinte bitterlich und klagte: «O Schwester, meine Schwester, wie schlimm ergeht es mir!» Auf einmal erhob sich eine schöne Gestalt aus den Wellen, das war seine Schwester, die war noch viel schöner als bisher und hatte drei schöne Mädchen zu ihrer Rechten und drei zu ihrer Linken, sie war aber doch die Schönste. An dem Fuß aber trug sie eine goldene Kette, an der hielt die Sirene sie fest, daß sie nicht entfliehen konnte. «Was weinst du so bitterlich, mein lieber Bruder?» fragte sie. Da klagte er ihr sein Leid, sie aber sprach: «Gehe nur ruhig nach Hause und schlafe; morgen früh soll der Brunnen fertig sein.» Da ging Muntifiuri getröstet nach Haus, und in der Nacht kam seine Schwester mit ihren sechs Mädchen, und im Augenblick war ein wunderschöner Brunnen fertig, mit springendem Wasser und schön gearbeitet. Sie trug am Fuße aber immer die goldene Kette, an der zog sie die Sirene immer wieder ins Meer hinunter. Als der König nun am Morgen erwachte und den schönen Brunnen erblickte, war er hocherfreut und lobte seinen treuen Diener. Die junge Königin
aber dachte wieder, wie sie dem Muntifiuri schaden könne, und sprach zum König: «Muntifiuri rühmt sich ja großer Kunst; er hat sich unterfangen, in einer Nacht um den Brunnen herum einen wunderschönen Garten zu pflanzen, in dem alle Bäume und alle Blumen der ganzen Erde zu sehen wären.» Da ließ der König wieder seinen treuen Diener rufen und befahl ihm, in einer Nacht um den Brunnen herum einen Garten anzulegen, in dem alle Bäume und alle Blumen der Erde zu sehen seien, sonst werde er ihn ins Gefängnis werfen lassen. Muntifiuri ging aber wieder an den Meeresstrand, weinte und rief seine Schwester. Da erschien sie über dem Wasser und fragte, was er wolle. Als er ihr sein Leid geklagt hatte, antwortete sie: «Gehe nur ruhig nach Haus und schlafe, morgen früh soll der Garten fertig sein.» In der Nacht aber kam sie mit ihren sechs Mädchen und errichtete einen Garten, der war so schön, wie der König keinen schöneren hatte, und darin waren alle Bäume und alle Blumen der Erde zu sehen. Als nun am anderen Morgen der König erwachte, staunte er über den schönen Garten und erfreute sich daran. Die junge Königin aber sprach wieder zu ihm: «Muntifiuri läßt nicht nach, sich seiner Kunst zu rühmen, und prahlte damit, in einer Nacht in dem Garten alle Vögel, die es auf Erden gibt, zu versammeln.» Da befahl der König dem armen Muntifiuri, in einer Nacht alle Vögel, die es auf Erden gibt, in dem Garten zu versammeln, sonst ließe er ihm den Kopf abschneiden. Muntifiuri ging wieder zum Meeresstrand, rief seine Schwester und klagte ihr sein Leid. «Gehe nur nach Hause und schlafe», sprach sie, «morgen soll der König zufrieden sein.» Da kam sie in der Nacht mit ihren sechs Mädchen, und alsbald bevölkerten sich die Bäume mit
allen Vogelarten, die es auf Erden gibt, die sangen so lieblich, daß man nichts Schöneres hören konnte. Die junge Königin aber ergrimmte, daß Muntifiuri immer alles ausführte und sie ihm nichts anhaben konnte. Da nahm sie zwölf Enten, rief den Muntifiuri und sprach: «Jeden Morgen mußt du die Enten über Land führen und wenn dir abends eine fehlt, so kostet es deinen Kopf.» Muntifiuri nahm die zwölf Enten, trieb sie an den Meeresstrand und rief wieder seine Schwester. Da erhob sie sich über den Wellen und fragte ihn, was er wolle. «Ich soll diese zwölf Enten auf die Weide führen», sprach er, «gib du ihnen zu fressen, so brauche ich nicht so weit zu laufen.» Da schüttelte sie ihre schönen Flechten, daß Perlen und Goldkörner herausfielen, und die Enten pickten sie begierig auf. Als es nun Abend war und Muntifiuri die Enten nach Hause trieb, fingen sie an zu singen: «O Koch, o Koch, wir kommen vom Meer, Perlen die Fülle tragen wir her, Schön ist die Sonne mit hellem Schein, Doch schöner muß Muntifiuris Schwester wohl sein.» (Coccu, coccu, du mari vinemu, Chini di perni nui semu, E la soru di Muntifiuri E cchiù bedda di lu suli.) Als die Königin das hörte, erschrak sie und sperrte schnell die Enten ein, damit niemand ihr Lied hören sollte. Am nächsten Morgen nahm sie eine Ente und tötete sie und gab dem Muntifiuri nur elf Enten mit. Weil er aber seinen Gedanken nachhing, vergaß er, die Enten zu zählen, und ging geradewegs zum Meeresstrand und rief seine Schwester; die schüttelte
wieder ihre schönen Flechten, daß Perlen und Goldkörner herausfielen und die Enten sich satt fraßen. Als Muntifiuri sie nach Hause trieb, fingen sie wieder an zu singen: «O Koch, o Koch, wir kommen vom Meer, Perlen die Fülle tragen wir her, Schön ist die Sonne mit hellem Schein, Doch schöner muß Muntifiuris Schwester wohl sein.» Da kam die Königin eilends heruntergelaufen und sperrte die Enten ein, und als sie sie zählte, waren es nur elf. Da eilte sie zum König und sprach: «Muntifiuri hat mir eine meiner Enten verloren, dafür muß ihm der Kopf abgehauen werden.» Der König aber mußte ihr den Willen tun, ließ seinen treuen Diener rufen und sprach: «Muntifiuri, du hast der Königin eine Ente verloren, dafür mußt du sterben.» «Wohl», antwortete Muntifiuri, «gewähret mir nur die eine Bitte und laßt mich noch ein einziges Mal an den Meeresstrand gehen.» Der König gewährte ihm die Bitte, und Muntifiuri ging an den Meeresstrand, rief die Schwester und klagte ihr sein Leid. «Du armer Bruder», antwortete sie, «nun kann ich dir nicht mehr helfen. Laß dich aber in dem Garten bei dem schönen Brunnen begraben, so will ich drei Nächte hindurch kommen und dir die Totengesänge singen; das ist das einzige, was ich für dich tun kann.» Da kam Muntifiuri zum König und sprach: «Wenn man mir den Kopf abgehauen hat, so lasset mich in drei Särge tun, einen bleiernen, einen silbernen und einen goldenen, und lasset mich im Garten bei dem schönen Brunnen begraben, den ich für Euch errichtet habe.» Das versprach der König, und als der Scharfrichter dem armen Muntifiuri den
Kopf abgehauen hatte, ließ er ihn in drei Särge legen, wie er gewünscht hatte, und ließ ihn im Garten bei dem Brunnen begraben. In der Nacht aber kam seine Schwester mit ihren sechs Mädchen und setzte sich auf das Grab und sang die Totengesänge, und es klang so lieblich, daß die Gärtner des Königs sich gar nicht satt hören konnten. Aber als die Sirene an der goldenen Kette zog, mußte das schöne Mädchen ins Meer zurück. In der nächsten Nacht ging es ebenso, da erzählten es die Gärtner dem Könige und sprachen: «Königliche Majestät, in diesen zwei letzten Nächten sind im Garten sieben Mädchen erschienen, die sind alle sehr schön; die mittelste aber ist schöner als die Sonne und trägt eine goldene Kette am Fuß, die setzt sich auf das Grab Eures Dieners Muntifiuri und singt so schön, daß man nichts Schöneres hören kann. Nach einer Weile aber zieht jemand an der Kette, wir wissen nicht wer, und die schöne Gestalt verschwindet.» Da war der König neugierig und sprach: «Diese Nacht will ich mit euch wachen.» Als es nun Abend war, versteckte sich der König im Garten, und bald erschien die Schwester des Muntifiuri zum letztenmal, setzte sich auf das Grab und sang noch viel schöner als die beiden ersten Nächte. Da sprang der König hinzu und zerschlug mit seinem Schwerte die goldene Kette und sprach: «Wer bist du, schönes Mädchen?» Da antwortete sie: «Ich bin die Schwester des armen Muntifiuri und bin nicht im Meer ertrunken, sondern die böse Tochter der Nachbarin, die nun Eure Frau ist, hatte ein Loch in die Wand des Schiffes gebohrt, daß die Sirene des Meeres kam und mich in den Grund des Meeres holte und mich mit einer goldenen Kette
gefesselt hielt. Ihr aber habt mich erlöst, indem Ihr die goldene Kette durchgeschlagen habt.» «Wenn dem so ist», rief der König, «so sollst du meine Gemahlin sein.» Da ließ er der falschen Königin den Kopf abhauen und ließ sie in lauter Stücke schneiden und in einem Faß einsalzen. Zuunterst ließ er ihre Hand legen, an der sie einen Ring trug, den hatte sie von ihrer Mutter bekommen. Das Faß aber schickte er der bösen Nachbarin und ließ ihr sagen: «Eure Tochter, die Königin, schickt Euch diesen schönen Thunfisch, daß Ihr ihn ihr zu Liebe essen möget.» Da war die Mutter sehr erfreut und öffnete sogleich das Faß und fing an ein Stück zu essen. Als sie aber einmal angefangen hatte, mußte sie immer weiteressen, bis sie auf den Grund des Fasses kam. Nun hatte sie eine Katze und einen Hund, die sprangen immerfort an ihr hinauf und baten: «Gib uns ein Stückchen mit, so helfen wir dir auch nachher weinen.» Sie aber jagte sie fort und wollte ihnen nichts mitgeben. Als sie nun auf den Grund des Fasses kam und die Hand mit dem Ringe fand, da erkannte sie, daß sie ihre eigene Tochter gegessen hatte, und in ihrem Schmerze rannte sie mit dem Kopf gegen die Mauer, so daß sie starb. Der Hund und die Katze aber tanzten im ganzen Haus herum und sangen: «Du hast uns nichts mitgegeben, so helfen wir dir auch nicht weinen.» Der König aber ließ eine glänzende Hochzeit feiern und heiratete die schöne Schwester des Muntifiuri; und sie lebten glücklich und zufrieden, wir aber sind leer ausgegangen.
45 Die beiden Fürstenkinder von Monteleone
Es war einmal ein Fürst, der Fürst von Monteleone. Der lebte mit seiner Gemahlin in einem herrlichen Schloß, war unermeßlich reich und hatte alles, was sein Herz begehrte. Dennoch waren sie beide stets traurig, denn sie hatten keine Kinder. ‹Ach›, dachten sie oft, ‹wem sollen wir denn alle unsere Schätze einmal hinterlassen?› Endlich, nach langen Jahren, hatte die Fürstin Aussicht, ein Kind zu bekommen. Da ließ der Fürst in einer einsamen Gegend einen Turm ohne Fenster bauen und ließ ihn ausstatten mit kostbaren Möbeln. Die Fürstin aber ließ sich gar nicht mehr sehen. Als nun ihre Zeit kam, gebar sie einen Sohn und eine Tochter. Die ließ der Fürst in aller Stille taufen, nahm eine Amme und schloß sie mit den Kindern in den Turm ein. Dort gediehen nun die Kinder und wuchsen einen Tag für zwei und wurden immer schöner. Als sie größer wurden, schickte ihnen der Vater einen Kaplan, der lehrte sie lesen und schreiben und alles, was zu einer guten Erziehung gehört. Nach einigen Jahren wurde die Fürstin krank und starb. Bald darauf wurde auch der Fürst schwer krank, und da er fühlte, daß es mit ihm zu Ende gehe, ließ er den Kaplan rufen und sprach zu ihm: «Ich fühle, daß ich jetzt sterben muß: dir empfehle ich meine Kinder an. Du sollst ihr Vormund sein und all mein Vermögen für sie verwalten. Laß sie aber den Turm nicht eher verlassen, bis sich eine gute Gelegenheit findet, sie zu verheiraten.»
Der Kaplan versprach, für die Kinder zu sorgen, wie wenn es seine eigenen wären, und bald verschied der Fürst. Nun versteckte der Kaplan alle die Schätze im Schloß, zog zu den Kindern in den Turm, entließ die Amme, nachdem sie hatte versprechen müssen, niemandem von den Kindern zu erzählen, und lebte nun mit ihnen allein in der Einsamkeit. Die Kinder wurden von Tag zu Tag schöner und lernten auch fleißig. Wenn nun in den Büchern die Rede auf fremde Länder und Städte kam, verwunderte sich der Knabe sehr und wollte gern wissen, wie die Welt beschaffen sei, und je älter er wurde, desto mehr erwachte in ihm der Wunsch auszuziehen und die Welt zu sehen. Als er nun ein schöner Jüngling geworden war, trat er vor den Kaplan und sprach zu ihm: «Onkel, laßt mich hinaus, denn ich möchte zu gerne die Welt kennenlernen.» Der Kaplan wollte es anfangs nicht zugeben, aber der junge Fürst bat so lange, daß er endlich nachgeben mußte. Da ließ er ein wunderschönes Schiff bauen und bemannen und füllte es mit kostbaren Schätzen, darauf sollte der Jüngling verreisen. Als er nun von seiner Schwester Abschied nahm, schenkte er ihr einen Ring mit einem kostbaren Stein und sprach: «Solange der Stein klar ist, solange bin ich gesund und werde zu dir zurückkehren; wenn aber der Stein trüb werden wird, dann bin ich tot und kann nicht zurückkehren.» Darauf umarmte er sie, bestieg sein Schiff und reiste ab. Alles schien ihm schön, der Himmel, die Sonne, die Sterne, die Blumen, das Meer, alles war ihm unbekannt, und alles freute ihn. Nachdem er einige Tage gefahren war, kam er in eine schöne Stadt, darin wohnte ein König. Als er nun in den Hafen einfuhr, fing er an zu schießen. Das hörte der König, wurde neugierig und fuhr zum Hafen, und als er das schöne Schiff
sah, bekam er Lust, an Bord zu steigen. Dort wurde er von dem jungen Fürsten wohl empfangen, und er gewann den schönen und edlen Jüngling so lieb, daß er ihn mit ans Land und auf sein Schloß nahm, ihn hoch in Ehren hielt und zu seinem steten Begleiter machte. Ins Theater, auf den Ball, überall nahm er ihn mit. Unter seinen Ministern aber waren manche neidisch auf die Gunst, die er dem Jüngling erwies, denn die neidischen Menschen fehlen nirgends auf der Erde. Als sie nun eines Tages bei dem König versammelt waren, erzählte der junge Fürst von seiner Schwester, die so schön sei und die noch nie eines Mannes Auge erblickt habe, und rühmte ihre große Tugend. Darüber zuckte nun ein Minister die Achsel und meinte, es gelte eben nur einen Versuch und er wette, es würde ihm gelingen. Ein Wort gab das andere, und endlich gingen der Minister und der Jüngling die Wette ein, derjenige aber, der die Wette verlieren würde, sollte gehängt werden. Nun bestieg der Minister ein Schiff, und nachdem er lange nach dem Ort Monteleone geforscht hatte, kam er endlich dort an. Als er sich aber nach der Tochter des verstorbenen Fürsten erkundigte, lachten ihm alle ins Gesicht und meinten, der Fürst und die Fürstin seien ja ohne Kinder gestorben, und wieviel er auch fragen mochte, sie konnten ihm keine Auskunft geben. Da wurde ihm sehr bange, und er fing an, um sein Leben zu fürchten. Als er nun so mißmutig durch die Straßen schlenderte, bettelte ihn eine arme Frau an. Er wies sie hart ab, sie aber fragte ihn nach dem Grund seines Mißmutes. Endlich erzählte er ihr also, wie er die junge Fürstin von Monteleone nicht finden könne und welche Wette er eingegangen sei. «Wenn mir jemand helfen könnte», rief er, «ich wollte ihn reich belohnen.»
Die Frau aber war niemand anderer als die Amme der beiden Kinder. Da ihr nun der Minister eine so reiche Belohnung versprach, ließ sie sich bestechen und sprach: «Kommt morgen an diesen selben Ort, so will ich Euch helfen.» Den nächsten Morgen machte sich die falsche Frau auf den Weg zu dem Turm und klopfte dort an. Zufällig war der Kaplan in die Stadt gegangen, und das Mädchen war allein im Haus. Als sie nun das Mädchen sah, sprach sie: «Liebes Kind, ich bin deine frühere Amme und bin gekommen, dir einen Besuch zu machen.» Da ließ das Mädchen sie hinein, und die Alte schritt durch die Zimmer und betrachtete alles sehr genau. Als sie nun in das Schlafzimmer des Mädchens kamen, sprach sie: «Komm, liebes Kind, ich will dich hübsch ankleiden.» Das Mädchen aber hatte ein Muttermal mit drei goldenen Härchen, die mit einem Fädchen geflochten waren, auf der Schulter. Auch trug sie den Ring ihres Bruders am Schnürleibchen festgenäht. Wie nun die Alte sie ankleidete, merkte sie sich genau die Form des Muttermales und entwendete ihr auch unbemerkt den Ring. Dann verließ sie sie und kehrte eilig zum Minister zurück, dem sie alles erzählte, was sie sich gemerkt hatte, und sie gab ihm auch den Ring. Nun kehrte der Minister eilig in sein Land zurück, trat vor den König und erzählte: «Ich habe die Wette gewonnen, so und so sieht es im Hause aus; auf der Schulter hat die Fürstin ein Muttermal mit drei goldenen Härchen, die mit einem Fädchen geflochten sind, und diesen Ring hat sie mir geschenkt.» Als das der junge Fürst hörte, konnte er nichts erwidern, aber er wurde von einem heftigen Grimm gegen seine unschuldige Schwester erfüllt. «Wohl», sprach er, «ich bin bereit zu sterben und bitte nur um acht Tage Frist.»
Der König, der sehr traurig war über das Schicksal seines Lieblings, gewährte ihm die Frist, und nun rief der junge König seinen treuen Diener Franz herbei und sprach zu ihm: «Du hast mir bisher so treu gedient, nun mußt du auch meinen letzten Befehl ausführen. Eile zu meiner nichtswürdigen Schwester, töte sie und bringe mir ein Fläschchen von ihrem Blut, daß ich es trinke, so werde ich freudig sterben.» Der Diener war sehr betrübt über diesen Auftrag; er mußte aber gehorchen und reiste nach Monteleone. Als ihn die junge Fürstin sah und bemerkte, wie traurig er war, fragte sie ihn nach der Ursache. «Ach», erwiderte Franz, «ich muß Euch töten, denn Ihr habt eine schwere Sünde begangen, und Euretwegen muß mein armer Herr sterben.» «Was habe ich denn getan?» fragte das arme Mädchen. «Wie, habt Ihr nicht den Minister des Königs bei Euch empfangen und ihm sogar den Ring Eures Bruders geschenkt?» Da merkte sie erst, daß der Ring fort war, und ihr Verdacht fiel gleich auf die Amme, die ihr wenige Tage vorher beim Ankleiden geholfen hatte. Da warf sie sich dem Kaplan zu Füßen und rief: «Lieber Onkel, laßt mich ziehen, ich muß gehen und meinen Bruder retten.» «Ach, Kind», erwiderte der Kaplan, «das kann dir ja nimmer gelingen.» Sie aber bat so lange, bis er seine Einwilligung gab. «Nun, lieber Onkel», sagte sie, «müßt ihr mir die schönsten Perlen und Edelsteine meiner Mutter holen.» Der Kaplan ging hin, füllte ein Kistchen mit den edelsten Steinen und kostbarsten Perlen, und die Jungfrau machte sich mit Franz auf den Weg zu der Residenz.
«Jetzt mußt du mir ein Zimmer in einem Wirtshaus mieten», sprach sie, «dann töte einige Hühner, bringe meinem Bruder ein Fläschchen Blut und sage ihm, du hättest seinen Befehl ausgeführt.» Franz tat alles, was seine Herrin ihm befahl, und als der junge Fürst das Blut getrunken hatte, kehrte er ins Wirtshaus zurück. Dann mußte er die junge Fürstin zum besten Goldschmied der Stadt begleiten, und sie sprach zu diesem: «Meister, aus diesen Perlen und Edelsteinen müßt Ihr mir binnen drei Tagen eine Sandale machen, so kostbar, wie Ihr nur könnt.» Der Meister nahm sogleich eine Schar neuer Gesellen, die Tag und Nacht arbeiten mußten, und binnen drei Tagen war die kostbare Sandale fertig. Zugleich waren die acht Tage verronnen, und der arme Fürst sollte zum Galgen geführt werden. Da ließ seine Schwester eine kleine Tribüne errichten, an dem Wege, auf dem ihr Bruder zum Tode geführt werden sollte, und sie setzte sich darauf; vor ihr auf einem silbernen Teebrett lag die Sandale. Als nun der Zug des Weges gezogen kam, wartete sie, bis der König in seinem Wagen vorbeifuhr, und rief: «Königliche Majestät! Ich flehe um Eure Gerechtigkeit und Euren Schutz.» «Was ist denn dein Begehren?» fragte der König. «Einer Eurer Minister hat mir eine Sandale gestohlen, die zu dieser hier gehörte, und der dort ist der Dieb.» Damit wies sie auf den Minister, durch dessen Schuld ihr Bruder den Tod erleiden sollte. «Wie», rief der Minister, «ich soll Euch eine Sandale gestohlen haben? Wenn ich Euch nun noch einmal sehe, dann habe ich Euch zum zweitenmal gesehen.» «O Nichtswürdiger», rief nun die Fürstin, «wenn du mich nicht einmal kennst, wie kannst du dich dann rühmen, meine Gunst genossen zu haben? Ich bin die Schwester des
Unglücklichen, der um deiner Verleumdungen willen den Tod erleiden soll.» Als der König das hörte, befahl er, sogleich den jungen Fürsten zu befreien. Der Minister aber wurde ergriffen und an demselben Galgen aufgehängt. Die beiden Geschwister führte der König auf sein Schloß, und weil das Mädchen so schön war, nahm er es zu seiner Gemahlin. Da ließen sie ihre Schätze kommen, und der Kaplan mußte auch zu ihnen ziehen. So lebten sie denn vergnügt und glücklich, wir aber haben das Nachsehen.
46 Die Geschichte von Pezze e fogghi
Es war einmal ein König, der hatte drei Töchter und einen Sohn. Der König wurde so krank, daß er sterben mußte. Als er fühlte, daß er dem Tode nahe war, ließ er seinen Sohn vor sich kommen und sprach zu ihm: «Lieber Sohn, ich muß nun sterben, und du wirst nach mir König sein. Ich empfehle dir deine drei Schwestern, sorge für sie, bis sie sich verheiraten. Du mußt sie aber nicht nach deinem oder ihrem Gutdünken verheiraten, sondern wenn eine von ihnen Lust dazu zeigt, so pflücke von dem schönen Rosenstrauch auf der Terrasse eine Rose, und wirf sie auf die Straße. Der, der die Rose aufhebt, soll ihr Gemahl sein.» Als der König diese Worte gesprochen hatte, starb er, und sein Sohn wurde König. Nach einiger Zeit kam seine älteste Schwester zu ihm und sprach: «Lieber Bruder, ich wünsche mich zu verheiraten, suche einen Mann für mich aus.» «Weißt du auch, was mir unser Vater auf seinem Sterbebette befohlen hat?» sprach der König und erzählte seiner Schwester, was der Vater gesagt hatte. Da wurde sie zornig und sprach: «War denn unser Vater närrisch? Wie? Ich sollte jeden Beliebigen heiraten müssen, dem es einfällt, die Rose aufzuheben? Lieber heirate ich gar nicht.» «Tu, wie du willst», sprach er, «ich kann dir nicht helfen, denn dies ist unseres Vaters Letzter Wille gewesen.»
Als noch einige Monate verflossen waren, wurde der Königstochter die Zeit lang, und sie trat wieder vor ihren Bruder und sprach: «Wenn es denn nicht anders sein kann, so will ich nach dem Willen unseres Vaters tun.» Also pflückte der König eine Rose von dem Rosenstrauch auf der Terrasse, warf sie auf die Straße und befahl einem Soldaten, Wache zu halten und den ersten, der die Rose aufheben würde, in den Palast zu schicken. Als der Soldat eine Weile neben der Rose gestanden hatte, kam ein Fürst vorbei. Da er die schöne Rose am Boden liegen sah, hob er sie auf und sprach: «Ach, die schöne Rose!» «Edler Herr», sprach die Schildwache, «der König wünscht Euch zu sprechen.» Da kam der Fürst vor den König, der fragte ihn: «Habt Ihr die Rose aufgehoben, die auf der Straße lag?» «Jawohl, königliche Majestät!» «So müsset Ihr auch meine älteste Schwester heiraten.» «Königliche Majestät», sagte der Fürst ganz erschrocken, «das kann ja nicht sein! Der Königstochter gebührt es, einen Königssohn zu heiraten, und ich bin nur ein Fürst. Wie kann mir diese Ehre werden!» «Hier ist von keiner Ehre die Rede», antwortete der König, «sondern es ist nun einmal notwendig, daß meine Schwester Eure Gemahlin werde.» Also heiratete die Königstochter den Fürsten und dachte: ‹Ist es auch kein Prinz, so bin ich doch froh, daß es nicht schlimmer geworden ist.› Nach einiger Zeit trat die zweite Königstochter vor ihren Bruder und sprach: «Lieber Bruder, ich bin nun im Alter, mich zu verheiraten, suche mir einen Mann aus.» Da antwortete der König:
«Weißt du aber auch, was mir unser Vater auf seinem Totenbette befohlen hat? Wenn du dich verheiraten willst, so mußt du dich seiner Bedingung fügen.» «Wenn es nicht anders sein kann, so will ich den Willen unseres Vaters tun», sprach die Königstochter. Da pflückte der König eine Rose und warf sie auf die Straße, und ein Soldat mußte daneben Wache stehen. Lange Zeit ging niemand vorbei. Endlich kam ein Herr die Straße entlang. Da er die schöne Rose am Boden liegen sah, hob er sie auf und roch daran. Der Soldat trat auf ihn zu und sagte, der König wünsche ihn zu sprechen. «Habt Ihr die Rose aufgenommen?» fragte ihn der König, als der Herr vor ihn trat. «Jawohl, königliche Majestät!» «Nun denn, so müßt Ihr meine Schwester zu Eurer Gemahlin nehmen.» «Ach, königliche Majestät», rief der Herr, «das kann ja nicht sein. Der Königstochter gebührt ein Herrscher zum Gemahl, und ich bin nur ein schlechter Untertan.» «Ich kann Euch nicht helfen», sprach der König, «meine Schwester muß Eure Gemahlin werden.» Also wurde die Hochzeit gefeiert. Nun war nur noch die Jüngste übrig; die aber sprach: «Meine älteste Schwester hat einen Fürsten zum Mann bekommen, meine zweite Schwester nur einen reichen Herrn. Wer weiß, was mir beschieden ist! Darum will ich lieber gar nicht heiraten.» Also blieb sie bei ihrem Bruder. Nun begab es sich aber, daß der König selbst eine junge Frau nahm, und das weiß man ja: kommt einmal eine Schwägerin ins Haus, so beginnt für die Schwester ein ganz anderes Leben. So ging es auch der Jüngsten. Nachdem sie Herrscherin im Hause gewesen, mußte sie sich nun ihrer Schwägerin
unterordnen. So kam es, daß sie endlich vor ihren Bruder trat und ihm sagte: «Lieber Bruder, wenn es denn nicht anders sein kann, so will ich meines Vaters Willen tun.» «Nimm du selbst die Rose», sprach der König, «und wirf sie auf die Straße.» Da pflückte die Königstochter die Rose und warf sie auf die Straße, und ein Soldat mußte daneben Wache stehen. Den ganzen Tag über ging fast niemand vorbei. Endlich, als es schon beinahe Abend war, kam ein Wasserträger des Weges mit seinem Stock und seinem Wasserfaß. Der Wasserträger war schmutzig und häßlich wie die Nacht, und seine Beine waren mit Blättern und Lappen eingebunden. Als er die schöne Rose liegen sah, hob er sie auf und roch daran. Der Soldat erschrak und dachte: ‹Wie kann die Königstochter diesen schrecklichen Menschen heiraten!› Weil aber der König ihm strengen Befehl gegeben hatte, so konnte er den Wasserträger nicht weitergehen lassen, sondern mußte ihn vor den König führen. «Hast du die Rose aufgehoben?» fragte ihn der König. «Jawohl, königliche Majestät!» «So mußt du jetzt auch meine Schwester heiraten.» «Oh, königliche Majestät», rief der Wasserträger, «Ihr wollet mit mir scherzen! Seht Ihr denn nicht, wie schmutzig ich bin und wie meine Beine so krank sind?» Dem König war es traurig zumute. Die Königstochter weinte und jammerte über ihr Mißgeschick, aber es half alles nichts, sie mußte den schmutzigen, garstigen Wasserträger heiraten. «Aussteuer will ich keine», brummte er, «was soll ich in meinen Bergen damit machen?» Also nahm er seine Frau mit sich und führte sie in die Berge in eine armselige kleine Strohhütte, in der wohnte ein steinaltes, häßliches Weib.
«Siehst du, das ist unsere Wohnung, und das ist meine Mutter», sprach er zu der armen Königstochter. Da mußte sie in der kleinen Hütte wohnen, und die Mutter nahm ihr die schönen Gewänder weg und gab ihr dafür ein wollenes Röckchen, das mußte sie tragen und mußte kochen und waschen wie eine niedrige Magd, und wenn abends ihr Mann nach Hause kam, mußte sie ihm auch noch die Beine verbinden. Seine Mutter aber nannte ihn Pezze e fogghi (Lumpen und Blätter). So verging eine lange Zeit. Die arme Königstochter weinte sich fast die Augen aus. Pezze e fogghi aber liebte sie wie seine Augen, und wenn er sie so weinen sah, tat ihm das Herz weh. Eines Abends hatte die Königstochter wieder bitterlich geweint. In der Nacht träumte ihr, sie sei in einem wunderschönen Schlosse. Viele schöngekleidete Lakaien dienten ihr und führten sie in einem goldenen Wagen mit sechs herrlichen Pferden bespannt zu ihrem Bruder. Als sie am Morgen erwachte, erzählte sie ihrem Manne ihren Traum, der lachte darüber und sprach: «Das sind eben Träume, wie kämest du in ein reiches Schloß?» Da weinte sie wieder den ganzen Tag, und am Abend schlief sie unter Weinen ein. Als sie am Morgen erwachte, sah sie sich in einem wunderschönen Schloß, wie der Traum es ihr gezeigt hatte. Sie lag in einem reichen Bette. Viele Dienerinnen waren um sie her und halfen ihr, sich mit wohlriechendem Wasser zu waschen, und legten ihr königliche Kleider an. Dann ging sie in ein anderes Zimmer, darinnen standen viele Lakaien, die trugen ihr Frühstück auf und fragten: «Was befehlen Eure königliche Hoheit?»
«Einen Wagen», antwortete sie, «denn ich will zu meinem Bruder fahren.» «Der Wagen ist bereit», sprachen die Diener, und als sie die Treppe hinunterging, stand da ein goldener Wagen mit sechs schönen Pferden bespannt, in den setzte sie sich und fuhr zu ihrem Bruder. Der junge König stand eben am Fenster. Als er den schönen Wagen sah, dachte er: ‹Wer kommt da wohl angefahren in einem so schönen, goldenen Wagen?› Als er aber seine Schwester erkannte, lief er ihr voll Freude und Verwunderung entgegen und fragte sie: «Liebe Schwester, bist du es? Wie kommst du denn zu dieser Pracht, und wo ist dein Mann?» «Wo mein Mann ist, weiß ich nicht», antwortete die Königstochter und erzählte ihm, wie es ihr ergangen. «Nun bin ich gekommen, dich und meine Schwestern abzuholen», fuhr sie fort, «denn heute sollt ihr alle bei mir essen.» Da setzte sich der König in seinen Wagen nebst seiner Frau, seinen Schwestern und deren Männern, und alle zusammen fuhren mit großem Gefolge nach dem Schlosse der Königstochter. Dort fanden sie einen schön gedeckten Tisch, setzten sich und aßen und tranken nach Herzenslust. Als die Mahlzeit zu Ende ging, hob einer der Gäste von ungefähr seine Augen auf und sah oben in der Decke ein großes Loch. Darin saß Pezze e fogghi und schaute lächelnd auf die Gesellschaft herab. «Ei, das ist ja Pezze e fogghi!» rief er. Pardauz! fiel das ganze Schloß zusammen und verschwand. Der König und sein Gefolge befanden sich wieder zu Haus, und die jüngste Königstochter saß in ihrem wollenen Röckchen auf dem Berge in ihrer Strohhütte. Als Pezze e fogghi nach Hause kam, klagte sie ihm ihr Leid, aber er lachte und sagte:
«Ach was, du träumst nun gar am hellen Tag, das ist dein Traum von voriger Nacht, der dir so lebhaft im Gedächtnis geblieben ist.» Es vergingen einige Tage. Eines Abends weinte die arme Königstochter wieder so viel, und als sie einschlief, träumte ihr abermals, sie sei in einem wunderschönen Schlosse; ganz derselbe Traum wie das erste Mal. Als sie am Morgen ihrem Mann den Traum erzählte, lachte er sie aus und sprach: «Was hast du denn nur für Träume?» Da weinte sie den ganzen Tag und schlief mit Weinen ein. Am Morgen erwachte sie wieder im schönen Schlosse, und die Dienerinnen standen um sie her. Es ging geradeso wie das erste Mal. Sie legte königliche Kleider an, fuhr zu ihrem Bruder und lud ihn mit seinem Gefolge auf ihr Schloß, um bei ihr zu essen. Gegen das Ende der Mahlzeit aber schaute wieder einer der Gäste zufällig aufwärts, und da er oben an der Decke ein Loch erblickte und darin den Wasserträger, rief er ganz laut: «Ach seht, da ist ja Pezze e fogghi!» Pardauz! fiel das Schloß zusammen; der König und sein Gefolge wurden in das königliche Schloß versetzt. Die arme Königstochter aber saß wieder in ihrer Hütte auf dem Berge und trug ihr schlechtes wollenes Röckchen. Als ihr Mann nach Hause kam, klagte sie und sprach: «Nun sieh, jetzt ist es mir zum zweitenmal so und so ergangen. Gewiß bist du schuld daran.» Er aber lachte sie aus und sprach: «Ach was, du träumest eben bei Tag und bei Nacht.» Abermals verging ein Monat. Eines Abends weinte die Königstochter wieder bitterlich, und als sie einschlief, träumte sie denselben Traum zum drittenmal. Am Morgen erzählte sie ihn ihrem Mann, der aber lachte nur darüber. Da weinte sie den ganzen Tag und schlief mit Weinen ein, und siehe da, am Morgen erwachte sie wieder im schönen Schloß.
‹Jetzt weiß ich aber, was ich tu›, dachte sie, ‹ehe ich meinen Bruder einlade, mache ich es ihm zur Bedingung, daß keiner den Namen meines Mannes aussprechen darf.› Da fuhr sie in ihrem goldenen Wagen zu ihrem Bruder und lud ihn ein, bei ihr zu essen. «Aber unter einer Bedingung», sagte sie, «im Schlosse darf keiner den Namen meines Mannes aussprechen.» «Gut», sprach der Bruder, und alle fuhren ins Schloß, wo wieder ein schön gedeckter Tisch bereit stand. Sie setzten sich und aßen, und gegen das Ende der Mahlzeit tat sich wieder die Decke auf, und Pezze e fogghi saß oben und schaute auf die Gesellschaft herab, aber keiner rief: «Da oben sitzt Pezze e fogghi!» Als alle fertig gegessen hatten, kam Pezze e fogghi herab und saß in der Mitte des Zimmers auf einem schönen Thron und war nicht mehr ein schmutziger Wasserträger, sondern ein schöner Jüngling in königlichen Kleidern. Denn Pezze e fogghi war der Sohn des Königs von Spanien und war von einem bösen Zauberer verwunschen worden. Nun hatte die schöne Königstochter ihn erlöst. Da wurden drei Tage Festlichkeiten gehalten, und dann fuhr der Königssohn mit seiner schönen Gemahlin nach Spanien. Als sie fort waren, verschwand das Schloß und ward nicht mehr gesehen.
47 Die Geschichte von dem Kaufmannssohne Peppino
Es war einmal ein Kaufmann, der war ganz unermeßlich reich und hatte so viel Schätze, daß der König nicht mehr haben konnte. Er lebte mit seiner Frau in Frieden und Eintracht, und nur eines fehlte ihnen, sie hatten keine Kinder. Da wandte sich eines Tages die Frau an den heiligen Joseph und sprach bittend: «Lieber heiliger Joseph, wenn Ihr mir ein Kind beschert, so will ich Euch eine schöne Kirche bauen und will jedes Jahr an Eurem Festtage ein großes Gastmahl halten und will Euch ein kleines Kind von lauterem Gold schenken, und mein Kind soll Euren Namen führen.» Nach einiger Zeit wurde die Frau guter Hoffnung, und als ihre Stunde kam, gebar sie einen wunderschönen Knaben, den nannte sie Giuseppe. Nun denkt euch, welche Freude der Kaufmann und seine Frau an diesem einzigen Sohne hatten! In ihrer Dankbarkeit bauten sie dem heiligen Joseph eine wunderschöne Kirche und ließen ein kleines Kind von Gold machen und schenkten es der Kirche. Und als der Tag des Heiligen kam, hielten sie ein großes Gastmahl, zu dem alle Stände geladen waren; die Reichen aßen mit den Reichen, die Bürger mit den Bürgern und die Armen mit den Armen, und dieses Fest wiederholten sie jedes Jahr. Der kleine Peppino wuchs mit jedem Tage und wurde so schön wie sonst kein Kind, wie konnte es auch anders sein, er war ja durch ein Wunder gemacht, ein Werk des heiligen Joseph. Als er nun fast siebzehn Jahre alt war, kam er eines
Tages zu seinem Vater und sprach: «Lieber Vater, ich bin nun bald siebzehn Jahre alt und habe noch nichts von der Welt gesehen, darum erlaubet mir, mit dem nächsten Schiffe, das Ihr absenden werdet, eine Reise zu machen und die Welt zu sehen.» «Ach, mein Sohn, was willst du denn in der Welt? Du bist ja reich und brauchst dich nicht zu plagen. Bleibe bei deinen Eltern, denn was sollen wir ohne dich tun?» So jammerte der Vater, aber Peppino ließ sich von seinem Vorhaben nicht abbringen und bat immer und immer wieder, und weil er der einzige Sohn war, so konnte ihm sein Vater nichts abschlagen und erlaubte ihm endlich, mit dem nächsten Schiffe zu verreisen. Als aber die Mutter hörte, daß ihr einziger Sohn verreisen wolle, fing sie laut an zu jammern und zu weinen: «Ach, soll ich meinen Sohn dem verräterischen Meere anvertrauen?» Doch vergebens, Peppino ließ sich nicht bewegen dazubleiben. Als nun der Vater wieder ein Schiff abzusenden hatte, ließ er es schön ausrüsten für seinen Sohn, rief den Kapitän und sprach zu ihm: «Ich empfehle dir meinen Sohn, du bist mir für ihn verantwortlich. Wenn du ihn mir gesund wiederbringst, so will ich dich fürstlich dafür belohnen.» Der Kapitän versprach, aus allen Kräften für Peppino zu sorgen, und so reisten beide ab. Nun wollte es das Unglück, daß sie kaum einige Tage gefahren waren, als sich ein furchtbarer Sturm erhob, und der Kapitän meinte, das Schiff werde sinken. Da ließ er ein kleines Boot in das Meer hinab und dachte auf diese Weise den Sohn seines Patrons zu retten; kaum war aber Peppino in das Boot gestiegen, als dieses umschlug und der Jüngling spurlos verschwand. Der Kapitän suchte auf allen Seiten, um ihn zu retten, Peppino aber kam nicht wieder zum Vorschein.
Da er nun nichts mehr machen konnte, fuhr der Kapitän nach Haus. ‹Ach›, dachte er, ‹wie kann ich nun vor den armen Vater treten. Wer soll es ihm erzählen!› Der Kaufmann aber stand am Balkon und dachte an seinen Sohn. Auf einmal sah er ein Schiff mit gesenkten Segeln einfahren und erkannte es als das Schiff, in welchem sein Sohn abgereist war. ‹Ach›, dachte er, ‹gewiß ist mein Sohn ertrunken und gestorben.› Als nun der Kapitän ans Land kam und den Eltern erzählte, wie ihr Sohn untergegangen sei, da gab es im Palast ein großes Trauern und Klagen; der Kaufmann ließ das ganze Haus schwarz behängen, und seine Leute mußten Trauerkleider anziehen. Er selbst schloß sich mit seiner Frau ein, sie sahen keinen Menschen und taten nichts anderes als ihren verlorenen Sohn beweinen. Dem heiligen Joseph aber machten sie Vorwürfe und sprachen: «O heiliger Joseph, wie habt Ihr uns einen so großen Schmerz angetan; warum habt Ihr uns den Sohn gegeben, um ihn uns wieder zu entreißen? Nun machen wir auch an Eurem Feiertage kein Gastmahl mehr.» Und als der Tag des heiligen Joseph kam, feierten sie ihn nicht. – Doch lassen wir nun die weinenden Eltern, und sehen wir, was aus dem Sohn geworden ist. Als das Boot umschlug, erfaßte Peppino eine Welle und warf ihn weit weg auf einen Felsen. Als er sich aber erholt hatte und um sich blickte, sah er auf einmal, daß der Felsen sich vor ihm öffnete; schöne Mädchen kamen heraus und sprachen freundliche Worte zu ihm: «Schöner Jüngling, komm mit uns und bleibe hier, du sollst es gut bei uns haben.» Da ließ er sich von ihnen führen, und sie brachten ihn durch den Felsen in einen wunder schönen Garten, in dem blühten
die prächtigsten Blumen und wuchsen die süßesten Früchte. Die schönen Mädchen aber dienten ihm und brachten ihm, was er nur wünschte. So ging es bis zum Abend, und als er schläfrig wurde, führten sie ihn in einen prächtigen Saal, da stand ein wunderschönes Bett. Sie brachten ihm ein Licht, und nachdem er sich zu Bette gelegt hatte, kamen sie wieder und nahmen das Licht weg. Als er sich aber im Bette umwenden wollte, merkte er zu seinem Erstaunen, daß eine feine, zarte Frauengestalt neben ihm lag, die redete ihn an und sagte: «Bleib nur da, schöner Jüngling; es soll dein Glück sein.» Als er aber am Morgen erwachte, war die Gestalt verschwunden, und er konnte sie nirgends sehen. So ging es ein ganzes Jahr. Er lebte wie im Paradies, die schönen Mädchen dienten ihm und erfüllten jeden seiner Wünsche, und am Abend, wenn sie das Licht weggenommen hatten, lag das schöne Mädchen neben ihm und redete mit ihm so fein und freundlich, daß er sie von Herzen liebgewann und sie gar zu gerne auch einmal gesehen hätte; wenn er aber am Morgen erwachte, war er allein. Als ein Jahr verflossen war, sprach eines Abends das schöne Mädchen zu Peppino: «Peppino, würdest du auch gerne einmal deine Eltern besuchen?» «Ach ja», antwortete er, «wenn ich ihnen doch den Trost bringen könnte, daß ich noch lebe, denn sie meinen gewiß, ich sei tot.» «Jawohl, das glauben sie», antwortete das Mädchen, «und deshalb haben sie dem heiligen Joseph keine Ehren mehr erwiesen. Bald aber ist wieder das Fest des heiligen Joseph. Nimm diese Zaubergerte und schlage morgen damit gegen den Felsen, so wird er sich öffnen, daß du hindurchkannst. Gehe zu deinen Eltern und sei glücklich und vergnügt mit ihnen; bedenke aber, daß du dich hier wieder einfinden mußt, sobald
du das Fest des heiligen Joseph gefeiert hast, sonst ist es dein Unglück.» Am anderen Morgen legte Peppino königliche Gewänder an, schlug mit der Gerte gegen den Felsen, dieser öffnete sich, und draußen stand ein prächtiges Pferd, und ein großes Gefolge erwartete ihn, um ihn zu begleiten; also daß sein Zug dem eines Königs glich. Als er nun in seine Vaterstadt kam, erscholl das Gerücht, ein großer Herrscher ziehe ein, und die Vornehmsten und Reichsten der Stadt zogen ihm entgegen und meinten, er wäre ein König, und jeder bat ihn, doch in seinem Hause abzusteigen. Er aber sandte einen Boten zu seinem Vater und ließ ihm sagen: «Ein reicher König zieht in die Stadt ein und will bei Euch absteigen.» Der Kaufmann antwortete: «Ach! Seit länger als einem Jahr ist mein Haus traurig und verödet, da ja mein einziger Sohn verlorengegangen ist. Gegen des Königs Willen läßt sich aber nicht handeln, und so will ich ihn denn in meinem Hause empfangen.» Da ließ er seinen Palast aufs herrlichste schmücken, und die Treppe wurde mit den feinsten Teppichen belegt, und als der König kam, gingen ihm der Kaufmann und seine Frau bis an die Treppe entgegen. Als aber Peppino seine Eltern sah, stieg er eilends vom Pferd, küßte seinem Vater die Hand und sprach: «Segnet mich, lieber Vater!» Dann küßte er auch die Hand seiner Mutter und sprach: «Segnet mich, liebe Mutter!» Nun denkt euch die Freude der Eltern, als sie ihren totgeglaubten Sohn wiedersahen und mit welcher Herzlichkeit sie dem heiligen Joseph für seine Gnade dankten. Peppino aber mußte alles erzählen, wie es ihm ergangen war, und wie er auch von dem schönen Mädchen sprach, das er noch nie gesehen habe, sagte seine Mutter:
«Dafür wollte ich dir schon einen guten Rat geben!» Nach einigen Tagen war das Fest des heiligen Joseph, da gaben die Eltern ein Gastmahl, so prächtig und so reich, wie sie noch keines gegeben hatten, und luden die ganze Stadt dazu ein. Als aber das Fest zu Ende war, sprach Peppino: «Nun muß ich euch verlassen, denn ich muß in den Felsen zurück, sonst ist es mein Unglück.» Die Mutter fing an zu weinen und wollte ihn nicht ziehen lassen, Peppino aber antwortete: «Mutter, wenn Ihr mich zurückhaltet, so wird es mein Unglück sein.» Als sie nun sah, daß sie ihn nicht zurückhalten konnte, gab sie ihm eine kleine Kerze und ein Fläschchen und sprach zu ihm: «Höre, mein Sohn, wenn du das schöne Mädchen sehen willst, so befolge meinen Rat. Wenn sie eingeschlafen ist, so stecke die Kerze ins Fläschchen, so wird sie sich alsbald von selbst entzünden und du kannst die Schöne sehen.» Peppino nahm die Kerze und das Fläschchen, umarmte seine Eltern und ritt mit seinem Gefolge dem Meeresufer entlang, bis er an den Felsen kam. Kaum hatte er sich dem Felsen genähert, als derselbe sich öffnete, die schönen Mädchen ihn umringten und ihn voll Freude hereinführten. Er aber konnte vor Ungeduld kaum den Abend erwarten, wo er das schöne Mädchen zu sehen hoffte. Als er nun zu Bette gegangen war, nahmen die Mädchen das Licht weg, und alsbald lag die zarte Gestalt wieder neben ihm und fragte ihn: «Nun, Peppino, bist du auch recht vergnügt gewesen? Hast du deine Eltern in guter Gesundheit getroffen?» «Jawohl, edles Mädchen», antwortete er; «doch ich bitte Euch, sprechet nun nicht weiter mit mir, denn ich bin müde von dem langen Ritt und möchte gerne schlafen.» Als sie aber eingeschlafen war, nahm er schnell die Kerze hervor und steckte sie in das Fläschchen; alsbald brannte sie
licht und hell, und bei dem Scheine sah er ein Mädchen von so wunderbarer Schönheit, daß er sich nicht von dem Anblicke trennen konnte und sie voll Entzücken anschaute. Wie er sich aber über sie neigte, um sie zu küssen, fiel ein Tropfen Wachs auf ihre feine Wange – in demselben Augenblick verschwand das ganze schöne Schloß, und er fand sich in finsterer Nacht, nackt und allein, ganz oben auf einem Berge, der mit Schnee bedeckt war. «Ach», seufzte er, «was soll nun aus mir werden? Wer wird mir helfen?» Es war aber niemand da, der ihm helfen konnte, und so kroch er denn mühsam auf Händen und Füßen, bis er am Morgen am Fuße des Berges ankam. Da sah er nicht weit von sich einen großen Bauernhof liegen, auf den ging er zu, klopfte an, und als der Bauer ihm aufmachte, sprach er zu ihm: «Ach, guter Mann, könnt Ihr mich nicht in Eurem Hof anstellen, daß ich auf diese Weise mein Brot verdiene?» «Wer seid Ihr denn?» fragte der Bauer. «Ach, ich bin ein armer Hausierer», antwortete er, «und diese Nacht, als ich über den Berg kam, haben mich die Räuber angefallen und haben mich ganz ausgeplündert; sogar die Kleider haben sie mir ausgezogen.» «Nun gut, armer Mann», sagte der Bauer, «bleibt bei mir, und ich will Euch zu essen geben, auch hier und da ein altes Kleidungsstück; dafür müßt Ihr mir die Schafe hüten. Ihr dürft sie aber nicht in jenen Wald treiben, denn da haust ein mächtiger Lindwurm mit sieben Köpfen; der würde Euch und die Schafe fressen.» Also blieb Peppino bei den Bauern, trug ärmliche Kleidung und bekam geringe Speise und mußte täglich die Schafe auf die Weide führen. Eines Tages, da die Schafe weideten, hörte er auf einmal eine laute Stimme, die ihn rief:
«O Peppe!» Er schaute sich um, sah aber niemand. Da rief die Stimme noch einmal und sprach: «Folge der Stimme!» Da ging er dem Klang der Stimme nach und kam an einen Felsen, davor stand eine wunderschöne Frau, die reichte ihm drei Borsten und sprach: «Bewahre sie wohl, und wenn du etwas nötig hast, so verbrenne sie.» Als sie das gesagt hatte, verschwand sie, Peppino aber verwahrte die drei Borsten auf seiner Brust. Nach einigen Tagen hörte er sie wieder rufen: «O Peppe!», und als er sich umsah, sprach die Stimme: «Folge der Stimme!» Da folgte er dem Klang der Stimme und kam an denselben Felsen, da stand die schöne Frau und gab ihm drei Federn und sprach: «Verwahre sie wohl, und wenn du etwas nötig hast, so verbrenne sie.» Dann verschwand sie, und Peppino legte die Federn zu den Borsten. Wieder nach einigen Tagen rief sie ihn zum drittenmal und gab ihm drei Haare mit denselben Worten. Nun verging noch einige Zeit, da begab es sich, daß der Fürst, dem die Güter alle gehörten, einen Boten zum Bauern sandte und ihm sagen ließ: «Der Patron will, daß Ihr ihm in drei Tagen alle Rechnungen bringt.» Seit vielen Jahren aber hatte der Bauer die Rechnungen nicht mehr in die Reihe gebracht, also daß er ganz niedergeschlagen dasaß und sich den Kopf zerbrach, wie er die Rechnungen machen sollte. Das sah Peppino und sprach zu ihm: «Massaro, soll ich Euch nicht helfen? Ich kann auch Rechnungen machen.»
Damit war der Bauer zufrieden, und Peppino brachte ihm alle Rechnungen in Ordnung, und nach drei Tagen konnte der Bauer in die Stadt gehen und dem Fürsten die Rechnungen überbringen. Als sie nun der Fürst durchgelesen hatte, sprach er: «Habt Ihr diese Rechnungen selbst gemacht, Massaro?» Der Bauer dachte: ‹Der dumme Peppe hat sich gewiß geirrt›, und antwortete ganz kleinlaut: «Ach, Exzellenz, habt Nachsicht mit mir, einer meiner Knechte hat sie gemacht.» «Das ist kein Knecht», antwortete der Fürst, «sondern gewiß ein feiner Herr, bringe ihn her, denn er soll mein Verwalter werden.» «Ach, Exzellenz, ich kann ihn Euch nicht bringen, denn er trägt so ärmliche schlechte Kleider.» «Bekümmere dich nicht darum», sprach der Fürst und gab ihm gute Kleider und ein Pferd mit, damit Peppino ordentlich zur Stadt kommen konnte. Der Bauer ging ganz vergnügt nach Hause und sprach zu Peppino: «O Peppe! Dir blüht ein großes Glück; der Patron sagt, du seist zum Knecht zu gut, und hat dich zu seinem Verwalter gemacht.» Da wusch sich Peppino und legte die feinen Kleider an, und als er so fein und sauber dastand, sah man erst, wie schön er war. Also kam er in die Stadt und blieb beim Fürsten als sein Verwalter, und der Fürst liebte ihn wie seinen Sohn. Nun hatte aber der Fürst eine einzige Tochter, die war ein sehr schönes Mädchen, und als sie den schönen Jüngling sah, verliebte sie sich in ihn, also daß sie nur den einzigen Wunsch hatte, er möchte doch ihr Gemahl werden. Da sagte sie oft zu ihm: «Ach! Peppino! Wenn es mein Vater erlaubte, so möchte ich dich wohl gerne heiraten.»
Er aber antwortete: «O edles Fräulein! Euch gebührt es, einen Fürsten zu heiraten und nicht einen armen Burschen, wie ich einer bin.» Denn er dachte nur immer an seine schöne Braut, und wenn er seine Arbeiten beendigt hatte, ging er an den Meeres Strand und seufzte: «Ach, wenn mich doch ein günstiger Wind zu ihr hinführte!» So vergingen sieben Jahre, da sprach Peppino zum Fürsten: «Exzellenz! Ich habe Euch nun so lange treu gedient, nun lasset mich ziehen, denn ich kann nicht länger bei Euch bleiben.» Der Fürst war sehr betrübt, und seine Tochter weinte sich fast die Augen aus; Peppino aber blieb dabei: «Ich kann nun nicht länger bei Euch bleiben.» Da nun der Fürst sah, daß er ihn nicht mehr halten konnte, beschenkte er ihn reichlich und ließ ihn ziehen. Peppino aber ging an das Ufer des Meeres, und da er ein Schiff sah, das absegeln sollte, fragte er die Schiffer: «Wohin fahrt ihr?» «Gegen Sonnenuntergang.» «So nehmet mich mit, und ich will euch hundert Unzen geben, denn ich muß auch gegen Sonnenuntergang ziehen.» Da nahmen sie ihn mit und fuhren gegen Sonnenuntergang, und als sie viele Tage gefahren waren, sah er endlich den Felsen vor sich liegen, in dem das schöne Schloß war. Hier ließ sich Peppino ans Land setzen und blieb allein am öden Ufer zurück. Der Felsen aber war verschlossen und öffnete sich erst, nachdem er eine lange Zeit gewartet hatte. Niemand kam ihm entgegen, um ihn zu begrüßen; da ging er hinein und fand alles geradeso, wie er es verlassen hatte. Die schönen Mädchen brachten ihm wohl zu essen und zu trinken, aber so freundliche Worte sprachen sie nicht mehr zu ihm wie früher. Als er sich zu Bett gelegt hatte, nahmen sie das Licht nicht
fort; das schöne Mädchen lag aber doch neben ihm und fragte ihn gar spöttisch: «Nun, wie hat es dir auf dem Schneeberg gefallen? Und wie lieblich war es, dem Bauern zu dienen und ihm die Schafe zu hüten? Warum bist du denn nicht bei der schönen Fürstentochter geblieben?» Er aber antwortete ihr demütig und bat sie um Verzeihung, bis sie wieder ganz freundlich wurde und zu ihm sprach: «Höre mich an, Peppino: ich bin eine verzauberte Königstochter, und wenn du an jenem Abend deine Neugier bezähmt hättest, so wäre ich nun schon lange erlöst. Mein Vater war ein mächtiger König und ich seine einzige Tochter. Er wollte mich aber nicht verheiraten, und als er zum Sterben kam, verzauberte er mich in dieses Felsenschloß hinein, und sein Geist hält mich hier gefangen.» «Gibt es denn kein Mittel, dich zu erlösen?» fragte Peppino. «Wohl gibt es ein Mittel», antwortete sie, «was aber dazu gehört, kannst du nie und nimmer ausführen.» «Ach, sage mir doch, was es ist», bat er, «du wirst sehen, ich habe den Mut dazu.» «Nun denn, so höre genau zu, was ich dir sagen werde. Wenn du dich und mich erlösen willst, so mußt du morgen früh den Felsen verlassen und diese Zaubergerte mitnehmen. Dann mußt du in jenen Wald gehen, wo der Lindwurm mit den sieben Köpfen haust. Am Saum des Waldes schlage mit der Gerte auf den Boden, so wird sich ein Pferd aus dem Boden erheben und ein Zauberschwert. Besteige das Pferd, schnalle das Schwert um und reite so in den Wald und bekämpfe mutig den Lindwurm. Denn du wirst ihn besiegen und ihm die sieben Köpfe abhauen. Die Köpfe aber bringe dem Bauern, der dich so mitleidig aufgenommen hat, und sage ihm, er solle sie zum Fürsten bringen und sich von demselben dafür die Erlaubnis erbitten, zwölf Jahre lang in dem Walde Holz fällen zu dürfen.
Alsdann gehe wieder in den Wald, dort mußt du dir ein Kaninchen herbeizaubern und einen Hund. Der Hund wird das Kaninchen jagen und dir bringen: zerschneide es, so wird eine weiße Taube daraus auffliegen. Auch die Taube wird der Hund dir bringen: zerschneide sie, so wirst du in ihrem Leib ein Ei finden, das mußt du wohl verwahren. Endlich mußt du um Mitternacht in den Wald kommen, dort wirst du mich sehen, liegend und schlafend. Auf mir aber liegt der Geist meines Vaters. Nähere dich leise, ziele gut und wirf ihm das Ei mitten auf die Stirn, so wird er in den Abgrund rollen und auf ewig verschwinden. Wenn du dies alles vollbracht hast, so bin ich erlöst.» «Wie soll ich aber das Kaninchen herbeizaubern?» fragte Peppino. «Dafür mußt du selbst sorgen», antwortete sie. Am andern Morgen verließ Peppino den Felsen, er nahm die Zaubergerte und wanderte viele Tage lang, bis er endlich an den Wald kam, wo der Lindwurm hauste. Da schlug er mit der Gerte auf den Boden, und alsbald erhob sich ein prächtiges Pferd und ein blitzendes Schwert, er schnallte das Schwert um, schwang sich aufs Pferd und ritt in den Wald hinein. Nicht lange, so kam ihm der Lindwurm entgegen und wollte ihn verschlingen. Er aber zog mutig sein Schwert und kämpfte mit dem Lindwurm, bis er ihm alle sieben Köpfe abgehauen hatte. Da kam er zu dem Bauern und sprach zu ihm: «Ihr habt mir so viel Gutes erwiesen, als ich arm und elend war, nun bin ich reich und mächtig geworden, und zum Dank schenke ich Euch diese sieben Köpfe. Ich habe den Lindwurm umgebracht, und das sind die Köpfe. Bringt sie zu Eurem Patron und gebt ihm diese freudige Nachricht unter der Bedingung, daß er Euch auch zwölf Jahre erlaube, in dem Wald Holz zu fällen.»
«Nun bin ich ein gemachter Mann», rief der Bauer voll Freude, «seit so viel Jahren ist niemand mehr in den Wald gegangen, um Holz zu fällen, weil der grimmige Lindwurm darin hauste; deshalb wird mir der Patron in seiner Herzensfreude die Bedingung gern zugestehen.» Darauf nahm Peppino Abschied von dem Bauern und ging wieder in den Wald, in tiefen Gedanken, denn er wußte nicht, wie er nun das Kaninchen herzaubern sollte. Auf einmal dachte er an die drei Borsten, welche die schöne Frau ihm gegeben hatte; die schöne Frau war aber niemand anders gewesen als die verzauberte Königstochter. Da verbrannte er die drei Borsten, und alsbald sprang ein Kaninchen aus dem Gras und lief durch den Wald. Da verbrannte er auch die drei Federn, und sogleich sprang ein Hund hervor, der verfolgte das Kaninchen und brachte es Peppino. Dieser schnitt es entzwei, und eine weiße Taube flog heraus; der Hund verfolgte sie, bis sie sich niedersetzte, dann ergriff er sie und brachte sie dem Jüngling. Peppino schnitt sie auf und fand in ihrem Leib ein Ei, geradeso, wie die Königstochter es vorhergesagt hatte. Das Ei verwahrte er, und als es Mitternacht war, schlich er leise in den Wald. Da sah er die Königstochter vor sich liegen und schlafen, und sie schien ihm viel schöner als je, auf ihr aber lag der Geist ihres Vaters. Leise schlich er hinzu, und als er ganz nahe bei ihnen stand, zog er das Ei hervor, zielte und warf es dem Geist des alten Königs mitten auf die Stirn. Kaum hatte er ihn getroffen, so gab es einen furchtbaren Schlag, der König rollte in den Abgrund hinab und wurde nicht mehr gesehen; die Königstochter erwachte und fiel ihm voll Freude in die Arme, vor ihnen aber stand ein prächtiges Schloß mit vielen herrlichen Schätzen. Da rief die Königstochter: «Du hast mich erlöst, und nun gehören alle diese Schätze dir. Wir wollen sie mitnehmen und zu deinen Eltern gehen, und
dann soll unsere Hochzeit sein.» Da nahmen sie alle die Herrlichkeiten mit und kehrten in Peppinos Vaterstadt zurück. Als aber der Kaufmann und seine Frau ihren lieben Sohn wiederkehren sahen und mit ihm seine schöne Braut, dankten sie voll Freude dem heiligen Joseph und feierten eine prächtige Hochzeit. Und so blieben sie reich und getröstet, wir aber sind hier sitzen geblieben.
48 Die Geschichte von Tobià und Tobiòla
Es war einmal ein Mann, der hieß Tobià, seine Frau hieß Sara, und sein Sohn Tobiòla. Tobià war ein frommer, gottesfürchtiger Mann, der all sein Gut dazu verwandte, den Armen viel Gutes zu tun. Alle Toten, die arm gestorben waren, ließ er in sein Haus bringen, trug sie dann selbst auf seinem Rücken aus der Stadt und beerdigte sie auf seine Kosten. Dies tat er zur Buße und um der armen Seelen willen. Seine Frau machte ihm oft Vorwürfe. «Ach, Tobià, wie wird es uns noch gehen, wenn du all dein Gut den Armen gibst; du wirst sehen, es wird noch die Zeit kommen, wo wir selber betteln gehen müssen.» «Laß es gut sein, liebe Sara», antwortete er, «wer Gutes tut, wird Gutes finden.» Nun begab es sich eines Tages, daß Tobià hörte, in der Stadt sei ein armer Mann gestorben. «Bringt ihn her zu mir», sprach er, «ich will ihn heute abend beerdigen.» Da brachten sie ihm den Toten, und er legte ihn unter das Bett; am Abend aber nahm er ihn auf seinen Rücken und trug ihn zur Stadt hinaus. Als er den Toten beerdigt hatte, ward er so müde, daß er sich unter einen Baum legte, um zu schlafen. In dem Baume aber hatte eine Schwalbe ihr Nest. Als nun Tobià unter dem Baume schlief, fiel etwas von dem Unrat der Schwalbe ihm in die Augen, so daß er erblindete. Da erwachte er, aber er konnte nichts mehr sehen, und nur mit vieler Mühe fand er den Weg nach Hause zurück. Als seine Frau ihn so
kommen sah, schlug sie die Hände über dem Kopf zusammen und jammerte: «Ach, Tobià, was ist dir denn geschehen?» «Ja, was kann ich dafür», sagte Tobià, «ich hatte mich unter einen Baum gelegt, um ein wenig zu ruhen. In dem Baume aber hatte eine Schwalbe ihr Nest, da fiel mir etwas von ihrem Unrat in die Augen, und ich erblindete.» «Ach, wir Unglücklichen! Was soll nun aus uns werden, wenn du nicht mehr arbeiten kannst, und all unser Hab und Gut hast du ja den Armen gegeben!» «Sei nur ruhig», sagte Tobià, «wer Gutes tut, wird Gutes empfangen, und Gott verläßt den Gerechten nicht.» Nun kam für den armen Tobià eine schwere Zeit, denn blind, wie er war, konnte er nicht arbeiten, so daß ihm bald das Geld ausging. Da sprach er eines Tages zu seiner Frau: «Liebe Frau, unser Geld ist zu Ende; in der und der Stadt wohnt aber ein Bekannter von mir, dem habe ich einst Geld geliehen. Wir wollen unsern Sohn Tobiòla hinschicken, daß er sich das Geld wiedergeben lasse.» Also rief Tobià seinen Sohn Tobiòla und sprach zu ihm: «Mein Sohn, du mußt nun nach der und der Stadt gehen und das Geld holen, das ich dort angelegt habe. Ich will aber nicht, daß du allein reisest, gehe auf den Markt und sieh, ob du einen Reisegefährten findest.» Da ging Tobiòla auf den Marktplatz und sah einen schönen schlanken Jüngling stehen, der fragte ihn: «Tobiòla, wohin willst du reisen?» «In die und die Stadt.» «Dahin muß ich ja auch gehen, wir können also zusammen reisen.» Da war Tobiòla hocherfreut und führte den Jüngling zu seinen Eltern und sprach: «Lieber Vater und liebe Mutter, ich habe nun einen Reisegefährten gefunden, gebt mir euren heiligen Segen und
laßt mich ziehen.» Da segneten Tobià und seine Frau ihren lieben Sohn, umarmten und küßten ihn, und Tobiòla zog mit dem Jüngling von dannen. Die Stadt aber, wohin sie reisen wollten, war viele Tagereisen weit entfernt. Eines Tages nun kamen sie an einen Strom, darin schwamm ein Fisch herum, der kam immer dicht ans Ufer. «Tobiòla», sprach der Jüngling,«greife den Fisch und schneide ihm die Galle und die Leber heraus; es wird dir nützen.» Tobiòla tat, wie der Jüngling ihn tun hieß, griff den Fisch, schnitt ihm Galle und Leber heraus und verwahrte sie in einem Büchschen. Nachdem sie die Reise vollbracht hatten, kamen sie endlich in die Stadt, in der Tobiòla das Geld holen sollte. «Wo willst du hier Herberge nehmen?» fragte der Jüngling. «Mein Vater hat hier einen Bekannten, der ist sein Gevatter, bei dem soll ich wohnen», sprach Tobiòla. Dieser Gevatter aber hatte eine Tochter, die war wunderschön und hatte schon sieben Männer gehabt, die waren aber alle sieben in der Brautnacht gestorben. Als nun Tobiòla und der Jüngling zu dem Manne kamen, sprach Tobiòla: «Gevatter, ich bin der Sohn Eures Gevatters Tobià und seiner Frau Sara.» «O Gevatter, welche Freude», rief der Mann, «kommt doch in mein Haus und bleibt bei mir, Ihr und Euer Begleiter.» Tobiòla und der Jüngling traten ein, und die schöne Tochter des Gevatters brachte ihnen zu essen und zu trinken. «Weißt du, was ich mir ausgedacht habe, Tobiòla?» sprach der Jüngling. «Ich will dich mit diesem schönen Mädchen verheiraten.» «O Bruder mein», antwortete Tobiòla, «das ist aber mein Tod; denn dieses Mädchen hat schon sieben Männer gehabt,
und alle hat man am Morgen nach der Hochzeit tot im Bette gefunden.» «Sei nur ruhig, Tobiòla, wenn du tust, was ich dir sage, so wird dir nichts geschehen.» So sprach der Jüngling und ging zum Gevatter. «Guter Freund», sagte er, «mein Gefährte Tobiòla wünscht Eure schöne Tochter zu heiraten. Gebt sie ihm und laßt uns dann wieder in unsre Heimat zurückkehren.» Der Vater wollte nicht und sprach: «Ach, wißt Ihr denn nicht, daß meine Tochter dies schreckliche Schicksal auf sich hat, daß sie schon sieben Männer gehabt hat, und alle sind in der Brautnacht gestorben?» «Wer weiß», antwortete der Jüngling, «vielleicht wird Tobiòla nicht sterben, gebt ihm nur Eure Tochter.» Also wurde die Hochzeit gefeiert, und Tobiòla heiratete die schöne Tochter des Gevatters. Nach der Trauung aber nahm ihn sein Gefährte beiseite und sprach zu ihm: «Höre wohl auf meine Worte und befolge sie genau. Heute abend, wenn du mit deiner jungen Frau in die Kammer geführt wirst, so verschließe die Türen und Fenster wohl und lege die Galle des Fisches auf ein Kohlenbecken, daß sie verbrenne und der Rauch euch beide durchziehe. Dann wirf dich mit deiner Frau auf die Knie und tut drei Stunden lang Buße, denn deine Frau wird von einem bösen Teufel geplagt, der heißt Romeo, und weil ihre andern sieben Männer nicht Buße taten, so bekam er Gewalt über sie.» Tobiòla merkte sich alles, was der Jüngling gesagt hatte, und als er mit seiner Frau in die Kammer geführt wurde, verschloß er die Türen und Fenster wohl, daß kein Rauch hinausdringen konnte. Dann nahm er die Galle aus dem Büchschen, daß sie verbrannte und der Rauch die ganze Kammer erfüllte. Tobiòla aber und seine Frau warfen sich auf den Boden und taten Buße, drei Stunden lang, und das schöne Mädchen weinte bitterlich
in ihrer Herzensangst. Nach den drei Stunden legten sie sich zu Bett und schliefen ruhig bis zum Morgen. Als der Tag anbrach, standen der Gevatter und seine Frau in schweren Sorgen auf, und der Mann sprach zu seiner Frau: «Geh einmal in die Kammer und sieh, ob der unglückliche Tobiòla noch lebt.» Als sie aber in die Kammer trat, lagen beide im Bette und schliefen sanft und ruhig. Da war große Freude im Haus, und alle lobten Gott und dankten ihm für seine Gnade. Tobiòla blieb nun noch einige Tage in derselben Stadt; nachdem er aber das Geld seines Vaters wiederbekommen hatte, sprach er zum Gevatter: «Lieber Schwiegervater, ich muß nun wieder nach Hause zu meinen Eltern gehen, gebt uns Euren Segen und laßt uns ziehen.» Da lud der Schwiegervater die Aussteuer seiner Tochter auf einige Maultiere, segnete seine Tochter und seinen Schwiegersohn und ließ sie ziehen. Seine Mutter Sara aber weinte immer, weil ihr lieber Sohn schon so lange fort war und sie nichts mehr von ihm gehört hatte, und jeden Abend stieg sie auf einen hohen Berg und schaute aus, ob er nicht bald käme. Als sie nun wieder einmal auf dem Berg stand und mit vielen Tränen nach Tobiòla ausschaute, sah sie auf einmal zwei Männer und eine Frau daherkommen mit mehreren hochbepackten Maultieren, und als sie genauer hinsah, war einer der Männer ihr Sohn Tobiòla. «Gott sei gelobt, da kommt mein Sohn!» rief sie voll Freude. «Und welch schönes Mädchen hat er bei sich! Das ist ein sicheres Zeichen, daß es ihm gut ergangen ist.» Als nun Tobiòla seine Mutter erkannte, lief er ihr entgegen und küßte ihr die Hand, und das schöne Mädchen küßte ihr
auch die Hand, und so gingen sie alle zusammen fröhlich nach Hause. Denkt euch nun die Freude des alten, blinden Tobià, als er hörte, sein Sohn sei wiedergekommen! Der Jüngling aber sprach zu Tobiòla: «Nimm die Leber des Fisches und bestreiche damit die Augen deines Vaters, so wird er wieder sehen können.» Da nahm Tobiòla die Leber des Fisches aus dem Buchschen und bestrich damit die Augen seines Vaters, und bald darauf konnte er wieder sehen. Während sie sich aber noch darüber freuten, verwandelte sich der Jüngling in einen schönen Engel und sprach: «Ich bin der Engel Gabriel und bin von Gott gesandt worden, euch zu helfen, weil Gott gesehen hat, daß ihr fromm und gottesfürchtig seid. Führet ein heiliges Leben, so werdet ihr glücklich sein, und wenn ihr sterbt, wird euch Gott in sein Paradies aufnehmen.» Damit segnete er sie und flog zum Himmel. Tobià aber und seine Familie führten ein heiliges Leben, und als ihre Stunde kam, starben sie, und Gott nahm sie in seine Arme.
SARDINIEN
49 Der Bär und die drei Schwestern
Es war einmal ein Kaufmann, der hatte drei Töchter. Als er abreisen wollte, rief er alle seine Töchter und fragte sie: «Was soll ich euch mitbringen?» Die älteste wollte ein Kleid, die zweite einen Hut und die dritte eine Rose. Da reiste der Kaufmann ab. Er kam dorthin, wo er seine Geschäfte betreiben wollte, und nachdem er alles erledigt hatte, kaufte er das Kleid und den Hut, aber er fand nirgends eine Rose zu kaufen und wußte nicht, was er machen solle. Eines Tages ging er an einem Garten vorbei, in dem er eine Rose erblickte. Er sah sich um, konnte jedoch niemanden finden, und da ging er in den Garten hinein und schnitt sich eine Rose ab. Da kam sofort ein Bär herbei und fragte ihn: «Warum hast du mir eine Rose abgeschnitten?» – «Ich hab sie abgeschnitten, weil mich meine jüngste Tochter gebeten hat, ich möge ihr eine Rose mitbringen. Und während ich nirgendwo eine Rose gefunden habe, habe ich diese hier erblickt, und da niemand da war, habe ich sie mir abgeschnitten.» Da sagte der Bär zu ihm: «Gut, ich gebe sie dir, aber nur unter einer Bedingung, daß du mir deine jüngste Tochter hierherbringst.» – «Gut», antwortete jener und ging davon. Er beendete seine Reise und kehrte nach Hause zurück. Als er dort ankam, haben ihn seine Töchter gefragt, ob er sich auch erinnert habe an die Dinge, um die sie ihn gebeten hätten. Der Kaufmann sagte ja, und er gab der ältesten das Kleid, der zweiten den Hut und der kleinen die Rose. Dann sagte der Vater: «Die Rose habe ich dir gebracht, aber es ist nötig, daß
du mit mir dorthin kommst, wohin ich dich bringe.» Und er hat ihr die ganze Geschichte erzählt. Am nächsten Morgen ist er mit seiner Tochter abgereist, um sie zum Bären zu bringen. Beim Bären angekommen, hat er seine Tochter dort gelassen und ist nach Hause zurückgekehrt. Dem Mädchen ging es beim Bären nicht schlecht, es hatte Diener und alles andere, was es sich wünschen konnte. So vergingen drei Monate. Eines Tages war sie sehr traurig und fing fast zu weinen an, so daß sie der Bär fragte, was es denn gäbe. Sie sagte ihm, sie habe geträumt, daß ihr Vater sehr krank sei; da sagte der Bär zu ihr: «Willst du vielleicht hingehen, um ihn zu besuchen?» Das würde sie gerne, antwortete sie. – «Also gut», sagte der Bär, «aber bleibe nicht länger als acht Tage aus! Denn wenn du länger fort bist, wirst du mich tot antreffen.» – «Das verspreche ich dir», sagte das Mädchen, «ich werde nicht länger als acht Tage wegbleiben.» Dann nahm sie sich einen Diener zur Begleitung mit und machte sich auf den Weg. Sie kamen zu Hause an und fanden wirklich den Vater sehr schwer krank. Sie blieb also acht Tage, und in diesen acht Tagen ging es dem Vater viel besser. Da wollte das Mädchen wieder abreisen, aber die Schwestern ließen sie nicht fort. So blieb sie weitere zwei Tage, dann ließ sie sich nicht mehr aufhalten und machte sich mit dem Diener auf den Heimweg. Als sie aber ankam, traf sie den Bären tot, und sie begann zu weinen, zu schreien und sich aus Verzweiflung die Haare auszuraufen. Da wachte der Bär plötzlich wieder auf, aber er war kein Bär mehr, sondern ein schöner junger Mann. Er war nämlich ein verzauberter König gewesen.
Und er sagte zu dem Mädchen: «Du hast mich aus meiner Verzauberung erlöst. Jetzt wollen wir gleich deinem Vater einen Brief schreiben, damit er hierher zu uns komme.» Sie haben ihm also geschrieben, der Vater ist gekommen, und sie haben geheiratet.
50 Der Bär und die zwei Gevatterinnen
Es waren einmal zwei Gevatterinnen, die auch benachbart waren und einander sehr gern hatten. Sie gingen auch immer zusammen aus, und eines Tages, als sie einen Spaziergang machten, kamen sie an einem Garten vorbei. Eine von den beiden sah in dem Garten einen Pilz, und da sie gerade schwanger war, sagte sie zu ihrer Gevatterin: «Komm, gehen wir hinein. Ich habe einen Pilz gesehen und habe Verlangen danach.» Da antwortete ihre Gevatterin: «Ja, gehen wir schnell hinein, um die Gelegenheit zu benutzen, daß man gerade niemand sieht.» Sie traten also ein, aber als sie den Pilz herausziehen wollten, zogen sie und zogen sie, ohne ihn entwurzeln zu können. Da kam plötzlich ein Bär herbei und sagte: «Den Pilz will ich dir geben, aber unter einer Bedingung. Wenn du gebierst, wirst du ein schönes Mädchen haben. Wenn das Mädchen dann vier Jahre alt ist, wirst du es mir hierherbringen.» Nach einiger Zeit kam die Frau nieder und gebar ein Mädchen schön wie die Sonne, weiß und rosa, mit goldenen Haaren, und man taufte sie auf den Namen Maria. Je mehr dieses Mädchen wuchs, um so schöner wurde es. Es war kaum vier Jahre alt, als sich die Mutter an das Versprechen erinnerte, das sie dem Bären gegeben hatte, und so führte sie Maria zum Bären. Als der Bär sah, wie schön das Mädchen war, verliebte er sich in es und sagte: «Du wirst meine Gefährtin.» Da verabschiedete sich die Mutter von Maria und ging wieder heim; Maria aber blieb allein beim Bären. Sie war nun die
Herrin eines großen Palastes. Der Bär liebte sie sehr, aber er ließ sie nicht ausgehen. Wenn der Bär nach Hause kam, rief er Maria immer und sagte: «Mein Apfel, wirf mir deine Haare herunter, damit ich an ihnen hinaufsteigen kann.» Als Maria achtzehn Jahre alt war, war sie ein herrliches Mädchen geworden. Eines Tages stand sie gerade am Fenster, als ein Wagen mit einem Prinzen vorbeifuhr. Kaum hatte der Maria gesehen, als er sich sogleich heftig in sie verliebte. Er rief zu ihr hinauf: «Ich will dich heiraten.» Auch Maria verliebte sich in den Prinzen, denn er war ein hübscher junger Bursche. Und von diesem Tag an versäumte der Prinz es nicht, an ihrem Palast vorbeizukommen. Eines Tages suchte Maria in einer Truhe, ich weiß nicht mehr was, und sie fand drei Knäuel. Da fragte sie den Bären: «Zu was sind diese drei Knäuel gut?» – «Diese drei Knäuel dienen dazu, daß – wenn jemand verfolgt wird – er diese Knäuel hinter sich werfen kann, worauf aus dem ersten Knäuel ein Meer von Wasser entsteht und aus dem zweiten Knäuel ein Meer von Feuer, und wenn er den dritten Knäuel wirft:, ein Meer von Dornen.» Kaum hatte Maria das gehört, brachte sie die drei Knäuel in ihren Besitz. Nach wenigen Tagen verabredete sie sich mit dem Prinzen zu fliehen. Sie machten aus, daß er eine hölzerne Leiter bringen müßte, die er an das Fenster lehnen solle, damit Maria hinuntersteigen könne. Es kam der verabredete Tag. Der Prinz brachte die Leiter, Maria stieg hinunter und setzte sich zu ihm in den Wagen, dann fuhren sie ab. In diesem Augenblick kam der Bär und rief nach Maria. Als Maria nicht antwortete, wie es der Bär gewöhnt war, rief er ein zweites Mal. Aber sie antwortete wiederum nicht. Da ging der Bär an das Fenster und sah sie in der Ferne im Wagen. Er sprang hinaus und lief, um die beiden
zu erwischen. Er hatte schon Maria beinahe erreicht, als diese einen von jenen Knäueln nahm und ihn hinter sich warf. Sofort entstand ein riesiges Meer von Wasser. Der Bär kam heran und trank das ganze Wasser aus. Da warf Maria den zweiten Knäuel, und sofort entstand ein Meer von Feuer. Aber der Bär spuckte das ganze Wasser wieder aus und löschte damit das Feuer. Da warf Maria den dritten Knäuel, und es entstand ein Meer von Dornen. Als der Bär sah, daß es unmöglich sei, Maria zu erreichen, rief er sie an und sagte: «Betrachte mich ein letztes Mal!» Da drehte sie sich um, und der Bär sagte zu ihr: «Daß doch dein Gesicht wie das einer Katze werde!» Und so geschah es. Als sie zum königlichen Palast kamen, fragte die Königin, kaum daß sie Maria gesehen hatte, ihren Sohn: «Und du willst dieses Monstrum heiraten?» – «Aber als ich sie geraubt habe, hatte sie ein menschliches Gesicht», antwortete der Sohn. Die Königin konnte das Mädchen nicht ausstehen. Der Prinz schloß sie deshalb in einem Zimmer ein, und er ließ niemand zu ihr hinein. Eines Tages befahl der König allen seinen Schwiegertöchtern, sie sollten jede einen Vorhang weben, damit er sähe, wer das am besten verstünde. Auch Maria sollte so einen Vorhang weben. Was hat sie da gemacht? Sie schickt eine Dienerin zum Bären und läßt ihm sagen, daß der König allen Schwiegertöchtern befohlen habe, einen Vorhang zu weben, und daß sie nicht wisse, was sie tun solle. Und siehe da: Der Bär schickte ihr einen herrlichen Vorhang. Maria war sehr zufrieden, zog sich schön an und betrat den Saal, wo bereits ihre Schwägerinnen warteten und sie auslachten: «Was wird schon jene machen können mit dem Katzengesicht?» Jede zeigte ihren Vorhang vor, aber der von Maria war weitaus der schönste. Die Schwägerinnen von
Maria platzten fast vor Eifersucht und Neid. Genug. Nachdem das Vorzeigen beendet war, kehrte jeder in sein Haus zurück. Am nächsten Morgen schickte Maria erneut ihre Dienerin zum Bären, um ihm zu sagen, sie brauche eine Flasche mit Enthaarungswasser, um wieder so zu werden, wie sie vorher gewesen sei. Da schickte ihr der Bär eine schöne Schachtel mit verschiedenen Arten von Wassern und Seifen. Maria wusch sich, und sie wurde so schön, wie sie zuvor gewesen war. Nun konnte sie der Prinz heiraten, und er ließ auch den Bären kommen, um mit ihnen zusammen zu sein.
51 Der Fischer und der Teufel
Es war einmal ein Fischer, dem war seine Frau gestorben. Er hatte nur eine Tochter und war ganz arm. Er ging fischen, aber er fing nie etwas. Eines Tages, als er wieder fischen ging, begegnete ihm einer, das war der Teufel, und der sagte zu ihm: «Schau, du bist so arm und kannst überhaupt nichts fangen; wenn du mir die Seele deiner Tochter gibst, dann will ich dafür sorgen, daß du so viele Fische fängst, daß du ein reicher Mann wirst.» – «Und wie muß ich das machen?» fragte der Fischer. – «Du mußt es so machen: Ich komm um Mitternacht zu deinem Haus, und wenn ich an die Türe klopfe, dann schick deine Tochter, um mir zu öffnen.» – «Gut, gut», sagte der Fischer. Und an diesem Tag fing er eine ganze Menge Fische und kehrte zufrieden nach Hause zurück. Nachdem sie den größten Teil verkauft hatten, kochten sie sich einen Fisch und aßen ihn. Es kommt die Nacht, und sie legen sich nieder. Und siehe, es ist genau um Mitternacht, als an die Türe geklopft wird. Und der Vater hat seine Tochter geschickt. Aber bevor sie geöffnet hat, hat sie ein Kreuz gemacht. Dann öffnet sie, und es ist niemand draußen. Da kehrt sie zum Vater zurück und sagt es ihm. «Gut, gut, leg dich nur wieder nieder.» Und sie legt sich wieder schlafen. Als am andern Tag der Teufel gekommen ist, hat sie wieder ein Kreuz geschlagen, und er hat sie nicht mitnehmen können.
Wie der Fischer den Teufel trifft, fragt er ihn: «Was soll ich denn machen?» Da antwortet ihm der Teufel: «Schneide ihr die Hand ab!» Als in der Nacht der Teufel gekommen ist, hat sie wiederum ein Kreuz geschlagen, und er hat sie nicht mitnehmen können. Es kommt der Tag, und er hat sie wieder nicht erwischen können. Der Teufel ist sehr wütend geworden, und er hat den Vater im Meer ertränkt. So ist das Mädchen allein zurückgeblieben. Sie hat nicht gewußt, wie sie leben soll. Die Arme konnte ja nicht arbeiten, weil sie keine Hände hatte, und so ging sie betteln. Als sie zu einer reichen Familie kam, die aus einem Mann mit seiner Gattin und einem Sohn bestand, sahen diese, daß das Mädchen keine Arme hatte. Da nahmen sie das Mädchen aus Barmherzigkeit auf. Nach einiger Zeit verliebte sich der Sohn in das Mädchen, das immer im Hause war. Die Mutter wollte zwar nicht, aber der Bursche gab keine Ruhe, bis er das Mädchen geheiratet hatte. Nach einem Jahr gebar sie, und sie hatte zwei Söhne, die Zwillinge waren. Die Kinder wuchsen gut heran, als ein Krieg ausbrach und man den Vater zu den Soldaten holte. Bevor er abreiste, befahl er seiner Mutter, für seine Frau und für die Kinder gut zu sorgen. Kaum aber war er abgereist, als die Schwiegermutter schon einem Diener befahl, die junge Frau und die Kinder zu töten, denn sie konnte sie nicht leiden. Der Diener aber führte die junge Frau mit den Kindern aufs Land hinaus, anstatt sie zu töten. Und jeden Tag brachte er ihnen zu essen. Und so verstrichen zwei Jahre. Unterdessen war der Krieg beendet. Der Mann kehrte nach Hause zurück und fragte seine Mutter, wo seine Frau sei. Die Mutter antwortete ihm, sie sei entflohen. Da war der Mann sehr traurig, er ließ den Kopf hängen und dachte immer an seine Frau. Und so verstrichen weitere zwei Jahre.
Eines Tages kam es dem Mann in den Sinn, auf die Jagd zu gehen. Und als er gerade mitten auf dem Lande war, entstand ein großes Unwetter. Und weil er dort in der Nähe ein Haus sah, und das war das Haus seiner Frau, ging er hin und sagte: «Hättet Ihr die Güte, mich über Nacht zu behalten?» – «Ja, ja», sagte sie, aber er hatte sie nicht erkannt. Genug, er legte sich zur Ruhe, und als er im Bett war, sprach er bei sich: «Wenn meine Kinder noch am Leben wären, dann müßten sie jetzt auch so alt sein wie diese hier.» Nachdem er eingeschlafen war, sagte sie zu ihren Kindern: «Geht einmal hin und ruft: Papa, Papa!» – Als er das hörte, sprach er bei sich: «Das kann nur heißen, daß dies hier wirklich meine Söhne sind.» Und er sagte zu den Kindern: «Ruft mir einmal eure Mutter!» Es kommt also seine Gattin, und er fragt sie: «Warum bist du damals geflohen?» – Da antwortete seine Gattin: «Ich bin nicht davongelaufen, sondern deine Mutter hat mich weggeschickt und den Dienern befohlen, mich zu töten, aber da jener Diener ein sehr guter Mensch ist, brachte er mich hierher aufs Land, ja, er hat mir sogar all die Jahre hindurch täglich etwas zu essen gebracht.» Da nahm er sie und trug sie nach Hause, wo er seine Mutter davonjagte und mit der Gattin, den Söhnen und dem treuen Diener lebte.
52 Der blaue Drache
Also, ich will da eine Sache erzählen, die ist schon sehr lange passiert. In Sardinien ist es gewesen, damals, was ich euch jetzt erzählen will. Da lebte einmal ein Graf. Wie er geheißen hat, das weiß ich nicht mehr. Tut auch nichts zur Sache. Und der Graf hatte ein Schloß – im Nuorese, bei Burgos könnte es gewesen sein, wenn’s euch recht ist –, da hatte er also ein Schloß, das steht schon lange nicht mehr, und bei dem Schloß war ein großer Garten. In dem Garten aber, da waren sieben Pinien, die hatte der Graf gepflanzt, sooft ihm ein Mädchen geboren wurde. Hätte er Buben bekommen, dann hätte er Eichen gepflanzt, aber er hatte keine. Nun, einmal kommt ein Bote zum Grafen und sagt: «Mich schickt», sagt er, «der Herzog von Sizilien. Es ist ein Krieg ausgebrochen» – mit den Mauren oder den Deutschen oder werweißwem –, «ein Krieg, und der Herzog wartet auf Euch und Eure Soldaten.» Nun muß man aber wissen, daß der Graf schon so alt war, er konnte nur noch mit einem Stock gehen – gehen ist zuviel gesagt! So kroch und hinkte er durchs Haus. (Der Erzähler hinkt im Kreise herum.) Nun, der Graf schaut sich den Boten an und meint: «Du Trottel, siehst du nicht, daß ich dein Großvater sein könnte?» «Also», sagt da der Bote, «dann sendet Eure Söhne.» Da sagt der Graf nichts drauf, geht vielmehr hinaus, zu seiner Frau geht er und sagt:
«Alte, mit diesem Stock hätte ich Lust, dich zu prügeln! Blamierst mich im ganzen Lande! Sieben Töchter und keinen Sohn. Und nun soll ich auf meine alten Tage noch ins Feld ziehen.» Die Frau weint, weiß sich nicht zu helfen. Aber die Jüngste, Nina heißt sie, sagt zum Vater: «Papa, laß zu, daß ich mich wie ein Mann anziehe! Dann nehme ich dein Pferd und will gegen die Heiden ins Feld ziehen.» «Aber Töchterchen», sagt der Alte, «daß ich nicht lache! Wie willst du wissen, was ein Mann im Feld zu tun hat?» Sagt sie: «Laß mich nur machen. Du wirst sehen, daß du dich mit mir nicht schämen mußt. Gib mir doch den Schlüssel zu der Waffenkammer.» Nun, ein Wort gibt das andere, aber Nina läßt nicht locker, und der Alte ist zu mürbe, sich mit den Weibern herumzustreiten. Er gibt ihr also den Schlüssel und denkt sich: ‹Mein Kettenhemd ist dir viel zu groß. Du wirst hinhageln, wenn du drauftrittst.› Aber Nina ist – huschhusch – schon in der Waffenkammer, putzt die Rüstung, wie sie nur Frauen putzen können, zieht sie an, und siehe da: sie paßt wie angemessen! Als sie die Treppe herunterkommt, klirrt und scheppert es. Das hat man im Schloß lange nicht mehr gehört, und der alte Graf sperrt Mund und Augen auf. «Bei Gott und Sankt Michael», sagte er, «wenn ich dich so vor mir sehe, möchte ich meinen, ich hätte zu Unrecht eine Pinie gepflanzt. Du bist ein stattlicher Bursche!» Nina aber nimmt Abschied, geht in den Stall und will sich ein schönes Pferd auswählen. Aber da steht hinten im Eck ein alter Klepper, mager wie der Teufel und klapprig wie ein alter Karren. Und auf einmal fängt das alte Pferd zu reden an: «Nina», sagt es, «nimm mich mit! Denn zu den Sachen, die du anstellen willst, brauchst du weniger ein Pferd mit Beinen als eines mit Kopf!» Nina überlegt nicht lange.
«Pferdchen», sagt sie, «du hast recht. Schnelligkeit ist gut, Kindheit ist besser.» Aufgesessen – und fort ist sie! Als sie beim Herzog von Sizilien ankommt, schauen die Leute: so ein hübscher Bursche, aber so ein häßliches Pferd! Ein seltsames Gespann. Aber zum Schauen ist da nicht lange Zeit, denn der Herzog hat nur noch auf Nina – oder Nino, wie wir jetzt sagen wollen – gewartet und will aufbrechen. Das Heer marschiert übers Gebirge und kommt an den Rand einer großen Wüste. Da traut man sich nicht weiter. Der Herzog fragt: «Weiß jemand, wie man durch die Wüste kommt?» Aber niemand meldet sich. Da nimmt das Pferd den Nino auf die Seite und sagt zu ihm: «Geh zum Herzog und sag: du weißt den Weg! Dann aber laß nur mich machen!» Nino geht also hin: «Herr Herzog, ich weiß den Weg durch die Wüste.» «Gut, Bursche, wenn du uns richtig führst, sollst du hundert Goldstücke erhalten. Machst du deine Sache aber schlecht und sehen wir, daß du ein Großmaul bist, dann laß ich dir den Kopf abschlagen.» Nino setzt sich aufs Pferdchen und reitet an die Spitze des Heeres. Und so ziehen sie durch die Wüste, und schau: da sind sie schon drüben. Der Herzog läßt richtig dem Nino hundert Goldstücke geben, und er liebt ihn wie einen eigenen Sohn. Das macht viele Herren aus seinem Gefolge, Grafen, Ritter und Barone, neidisch und eifersüchtig. Und eines Tages gehen sie zum Herzog und sagen: «Nino hat behauptet, er könne allein den blauen Drachen besiegen.» Der Herzog mag nicht, daß jemand große Sprüche macht. Maulhelden kann er nicht leiden. Er läßt also Nino rufen und sagt:
«Du willst allein hinziehen und den großen blauen Drachen besiegen? So verschwinde augenblicklich, Kerl, und sieh zu, daß du auch bald tust, was du behauptet hast!» Nino ist sehr traurig. Nie hat er so etwas gesagt. Und wenn er – oder sie – an den blauen Drachen denkt, wird’s ihr ganz mulmig. Aber das Pferdchen sagt: «Herrin», sagt es, «sei nicht traurig! Du mußt dich nur immer ganz genau an das halten, was ich dir rate, dann wird es schon nicht schiefgehen.» Und damit reiten sie davon. Wie lange sie geritten sind, weiß ich nicht. Sehr lange jedenfalls. Da, an einem Abend, kommen sie durch eine Stadt, und plötzlich hört Nina ein Mädchen weinen. Steigt also vom Pferd und schaut durch ein Fenster in ein Haus hinein. Drinnen steht ein altes Weib und schlägt ein junges Mädchen. Mit einem ledernen Riemen schlägt sie es. «Ja, holla», ruft Nino, «was ist denn hier los?» «Dieses faule kleine Luder», sagt die Alte, «hat mir einen Topf zerbrochen. Sie ist meine Magd, aber ich muß sie täglich verprügeln, so dumm stellt sie sich im Haushalt an.» «Hör auf, Großmutter», sagt sie (Nina), «denn ich will dir den Topf bezahlen.» Nun, da wird die Alte freundlicher, lädt den Burschen gar zum Abendessen ein. Am nächsten Morgen sagt die Alte: «Ich sehe, dir gefällt das Mädchen. Wenn du mir hundert Goldstücke gibst, so viel hat sie mich nämlich gekostet, kannst du sie meinetwegen mitnehmen.» Nino überlegte nicht lang. Er hat zwar nur die hundert Goldstücke, aber er wirft sie der Alten hin, setzt das Mädchen hinter sich aufs Pferd und reitet davon. «Wo willst du denn hin, Nino?» fragt ihn das Mädchen. «Ich suche den blauen Drachen, um ihn zu besiegen», antwortet Nino. «Ach», sagt das Mädchen, «das ist schrecklich!»
«Warum?» «Weil der blaue Drache mein Bruder ist.» «Ja», sagt er, «wie gibt es denn so was!» «Warte, ich will dir die ganze Geschichte erzählen», antwortet darauf das Mädchen. «Du mußt wissen, daß ich eine Prinzessin bin. Mein Vater, der hohe Kaiser, hat zwei Kinder, meinen Bruder und mich. Wir lebten alle zusammen glücklich, aber mein Vater hatte eine böse Schwiegermutter, die hatte den bösen Blick. Solange Mama noch lebte, da ging es, denn Mama wußte, was man gegen den bösen Blick tun muß. Aber als Mama plötzlich starb, verzauberte die alte Hexe meinen Bruder in einen Drachen und legte ihn an eine Kette vor ihrem Palast. Mich aber verkaufte sie an jene alte Frau, von der du mich befreit hast. Wenn du meinen Bruder tötest, dann werde ich auch sterben, und wenn dich der Drache tötet, dann werde ich erst recht sterben. So ist es wohl mit meinem Leben aus.» Gerade in dem Augenblick machte das Pferdchen sein Maul auf und sagte: «Ihr beiden Ratschbasen, haltet euern Mund und steigt einmal von mir herunter, denn mir tut schon mein Rücken weh.» Die beiden stiegen schnell ab, und da sagte das Pferd: «Nina, erzähle erst einmal dem Mädchen deine Geschichte! Ich will indessen Gras fressen, denn ich habe großen Hunger. Und hernach sehen wir weiter.» Nun erzählte Nina der Prinzessin, daß sie ein Mädchen sei und so weiter, ich habe euch ja alles schon haarklein erzählt. Und als beide sich gegenseitig ihr Herz ausgeschüttet hatten und als sie endlich fertig waren – lieber Gott, hat das lange gedauert! –, kam das Pferdchen wieder zurück und sagte: «Jetzt haltet einmal an mit eurer Litanei, denn ich muß euch Wichtiges sagen. Und ihr Lieben, paßt mir recht gut auf, denn sonst geht alles schief, und wir landen alle drei im Eimer. Wenn ihr euch aber an meinen Rat haltet, so werden wir
gewinnen. Zunächst einmal: wir werden jetzt zu jener Hexe reiten. Wenn wir in die Nähe ihres Palastes kommen, dann muß die Prinzessin sich verstecken, ganz nah. Du aber, Nina, reite bis auf siebzig Schritte an den Palast heran. Der Drache wird sehr fauchen, aber die Kette ist sechzig Schritt lang, und so kann er dir nichts tun. Wenn die Hexe hört, wie der Drache Lärm macht, dann wird sie aus dem Fenster herausschauen. Dann ruf ihr zu, daß du mit ihr raten und wetten willst! Das ist nämlich eine Leidenschaft bei ihr. Sie wird dich fragen, was du willst, wenn du gewinnst – dann verlange den blauen Drachen. Wenn du aber verlierst, so wird sie deinen Kopf wollen. Aber tu es nur richtig, und du brauchst keine Angst zu haben. Dann werden auch ihr Alter und ihr Sohn kommen, man wird den Drachen kurzschließen und dich hineinführen. Bist du erst im Schloß, dann – paß auf! – wird man dich fragen, das und das und das; und du sage so und so und so. – Ich werde es euch dann gleich erzählen, aber ich mag es nicht zweimal sagen. – Und dann, wenn du gewonnen hast, nimm den Drachen an der Kette und reite in den Wald hinüber. Dort zieh schnell deine Rüstung aus und lege sie auf die Wiese, dann wollen wir uns alle verstecken.» Sie ritten also in das Reich der Hexe, und als sie in einen Wald in der Nähe des Schlosses gekommen waren, versteckten sie die Prinzessin. Das war ganz leicht, denn der Wald ist dort sehr dicht. Nino aber ritt allein weiter auf das Schloß zu. Bis auf siebzig Schritte traute er sich nicht hin, er war ja ein Mädchen, aber so neunzig und hundert mögen es gewesen sein. Und, siehe da! Der Drache kommt schon hergesaust, und die Kette klirrt, und Nina denkt: ‹Wenn jetzt die Kette reißt, bringt er uns um.› Aber die Kette reißt nicht. Und die Hexe macht ein Fenster auf, will nachsehen, wer da draußen kommt, weil ihr blauer Drache so wild ist. Da sieht sie den jungen Burschen, und weil sie zugleich auch eine Hure und eine
Menschenfresserin ist, sagt sie bei sich: «Erst ins Bett, dann auf den Tisch!» Aber laut schreit sie: «Bursche, was willst du hier?» «Herrin», sagt Nino, «ich möchte mit Euch raten und wetten.» «Und was willst du haben, wenn du gewinnst?» «Den blauen Drachen!» sagt er. «Der ist aber teuer, und du mußt dreimal raten und drei Aufgaben lösen.» «Das soll mir recht sein», sagt Nino. Da zieht die Hexe den Drachen an der Kette zurück, bindet ihn ganz kurz an, und Nino geht ins Haus hinein. Da sitzen auch schon der Alte und sein Sohn, die sind ganz neugierig, wie die Geschichte gehen wird: gewinnt die Alte, ist es gut, denn es gibt frisches Christenfleisch, gewinnt der Bursche, dann krepiert die Alte – noch besser! «Also», sagt die Hexe, «fangen wir an! Die erste Frage heißt: ‹Wie heißt das Schloß, das 365 Fenster hat?› Wenn du die Antwort weißt, so sage sie!» «Das Schloß, das 365 Fenster hat, heißt ‹das Jahr›.» «Bursche», sagt die Hexe, «du weißt allerhand; laß sehen, wie schlau du bist, denn jetzt kommt die zweite Frage: ‹Wer war es, der ein Viertel aller Menschen erschlug, die auf der Erde lebten?›» – «Das war Kain, als er seinen Bruder Abel tötete, denn da es damals außer Adam und Eva und den beiden Brüdern niemand auf der Erde gab, tötete Kain ein Viertel aller Menschen.» «Nun», sagte die Hexe, «ich sehe, du bist nicht auf den Kopf gefallen. Aber laß sehen, ob du noch mehr weißt!» sagte sie. «Und jetzt kommt die dritte Frage. Antworte, wenn du kannst: ‹Was ist die Drei, die Sieben und die Zwölf?›» «Drei Personen ist Gott, sieben Töchter hat mein Vater, und zwölf sind die zwölf Apostel.»
Die Hexe war ungeduldig, weil sich der Bursche schlau verhielt, aber sie dachte: ‹Warte nur, du wirst schon noch mein.› Und laut sagte sie: «Die drei Fragen hast du gelöst. Nun laß uns sehen, ob du bei den Aufgaben auch so geschickt bist. Wenn nicht, nun, so wollen wir uns keine Sorgen um das Mittagessen machen!» Aber Nino ließ sich nicht erschrecken. «Alte», sagte er, «rede schneller, denn ich bin nicht hergekommen, um hier zu übernachten!» Die Hexe wurde ganz wütend, denn so einen frechen Kerl hatte sie noch nie gesehen. «Gut», schrie sie, «wollen wir für alle Fälle gleich reinen Tisch machen. Hier hast du fünf Eier, die sollst du unter mich, meinen Gatten und meinen Sohn so aufteilen, daß jeder gleich viel erhält. Kannst du das nicht, so will ich das Feuer sofort anzünden.» Nino besann sich auf das, was ihm das Pferdchen geraten hatte, nahm die Eier und gab der Alten drei, dem Alten und seinem Sohn dagegen nur je eines. «Was soll das?» sagt die Hexe. «Habe ich dir nicht gesagt, jeder soll gleich viel Eier haben?» «Das habt Ihr auch», antwortete Nino keck, «hier sind Eure drei Eier, Frau, und Euer Mann und Euer Sohn haben jeweils zwei Eier noch in der Hose.» Da ärgerte sich die Alte gewaltig, aber sie konnte Nino nichts tun, weil er schlauer gewesen war als sie. «Nun zur zweiten Aufgabe!» sagt die Hexe. «Geh in den Keller hinunter, der ist bis unter die Decke voll von Brot. Wenn du das nicht bis morgen zum Sonnenaufgang aufgegessen hast, werde ich dich auffressen.» Und damit geht sie voran, hebt die Falltüre auf, läßt den Burschen hinuntersteigen und riegelt hinter ihm wieder zu. Da saß er nun im Finstern, und obwohl er das gute Brot roch, ist
ihm gar nicht wohl dabei. Aber er erinnert sich: ‹Wie war das? Was muß ich jetzt machen?› Und er tastet sich im Finstern die Wand entlang, und in der Ecke, ganz oben, da wackelt ein Stein, den kann man herausnehmen. Es gibt nur ein kleines Loch, etwa so groß. (Der Erzähler zeigt es mit den Händen.) Dann pfiff Nino, und schon steht das Pferdchen wartend draußen vor dem Loch. «Gut gemacht, Junge! Und nun her mit dem Brot!» Nino nimmt einen Laib Brot nach dem andern, und kaum hat er ihn durchs Loch geschoben, schwupp, da hat das Pferd ihn schon gefressen. Freilich: es war ein ganz schönes Stück Arbeit, und bis Nino den Keller ausgeräumt hat, ist er sehr, sehr müde; die Augen fallen ihm beinahe zu. Da nimmt er den Stein und schließt damit wieder das Loch, denn draußen wird es bereits hell. Es dauert auch nicht mehr lange, da kommt die Hexe mit dem Alten und dem Sohn. Hungrig sind sie alle drei. Aber da sitzt Nino allein im leeren Keller. «Bursche, hast du vielleicht wirklich das ganze Brot aufgegessen?» «Ei freilich. Endlich bin ich wieder einmal satt geworden!» Die Alte ist zornig wie ein alter Bootsmann, und die beiden Männer sind so hungrig, daß sie wie zwei Vögel die Brotbröckchen wegpicken, die vorn an seinem Hemd und an der Hose hängengeblieben sind. «Nun», sagt die Alte, «so schlafe dich aus. Wir haben jetzt keine Zeit für dich und müssen uns erst ein anderes Frühstück suchen.» Es wird Abend, da kommt die Hexe und weckt Nino auf; den ganzen Tag hat er verschlafen. «Du, he», sagt sie, «los, weiter! Jetzt kommt die dritte Aufgabe. Und wenn nicht… na du weißt schon.» Und sie führt ihn in den Hof des Schlosses. Da steht ein Ziehbrunnen. «Jetzt wollen wir doch sehen», sagt die Alte, «ob du den Brunnen, bis
die Sonne aufgeht, leer trinken kannst! Wenn ich auch nur noch einen Eimer Wasser morgen heraufhole, dann soll es das Wasser für die Suppe sein, die ich aus dir koche.» Nino macht sich gleich an die Arbeit, windet brav den ersten Eimer Wasser herauf und schüttet ihn in einen Zuber, der da steht. Bis es dunkel ist, hat er den Zuber gefüllt, und da kommt auch schon sein Pferdchen gerannt. Daß es dicker geworden wäre – dicker von dem vielen Brot –, davon sieht man nichts. Nur furzen tut’s wie ein Motorrad mit Fehlzündung. Es säuft gleich den Zuber aus, und dann Eimer um Eimer, den Nino heraufwindet. Gegen den Morgen zu, da kann das arme Mädchen nicht mehr. Ist es ja auch nicht gewöhnt, nachts zu arbeiten wie eine Hure. Aber das Pferdchen sagt: «Gib mir nur das Seil zwischen die Zähne! Ich hole die Eimer schon selber herauf.» Kaum wird es hell, kommt die Hexe mit den beiden Hexerichen. «Laß sehen, wie es steht!» sagt sie und läßt den Eimer hinunter. Der scheppert unten auf dem leeren Boden und kommt trocken herauf. «Verdammter Halunke», sagt die Alte, «dir muß der Teufel selber geholfen haben. Deshalb stinkt es hier auch so nach Schwefel!» (Es stinkt aber, weil das Pferd so hat furzen müssen.) Sie bindet den Drachen los und sagt: «Nimm dieses Vieh hier und pack dich! Möge es Schwefel auf dich herabregnen, daß dich weder Vater noch Mutter erkennt! Mögen dir die roten Ostern den Garaus machen und deine Eier die Adler fressen. Mögst du samt deinem Pferd und dem Drachen verhungern, verdursten, verrecken und krepieren!» Was kümmert Nino, daß die Alte flucht? Gar nichts. Er hat einen Zauber gegen den bösen Blick, einen ganz hervorragenden Zauber hat er: sieben Amulette! Und wollt ihr wissen, was das alles ist? Es ist wichtig, das zu wissen, denn jeder von uns kann es brauchen. Und wer nicht daran glaubt,
nun, noch keinem hat es geschadet. Also: erstens die Spitze eines Horns von einem schwarzen Stier, zweitens die Zähne von einem Wiesel, drittens Krallen einer Wildkatze, viertens eine Blume – ‹su flori romani› heißt sie bei uns daheim, wächst drinnen im Gebirge, ich weiß nicht, ob ihr sie kennt. (Man sagt, wenn sie eine Jungfrau pflückt, hat sie besondere Kraft.) Also weiter: habe ich jetzt viertens oder fünftens gesagt? (Antwort aus dem Publikum: vier waren es. Der Erzähler zählt es nun weiter an den Fingern ab.) Also fünftens einen kleinen Zauberspiegel, den bekommt man an Wallfahrtsorten zu kaufen, etwa bei Santa Maria du Buon’Aria oder auch Montenero. Sechstens ein kleines Kreuzchen, wie ich hier eines habe. – Hilft prima! – Und siebtens einen Zettel mit einem lateinischen Spruch darauf. Ich weiß ihn nicht auswendig. Wen’s interessiert, dem kann ich ihn nachher zeigen. Hab ihn in meinem Seesack. – Nun ihr seht: Nino oder Nina hat alles dabei, und wenn’s ein Kardinal wäre, niemand kann ihr was anwünschen. So macht sich das Mädchen auf, nimmt in eine Hand den Zügel, in die andere die Kette und geht auf den Wald zu. Eine halbe Stunde ist sie gegangen, da kommen sie dorthin, wo sich die Prinzessin versteckt hat. Und gleich zieht sie ihr Kettenhemd aus, legt Helm und Schwert daneben, und dann verstecken sich alle vier: die beiden Mädchen, das Pferd und der Drache. Derweil hat die Alte daheim einen großen Zorn, und zu ihrem Sohn sagt sie: «He, Faulpelz», sagt sie, «soll ich immer daran denken, euch aufzukochen, und ihr wollt nichts tun? Lauf schnell jenem Grafen nach und brich ihm das Genick! Dann bring ihn mir, damit ich ihn kochen oder braten kann.» Der Bursche läuft wie ein Hase, aber als er mitten auf der Wiese die Rüstung liegen sieht, vergißt er alles, denn er hätte
längst gern auch so eine Kleidung gehabt, ist er doch der Schwager eines Kaisers! Er wartet nicht lange, sondern zieht das Kettenhemd an, paßt ihm wie angeschneidert, setzt den Helm auf und gürtet sich das Schwert um. So läuft er stolz heim. Als ihn der Vater sieht, der alte Menschenfresser, bekommt er eine große Wut, denn er denkt: ‹Der Ritter hat mir meinen Sohn erschlagen. Er muß ein noch größerer Zauberer sein.› Und als der Sohn, den er nicht erkennt, nahe genug herangekommen ist, schleudert er einen Felsbrocken, der den Burschen ganz zerquetscht. Die beiden Alten freuen sich auf den Braten, laufen hinunter und zerreißen ihn, um ihn roh zu fressen. Da sehen sie, daß es ihr Sohn ist. «Verfluchte Alte», schreit der Hexerich, «möchtest du doch krepieren wie eine vergiftete Katze!» «Und du, Alter», schreit sie noch lauter, «du sollst zu Stein werden, an den die Hunde hinurinieren!» Was soll ich noch sagen? Die Flüche gingen in Erfüllung, denn zaubern konnten sie ja alle beide. Lassen wir sie also krepieren und schauen wir uns die beiden Mädchen an. Die sitzen im Wald, und die Prinzessin weiß nicht, soll sie sich freuen oder soll sie beklagen, daß ihr schöner Galan nur ein Mädchen ist. Da sagt das Pferd: «He, ihr da», sagt es, «ihr müßt nun ein Beil nehmen und uns beiden den Kopf abschlagen.» Die beiden Mädchen trauen sich nicht, aber das Pferd und der Drache werden ganz wild, und endlich, da schlägt die Prinzessin dem Pferd und Nina dem Drachen den Kopf ab. Und wer steht auf einmal da? -Ja, da schaut ihr und wackelt mit den Ohren! – Da stehen also zwei Prinzen, und der eine ist der Sohn des Kaisers, das war der Drache, und der andere ist der Sohn des Königs, der war das Pferd gewesen; und beide waren sie von der alten Hexe mit dem bösen Blick verzaubert
worden. – Natürlich haben sie alle geheiratet, also Nina den Drachen, denn er konnte seine Schwester nicht gut heiraten… also der blaue Drache hat Nina geheiratet, das Pferd die Prinzessin. Jetzt aber erzählt mir einmal, wer von euch mit einem Drachen verheiratet ist!
53 Die beiden Alten, die alles wußten
Gestern – heute – übermorgen ritten hier vorbei drei Mohren. Und für die Geschichte sorgen, was der letzte hat verloren.
Es kam hier einmal jemand vorbei, der hat mir die Geschichte erzählt. Er war auf der Suche nach seinem Pferd; ich bin mitgegangen und habe ihm suchen geholfen, und da hat er angefangen zu reden. Also! In einer fernen Zeit, da lebte einmal eine arme Familie, die hatte kaum etwas zu beißen, so arm war sie. Aber der älteste Sohn war trotzdem immer vergnügt und hoffnungsvoll. Und eines Tages sagte er zu seinem Vater: «Papa, es ist das beste, ich ziehe in die Welt. So Gott hilft, mach ich mein Glück, und dann komm ich heim, und du und Mama und meine Geschwister, ihr sollt es dann auch gut haben.» Der Vater war einverstanden, und er gab seinem Sohn alles mit, was er noch im Hause an Eßbarem fand: das waren drei Brotfladen. «Geh sparsam damit um», sagte er, «der Weg in die Stadt ist viele Tagreisen weit, und niemand wird dir zu essen geben, ehe du nicht wo einen Dienst findest.» Der Bursche zog also los, und er marschierte den ganzen Tag dahin, und als es dunkelte, wollte er sich unter eine Brücke setzen, um dort zu übernachten. Als er aber unter die Brücke kroch, sah er, daß dort drei alte Männer saßen.
«Komm nur her, Bursche», rief der älteste, «du hast hier auch noch Platz, wenn wir zusammenrücken.» Der Bursche bedankte sich, setzte sich unter die Brücke und wollte einen Brotfladen herausholen, um ihn zu essen, aber da sah er die hungrigen Augen der Alten und fragte: «Habt ihr schon genachtmahlt?» – «Nein, Söhnchen. Wir haben schon lange kein Brot mehr gesehen und uns nur von Brombeeren genährt.» – «Ach, dann ging es euch schlechter als mir. Seht her! Ich habe gerade drei Brote, so daß jeder von euch eines haben kann.» – «Vielen Dank, Söhnchen, aber dann bleibt dir ja selber nichts.» – «Das macht nichts. Ich habe heute morgen noch gefrühstückt und habe keinen großen Hunger.» Da ließen sich die Alten nicht zweimal bitten, und jeder aß sein Brot. Dann legten sich alle eng zusammen, um sich gegenseitig zu wärmen, und schliefen ein. Am nächsten Tag sagte der Älteste: «Söhnchen, du hast uns geholfen. Wenn du einmal Hilfe und Rat brauchst, dann komm hierher, und dann werden wir dir ebenso helfen.» Dann nahmen sie Abschied, und der Bursche marschierte weiter in die Stadt. Als er dort ankam, hörte er einen Ausrufer, der schrie: «Der König gibt bekannt: Wer drei Aufgaben erfüllt, die er stellen wird, der soll seine Tochter zur Frau erhalten und das Königreich erben.» Unser Bursche – es ist an der Zeit, daß wir seinen Namen nennen –, also Antine überlegte nicht lange, sondern er ging zum Palast des Königs und meldete sich dort. Als die Offiziere ihn sahen, lachten sie ihn aus und sagten: «Was, du willst die drei Aufgaben erfüllen, wo doch so viele Prinzen und Generäle daran gescheitert sind! Die Prinzen hat man ausgehöhnt und mit Schimpf und Schande heimgejagt, die Generäle hat man zu gemeinen Soldaten gemacht. Aber dich, dich wird man prügeln, daß du nicht mehr stehn noch gehn kannst.»
Antine aber ließ sich nicht abbringen. Und so führte man ihn vor den König. Der König war sehr freundlich und sagte: «Warum sollst du es nicht auch probieren? Du kennst die Bedingungen?» – «Ja, Majestät.» – «Nun, so hör zu! Früher einmal hausten meine Vorfahren auf jenem Berg, den du dort drüben siehst. Nun aber ist vor vielen Jahren das Schloß dort oben eingestürzt, und sooft man es wieder aufzubauen versucht hat, hat es ein Erdbeben gegeben, und immer wieder ist alles zusammengefallen. Bau du dort das Schloß, und nimm dazu so viele Arbeiter, wie du brauchst. Und wenn das Schloß steht, ohne einzustürzen, dann hast du die erste Aufgabe erfüllt.» Antine ließ es sich zuerst drei Tage gutgehen. Dann sagte er: «Ruf: die Arbeiter zusammen! Ich werde gleich wiederkommen.» Und er packte so viel Brot in seinen Sack, wie hineinging, und marschierte zu der Brücke, wo die drei Alten waren. «Hier habt ihr Brot. Nun aber helft: mir! Ich soll dem König ein Schloß auf dem Berg bauen, aber dort gibt es immer ein Erdbeben, und dann stürzt alles ein.» Da überlegten die Alten eine Weile, dann sagten sie: «Ja, Antine. Da mußt du zu unserm Großvater und unserer Großmutter gehen. Wir werden dich hinführen.» Und sie stiegen mit ihm durch Gesträuch und Wald ins Gebirge hinauf. Und vor einer Höhle machten sie halt und sagten: «Antine, hab keine Angst! Geh in diese Höhle hinein, bis du in einen großen Raum kommst. Dort schlafen ein alter Mann und eine alte Frau. Lege dich getrost dort nieder. Das Weitere wird sich finden.» Antine machte sich auf den Weg in die Höhle, und er hätte oft nicht gewußt, ob er rechts oder links gehen solle, wenn sich der Weg gabelte, aber er hörte immer Bienen vor sich hersummen, und diesen Bienen ging er nach.
Antine war eine ganze Weile gegangen, als er in einen Raum kam, der von Bienen schwirrte und in dem eine Kerze brannte. Und da sah er, daß dort ein alter Mann und eine alte Frau lagen und schliefen. Er dachte nicht weiter nach, sondern legte sich in die Mitte zwischen beiden, und kaum hatte er sich niedergelegt, da fielen ihm die Augen zu. Und da hörte er, wie die Frau sagte: «Mann?» – «Ja.» – «Ist da einer gekommen?» – «Ja, es ist einer gekommen, den haben unsere Enkel gebracht.» – «Dann wird er wissen wollen, wie er das Schloß des Königs auf jenem Berg aufbauen kann, ohne daß es einstürzt.» – «Das ist sehr einfach. In jenem Berg haust ein Drache, und der will nicht, daß man dort eine menschliche Behausung errichtet. Und immer, wenn er mit dem Schwanz schlägt, gibt es ein Erdbeben, und alles stürzt ein.» – «Und was kann man dagegen tun?» – «Hier in der Höhle wächst ein Kraut. Man muß davon einen Strauß pflücken. Wenn man dann zu dem Drachen geht, muß man ihn daran riechen lassen, dann schläft er für tausend Jahre ein.» Nach einiger Zeit wurde Antine wieder wach, rieb sich die Augen. Und da sah er, daß dort tatsächlich ein Kraut wuchs. Und davon pflückte er, bis er einen großen Strauß beisammen hatte. Dann verließ er wieder die Höhle. «Weißt du jetzt, was du machen mußt?» fragten ihn die drei Alten, als er wieder vor der Höhle ankam. «Ja, ich weiß es.» «Gibt es in dem Berg, wo der König das Schloß haben will, einen Schacht?» fragte Antine die Arbeiter. «Es gibt ihn.» – «Dann führt mich einmal dorthin!» Oben auf dem Berg war ein Loch. Und durch dieses Loch ließen die Arbeiter den Antine mit einem Seil hinunter, und er kam in eine Kammer, und dort war ein Drache und schlug mit dem Schwanz. Aber als ihm Antine den Strauß mit dem Kraut hinhielt, roch er daran, und kaum hatte er einen Atemzug getan, schlief er ein und rührte sich nicht mehr.
Als der Drache mit dem Schwanz schlug, hatte es ein kleines Erdbeben gegeben, und die Arbeiter waren davongelaufen. Aber als weiter nichts passierte, kehrten sie zurück, und sie dachten, Antine würde wohl tot sein. Aber sie zogen ihn herauf: und er war lebendig. Dann fingen sie an zu bauen, und nach einem Monat war das Schloß fertig. Der König wartete noch einige Zeit, und als das Schloß nicht einstürzte, ließ er den Antine rufen und sagte: «Das hast du gut gemacht. Wenn du auch die zweite Aufgabe erfüllst, wirst du ein Stück weiter sein. Höre: was ist ein Schloß ohne Wasser? Nun gibt es aber auf dem ganzen Berg keine Quelle, und bergaufwärts fließt nun einmal kein Wasser. Sieh zu, daß du Wasser findest, damit ich in jenes Schloß umziehen kann.» Antine ging wieder zu den drei Alten, und er brachte ihnen einen ganzen Maulesel, beladen mit Brot, Speck und Wein mit. Nachdem die Alten gegessen hatten, führten sie ihn wieder zu der Höhle – allein hätte er den Weg nicht gefunden, denn es ging durch dichten Wald. Und Antine ging wieder in die Höhle hinein, legte sich zwischen die beiden Alten und schlief ein. «Mann?» – «Ja, Frau.» – «Ist der eine wiedergekommen?» – «Ja, unsere Enkel haben ihn wieder hergeführt.» – «Dann wird er diesmal wissen wollen, wo man auf jenem Berg, auf dem nun das Schloß wieder steht, Wasser finden kann.» – «Ja, so ist es. Er braucht nur hier eine der Kerzen zu nehmen. Ist er auf dem Berg, dann soll er dort die Kerze anzünden, und er soll so lange auf dem Berg herumgehen, bis ein Tropfen Wachs herunterfällt. Und dort, wo der Tropfen Wachs hinfällt, da soll er graben, dann wird er eine Quelle finden.» Als Antine wieder wach wurde, sah er sich um, nahm eine Kerze und verließ die Höhle. Und am nächsten Abend stieg er auf den Berg, wo einsam das Schloß lag, denn es wohnte noch niemand darin. Und dann zündete er die Kerze an und ging
umher. Und nach einer Weile rieselte ein Wachstropfen die Kerze hinunter und fiel zur Erde. Da ergriff Antine den Spaten, den er mitgenommen hatte, und fing an zu graben. Und er brauchte nicht sehr lange zu graben, da sprudelte plötzlich eine Quelle hervor. Man mußte sie nur noch in einem Becken auffangen. «Antine», sagte der König, «du bist tüchtiger als alle Prinzen und Generäle, die bisher versucht haben, die Aufgaben zu lösen. Nun erfülle auch noch die dritte Bedingung, dann soll am Tage darauf die Hochzeit stattfinden.» – «Und was ist die dritte Aufgabe?» – «Die ist sehr schwer. Meine Vorfahren haben auf dem Berg eine Kiste mit Gold, Silber und Edelsteinen vergraben. Aber sie haben dort auch eine Kiste mit giftigen Fliegen vergraben. Wenn man die falsche Kiste öffnet, kommen die Fliegen heraus und stechen einen zu Tode.» Antine ging zu den drei Alten, und er nahm auch schöne Kleider mit, damit sie sich neu kleiden könnten. Und die Alten dankten ihm für alles und führten ihn wieder zu der Höhle ihrer Großeltern. Antine kannte sich nun schon gut aus. Er ging in die Höhle, legte sich nieder und schlief zwischen den beiden Uralten ein. «Mann?» – «Ja, Frau, was willst du?» – «Antine ist wieder da.» – «Ja, unsere Enkel haben ihn zum drittenmal hergeführt.» – «Dann wird er wissen wollen, in welcher Kiste der Schatz des Königs und in welcher die giftigen Fliegen sind.» – «So ist es. Antine braucht nur eine Handvoll von dem Zucker zu nehmen, der hier in diesem Korbe steht. Dann werden ihm einige Bienen folgen. Hat er dann die Schatzkisten ausgegraben, so muß er aufpassen: die Bienen werden eine Kiste meiden, weil dort die bösen Fliegen sind, und sie werden sich auf die zweite Kiste setzen. Das ist die Schatztruhe. Wenn er dann den Bienen den Zucker hinstreut, werden sie ihn nicht daran hindern, die Schatztruhe aufzumachen.»
Als Antine wach geworden war, nahm er eine Handvoll Zucker und ging damit aus der Höhle hinaus, und es folgten ihm einige Bienen, die den Zucker rochen. Antine aber nahm Abschied von den drei Alten und ging auf den Berg, wo jetzt der König im Schloß wohnte. Und einige Bienen flogen vor ihm her, als ob sie etwas suchten. Und als er merkte, daß sie an einer bestimmten Stelle immer im Kreise flogen, begann er dort zu graben, und nach einiger Zeit stieß er auf zwei Kisten. Die zog er aus dem Loch heraus. Und die Bienen flogen zuerst um die eine Kiste herum, dann flogen sie zu der zweiten, und dort ließen sie sich nieder. Da beugte sich Antine zu jener Kiste, die von den Bienen gemieden worden war, und es war ihm, als höre er von drinnen ein bedrohliches Brummen. Da stieß er diese Kiste wieder in das Loch hinunter und grub es zu. Dann streute er den Bienen den Zucker hin, und sie ließen zu, daß er die zweite Kiste öffnete. Und darin erblickte er lauter Gold und Edelsteine. «Nun gehört alles dir, Antine!» sagte der König. Und zur Hochzeit ließ Antine auch die drei Alten kommen, die unter der Brücke hausten. Und er wollte sie im Schloß behalten, sie aber verabschiedeten sich und wurden nie mehr gesehen. So lautet die Geschichte. Ich habe nichts hinzugefügt und nichts weggelassen.
54 Comte Arnau
In fernen, fernen Zeiten lebte einst ein Graf der war ebenso jähzornig wie eifersüchtig. Er hatte sieben Söhne und sieben Töchter, doch blieb er selten zu Hause; wenn er nicht gerade im Kriege war, zog er auf die Jagd. Seine arme Frau, sie hieß Marieta, mußte indes zu Hause über dem Gesinde wachen und ihre Kinder erziehen. Eines späten Abends kam der Graf wieder von der Jagd zurück, da sah er, wie aus seinem Hause ein Mann kam. Es war ein alter Einsiedler, den hatte die Gräfin holen lassen, denn eines der Kinder war krank, und der Eremit galt als ein guter Arzt. Der Graf jedoch wußte von allem nichts, und da er sehr unbeherrscht war, stürzte er ins Haus, zog sein Schwert und erschlug seine Frau. Die vergoß ihr Blut so, daß es durchs halbe Zimmer floß. Da packte den Grafen das Entsetzen, er verfluchte sich und seine Leidenschaft und lief blindlings davon in die Welt hinaus. Und da er sich nun schon einmal verloren glaubte, verschrieb er seine Seele dem Teufel, lebte wild und gottlos und starb eines schrecklichen Todes. Marieta war jedoch nicht tot, sondern nur schwer verletzt. Ihre Diener fanden sie und verbanden sie. Man holte den alten Einsiedler, der zur Stunde zurückkehrte, und mit Hilfe seiner Kunst gelang es, die arme Gräfin am Leben zu erhalten. Sie lebte einige Jahre, ohne von ihrem Gatten etwas zu wissen, und glaubte schon, nie mehr von ihm zu hören. Eines Nachts jedoch klopfte jemand ans Fenster. Marieta ging hin und öffnete den Laden. Und denkt euch, wer stand draußen?
Der Graf! Er hatte Augen wie glühende Kohlen, und sein Bart schien vor Feuer zu sprühen, an den Händen aber hatte er glühende Ketten. Ihr könnt euch denken, wie die arme Gräfin da erschrak! Der Graf jedoch begann zu sprechen: «Marieta, sage mir: Sind wohl meine Kinder hier?» «In den Betten liegen sie, Schlafen dort bis morgen früh.» «Ich möchte meine Söhne schauen!» «Sterben würden sie vor Grauen!» «Ich möchte meine Töchter schauen!» «Sterben würden sie vor Grauen!» «Ich will mein Gesinde sehen!» «Keiner würde mit dir gehen!» «Marieta, bist du ganz allein?» «Hilf mir Gott!, ich bin’s nicht, nein!» «Wen hast drinnen du bei dir?» «Jesus, Maria sind bei mir!» «Komm doch schnell zu mir heraus!» «Nein, ich geh nicht aus dem Haus!» Da schwang sich der Graf aufs Fensterbrett und stieg in das Zimmer. Der armen Marieta wurde angst und bange, und es wollten ihr schier die Sinne vergehen. Sie wich vor dem Grafen langsam zurück. Der blieb auf einmal stehen, denn er sah den Blutfleck, der von seiner Schandtat zurückgeblieben war. Da schlug er die Hände vors Gesicht und entfloh durch das Fenster, denn durch Türen dürfen verdammte Seelen nicht gehen. Am nächsten Morgen fand die Gräfin noch die Brandspuren am Fensterbrett, und so wußte sie, daß sie nicht geträumt hatte. Sie ging eilends zu dem Eremiten und fragte ihn um Rat. Er
riet ihr, für die Seele des Grafen Messen lesen zu lassen, je mehr, je besser. Die Gräfin nahm all ihr Geld und ließ in allen Städten für den Grafen beten. In der folgenden Nacht jedoch klopfte es wieder ans Fenster. Marieta ging und öffnete. Da stand wieder der Graf, und Flammen leckten über sein Gesicht. Er weinte und stöhnte, dann sagte er: «Gattin, kannst du mir verzeihn, So vermehre nicht die Pein; Denn mit Messen, die du spendest, Niemals meine Qual du endest. Ja, sie steigern nur den Brand, In den nun ich bin verbannt!» Da gab Marieta es auf, für ihn zu beten, und der Graf kehrte nicht wieder. Man sagt jedoch, daß er gerettet werden kann, wenn einer seiner Söhne die Tonsur empfängt und eine seiner Töchter den Schleier nimmt. Davon jedoch erzähle ich euch ein andermal.
55 Der Herr und der Knecht
Es war einmal ein Priester, der einen Knecht suchte. Eines Tages kam einer, der den Dienst bei ihm antrat. Der Herr befahl dem Knecht zuerst, ihm das Essen zu machen; dann befahl er ihm, die Schuhe und die Strümpfe zu richten. Endlich zeigte er ihm die Pantoffeln und fragte: «Wie heißen diese hier?» – «Das sind Pantoffeln», antwortete der Knecht. Da gab ihm der Herr eine Ohrfeige und sagte: «Nein, nein, dazu sagt man: is trippiddis, trappiddis (Tripp Trapp).» Dann zeigte der Herr dem Knecht die Strümpfe und fragte ihn: «Und wie heißen diese hier?» – «Die Strümpfe», sagte der Knecht. Da gab ihm der Herr wieder eine Ohrfeige und sagte: «Sie heißen: is lunghieras (die Langen).» Dann hat der Herr dem Knecht die Vorratskammer gezeigt und gefragt: «Wie heißt dies hier?» – «Die Speisekammer», hat der Knecht geantwortet. Da hat ihm der Herr eine weitere Ohrfeige gegeben und gesagt: «Dummkopf, der du bist, das heißt s’abbundanza (der Überfluß).» Da nahm der Herr einen Kater, der dort herumlief, und fragte: «Und wie nennt man das hier?» – «Der Kater, mein Herr.» – «Idiot, der du bist.» Und er gab ihm wieder eine Ohrfeige. «Dieser hier heißt su Raffu (der Gewalttätige).» Daraufhin hat er dem Knecht das Geld gezeigt und hat ihn gefragt, wie das heiße. – «Geld», hat der Knecht gesagt. – «Nein, nein, man sagt so: su dinaroni (der Reichtum)», und er gab ihm nochmals eine Ohrfeige.
Der Knecht blieb trotzdem dort zwei Jahre lang im Dienst. Nach dieser Zeit wurde es ihm aber zuviel, ständig den Prügelknaben für die schlechte Laune seines Herrn zu spielen. Eines Abends riß er ein Stück Papier ab, band es an den Schwanz des Katers (als der Herr gerade schlief), zündete das Papier an und ließ den Kater in die Vorratskammer hinein. Da es darin viel Öl und andere leicht brennbare Sachen gab, fing die ganze Vorratskammer Feuer. Der Knecht aber schnappte sich das Geld und weckte seinen Herrn mit den Worten: «Herr, Herr, der Raffu brennt in der abbundanza, und ich fliehe mit dem dinaroni.» Der Herr, der im Halbschlaf nicht recht verstand, was jener sagte, rief ihm nach, wie er denn eigentlich heiße, und der Knecht antwortete ihm: «Ich heiße Mai mi eis bistu aici (Hast du mich je so gesehen).» Sein Herr, was hat er da gemacht? Er ist aufgestanden und hat seine Soutane angezogen, um ihm nachzulaufen. Wie er aus dem Haus gekommen ist, ist er in die Abortgrube hinuntergefallen, denn der Knecht hatte den Deckel abgehoben. Er ist ganz schmutzig wieder herausgestiegen und hat angefangen, hinter dem Knecht herzulaufen. Und weil er ihn nicht mehr gesehen hat, hat er die Leute gefragt: «Hast du mich je so gesehen?» Und die Leute haben geantwortet: «Nein, nein.» So ist er die ganze Nacht herumgelaufen, bis es wieder Tag wurde. Und als er nach Hause zurückkam, da war alles abgebrannt. Was hat er in seiner Verzweiflung gemacht? Er hat sich in die nächste Zisterne gestürzt.
56 Geschichte von einem Mann, der sich für tot hielt
Einmal ist ein Bauer in Sorgono gewesen, Meloni mit Namen, der ist eines Tages von daheim weggegangen, und er hat zu seiner Frau gesagt: «Maria, ich steige hinauf zum Weinberg, dort gibt’s viel zu tun.» Und er ist gegangen. Wie er so unter der Arbeit ist, es war im Juni und schon sehr heiß, da hat er gähnen müssen. Da hat er gesagt: «Jetzt heißt es aufpassen! Denn wer dreimal hintereinander gähnt, der muß sterben.» Und er hat weitergearbeitet. Aber nicht lange, da hat er wieder gähnen müssen. Und er hat gesagt: «Wenn ich jetzt nicht aufpasse, dann muß ich noch einmal gähnen, und dann ist’s aus mit mir, dann muß ich sterben.» Und er hat einen Schluck Wein getrunken. Aber das hat nicht geholfen, und der Bauer ist noch müder geworden. Und nach einiger Zeit, da hat er wieder gähnen müssen. Und da hat er gesagt: «Aus! Aus ist’s mit mir, ich sterbe.» Und er hat sich auf den Boden gelegt, und die Hände hat er schön gefaltet. Und als am Abend der Bauer nicht heimgekommen ist, da ist die Frau zum Nachbarn gegangen und hat gesagt: «Mein Mann ist nicht heimgekommen.» «So», hat der Nachbar gesagt, «und wo ist er denn hingegangen?» «Er ist in unsern Weinberg gegangen», hat die Frau geantwortet. Und da haben sie eine Laterne genommen, und zwei Burschen sind noch mitgegangen, und so sind sie
hinaufgestiegen zum Weinberg. Und wie sie da hineingegangen sind, da ist Meloni dort tot gelegen und die Hände auf der Brust. Und da haben sie alle geglaubt, daß er tot ist. Und sie haben eine Bahre geholt und haben ihn heimgetragen. Und daheim haben sie ihn auf den Fußboden gelegt und haben Kerzen angezündet, und die Frau hat geklagt. ‹So ist das also, wenn man tot ist›, hat sich der Mann gedacht, und er hat sich nicht gerührt. Und man hat alle Bekannten und Verwandten geholt, und sie haben sich da auf den Fußboden gesetzt und haben mitgeklagt. Und als es schon Morgen geworden ist, da kam ein Vetter von Meloni, der hat in Tonara gewohnt, und der ist ihm noch Geld schuldig gewesen. Und da hat sich der Bauer gedacht: ‹Der Vetter ist ein Gauner, und meine Frau weiß nicht, daß er uns Geld schuldig ist. Und wenn ich jetzt nichts sage, dann bekommt Maria das Geld niemals!› Und da hat er sich aufgesetzt und hat gesagt: «Beppe, hast du das Geld mitgebracht?» Und da haben die Leute alle geschrien und gesagt: «Bist du nicht tot?» «Ja», hat da der Bauer Meloni gesagt, «ich weiß es nicht genau. Ich habe dreimal gähnen müssen, und dann bin ich gestorben. Aber ich kann euch gut verstehen.» Und da hat sein Vetter gesagt: «Ja, wenn du noch lebst, dann muß ich dir dein Geld schon zurückgeben.» Und er hat das Geld aus der Tasche genommen und seinem Vetter hingehalten. Und der hat es gezählt, und da haben alle gesagt: «Solange er noch zählen kann, ist er noch lebendig.» Und dann haben sie noch wer weiß wieviel Wein getrunken, um sich von dem Schrecken zu erholen.
Nachwort
Im Jahre 1929 erschien in den «Märchen der Weltliteratur» ein Band Italienische Märchen, betreut und übersetzt von Walter Keller. Nach den Plänen des Herausgebers der Reihe Friedrich von der Leyen sollte das der erste Band sein, dem ein zweiter mit Märchen aus dem 19. und 20. Jahrhundert folgen sollte, wozu die Einteilung der französischen Märchen der damaligen Ausgabe als Modell diente. Keller kommt so das Verdienst zu, erstmals in einer Anthologie einen Querschnitt durch den reichen Schatz der altitalienischen Märchen und Märchennovellen dem deutschen Leser zugänglich gemacht zu haben. Er wählte je neun Texte aus dem 13./14. und dem 15./16. Jahrhundert und verband diese kluge Textwahl mit Beispielen aus den Märchenbüchern Straparolas und Basiles (jeweils 13 Texte), während das 18. Jahrhundert freilich mit einer einzigen Geschichte von Magalotti etwas schwach berücksichtigt wurde, der zudem strenggenommen noch ins 17. Jahrhundert gerechnet werden muß. Der geplante zweite Band mit neueren Erzählungen aus Italien kam infolge des Krieges und anderer Schwierigkeiten nicht mehr zustande. Als in den fünfziger Jahren dann der Ruf nach den längst vergriffenen italienischen Märchen laut wurde, war zunächst an eine zweibändige Ausgabe noch nicht zu denken, und ähnlich wie bei den französischen Märchen entschlossen sich Verlag und Herausgeber zu einem Kompromiß: ältere und jüngere Geschichten sollten in einem Band vereint werden. Obwohl dieser Versuch von fachkundiger Hand mit viel Geschick unternommen wurde, blieb es doch recht schmerzlich, daß 18 Texte aus der alten
Ausgabe geopfert werden mußten und nur 20 Texte aus neuerer Zeit aufgenommen werden konnten. Man mußte es besonders als eine Lücke empfinden, daß unter dem Titel «Märchengut aus neuerer Zeit» lediglich Märchen aus zwei italienischen Landschaften (18 aus der Toskana, 2 aus der Basilicata) und nur Texte aus dem vorigen Jahrhundert berücksichtigt wurden. Es ist freilich dazu zu sagen, daß von der Leyen als Ergänzung hierzu einen Band mit Märchen aus Sizilien und Sardinien geplant hatte, der später -in erweiterter Form – als «Inselmärchen des Mittelmeeres» erschienen ist. Obwohl der Band italienischer Märchen mit 393 Seiten einer der umfangreichsten der ganzen Serie war, konnte er aus der reichen Fülle der Volkserzählungen dieses gesegneten Landes nur eine sehr kleine Kostprobe bieten, zumal die neueren Sammlungen nicht ausgewertet worden waren. Zudem fehlte es dem Bande an innerer Einheit, da novellistische Erzählungen und Kunstmärchen aus älterer Zeit mit Volksmärchen verbunden waren. So entstand der Wunsch, einen eigenen Band mit Volksmärchen aus Italien vorzulegen, der wenigstens die wichtigsten Landschaften berücksichtigen und auch neueste Quellen benutzen sollte. Dabei wurde bewußt darauf verzichtet, jene hübschen Texte nochmals zu verwerten, die Lisa Rüdiger für die Ausgabe von 1959 klug gewählt und sorgfältig übersetzt hatte. Der Band bietet so eine Ergänzung zu der alten Ausgabe. Horst Rüdiger hat der Ausgabe von 1959 unter dem Titel «Vom Geist des italienischen Märchens» ein sehr gescheites Nachwort beigegeben, das mit zum Besten gehört, was über das italienische Märchen geschrieben wurde, und das wir allen Lesern des vorliegenden Bandes, die sich mit diesem Thema intensiver beschäftigen wollen, sehr empfehlen. Seinen Worten – wie auch Kellers älterem Vorwort – brauchen wir über die
historische Seite des italienischen Märchens nichts hinzuzufügen. Wie aber steht es mit der Erzählpraxis der vergangenen hundert Jahre? Die Beschäftigung mit der Volkserzählung, d. h. das Sammeln und Erforschen der in der mündlichen Überlieferung lebenden Texte, setzte in Italien fast ein halbes Jahrhundert später ein als die Volksliedforschung. Italien stand auch in der Erzählforschung nicht so sehr unter dem Einfluß der Brüder Grimm wie vergleichsweise Frankreich oder Rumänien. Grimms Kinder- und Hausmärchen wurden in Italien erst erstaunlich spät bekannt. Die erste – und zudem stark gekürzte – Ausgabe der KHM erschien in Mailand 1896 (unter dem Titel «Cinquanta novelle» in der Übertragung von Vanzi Mussini), und es brauchte weitere sechzig Jahre, bis endlich 1954 die erste komplette Ausgabe der Grimmschen Märchen in Turin erscheinen konnten. (Unter dem Titel «Le fiabe e focolare», mit einer Einleitung von Clara Bovero.) Nur einzelne Märchen tauchten teils vereinzelt in Kinder- und Schulbüchern, teils in Anthologien bereits früher auf. Zu den ersten Forschern, die sich in Italien mit der Volkserzählung beschäftigen, gehören Alessandro de Gubernatis, Giuseppe Pitre und Domenico Comparetti. Als diese Gelehrten begannen, sich für das Märchen zu interessieren, lagen bereits einige Ausgaben von Geschichten vor, die von deutschen Sammlern besorgt worden waren. Zu nennen sind: Georg Widter und Adam Wolf, die 1866 «Volksmärchen aus Venetien» herausgebracht hatten, Hermann Knust, der seine in Livorno gesammelten Texte im gleichen Jahr im «Jahrbuch für romanische Literatur» mitgeteilt hatte, Christian Schneider, dessen «Märchen und Sagen aus Welschtirol» 1867 in Innsbruck erschienen waren, und schließlich Laura Gonzenbach, deren zwei Bände
sizilianischer Märchen in Leipzig 1870 zum Abdruck gekommen waren. Gubernatis fand zunächst mit seinen 1869 in der Zeitschrift «Rivista contemporanea» veröffentlichten Erzählungen wenig Resonanz, zumal die Forschung solche Märchen lieber den Kinderbüchern zuwies. Aber im März 1870 konnte Comparetti an Pitre schreiben: «Sie werden von d’Ancona wissen, daß er und ich eine Sammlung von italienischen Volksliedern und Volkserzählungen besorgt haben. Ich habe zirka 200 Texte, die er (Ferraro) in Monferrato gesammelt hat und die wir mit meinen Anmerkungen dazu veröffentlichen werden.» Wir entnehmen diesem Brief, wie reich damals die Quellen der oralen Tradition selbst in Oberitalien noch flossen, während es zur gleichen Zeit in Deutschland bereits eines erheblichen Spürsinnes bedurfte, um noch gute Märchenerzähler zu finden. Einen Monat nach dem obigen Brief schrieb Comparetti wiederum an Pitre: «Man kann nicht mehr daran zweifeln, daß eine ganze Menge von derartigen Geschichten, welche die Deutschen ‹Märchen› nennen, bei allen Völkern Europas verstreut sind… Sie lassen sich sicher ähnlich verstreut auch in ganz Italien finden. Wie Sie verstehen werden, läuft man wenn in einer ganzen Serie von Bänden die einzelnen Erzählungen auf lokaler Basis publiziert werden – die Gefahr, zum größten Teil immer wieder das gleiche Material» – (scil, die gleichen Motive) – «zu bringen. Es wäre deshalb wohl am besten, eine Gesamtausgabe unter dem Titel ‹Conti (o novelline) popolari italiani› zu machen, in der man von jeder Version eines Textes die beste und vollständigste Fassung auswählt, wie sie in den verschiedensten Varianten in allen Gegenden Italiens erzählt werden, und in den Anmerkungen dazu dann die wichtigsten Varianten.» Der Plan eines derartigen Sammelwerkes für Gesamtitalien zögerte sich aber beträchtlich hinaus, und so passierte gerade
das, was Comparetti hatte vermeiden wollen, daß nämlich Bände mit Märchen einzelner Landschaften erschienen. Das bedeutet, daß sich Comparettis methodische Absichten zunächst nicht durchzusetzen vermochten, wobei für ihn sicher das Beispiel der KHM nicht ohne Einfluß gewesen sein mag. Noch ein dritter Brief Comparettis an Pitre – aus dem Jahre 1873 – ist für uns aufschlußreich: «Meine Sammlung wird sich aus drei Bänden zusammensetzen, von denen der erste nächsten Monat in Druck geht. Die Erzählungen sind alle in die Schriftsprache übertragen, mit Ausnahme je eines oder zweier Beispiele im Dialekt für jede Provinz. Die Anmerkungen werde ich am Schluß des dritten Bandes bringen, und sie werden für jede Geschichte außer den italienischen auch die außeritalienischen Varianten enthalten. Außerdem werde ich auch eine Bibliographie der Volkserzählung, wie sie in verschiedenen Ländern bisher erschienen ist, geben.» (Weiteres über den Briefwechsel zwischen Comparetti und Pitre siehe bei Giuseppe Cocchiara, Popolo e letteratura in Italia, Turin 1959.) Wir können den Briefen Comparettis entnehmen, daß im Gegensatz zu den Bänden mit Erzählgut einzelner Landschaffen, die fast durchwegs in der Mundart gehalten waren, seine Gesamtausgabe einheitlich Übersetzungen in die Schriftsprache plante. Leider sollte aber nur ein einziger Band seiner beabsichtigten Ausgabe erscheinen, und als er 1875 unter dem Titel «Novelline popolari italiane» veröffentlicht wurde, lagen bereits mehrere Bände mit Dialektmärchen verschiedener Landschaffen vor, wie diejenigen von Imbriani (Märchen aus Florenz), Pitre (aus Sizilien), Bernoni (aus Venedig) und Coronedi-Berti (aus Bologna). In den nächsten Jahren folgten dann weitere Bände mit Erzählgut einzelner Landschaften: Corazzini, Gianandrea, Ive, Nerucci und Pellizzari; vor allem aber brachte auch die von Pitre betreute
Zeitschrift «Archivio per lo studio delle tradizioni popolari italiane» eine Fülle von Volksmärchen und Volksliedern. Leider sind eine Reihe von frühen Sammlungen – wie diejenige von Ferraro, die Comparetti für seinen Band ausgewertet hatte – nie im Druck erschienen, oder sie wurden nur auszugsweise publiziert. Was Comparetti als Wunschtraum vorgeschwebt war, sollte sich erst 85 Jahre später realisieren, als Italo Calvino mit seinem Band «Fiabe italiane» auf rund tausend Seiten zweihundert Märchen aus fast allen Gegenden Italiens bzw. des italienischen Sprachraumes (denn er bezieht auch Korsika mit ein) vorlegte. Calvino, der in seinem Vorwort auch eine Charakteristik des italienischen Märchens versucht, arbeitet freilich mit einer ganz anderen Methode und mit anderen Kriterien als die mehr volkskundlich orientierten Sammler und Forscher vor ihm. Er erweist sich – als Schriftsteller längst zu Rang und Namen gekommen – als ein sehr begabter Nacherzähler, der gelegentlich auch aus mehreren Texten einen eigenen kontaminiert. Calvino besitzt dabei viel Spürsinn und Feingefühl für das Wesentliche der Volkserzählsprache. Das Märchenhafte ist ebenso wie die typische italienische Vorliebe für schwankhafte Züge gut eingefangen, aber zur wirklichen Erzählpraxis besteht doch eine spürbare Distanz. Wer sich über die Eigenart italienischer Erzähler informieren will, erfährt hier Genaueres bei Sebastiano Lo Nigro (Tradizione e invenzione nel racconto popolare, Florenz 1964), der als Feldforscher genügend praktische Erfahrungen gemacht hat. Ein Ausschnitt aus seinen Untersuchungen ist auch in deutscher Sprache zugänglich. (In Karlinger, Wege der Märchenforschung, Darmstadt 1973.) Wie sieht es nun heute mit der Erzähltradition in Italien aus? Der Schwund an Erzählpraxis hat zwar fast ein Jahrhundert später eingesetzt als in Zentraleuropa, aber in der Phase des
letzten Jahrzehnts ist die Krise eingetreten. Nord- und Mittelitalien muß man heute – von Ausnahmen abgesehen (meist handelt es sich dann um nichtitalienische Sprachbezirke) – als weitgehend märchenlos bezeichnen, während man Sagen und Anekdoten noch hier und dort erzählt bekommt. In Süditalien und auf den Inseln steht es noch etwas besser, vor allem in Ortschaften abseits des Verkehrs, aber auch hier stirbt die ältere Erzähler-Generation schnell aus, ohne daß eine neue Erzählerschicht nachwachsen würde. Mit dem Vordringen der Elektrizität (und damit von Rundfunk und Fernsehen) auch in entlegene Landstriche verliert das Erzählen seine wichtigste Funktion. Besonders betroffen von dem Verfall der Erzähltradition sind allgemein jene, die einen festen Ortssitz haben, das heißt also die bäuerlichen Schichten. (Wobei hier der Wandel der Bevölkerungsstruktur mit der Abwanderung vom Lande in die Stadt und aus dem Süden in den Norden noch eine besondere Bedeutung hat.) Aber auch eine Berufsgruppe, die früher bekannt für einen Stamm guter Erzähler war, nämlich die der Ausübenden eines Wandergewerbes, verliert mehr und mehr an wirtschaftlicher Basis. War noch vor zwei Jahrzehnten der Störschneider oder Störschuster in Teilen des Südens und der Inseln eine Erscheinung, die zum Bilde jener Landschaften gehörte, so verschwindet mit den älteren Vertretern dieses Standes ein wichtiger Typus des nebenberuflichen Erzählers. Früher konnte man derlei Handwerker mit einem Esel, dem das Handwerkszeug (unter Umständen gar eine Nähmaschine) aufgeladen war, über Land ziehen sehen. Er ging von Haus zu Haus und fragte nach Reparaturarbeiten, hatte manchmal auch Material dabei, aus dem er etwas Neues machen konnte. Heute zieht man es vor, in die Stadt zu fahren und von der Stange zu kaufen.
Der Schreiber dieser Zeilen ist selbst 1955 mit einem Uhrmacher durch eine Gebirgsgegend gewandert und hat viele Häuser mit abgeklappert. Fand der Uhrmacher Arbeit, so erzählte er nebenher, wobei er sich immer geschickt auf die Zuhörerschaft einstellte. Oft aber lud man ihn (und seinen Begleiter) auch zum Essen ein, ohne daß es Arbeit gab. Dann pflegte er sich durch eine Erzählung zu bedanken, und mit dieser «Münze» wurde manchmal auch das Nachtlager bezahlt. Es gibt Gründe, seinen Namen nicht zu nennen. (Er war mehrfach mit dem Gesetz in Konflikt geraten.) Aber überall, wo man ihn kannte, wurde er begeistert aufgenommen, denn er galt als hervorragender Erzähler. Man muß selbst die Faszination erlebt haben, die von einem geschickten Erzähler ausgeht, um die Begeisterung der Zuhörerschaft einerseits zu verstehen und andererseits einzusehen, daß solches Erzählen nur im unmittelbaren Kontakt mit dem Publikum möglich ist. Solches Erzählen entzieht sich technischer Aufnahme und gedruckter Wiedergabe. Der Erzähler und seine Zuhörerschaft werden zu einer homogenen Einheit. Dabei gibt es aber keine Einheitlichkeit in bezug auf die Erzähltechnik. Man findet Männer und Frauen, die ihre Geschichten holprig und scheinbar trocken anbringen und die doch durch die inhaltliche Gestaltung ihres Stoffes Spannung erzeugen. Und es gibt Erzähler, die nicht ruhig sitzen bleiben können, sondern die im Kreise ihrer Zuhörer auf und ab wandeln müssen und bald an diesen, bald an jenen eine Zwischenfrage stellen. Es gibt Erzähler, die alles mit der Stimme oder der Sprechtechnik machen – besonders gezielt auch oft mit Kunstpausen –, und es gibt andere, bei denen Mimik und Gestik eine erhebliche Rolle spielen. Während ein Erzähler mehr eidetisch suggeriert, schafft ein anderer den umgebenden Raum zur Welt des Abenteuers um, Werkzeug
kann zu einem Zauberrequisit werden, das einem Zuhörer gar – als passivem Mitspieler – anvertraut wird. Bei einem unserer Erzähler, einem jungen sardischen Matrosen (siehe Nr. 52!) wurde ein Weinglas bald zu einem Schiff, bald zu einem Tier, wobei der Tisch als Bühne diente, über die er seine Lebewesen und Gegenstände laufen oder fahren ließ. Einen starken Anteil von den Erzählern stellte die Gruppe der Bettler, Hausierer, Landstreicher bis zu Asozialen, also Volk, das ebenso wie die Wanderhirten viel herumkommt. Stellt man sich diesen Typus eines Erzählers vor Augen, so muß man ganz mit jenem Bild der erzählenden Großmutter brechen, wie es uns seit der Erstausgabe der Märchen von Charles Perrault aus dem Jahre 1697 vertraut ist. Ein Blick in die neuere Erzählforschung zeigt zudem, daß das männliche Element im Bereich der Erzählpraxis überwiegt. In der von Ovidiu Birlea zwischen 1952 und 1966 gesammelten und 1966 veröffentlichten Ausgabe rumänischer Märchen (3 Bände) stammen 86 Prozent der Geschichten von Männern. Bei den portugiesischen Märchen (Ausgabe von Leite de Vasconcellos 1964) stellen Männer 77 Prozent der Erzähler. Ähnlich liegen die Verhältnisse für den größten Teil der Romania, und selbst dort, wo Frauen Märchen gesammelt haben (Susana Chertudi, Cuentos folkloricos de la Argentina, 2 Bände, i960 und 1964), die als solche stärkeren Zugang zu Erzählerinnen hatten, überwiegen doch die Männer an Zahl und Intensität. Die Frau trifft man meist mehr in der Rolle der Nacherzählerin. Genauere Angaben zu diesem Fragenkomplex haben wir in einer Studie «Märchenerzähler und Nacherzähler in der Romania» (in «Serta Romanica», Tübingen 1968) zu machen versucht. Es mag sich aber auch noch die Frage erheben, bei welchen Gelegenheiten denn Geschichten erzählt wurden. Soweit es sich nicht um reine Unterhaltung am Abend handelte, fand das
Erzählen bei gewissen Gemeinschaftsarbeiten, die in engerem räumlichem Kontakt ausgeführt wurden, seine Funktion. Kurze Schwänke und Anekdoten erzählte man sich auch bei gemeinsamen Feld- und Erntearbeiten. Hirten haben mehr Zeit zum Erzählen, wenn ihre Herden auf der Weide sind, als Bauern, und so bestimmt der einzelne Arbeitsgang unter Umständen die Erzählsituation. Beliebt war das Erzählen auch, wenn man aus einem Dorf zum nächsten (zur Bahnstation oder Bushaltestelle) wanderte, wobei man bedenken muß, daß es dabei im Süden oft große Distanzen mit einem Weg von mehreren Stunden zu durchwandern gilt. «Sich-tragen-Lassen» bezeichnet man dieses Erzählen unterwegs, mit welchem der Erzähler den Begleitern den Weg verkürzt und sie sozusagen trägt. Aber auch das lange Warten auf die nicht übermäßig pünktlichen Verkehrsmittel kann durch Erzählen von Geschichten verkürzt werden. Nun mag man sich fragen, wie es mit dem Zusammenhang des neueren Volksmärchens in Italien mit den älteren Geschichten und Novellenmärchen, wie sie aus Straparola und Basile bekannt sind, steht. Cum grano salis darf man resümieren: jene Geschichten Straparolas, die in Inhalt und Erzählhabitus am stärksten Märchenhaftes enthalten, begegnen heute im Erzählgut der meisten europäischen Völker mit größeren oder kleineren Veränderungen. Es sind vor allem eine Reihe Geschichten aus Straparolas erstem Band, wie «Das tanzende Wasser, der singende Apfel und der leuchtendgrüne Vogel» (entsprechend KHM 96), «König Schwein» (KHM 108) oder die vom (hier noch nicht gestiefelten) Zauberkater. Straparolas «favole», mit zwei Ausnahmen in italienischer Schriftsprache, breiteten sich bereits im 16. Jahrhundert aus und erlebten schon in dieser frühen Phase an die 25 Auflagen.
Anders steht es bei Basile. Seine 50 Märchen erschienen in dem damals noch spanischen Neapel im Dialekt dieser Stadt. Auch von seinen Geschichten sind manche europäischer Gemeinbesitz, und man darf annehmen, daß Basile viele seiner Motive außerhalb seines Landes gefunden hat, weilte er doch – im Gegensatz zu Straparola – längere Zeit im griechischen Raum. Zu seinen bekanntesten Erzählungen gehören jene, die uns von den Grimm her als «Hänsel und Gretel» (KHM 15), «Die sieben Raben» (KHM 25), «Rapunzel» (KHM 12), «Aschenputtel» (KHM 21), «Dornröschen» (KHM 50), «König Drosselbart» (KHM 52) und so weiter bekannt sind. Freilich weichen sie stärker von den meisten VolksmärchenVarianten ab als die Texte Straparolas. Das kann jedoch nicht aus der Eigenwilligkeit des barocken Dichters allein erklärt werden, denn es besteht wiederum eine manchmal verblüffende Übereinstimmung mit süditalienischen und sizilianischen Varianten, die man etwa auch an den Anmerkungen bei Calvino ablesen kann, wie stark Basiles Märchen noch heute in den Landschaften des Südens lebendig sind. Dem steht nicht entgegen, daß stilistisch und sprachlich zwischen den Volksmärchen und Basile ein größerer Gegensatz ins Auge springt als gegenüber Straparola. Aber es wird am besten sein, an einem konkreten Beispiel zu zeigen, welche Unterschiede zwischen Basile und süditalienischen Varianten seiner Erzählungen einerseits und zu den uns aus Grimm bekannten Fassungen andererseits bestehen. Wir wählen als Beispiel dazu unser Märchen Nr. 25 und Nr. 39, deren erstes aus Apulien und das zweite aus Sizilien stammt, und die Basiles Geschichte «Lu cuntu de lu Nani Orcu» (I, 1) und «Tischlein deck dich» (KHM 36) bei Grimm entspricht.
Sehen wir uns den Personenbestand dieses Märchens an, so fällt uns auf, daß den beiden süditalienischen Varianten und Basile die Beschränkung auf das absolute Minimum gemeinsam ist: ein Held, ein (jenseitiger) Helfer, ein Gegenspieler. Die Grimmsche Fassung hat dagegen drei Brüder und drei Helfer, was dafür spricht, daß es sich um eine spätere Stufe in der Ausformung des Motivs handelt. Basile hat mit der apulischen Version gemeinsam, daß der Helfer «orcu» genannt wird; nun bedeutet aber orco eigentlich Menschenfresser, abgeleitet aus dem alten «orcus», in dem sich die Totenwelt personifiziert. Es fällt also auf, daß hier der Unhold ausnahmsweise als eine freundliche Gestalt gezeichnet wird, der alle bedrohlichen Züge fehlen. Nun stehen sich freilich das Märchen, das Pellizzari aus der Gegend von Otranto hat, und jenes von Basile aus Neapel landschaftlich besonders nahe. Wir wissen nicht, ob und wo Basile seinen Stoff gehört hat; wenn wir aber bedenken, daß er etliche Jahre Gouverneur in Lagonegro in der Basilicata war, rückt er dem apulischen Märchen noch näher. Bei Basile heißt der Held Antuono, und Ntoni heißt er zu unserer Verblüffung auch in der apulischen Version; gemeinsam ist beiden Geschichten außerdem, daß der Held durch seine Mutter ausgesandt wird, während in Sizilien der Held lediglich durch die Not zur Wanderschaft gezwungen wird und bei Grimm der Vater die Söhne von zu Hause vertreibt. Auch der sehr betont schwankhafte Charakter der Erzählung springt bei Basile und Pellizzari besonders ins Auge und tritt in den andern Varianten zurück. Dagegen ergeben sich aus den Zauberrequisiten keine erheblichen Unterschiede. Nahezu in allen Varianten unseres Motivs (auch außerhalb Italiens) handelt es sich dabei um zwei tote Gegenstände und um ein Tier. Wenn auch an die Stelle des Prügels gelegentlich ein den Prügel betätigender Dämon (oder ein Heer von Soldaten) tritt, so bleibt der Kern des Requisits
doch der Zauber enthaltende Sack, so wie auch der Essen spendende Gegenstand (Tisch, Tischtuch, Korb und Teller) eine Grundform zeigt. Beim Tier herrscht der goldspuckende (oder goldscheißende) Esel vor, doch begegnet öfters auch eine goldene Eier legende Henne, wie sie auch aus anderen Motivkomplexen bekannt ist. Basile und die süditalienischen Varianten haben gegenüber KHM 36 gemeinsam: 1. daß ein Held in typisch märchenhafter Weise dreimal das gleiche erlebt und dabei die ersten beiden Male den gleichen Fehler begeht. Max Lüthi nennt das die Isolation des Helden, der sozusagen beim zweiten Abenteuer sich nicht an sein erstes erinnert. – 2. daß der Helfer ein Jenseitiger ist, während bei Grimm die drei Lehrmeister absolut diesseitige Züge angenommen haben. (Vielleicht dürfte man in einer Welschtiroler Variante eine Art Zwischenglied sehen, denn bei Schneller Nr. 15 treten drei Feen als Gabenspenderinnen auf, jedoch nicht wie bei Grimm jeweils eine andere, sondern alle drei gemeinsam. So ist also der Dreierrhythmus stärker betont als in Süditalien, jedoch nicht so überbetont wie bei Grimm.) Wenn auch in den Gestalten die süditalienischen Fassungen das Märchenhafte stärker herausstellen, so verbinden zumindest Basile und Pellizzari damit eine ausgesprochene Neigung zum Schwank, wie er ja auch in anderen unserer italienischen Märchen auffällt und vielleicht manchen Leser verärgert, der mehr an romantische Bilder in Butzenscheibenstil gewöhnt ist. Es erweist sich aber in der Erzählpraxis, daß das Publikum des Südens gern Kontraste sucht. Das Schaurige und das Grotesk-Komische liegen nahe beieinander, und neben der Faszination des Unheimlichen sichert die heitere Seite dem Erzähler am meisten seinen Erfolg bei der Zuhörerschaft.
Max Lüthi schreibt: «Der Schwank will als solcher zum Lachen bringen, das Märchen nicht. Er ist als Gattung nicht ohne weiteres neben andere Erzählgattungen zu stellen, sondern als eine Möglichkeit jeder Gattung zu verstehen.» (Märchen, Stuttgart 1971, S. 14.) Bei Basile und Pellizzari treibt der Erzähler geradezu groteske Späße, um sich den Lacherfolg zu sichern. Man lese für sich den Schluß der apulischen Variante, und man lese ihn laut! Die derbe Drastik setzt kein empfindsames Publikum voraus, erst recht kein Damenkränzchen, sondern eher eine Männergesellschaft. Aber nur wenn man diese Züge des süditalienischen Märchens kennt, wird man auch Basile gerecht werden können und manches, was man als barocke Übertreibung zu bezeichnen gewöhnt ist, dem vitalen Temperament und manchmal kräftigen Umgangston einer rustikalen Bevölkerung zuschreiben. Wir haben diese Varianten zum «Tischlein deck dich» absichtlich in den Band aufgenommen, um das motivisch Gemeinsame und erzähltechnisch Unterschiedliche zwischen dem deutschen und italienischen Märchen zu veranschaulichen, und das wird in der Gegenüberstellung süditalienischer und deutscher Texte stärker ersichtlich als bei manchen toskanischen Märchennovellen, die unseren Buchmärchen näherstehen. Unser Band konnte leider nicht alle Landschaften Italiens berücksichtigen, was selbst Calvino auf 1000 Seiten Umfang verwehrt war, aber die wichtigsten Provinzen sind doch vertreten. Dabei wurde darauf geachtet, daß auch die nichtitalienischen Sprachräume zum Zuge kamen, so daß auch Märchen aufgenommen wurden, die im Original in provenzalischem (Val d’Aosta), deutschem (Südtirol), rätoromanischem (Friaul), slowenischem, italoalbanischem, italogriechischem, sardischem oder katalanischem (Alghero)
Idiom erzählt wurden. 26 Geschichten wurden im vorigen Jahrhundert gesammelt, 33 stammen aus der Zeit nach dem Jahre 1900. Einige Texte kommen in diesem Band zum erstenmal zum Abdruck und wurden erst vor wenigen Jahren aufgenommen. Die Verschiedenheit der Sprachen bedeutet keinen so großen Gegensatz wie die Differenz der Erzähltechnik einzelner Erzähler. In den älteren Sammlungen sind stilisierende Eingriffe häufiger, während die neueren Ausgaben sich im allgemeinen genauer an den Wortlaut halten. Während etwa Gigli seine Geschichten fast etwas verkünstelt nacherzählt, hat Bottiglioni sie in phonetischer Umschrift genau festgehalten. Man muß jedoch sagen, daß eine wörtliche Wiedergabe nicht nur deshalb, weil sie schwer lesbar ist, selten die beste Lösung darstellt, denn oft ersetzt eine Geste, ein Blick, ein Geräusch das Wort. Bei der Umsetzung erzählter Texte in eine gedruckte Fassung geht es primär darum, möglichst viel von der Eigenart des Erzählers festzuhalten und notfalls zu ersetzen, wo der Erzähler, durch nicht mit der Geschichte zusammenhängende Fragen unterbrochen, den Faden nicht gleich wieder ganz gefunden hat. Diese Erzählungen werden ja oft nicht wie ein Fernsehprogramm oder eine Rundfunksendung abgespielt, sondern es ergeben sich mancherlei Ablenkungen und Unterbrechungen, vor allem wenn während eines Arbeitsvorgangs erzählt wird. Wir haben auch versucht, soweit als möglich der Häufigkeit der einzelnen Erzählgattungen im Bereich der neueren italienischen Erzählpraxis zu entsprechen; daraus erklärt sich das Vorherrschen von Mischtypen. Im Norden Italiens ist eine Vorliebe für Sagenmärchen und Märchensagen vor allem im Bereich der Alpen kennzeichnend, die Städte lieben mehr anekdotische und schwankhafte Züge, in Mittelitalien fallt die Nähe zur Novelle auf, während der Süden neben
schwankhaften Elementen gern auch Legendenhaftes mit dem Märchen verbindet. Die Vielseitigkeit des Erzählens, die Polyfunktionalität und die polymorphe Ausprägung gehen auf Kosten einer größeren Einheitlichkeit, wie man sie vielleicht für diesen Band wünschen könnte. Aber die Farbigkeit ist charakteristisch für den Raum der mediterranen Volkserzählung, in der zum Teil auch viele heterogene Kultureinflüsse ihren Niederschlag gefunden haben. Dem Leser bleibt also eine große Auswahl an sehr unterschiedlichen Geschichten von Zaubermärchen herkömmlicher Art bis zu modernen Schwänken (siehe Nr. 24). Und sollte er die beste Erzählung nennen, so würde es manchem ergehen wie jenem König im Märchen, der einen Preis für die größte Lüge ausgesetzt hatte und von dem es heißt: «II re si mise a pensare quale delle bugiette era la più terrible. E pensa che ti pensa, non ha ancora deciso.» (Der König begann darüber nachzudenken, welche von den Flunkereien die fürchterlichste gewesen sei. Und denk hin und denk her, er hat sich noch immer nicht entschieden.) Allen Helfern in Italien, die den Herausgeber mit Rat und Material unterstützt haben, sei herzlich gedankt. Der Band gelte als Gruß und Glückwunsch dem verehrten Kollegen und Freund Prof. A. Lun (Rom) gelegentlich seines 60. Geburtstages. Salzburg, Oktober 1972 Felix Karlinger
ANHANG
Anmerkungen und Quellennachweise
1 Die silberne Nase. (Carraroli Nr. 3. – Piemont.) – Das Blaubart-Motiv findet sich in den unterschiedlichsten Varianten in ganz Italien, doch hat es in Verbindung mit schwankhaften Zügen besonders in Norditalien Verbreitung gefunden. KHM46. 2 Der Schatz. (Aufgenommen durch Th. von Seus-Wirwitz 1962 in einem Nonnenkloster in Aosta. In provenzalischem Idiom erzählt.) – Dieses Legendenmärchen stammt vermutlich aus einer Vita Bud dhas und war im Mittelalter in christianisierter Form sehr bekannt. Es begegnet uns sowohl im Novellino (Gualteruzzi Nr. 83, Biaggi Nr. 120) wie bei Geoffrey Chaucer (Canterbury Tales, Erz. des Ablaßhändlers) und in anderen Exempla-Sammlungen. 3 Der Zauberbrunnen. (Visentini Nr. 18. – Mantua.) – Hier sind verschiedene Motive kontaminiert, die sonst aus anderen Kombinationen stärker geläufig sind: der Brunnen als Zugang zur Unterwelt ist sehr verbreitet, doch verwundert, daß in unserem Märchen die drei Brüder nicht gleich durch den Brunnen im Garten des Königs hin untersteigen, sondern daß erst eine längere Zwischenhandlung im Wirtshaus der Räuber eingeschoben wird. Dem Erzähler sind vermutlich zwei Geschichten zusammengeflossen. An die Stelle des Wassers des Lebens, mit dem sonst die Toten (unter der symbolischen Form der Versteinerung) wiederbelebt werden, ist hier die christlichere Variante des heilkräftigen Öls getreten. 4 Es gibt keinen Teufel mehr. (Visentini Nr. 8 – Mantua.) – Der Zauberlehrling beschwört sonst meist den Teufel und
wird seiner nicht mehr Herr, bis sein Meister heimkommt; in unserem Text ist der Teufel jedoch selbst der Zauberer. Zu seinen besonderen Kunststücken gehört in aller Welt das Sichverwandeln in Tiere, Pflanzen oder leblose Gegenstände; damit führt der Stoff fast automatisch zum Verwandlungskampf zwischen Meister und Schüler. Bereits in alt ägyptischen Märchen finden wir diesen Kampf der Zauberer (E. Brunner-Traut, Altägyptische Märchen, Düsseldorf 1963, S. 192), und in indischen Märchen stoßen wir auf den gleichen Ablauf der Verfolgung: Verwandlung in Vögel, in einen Gegenstand in der Hand der Königstochter, Gerstenkörner und Hahn, und auch dort wird aus dem letzten Gerstenkorn ein Fuchs, der den Widersacher totbeißt. In dieser Form hat sich das Märchen bis herauf zu Grimm (Gaudeif = KHM68) erhalten. – BP II, 50. 5 Das Land, wo man nie stirbt. (Veröffentlicht durch Arrigo Balladoro 1912 in «Lares». – Verona.) – Nur mehr schwach schimmert die alte Legendengestalt hindurch. Im Alten, der das Paradies be wohnt, erkennen wir Gott, der sich in einigen Legenden auch zu erkennen gibt. Aber die praeanimistische Grundhaltung trägt in unserm Text den Sieg davon und gibt dem Schluß mehr den Zug des Sagenhaften, wie er für die Erzählungen des Alpenraumes charakteristisch ist. 6 Der angenommene Sohn. (Notiert von Hans Karlinger 1903/04 in Klausen [Südtirol] im Dialekt.) – Anfang und Ende unseres Märchens erinnern stark an ähnliche Sagen der Alpen, aber in der Mitte entspinnt sich eine Erzählung, die mit dem abgepreßten Schweigeschwur, der Dienerschaff des Helden und der Zauberhaube typische Märchenmotive aufgreift. Die Tarnkappe verbirgt in diesem Fall nicht nur ihren Träger, sondern sie läßt ihn auch im Finstern sehen,
und führt ihn so in unterirdische Bereiche. Der jenseitige Wirt wird zwar nicht als Zwerg bezeichnet, doch dürfen wir in diesem Gabenspender um so eher einen Vertreter des Zwergenreiches erkennen, als er dem Helden auch goldene Geschmeide schenkt. 7 Die drei Gänse. (Schneller S. 142.) – Man vergleiche diese ladinische Kurzfassung des bekannten Motivs vom Wolf und drei von ihm verfolgten Tieren mit unserer Nr. 16! Die beiden Fassungen zeigen, wie differenziert sich knappes und breites Erzählen auswirken können. 8 Der Hirt und die Fee. (Mailly Nr. 23, II.) – Das aus einem See oder dem Meer entsteigende Vieh begegnet in vielen Mythen; wir kennen es aus der Antike von den Rindern Poseidons her. See und Seele haben nicht nur die Ethymologie gemeinsam, sondern auch die Bedeutung als Jenseitsbegriff. 9 Der Johanniswein. (Mailly Nr. 6.) – Diese slowenische Version des Don-Juan-Motivs erhält mit dem Trinken der Johannis-Minne eine sehr merkwürdige Wendung. Vermutlich sind hier zwei unter schiedliche Vorstellungen zusammengeflossen: zunächst das Trinken des am Feste des heiligen Evangelisten Johannes geweihten Weines, wie es im Mittelalter vor allem als Versöhnungs- und Hochzeitstrunk üblich war, und dann die Legende vom abgeschlagenen Haupte des hl. Johannes des Täufers. Belegbar sind auch Bräuche, in denen das Trinken aus schädelartigen Gefäßen im Rah men des Reliquienkultes von Schäden des Kopfes heilen soll. So besteht zwischen dem Johanneswein und dem Totenkopf ein Zusammenhang, der nicht gleich ersichtlich wird. 10 Seht zu, daß ihr dem Fremden nichts Böses tut. (Zorzut S. 97. – Friaul. – Übersetzt von Max Aschenbrenner.) – Tierverwandlungen zur Strafe sind im Märchen sehr
verbreitet; in unserm Text kommen legendenhafte Züge hinzu. Meist wird der Geiz in der obigen Form bestraft, aber in KHM 122 verwandelt der Held eine Hexe und deren Tochter in Esel, weil sie ihm die Zaubergaben gestohlen haben. 11 Der verhexte Ring. (Bernoni S. 45. – Venedig.) – Dieser im Dialekt erzählte Zauberschwank kennt nur wenige Varianten. Meist wird jemand zur Strafe für eine böse Tat verwunschen, so daß er nur ein unanständiges Wort sprechen oder das Geschrei eines Tieres von sich geben kann. 12 Das Mönchlein. (Toschi/Fabi S. 261. – Gesammelt von Giovanni Bagnaresi und niedergeschrieben im Dialekt von Lugo durch F. Balilla Pratella.) – Wir kennen dieses Märchen mit tragischem Ausgang von Basile her (Lovisu = III, 3). Es erinnert in seinen dunklen Grundzügen an die Jungfrau Maleen (KHM 198). Die eingestreuten Verse scheinen auf ein altes Strambotto zu verweisen. – S. a.: Karlin ger, Märchen oder Antimärchen? – Gedanken zu Basiles «Lo viso», München 1965. 13 Der König im Korbe, (lmbriani Nr. 3. – Florenz.) – Auch dieses Märchen kennen wir aus Basiles Licarda (III, 4). In seiner mehr no vellistischen Ausprägung fand es in Mittelitalien stärkere Verbreitung. 14 Die Totenmesse für die Mauleselin. (Weber S. 40. – Vicchio di Mugello, Toscana.) – Derbe Schwänke von der Eselsleiche gehören seit dem Mittelalter, wo sie sich zuerst in altfranzösischen fabliaux und danach in italienischen Novellen finden, zum ständigen Erzählrepertoire im Volk. In Sardinien etwa wird in einer Variante der tote Esel als der Ernährer der Familie beklagt, dem also ein Requiem gebühre.
15 Die Vögel und der Fuchs. (Weber S. 36. – Vicchio di Mugello, Tos cana.) – Wie der vorige Schwank kennt auch dieser in Mittel- und Süditalien zahlreiche Varianten. Die Wallfahrt der Tiere in Sizilien (Gonzenbach Nr. 66) wird ebenso durch Angst vor dem Weltunter gang ausgelöst. Das Überlisten des Fuchses durch einen kleinen Vo gel stammt jedoch aus einem anderen Erzählkomplex. 16 Die Geschichte von den Gänslein. (Calvino Nr. 94. – Siena.) – Siehe auch unsere Nr. 7! Calvino vermerkt in seiner Anmerkung: «Die Geschichte hat alte literarische Ursprünge: Sie erscheint in einer schlichten Form in einer der ersten Sammlungen äsopischer Fabeln, und sie wurde im Mittelalter viel erzählt.» – Besonders hübsch sind die mehrfach wiederholten, liedhaften Verse, von denen leider nicht gesagt wird, ob sie gesungen wurden, und die wir hier im Original mitteilen:«Monto sul tetto, Faccio un balletto, Ballo il trescone, Butto giù casa e casone.» 17 Die hölzerne Maria. (Zanazzo Nr. 24. – Rom.) – Das Märchen vom Allerleirauh (KHM65) ist in ganz Europa zu allen Zeiten außerordentlich beliebt gewesen. Wir begegnen ihm ebenso in spanischen Romanzen des 16. Jahrhunderts, wie bei Straparola (I, 4) und Basile (II, 6). Viele Einzelzüge sind uns auch aus anderen Märchen vertraut, so die Inzestliebe des königlichen Vaters, die in vielen Varianten des Mädchens ohne Hände (KHM 31) die Ausgangssituation bildet (damit zusammenhängend auch die Forderungen des Mädchens nach kostbaren Kleidern). Ferner leistet Maria niedere Dienste wie Aschenputtel und wird wie dieses doch vom Prinzen gefunden. F. v. d. Leyen vermutete: «Das romanische Gebiet scheint seine Heimat, war es ein Erbe des Altertums?» (In «Das deutsche Märchen und die Brüder Grimm», Düsseldorf 1964, S.
114.) – Wir würden die Her kunft eher im byzantinischen Umkreis suchen. 18 Der tapfere Soldat. (Zanazzo Nr. 2. – Rom.) – Wie der Jüngste von drei Brüdern ist auch der Jüngste unter mehreren Gefährten im Mär chen meist der Tapferste. Calvino weist mit Recht auf das Kasernenhof-Milieu hin, das in Teilen unserer Geschichte eingefangen ist. Wir wissen, daß bis zur Verbreitung der Transistor-Geräte bei den Soldaten Südeuropas das Märchenerzählen noch eine gewisse Funktion hatte. 19 Der Zwiebelgestank. (Zanazzo, Appendix S. 46. – Rom.) – Unter den Volkserzählungen Roms darf ein Schwank über den Geiz der Priester nicht fehlen, wie er noch heute in ähnlichen Varianten kursiert. Man darf nicht meinen, derlei antiklerikale Geschichten würden nur unterm «Volk» erzählt; dem Herausgeber wurde eine ganz ähnliche Fassung von einem römischen Pfarrer zum besten gegeben, wie überhaupt der Zug zur Selbstironisierung typisch für den gebürtigen römischen Kleriker ist. 20 Weiß-wie-Milch-und-rot-wie-Blut. (Finamore Nr. 54. – Montenerodomo, Abruzzen.) – Diese Geschichte ist in allen Provinzen Italiens nachweisbar, sie begegnet auch bei Basile (V, 9) und Carlo Gozzi, dessen Dramatisierung den Stoff auch im Norden bekanntgemacht hat. Waldemar Liungmann schreibt: «Das Märchen ist spärlich belegt, besonders wenn man von den slawischen Ländern und Italien absieht.» (Die schwedischen Volksmärchen, Berlin 1961, S. 90.) Demgegenüber dürfen wir feststellen, daß das Motiv auch in Spanien, Portugal und Südamerika relativ häufig ist. Man denkt in der Einleitung an Parsifal und die drei Blutstropfen im Schnee, die ihn an Kondwiramur erinnern. Sicher war das Motiv schon damals populär. Weiter denken wir an das Schneewittchen (KHM53) und
Von dem Machandelboom (KHM47). Unser Märchen aus den Abruzzen dürfte aber eine relativ ältere Stufe darstellen. Es handelt sich bei den Farben nicht um vordergründige Umschreibung von körperlichen Schönheitsmerkmalen des erträumten Mädchens, wie wir sie aus dem Orient seit alters aus zahlreichen Schönheitskatalogen kennen, sondern in unserem Märchen geht es um Symbole für abstrakte Eigenschaften. Weiß = Unschuld, Rot = Leidenschaft. Deutlich wird das in der Antwort der Mutter: «Was weiß ist, ist nicht rot, und was rot ist, ist nicht weiß.» Man erkennt daran, daß es sich nicht um weiße Wangen (oder Brüste) und rote Lippen handeln kann. Aber Unschuld und Leidenschaft scheinen sich auszuschließen, das bestätigen dem Jüngling auch alle, die er unterwegs trifft. Nur durch Zauber kann er das Mädchen finden, das das Widersprüchliche – Unschuld und Leidenschaft – in sich vereint. 21 Der Waldkönig. (Finamore Nr. 19 – San Eusanio del Sangre, Abruzzen.) – Auch dieses Märchen ist aus Basile (II, 3) geläufig, wo ebenso der Orco – sonst ein Unhold und Menschenfresser – kein böser Dämon ist, viel eher ein scheuer Sonderling. Der Anfang erinnert an das Schneewittchen, die Episoden mit dem Papagei dagegen sind selten zu finden. In der Regel tritt der Papagei in der Volkserzählung als Bote oder Erzähler auf. 22 Die Feldmaus und die Stadtmaus. (Cirese, 32. – Molise.) – Diese Erzählung mag als Beispiel für viele antike Fabeln stehen, die noch bis in unsere Tage herauf in der italienischen Volkserzählpraxis weiter lebten und die sich vor allem dann als lebenskräftig erwiesen, wenn sie mit schwankhaften Elementen durchsetzt werden konnten. Freilich ist in unserem Text der eigentliche Witz nicht übertragbar. Wenn im Italienischen die vom Kaiser
erwischte Maus «Zizi… zizi» schreit, ist natürlich der Zusammenhang mit der Vokativform von Zio (Onkel) viel deutlicher. Überhaupt ist Wortwitz und Spiel mit Synonymen in Italien beliebt. 23 Die falsche Großmutter. (De Nino, III, 12. – Bugnara, Abruzzen.) Diese Variante zum Rotkäppchen (KHM26) dürfte zu den älteren Typen dieses Motivkomplexes gehören, doch hat sie zweifellos den seit Perrault populär gewordenen Dialog später adaptiert. Der Fluß mit dem biblischen Namen kennzeichnet die Grenze zum Jenseits, und auch das Zaubertor deutet an, daß die Großmutter in einem jenseitigen Bezirk lebt. Die Menschenfresserin hat sich vermutlich erst unter dem Einfluß von Perrault aus einer Dämonin in Menschengestalt in einen weiblichen Werwolf verwandelt. Daß jedoch die Großmutter (auch im Jenseits) ein Landhaus altrömischer Tradition – unten der Stall, oben der Wohnraum – bewohnt, gibt der Geschichte einen hübschen und original-rustikalen Anstrich. Im Gegensatz zu Perrault haben wir hier jedoch kein Straf- und Kinderschreckmärchen, denn die Heldin überlistet die Dämonin und weiß sich durch ihre (im Märchen stets belohnte) Mildtätigkeit die neutralen Gewalten des Jenseits (Fluß und Tor) geneigt zu machen. So kann sie sich auch am Schluß eine (im Original unanständige) Spottgeste erlauben. 24 Zio Pepe. (Als Manuskript zur Verfügung gestellt durch Dr. A. Berselli, Rom. -Aufgezeichnet 1948 in Castel di Sangro, Abruzzen, aus dem Munde von Carlo Zossi.) – Eine Variante zu diesem Schwank finden wir auch bei Zanazzo (Appendix S. 27). Bei der neapolitanischen Variante fehlt freilich das «Erlernen der Fremdsprache» und der Typus des Amerikaners, der erst nach dem Zweiten Weltkrieg als Schwankfigur in italienischen Volkserzählungen auftauchte.
25 Die drei Zaubergaben. (Pellizzari, S. 37. -Maglie, Apulien.) – Siehe unser Nachwort S. 327. 26 Die Frau unter den Sirenen. (Gigli, S. 231. – Tarent.) – Giglis Text stellt mehr eine Nacherzählung dar und läßt nichts mehr von der originalen Form erkennen. Der Herausgeber dieses Bandes hat eine ähnliche Geschichte von einem mallorquinischem Fischer aufgenommen. Wie die apulische Variante hat auch die aus Mallorca stark sagenhafte Züge, jedoch wird in der letzteren die Frau nicht mehr aus dem Reich der Nixen, wie dort die Wasserwesen heißen, erlöst. Sie rettet lediglich ihrem Gatten das Leben, der dann eine andere Frau heiratet. 27 Vom Riesen, der ein Auge auf der Stirn hatte. (Sammlung Karlin ger. Aufgenommen i960 in Conversano, Apulien. Erzähler: Michele Cala, Landarbeiter.) – Das Polyphemmotiv ist in Apulien und Calabrien in verschiedenen Varianten bis ins 20. Jh. lebendig geblieben. Aus den Gefährten des Odysseus sind meist Brüder geworden, und stets ist es der Jüngste, der durch seine List seine Brüder und Mithirten rettet. 28 Das Märchen von den Katzen. (Pellizzari, S. 37. – Maglie, Apulien.) – Wiederum stoßen wir auf ein bekanntes Motiv, das in Italien häufig belegbar ist und an Perraults «Les Fees» sowie an Grimms «Frau Holle» (KHM24) erinnert. Im drastischen Ausgang freilich geht das apulische Märchen stärker mit dem französischen conte zusammen, mit dem es auch die lehrhafte Betonung gemeinsam hat. 29 Die Geschichte von dem Prinzen, der eine Prinzessin befreite. – (Sammlung Karlinger. Aufgenommen i960 in Acquaformosa. Erzähler: Giorgio Rua.) – Der Erzähler, wie die meisten Italo-Albaner zweisprachig, brachte seine Geschichten in albanischem Idiom, konnte sie aber auch – freilich etwas abweichend und im allgemeinen kürzer –
italienisch wiederholen. – Unser Märchen kontaminiert die unterschiedlichsten Motive, angefangen von der Kinderlosigkeit und ihrer Behebung durch einen wunderkräftigen Apfel, über das Hauptmotiv von der Jenseits Wanderung des Prinzen bis zum halboffenen Ausgang. (Die Geschichte hat eine selbständige Fortsetzung.) Daß Dämonen keinen Wein kennen, wissen wir seit Homers Polyphem, aber einem Lande ohne Zucker begegnet man im europäischen Märchen sonst nirgends. Die Blume «Vergessen» ist in der Regel ein Zauberkraut, das jeden einschlafen läßt, der daran riecht. Hier schläft sozusagen das Erinnerungsvermögen ein. – Wenn man durch den Brunnen an die Oberwelt zurückgelangt, nimmt man den umgekehrten Weg wie in Frau Holle (KHM 24); das Wasser als Grenzscheide zwischen Jenseits und Diesseits ist uns schon in Nr. 25 begegnet; es spielt sogar in der modernen Dichtung eine Rolle als Metapher für Bewußtsein und Unterbewußtsein. (Garcia Lorca: «Unter den Wassern wird weitergesprochen…» in Romanze mit Lagunen.) 30Das Geheimnis der Schlange. (Sammlung Karlinger, wie Nr. 31.) Die Wurzeln dieses Stoffes mögen bis in die Antike zurückreichen, als aus der Umwelt der orphischen und eleusinischen Mysterien die Schlange sich als Kultobjekt und auch in der Vorstellung des Volksglaubens ausbreitete. Auch die Kybele-Mysterien fanden in Italien ihren Niederschlag, der im Volksbrauchtum bis in die Neuzeit spürbar geblieben ist. Desgleichen das Schweigegebot und die Androhung des Todes in Anschluß an die Vorschriften der Mysterien-Kulte. Die Höhle, der Wechsel von Licht und Dunkel, Versuchung durch die Frau und Ausschluß der Frau vom Arcanwissen, das Vermögen, in die Tiefe der Erde zu sehen – im Märchen dann freilich rein materialistisch
gedeutet! –, die Schwäche der Verschwiegenheit, die Unsterblichkeit, das alles sind Züge, die in unserem Märchen noch erhalten sind, in den meisten Varianten freilich fehlen sie. Doch geht auch unser Text den üblichen Weg, der in diesen Märchen zum Schluß meist in den Schwank führt: die Frau wird verprügelt. In dieser archaischen Form haben wir das Märchen freilich nur bei den Italo-Albanern gefunden, die es möglicherweise nach Italien mitbrachten, als sie im 15. und 16. Jh. vor den Türken flüchteten und ihre Heimat verließen. 31Der Zauberring. (Novellistica Italo-Albanese n, S. 342. – Erzählerin: Marietta Marzullo, Vaccarizzo Albanese, aufgenommen 1966.) – Ein Irrtum der Hebamme schafft in manchen Märchen Verwirrung, hier löst er nur die Wanderschaft der neun Brüder aus. Der Mittelteil kommt vom Hauptthema ab und gleitet in einen Seitentypus des Schneewittchens, der auch auf Sardinien verbreitet ist: an die Stelle der sieben Zwerge treten dort sieben Räuber, die das Mädchen gastlich aufnehmen. Auch im vorliegenden albanischen Text wohnen die Brüder noch in einem Räuberhaus. Der Schluß knüpft dann enger an KHM 53 an. Auffallend ist wie in unserer Nr. 11 die schädliche Funktion des Ringes. 32Der Sohn des Kaufmanns. (Sammlung Karlinger. Aufgenommen in Lungro, Calabrien, 1960. Erzählt von einer sechzigjährigen Nonne.) – Dieses Legendenmärchen hat mehrere Parallelen im Balkanraum, wo seine Heimat zu sein scheint. (Siehe auch Felix Liebrecht, Märchen aus Cypern, Nr. 5, in «Jahrb. f. roman. u. engl. Lit.» XI.) 33Der hilfreiche Bär. (Als Manuskript übermittelt durch Dr. Berselli, Rom, der die Erzählung 1957 in Rogliano «aus dem Munde eines alten Bauern» aufgenommen hat,) – Das Märchen beginnt mit einer männlichen Variante zum
Schneewittchen und ist in dieser Form selten. Der jenseitige Helfer ist ein Bär, der jedoch nicht aus dem Kreise der dankbaren Tiere stammt, sondern spontan auftaucht und am Ende wieder im Walde (d. h. im Jenseits) verschwindet. In den Zwischenszenen wird man an den Eisenhans (KHM 136) erinnert, doch tritt in den nordeuropäischen Märchen ein wilder Waldmensch an die Stelle des Bären. Von der Leyen schreibt hierzu: «Kein anderes Märchen hat so viele Verwandte im Mittelalter, und kaum ein anderes hat der Forschung so viele Rätsel aufgegeben.» (D. dt. Märchen u. d. Brüder Grimm, S. 114.) – Siehe a. unsere Nummer 49. 34 Die Königin des Meeres. (Palazzi S. 381.) 35 Der Orco als Pate. (Sammlung Karlinger. – Aufgenommen 1960 in Lagonegro, Calabrien. – Erz.: Pepe Gostantino, Störschneider, 62 Jahre.) – Es gehört seit je zu den bevorzugten Zügen des Märchens, als Paten einen Vertreter des Jenseits ins Spiel zu bringen. Tod und Teufel, Feen, Heilige, ja Gott selbst tauchen in dieser Funktion auf. Relativ selten kommt eine Gestalt zum Zuge, die einen primär negativen Charakter hat. Zwar verbirgt sich hinter dem Orco der antike Gott der Unterwelt und des Totenreiches Orcus, aber er ist wie bei Basile so auch in zahlreichen Märchen vor allem Unteritaliens seiner negativen Attribute entkleidet und kann menschenfreundliche Züge annehmen. Hier bringt er noch zwei zu Feen gewordene Schicksalsgöttinnen mit, und nur selten sind in Volkserzählungen Mensch und Schicksal so eng spiegelbildlich miteinander verknüpft wie hier, wo es heißt: «Ich bin Maria, du bist Maria. Was will Maria von Maria?» 36 Der böse Onkel. (Rossi Taibbi S. 208. – Roccaforte, Calabrien.) – Der Text steht bei Rossi Taibbi ohne Titel. – Das Thema von der mißglückten Verführung einer Frau
durch deren (meist priesterlichen) Schwager war im Mittelalter außerordentlich verbreitet und lebte vor allem in Gestalt von Balladen und Romanzen in Spanien und Frankreich bis ins 19. Jahrhundert. In den meisten Fällen enden diese Balladen tödlich, soweit sie nicht den Übergang zum Genovera-Typus vollziehen. Dem griechischen Erzähler unseres Textes, der wohl eine Nichte an die Stelle der Schwägerin treten ließ, um die Situation ein wenig zu entschärfen, ist die Handlung jedoch entglitten, und statt des Genovera-Motivs greift er das Schneewittchen (KHM53) auf, das ja immer wieder staunen macht, mit welchen anderen Stoffen es sich kontaminieren läßt. (Siehe auch: Karlinger, Heimkehrerprobleme im Volkslied Mittel- und Westeuropas, München 1957.) 37 Cola Pesce. (Calvino Nr. 147. – Palermo.) – S. a.: Benedetto Croce, La leggenda di Pesce, Napoli 1885. – Cola Pesce ist auch heute noch in der mündlichen Erzähltradition Siziliens lebendig, freilich meist in sagenhafter Ausprägung wie im vorliegenden Text. Pitre hat 17 Varianten davon veröffentlicht, von denen einzelne stärker märchenhaftes Gepräge haben. (Bd. XXII der «Biblioteca d. trad. pop. sic.».) Wir kennen die Sage aus Schillers Ballade, doch läßt sich das Motiv literarisch bis ins 13. Jh. zurückverfolgen, wo es beim provenzalischen Dichter Raimon Jordan auftaucht. 38 Vom grünen Vogel. (Gonzenbach Nr. 27.) – Hierzu Reinhold Köhler: «Vgl. Hahn, wo dem grünen Vogel eine Taube entspricht. Als die Königstochter ihrer Mutter das Geheimnis mit der Taube verrät, kommt diese nicht wieder. Die Königstochter läßt ein Badehaus bauen, jeder Badende muß ihr eine Geschichte erzählen, um sie aufzuheitern. Ähnlich wie im sicil M. erfährt nun die Königstochter den
Aufenthalt der Taube, worauf alsbald die Wiedervereinigung erfolgt.» (II, 222.) 39 Zaubergerte, Goldesel und Knüppelchen schlagt zu. (Gonzenbach Nr. 52.) – Siehe unser Nachwort S. 327. 40 Die Sprache der Tiere. (Pitre Nr. 282.) – Siehe Antti Aarne, Der tiersprachenkundige Mann und seine neugierige Frau; FFC 15. S. a. Anmerkung zu Nr. 32. 41 Die Geschichte vom mutigen Mädchen. (Gonzenbach Nr. 78). 42 Von der schönen Cardia. (Gonzenbach Nr. 29.) – Basile, IV, 3. Typisch für die italienischen Varianten dieser Geschichte von den Tierschwagern ist die Bedingung der Hexe, in einer Nacht ein Kind zu bekommen, das am Morgen «Nonna» (Großmutter) sagen können muß. 43 Von Maruzzedda. (Gonzenbach Nr. 3.) – Die Verfolgung eines Mädchens durch ihre nächsten Verwandten, wie sie vor allem im Schneewittchen (KHM 53) als Haupttypus bekannt ist, tritt in Sizilien in verschiedenen Kontaminationen mit anderen Stoffen auf. Die neidischen oder eifersüchtigen Verwandten sind Mutter (Stiefmutter und Schwiegermutter) oder Schwestern oder ein liebestoller Vater. Seltsamerweise wird das Motiv nie durch Brüder ausgelöst. 44 Von der Schwester des Muntifiuri. (Gonzenbach Nr. 33.) – Die Unterschiebung einer falschen Braut gehört zu den ältesten und belieb testen Märchenzügen, die bereits im Mittelalter eine große Rolle spielten. Meist muß die echte Braut dann als Magd Dienst tun. Daß sie ins Reich der Sirenen gerät, wie in unserem Text, ist selten. Ebenso selten ist auch die Lösung des Zaubers durch das Zerhauen einer goldenen Kette. 45 Die beiden Fürstenkinder von Monteleone. (Gonzenbach Nr. 7.) – Das diesem Novellenmärchen zugrunde liegende
Motiv wanderte in verschiedenen Varianten durch die mittelalterliche Literatur; es fehlt sonst lediglich der Zug, daß der Bruder das Blut seiner vermeintlich schuldigen Schwester trinken will. 46 Die Geschichte von Pezze e fogghi. (Gonzenbach Nr. 22.) – Gehört zu den seltenen Varianten des Typus vom männlichen Aschenputtel. 47 Die Geschichte vom Kaufmannssohne Peppino. (Gonzenbach Nr. 16.) – Diese Variante des Amor-undPsyche-Stoffes ist arg entstellt, aber es ist interessant zu sehen, wie ein Erzähler seinen Faden verlieren bzw. Einzelheiten durcheinanderbringen kann. Es versteht sich von selbst, daß ein Adler die Taube fangen muß und diese Aufgabe nicht der Hund übernehmen kann. 48 Die Geschichte von Tobià und Tobiòla. (Gonzenbach Nr. 89.) – Es überrascht nicht, daß das Tobias-Märchen sich auch im Bereich der sizilianischen Erzähltradition findet. Lediglich der Name des Engels Raphael wird gegen Gabriel ausgetauscht, sonst folgt die Erzählung der alten Form. Ob wohl Friedrich Walter dieses Märchen kannte, als er sein Buch «Die Reise mit dem Engel» (Berlin 1951) schrieb? 49 Der Bär und die drei Schwestern. (Mango Nr. IX. – Campidano.) Zum Märchen von der Schönen und dem Tier, dessen sich auch Cocteau in einem berühmt gewordenen Film bedient hat, siehe Karlinger, Einführung in die romanische Volksliteratur, 1, S. 176. – Obwohl in Sardinien vermutlich nie Bären heimisch waren, spielt doch dieses Tier eine relativ große Rolle in der Volkserzählung der Insel. Freilich ist ein Rollentausch mit einem jenseitigen Helfer, einem Heiligen oder auch einem Orco jederzeit möglich. 50 Der Bär und die zwei Gevatterinnen. (Sammlung Karlinger. Aufgenommen 1951 in Berchidda. Erzähler: Don P. Casu,
Pfarrer.) – Die Geschichte findet sich ähnlich bei Mango (Nr. II), wo anstelle des Bären ein Menschenfresser erscheint. Orco und Orso lassen freilich auch leicht Verwechslungen zu. – Daß der Dämon seine Haltung wechselt und anstelle von feindlichen dann freundliche Züge an nimmt, ist recht selten. Hier ist der Erzähler vermutlich aus einem Typus ohne es zu merken in einen anderen geglitten. 51 Der Fischer und der Teufel. (Mango Nr. 111. – Campidano.) – Das Motiv des Mädchens ohne Hände ist im ganzen Mittelmeerraum außerordentlich beliebt. Hier findet jedoch KHM31 eine merkwürdige Variante. 52 Der blaue Drache. (Sammlung Karlinger. Aufgenommen 1955 auf der Überfahrt vom Festland nach Sardinien. Erzähler: Marco Sulis [aus Cagliari.]) – Siehe hierzu die Anmerkung in Karlinger, Das Feigenkörbchen! – Ferner: Leopold Schmidt, «Dreihundertfünfundsechzig Fenster» in «Die Volkserzählung», Berlin 1963. S. 55. – Zur Rätselfrage: Aurelio M. Espinosa, «Cuentos populäres espanoles», Madrid 1946, Vol. III, 5. 17. 53 Die beiden Alten, die alles wußten. (Sammlung Karlinger. Aufgenommen 1953 in Bitti. Erzähler Beppe Rui, Hirte, gebürtig aus Burgos, sechzigjährig.) – Sagenhafte Züge mischen sich in dieses Märchen, in dem chthonische Wesen eine große Rolle spielen. Wir werden daran erinnert, daß der kretische Zeus meliflys (= der Honigfließende) in Sardinien seine Entsprechung im mit Bienen bedeckten Gott Aristeus hat, dessen Abbildung zu den berühmten sardischen Bronzefiguren gehört. Von schlafenden Weisen in Höhlen wissen auch andere sardische Märchen zu berichten, und gelegentlich wird damit das Siebenschläfermotiv kontaminiert, das ebenfalls aus dem östlichen Mittelmeer stammt. Anstelle des ungenannten
dankbaren Alten begegnet in anderen Geschichten Sardiniens der heilige Petrus, wie überhaupt die Neigung auffällt, Märchen zu christianisieren. – Wachs und Honig spielen noch heute im Brauchtum der Insel eine große Rolle, besonders beim Totenkult. Noch im vorigen Jh. wurden vereinzelt Tote mit Honig einbalsamiert. 54 Comte Arnau. (Sammlung Karlinger. Aufgenommen 1955 in Alghero. Erzählerin: Maddalena Borelli, 72 J. Hausfrau.) – Nur an der Peripherie tangiert diese Märchensage das Blaubartmotiv, stärker ist es katalanischen Volksballaden verpflichtet. – Siehe: Jose Romeu Figueras, El mito de El Comte Arnau, Madrid 1947. 55 Der Herr und sein Knecht. (Mango Nr. VII. – Campidano.) – Der Schwank vom Herrn und dem schlauen Knecht war bereits im Mittelalter beliebt; er hat sich zunächst in Frankreich ausgebreitet und danach auch im Norden und Süden Europas Liebhaber gefunden. Der Name, den sich der Held gibt, ist verschieden. Homers «Niemand», wie sich Odysseus bezeichnet, findet im Norden in «Ich selber» seine häufigste Entsprechung. Der Name kann jedoch der jeweiligen Schwanksituation angepaßt werden, um den optimalen Heiterkeitserfolg zu erzielen. So ist es auch in der sardischen Variante. In Frankreich nennt er sich dem Herrn gegenüber etwa «Haltet mich hinten fest». 56 Geschichte von einem Mann, der sich für tot hielt. (Sammlung Karlinger. Aufgenommen 1955 in Sorgono. Erzähler: P. Mastino.) – Auch dieser Schwank ist sehr verbreitet und steht ähnlich – und ebenfalls mit Lokalisierung – in der Sammlung von Märchen aus Mallorca, die der Erzherzog Ludwig Salvator 1896 veröffentlicht hat. – Wie kommt es zur Vorstellung, durch Gähnen zu sterben? Durch Gähnen oder anderes Öffnen des Mundes fürchtet man, daß böse Geister in den Menschen
eindringen können, und das Hand-vor-den-Mund-Halten war ursprünglich keine Höflichkeits-, sondern eine Schutzgeste. Häufiges Gähnen gilt bei vielen Völkern geradezu als Zeichen einer Behexung.