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John Brix 1.
Die beiden Schiffe lagen in der Bucht von Vigo vor Anker, also in portugiesischen Gewässern...
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John Brix 1.
Die beiden Schiffe lagen in der Bucht von Vigo vor Anker, also in portugiesischen Gewässern und daher verhältnismäßig sicher vor dem Zugriff von Spaniern und Piraten der Barbarenküste Nordafrikas. Die Segel der Galeone „Isabella VIII.“ und der Karavelle „Le Vengeur“ waren aufgegeit. Auf beiden Schiffen waren die Kanonen geladen, und den Männern war erhöhte Wachsamkeit befohlen worden. Philip Hasard Killigrew wußte, daß es immer gefährlich war, Kapitän und Ersten Offizier von Bord eines Schiffes zu holen. Aber die Besprechung mit den beiden führenden Männern der „Le Vengeur“ war unabdingbar geworden. Sie saßen um den Eichentisch in der Kapitänskammer der „Isabella VIII.“: Hasard, den seine Freunde und sogar seine Gegner respektvoll den Seewolf nannten, Ben Brighton, Erster Offizier der „Isabella“, und die beiden Eigner der „Le Vengeur“, Jean Ribault und Karl von Hutten. Auf der sandgescheuerten Platte des Tisches standen Weingläser. Es war Mitte August 1581. „Und ich sage dir noch einmal: Es kommt überhaupt nicht in Frage“, sagte Karl von Hutten entschieden. „Ganz meine Meinung.“ Der ruhige Jean Ribault strich eine dunkle Haarsträhne aus seiner Stirn. „Entweder wir sind Freunde oder nicht. Und wenn du Keymis und Burton deine Kinder abjagen willst, dann ist das genauso gut unsere Sache wie deine.“ „Und damit basta!“ Karl von Hutten, Sohn eines deutschen Konquistadoren und einer indianischen Häuptlingstochter, schlug mit der Faust auf den Tisch. „Nichts basta.“ Hasard lehnte sich zurück und blickte seine beiden Freunde und Kampfgefährten an. „Ich danke euch für euer Angebot, mir zu helfen. Aber die Suche nach meinen Kindern ist meine Privatangelegenheit, und ich habe nicht das Recht, dafür auch noch ein zweites Schiff zu beanspruchen.“
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„Wer spricht denn hier von Recht!“ Karl von Hutten beugte sich erregt vor. „Es ist unser Schiff! Von unserem eigenen Geld gekauft! Und wenn wir sagen, daß wir mit dir segeln, dann ist das, verdammt noch mal, unsere Sache!“ Ben Brighton, der große Schweiger, verfolgte aufmerksam das Rededuell und blickte prüfend und nachdenklich von einem zum anderen. Dann räusperte er sich und sagte ruhig: „Natürlich ist das eure Sache. Aber die beiden Halunken können wir auch allein erwischen. Der Erfolg hängt jedoch davon ab, möglichst nicht aufzufallen. Mit einem, Schiff ist das vielleicht zu schaffen. Aber wenn wir gleich im Geschwader aufkreuzen ...“ „Genau das wollte ich auch sagen, Ben“, unterbrach ihn Hasard. „Und selbst allein müssen wir schon eine Menge Glück haben, um die Jungen zu finden - und mit heiler Haut davonzukommen.“ „Genau darum geht es mir doch, Hasard.“ Karl von Hutten war wie ein Terrier, der sich in eine Ratte verbissen hat und nicht losläßt. „Wenn ihr in die Klemme geratet, sind wir da, um euch herauszupauken.“ „Hasard hat recht“, sagte Jean Ribault ruhig. „Helfen können wir ihnen kaum. Wahrscheinlich sind wir ihnen sogar im Weg und gefährden die ganze Aktion.“ „Und die Kinder“, setzte Ben Brighton hinzu. „Die Zwillinge sind schließlich noch im Säuglingsalter.“ „In Ordnung. Du bist der Kapitän.“ Karl von Hutten kippte den Rest seines Weins und stellte das leere Glas mit Nachdruck auf die Tischplatte zurück. „Und was du sagst, wird getan.“ „Sei doch nicht kindisch, Karl.“ Jean Ribault lächelte ein wenig nachsichtig. „Ich habe dir nichts befohlen, sondern nur versucht, dir die Situation zu erklären. Und da Hasard unsere Hilfe sogar ausdrücklich ablehnt, sollten wir uns wirklich nicht aufdrängen. Ich hoffe, du siehst das ein.“ Der Mann mit dem deutschen Adelsnamen und den indianischen Gesichtszügen brummelte Unverständliches und sah an seinem Freund vorbei.
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„Trotzdem vielen Dank, Karl.“ Hasard legte von Hutten die Hand auf die Schulter. „Ich werde es dir niemals vergessen.“ Er wandte sich an Ribault. „Ich nehme an, ihr bleibt bei eurem Plan, wieder in die Karibik zurückzusegeln?“ Der französische Freibeuter nickte. „Da unten wimmelt es von Dons, die die Schätze der Neuen Welt abschleppen. Und die wollen wir uns doch nicht entgehen lassen, was, Karl?“ * Das Schiff lag auf Ostkurs. Eine leichte, achterliche Brise trieb die „Isabella“ direkt auf die Straße von Gibraltar zu. Die zweihundertfünfzig Tonnen große Galeone hatte alles Tuch gesetzt, das ihre Masten tragen konnten, um möglichst rasch die schmale, gefährliche Meerenge zu passieren, in der Spanier und algerische Piraten lauerten. Der Seewolf stand an der Schmuckbalustrade des Heckkastells und blickte auf die Kuhl hinunter. Die Männer, die hinter beiden Schanzkleidern bei den Culverinen in Bereitschaft saßen, dösten vor sich hin oder unterhielten sich leise. Es war eine dunkle Nacht, fast Neumond, Wunschwetter für diesen Durchbruch durch die Straße von Gibraltar. Nur undeutlich erkannte Hasard die vertrauten Konturen des Decks, die plumpen Rohre der Culverinen, bei denen lange Luntenschnüre herabhingen. Sie brannten nicht. Hasard hatte befohlen, alle Lichter und Feuer an Bord zu löschen, um das Schiff unentdeckt ins Mittelmeer bringen zu können. „Licht links voraus!“ rief Dan O’Flynn aus dem Großmars. Dan war nicht mehr der Junge, dem die Aufgabe des Ausgucks sozusagen automatisch zufiel. Er hatte sich zu einem hervorragenden Seemann gemausert, und Hasard hatte ganz besondere Pläne für seine Zukunft. Aber Dan hatte nach wie vor die schärfsten Augen von allen Männern der „Isabella“, und deshalb übernahm er in kritischen
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Situationen wie dieser freiwillig den Ausguck. „Kannst du schon erkennen, was es ist, Dan?“ „Ich bin doch kein ... Moment mal — ein zweites Licht! Jetzt sind es vier! Entweder mehrere Schiffe im Verband dicht vor der Küste oder eine Reihe von Fuhrwerken auf der Uferstraße.“ „Oder ein Dorf, in dem ein paar Bauern noch nicht in die Federn finden können“, setzte Hasard lachend hinzu. „Behalte die Lichter im Auge.“ „Ohne deine freundliche Aufforderung hätte ich das wirklich vergessen.“ Sein freches Mundwerk hatte Dan O’Flynn auch als junger Mann noch nicht abgelegt. Aber das hatte ihm Hasard schon immer nachgesehen, und nicht erst, seit Dan sein Schwager geworden war. Gwen, dachte er und starrte in das Dunkel, Gwen Er sah sie wieder vor sich, so wie er sie vor über vier Jahren kennengelernt hatte: ein bildschönes, rothaariges Mädchen, voll wildem, trotzigem Temperament. Und sie war von zwei Männern und deren Schergen verfolgt und in den Tod getrieben worden: Keymis. dem ehemaligen Friedensrichter von Falmouth, und Isaac Henry Burton, einem degradierten Offizier und Verräter! Nachdem Hasard selbst den Schergen hatte entkommen können, hatten die beiden versucht, seine Frau Gwen als Geisel in ihre Gewalt zu bringen. Gwen aber war rechtzeitig gewarnt worden, hatte ihre beiden Zwillingssöhne Hasard und Philip in die Obhut ihres Arztes und Vertrauten Sir Freemont gegeben und versucht, mit einem Fischerboot nach Frankreich zu fliehen. Burton und Keymis hatten jedoch davon erfahren und waren mit ihren Schergen zur Stelle gewesen, ihre Flucht zu verhindern. Der Fischer, der Gwen über den Kanal bringen wollte, wurde durch Musketenschüsse getötet. Trotzdem hatte Gwen versucht, auch ohne seine Hilfe nach Frankreich zu fliehen. Aber in einem plötzlich aufziehenden Sturm ging das
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Boot verloren. Von Gwen wurde niemals eine Spur gefunden... „Falls das da vorn ein Dorf ist“, rief Don O’Flynn aus dem Großmars, „dann eins auf Rädern! Jedenfalls bewegen sich die Lichter direkt auf uns zu.“ „Dann sind es keine Lichter auf Rädern“, sagte Hasard amüsiert. „Oder können Räder über das Wasser rollen?“ „Die Schlußfolgerung wollte ich dir überlassen!“ rief Dan zurück. „Ich bin hier nur der Ausguck!“ Wahrscheinlich ein auslaufender spanischer Verband, der genau wie sie die enge Straße von Gibraltar im Schutz der Dunkelheit passieren wollte, um den arabischen Piraten zu entgehen. Und mit Sicherheit Galeeren, dachte er weiter. Kein Segelschiff konnte direkt gegen den Wind halten. „Entfernung?“ „Achtzehn Meilen, schätze ich.“ Wenn es Spanier waren, würden sie sich möglichst nahe an der eigenen Küste halten, überlegte Hasard und blickte zu den Segeln hoch. Sie standen prall im achterlichen Westwind. Wenn er ein paar Strich nach Steuerbord abfiel, mußte es möglich sein, den Verband der Dons unbemerkt zu passieren. Bei einem größeren Verband waren immer ein paar gut bestückte Kriegsschiffe dabei, um die schwer beladenen Frachtgaleeren zu schützen. „Pete?“ Er wandte sich um. Pete Ballie, der am Ruder stand, steckte den Kopf aus der Seitenöffnung des Ruderhauses. „Zehn Strich nach Steuerbord abfallen. Und achte auf die Segel.“ Diese Anweisung war völlig überflüssig. Pete Ballie, der schon auf den Schiffen Francis Drakes am Ruder gestanden hatte, war ein Mann mit einem fast unheimlichen Instinkt für Kurs, Drift und Wind. „Aye, aye, Sir.“ Pete tauchte wieder unter. Die „Isabella VIII.“ war als eins der ersten Schiffe mit einem Radruder ausgerüstet, das den alten Kolderstock später allmählich verdrängte. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, hatte einen Verschlag
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um das Ruder gebaut, um den Rudergänger vor Wind und Regen zu schützen, wahrscheinlich das erste Ruderhaus der Seefahrtgeschichte. „Halte den Kurs etwa zwei Meilen, Pete, und dann gehst du wieder auf den alten zurück.“ Das würde ihnen genügend Abstand zu den Schiffen geben, deren Lichter jetzt auch vom Heckkastell aus sichtbar waren. Zwölf gelblich flackernde Funzeln, zählte Hasard. Wahrscheinlich sechs Galeeren, die jetzt fast querab an Backbord lagen. „Carberry!“ rief Hasard halblaut zur Kuhl hinab. „Sir?“ Ein Schatten trabte nach achtern, stieg den Niedergang hoch und trat zu Hasard. Der Profos der „Isabella“ war ein Riese mit einem von Platzwunden und Messerstichen zernarbten Gesicht, das jetzt glücklicherweise von dem Dunkel verhüllt wurde. „Absolutes Sprechverbot für alle. Sag den Männern Bescheid, Ed.“ „Aye, aye, Sir.“ Carberry wandte sich um und verschwand im Dunkel. „Hört mal her, ihr Rübenschweine“, vernahm Hasard kurz darauf die Stimme des Profos’ vom Hauptdeck. Unwillkürlich mußte er grinsen. Carberry hatte sein gewaltiges Organ den Umständen entsprechend gedämpft, aber er sah keine Notwendigkeit, auch sein Vokabular zu ändern. „Und wenn ich von euch auch nur einen Mucks hören sollte, ziehe ich euch die Haut streifenweise von euren Affenärschen. Klar?“ Es wurde völlig still auf dem Schiff. Auch das leise Gemurmel der Männer verstummte. Irgendwo klirrte eine Waffe. Jemand stieß einen unterdrückten Fluch aus. Dann waren das Rauschen der Bugwelle und das leise Knarren der Wanten die einzigen Geräusche. Hasard starrte zu den zwölf Lichtern hinüber, die immer näher aufrückten. „Zwei Meilen, Sir“, meldete Pete Ballie. „Gehe auf Ostkurs zurück.“ „In Ordnung, Pete.“
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Hasard blickte gewohnheitsmäßig zu den Segeln hinauf, als der Bug des Schiffes langsam nach Backbord schwang. Und dann nach Süden, wo die Barbarenküste Nordafrikas lag. Sie war unsichtbar in dem fast völligen Dunkel dieser Nacht. Bis zum Horizont glänzten die Sterne. Dicht über der Kimm flimmerte Sirius, des Seemanns Freund, wie er von den Navigatoren genannt wurde. Und dann erlosch er plötzlich wie eine Kerze, die man ausgeblasen hat. Hasard runzelte verwundert die Brauen und starrte nach Steuerbord voraus. Der Sirius strahlte wieder, dafür sah er aber andere Sterne, die erloschen. Dann formten sich vor dem Sternenhimmel dunkle Schatten. Schatten von Segeln. Ein rahgetakeltes Schiff, das gerade kreuzte! Jetzt hielt es direkt auf die „Isabella“ zu, lautlos und ohne Lichter. „Hasard.“ Dan hatte die geisterhafte Silhouette ebenfalls entdeckt. „Segler zwei Strich Steuerbord voraus.“ „Schon gesehen, Dan.“ Er machte Dan O’Flynn keinen Vorwurf. Genau wie er selbst hatte auch Dan sich von dem hellbeleuchteten Konvoi vor der spanischen Küste ablenken lassen. „Soll ich etwas nach Backbord abfallen, Sir?“ unterbrach Pete Ballie seine Gedanken. „Noch nicht.“ Hasard starrte zu der schwarzen Silhouette hinüber, die sich wie ein Spuk auf sie zubewegte. „Ich schätze, daß wir den anderen in etwa einer Viertelmeile Abstand ...“ „Hasard!“ Seit Dan O’Flynn Stimmbruch und Pubertät hinter sich ließ, hatte seine Stimme nicht mehr so erregt geklungen. „Da ist noch ein zweites Schiff, gleich hinter dem ersten, und — noch eins! Sechs, sieben, acht! Mein Gott, da segelt ein ganzer Geleitzug auf uns zu!“ Arabische Piraten? Kaum anzunehmen. Die Söhne Mohammeds fuhren keine rahgetakelten Schiffe, sondern bevorzugten Daus und Galeeren. Außerdem fuhren Piraten nicht in großen Verbänden.
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„Entfernung?“ Das Schiff, das er zuerst entdeckt hatte, war nur noch eine knappe Meile entfernt. „Zwischen ein und anderthalb Meilen“, bestätigte Dan. „Wenn wir hart in ihren Kurs drehen, könnten wir ihnen weglaufen.“ Hasard antwortete ihm nicht. „Carberry?“ rief er leise. „Sir ?“ „Gefechtsbereitschaft. Laß die Lunten anstecken, aber tarnt die Enden unter Pützen oder was ihr sonst besorgen könnt.“ „Aye, aye, Sir.“ Mehrere Schatten enterten den Niedergang zum Heckkastell hoch. Lautlos, auf nackten Sohlen, liefen sie an Hasard vorbei und bemannten die hinteren Drehbassen: Batuti, der riesige Gambia-Neger, Smoky, Jeff Bowie und Matt Davies, der an Stelle der rechten, amputierten Hand eine Prothese mit einem scharfgeschliffenen Haken trug. Auch auf dem Hauptdeck war lautlose Bewegung, die sich mehr ahnen als sehen ließ. Irgendwo knarrten die Scharniere einer Stückpforte, eine Sekunde lang sah Hasard bei den Backbordkanonen eine Lunte glimmen, dann war sie wieder verdeckt. „Hasard?“ Er hatte Ben Brighton nicht kommen hören. Er stand plötzlich seitlich hinter ihm und starrte zu den Silhouetten der Schiffe hinüber, die mit Kollisionskurs auf sie zuhielten. „Abdrehen?“ Der Seewolf schüttelte den Kopf. „Die Brüder haben uns bestimmt ebenfalls entdeckt. Wenn wir jetzt weglaufen, wissen sie, daß wir hier nichts zu suchen haben.“ Ben Brighton nickte. „Verstehe. Sie sollen uns für Dons auf dem Weg nach Hause halten, und wir scheren knapp an ihnen vorbei.“ „Falsch. Wir laufen mitten durch den Konvoi hindurch.“ Ben brauchte ein paar Sekunden, um diese Nachricht zu verdauen. „In Ordnung“, erwiderte er dann. „Ich gehe nach unten und sag den Männern Bescheid, damit sie nicht durchdrehen.“
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„Gut, Ben. Und sag ihnen, daß ohne meinen Befehl kein Schuß abgegeben wird, und wenn die anderen uns die Farbe von der Bordwand kratzen.“ „Aye, aye.“ Brighton wandte sich um und verschwand auf dem Niedergang. Hasard starrte voraus auf die dunklen Schatten vor dem Sternenhimmel, die von Südosten her direkt auf sie zuhielten. Wahrscheinlich Spanier, die im geschlossenen Konvoi nach Südamerika ausliefen. Weil sie gegen den Wind kreuzen mußten, war die Passage durch die schmale Straße von Gibraltar für sie natürlich besonders gefährlich. Bei den Kreuzschlägen gerieten sie der afrikanischen Küste und den Piratennestern unangenehm nahe. Deshalb auch die Tarnung, das Fehlen jeglicher Beleuchtung, selbst vor der eigenen Küste. Und darauf baute Hasard seinen verwegenen Plan. Den Dons war genau wie ihm vor allem daran gelegen, ungesehen und ohne Zusammenstöße durch die Meerenge zu gelangen. Er wandte den Kopf und blickte wieder zu den zwölf Lichtern vor der Küste hinüber. Er war fast sicher, daß, da nur ein paar Galeeren spazierenfuhren, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und von dem großen Konvoi abzulenken. Und bei ihnen war das den Dons ja auch recht gut gelungen. Das Führungsschiff des Konvois lag jetzt nur noch knapp zweihundert Yards Steuerbord voraus. Hasard wandte den Kopf und blickte zu Pete Ballie. Der Rudergänger nickte ihm zu. Pete brauchte man keine besonderen Anweisungen zu geben. Er drehte das Rad nach Steuerbord, und die „Isabella“ drehte in den Kurs des Spaniers hinein. Dicht vor ihrem Bug rauschte eine schwere Karavelle vorbei. Dann waren sie mitten im Konvoi. Vor dem Bug und hinter dem Heck schnitten die Schiffe den Kurs der „Isabella“, manche so dicht, daß Hasard an der Reling und auf dein Achterkastell Menschen erkennen konnte, die aufmerksam und mißtrauisch herüberstarrten.
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Aber kein Ruf schallte herüber. Niemand forderte sie auf, sich erkennen zu geben. Kein Schuß fiel. Lautlos und dunkel glitten die Schatten vorüber und verschwanden wie ein Spuk in der Nacht. Es hatte geklappt. Er hatte die Absichten der Dons richtig eingeschätzt und seinen Bluff durchgezogen. Dennoch atmete er erleichtert auf, als das letzte Schiff des Konvois im Dunkel verschwand. „Wegtreten von Gefechtsbereitschaft!“ rief er leise zum Hauptdeck hinunter. Sie waren im Mittelmeer. 2. Die Galeere schoß hinter einer der winzigen Inseln hervor, die vor der Küste südlich von Alicante liegen. Wahrscheinlich hätte Hasard sie mit einer Breitseite in die Tiefe schicken können, aber er wollte den Bluffader vergangenen Nacht noch einmal durchspielen. Doch jetzt, im hellen Licht der Nachmittagssonne, waren die Dons wachsam und mißtrauisch. Aber vielleicht war es auch eine reine Schreckreaktion, daß die Spanier sofort mit der Bugdrehbasse losballerten. Die Kugel schlug zehn Yards vor der Bordwand der „Isabella“ ins Wasser. „Gefechtsbereitschaft!“ rief Hasard und sprang selbst an eine der unbemannten Drehbassen auf dem Heckkastell. Er zielte auf das Ruder der Galeere und drückte die glimmende Lunte auf das Zündloch. Obwohl er sehr hoch gehalten hatte, lag die Kugel ebenfalls zu kurz. „Hart Steuerbord!“ rief er dem Rudergänger zu, als vier Männer den Niedergang auf enterten und zu den Drehbassen liefen. „Hart Steuerbord, Sir.“ Jetzt stand der blonde Stenmark am Ruder, und er wuchtete das Rad herum. Wieder blitzte es bei der Galeere auf. Zweimal kurz hintereinander. Die zweite Bugdrehbasse hatte gefeuert, und auch die einzige Heckkanone hatten sie bugwärts gedreht. Die Kugeln lagen noch immer zu kurz, aber diesmal unangenehm nahe.
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Deutlich schallte der dumpfe Ton der Pauke herüber, die den Schlag der Galeerensträflinge bestimmte. Das Schiff drehte in den kurzen Winkel auf die „Isabella“ zu, um nicht vor die Breitseite der Backbordkanonen zu geraten. Hasard starrte auf den Bug, der mit lähmender Langsamkeit nach Steuerbord schwang, und warf einen Blick auf Stenmark. Der deutete nur auf sein Steuerrad, zum Zeichen, daß er es bis zum Anschlag nach rechts gedreht hatte, und zuckte mit den Schultern. Hasard wußte, daß er das Ruderschiff dicht vor der Küste und bei dem flauen Westwind nicht ausmanövrieren konnte. Nur ein Trick konnte dieses Gefecht zu ihren Gunsten entscheiden - die Geheimwaffe der „Isabella“. „Shane!“ Carberry trabte über das Deck. „Ist schon vorn auf der Back, Sir.“ Hasard blickte voraus und sah die beiden Riesen seiner Besatzung hinter dem Schanzkleid stehen. Sie hatten ihre gewaltigen Bögen in den Händen. Big Old Shane, der frühere Waffenmeister von Arwenack, legte gerade den ersten seiner Spezialpfeile auf die Sehne und zog sie zurück. Der Pfeil schnellte los. Noch während er in der Luft war, hatte der Gambia-Neger Batuti seinen Pfeil in ein Becken mit glühender Kohle gesteckt, bis er brannte. Als Big Old Shanes Pfeil das dreieckige Segel der Galeere in Brand setzte, surrte Batutis Pfeil ebenfalls auf den Gegner zu. Er schlug dicht vor dem Mann an der Pinne ins Heck. Der Spanier hielt ihn für einen gewöhnlichen Brandpfeil, sprang auf ihn zu und wollte ihn aus den Decksplanken reißen. Doch in diesem Augenblick explodierte die Pulverladung im hohlen Schaft des Pfeils. Die Wucht der Detonation riß den Mann von den Beinen und schleuderte ihn über Bord. Die Galeere lief aus dem Ruder. Sie hörten die Dons und die Galeerensklaven erregt schreien, und für ein paar Sekunden verstummte der Schlag der Pauke. Als er wieder einsetzte, war es
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zu spät. Big Old Shanes zweiter Brandpfeil schlug mittschiffs ein, zwischen die Ruderer. Die Männer, die die unheimliche Wirkung des anderen Brandpfeils gesehen hatten, schrien entsetzt auf, ließen ihre Riemen fahren und zerrten verzweifelt an den Eisenketten, mit denen sie an die Bänke geschmiedet waren. Hasard verzog das Gesicht, als die Pulverladung des Pfeils explodierte, mehrere Männer zu Boden schleuderte und einen weiteren Brand an Bord der Galeere entfachte. Es war ihm schon immer zutiefst verhaßt gewesen, gegen hilflose, willenlose Sklaven zu kämpfen. Vier, fünf Riemen auf der Backbordseite der Galeere hingen jetzt bewegungslos im Wasser, andere verhedderten sich mit ihnen. Zwei Soldaten hieben mit langen Peitschen auf die angeschmiedeten Sklaven ein, und ihr Schreien hallte zu den Männern der „Isabella“ herüber. Doch trotz der Panik, trotz des verbrannten Segels und der zwei Brände im Oberdeck gelang es dem spanischen Kapitän, sein Schiff von der Breitseite der „Isabella“ klar zu halten. Da die Galeone jetzt so weit nach Steuerbord abgefallen war, daß sie hart im Wind lag, konnte _Hasard nicht weiter drehen. „Klar zur Wende!“ schrie er wütend. „Klar zur Wende!“ wiederholte die Stentorstimme Carberrys. „An die Brassen, ihr langschwänzigen Affen! Oder soll ich euch Beine machen?“ Hasard wußte, daß die Männer ihr Bestes gaben - wie immer, und daß es nicht länger dauerte als sonst, bis die Rahen herumgebraßt waren, aber es erschien ihm wie eine Ewigkeit. „Ruder hart Backbord.“ „Aye, aye, Sir.“ Langsam schwang der Bug herum, und die Segel füllten sich wieder. Hasard starrte zu der Galeere hinüber. Das Segel bestand nur noch aus verkohlten Fetzen. Das Feuer mittschiffs hatten die Dons anscheinend eindämmen können, aber im Heck loderten noch immer Flammen, und mehrere Männer holten in
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Pützen Seewasser herauf und kippten es ins Feuer. „Die Kerle scheinen sich wieder gefangen zu haben“, sagte Ben Brighton, der neben Hasard getreten war, und deutete mit einer Kopfbewegung auf die Galeere, deren Riemen wieder einigermaßen im Takt durchs Wasser gezogen wurden. Ein paar von ihnen waren zersplittert, zwei hingen ins Wasser, aber die anderen trieben das Schiff voran. „Auf jeden Fall scheinen sie die Nase voll zu haben“, sagte Ben befriedigt. Der Spanier hatte anscheinend eingesehen, daß er sich besser nicht mit dieser Galeone anlegte, deren Brandpfeile vierhundert Yards weit flogen und immer im Ziel saßen. Er versuchte, zur Küste hin zu entwischen. „Er darf uns nicht durch die Lappen gehen“, murmelte Hasard grimmig. „Laß alles Zeug setzen, was die Masten tragen können, Ben.“ „Aye, aye.“ Ben Brighton lief zum Niedergang und rief seine Befehle. Er begriff, was auf dem Spiel stand. Wenn die Galeere die Küste erreichte, war ihr Versteckspielen vorbei, dann wußten die Spanier, daß sich ein feindliches Schiff vor der Küste herumtrieb. Dann waren viele Hunde des Hasen Tod. Und was mit Hasards Jungen passieren würde, die Keymis und Burton nach Valencia verschleppt hatten, war gar nicht auszumalen. Hasard lehnte an der Schmuckbalustrade des Achterdecks und starrte zu der Galeere hinüber, die von raschen, kräftigen Ruderschlägen auf die Küste zugetrieben wurde. Wenn nur der Wind etwas auffrischen würde, dachte er ungeduldig und schlug mit der rechten Faust auf die Balustrade. Und er mußte auch noch gegen den Westwind ankreuzen. Mit kurzen Schlägen und hart am Wind setzte die „Isabella“ ihrer Beute nach. Es war ein mühsames, langwieriges Unternehmen, aber eine halbe Stunde später war der Abstand zwischen den beiden Schiffen erheblich kleiner geworden.
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Hasard hatte sich das Fernrohr geben lassen und sah, wie zwei Männer auf die erschöpften Sträflinge einschlugen. Dann flog drüben etwas über Bord und schlug ins aufspritzende Wasser. Kurz darauf trieben zwei Leichen dicht an der Bordwand der „Isabella“ vorbei. Sie waren noch mit Ketten aneinandergeschmiedet und trieben in drei Fuß Tiefe im klaren Wasser. „Wir sind bald auf Schußweite, Hasard.“ Al Conroy, der Stückmeister des Schiffes, stand auf der Kuhl und blickte zu Hasard hoch. „Drehst du ein, damit wir eine Breitseite auf sie abfeuern können?“ Hasard schüttelte den Kopf. „Es wird nicht geschossen, Al.“ Sie waren schon zu nahe an der Küste. Kanonenschüsse mußten von irgendjemandem gehört werden, und dann war alle Anstrengung umsonst gewesen. „Wir werden den Dons in den Kurs laufen und entern.“ „Entern?“ Der stämmige Stückmeister runzelte die Brauen. „Aye, aye, Sir. Entern.“ „Sag den Männern, daß sie sich klarmachen sollen, Al.“ Conroy gab den Befehl an den Profos weiter, und Hasard sah, wie die Männer ihre Kanonen verließen und nach den Musketen und Pistolen griffen, nach Säbeln und Entermessern. Ferris Tucker, der Schiffszimmermann, langte sich wie gewohnt seine langstielige, schwere Axt, die im Kampf zu einer mörderischen Waffe wurde. Noch eine Viertelmeile Abstand zu der Galeere. Die Männer drängten sich an der Steuerbordseite, mit der die „Isabella“ voraussichtlich gegen die Bordwand des Spaniers krachen würde. „Shane! Batuti! Schaltet die Männer an den Heckdrehbassen mit euren Pfeilen aus, wenn wir nah genug heran sind. Es darf kein Schuß fallen.“ „Aye, aye, Sir!“ riefen die beiden Bogenschützen zurück. Sie hatten ihre Position vorn auf der Back nicht verlassen und blickten aufmerksam zum Heck der spanischen Galeere hinüber.
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Es durfte kein Schuß fallen, überlegte Hasard, darum würde er den Spanier entern. Aber er hatte noch einen anderen Grund dafür. Er wollte nicht an die hundert Rudersklaven mit der Galeere absaufen lassen. Er hatte vor, die Galeere zu erbeuten, die Spanier als Gefangene an Bord zu nehmen und die Sklaven auf irgendeiner Insel freizulassen. Das würde zwar etwas Zeit kosten, schien ihm aber der beste und sicherste Weg zu sein, wenn er sinnloses Blutvergießen vermeiden wollte. „Aufpassen, Batuti!“ schrie Dan O’Flynn aus dem Großmars. Der riesige Neger hatte aufgepaßt. Er hatte gesehen, daß zwei Männer zu den hinteren Drehbassen der Galeere traten und sie auf die „Isabella“ richteten. Sein Pfeil schwirrte gleichzeitig mit dem Big Old Shanes von der Bogensehne. Bevor die beiden Spanier dazu kamen, die Lunte auf das Zündloch zu drücken, sanken sie zusammen und versuchten, sich die Pfeile aus der Brust zu zerren. „Klar zum Entern!“ dröhnte die gewaltige Stimme Carberrys über das Deck. „Und wenn ihr Affenärsche nicht gehörig zuschlagt, ziehe ich euch die Haut streifenweise vom Hintern!“ Die Männer drängten sich am Schanzkleid und suchten nach guten Absprungpositionen. „Auf zum Schlachtfest!“ schrie Smoky und enterte ein Stück in die Wanten, dm engelgleich von oben über die Spanier herzufallen. „Laß mir auch noch ein paar übrig, du Angeber!“ Sam Roskill, der ehemalige Karibik-Pirat, liebte außer Frauen nichts so sehr wie einen richtigen Kampf. Das heißt, wahrscheinlich lagen Frauen sogar nur auf Platz zwei. Batuti und Big Old Shane schickten Pfeil um Pfeil auf das Heck der Galeere. Sie blieben zitternd in den Decksplanken stecken. Aber es war auch nicht beabsichtigt, daß sie trafen. Sie sollten den Spaniern nur zeigen, daß es gesünder war, sich nicht bei den achteren Drehbassen
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sehen zu lassen, und diesen Zweck erfüllten sie völlig. Fünfzig Yards. Jetzt konnten sie schon die geschwungenen Helme der spanischen Soldaten erkennen, die hinter dem Schanzkleid hockten. Von der Back dröhnte die Baritonstimme Batutis: „Ist langweilig, so schießen auf Deck. Was meinen? Wir schießen Spanier komische Helme von Kopf? Wer schießt meiste Helme, kriegt dafür ...“ „Hart Steuerbord, Hasard!“ schrie Dan O’Flynn aus dem Großmars. „Riff voraus!“ Hasard nahm sich nicht die Zeit, Stenmark einen Befehl zu geben. Er stürzte ins Ruderhaus, stieß den anderen beiseite und stemmte sich in die Speichen des Rades. Dabei starrte er über das Backbordschanzkleid ins Wasser. Deutlich hoben sich im klaren Blau des Meeres dunkle Schatten ab, die immer mehr zur Oberfläche wuchsen und immer klarer wurden. Ein scharfkantiger, unterseeischer Bergrücken, erkannte Hasard, ein Anblick, der jedem Seemann einen Schauer über den Rücken jagt. Es war plötzlich totenstill an Deck. Niemand sprach, die Männer wagten kaum, sich zu bewegen. Schweigend starrten sie über das Schanzkleid ins Wasser, auf die Zacken und Schluchten des Riffs. Niemand interessierte sich mehr für die Galeere, von der jetzt höhnisches Gelächter zu ihnen herüberschallte. Die Dons hatten sie mit voller Absicht zu diesem Riff gelockt. Für die flachbordige Galeere bildete es keine Gefahr. Hasard zuckte zusammen, als der Kiel der „Isabella“ schurrend und knarrend über harten Fels glitt. Die Männer auf dem Hauptdeck hielten die Luft an. „Jesus“, flüsterte der drahtige Luke Morgan aufgeregt. Und dann waren sie darüber hinweg. Vielleicht waren ein paar Splitter aus dem Eichenkiel der „Isabella“ gefetzt worden, aber sonst war nichts passiert. Nur die Galeere war nun endgültig entwischt. „Neuer Kurs Nordost!“ sagte Hasard.
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„Nordost, aye, aye, Sir.“ Stenmark brachte das Schiff auf den neuen Kurs, vor allem von dieser verdammten Küste weg. „Dan und Ben Brighton in meine Kammer!“ rief Hasard und stieg den Niedergang hinab. „Kutscher, bring uns was zu trinken. Ist noch etwas von dem portugiesischen Röten da?“ „Vier oder fünf Flaschen.“ Niemand kannte den Namen des Mannes, den sie den Kutscher nannten, weil er in dieser Funktion bei Sir Freemont, dem besten Arzt von Plymouth, gearbeitet hatte. Seine dort abgesehenen Fähigkeiten hatten ihn automatisch zum Feldscher des Schiffes gemacht. Hauptsächlich aber war er Koch. Dan O’Flynn und Ben Brighton traten kurz nach Hasard in die Kapitänskammer, setzten sich an den Eichentisch und blickten Hasard abwartend an. „Ich brauche euch wohl nicht zu sagen, daß wir jetzt bis zum Hals in der Tinte sitzen“, erklärte Hasard die Lage. Die beiden anderen nickten. Sofort nach Landung der Galeere würde bei den Dons Alarm ausgelöst werden, und eine ganze Armada von Schiffen würde nach der „Isabella“ suchen. „Wir müssen vor allem das Schiff unsichtbar machen und versuchen, in Valencia zu sein, bevor die Nachricht von unserer Anwesenheit dort. eintrifft.“ „Unsichtbar machen?“ fragte Dan und runzelte die Brauen. „Die ‚Isabella’?“ „Etwa fünfzehn Meilen nordöstlich von Valencia liegt ein gutes Dutzend kleiner Inseln.“ Er nahm eine Seekarte aus dem Schapp, breitete sie aus und deutete mit dem Zeigefinger auf die Gruppe der Columbretes-Inseln. „Die meisten sind unbewohnt. Dort werden uns die Spanier kaum suchen.“ Dan nickte. „Vor allem werden sie annehmen, daß wir sofort von der Küste abgelaufen sind.“ „Das tun wir auch. Erst wenn die Galeere völlig außer Sicht ist, gehen wir auf Nordkurs.” Es klopfte an der Tür, und der Kutscher trat ein, ein Tablett mit einer Flasche Wein und drei Gläsern in der Hand.
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Während er einschenkte, sagte Dan anerkennend: „Die Sache gefällt mir, Hasard. Je näher wir den Dons auf den Pelz rücken, desto geringer ist die Gefahr der Entdeckung.“ „Richtig.“ Hasard nahm einen Schluck Wein. „Recht so?“ erkundigte sich der Kutscher höflich, obwohl er sehr gut wußte, wie ausgezeichnet dieser Wein war. Als Koch hatte er die Herrschaft über den Proviant, und ab und zu pflegte er sich ein Gläschen von den besseren Sachen zu genehmigen. „Danke, Kutscher.“ Der Kutscher neigte leicht den Kopf und verschwand. „Und weiter?“ erkundigte sich Ben Brighton. „Wie willst du nach Valencia gelangen?“ „Wir werden einen Fischer überreden, daß er uns an der Küste absetzt.“ „Das könnte klappen. Für Gold kann man von den Dons alles ...“ Er unterbrach sich und starrte Hasard an. „Wieso wir? Hast du eben wir gesagt?“ „Habe ich. Du begleitest mich, Ben.“ Ben Brighton schüttelte den Kopf. „Das gefällt mir gar nicht, Hasard. Einer von uns beiden muß an Bord bleiben. Wir können nicht beide das Schiff verlassen.“ „Dan wird solange das Kommando übernehmen“, sagte Hasard ruhig. ..Daß er dazu fähig ist, hat er ja bereits bewiesen.“ Ben Brighton blickte von Hasard zu Dan O’Flynn. „Das schon, aber trotzdem ... Nicht böse sein, Dan, aber man braucht eben auch Erfahrung und ...“ „Schon gut, Ben“, unterbrach Dan lächelnd. Dann wandte er sich an Hasard. „Warum nimmst du mich nicht mit an Land? Den Rücken freihalten kann ich dir auch.“ „Darum geht es in diesem Fall nicht, Dan. Solange wir unentdeckt waren, hätte ich es auch allein geschafft. Aber jetzt brauche ich Ben, weil er fließend spanisch spricht und sich im Land auskennt.“ „Verstehe.“ Hasard hatte recht, mußte Dan zugeben. Wenn die Dons nach ihnen und der „Isabella“ suchten, konnte Hasard sich nicht als harmloser Kaufmann ausgeben,
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der hier Geschäfte abschließen wollte. „In Ordnung. Du kannst dich auf mich verlassen.“ „Das weiß ich, Dan.“ Ben Brighton drehte sein Glas nachdenklich zwischen den kräftigen Fingern. Hasard wußte, daß ihm das Risiko, -die „Isabella“ unter dem Kommando eines kaum erwachsenen Jungen zurückzulassen, gar nicht paßte. Ihm selbst war auch nicht ganz wohl dabei, gestand er sich ein. Aber es war nun einmal nicht zu ändern. „Wenn der Wind so bleibt, dürften wir kurz nach Dämmerungsbeginn bei den Inseln sein“, sagte er. Ben Brighton nickte schweigend. 3. Das Boot kreuzte gegen den auffrischenden Westwind an. Hasard und Ben Brighton saßen im Bug, der Fischer und zwei junge Gehilfen eng nebeneinander im Heck des Bootes. Hasard wandte den Kopf und starrte zur Küste hinüber, ein dunkler, vager Strich, auf dem hier und da gelbliche Lichter schimmerten. Nördlich drängten sich ein paar hundert Lichter zusammen, als wenn sie beieinander Schutz suchten. Wie ein Sternenhaufen am klaren Himmel, dachte Hasard. Aber der Himmel war nicht klar. Dicke Wolken wurden von dem immer mehr auffrischenden Westwind nach Osten gepeitscht, und hinter dem Horizont zuckte rosafarbenes Wetterleuchten. „Wir werden heute nacht noch Sturm kriegen“, sagte Hasard, „Wie?“ „Ich sagte, daß wir heute noch Sturm kriegen werden. Wo bist du eigentlich mit deinen Gedanken?“ „Ja. Sturm - einen der Herbststürme vom Atlantik.“ Er wandte den Kopf und blickte Hasard an. „Die drei Figuren da achtern gefallen mir nicht.“ Er deutete mit einem kurzen Nicken auf die drei Spanier. „Sie müssen auch nicht schön sein, solange sie uns möglichst rasch absetzen.“ Hasard
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blickte- ebenfalls zu den drei Dons hinüber. „Ich möchte nur wissen, was die so eifrig zu tuscheln haben.“ „Das meinte ich ja, als ich sagte, sie gefallen mir nicht.“ „Kannst du hören, was sie reden?“ „Nein. Aber ich kann es mir denken.“ Hasard nickte. Auch ihm war klar, daß sie über die beiden Männer diskutierten, die südlich von Valencia an der offenen Küste an Land gesetzt werden wollten und ihr Verlangen mit Nachdruck und einer ungewöhnlich hohen Anzahl von Dublonen durchgesetzt hatten. „Ich wette, sie überlegen, wie sie uns ausplündern und ins Meer werfen können, Hasard.“ „Vielleicht“, sagte der Seewolf nachdenklich. „Wir hätten ihnen nicht unsere Goldstücke zeigen sollen, sondern die Pistolen.“ Die hatten die drei Spanier sicher bemerkt, überlegte Hasard, und auch, daß sie weder Spanier noch Männer eines Handelsseglers waren. Da lag die Gefahr, wußte er. Der Fischer war ein alter Mann, die beiden Jungen fast noch Kinder. Sie würden einen offenen Angriff auf zwei bewaffnete Männer nicht riskieren. Es war das Nachher, was ihm Sorge bereitete. Bestimmt würden sie über ihr Abenteuer reden, und wenn die Behörden davon erfuhren, daß zwei Engländer heimlich an der Küste gelandet waren, dann ging das Theater los. Eine plötzliche Bö fuhr in das dreieckige Bootssegel und drückte den Kahn nach Steuerbord. Der kleinere der beiden Jungen griff nach dem niedergehenden Dollbord, um sich festzuhalten. Aber er griff daneben und stürzte ins Wasser. Der andere Junge schrie erschrocken auf, sprang hoch und rief dem Alten etwas zu. „Der Junge kann nicht schwimmen“, sagte Ben Brighton und Zerrte an seiner Jacke. „Ich mach das.“ Hasard warf Ben Jacke, Messer und Pistole zu und sprang über Bord. Das Wasser war eisig, und im ersten Moment ließ der Kälteschock ihm den Atem stocken. Aber er hatte keine Zeit,
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sich damit zu befassen. Das Boot war in den wenigen Sekunden gute zwanzig Yards landwärts gedrückt worden. Er mußte sich beeilen, wenn er den Jungen noch lebend herausholen wollte. Wenn es nur nicht so völlig dunkel wäre. Er konnte keine zwei Yards weit sehen, und in der kabbeligen See konnte der Junge ein paar Wellentäler weit entfernt vorbeitreiben, ohne daß er ihn bemerkte. „Wo bist du?“ rief er auf spanisch. „Schrei doch!“ Warum schrie er nicht? Das wäre doch die normale Reaktion gewesen. Entweder hatte der Schock ihm die Stimme geraubt, oder er war schon bewußtlos. „Junge!“ rief er wieder. „Melde dich doch!“ Rechts voraus hörte er einen erstickten Schrei. Er verdoppelte sein Tempo. Drei, vier Yards, schätzte er, weiter konnte der Junge nicht weg sein. Er schwamm fünf Yards. Keine Spur. „Melde dich!“ Keine Antwort. Hasard spurtete zwei, drei Yards zurück und schnellte sich mit einem harten Beinschlag aus dem Wasser wie ein springender Seehund. Nichts zu sehen. Also vergeblich, dachte er resigniert. Der Junge war untergegangen und vielleicht schon tot. Es war nur seine Starrköpfigkeit, sein Widerstreben, irgendeine Sache aufzugeben, die ihn veranlaßte, beim Zurückfallen ins Wasser zu tauchen. Er schwamm etwa einen Yard unter der Oberfläche einen Kreisbogen. Nichts. Noch einmal, diesmal etwas enger. Zu sehen war nichts. Alles in ihm konzentrierte sich auf das Tastgefühl, auf seine Fingerspitzen. Wie ein elektrischer Schlag durchfuhr es seinen Körper, als seine rechte Hand gegen etwas Weiches stieß. Aber es war nur ein Stück Riesentang.
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Aus, dachte er, als er mit der letzten Luftreserve an die Wasseroberfläche zurück schwamm. Und kurz vor dem Auftauchen stieß sein linker Fuß an einen Widerstand. Er nahm sich kaum die Zeit, einmal tief Luft zu holen, dann schoß er wieder senkrecht in die Tiefe, bis seine Hand in Stoff griff. Der Junge rührte sich nicht mehr. Hasard packte ihn mit der linken Hand unters Kinn, um Mund und Nase über Wasser zu halten, und sah sich nach dem Boot um. Zuerst konnte er nichts sehen, und ein paar Sekunden lang befürchtete er schon, die beiden anderen hätten Ben Brighton überwältigt und wären auf und davon. Aber dann flackerte rechts voraus ein mattes Licht auf, und er hörte Ben rufen: „Hasard! Alles in Ordnung?“ „Ja. Ich hab den Jungen!“ Er hustete, als eine Welle ihm eine Ladung Salzwasser in den Mund spülte. „Ruf in kurzen Abständen, damit wir auf dich zuhalten können!“ rief Ben wieder. Hasard kniff die Lider zusammen, und jetzt sah er die dunklen Umrisse des Bootes. „Etwas Steuerbord und Segel runter!“ „Aye, aye.“ Das Boot schoß dicht an ihm vorbei und drehte in den Wind. Ein paar Minuten später zogen Ben und der andere Junge den Bewußtlosen an Bord. Ben streckte Hasard die Hand entgegen, und der schwang sich über das Dollbord. „Ist er tot?“ Der Junge beugte sich über das Kind, das Hasard aus dem Wasser gezogen hatte und schüttelte ihn bei den Schultern, „Vielleicht nicht“, antwortete Ben Brighton. Und zu Hasard: „Die beiden sind Brüder.“ Die beiden Engländer kümmerten sich um den Jungen, preßten ihm ein paar Liter Wasser aus der Lunge und begannen, seinen Brustkorb zu massieren. Sein Bruder wollte ihnen dabei helfen, aber der alte Fischer rief ihn zurück und befahl ihm, das Segel wieder aufzuziehen. „Der Alte hat die ganze Zeit keinen Finger gerührt“, sagte Ben leise, während Hasard versuchte, die Atmung des Jungen wieder
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in Gang zu setzen. „Wenn ich nicht gedroht hätte, ihn auch in den Bach zu schmeißen, wäre er vielleicht weitergesegelt und hätte euch beide absaufen lassen.“ „Sehr menschenfreundlich“, kommentierte Hasard. „Sind die Dons immer“, sagte Ben trocken. „Und junge Burschen, die Arbeit suchen, gibt es wie Sand am Meer.“ Der Junge stöhnte leise, dann warf er den Kopf zur Seite und übergab sich: „Das wär’s“, sagte Hasard erleichtert. „Du hast ihm wohl zu sehr auf den Magen gedrückt“, sagte Ben und grinste. Dann kniete er sich neben den Jungen, nahm seine Hand und sprach beruhigend auf ihn ein. Der Bruder näherte sich Hasard. Und dieses Mal kümmerte er sich nicht um das wütende Keifen des Alten. „Danke, Senor, danke. Möge die Muttergottes Sie immer beschützen.“ Ehe Hasard es verhindern konnte, hatte er seine Hand ergriffen und sie geküßt. „Schon gut, schon gut“, murmelte Hasard. Es hatte noch nicht viele Situationen gegeben, die ihn verlegen gemacht hatten. Dies war eine davon. Der Junge hockte sich neben ¬seinen Bruder, preßte ihn an sich und weinte und lachte abwechselnd. Hasard starrte zu dem alten, bitteren Mann an der Pinne. Ben Brighton schien seine Gedanken zu erraten. „Komisch mit dem Alten“, philosophierte er. „Manche Menschen werden in ihren letzten Jahren weise und gütig, andere entwickeln sich zu richtigen Giftzwergen.“ Hasard nickte nachdenklich und starrte den Giftzwerg im Heck des Bootes an. „Dieser wird uns wahrscheinlich noch einige Schwierigkeiten bereiten.“ * Wie prophetisch seine Worte gewesen waren, erkannten sie, als das Boot sofort Kurs auf Valencia nahm, nachdem es sie
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etwa eine Meile südlich der Stadt abgesetzt hatte. „Weißt du auch, was der Giftzwerg vorhat?“ fragte Ben Brighton, als sie das Boot in Richtung Norden verschwinden sahen. „Mein Fehler“, gestand Hasard ein. Und es war ein Fehler gewesen, so einem Kerl gegenüber menschlich zu handeln. Er hatte gewußt, daß der Alte über sein Abenteuer reden würde, und er hatte sogar überlegt, ob er sich nicht noch ein Handgeld verdienen wollte, indem er die spanische Polizei direkt informierte. Aber er wollte diese Möglichkeit nicht wirklich ernst nehmen, weil sie ihn zu Maßnahmen gezwungen hätte, die ihm nicht lagen, vor allem der beiden Jungen wegen. „Ich hätte wenigstens ein Loch ins Boot schlagen sollen“, sagte er, wütend über seine Weichherzigkeit. „Die paar Stunden Reparaturarbeit waren in der Chartergebühr inbegriffen“, murmelte Ben Brighton. „Und ein paar Stunden Kälte auch. Wenn wir sie irgendwo festgebunden hätten, wären sie sicher nach einer Weile von jemandem befreit worden.“ Hasard wandte sich schweigend ab, und sie gingen auf die Straße zu, die nach Valencia führte. „Du darfst dir jetzt keine Vorwürfe machen, Hasard“, sagte Ben nach einer Weile. „Ich hätte schließlich auch daran denken sollen.“ * „Warte“, sagte Hasard und hielt Ben Brighton am Arm zurück. Sie standen eine knappe Viertelmeile vor dem südlichen Stadttor Valencias und starrten zu den Lichtern hinüber. „Auf was?“ fragte Ben. „Das Tor ist schon zu. Entweder wir klopfen, oder wir versuchen, irgendwo über die Mauer zu klettern.“ „Wir warten”, sagte Hasard bestimmt. Ben kannte diesen Ton bei seinem Kapitän und wußte, daß es jetzt besser war, den Mund zu halten.
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Sie warteten gute zehn Minuten, bis ein Leiterwagen mit Stroh vor dem Tor hielt. Nach einer Weile wurde es geöffnet, und ein Dutzend bewaffneter Soldaten trat heraus. Zwei von ihnen hielten helle Lampen in den Händen, andere begannen, mit ihren Hellebarden in das Stroh zu stechen. „Hab ich mir gedacht“, murmelte Hasard. „Sie haben schon Alarm gegeben.“ „Verstehe“, sagte Ben Brighton. Wieder einmal mußte er die Sorgfalt und Weitsicht Philip Hasard Killigrews bewundern. Aber sie waren mit die wichtigsten Gründe, daß der Seewolf noch lebte. „Und was jetzt?“ „Jetzt schwimmen wir, Ben. Oder weißt du etwas Besseres?“ „Du bist ja schon naß“, erwiderte Ben düster. Wie viele gute Seeleute hielt er nicht viel davon, das Meer als Badewasser zu mißbrauchen. 4. Weil das Schwimmen überhaupt noch nicht sehr verbreitet war, hielten es die Spanier auch nicht für nötig, das offene Ufer bei den Halligen der Werft zu bewachen. Nur an der Mole und an den Hafenkais hatten sie Posten aufgestellt, die einlaufende Boote kontrollierten. Der Wind war jetzt fast zum Sturm geworden, und die dunklen Wolken hingen tief am Himmel. Im Westen grollte der erste Donner, und wenig später zuckte ein Blitz. „Das Wetter kommt genau richtig“, sagte Hasard, als sie aus dem Wasser stiegen. „Wenn es richtig schüttet, fallen wir in unseren nassen Klamotten nicht auf.“ „Trotzdem hätten wir lieber den Fischer etwas frieren lassen sollen“, sagte Ben Brighton brummig. An Kälte war er gewöhnt, aber in durchnäßten Sachen im Wind zu stehen, war etwas, was er auf den Tod haßte. Das Gewitter hatte die Stadt erreicht. Ein Blitz zuckte von den Wolken zur Erde und schien am anderen Ende Valencias einzuschlagen. Der Donner dröhnte
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ohrenbetäubend, Sekunden später brach der Regen los. „Los!“ Hasard lief an den Spanten einer halbfertigem Galeone vorbei auf die Zufahrtstraße. Es waren nur noch wenige Menschen auf der Straße, und die waren ebenfalls völlig durchnäßt und hatten es ebenfalls sehr eilig, so daß Hasard und Ben überhaupt nicht auffielen. „Wie heißt die Straße, wo dieser Benson wohnt?“ fragte Hasard leise, als sie eine breite Straße entlangliefen, die unangenehm hell erleuchtet war. „Weiß ich nicht. Aber ich kenne den Weg. An der Ecke ist eine Bodega.“ „Davon gibt’s hier mehr als hundert.“ „Sie heißt ,Eldorado“‘, sagte Ben. Zehn Minuten später hatten sie die richtige Straße gefunden, die richtige Kneipe - und auch das richtige Haus, das schräg gegenüber lag. „Da brennt noch Licht“, sagte Ben Brighton überrascht, als er auf das Domizil Mister Lester Bensons deutete. „Gut. Dann brauchen wir ihn nicht herauszuklopfen.“ Die Haustür stand halb offen. Hasard stieß sie auf, und sie traten in einen halbdunklen Korridor. „Hallo, Senor Benson!“ rief Hasard halblaut. Auf der rechten Seite des Korridors öffnete sich eine Tür, und ein Mann mit einer Ölfunzel trat heraus. „Bitte, Senores?“ „Guten Abend, Mister Benson.“ Ben Brighton trat auf den Mann zu. „Lange her, daß wir zusammen einen Vino Tinto getrunken haben, nicht wahr?“ Der Mann trat einen Schritt näher und hob die Lampe, so daß ihr Schein auf die Gesichter der späten Besucher fiel. „Brighton?“ fragte er ungläubig. „Ben Brighton?“ Er schüttelte Ben kräftig die Hand. „Schön, daß Sie sich mal wieder sehen lassen. Kommen Sie herein. Sie traten in ein etwas verstaubt wirkendes Kontor. Die Tarnfirma des britischen Agenten, die sich recht vage ein Exportunternehmen nannte. schien nicht
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sehr zu florieren. Aber Mister Benson schien späten Besuch gehabt zu haben. Auf dem runden Tisch vor dem Divan standen drei gebrauchte Rotweingläser. „Mein Gott, Sie sind ja völlig durchnäßt“, sagte Benson erschrocken. „Ich werde sofort ein Feuer anzünden lassen, damit Ihre Sachen trocknen.“ „Ein Feuer wäre gut, Mister Benson“, sagte Ben Brighton grinsend, „und vielleicht auch etwas Wärmendes von innen.“ „Sofort.“ Er wandte den Kopf. „Miguel!“ Hasard hatte den Agenten der britischen Krone eingehend gemustert. Lester Benson war um die vierzig, mittelgroß, mittelblond und mit einer etwas zu kurzen Oberlippe, die ihm beim Sprechen das Aussehen eines mümmelnden Kaninchens gab. Aber der etwas mittelmäßige Eindruck täuschte, sollte es vielleicht sogar. Lester Benson war einer der fähigsten Geheimagenten der Krone, und vor allem im feindlichen Spanien konnten sich nur die besten halten. Ein grauhaariger Diener brachte heißes Wasser, Zucker und Rum. „Danke, Miguel.“ Der alte Iberer gab einen unartikulierten Grunzlaut von sich. Benson lächelte. „Miguel ist stumm, etwas geistesschwach, und sein Wortschatz reicht gerade so weit, wie ich es für meine Bedienung brauche.“ Hasard lächelte zurück. „Sehr weise für Ihre Stellung hier.“ „Ich hatte auch einige Mühe, diese Perle zu finden, Senor ...“ „Entschuldigen Sie, Mister Benson“, sagte Ben Brighton erschrocken, bevor Hasard antworten konnte. „Ich habe völlig vergessen, Sie miteinander bekannt zu machen. Das ist ...“ „Ich weiß, wie der Gentleman heißt“, sagte Hasard lächelnd. „Ich bin Philip Hasard Killigrew.“ „Killigrew?“ Benson trat einen Schritt zurück, wie um Abstand zu nehmen, und seine Augen waren plötzlich hart und eisig. „Kapitän Killigrew von der ‚Isabella’?“ „Allerdings.“ Hasard wußte sofort, warum Benson ausdrücklich fragte.
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„Die Königin hat Haftbefehl gegen Sie erlassen.“ Bensons Stimme klang kalt und distanziert. „Das ist mir bekannt. Und welche Konsequenzen gedenken Sie daraus zu ziehen?“ Benson fummelte an seiner schmalen Krawatte. „Am liebsten würde ich Sie ...“ Er sprach nicht zu Ende. „Mich den Spaniern ausliefern? Wenn ich ein Feind unserer Königin wäre, müßte ich doch automatisch Bundesgenosse der Spanier sein, nicht wahr?“ „Sie sind ... „Hören Sie, Mister Benson“, unterbrach Ben Brighton. „Sie bellen am falschen Baum. Der Haftbefehl beruht auf einer Intrige von zwei Männern, die längst an der Rahnock hängen sollten.“ „Burton?“ fragte Benson. „Ja.“ Hasard trat unwillkürlich einen Schritt vor. „Seinetwegen sind wir hier. Haben Sie etwas von ihm gehört?“ Lester Benson antwortete nicht. „Und der zweite Mann?“ „Keymis“, sagte Hasard. „Die Schurken haben meine Kinder geraubt, Benson. Wenn Sie mir sagen können ...“ Benson winkte ab und blickte Hasard eine Weile schweigend an. „Vielleicht habe ich eben einen großen Fehler begangen“, sagte er schließlich leise. „Hoffentlich kann ich ihn noch rückgängig machen.“ Ohne jede Erklärung stürzte er aus dem Raum. Sie hörten ihn den Korridor entlanglaufen, und dann knarrte die Haustür. Hasard trat ans Fenster und starrte hinaus. Der Regen trommelte gegen die Scheiben, der Sturm zerzauste die Palmwedel auf der anderen Straßenseite, und im Aufzucken eines Blitzes sah er Benson ohne Hut und Mantel durch das Unwetter laufen. Ich Richtung Hafen. „Ich glaube, ich weiß, was er wieder geradebiegen will“, sagte er, ohne sich umzudrehen. „Und was?“ „Er glaubte, seine Pflicht zu tun, und er sieht ein, daß es falsch war.“
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Der stumme Diener Miguel trug einen Korb Holz und einen brennenden Kienspan herein. „Weil er diesen Haftbefehl ernst nimmt? Das tun wir doch auch.“ „Nein, das ist es nicht.“ Hasard trat vom Fenster zurück und sah Miguel an, der vor dem Kamin kniete, das Holz aufgeschichtet hatte und jetzt den Kienspan in den kleinen Scheiterhaufen schob. „Unser Fischer hat sich noch ein kleines Zubrot verdienen wollen und der Polizei erzählt, daß wir in der Gegend sind. Den Namen des Schiffes hat er auch gesehen. Also brauchte Benson nur bis zwei zu zählen, um zu wissen, wer da heimlich an Land gekommen war, und hat entsprechende Konsequenzen gezogen.“ „Und welche, glaubst du?“ Hasard schüttelte den Kopf. „Das muß er uns schon selbst sagen.“ Das tat Benson auch, als er eine knappe halbe Stunde später triefend naß zurückkehrte. „Jetzt brauche auch ich ein warmes Feuer und einen guten Grog“, sagte er und stellte sich mit dem Rücken zum brennenden Kamin. „Und?“ Hasard blickte ihn fragend an. Benson schüttelte bedauernd den Kopf. „Es gibt Fehler, die man nicht mehr reparieren kann, Mister Killigrew. Ich bin zu spät erschienen. Wegen des Sturms ist das Schiff sofort ausgelaufen.“ Hasard verstand. „Mit Ihrer Meldung nach London, daß ich in Spanien bin, nicht wahr?“ Benson nickte. „Ich mußte annehmen, daß ein steckbrieflich gesuchter Mann seine Dienste dem Gegner anbietet. Logisch, nicht wahr?“ Er lächelte entschuldigend. „Wie gesagt, es war ein Fehler, und ich werde ihn wieder gutmachen, auch wenn es jetzt etwas länger dauert.“ Er trat zum Tisch, goß viel Rum und etwas heißes Wasser in die Gläser und hob sein Glas. „Bitte, Gentlemen. Bedienen Sie sich. Und wenn ich sonst noch etwas zu Ihrer Bequemlichkeit tun kann, dann äußern Sie sich bitte.“ „Danke“, sagte Hasard und nahm einen Schluck von seinem Grog. „Aber wie mein
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Freund Ben vorhin richtig gesagt hat, bellen Sie am falschen Baum, und auch der Hof von St. James, mit Verlaub gesagt. In London zumindest sollte bekannt sein, daß Burton lange Jahre Agent der Spanier war, und vielleicht ist er es noch.“ Benson roch den Dampf, der aus seinen nassen Kleidern stieg und trat einen Schritt vom Feuer. „Sehr gut möglich“, sagte er nachdenklich. „Das wäre eine Erklärung dafür, daß er hier nicht die geringsten Schwierigkeiten hat.“ „Ich möchte wetten, daß er sogar eine Art persona grata ist“, knurrte Ben Brighton. Hasard rückte seine Seitenwaffe zurecht, Es war eine schwere, sächsische Reiterpistole. Das Pulver war naß geworden, überlegte er, und wahrscheinlich war auch der Papierpfropf, der die Kugel im Lauf festhielt, aufgeweicht. Bei nächster Gelegenheit mußte er die Waffe neu laden. „Sind Burton und Keymis in Valencia?“ fragte er dann. Lester Benson antwortete nicht sofort. Sein anfängliches Mißtrauen hatte er zum größten Teil abgebaut, wahrscheinlich nur, weil er Ben Brighton nicht zutraute, der Freund eines Verbrechers zu sein, aber eine gewisse Reserve war geblieben. „Sie sagten vorhin, Burton und Keymis hätten Ihre Kinder entführt?“ „Das stimmt.“ Mit kurzen Worten berichtete Hasard von der Treibjagd der beiden auf ihn und seine Familie, der sein Ruf und seine Frau zum Opfer gefallen waren. „Ich habe nur eine schwache Vermutung, warum die beiden mich unter Druck setzen wollen“, schloß er, „denn das wäre der einzige logische Grund, meine Kinder zu entführen. Sie nehmen an, ich hätte mir als Freibeuter einen Schatz zusammengeräubert, und auf den sind sie scharf. Jetzt haben sie meine Kinder und wollen mich erpressen.“ Benson antwortete nicht gleich. Er tarnte sein Zögern, indem er alle drei Gläser nachfüllte. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Und Sie wissen, daß die beiden Ihre Kinder nach Spanien gebracht haben?“
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„Das waren die letzten Informationen, die wir von einem zufälligen Zeugen des Kinderraubs erhalten haben.“ Hasard trat einen Schritt auf Benson zu und blickte ihm in die Augen. „Haben Sie erfahren, wohin die Kinder gebracht wurden, Mister Benson?“ „Nein. Es tut mir leid.“ „Sie sind aber hier in Valencia?“ „Sie waren hier, Mister Killigrew. Vor vier Tagen sind sie verschwunden.“ „Verschwunden? Wie soll ich das verstehen?“ Lester Benson entblößte seine Zähne, als er lächelte, und glich mehr denn je einem Kaninchen. „Das soll heißen, sie haben Valencia verlassen, ohne ihr Reiseziel zu verraten.“ Hasard spürte eine eisige Wut. Sie waren den beiden Halunken also dicht auf den Fersen gewesen, und sie waren ihnen doch entwischt. „Aber wie ich hörte, sollen sie sich ein Boot nach Formentera gemietet haben.“ Er lächelte noch immer sein Kaninchenlächeln. „Formentera ist eine winzige Insel südlich von Ibiza, auf der nur ein paar Dutzend Fischer leben. Also fragte man sich doch, was tun zwei Engländer auf Formentera, nicht wahr?“ Formentera also. Hasard hatte nicht den geringsten Zweifel, was die beiden dort taten. „Danke, Mister Benson. Sie wissen nicht, was diese Nachricht für mich bedeutet. Lös, Ben; wir müssen versuchen, vor Sonnenaufgang wieder an Bord zu sein und morgen ...“ Er unterbrach sich, als er eilige Schritte auf dem Korridor hörte. Dann wurde die Tür aufgerissen, und ein Mann mit einem hohlwangigen, fahlen Gesicht und einem schütteren grauen Ziegenbart stürzte herein. „Haben Sie schon gehört; Benson? Die Polizei hat Nachricht, daß dieser Killigrew ...“ Erst jetzt entdeckte Keymis die beiden Männer der „Isabella“ und wich erschrocken zurück. Ben Brighton wirbelte herum und wollte ihn am Arm packen. Mit einem quiekenden
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Schrei sprang Keymis zur Seite, und genau in die Arme Hasards. „So, und jetzt wirst du reden, du Bastard“, sagte Hasard gefährlich leise. „Wenn ich in zehn Sekunden nicht weiß, wohin ihr die Kinder verschleppt habt, breche ich dir sämtliche Knochen.“ Er verstummte, als er hinter sich ein Geräusch hörte, das ihm sehr vertraut war: ein scharfes, metallisches Knacken, zweimal kurz hintereinander. Und noch bevor er sich umwandte, wußte er, was er sehen würde: Lester Benson mit zwei gespannten Pistolen in den Händen. „Lassen Sie den Mann los“, sagte Benson kühl. „Und stellen Sie sich nebeneinander an die Wand.“ „Sie Schwein“. knurrte Ben Brighton angewidert, und Hasard sah, daß er sich auf den Agenten stürzen wollte. „Nicht, Ben.“ Hasard packte ihn am Arm und zog ihn neben sich an die Wand. Benson verstand sein Handwerk. Er war fünf Schritte zurück getreten, unerreichbar für einen Überraschungsangriff. Keymis huschte wie eine Ratte zur Tür, als Hasard ihn freigegeben hatte. Erst in sicherer Entfernung faßte er wieder Mut. „Na warte, du Verbrecher. Das wirst du mir büßen. Wir werden ...“ „Sie werden sich jetzt zusammennehmen und zur Polizei gehen“, sagte Benson kühl. „Melden Sie Capitan Cortez, daß ich die gesuchten Engländer gefangengenommen habe.“ „Sofort, Benson. Aber ich habe schließlich auch dazu beigetragen. Falls also eine Belohnung ausgesetzt sein sollte, beanspruche ich sie natürlich.“ „Vor dem Teilen sollten Sie erst einmal dafür sorgen, daß die beiden hinter Gitter kommen, Keymis.“ Die eisige Verachtung in Bensons Stimme war nicht zu überhören. Hasard Killigrew blickte ihn nachdenklich an. „Passen Sie gut auf die beiden auf, Benson. Es sind gefährliche Banditen.“ Keymis huschte durch die halboffene Tür und warf sie hinter sich zu.
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„Hören Sie, Benson“, sagte Ben Brighton, als Keymis’ Schritte auf dem Korridor verklangen, „Sie scheinen immer noch zu glauben „Gratuliere“, unterbrauch Hasard und grinste Benson an. „Ihre Reaktionsfähigkeit ist wirklich großartig.“ „Die braucht man in meinem Beruf.“ Benson ließ die beiden Pistolen sinken und entspannte die Hähne mit den Daumen. Sein Kaninchengrinsen erlosch nach einer knappen Sekunde. „Ich konnte nicht anders, Gentlemen. Meine wichtigste Aufgabe hier ist, meine Tarnung aufrechtzuerhalten. Decouvriert bin ich keinen Schuß Pulver mehr wert - und sehr wahrscheinlich tot. Ich mußte vor diesem Keymis Theater spielen.“ „Sparen Sie sich die Entschuldigungen, Benson“, sagte Hasard. „Wir verstehen Ihre Situation. Und wie geht es nun weiter?“ Benson goß die Gläser noch einmal voll. „Stärken Sie sich, Gentlemen, Sie werden es wahrscheinlich brauchen.“ Nachdem sie einen Schluck genommen hatten, fuhr er fort: „Es gibt, wie immer im Leben, zwei Möglichkeiten. Die erste und einfachste wäre, daß ich Sie von den Spaniern einsperren lasse.“ „Verrückt“, stieß Ben Brighton hervor. „Lassen Sie mich zu Ende reden, Mister Brighton. Selbstverständlich werde ich dafür sorgen, daß Sie sehr bald wieder befreit werden.“ Wieder das kurze Lächeln. „Es wäre nicht das erste Mal. Man erhält auch darin eine gewisse Übung, und Sie brauchen sich nicht die geringsten Sorgen zu bereiten, Mister Brighton.“ „Wann würde das passieren?“ fragte Hasard sachlich. „Das hängt natürlich von gewissen Umständen ab“, sagte Lester Benson zögernd. „Eventuell schon in ein, zwei Tagen.“ „Vielleicht aber auch erst in ein, zwei Wochen“, sagte Hasard. „Ich verstehe. Sie wissen, warum wir hier sind, und daß wir keine Zeit verlieren dürfen.“
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Lester Benson nickte, und diese Geste wirkte resignierend. „Dann bleibt uns also nur die zweite Möglichkeit“, sagte er seufzend. „Und die wäre?“ „Sie müssen mich niederschießen und fliehen.“ Hasard’ nickte. Natürlich mußte Benson einen Beweis seines Widerstandes vorweisen können, wenn er angab, daß seine Gefangenen entwischt seien. „Eine Kugel scheint mir ein wenig zu dramatisch“, meinte er. „Eine hübsche Beule auf dem Kopf tut es sicher auch, nicht wahr?“ „Ich könnte Ihnen auch die Kinnlade brechen, Sir“, schlug Ben Brighton vor. „So was ist in einer Woche wieder heil.“ „Vielen Dank für das Angebot, aber eine Kugel im Bein wirkt überzeugender. Ich habe ohnehin das Gefühl, daß die Polizei sich etwas zu sehr für mich interessiert.“ Er reichte Hasard eine der beiden Waffen. „Die andere feuere ich auf die Tür ab, sowie Sie draußen sind.“ Er warf einen Blick auf seinen linken Oberschenkel. „Schade, es ist eine sehr gute Hose, und sie wird gerade wieder einigermaßen trocken.“ Hasard warf einen raschen Blick auf die Waffe und überzeugte sich, daß sie in Ordnung war. „Keine Angst, Mister Benson. Ich verpasse Ihnen nur eine leichte Fleischwunde. Der Knochen bleibt heil.“ Er spannte den Hahn und hob die Pistole. Benson hatte das linke Bein ein wenig vorgestellt und zog es jetzt zurück. „Wollen Sie nicht lieber aufgesetzt schießen, Mister Killigrew? Auf die Entfernung kann es leicht daneben gehen.“ „Keine Angst, der Kapitän schießt einer Fliege das Auge aus, Mister Benson“, beruhigte ihn Ben Brighton. „Vor allem wären bei einem zu nahem Schuß Pulverspuren auf Ihrer Hose, und da könnten die Spanier ...“ Die Haustür krachte gegen die Wand, und schwere Stiefel polterten den Korridor entlang. „Da sind sie schon“, sagte Benson überrascht. „Keymis muß eine Streife auf der Straße ...“
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Hasard drückte ab. Der Schuß dröhnte, und Benson schrie erschrocken auf. 5. „Los, Ben!“ Hasard schlug mit dem Pistolengriff die Fensterscheibe ein und sprang hinaus. Eine Sekunde später stand Ben neben ihm, und im selben Augenblick krachte Bensons Schuß. Die Kugel fetzte einen breiten Holzsplitter aus dem Fensterrahmen. Es regnete immer noch, wenn auch nicht mehr so stark wie vor einer Stunde. Sie liefen um die Hausecke auf die Straße. Einer der Spanier stürzte aus der Haustür, entdeckte sie und riß seine Muskete hoch. Hasard war kaum fünf Schritte von ihm entfernt und wußte, daß der Mann auf diese kurze Distanz nicht daneben schießen konnte. Aber als der Spanier abdrückte, ertönte nur ein leises Klicken. Das Pulver auf der Zündpfanne war naß geworden. Hasard schlug ihn mit dem Pistolenlauf zu Boden. Ein zweiter Spanier stürzte heraus. Er senkte seine Hellebarde und wollte sie Ben Brighton in den Leib rennen. Hasard schleuderte ihm die Pistole an den Kopf. Der Mann warf seine Hellebarde in die Luft und brach zusammen. Sein Helm polterte durch die offene Tür in den Korridor. „Hier entlang, Ben! Wir müssen zur Werft zurück!“ Hasard spurtete die Straße hinunter. Hinter ihnen krachten zwei Musketenschüsse. Eine der Bleikugeln surrte dicht an Hasards Kopf vorbei und schlug klatschend in die Hauswand. Hasard warf einen raschen Blick zurück. Ein halbes Dutzend Spanier stürzte aus der Haustür. Einer von ihnen riß die Muskete an die Schulter. Hasard warf sich zur Seite. Der Schuß krachte, und die Kugel fetzte Splitter aus den Kopfsteinen des Pflasters. „Mit den schweren Kanonen werden die uns bestimmt nicht überholen“, sagte Ben Brighton grinsend, als sie die hellerleuchtete Straße verließen und in eine
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schmale Seitengasse einbogen. „Ich wette ...“ Er brach ab, als Hasard ihn am Arm packte und gegen die Wand schleuderte. Und dann hörte auch er die Schritte sowie das leise Klirren von Waffen und Brustharnischen. Es waren mindestens zehn Spanier, die jetzt am Ende der Gasse auftauchten und auf sie zuliefen. Hasard zerrte Ben in eine Türnische und packte den Griff seines Messers. Jetzt tauchten auch die anderen Dons am nördlichen Ende der Gasse auf. Hasard und Ben standen reglos und hielten fast den Atem an, als die zehn Soldaten an ihnen vorbeiklirrten. Es war nicht viel Licht, das von den Laternen der Hauptstraße in die Gasse fiel, aber es war genug, um einen Menschen auf zehn, fünfzehn Schritte erkennen zu können. Und wenn die Dons sie trotzdem nicht bemerkten, dann war es nur dem Umstand zuzuschreiben, daß ihre Aufmerksamkeit von den Kameraden gefesselt wurde, die vom anderen Ende der Gasse auf sie zuliefen. Knapp fünf Yards hinter dem Versteck von Hasard und Ben Brighton trafen die beiden Gruppen aufeinander, und die Männer unterhielten sich wild gestikulierend über die unverständliche Tatsache, daß zwei Männer in dieser kurzen Gasse spurlos verschwunden waren. „Häuser durchsuchen!“ befahl einer, der anscheinend etwas zu sagen hatte. „Ihr fangt am unteren Ende an, wir beginnen oben.“ Wieder trabten sechs, sieben Dons dicht an dem Versteck der beiden Engländer vorbei. Einer von ihnen ging so nahe vorbei, daß sie rochen, wie dringend er sich mal wieder waschen mußte. „Was jetzt?“ flüsterte Ben Brighton. „Am besten, wir hauen uns heraus.“ „Abwarten“, flüsterte Hasard zurück. „Mal sehen, wie das hier läuft.“ Er hatte schon einen vagen Plan, aber den mußte man nach dem Gehör spielen, wenn es soweit war.
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An beiden Enden der Gasse polterten jetzt Pistolengriffe und Hellebardenschäfte gegen die Haustüren. „Öffnen! Im Namen des Königs!“ Zeternde Stimmen aus den Häusern. Kinder begannen ängstlich zu schreien. Eine Frau keifte eine Serie saftiger Flüche. Neben ihrer Türnische flog ein Fensterladen auf. Lichtschein fiel auf die Gasse. Sie hörten leises, erregtes Flüstern, dann wurde der Fensterladen wieder zugeworfen. „Wenn denen einfallen sollte, den Kopf aus der Tür zu stecken, packen wir sie und halten ihnen den Mund zu“, gab Hasard flüsternd Regieanweisung. „Und dann?“ flüsterte Ben zurück. Hasard zuckte mit den Schultern. Das konnte er jetzt auch noch nicht wissen. Vorsichtig streckte er den Kopf vor und blickte nach beiden Seiten. Am oberen Ende der Gasse waren sie jetzt beim dritten oder vierten Haus. Die stärkere Gruppe am unteren Ende durchsuchte bereits das sechste oder siebente. In wenigen Minuten mußten sie hier Sein. Es wurde Zeit, daß er sich etwas einfallen ließ, erkannte Hasard. Den Soldaten schien es Spaß zu bereiten, Leute aus dem Schlaf und aus den Betten zu reißen. Sie hörten amüsiertes Grölen und Lachen, dazwischen Schreie von Frauen, die Flüche von Männern, das Weinen von Kindern. Ein Soldat jagte ein halbnacktes Mädchen die Gasse entlang. Andere Menschen stürzten aus den Häusern, die .von den Soldaten durchwühlt wurden. Der Soldat hatte das Mädchen eingeholt, packte es am Arm und drückte es gegen die Hauswand. Irgendjemand rief ihm zu, er solle sie gefälligst in Ruhe lassen. Murrend und widerwillig wandte der Mann sich ab, spuckte auf den Boden und latschte wieder zu einem der Häuser zurück. „Hör zu, Ben.“ Hasard wußte jetzt, wie sie aus der Falle entwischen konnten. „Ruf den Kerlen zu, sie sollen alle Bewohner auf die Straße treiben, damit sie es beim Durchsuchen leichter haben.“
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Ben Brighton blickte Hasard fragend an, sagte aber nichts. Aus dem Schatten der Türnische rief er in seinem akzentfreien Spanisch: „Herhören, Leute! Treibt das Gesindel auf die Straße! Das Pack steht euch doch nur im Weg herum!“ Ein paar Soldaten, die sich gerade draußen befanden, blickten etwas unsicher in die Richtung, aus der die Stimme ertönt war, die ihnen fremd erschien. Aber offensichtlich war es der Sargento des anderen Haufens gewesen, schlossen sie dann und schrien den Befehl an die Leute weiter, die in den Häusern waren. „Raus mit euch! Schneller! Glaubt ihr, wir wollen die ganze Nacht hier zubringen?“ „Diebsgesindel!“ keifte eine Frauenstimme. „Ihr wollt uns nur weghaben, damit ihr euch ungestört die Taschen vollstopfen könnt!“ Ein klatschendes Geräusch. Der Aufschrei einer Frau. „Raus! Raus!“ Die Soldaten trieben die Menschen mit ihren Hellebarden aus den Häusern. Zwei Minuten später wimmelte es auf der Gasse von Männern, Frauen und Kindern. Eine Alte humpelte an der Türnische vorbei und entdeckte die beiden Männer. „Buenas tardes“, sagte Hasard, und sie traten aus der Nische, als ob sie gerade das Haus verließen. „Zeiten sind das“, sekundierte Ben Brighton geistesgegenwärtig, „nicht einmal nachts hat man seine Ruhe. Wir sind zu Besuch bei unserer Base, und nun muß man das erleben!“ „Ach, Sie sind Vettern von Dolores Pasquale?“ sagte die Alte neugierig. „Ich wußte gar nicht, daß Dolores Vettern hat.“ „Vettern dritten Grades“, sagte Ben und blickte aufmerksam die Gasse entlang. „Was suchen die Soldaten eigentlich, Senora?“ Die Alte strich sich die weißen Haarsträhnen aus der Stirn. „Was weiß ich? Auf jeden Fall sehen sie zu, ob sie was mitgehen lassen können. Einer sagte was von Engländern, die sich hier versteckt haben sollen. Aber ich frage Sie, Senores,
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wie sollen Engländer nach Valencia kommen?“ „Eben. Die Tore sind schließlich bewacht, und wenn sie nicht hergeschwommen sind ...“ Hasard stieß Ben leicht in die Rippen. Zwei Soldaten mit Hellebarden traten auf sie zu. „Wer seid ihr?“ fragte einer von ihnen grob. „Alfonso Garcia“, sagte Ben Brighton, „und das ist ...“ „Die Senores sind Vettern von Senora Pasquale“, unterbrach die Alte scharf. „Wenn ihr zu dumm seid, einen Spanier von einem wasseräugigen Engländer zu unterscheiden ...“ „Hüte deine Zunge, Alte“, sagte einer der beiden Soldaten giftig und gab ihr mit dem Hellebardenschaft einen Stoß vor die Brust, der sie zurücktaumeln ließ. Hasard gab Ben einen verstohlenen Wink, und im Kielwasser der beiden Krieger schlenderten sie durch die aufgeregten, durcheinander wimmelnden Menschen zum oberen Ende der Gasse. Es gab ein paar neugierige, fragende Blicke, aber weder die Bewohner noch die Soldaten stellten irgendwelche Fragen an die beiden Männer, die hinter den beiden Hellebardenträgern einherschlenderten. Die beiden Soldaten verschwanden in einem der ersten Häuser. Wahrscheinlich wollten sie nachsehen, ob sie nicht etwas Mitnehmenswertes übersehen hatten. Hasard und Ben schlenderten ruhig und gemächlich bis zur Ecke und bogen in eine andere Gasse, die noch schmaler und dunkler war als die, aus der sie kamen. „Das war’s“, sagte Hasard grinsend, als sie eine schnellere Gangart einschlugen. „Wir wollen sehen, daß wir möglichst nicht mehr über hellerleuchtete Straßen marschieren.“ „Klar, Hasard. Wir verlieren nur etwas Zeit dabei.“ „Ich weiß. Aber wir verlieren noch mehr, wenn wir noch einmal vor den Spaniern weglaufen müssen.“ Und Zeit war kostbar. Baldwin Keymis würde sich sofort nach Bekanntwerden ihrer geglückten Flucht ein
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Boot mieten und nach der Insel Formentera hinausfahren, um die beiden Kinder dort abzuholen und in ein anderes Versteck zu verschleppen. „Du hättest ihn vor einem Jahr nicht nur etwas Wasser schlucken lassen sollen“, sagte Ben Brighton. „Wenn du ihn damals an die Rah gehängt hättest, wäre -alles nicht passiert.“ „Halte den Mund, verdammt noch mal.“ Es geschah nicht oft, daß Hasard die Beherrschung verlor, und es tat ihm auch sofort leid. „Entschuldige, Ben. Aber meinst du nicht, daß ich mir genau diesen Vorwurf nicht schon ein paar hundert Male gemacht hätte? Ich weiß, daß Gwen noch leben würde und meine Kinder in Sicherheit wären, wenn ich damals hart geblieben wäre.“ Ben drückte Hasards Arm. „So was wie der hängt sich am Ende immer selbst. Aber wenn ich ihn mal in die Finger kriegen sollte ...“ Er preßte Hasards Arm so fest, daß der ihn mit einem leisen Fluch zurückriß. Die Werft lag dunkel vor ihnen. Irgendwo bellte ein Hund. Aber das war ein Stück entfernt und hatte sicher nichts mit ihnen zu tun. Sonst war das einzige Geräusch das leise Rauschen des Regens. Zum zweiten Male in dieser Nacht waren sie dankbar für das Sauwetter. Der Regen war zwar kaum noch mehr als ein leichtes Nieseln, aber er war noch unangenehm genug, um die Wächter in ihrer Bude zu halten. „Ich sehe mich mal um, ob hier irgendwo ein Boot herumliegt“, sagte Hasard leise. Ben Brighton nickte und trat in den Schatten einer halbfertigen Galeere, deren Spantenwerk wie das Skelett eines Riesenfisches wirkte. Er blickte Hasard nach, bis er von der Dunkelheit verschluckt wurde. Dann hob er den Kopf und sah zum Himmel hinauf. Der Gewitterwind hatte die Wolken auseinandergetrieben. Hier und da schimmerten schon Sterne. Der Wind hatte nach Süden gedreht und war etwas abgeflaut, stellte er aus langer Gewohnheit fest.
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Er wandte den Kopf. Irgendwo hinter ihm war plötzlich Licht. In einer Bude, die offensichtlich aus Verschnitt und Abfallholz der Werft zusammengeschlagen worden war, stand jetzt die Tür offen, und das Licht einer Lampe fiel heraus. Ein Mann stand in der offenen Tür, gähnte ausgiebig und starrte mißlaunig in den Nieselregen. Der Wind packte sein langes Hemd und ließ es wie eine Fahne flattern. Der Mann kratzte sich die Nase, gähnte noch einmal, dann hob er mit der linken Hand das Hemd und bewässerte die ohnehin nasse Türschwelle. Ben Brighton drückte sich etwas tiefer in den Schatten des Galeerenskeletts und grinste. Ob nur der Regen den Don davon abhielt, zu diesem Geschäft etwas vom Haus wegzugehen, oder ob er immer die eigene Türschwelle befeuchtete? Der Don ließ sein Hemd wieder fallen, gähnte noch einmal und wandte sich um, um ins warme, trockene Haus zurückzugehen. In diesem Augenblick klirrte irgendwo eine Kette. Der Spanier blieb stehen, starrte ein paar Sekunden lang unschlüssig in das ungemütliche Dunkel, dann langte er sich ein paar Holzschuhe und einen kurzen Spieß und trat heraus. Wieder das leise Klirren aus dem Dunkel, und diesmal erkannte Ben deutlich, daß es vom Ufer ertönte, irgendwo rechts von ihm. Der Spanier blieb ein paar Sekunden stehen, starrte in die Gegend, aus der das Geräusch erklungen war, und senkte vorsichtshalber seinen Spieß. Der Hund begann wieder zu bellen. Der Wächter ging zögernd weiter und rückte immer näher auf Ben zu. „Du bist genau richtig, Hombre“, murmelte Ben leise. „Ich laufe anderen Leuten nicht gern hinterher.“ Der Wächter ging auf Ben zu und in einem Yard Abstand an ihm vorbei. Ben Brighton trat hinter ihn und griff nach der Pistole, um dem Mann eine kleine Narkose zu verpassen. Aber dann überlegte
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er es sich anders. Er tat noch einen Schritt auf ihn zu und tippte ihm auf die Schulter. „Hallo, Hombre.“ Der Spanier fuhr herum, und sein Kiefer klappte herunter. Ben schloß ihn mit einem genau gezielten Schlag auf die Kinnspitze. Der Spieß klirrte zu Boden. Brighton fing den zusammensinkenden Don auf und ließ ihn zu Boden gleiten. „Ben?“ hörte er Hasards Stimme aus dem Dunkel. „Hier.“ Hasard trat auf Ben zu. „Was machst du denn da?“ Ben Brighton war gerade dabei, den Wächter zu fesseln. Dazu hatte er ihm zwei breite Streifen von seinem Hemdsaum abgerissen. „Das Ding war ohnehin viel zu lang“, sagte er, als er sich aufrichtete. „So was trägt doch heute kein Mensch mehr.“ Hasard runzelte die Stirn. „Verdammter Mist. Spätestens bei Morgengrauen wird jemand den Kerl finden.“ „Bis dahin sind es immerhin noch fast drei Stunden. Das sollte uns reichen. Hast du ein Boot?“ Hasard nickte, und sie setzten sich in Bewegung. „Was man so Boot nennt.“ Es war ein fünfzehn Fuß langer, flachbordiger Kahn mit einem rattenzernagten Segel. In der Bilge schwappte dreckiges Hafenwasser, in dem einer der beiden Riemen schwabberte. „Ein Glück, daß wir keine größere Reise vorhaben“, sagte Ben Brighton skeptisch. „Aber bis zu den Columbretes wird es vielleicht zusammenhalten.“ 6. Die Spanier entdeckten die „Isabella“ kurz nach Dämmerungsbeginn. Sofort nachdem der alte Fischer ihnen von den beiden Engländern berichtet hatte, die er von Bord eines bewaffneten Schiffes abgeholt und nördlich von Valencia an der Küste abgesetzt hatte, begann auch die Suche nach der Galeone.
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Drei Patrouillen von je zwei Kriegsschiffen wurden losgeschickt, um das ganze Seegebiet vor der Küste abzusuchen. Als erstes liefen zwei Galeeren aus, die das südliche Küstengebiet bis zum Cap de la Nao kontrollieren sollten. Ihre Besatzung war an die Ruderbänke angeschmiedet und brauchte nicht in den Hafenkneipen zusammengetrommelt werden, wie die der Segelschiffe. Der zweite Verband, der aus einer Karavelle und einer Karacke bestand, hatte den Befehl, den Küstenabschnitt nördlich von Valencia bis nach Castellon de la Plana abzusuchen. Die beiden Galeonen der dritten Patrouille konnten erst kurz vor zwei Uhr nachts auslaufen. So lange hatte es gedauert, bis man wenigstens den größten Teil der Mannschaft aus Kneipen und fremden Betten geholt hatte. An sich sollten die beiden Schiffe den mittleren Abschnitt direkt vor der Stadt absuchen und gleichzeitig eine Art Vorpostendienst übernehmen. Die Dons hielten es durchaus für möglich, daß dieser Killigrew mehrere Schiffe kommandierte, um einen Überraschungsangriff auf den wichtigen Hafen zu unternehmen. Aber Baldwyn Keymis hatte es verstanden, dem Kapitän der „Santa Eusebio“ klarzumachen, daß der verhaßte englische Pirat sein Schiff wahrscheinlich in einem der fjordartigen Buchten von Thisa oder Formentera versteckt hatte. Keymis selbst hielt natürlich nicht viel von dieser Wahrscheinlichkeit, aber auf diese Weise kam er zu einer raschen und billigen Überfahrt zu der Insel, auf der Burton die Zwillinge Killigrews versteckt hielt. Der zweite Verband hatte bei gutem, achterlichem Wind die Nordgrenze seines Suchgebietes gegen vier Uhr morgens erreicht und lief auf Ostkurs von der Küste ab. Dabei ging es, dem Kapitän der Karacke, der Verbandsführer war, nicht nur darum, den küstenferneren Teil seines Suchgebiets abzukämmen, sondern auch um seine Bequemlichkeit. Wenn er etwa zwanzig Meilen von der Küste ablief, lag Valencia genau südwestlich, und er konnte
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es am Südwind segelnd erreichen, ohne kreuzen und die Leute ständig in die Brassen schicken zu müssen. Der Capitan lehnte an der Balustrade des Achterkastells und starrte mißmutig zu den Umrissen der Islas Columbretes hinüber, die sich gegen das erste, fahle Grau der Morgendämmerung abzeichneten. Er würde nördlich an den Inseln vorbeisegeln und erst hinter ihnen auf Südostkurs gehen. Am Westrand der Columbretes gab es heimtückische Riffe, denen man besser weit aus dem Weg ging. Und nur diesen Klippen war es zu verdanken, daß der Ausguck im Großmars kurz nach Dämmerungsbeginn die „Isabella“ sichtete. Art sich war das Schiff nach allen Seiten durch die Granitklippen vegetationsloser Felseninseln getarnt. Und auch die etwas niedrigere Insel nördlich von ihrem Ankerplatz, die wie ein langgestreckter Saurierrücken aussah, hätte normalerweise ausgereicht, um das Schiff vor Entdeckung, zu schützen. Aber die überhohen Masten der „Isabella“ ragten über den Saurierrücken hinaus, und der Mann im Großmars .der spanischen Karacke gehörte zu den wenigen, die nicht verkatert waren. * „Zwei Schiffe in West!“ schrie Luke Morgan aus dem Großmars der „Isabella“, als er die spanische Patrouille sichtete. Der drahtige Morgan, ein Deserteur der britischen Armee, hatte fast so gute Augen wie Dan O’Flynn. „Halten Kurs auf den Nordrand des Archipels!“ Dan O’Flynn, der in zwei Decken gewickelt vor dem Ruderhaus gedöst hatte, sprang sofort auf. „Entfernung?“ „Eine Meile ungefähr. Schlecht zu sagen bei dem Licht.“ „Ich weiß.“ Dan hatte genügend eigene Erfahrung auf diesem Gebiet. In der Dämmerung konnte man gewaltig danebenhauen. Als er noch grün war, hatte er sogar einmal die aufgehende Venus für die Mastlaterne eines Seglers gehalten.
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„Ed!“ Der Profos trabte über das Deck. „Ja, Dan?“ „Zwei Dons im Anmarsch, Ed. Wahrscheinlich Suchpatrouille. Können in zehn, fünfzehn Minuten nördlich vorbeilaufen.“ „Oder auch nicht, das willst du doch sagen, nicht wahr?“ Dan nickte. „Wenn die wach sind, laufen sie zwischen den Inseln entlang und sehen sich ein bißchen um.“ „Wenn sie wach sind, schon. Und was hast du vor?“ Trotz der Vertraulichkeit lagen Achtung und Respekt in Carberrys Stimme. Er kannte Dan, seit er als Junge an Bord gekommen war und hatte ihm einige Male den Hintern mit dem Tauende gegerbt, aber jetzt war Dan nicht nur der Stellvertreter Philip Hasard Killigrews, den der Kapitän selbst bestimmt hatte, sondern er hatte auch seemännisches Können und Geschick bewiesen, das den Erfahrungen des alten Profos weit überlegen war. „Beide Anker klar zum Einholen. Laß Äxte bereit legen, falls wir es sehr eilig haben und kappen müssen. Gefechtsbereitschaft für alle, kein Licht und absolute Ruhe. Du kennst die Routine ja.“ „Aye, aye.“ Während Carberrys blumiges Vokabular das Deck erzittern ließ, holte sich Dan den Kieker aus dem Ruderhaus und enterte die Wanten zum Großmars hinauf. Mach dich nicht so dick, Luke“, sagte er zu Morgan, als er zu ihm in den Mars kletterte. „Jeder wie er kann.“ Der dunkelblonde Luke Morgan grinste. „Da drüben sind sie.“ Er deutete nach West-Nordwest. „Das seh ich selbst.“ Dan zog das Fernrohr aus und hielt es mit beiden Händen vor das rechte Auge. In mehr als zehnfacher Vergrößerung waren die Linien von Rumpf und Besegelung der beiden Schiffe ziemlich klar zu erkennen. „Die vordere ist eine Karacke“, murmelte er. „Die zweite wahrscheinlich eine Karavelle.“ Mit Sicherheit auf der Jagd nach der „Isabella“. Was wollten sie sonst
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um diese Zeit bei diesen gottverlassenen Inseln? „Al!“ schrie er hinunter. Der Stückmeister richtete sich hinter einer der Backbord-Culverinen auf und starrte zu Dan herauf. „Laß vier Stück auf jeder Seite mit Schrott laden.“ Unter „Schrott“ verstanden sie an Bord der „Isabella“ gehacktes Blei, alte Schrauben und Nägel und anderes Zeug. So eine Ladung hatte eine mörderische Wirkung, wenn sie über das Deck eines Schiffes fegte. „Aye, aye, Dan!“ Von hier oben wirkte das Deck der „Isabella“ wie ein schmales Brett, auf dem aufgestörte Ameisen planlos hin und her liefen. Aber die Ameisen waren Männer, und jede ihrer Bewegungen war zielstrebig und routiniert. Dan sah, wie die sechzehn Siebzehnpfünder-Culverinen an beiden Bordwänden geladen und ihre Mündungen durch die geöffneten Stückpforten gewuchtet wurden. Lunten wurden neben den Kanonen aufgehängt und verdeckte Kohlebecken bereitgestellt, in denen sie angezündet werden sollten. Aus einem weiteren Kohlebecken am Bug sah er leichten Rauch aufsteigen. In ihm würden nicht nur die Lunten der beiden vorderen Drehbassen angesteckt werden, sondern vor allem die Brandpfeile Big Old Shanes und Batutis, die ihre gewohnte Gefechtsposition auf der Back eingenommen hatten und ihre gewaltigen Bögen klarmachten. „Gegner peilt Nord-Nordwest. Entfernung achthundert Yards“, meldete Luke Morgan. „Neunhundert“, korrigierte Dan. Die beiden Dons waren etwas nach Norden abgefallen, um den Nordschelf der Inselgruppe zu umfahren. Er blickte wieder durch das Fernrohr zu der Karacke hinüber, die zweihundert Yards vor der Karavelle lag. Sie hatte alles Tuch gesetzt, das ihre drei Masten tragen konnten.
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Und sie hatte einen Ausguck im Großmars! Deutlich hoben sich Kopf und Oberkörper eines Mannes gegen den heller werdenden Himmel ab, und er schien zu den Inseln herüberzustarren. Wohin sollte er auch sonst blicken? „Ed!“ „Dan?“ „Klar bei Anker!“ „Aye, aye!“ Er sah Carberry zum Heck traben. Er hatte beide Heckanker ausbringen lassen, damit das Schiff vor dem Wind lag, falls er es eilig haben sollte. Die Segel waren nicht aufgegeit worden, sondern er hatte nur die Rahen in den Wind brassen lassen. Notfalls würde es Sekunden dauern, die Bäume herumzufieren und die Segel vor den Wind zu bringen. Und dieses Notfalls konnte wahrscheinlich innerhalb der nächsten zwei Minuten eintreten. Es geschah sogar noch eher. Als Dan wieder das Fernrohr ansetzte und zu der Karacke hinüberblickte, sah er deutlich, wie der Mann im Ausguck sich überrascht vorbeugte, sich dann halb aufrichtete und mit ausgestrecktem Arm in ihre Richtung zeigte. Sie waren entdeckt! „Anker auf und Segel vor den Wind brassen!“ Er schwang sich über den Rand des Marses und kletterte die Wanten hinab. Aus einer Höhe von drei Yards ließ er sich auf das Deck fallen. „Lunten anstecken! Klar zum Feuern!“ hörte er Al Conroy brüllen. Vom Heck hörte er das Knarren des Gangspills, mit dem die Ankertrossen eingehievt wurden. ‘ „Rum mit den Rahen, ihr karierten Affenärsche!“ tönte Carberrys gewaltiges Organ über das Deck. „Wie lange dauert es noch, bis ihr die Dinger beigezurrt habt! Mit solchen Hölzchen hat sich mein erster Kapitän die Bratenreste aus den Zähnen gepolkt!“ Als Dan auf das Achterkastell trat, stand der Backbordanker bereits auf und nieder. „Steuerbordanker sitzt fest!“ meldete jemand. „Kappen!“ schrie er zurück.
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Die Segel standen jetzt prall im Wind, und der ungeheure Druck spannte die schenkeldicke Ankertrosse zum Zerreißen. Dan hörte dumpfe Axtschläge und ein paar saftige Flüche. „Wo stehen die Dons?“ rief er zum Großmars hinauf. „Die Karacke ist in den Wind gegangen und dreht zurück. Die Karavelle ist bei der Nordwestinsel und geht anscheinend auf Südkurs!“ Dan grinste. Die Dons wollten sie in die Zange nehmen. *Wahrscheinlich nahmen sie an, daß sie unbemerkt geblieben waren und wollten ihn mit der Karavelle nach Norden abdrängen, direkt vor die Rohre der dort lauernden Karacke. Umgekehrt wird ein Schuh draus, überlegte er amüsiert. Jetzt hatten die Dons ihre Kräfte zersplittert, und er konnte sich beide Schiffe einzeln vornehmen. „Wie lange dauert es denn noch mit dem verdammten Anker?“ Mit peitschendem Knall zerbarst die Ankertrosse, und die „Isabella“ scholl mit einem Ruck voraus durch den schmalen Kanal zwischen zwei Inseln in ein breiteres Becken, vor dem der Saurierrücken der langgestreckten Insel wie ein Riegel lag. Dan atmete auf. Wie jedem Seemann bereitete ihm allzu große Landnähe eine Art Platzangst. Und zwischen zwei Inseln, ohne Raum zum Manövrieren, von einem Feind gestellt zu werden, war für ihn ein Alptraum. „Wo steht die Karacke, Luke?“ rief er zum Großmars hinauf. „Hat auf Südwest gedreht und kreuzt auf das westliche Ende der Insel zu.“ Sein Vorteil, erkannte Dan sofort. Der Spanier mußte ziemlich hart an den Wind gehen. Deshalb auch der längere Weg zum westlichen Ende der Saurier-Insel. Er mußte den Don stellen, bevor er die Insel erreicht hatte, um seinen Windvorteil zu nutzen. „Kurs Nordwest, Pete!“ rief er dem Rudergänger zu. „Al! Bugdrehbassen eröffnen das Feuer, sowie wir um die Nase herum sind! „Aye, aye!“
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„Falls wir noch lassen genug übrig für Feuer!“ rief der schwarze Batuti zurück und hob seinen riesigen Bogen. „Wir selbst machen Feuer!“ „Entfernung sechshundert Yards“, meldete Luke aus dem Großmars. „Schiff steuert Südwest.“ Wenn wir etwas nach Backbord abfallen, kriegen wir ihn genau vor die Steuerbordbreitseite, überlegte Dan. „Steuerbordseite klar zum Feuern !“ Die acht Kanoniere griffen nach den Lunten, bereit, die glimmenden Enden auf das Zündloch ihrer Culverinen zu drücken. „Schiff dreht auf uns zu!“ rief Luke aus dem Mars. „Scheiße!“ fluchte Dan leise. Anscheinend hatte der Spanier Kurs und Absicht erkannt und auf Kollisionskurs gedreht, um das schmale Profil zu zeigen. Oder um sie zu rammen! Dan biß die Zähne aufeinander, und seine Hände umklammerten die Balustrade. Wenn er seinen Kurs beibehielt, konnte der Spanier vor seinem Bug vorbeilaufen und ihm den Windvorteil nehmen. Oder. der „Isabella“ den Bug in die Flanke rammen. „Pete!” Dan lief zum Ruderhaus. „Schere so knapp wie möglich an der Nordkante der Insel vorbei. Warte auf mein Kommando. Verstanden?“ Pete Ballie nickte. „Hoffentlich sind keine Riffe vor der Nase.“ „Hoffentlich“, sagte Dan halblaut, und es klang fast wie ein Gebet. Er wußte, daß er sehr hoch spielte und die „Isabella“ riskierte. Aber ein Rammstoß der Karacke wäre für das Schiff genauso tödlich, als wenn ihm ein Unterwasserfelsen den Bauch aufschlitzte. „Luke!“ rief er zum Großmars hinauf. „Wie ist die Lage?“ „Der Don liegt noch immer auf Südwestkurs und hält auf das westliche Ende der Insel zu.“ „Entfernung?“ „Fünfhundert Yards.“ Wenn sie hart an der Felsennase ‘nach Osten abdrehten, konnten sie den Don vor eine ihrer Breitseiten kriegen. Die
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„Isabella“ war noch knapp zweihundert Yards von der Nase entfernt. „Zwei Strich Steuerbord, Pete. Näher an die Küste ‘ran!“ Pete Ballie hob die buschigen Brauen, sagte aber nichts, sondern drehte das Rad eine halbe Umdrehung nach rechts. Fünfzig Yards bis zur Nase am Westende der Insel. Dan starrte an der Steuerbordseite des Schiffes ins Wasser. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber es war inzwischen hell genug geworden, um die hellen Sandflächen auf dem Meeresboden erkennen zu können. Zwischen den hellen Sandflächen waren dunkle, ins Nachtblau spielende Zacken und Felsrücken. Die Nase! Und hinter ihr kam der Spanier in Sicht. Auch er riskierte seine Bodenplanken und hielt sich ziemlich nahe an der Felsküste der Insel. Näher, als Dan es erwartet hatte. „Hart Steuerbord, Pete! Rum mit den Segeln!“ Das Schiff drehte wie auf einem Teller. Die Rahen wurden herumgebraßt, und der jetzt von Steuerbord einfallende Wind krängte das Schiff etwas nach Backbord. Der Spanier ahnte, daß Dan plante, ihn vor seine Backbordkanonen zu bekommen, und fiel hastig nach Norden ab. Und im Drehen donnerten seine eigenen Backbordkanonen, genau in dem Augenblick, als im Osten der obere Rand der Sonne über die Kimm stieg. Vom Bug schwirrten die ersten Brandpfeile auf die Karacke zu. Aber während sie in der Luft waren, wurden drüben die Rahen herumgebraßt. Die Pfeile zischten zwischen den Segeln hindurch und klatschten ins Wasser. Der Spanier lag jetzt fast auf Nordkurs und vor dem Wind. Knapp fünfzig Yards vor dem Steuerbordbug der „Isabella“. „Hart Backbord, Pete!“ „Hart Backbord.“ „Shane! Haltet die Kerle an den Heckdrehbassen in Schach. Ich will dem Don das Ruder wegsegeln!“ Gebannt starrten die Männer auf den nach Backbord schwingenden Bug der
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„Isabella“ und auf das Heck des Spaniers, der ebenfalls nach Backbord drehte, um dem Rammstoß der „Isabella“ zu entgehen. Die Drehbassen auf dem Bugkastell dröhnten, und zwei Petarden von gehacktem Blei fetzten über das Heck des Spaniers. Zwei Männer an den Drehbassen brachen zusammen, eins der kleinen Geschütze wurde aus seiner Verankerung gerissen und polterte auf die Decksplanken. Ein Brandpfeil Batutis fuhr in das Besansegel der Karacke. Zischend ging die Pulverladung hoch, und Sekunden später loderten Flammen aus der Leinwand. „Backbord, Pete!“ Der Spanier versuchte, seinen Hintern wegzudrehen wie eine schüchterne Jungfrau. Noch zehn Yards. Deutlich sah Dan das lange Ruderblatt in der kabbeligen See. Noch fünf Yards. Im Heckfenster des Spaniers erschien das wutverzerrte Gesicht eines Dons. Er riß eine Pistole hoch und legte sie auf Shane an. Eine der Drehbassen war wieder geladen, und bevor der Spanier abdrücken konnte, riß ihn eine Ladung gehackten Bleis mitsamt dem Fenster in Stücke. „Festhalten!“ dröhnte die Stimme Carberrys. Krachend rammte die Backbordbugseite der „Isabella“ das Heck des Spaniers. Lautes Knirschen und Brechen unter dem Kiel, als das Ruderblatt in Trümmer ging. Die Karacke wurde von der Wucht des Anpralls nach Backbord geschleudert und schoß in den Wind. Ihr Heck war aufgerissen und zersplittert, der Besan brannte, und Batuti und Shane schickten ihr noch ein paar Brandpfeile in die Segel des Hauptmastes. „Weg von den Riffen, Pete!“ rief Dan. „Das brauchst. du mir nicht zweimal zu sagen!“ rief Pete Ballie zurück und brachte das Schiff vor den Wind. „Schwein gehabt, Dan.“ „Das auch“, sagte Dan O’Flynn und starrte zu dem Spanier hinüber, der mit
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brennenden Segeln schwabberte.
vor
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Riffen
7. Die Breitseite der Karacke dröhnte über das Wasser. Hasard und Ben waren mit ihrem Boot noch knappe fünf Meilen südwestlich der Columbretes. Als das Echo der Salve verhallt war, blickten die beiden Männer einander eine Sekunde lang schweigend an. „Sie haben die ‚Isabella’ gefunden“, sagte Ben Brighton dann leise. Hasard antwortete nicht. Er saß an der Pinne des altersschwachen Bootes, die Schot des Lateinersegels in der linken Hand und hob lauschend den Kopf. Es blieb still. Keine weiteren Kanonenschüsse. Warum nicht? Hatten die Spanier die „Isabella“ überrascht und mit einer einzigen Breitseite das Gefecht entschieden? Eine andere Erklärung gab es eigentlich nicht für diese Salve ohne Echo. Er blickte Ben an, der im Bug des Bootes hockte und zu den Inseln hinüberstarrte, deren Konturen sich scharf wie ein Scherenschnitt gegen das Rot der aufgehenden Sonne abzeichneten. „Sieh mich nicht so an“, knurrte Hasard schließlich. „Ich weiß genau, was du sagen willst.“ Es war vielleicht doch ein Fehler gewesen, dem unerfahrenen Jungen die Verantwortung für das Schiff aufzuladen. Noch eine gute Stunde bis zu den Inseln, überlegte er, und er wünschte, schon eine Stunde älter zu sein. Dreißig Minuten schleppten ihre Sekunden. Die beiden Männer sprachen kein Wort. Schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken, in seine eigenen Ängste versunken, starrten sie zu den Inseln hinüber, die im Licht der höhersteigenden Sonne Konturen und Farben erhielten. „Hasard!“ Ben hatte sich halb erhoben und deutete voraus, auf eine flachere Insel, die den südlichen Rand der Gruppe bildete.
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Hasard kniff die Augenlider zusammen. Und dann erkannte er über dem Rücken der Insel drei dunkle, senkrechte Striche. Striche, die sich nach Osten bewegten! Die Maststengen eines Schiffes! Wieder Schweigen. Atemloses Schweigen. Hasard und Ben starrten zu den drei Strichen hinüber, die sich mit quälender Langsamkeit auf den Ostrand der Insel zubewegten. Drei Minuten später erschienen die Rahen der beiden vorderen Masten über dem abgeflachten Ostrand der Insel, und dann tauchten Bug und Vorschiff hinter ihr hervor. „Verdammter Mist“, sagte Ben Brighton leise, und es klang wie ein Stöhnen. Bei Hasard reichte es nicht einmal zu einem Fluch. Er stieß nur den angehaltenen Atem aus den Lungen, als er erkannte, daß das Schiff nicht die „Isabella“ war. Also war seine Vorahnung richtig gewesen: diese Karavelle hatte die „Isabella“ überraschen und mit einer einzigen Breitseite versenken oder mindestens kampfunfähig schießen können. „Die Männer“, sagte er. „Wir müssen die Männer retten. Sie können doch nicht alle tot sein.“ „Natürlich nicht. Aber bis wir alle diese Inseln abgesucht haben, ist Keymis mit deinen Jungen über alle Berge.“ Hasard nickte. „Wahrscheinlich. Aber zuerst muß ich mich um die Besatzung kümmern. Das bin ich den Männern schuldig.“ Die Karavelle war auf ihrem Kurs geblieben und nach Passieren der Insel nur um ein paar Grad nach Süden abgefallen. Jetzt sah Ben Brighton, wie die Rahen herumgebraßt wurden und das Schiff nach Südwest drehte, genau auf sie zu. „Sieht aus, als ob wir Besuch kriegen“, sagte Ben Brighton voller Galgenhumor. Hasard antwortete nicht. Er starrte ein paar Sekunden lang zu der Karavelle hinüber, dann drückte er die Finne nach Steuerbord und gab Lose auf die Schot, bis das Segel quer zum Bootskörper im achterlichen Wind stand. „Wenn wir Dusel haben, sind wir vor dem Don im flachen Küstenwasser“, erklärte er.
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„Und was bringt das?“ „Zumindest können sie uns dann nicht mehr mit ihren Kanonen aus dem Wasser blasen.“ Woher wußten die Spanier, daß er und Ben in diesem morschen Kahn saßen? Wahrscheinlich von Männern der „Isabella“. Aber die würden freiwillig keinen Ton reden. Also hatte man sie gefoltert. Sicher an Bord dieser Karavelle. Vielleicht be- fanden sich noch immer Überlebende seiner Mannschaft auf dem Schiff. Oder die Dons hatten mal versucht, logisch zu denken, fiel ihm ein. Sie waren ausgelaufen, nachdem seine Flucht aus Valencia bekannt geworden war. Logischerweise würde ein Kapitän in jedem Fall versuchen, sein Schiff zu erreichen, und was hatte ein anderes Boot um diese Stunde bei den Inseln zu suchen? Eine nur vage Möglichkeit, aber er klammerte sich daran, weil er glauben wollte, daß wenigstens ein Teil seiner Männer noch lebte. Die Karavelle fiel noch ein paar Grad nach Norden ab. Die Spanier schienen Hasards Absicht durchschaut zu haben und wollten dem Boot den Weg ins Uferwasser abschneiden. Vielleicht gelang es ihm, die Dons auf ein Riff zu locken, überlegte Hasard und starrte über den Bordrand ins Wasser. Aber noch war er zu weit vom Ufer der Insel und dem Schelf entfernt, um Bänke oder Riffe unter dem Kiel zu haben. Ein Schuß dröhnte über das Wasser. Hasard sah aus einer der Stückpforten der Karavelle Rauch quellen. Gut hundert Yards an Steuerbord spritzte eine Wasserfontäne auf. Sie waren noch ein gutes Stück außer Reichweite der Kanonen. Es war nur ein Warnschuß, mit dem die Spanier sie zum Aufgeben zwingen wollten. „Wir können es schaffen, Ben“, sagte er, nachdem er mit einem Blick ihren Abstand zur Insel und zu dem Spanier abgeschätzt hatte. „Vielleicht - wenn wir mehr Glück haben, als wir verdienen.“ Ben Brighton schüttelte
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skeptisch den Kopf. „In einer Minute können sie uns mit ihren Drehbassen beharken, und dann ist das Feuer aus!“ Der erste Schuß dröhnte schon eine halbe Minute später. Auch diese Kugel lag zu kurz. Aber nur noch knappe zehn Yards. Wieder donnerte ein Schuß. Aber Hasard sah keinen Rauch auf dem Bugkastell des Spaniers aufsteigen. Und hinter ihm ... „Ben!“ Mehr brachte Hasard nicht heraus. Er hatte sich halb erhoben und deutete auf den Bug des Schiffes, das bis jetzt von der Karavelle verdeckt worden war. „Die ‚Isabella’, flüsterte Ben Brighton, und plötzlich standen in seinen Augen Tränen. Wieder rollte ein Donner über das Wasser. Und dieses Mal war es das Grollen einer Breitseite. Kettenkugeln und gehacktes Blei fetzten in die Segel des Spaniers. Der Hauptmast knickte auf halber Höhe ein, Rah und Großsegel stürzten an Deck, und die Leinwand deckte Tote und Verwundete zu wie ein riesiges Leichentuch. Zu spät erholten sich die Dons von ihrer Überraschung. Eine der Heckdrehbassen ballerte los. Aber noch bevor die Kanone neu geladen werden konnte, fegte eine Petarde die Bemannung vom Heckkastell. Die „Isabella“ hatte nach Westen gedreht und lief mit Kollisionskurs auf die Karavelle zu. „Was hat der Bengel denn vor? Will er den Don etwa rammen?“ Ben Brighton war aufgestanden und starrte zu den beiden Schiffen hinüber. „Warum denn nicht?“ sagte Hasard ruhig. „Du warst doch der Meinung, daß Dan noch zu wenig Erfahrung hat. Jetzt sammelt er welche.“ „Aber doch nicht...“ Er brach ab, als plötzlich Flammen am Besansegel des Spaniers emporzüngelten. Er kniff die Lider zusammen, und jetzt sah er deutlich zwei Männer auf der Back der „Isabella“, die ihre riesigen Bogen spannten und wieder zwei Brandpfeile losschwirren ließen. Einer von ihnen zischte über das Deck des Spaniers und setzte die Fock in Brand. Der andere fuhr in das zusammengefallene
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Großsegel, und seine Pulverladung ließ auch hier Flammen aufflackern. „Der ist hin“, murmelte Ben Brighton. „Warum dreht Dan nicht ab? Was willst du denn noch, Junge?“ rief er fast beschwörend. Hasard kniff die Augen zusammen. Jeden Augenblick mußte der Bug der „Isabella“ ins Heck der Karavelle krachen. Seine rechte Hand umkrampfte die Pinne, und er fühlte, wie seine Handflächen feucht wurden. Jetzt! In letzter Sekunde fiel die Galeone nach Backbord ab, und als sie mit knapp acht Yards Abstand den Spanier passierte, brüllten nacheinander die acht Culverinen der Steuerbordbatterie auf. Schwere Eisenkugeln und gehacktes Blei zerfetzten das Heck der Karavelle. Das Kastell brach zusammen und riß den brennenden Besanmast mit sich auf das Deck, das jetzt zu einem feurigen Inferno geworden war. „Bravo, Dan.“ Hasard nickte anerkennend und blickte zu seinem Schiff hinüber, das jetzt von dem brennenden Spanier ablief. „Ich hab ja immer gewußt, daß aus dem Jungen noch mal ein erstklassiger ...“ „Hasard! Paß auf! Wir sind ...“ Es war zu spät. Ein harter Ruck lief durch das Boot. Hasard hörte das widerliche Geräusch brechender, splitternder Planken. Ein paar Augenblicke starrte er auf die dunkle, scharf kantige Klippe, die sich durch die morschen Bodenbretter des Kahns gebohrt hatten. Dann begann er schallend zu lachen. „Wenn ich das jemandem erzähle! Ein halbgarer Junge schickt ein spanisches Kriegsschiff zur Hölle, und währenddessen setzt der Kapitän einen alten Kahn auf Grund!“ „Und ich kann wieder mal schwimmen. Und meine Klamotten fingen gerade an, ein bißchen trocken zu werden.“ * „Eigentlich wollte ich ihm auch das Ruder wegsegeln“, erklärte Dan O’Flynn, als sie in der Kapitänskammer der „Isabella“
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saßen. „Ich wollte mal sehen, ob ich bei dem anderen nur Schwein gehabt hatte, oder ob es wirklich Können war.“ „Und was war’s?“ fragte Hasard. „Können.“ „Na also.“ „Aber nicht meins, sondern das Pete Ballies“, gab Dan offen zu. „Und das brauchte ich schließlich nicht unter Beweis zu stellen.“ „Da hast du recht. Und deshalb bist du abgefallen und hast ihnen eine Breitseite ins Heck verpaßt, nicht wahr?“ Dan O’Flynn schüttelte den Kopf. „Nein. Ich wollte mit den Männern die rollende Salve an einem durchlaufenden, begrenzten Ziel üben.“ Philip Hasard Killigrew blickte Ben Brighton an, der schweigend an seinem Grog genuckelt hatte, und hob triumphierend die Brauen. Er hatte recht behalten: Dieser Junge hatte das Zeug zu einem erstklassigen Seemann. * Sofort nachdem Hasard und Ben Brighton aus dem Wasser gefischt und an Bord genommen worden waren, hatte die „Isabella“ Kurs Südwest genommen, auf die östlichen Balearen-Inseln zu. Es hätte keinen Sinn gehabt, noch mehr Zeit zu verlieren. Die brennende Karavelle lag wenige hundert Yards vom Ufer entfernt, und die Überlebenden konnten sich auch ohne Hilfe an Land retten. Als Hasard kurz darauf auf das Achterdeck trat, sah er die Columbretes-Inseln gerade im Dunst des Horizonts verschwinden. Der Wind hatte aufgefrischt und auf Südwest gedreht. In spätestens vier Stunden würden sie Ibiza und die südlich vorgelagerte Insel Formentera erreichen. Vor Keymis, wenn wir Glück haben, dachte er. Aber dann fiel ihm ein, daß sie für diesen Tag davon schon mehr als die ihnen zustehende Portion verbraucht hatten. 8.
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Zu dieser Zeit war Keymis überzeugt, daß ihm das Glück seit mehr als vierundzwanzig Stunden verdammt viel schuldig geblieben sei. Und dabei hatte alles so gut angefangen, überlegte er und starrte auf die langen Ohren des Esels, der den Karren zog, auf dem er hinter einer Ladung Kornsäcken von San Antonio Abad quer durch die Insel Ibiza zur Südküste schaukelte. Es war ihm endlich gelungen, diesem Tölpel Burton seinen Plan schmackhaft zu machen, wie sie Killigrew durch die entführten Kinder unter Druck setzen konnten, ohne dabei das eigene Fell zu riskieren. Eben um diese Aktion zu starten, war er ja gestern mittag in Valencia eingetroffen. Aber bevor er etwas unternehmen konnte, hatte er erfahren, daß der Seewolf und einer seiner Männer heimlich an der Küste gelandet wären. Und als er glaubte, die beiden erwischt zu haben, waren sie ihm durch die Lappen gegangen. Daß er den Kapitän der „Santa Eusebio“ überreden konnte, seinen Suchabschnitt bis zu den westlichen Balearen-Inseln auszudehnen, stellte sich jetzt als ein sehr zweifelhafter Erfolg heraus. Wütend über die vergebliche nächtliche Jagd, zu der man ihn aus dem Bett einer noch sehr neuen Freundin geholt hatte, sah der Spanier keine Veranlassung, Keymis von den Unannehmlichkeiten dieser Patrouillenfahrt zu entbinden. Gelassen hörte- er sich die Tiraden des Engländers an, als die Galeone die Insel Formentera umrundete, und erst lange nach Sonnenaufgang, als die „Santa Eusebio“ die Nordwestküste von Ibiza erreicht hatte und die Heimreise nach Valencia antreten wollte, war er bereit, ihn an Land setzen zu lassen. Das war der Grund, warum er jetzt, am frühen Nachmittag, schwitzend und übermüdet hinter den Säcken eines Bauern hockte, der Korn zum Hafen brachte. Billig war die Überfahrt noch immer gewesen, dachte er bitter, aber Zeit hatte er dadurch nicht gespart. Im Gegenteil, er wäre längst bei Burton und den Kindern,
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wenn er sich irgendein Fischerboot gemietet hätte. Jetzt konnte er frühestens um vier Uhr bei ihrem Versteck sein. Er glaubte zwar nicht, daß Killigrew vor ihm dort eintreffen würde, aber diesem verdammten Bastard war alles zuzutrauen. * Sie hockten in der einzigen Hütte, die abseits des Fischerdorfes am Südufer der Insel Formentera stand. Pepe Castro hatte sie sich aus den starken Bohlen eines Schiffswracks gezimmert, ein festungsartiges, fensterloses Haus mit schmalen Luftschlitzen, die auch als Schießscharten dienen konnten. „Sie haben ihn vor fünf Jahren aus dem Ort gejagt und sein Haus angesteckt“, sagte die zwanzigjährige Maria und blickte wieder zu den Zwillingen hinüber, die auf einer Strohschütte in der Ecke schliefen. „Warum?“ fragte Sir Freemont. „Er soll ein Hexer sein, sagen die Leute. Sie haben ihn dafür verantwortlich gemacht, wenn der Fang schlecht war, wenn die Ziegen keine Milch gaben, wenn ihre Kinder krank wurden oder starben.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich kann verstehen, daß er alle Menschen haßt und sich hier vergraben hat.“ Sir Freemont nickte und fuhr mit der Hand über sein Kinn. Sein gepflegter Spitzbart war in den vergangenen Wochen zu einem wilden Gestrüpp geworden, seine Kleidung zu verdreckten Fetzen. Es war Zufall, daß er noch lebte, nachdem Burton und Keymis das Haus der Fucárs überfallen hatten, bei denen er und die Zwillinge untergebracht waren. Sie hatten das französische Ehepaar brutal umgebracht, und das wäre auch sein Schicksal gewesen, wenn Philip und Hasard, die beiden Zwillinge, nicht krank gewesen wären. Diesem Umstand verdankte er also sein Leben - und seine jetzige Lage. Er blickte sich in dem kahlen, fensterlosen Gelaß um, das seit mehreren Wochen ihr Gefängnis war: Strohschütten und ein paar dreckstarrende Decken auf dem
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Lehmboden, in der Ecke eine Steinkruke mit Wasser, eine wackelige Bank, ein halbverfaulter Tisch, der offensichtlich einmal als Strandgut ans Ufer der Insel gespült worden war, Überbleibsel eines längst untergegangenen Schiffes. Aber noch immer besser, als in Nordfrankreich verscharrt zu liegen, dachte er. Und außerdem hätte er sich auch freiwillig zusammen mit Hasards Zwillingen einsperren lassen. Er hatte für die Kinder die Verantwortung übernommen, als Gwen Killigrew im Sturm umgekommen war, und vom ersten Augenblick an galt seine ganze Sorge einzig und al- lein dem Wohlergehen ihrer Kinder und der Suche nach einer Möglichkeit, sie zu befreien. Mit Sicherheit hätten sie die Strapazen, denen die Entführer sie ausgesetzt hatten, nicht überlebt, wenn er nicht ständig an ihrer Seite gewesen wäre. Besonders der Jüngere war ziemlich anfällig für Erkrankungen. Obgleich Philip nur eine knappe Stunde jünger war als sein Zwillingsbruder, wirkte er schwächer und zarter als Hasard. Aber Kinderkrankheiten sind fast immer ansteckend, und als Philip vor vier Tagen wieder Fieber kriegte, wurde kurz darauf auch der robustere Hasard krank. „Ich werde die Wadenwickel wechseln“, sagte Maria und stand auf. Uralte Hausmittel wie dieses zur Bekämpfung von Fieber, waren die einzigen, die dem Arzt zur Verfügung standen. „Lassen Sie nur, Maria!“ rief er das Mädchen zurück. „Die Temperatur ist fast wieder normal, und es ist wichtiger, daß die Kinder jetzt ungestört schlafen. Sie werden ihre Kraft bald brauchen.“ Maria blickte unschlüssig von den Zwillingen zu Sir Freemont. „Wenn Sie meinen.“ Sie trat an die Strohschütte, kniete sich auf den Boden und blickte voller Mitleid in die geröteten Gesichter der Zwillinge. „Es ist eine himmelschreiende Sünde, unschuldige Kinder die Schuld ihres Vaters büßen zu lassen“, sagte sie, als sie aufstand
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und zu der Bank zurückging. „Ganz egal, was er verbrochen haben mag.“ „Philip Hasard Killigrew hat nichts verbrochen, Maria. Das habe ich Ihnen doch schon ein dutzend Male erklärt. Er ist das Opfer einer gemeinen Intrige, und die beiden Halunken haben sich die Kinder als Faustpfand genommen, um ihren Vater zu erpressen.“ Immer wieder hatte er ihr diese und andere Tatsachen erklärt, und auch manches, was nicht ganz den Tatsachen entsprach. Doktor Freemont hatte sich lange und gründlich mit dem Studium der menschlichen Seele befaßt, besonders mit dem manchmal recht komplizierten Gefühlsleben der Frauen. Und dieses Wissen gedachte er zugunsten der Kinder auszunutzen. Deshalb hatte er bei Auftreten des Fiebers darauf bestanden, daß er eine Frau brauchte, die ihn bei der Wache am Krankenbett ablöste, da er sonst nicht für das Leben der Zwillinge garantieren könne. „Dann ist es erst recht eine Sünde gegen den Himmel“, sagte Maria und faltete die Hände. „Ich werde zur Jungfrau beten, daß sie die beiden bald erlöst.“ Sir Freemont lächelte verhalten. Jetzt hatte er sie da, wo er sie haben wollte. Nur noch ein kleiner Anstoß! „Mit Beten ist da nicht viel auszurichten“, sagte er. Die dunklen Augen des Mädchens blickten ihn fast mitleidig an. „Ich werde auch für das Heil Ihrer Seele beten, Doktor. In Ihrem Land hat man dem wahren Glauben abgeschworen. Deshalb hat der Himmel Ihnen die ewige Kälte geschickt, die Sonne verdunkelt und läßt es das ganze Jahr über regnen, hat unser Pfarrer gesagt.“ „Kann schon sein.“ Sir Freemont wollte jetzt nicht über Glaubensfragen diskutieren. „Aber ich bezweifle dennoch, daß Ihr Beten uns hilft, diese Tür aufzubrechen.“ Er deutete auf den einzigen Zugang, der aus festen Schiffsplanken zusammengefügt war. Sie löste die gefalteten Hände und ein Ausdruck von Resignation trat auf ihr
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Gesicht. „Dann gibt es also gar keine Rettung für die armen Kinder?“ „Das ist nicht gesagt.“ Sir Freemont blickte sie abwartend an und hoffte, daß sie seine innere Spannung nicht spürte. Er hatte den Köder ausgelegt, jetzt kam alles darauf an, ob sie ihn schluckte oder nicht. „Auf was kommt es an, Doktor?“ Maria beugte sich erregt vor. „Ich würde alles tun, um den armen Dingern zu helfen.“ „Mehr, als nur für sie zu beten?“ trieb er sie weiter voran. „Alles“, sagte sie entschlossen. „Sagen Sie mir, was ich tun muß, Doktor Freemont. Ich bin zu jedem Opfer bereit.“ Sir Freemont ließ langsam die angestaute Luft aus den Lungen. Es hatte geklappt. Er hatte die junge Spanierin richtig eingeschätzt. Mit etwas Glück würden sie in wenigen Stunden frei sein. „Dann hören Sie gut zu, Maria ...“ * Um fünfzehn Uhr dreißig kreuzte die „Isabella“ vor der Westküste Ibizas, und hinter der flachen Halbinsel vor Stadt und Hafen konnte man schon Formentera sehen. Zur selben Zeit landete eine Galeere ein Dutzend Soldaten, die auf der Insel nach den beiden entflohenen Engländern suchen sollten, an der Nordküste Formenteras. Zur selben Zeit wurde der angetrunkene Isaac Henry Burton vom Wirt aus der einzigen Bodega des Fischerdorfes hinausgeworfen. Zur selben Zeit schurrte der Kiel von Pepe Castros Boot auf den steinigen Strand vor seiner Hütte. Pepe warf das Netz mit seinem mageren Fang an Land und begann, das Segel zu bergen. * „Ich glaube, er ist angekommen“, sagte Sir Freemont leise. „Wollen Sie immer noch mitmachen?“ Maria nickte tapfer, obwohl sie vor Angst zitterte.
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„Gut. Also noch einmal: Wenn ich Pepe erledigt habe, nehmen sie die Kinder und laufen zum Boot. Alles andere hat Sie nicht zu kümmern.“ „Ich weiß.“ Sir Freemont trat zur Tür. Zwischen Türstock und der ersten Türbohle war ein schmaler Spalt, durch den er auf das Ufer blicken konnte. Das Boot mußte außerhalb seines Gesichtsfeldes liegen. Jedenfalls konnte er es nicht sehen. Aber er hörte leises Knarren, als Pepe Castro den Baum festzurrte, und dann das Knirschen schwerer Schritte im Kies. Kurz darauf tauchte Pepe Castro in seinem Gesichtsfeld auf, ein kleiner, knorriger Mann mit einem kohlschwarzen, struppigen Bart und einem Anzug, der nur noch aus schmierigen Fetzen bestand, ein Netz mit Fischen auf dem gebeugten Rücken. „Jetzt!“ zischte Sir Freemont Maria zu. Maria trat zur Tür. Ein paar Sekunden lang schloß sie die Augen und preßte die gefalteten Hände vor ihre Brust. „Nehmen Sie sich zusammen, Maria“, flüsterte Sir Freemont erregt, „sonst geht der ganze Plan ...“ „Hilfe!“ schrie Maria, und sie brauchte sich nicht zu verstellen, um ihrer Stimme einen grellen, angstvollen Ausdruck zu geben. „Hilfe! Pepe! So helfen Sie doch! Hört mich denn keiner?“ Sir Freemont sah, wie der Fischer stehenblieb und zu ihrem Ende der Hütte herüberstarrte. „Pepe! Wenn Sie da sind, öffnen Sie die Tür! Wenn nicht bald Hilfe kommt ...“ Ihre Stimme versagte, und sie begann zu schluchzen. „Gut so! Weinen Sie ordentlich. Tränen machen das Theater noch überzeugender.“ Pepe Castro hatte sein Netz mit den Fischen zu Boden fallen lassen und trat zögernd auf die Tür ihres Gefängnisses zu. „Was ist denn los?“ knurrte er. „Der heiligen Jungfrau sei Dank, daß Sie da sind, Pepe!“ rief Maria. „Bitte, öffnen Sie. Die Kinder ...“ „Was ist mit den Kindern?“ Er war vor der Tür stehengeblieben, und Sir Freemont
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drang der Fischgestank des Mannes in die Nase. „Der kleine Philip ist seit einer Stunde bewußtlos. Wenn er nicht sofort frische Luft kriegt, stirbt er!“ „Ihr habt doch den Arzt dabei! Der soll sich um ihn kümmern.“ Sir Freemont sah, daß der struppige Pepe wieder gehen wollte. „Hören Sie, Pepe“, sagte er bestimmt, „ich bin Doktor und kein Zauberer. Wenn der Junge nicht sofort frische Luft atmet, stirbt er. Und Sie werden Mister Keymis dafür verantwortlich sein.“ Pepe Castro fuhr unsicher mit den Fingern durch seinen verwilderten Bart. „Ein Getue mit diesen Bälgern. Als ob es davon nicht schon genug gäbe.“ „Wie Sie wollen“, sagte Sir Freemont hart. „Wenn der Junge stirbt, werde ich Mister Keymis sagen, daß es Ihre Schuld war.“ „Na schön, aber nur das Mädchen und die Kinder kommen raus“, knurrte Pepe. „Sie bleiben drin.“ Sir Freemont trat zurück, als der Fischer nach dem schweren Riegel griff und ihn aus den Krampen zog. Er stellte sich auf die Anschlagseite der Tür, so daß sie ihn verdeckte, als sie nach innen schwang. „Na los, nun beeilen Sie sich schon“, sagte der Fischer ungeduldig zu Maria. „Warum haben Sie die Bälger nicht schon ...“ Sir Freemont sprang hinter der Tür hervor, die schwere Steinkruke in der Hand. Pepe Castro wandte im letzten Moment den Kopf, und ein Ausdruck des Entsetzens trat in seine Augen, als er das schwere Ding niedersausen sah. Die Kruke zerbarst an seinem Kopf, und Pepe Castro stürzte zu Boden wie ein gefällter Baum. „Schnell, Maria.“ Die beiden Kinder schrien erschrocken auf, als Sir Freemont sie aus ihrem primitiven Bett riß und Maria in die Arme drückte. Maria preßte die Zwillinge an ihre Brust und lief aus dem Haus. Sir Freemont rümpfte die Nase, als er den bewußtlosen Pepe auf den Bauch drehte, um ihm die nach Fisch stinkende Jacke auszuziehen. An sich hatte er ihm auch noch die Hose wegnehmen wollen, um
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seine Verkleidung als spanischer Fischer zu vervollkommnen, aber Anblick und Geruch hielten ihn dann doch davon ab. Er zog die zerfetzte Jacke über die eigene, hob den zu Boden gefallenen Hut Pepes auf und lief aus dem Haus. Es waren knapp fünfzig Yards bis zum Boot. Von Maria und den Kindern war nichts zu sehen. Aber er hörte die Zwillinge ausdauernd und kräftig brüllen. Wer so brüllt, ist nicht mehr krank, dachte er zufrieden. Dann blieb er wie angewurzelt stehen, weil er einen Mann entdeckte, der mit leicht schwankenden Schritten auf die Hütte zutorkelte. Isaac Henry Burton. Es hatte keinen Sinn, jetzt über die deckungslose Fläche zum Boot zu laufen. Bevor er den Kahn ins Wasser geschoben hatte, würde Burton ihn erreicht haben. Und Burton war bewaffnet, sah er. Burton ging nie ohne seine Pistole aus dem Haus. Er trat langsam drei Schritte zurück, bis er im Schatten der Hauswand stand. Jetzt konnte ihm nur noch das Glück helfen, erkannte Freemont. Vielleicht kümmerte Burton sich nicht um das Brüllen der Kinder. Oder er war zu betrunken, um zu hören, daß es nicht aus der Hütte kam, sondern vom Boot. Jetzt schien er es gehört zu haben. Er blieb stehen und hob den Kopf. Sir Freemont hielt den Atem an. Burton lachte amüsiert auf und torkelte weiter. Aber bevor Sir Freemont befreit aufatmen konnte, richtete Maria sich im Boot Kauf und rief leise: „Doktor! Wo bleiben Sie denn!“ Burton fuhr zusammen. „Was, zum Teufel, geht hier vor?“ Er lief auf das Boot zu. „Burton!“ Sir Freemont sprintete los. Er mußte ihn vor allem von Maria und den Kindern fernhalten. „So ist das also!“ Burton riß die langläufige, Pistole aus dem Leibriemen, der seinen dicken Bauch zusammenhielt, und drückte ab. Der Arzt hatte sich im letzten Augenblick zu Boden fallen lassen. Und bevor er wieder auf den Beinen war, hatte Burton sich herumgeworfen und lief davon.
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Sir Freemont sprintete zum Boot. „Entschuldigen Sie, Doktor“, sagte Maria verstört, „aber ich konnte doch nicht wissen ...“ Freemont winkte ungeduldig ab. Jetzt war keine Zeit für Debatten. Er löste das Haltetau, mit dem das Boot an einem schweren Stein befestigt war, und stemmte sich gegen den Bug. Hinter dem Hügel, wo das Dorf lag, hörte er erregtes Rufen. Er grinste. Wahrscheinlich versuchte Burton, die anderen Fischer gegen ihn aufzuhetzen. Aber er und Keymis hatten wenig dazu getan, sich bei den Leuten beliebt zu machen. Der Kiel knirschte über den Kies, das Boot war im Wasser. Sir Freemont stemmte sich am Dollbord hinauf und ließ sich auf die Bodenplanken fallen. Die Kinder schrien noch immer, aber ihr Protest war etwas leiser geworden. Maria hockte neben ihnen und sprach beruhigend auf sie ein. Sir Freemont warf einen Blick zu den Hügeln. Die Stimmen klangen deutlicher, näher. War es Burton doch gelungen, die Fischer auf seine Seite zu ziehen? Er nahm den langen Riemen, der auf dem Boden des Bootes lag und begann, den Kahn vom Ufer wegzustaken. „Da sind sie!“ Sir Freemont sah zum Hügel hinüber und entdeckte Burton. Und er war nicht allein. Es waren keine Fischer, die er mitgebracht hatte, sondern ein Dutzend Soldaten. „Nehmt sie fest!“ schrie Burton und lief mit den Spaniern den Hang hinunter zum Ufer. „Es sind Feinde des Königs!“ Sir Freemont stemmte sich mit aller Kraft gegen den Riemen. Maria war auf die Knie gesunken, hielt ihre Hände vor der Brust gefaltet und murmelte ein Gebet. Die beiden Kinder schrien wieder lauter. Wenn es nur nicht so lange dauerte, diesen schweren Kahn zu bewegen! Die ersten Soldaten hatten das steinige Ufer erreicht.
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Einer von ihnen riß die Muskete hoch und drückte ab. Die Kugel surrte dicht an Sir Freemonts Kopf vorbei. „Schießt doch! Schießt!“ schrie Burton. „Sie dürfen uns nicht entkommen!“ Ein zweiter Schuß krachte. Die Kugel schlug dicht neben der Bordwand ins Wasser. Schon dreißig Yards vom Ufer, fast vierzig, korrigierte er sich. Noch zwei, drei Stöße, dann waren sie außer Reichweite der Musketen. „Warum schießt ihr nicht!“ tobte Burton. Vier, fünf Männer feuerten fast gleichzeitig. Die Kugeln zischten an Freemonts Kopf vorbei. „Gleich geschafft“, sagte er keuchend und stemmte sich gegen den Riemen. Er hatte nicht auf den Mann geachtet, der mit emporgehaltener Muskete fünfzehn Schritte ins Meer gewatet war. Er stand jetzt bis zur Brust im Wasser, legte seine Muskete an und zielte sorgfältig, bevor er abdrückte. Der Schuß krachte. Sir Freemont spürte einen brennenden Schmerz im linken Oberschenkel, und die Wucht der Kugel riß ihn über Bord. Das letzte, was er hörte, war das angstvolle Schreien Marias, dann verlor er das Bewußtsein und versank im Wasser. 9. „Zu spät“, sagte Hasard bitter, als er mit sechs seiner Männer vor der Hütte Pepe Castros stand. Alles, was sie gefunden hatten, waren ein von Kugeln durchlöchertes Boot, das halb abgesoffen vor dem Ufer lag, und ein wütender, stinkender Fischer mit einer riesigen Beule auf dem Kopf. „Was ist passiert?“ Ben Brighton packte Pepe an seinem zerfetzten Hemd und schüttelte ihn. „Sie haben mein Boot zerschossen, das ist alles, was mich interessiert“, knurrte Pepe. „Wovon soll ich jetzt leben?“ „Wir scheißen darauf, was dich interessiert, Hombre!“ Dan O’Flynn riß das Messer aus dem Gürtel und setzte es
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dem Fischer an die Kehle. „Entweder du redest, oder ich sorge dafür, daß du nie wieder reden wirst.“ „Laß ihn, Dan.“ Hasard blickte den abgerissenen Kerl einen kurzen Moment an. Dann zog er einen kleinen Lederbeutel mit Goldstücken aus der Tasche und wog ihn in der Hand. „Dafür kannst du dir zwei neue Boote kaufen, schätze ich.“ Pepes Augen wurden gierig, und er griff nach dem Geldbeutel. Hasard zog ihn zurück. „Umsonst gibt es nichts auf dieser Welt, Amigo. Zwei Boote muß man sich schon verdienen.“ Pepe Castro blickte ihn mißtrauisch an. „Also gut. Was wollen Sie wissen?“ „Na also. Bis jetzt hast du uns nur erzählt, daß der Doktor dich niedergeschlagen hat, und von da an warst du bewußtlos.“ „Na ja, nicht die ganze Zeit“, gab Pepe jetzt zu, „Ich bin wieder aufgewacht, als ich den Schuß hörte.“ „Wer hat geschossen?“ „Einer der beiden Engländer, die die Kinder hergebracht haben. Die schulden mir überhaupt noch Geld dafür, daß ich auf die Bälger aufgepaßt habe.“ „Und wir schulden dir, dich einmal unter dem Kiel durchziehen zu lassen“, sagte Dan wütend. Hasard winkte ihm, zu schweigen. „Und was dann?“ „Dann haben sie mein Boot gestohlen und wollten damit ausreißen.“ Er fuhr mit der Hand über seine Beule und verzog das Gesicht. „Wenn ich nicht noch halb ohnmächtig gewesen wäre, hätte ich diesem Kerl ...“ „Was Sie hätten, interessiert uns nicht“, unterbrach Hasard. „Was passierte dann?“ „Dieser Engländer kehrte mit Soldaten zurück. Sie haben auf das Boot geschossen.“ „Und es versenkt?“ fragte Ben Brighton. Der Fischer schüttelte den Kopf. „Nein, das war später, als diese Maria mit den Kindern allein an Bord war.“ „Ohne den Doktor?“ Pepe nickte. „Der ist von einer Kugel getroffen worden, und sie haben ihn später aus dem Wasser gefischt.“
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„Ist er tot?“ Pepe zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich? Jedenfalls haben sie ihn zusammen mit der Frau und den beiden Kindern weggeschafft.“ „Wohin?“ „Hinüber nach Ibiza, denke ich. Da ist die Garnison.“ Er spuckte aus. „Kriege ich jetzt das Geld?“ „Noch nicht. Du wirst mit einem meiner Leute nach Ibiza fahren und dich erkundigen, ob die Kinder und die beiden anderen noch dort sind.“ Pepe starrte Hasard wütend an. „Aber Sie haben doch gesagt ...“ „Ich habe gesagt, daß man sich zwei Boote verdienen muß, Pepe.“ Er warf den Beutel in die Luft und fing ihn wieder auf. Pepe Castro starrte unschlüssig von einem zum anderen. Ben Brighton trat auf ihn zu. „Na, komm schon. So leicht wie du möchten sich viele Menschen auch mal Geld verdienen.“ Hasard warf Brighton den Beutel zu. „Ich schicke um Mitternacht ein Boot an Land. Bei der alten Plantage an der Südspitze der Landzunge. Viel Glück, Ben.“ * „Kurs Ost!“ rief Ben Brighton, als er über die Jakobsleiter an Bord zurückkehrte. Sein rechter Jackenärmel war zerrissen, eine lange Messernarbe auf seiner Stirn war mit Blut verkrustet. „Was ist los?“ fragte der untersetzte Smoky, als er mit zwei anderen Männern das Boot an Deck hievte. „Hast du Ärger gehabt?“ „Was sollen die dummen Fragen, du Affenarsch!“ schrie Carberry ihn an. „Ist das verdammte Boot noch nicht bald hoch? Und die anderen an die Brassen! Oder glaubt ihr, der Wind dreht sich, nur weil ihr zu faul seid, die Segel rumzuwuchten?“ Die Männer liefen an die Brassen, und als Ben Brighton zum Achterdeck hinaufstieg, kamen Rahen und Ruder herum, und die „Isabella“ drehte nach Steuerbord.
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Hasard, der an der Steuerbordbalustrade lehnte, trat Ben entgegen und blickte ihn fragend an. „Palermo“, sagte Brighton. „Sie haben die Kinder noch am Abend an Bord einer Galeone gebracht, die kurz darauf nach Palermo ausgelaufen ist.“ Hasard stieß einen leisen Fluch aus. Wieder um ein paar Stunden zu spät. Und er hatte die Galeone sogar vorbeilaufen sehen, ohne zu ahnen, daß seine Kinder an Bord waren. „Carberry!“ rief er auf das Deck hinunter. „Sir?“ „Laß alles Zeug setzen, was die Masten tragen können.“ „Aye, aye, Sir.“ Und dann schallten wieder seine blumenreichen Kommandos über das Deck. „Ich hatte gehofft, daß die Spanier sie auf der Insel behalten würden“, sagte er zu Ben. „In Ibiza hätten wir sie ohne große Schwierigkeiten befreien können.“ Ben Brighton nickte. „Burton hätte es auch nicht geschafft. Aber dann tauchte Keymis auf, und du weißt ja, wie der andere Leute beschwatzen kann.“ „Keymis“, sagte Hasard leise, Also war der irgendwo wieder auf Burton und die Kinder gestoßen. „Und was ist mit Freemont und diesem Mädchen?“ „Der Doktor scheint nur verwundet zu sein. Jedenfalls haben sie ihn zusammen mit den Kindern an Bord geschafft. Von dem Mädchen habe ich nichts erfahren.“ Wahrscheinlich hatten sie Maria zur Strafe für einige Zeit den Soldaten der Garnison überlassen. Die Spanier waren da nicht sehr zimperlich. „Und wo hast du das erwischt?“ fragte Hasard und deutete auf Ben Brightons Stirnwunde. „Kleine Meinungsverschiedenheit mit diesem Fischer“, sagte Ben achselzuckend. „Ihm war dein Beutel mit Goldstücken anscheinend nicht genug, und er wollte nachsehen, ob ich nicht noch mehr bei mir habe. Mit einem Messer.“ Ben Brighton griff in seine Jackentasche. „Na ja, und weil er so habgierig war, ist er jetzt da, wo er überhaupt kein Geld mehr braucht.“ Er
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zog den Lederbeutel aus der Tasche und warf ihn Hasard zu. * „Schiff Backbord voraus!“ Es war am Nachmittag des nächsten Tages. Hasard holte das Fernrohr aus dem Ruderhaus und starrte zum östlichen Horizont. Erst das obere Drittel der Masten ragte über die Kimm. Unmöglich, den Schiffstyp festzustellen. Er konnte nur erkennen, daß es sich um ein rahgetakeltes Schiff handelte. Aber es konnte nicht die Galeone aus Ibiza sein. Auch wenn die „Isabella“ alle Fahrt herausholte, die der mäßige Südwestwind erlaubte, so hatte die spanische Galeone doch gute vier Stunden Vorsprung, und die konnten sie jetzt noch nicht aufgeholt haben. Sie waren noch vor Sardinien, dessen Bergrücken sich im Dunst des nordwestlichen Horizonts abzeichneten. „Vier Strich Backbord, Pete“, sagte er zu dem Rudergänger. „Vier Strich Backbord“, wiederholte Pete Ballie und drehte das Rad nach links. Das Schiffsbug schwang herum, bis die Masten am Horizont null Grad peilten. „Vor Dunkelwerden erwischen wir den nicht“, sagte Ben Brighton und blickte mit zusammengekniffenen Lidern zu dem anderen Schiff hinüber. „Willst du bei Nacht angreifen?“ Hasard schüttelte den Kopf. „Wenn es geht, will ich es überhaupt nicht angreifen, Ben. Wenn sie meine Kinder herausgeben, braucht nicht ein einziger Schuß zu fallen.“ „Und Burton und Keymis“, setzte Ben hinzu. „Die beiden Burschen werden wir uns mal gründlich vornehmen.“ Er schlug mit der Faust auf die Balustrade. „Auf die verzichte ich gern“, sagte Hasard. „Wenn ich die Jungens an Bord habe, sollen sie tun, was sie wollen.“ Ben Brighton blickte Hasard nachdenklich an. In dieser Stimmung hatte er den Seewolf noch niemals erlebt. Der Verlust seiner Frau schien ihn mehr mitgenommen zu haben, als Ben angenommen hatte, und
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deshalb klammerte er sich so an die beiden Kinder, das einzige, was ihm von ihr geblieben war. Sie waren für ihn zum einzigen wirklich verwundbaren Punkt geworden, wie die Ferse des Achilles. Eine verdammt gefährliche Verwundbarkeit, erkannte Ben. Kurz vor Sonnenuntergang hatte die „Isabella“ das andere Schiff soweit eingeholt, daß es bis Deckshöhe über der Kimm lag. Es war eine Galeone, erkannte Hasard, als er beim letzten Licht noch einmal durch das Fernrohr blickte. Aber nach wie vor hielt er es für unwahrscheinlich, daß es die Galeone war, die vor knapp vierundzwanzig Stunden von Ibiza ausgelaufen war. „Du solltest schlafen gehen, Hasard“, sagte Ben Brighton. „Dan und ich können uns über Nacht ablösen.“ Hasard schüttelte den Kopf und schob das Fernrohr zusammen. „Ich bleibe hier, bis ich weiß, ob die Kinder auf diesem Schiff sind oder nicht.“ „Wie du willst.“ Ben Brighton nahm ihm das Fernrohr aus der Hand und starrte eine Weile zu dem anderen Schiff hinüber. „Wir setzen heute Nacht keine Lichter, Ben“, sagte Hasard. „Die Burschen dürfen nicht merken, daß wir ihnen auf den Hacken kleben.“ „In Ordnung, Hasard.“ „Und zu nahe wollen wir ihnen auch nicht am Achtersteven riechen. Wir sollten sehen, daß wir sie erst bei Sonnenaufgang vor den Rohren haben.“ Zwei Stunden später war Hasard eingeschlafen. Er hatte sich an der Luvseite hinter das Schanzkleid des Achterdecks gehockt, und eigentlich wollte er nur ein paar Minuten ausruhen, aber die physischen und seelischen Belastungen der letzten zwei Tage hatten seine Reserven aufgezehrt. Er merkte nicht einmal, daß er einschlief. „Ben?“ rief der blonde Schwede Stenmark aus dem Ruderhaus. Ben Brighton wandte sich um. „Mußt du so schreien, verdammt noch mal? Du siehst
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doch, daß der Kapitän schläft. Was ist los?“ Stenmark nickte mit dem Kopf bugwärts. „Die Lichter von dem anderen sind nicht mehr da.“ Ben starrte über den Bug in die sternenklare Nacht. Dann nahm er das Fernrohr, zog es aus und suchte sorgsam den ganzen östlichen Horizont ab. Nichts zu sehen. Die Lichter der Galeone waren verschwunden. Entweder hatten sie die Lampen gelöscht, oder sie hatten den Kurs geändert. Wahrscheinlich beides, überlegte Ben. Sie hatten bemerkt, daß die „Isabella“ ihnen folgte und waren noch so lange mit normaler Beleuchtung auf dem alten Kurs >geblieben, um den Verfolgern vorzutäuschen, daß sie keinerlei Verdacht schöpften. Erst jetzt, Stunden nach Einbruch der Dunkelheit, hatten sie die Lampen gelöscht und mit Sicherheit auch den Kurs geändert. Wahrscheinlich war es ein Fehler gewesen, kein Licht zu führen und das Schiff abzudunkeln, erkannte Ben Brighton. Vielleicht hatte sie erst das mißtrauisch werden lassen. Aber diese späte Einsicht nutzte ihnen jetzt nichts mehr. „Soll ich den Kapitän wecken?“ fragte Stenmark leise. „Nein.“ Hasard konnte jetzt auch nichts ändern. Und er brauchte den Schlaf dringend. „Sag Dan, er soll nach achtern kommen.“ Er trat ins Ruderhaus und übernahm das Rad. Sie fuhren noch immer auf Kurs Ost plus drei Strich. Genau auf die Nordwestspitze Siziliens zu. Wenn der andere nach Palermo wollte, und daran bestand eigentlich kein Zweifel, konnte er nur nach Backbord abgefallen sein, um einen langen Bogen zu schlagen und Palermo von Norden her anzulaufen. „Ben?“ Dan O’Flynn und Stenmark waren fast lautlos den Niedergang heraufgekommen. Dan warf einen raschen Blick voraus und kapierte sofort. „Und jetzt?“ Ben Brighton übergab Stenmark das Ruder und trat aus dem Ruderhaus.
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„Wir könnten nach Nord-Nordost abfallen und würden ihn wahrscheinlich bei Tagesanbruch wieder haben“, sagte Ben Brighton. „Oder auch nicht. Und vielleicht ist es nicht einmal die Galeone aus Ibiza.“ „Eben das habe ich mir auch überlegt. Ich bin dafür, daß wir auf Ostkurs weiterlaufen und fünf Meilen nordwestlich von Palermo auf Wartestation gehen. Von der Position aus haben wir alles im Blick, was auf den Hafen zuläuft.“ Dan überlegte einen Augenblick, dann nickte er. „Die einzige sichere Möglichkeit.“ Er trat an die Balustrade und blickte auf das Hauptdeck hinunter. Das Schiff fuhr unter Gefechtswache, das heißt, mindestens ein Mann jeder Geschützbedienung schlief bei seiner Waffe, damit bei einem Überraschungsangriff zumindest ein Schuß aus jedem Rohr gefeuert werden konnte, bis die anderen Männer an Deck waren. „Ja, Ben, es ist die einzige Möglichkeit.“ * „Da ist sie!“ rief Luke Morgan aus dem Großmars. „Steuerbord achteraus!“ Es, war kurz vor zehn Uhr des nächsten Tages. Seit zwei Stunden kreuzte die „Isabella“ fünf Meilen nordöstlich der schmalen Landzunge, die wie eine Nase westlich von Palermo in das Meer ragte. Hasard preßte das Okular des Fernrohrs an das rechte Auge. Wieder waren es nur die dünnen Striche der Topmasten, die über die Kimm ragten. „Laß mich mal.“ Dan O’Flynn nahm Hasard das Fernrohr aus der Hand, lief den Niedergang hinunter zum Hauptdeck und enterte zum Großmars hinauf. „Ich bin fast sicher, daß es unsere Galeone von gestern ist“, rief er eine halbe Minute später. „Ist sie schon über der Kimm?“ fragte Hasard. „Das nicht. Aber die Rahen sind schon zu sehen, und ihr Hauptmast hat eine angesetzte Stenge.“
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Hasard runzelte die Brauen. Wenn er jetzt diesem Schiff entgegenlief, mußte er die Überwachung der Zufahrt nach Palermo aufgeben, und damit riskierte er, daß vielleicht die richtige Ibiza-Galeone inzwischen unbehelligt den Hafen erreichte. „Dan! Ist sonst kein Schiff in Sicht?“ „Keins, das auf Palermo zuläuft“, meldete Dan. „Vor dem Hafen ist ein bißchen Betrieb. Vielleicht sind die Signores etwas unruhig, weil wir so lange vor ihrer Haustür herumhängen.“ „Kurs Nord-Nordwest!“ Hasard brüllte den Befehl, damit auch Ed Carberry und die Männer auf dem Hauptdeck ihn hörten und die Rahen herumbraßten. Der Bug der „Isabella“ schwang herum, bis die Mastspitzen des anderen Schiffes Null peilten. Eine knappe Viertelstunde später war auch sein Rumpf über der Kimm. Es war die Galeone, die sie gestern verfolgt hatten. „Sie dreht ab!“ rief Luke Morgan aus dem Großmars. Hasard blickte durch das Fernrohr. Es stimmte. Die Galeone wendete und ging auf Ostkurs. „Sie laufen weg.“ „Auf jeden Fall haben sie ein schlechtes Gewissen“, folgerte Ben Brighton. „Und damit sind wir sicher, daß wir den richtigen Pott erwischt haben.“ Hasard nickte. ohne den Blick von der anderen Galeone zu nehmen. Als er das Glas absetzte, sagte er: „Ich nehme an, sie wollen eine der Liparischen Inseln erreichen.“ Ben nickte. „Die Neapolitaner haben da eine Menge Truppen stationiert. Wenn sie die Inseln erreichen, haben wir nichts mehr zu melden.“ „Das werden sie nicht.“ Er trat an die Balustrade. „Ed!“ „Sir?“ Der Profos trabte ein paar Schritte auf den Niedergang zu. „Glaubst du, daß wir die Galeone in zwei Stunden einholen können?“ „Warum in zwei Stunden? Das schaffen wir doch auch in einer.“ Er fuhr herum. „In die Wanten, ihr faulen Säcke. Hebt eure lahmen Ärsche
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von Deck und bewegt euch nicht wie die Greise.“ „Eine Doppelration Rum für alle, wenn wir das Schiff vor den Inseln stellen!“ rief Hasard. Das zog besser als Carberrys Vokabular. Knapp zehn Minuten später hing jeder Fetzen Tuch, den sie an Bord hatten, an den Masten. Eine halbe Stunde später lag das Schiff nur noch eine gute Meile voraus, und gegen Mittag ließ Hasard Gefechtsbereitschaft geben. „Immer, wenn ich gerade das Essen auf dem Herd habe“, schimpfte der Kutscher, als ein paar der Männer glühende Holzkohle aus seinem Feuer rissen und in Messingbecken schaufelten. „Und womit soll ich jetzt kochen, ihr Kohlendiebe?“ „Es gibt ja doch wieder nur Bohnen und Pökelfleisch.“ Blacky grinste, als er sein Becken füllte. „Und das Zeug schmeckt heiß genauso beschissen wie kalt.“ „Raus mit euch Gesindel!“ Der Kutscher hob drohend die große Rührkelle. Lachend verschwanden die Männer aus der Kombüse. Der Kutscher steckte die Kelle wieder in den Topf zurück. Es waren wirklich nur Bohnen und Salzfleisch darin. Und eine Menge schwarzer Maden, die in den Bohnen überwintert hatten. Er mußte wirklich versuchen, irgendwo frische Vorräte aufzutreiben. Aber seit zwei Monaten war er nicht an Land gekommen. Er langte hinter den Mehlsack und zog eine Flasche des portugiesischen Rotweins hervor. Es war die vorletzte, dachte er mit Bedauern. Auch da mußten die Bestände aufgefüllt werden. Aber jetzt hatte er einen guten Schluck nötig. Und auch verdient, meinte er. Er warf Holzkohle nach und blies mit einem verrußten Blasebalg die glimmenden Kohlen an. Für die nächste Stunde mußte er das Essen sich selbst überlassen. Hoffentlich brannte es nicht an. Aber die Bohnen wurden durch Anbrennen auch nicht viel schlechter, tröstete er sich. Das Wichtigste war, daß die Männer überhaupt erschienen, um sich den Fraß zu
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holen, daß es nach diesem Gefecht nicht Leute gab, die kein Essen mehr brauchten. Der Kutscher rührte die Bohnen mit den dunkelbraunen Salzfleischstücken noch einmal um, dann knallte er den Deckel auf den Topf, wischte sich die Hände an der Hose ab und ging nach vorn, um sich um sein Verbandszeug zu kümmern. 10. Die erste Salve dieser Schlacht fiel kurz vor ein Uhr. Es war eine Breitseite der spanischen Galeone, nervös und voreilig abgefeuert, und die Kugeln kleckerten harmlos gut fünfzig Yards vor der Bordwand der „Isabella“ ins Wasser. „Widerliche Stümperei”, sagte Al Conroy angeekelt. Wie alle wirklichen Könner hatte er etwas gegen Männer, die in ihrem Beruf Nieten waren. „Wenn ich ein einziges Mal erleben sollte, daß ihr so schießt wie diese Burschen, ziehe ich euch die Haut streifenweise vom Hintern.“ „He!“ protestierte Ed Carberry. „Das ist mein Revier. Laß dir gefälligst selbst etwas einfallen und quatsch mir nicht alles nach.“ „Al!“ hörte der Stückmeister Hasard rufen. Er trat hinter der vierten BackbordCulverine hervor. „Sir?“ „Eine Breitseite dicht vor die Bordwand, sobald ich etwas näher herangelaufen bin. Aber daß keine einzige Kugel trifft, verstanden?“ „Aye, aye, Sir.“ Das war die Crux dieses Gefechts: Die „Isabella“ mußte versuchen, die andere Galeone zur Übergabe zu zwingen, ohne daß eine Kugel das Schiff traf. Sie wußten ja nicht, wo die Kinder untergebracht worden waren. Sehr wahrscheinlich achtern. Aber dafür gab es natürlich keine Garantie. Also durfte nirgends eine Kugel einschlagen, wenn man sicher sein wollte, die Kinder nicht zu gefährden. Und auch ein Inbrandschießen der Segel war zu riskant. Zu leicht konnte so ein Feuer außer Kontrolle geraten und das ganze Schiff in Flammen setzen. Shane und Batuti standen zwar mit ihren Bogen
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und einem ausreichenden Vorrat an Pfeilen zwischen den Drehbassen des Vorschiffs, aber sie wußten, daß die Brandpfeile heute nicht eingesetzt werden durften. „Feuer!“ Die acht Culverinen der Backbordbreitseite ballerten los. Fast in einer Linie, kaum mehr als zwei Yards von der Bordwand des Spaniers entfernt, sprangen Fontänen aus dem Wasser. Sofort nach der Breitseite fiel Hasard nach Steuerbord ab, um aus dem Feuerbereich der Steuerbordkanonen des anderen zu kommen. „Völlig überflüssig“, knurrte Al Conroy verächtlich. „Die brauchen noch ‘ne halbe Stunde, bis sie die alten Rohre wieder neu geladen haben.“ Das war zwar etwas übertrieben, aber es vergingen doch noch mehrere Minuten, bis die Galeone nach Steuerbord abfiel, um die „Isabella“ wieder vor ihre Rohre zu kriegen. Und wieder kleckerten die Kugeln wie ein breitgestreuter Schrotschuß ins Wasser. Daß eine von ihnen nur zehn Yards vor dem Backbordbug der „Isabella“ ins Wasser schlug, war sicher nur Zufall. „Der schleppt seine Kanonen auch nur herum, um Ballastsand zu sparen“, sagte Hasard ironisch. „Jedenfalls wissen wir jetzt, daß es kein Kriegsschiff ist, sondern nur ein Handelskahn.“ Hasard nickte und starrte wieder durch das Glas zu dem Spanier hinüber. „Er hat zwar sechs Stückpforten auf der Backbordseite. Aber nur vier Rohre haben gefeuert.“ „Die anderen haben sie wahrscheinlich irgendwo verscheuert“, meinte Pete Ballie, der Ruderwache hatte. Die Galeone war wieder auf Ostkurs gegangen und lag jetzt an Steuerbord, nur noch dreihundert Yards voraus. „Sag Carberry, er soll die zusätzlichen Segel herunternehmen lassen, sonst laufen wir an ihm vorbei“, sagte Hasard zu Ben Brighton. Er richtete das Rohr auf das Achterkastell der Galeone. Eine einzige Drehbasse hing mit der Mündung nach unten in ihrer Kardan-Lafette. Über dem Schanzkleid sah
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er den Hut des Rudergängers, der am Kolderstock stand und sich immer wieder nervös nach der aufrückenden „Isabella“ umdrehte. Sonst schien niemand auf dem Achterdeck zu sein. Er wollte das Glas gerade absetzen, als sein Blick auf eines der großen Heckfenster fiel. Er riß das Glas wieder hoch und sah hinter der Scheibe ein schmales, hohlwangiges Gesicht mit einem grauen Ziegenbart. Keymis! Das Gesicht verschwand, als ob der Mann fühlte, daß er beobachtet wurde. Hasard ballte die Hände. Dieser Hund! Aber zumindest wußte er jetzt ohne jeden Zweifel, daß sich seine beiden Kinder an Bord dieser Galeone befanden. „Carberry!.“ brüllte er zum Hauptdeck hinunter. „Sir?“ Der Profos hatte wie immer mit Hand angelegt, um die zusätzlichen Segel einzuholen, „Und daß mir das Zeug anständig verstaut wird!“ rief er den Männern zu, als er zum Niedergang trabte. „Wir werden den Don entern“, sagte Hasard, als Carberry auf ihn zutrat. „Aye, aye, Sir. Entern.“ Das zernarbte, vierkantige Gesicht des Profos’ verzog sich zu einem Grinsen. Ben Brighton runzelte die Stirn und blickte Hasard fragend an. „Getötet wird nur in Selbstverteidigung, oder wenn das Leben anderer in Gefahr ist. Sag das den Männern, Ed.“ Carberrys Grinsen erlosch. Der Profos war alles andere als ein Schlächter, aber ein Kampf, bei dem es nicht um den vollen Einsatz ging, war für ihn genau so reizlos, wie ein Spiel mit gezinkten Karten. „Aye, aye, Sir“, brummte er mißmutig und trabte ab. „Hältst du es nicht für richtiger, ihn vorher lahmzuschießen?“ meinte Ben Brighton. „Ich habe gesagt, es wird nicht geschossen.“ „Ich meine auch nur eine Kugel ins Ruderblatt, oder Al könnte ihm mit der Drehbasse den Besanmast vom Deck fegen.“
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„Und möglicherweise erscheinen gerade in dem Augenblick die beiden Kerle mit den Kindern an Oberdeck.“ Er schüttelte den Kopf. „Nein, Ben, es bleibt dabei: kein Schuß auf die Galeone.“ Die Schiffe lagen jetzt fast auf gleicher Höhe und liefen in vierhundert Yards Abstand nebeneinander her. „Dreh etwas näher heran, Pete“, sagte Hasard. „Wir müssen ihn dazu bringen, die Backbordrohre freizuschießen. Sowie die Breitseite heraus ist, drehst du hart an ihn heran.“ „Aye, aye, Sir.“ Pete Ballie nickte und drehte das Rad nach Backbord. Ed Carberry hatte mehr als die Hälfte der Besatzung zum Enterkommando eingeteilt. Nur Shane und zwei Männer an den vorderen Drehbassen sollten an Bord zurückbleiben und je ein Mann für die acht Culverinen der Backbordseite. Die Männer starrten durch die Stückpforten auf die Galeone, aus deren Bordwand vier altmodische Bronzerohre hervorragten. „Noch einen Strich Backbord, Pete.“ Warum feuerte der Kerl nicht? fragte sich Hasard. „Noch einen Strich, Pete.“ Jetzt konnte der Don der Versuchung nicht länger widerstehen. Die vier Steuerbordkanonen kleckerten wieder Kugeln ins Meer. „Ran!“ schrie Hasard. Pete Ballie wuchtete das Ruder nach Backbord. Die „Isabella“ ging auf Kollisionskurs mit der anderen Galeone. Die Männer des Enterkommandos hockten hinter dem Backbordschanzkleid. Nur drei von ihnen waren mit Musketen bewaffnet. Sie sollten als Rückendeckung fungieren und nur im wirklichen Notfall eingreifen. Die anderen hatten zwar ihre Pistolen in den Gürteln, aber auch diese Waffen sollten eigentlich nicht zum Einsatz kommen, wenn alles nach Hasards Plan lief. Wirklich gebraucht werden sollten nur die Säbel, Kriegskeulen und Entermesser, die die Männer in ihren Fäusten hielten.
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Die Männer an den Stückpforten der Backbordseite sahen die Bordwand der Galeone auf sich zurücken. Noch zwanzig Yards. Sie standen bei ihren Kanonen, die glimmenden Enden der Zündschnüre in den Händen. Zehn Yards. Durch die gähnenden Öffnungen der Stückpforten sahen sie ein halbes Dutzend Dons fieberhaft damit beschäftigt, die Rohre der vier Kanonen nachzuladen. „Bis ihr soweit seid, schicken wir euch zur Hölle!“ schrie Blacky zu ihnen hinüber und brachte seine Lunte gefährlich nahe an das Zündloch der Culverine. Ein Spanier, der gerade eine schwere Kugel in den Lauf Seiner Kanone wuchten wollte, starrte ihn mit aufgerissenem Mund an, dann ließ er die Eisenkugel krachend an Deck fallen und riß aus. Die anderen standen eine Weile unschlüssig, dann hielten auch sie es für gesünder, aus der Reichweite der Culverinen zu verschwinden. „Ein Jammer, daß wir nicht schießen dürfen.“ Blacky schüttelte bedauernd die schwarze Mähne. „Auf diese Entfernung würde es wunderbares Kleinholz geben.“ „Dann hätte der Kutscher endlich mal genug davon und würde nicht immer meckern, wenn wir uns mal ein Becken Holzkohle holen.“ „Nicht so hart, Pete“, sagte Ben. „Du mußt uns ja nicht unbedingt die Farbe von der Bordwand kratzen.“ Ben Brighton hatte das Kommando auf dem Achterkastell übernommen. Hasard hing am Schanzkleid des Backbordbugs, um als erster an Deck der Galeone springen zu können. Außer dem Rudergänger war kein Mensch auf den Decks, und der stand geduckt an seinem Kolderstock und wünschte, daß er ganz woanders wäre. Es war nur eine leichte Berührung, ein leises Knirschen, als die Backbordseite des Bugs gegen die Mittschiffsbordseite der Galeone stieß. Und noch vor der Berührung sprangen Hasard und drei, vier andere auf das Hauptdeck des Schiffes.
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Im selben Moment legte Pete Ballie das Ruder nach Steuerbord, die „Isabella“ löste sich von dem anderen Schiff und blieb auf knapp zwei Yards Abstand. Enterseile flogen über das Schanzkleid, die Haken gruben sich in das Holz, die Schiffe waren an Bug und Heck miteinander vertäut. Hasard und sieben seiner Männer standen auf dem Hauptdeck und sahen sich nach allen Seiten um. Nirgends ein Mensch. Die Galeone wirkte ausgestorben wie ein Geisterschiff. Smoky, der sofort zum Achterdeck hinaufgeentert war, schrie den anderen zu: „Hier ist nur ein Don am Ruder, und der ist froh, wenn ich ihm nichts tue.“ „Matt, Ferris, ihr -beiden kommt mit. Die anderen sichern das Deck und sehen sich vorn um.“ Matt Davies, der Mann mit der scharfgeschliffenen Prothese an seinem rechten Unterarm, und der Schiffszimmermann folgten Hasard zum Achterdeck. Kein Laut drang durch die Tür, die zu den Offizierskammern führte. Hasard zog die Pistole und gab den anderen beiden einen Wink, auch ihre Waffen bereit zu halten. Dann griff er nach der Messingklinke. Im selben Augenblick wurde die Tür von innen aufgestoßen. Hasard sprang zurück und riß die Waffe hoch. Er ließ sie sofort wieder sinken, als ein alter, gebückter Mann heraus- trat. Seine wässerigen Greisenaugen blickten Hasard ausdruckslos an. „Schießen Sie, Senores“, sagte er leise. „Erschießen Sie mich, wenn Sie ohnehin vorhaben, mich zu ruinieren.“ Die beiden Männer blickten verblüfft von dem Alten zu Hasard. Wir sind keine Mörder und auch keine Räuber“, sagte Hasard trocken. „Wir wollen meine Kinder, die bei Ihnen an Bord sind, und dann gehen wir wieder von Bord.“ „Kinder, Kinder“, murmelte der Alte. „Wir haben Oliven und Pinienholz in den Räumen, aber keine Kinder.“
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Ein zweiter Mann schielte vorsichtig aus der offenen Tür, dann trat er neben den Alten. „Lassen Sie Opa Pedro in Ruhe, Senores, er ist schon etwas verdreht“, er machte eine Bewegung vor der Stirn. „Aber wir werden alle irgendwann mal alt, nicht wahr?“ „Wer ist der Alte?“ erkundigte sich Hasard. „Was weiß ich? Er war schon an Bord, als ich vor drei Jahren hier einstieg. Manchmal hilft er ein bißchen. Aber meistens sitzt er nur so herum. Soll ein pleite gegangener Kaufmann sein, der nicht mehr weiß, wo er hin soll. Andere behaupten, ihm hätte dieses Schiff früher mal gehört. Was weiß ich!“ „Und Sie sind der Kapitän?“ Viel jünger als Opa Pedro wirkte der Mann auch nicht. „Nur der Bootsmann. Der Kapitän ist ...“ „Meine Kinder sind an Bord“, unterbrach ihn Hasard. „Geben Sie sie heraus, dann können Sie weitersegeln.“ Der Mann schüttelte den Kopf. „Wir haben keine Kinder an Bord, Senor. Es waren nur ...“ Hasard verlor die Geduld. Er stieß den Mann zur Seite, riß die Tür auf und stürzte in den Gang. Links und rechts lagen je zwei Kammern. Genau wie auf der „Isabella“. Er riß die Türen auf. Enge, dumpfe Räume, wie auf seinem Schiff, aber diese sahen aus, als wenn sie nur zu Weihnachten aufgeräumt würden. Alle Kammern wurden benutzt, erkannte Hasard. Aber nur in einer war die Koje aufgeklart und die Decke einigermaßen sauber glattgezogen. Er lief an Deck zurück. „Sie müssen mir glauben, Senor“, sagte der Bootsmann sofort wieder, „wir haben keine Kinder an Bord.“ Hasard hatte genug von Lügen und Ausflüchten. Er stieß den Mann beiseite, trat ans Steuerbordschanzkleid und rief: „Ed! Komm mit dem Rest der Leute ‘rüber! Das Schiff wird vom Mars bis zum Kiel auseinandergenommen!“ „Aye, aye, Sir !“ Hasard wartete nicht, bis Carberry und die anderen Männer herübersprangen. Gefolgt
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von Ferris Tucker und Matt Davies stieg er den Niedergang zum Unterdeck hinunter. Luke Morgan und die anderen Männer hatten die ganze Besatzung in ihrem Logis zusammengetrieben. Das heißt, sie hatten sie gar nicht zusammentreiben müssen. Sie hockten bereits dort und warteten, was passieren würde. „Mein Gott, das ist ja ein schwimmendes Altersheim!“ rief Hasard erschrocken, als er die zwölf alten Männer sah, die ergeben auf den Kojenrändern hockten. „Habt keine Angst, euch passiert nichts“, beruhigte er sie. „Wir wollen nur die beiden Kinder abholen, die hier an Bord sind.“ „Wir haben keine Kinder gesehen“, sagte einer der Alten unsicher. Hasard glaubte ihm das sogar. Hier im Vorschiff waren sie bestimmt nicht gewesen, und die alten Männer hatten auch genug mit sich selbst zu tun und würden sich kaum um Dinge kümmern, die sie nichts angingen. Er hörte schwere Seestiefel den Niedergang hinunterpoltern. Carberry und die anderen Männer waren schon dabei, die Laderäume zu durchsuchen. Den Kutscher interessierten dabei nicht so sehr die Laderäume, sondern die Kombüsenlast. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß nirgendwo kleine Kinder versteckt worden waren, unternahmen seine Augen eine Bestandsaufnahme: frisches Gemüse, mehrere Kisten roter Weintrauben, ein Verschlag mit Hühnern, zwei lebende Hammel, Säcke mit Orangen und Zitronen — und dahinter genug Wein, um die ganze Mannschaft der „Isabella“ darin zu baden. „Senor, ich schwöre Ihnen, hier sind keine Kinder.“ Der spanische Bootsmann rang die altersfleckigen Hände. „Und warum sind Sie vor uns weggelaufen, wenn Sie ein sauberes Gewissen haben?“ Der Mann blickte zu Boden. „Würden Sie nicht weglaufen, wenn sich ein unbekanntes Schiff in Ihr Kielwasser hängt?“
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Die Taktik war in den unsicheren Gewässern des Mittelmeeres durchaus normal, wußte Hasard. Aber nicht in diesem Fall. Er sah dem Spanier an, daß er log — und daß er Angst hatte. „Sie lügen“, sagte er gefährlich leise und trat einen Schritt auf den Mann zu. Der Spanier öffnete den Mund, als ob er protestieren wolle. Dann senkte er den Kopf und nickte. „Sie haben recht, Senor. Wir hatten kein reines Gewissen. Das heißt, die beiden Engländer nicht. Sie haben uns gezwungen, die Lichter zu loschen und nach Norden abzudrehen.“ „Ich habe es ja gewußt.“ Hasard packte den Spanier an der Brust. „Wo sind die Kinder? Wo haben Sie sie versteckt?“ „Sie sind nicht mehr an Bord, Senor“, sagte der Spanier ängstlich und versuchte, sich aus Hasards Griff zu befreien. Hasard schüttelte ihn wie eine Ratte. „Ich schwöre es bei allem, was mir heilig ist, Senor! Wir sind in der Nacht einem griechischen Kaiki begegnet, und die beiden Engländer haben uns gezwungen, sie und den verwundeten Mann und die beiden Kinder überzusetzen.“ „Sie lügen!“ sagte Hasard und hatte Mühe, seine Wut zu beherrschen. „Ich habe einen der beiden Engländer vorhin am Heckfenster dieses Schiffes gesehen. Einen Mann mit einem grauen Spitzbart. Wenn Sie mir nicht sofort sagen, wo die Kinder sind, lasse ich Sie kielholen.“ „Kommen Sie, Senor.“ Die ruhigen Worte des Spaniers überraschten Hasard so, daß er ihn losließ. „Kommen Sie.“ Der Mann öffnete die Tür, und sie gingen den schmalen Gang entlang zur hinteren Kammer an der Steuerbordseite. „Hier ist der Mann.“ Der Spanier trat an die Koje, die ordentlich gemacht schien und schlug die Decke zurück. Hasard starrte in das hohlwangige Gesicht eines alten, grauhaarigen Mannes mit einem Spitzbart. „Den Kapitän haben Sie am Fenster gesehen, Senor“, sagte der Spanier leise.
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„Er hatte ein schweres Herzleiden und hat die Aufregung nicht ertragen.“ „Das tut mir leid“, sagte Hasard ehrlich. Er hatte gehofft, daß es keine Opfer geben würde. Auch nicht auf der anderen Seite. „Er hätte sowieso nicht mehr lange gelebt“, sagte der Spanier tröstend. „Keiner von uns macht es mehr lange.“ „Keine Spur von den Kindern“, meldete der Profos. „Sie sind auch nicht an Bord.“ Hasard winkte ab und versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen. Wieder einmal war er ihnen dicht auf den Fersen gewesen, und im letzten Moment hatten Keymis und Burton ihn ausgetrickst. „Zurück an Bord, Ed.“ Carberry stieß einen gellenden Pfiff aus. Pete Ballie legte das Ruder nach Backbord, und die „Isabella“ scherte auf die spanische Galeone zu. „Einen Augenblick noch, Sir.“ Der Kutscher hielt Hasard zurück, als die anderen über die Bordwand kletterten. „Was ist denn?“ „Ich habe hier ein paar Sachen entdeckt, die wir gut brauchen könnten.“ „Kutscher! Ich habe euch allen schon hundertmal gesagt, daß nichts gestohlen wird!“ „Ich dachte, wir könnten die Sachen vielleicht kaufen, Sir.“ Der Kutscher hob die Brauen. „Die Männer haben schon so lange kein frisches Gemüse mehr gehabt, und da meinte ich, daß wir einiges mitnehmen könnten.“ Hasard wandte sich an den grauhaarigen Bootsmann. „Können Sie etwas Proviant entbehren, Senor?“ „Leicht“; sagte der Spanier lächelnd. „Alte Menschen brauchen nicht mehr viel zum Leben.“ 11. Das Schiff steuerte Nord-Nordost. Die Liparischen Inseln lagen Backbord, und am Horizont stand die Rauchfahne des Vulkans Stromboli. Hasard hatte sich entschlossen, durch die schmale Straße von Messina zu brechen,
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statt den sichereren, aber erheblich längeren Weg durch die Straße von Tunis zu nehmen. Nur so konnten sie hoffen, den Vorsprung des Kaikis aufzuholen und es vor Piräus zu erwischen. Die „Panayotis“ war der spanischen Galeone auf der Heimreise von Sardinien begegnet und würde unterwegs keine anderen Häfen mehr anlaufen, hatte Hasard von dem spanischen Bootsmann erfahren. Wieder hatte er alles Zeug setzen lassen. Der Wind wehte weiter aus Südwest und hatte etwas aufgefrischt. Die „Isabella“ lag ein paar Grad nach Lee über, und ihr Bug schob eine riesige, gischtende Bugwelle vor sich her. Kurz vor sechs Uhr wurde es dunkel. Über der Insel Stromboli lag jetzt der rötliche Feuerschein des auf Sparflamme kochenden Vulkans. Am östlichen Horizont flammten die ersten Lichter auf – die italienische Küste. Genau voraus die Stadt Palmi. Hasard wartete, bis er etwa drei Meilen von der Küste entfernt war, dann erst drehte er auf Süd-Südost auf die schmale Straße zu. Zwischen dem Leuchtturm auf dem Punta del Faro und der Festlandküste war sie nur knapp drei Seemeilen breit. „Scylla und Charybdis“, murmelte Hasard, als das Schiff auf den Flaschenhals zusteuerte. „Was?“ fragte Dan, der neben ihm an der Balustrade lehnte. „Zwei Ungeheuer, die früher hier links und rechts von der Straße gelauert und alle Seeleute verschlungen haben sollen“, erklärte Hasard. „Das muß aber schon ‘ne Weile her sein“, meinte Dan trocken. „Ich habe bis jetzt noch nicht mal ‘ne gewöhnliche Seeschlange entdeckt.“ „Kanonen sind genauso gefährlich wie Ungeheuer“, sagte Hasard. „Vielleicht noch gefährlicher.“ Er hob das Fernrohr und blickte zu beiden Ufern hinüber. Er war sicher, daß die Enge von mindestens einem Dutzend Kanonen bewacht wurde. Aber wenn Landgeschütze auch schwerer sein konnten als Schiffskanonen, und deshalb auch eine
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erheblich größere Reichweite hatten, noch gab es keins, das über eine Meile weit schießen konnte. Solange er sich also in der Mitte der Enge hielt, war die „Isabella“ ziemlich sicher. Gefahr bestand nur, wenn sie von anderen Schiffen zu einem der Ufer gedrängt würde. Viel Platz zum Manövrieren gab es hier nicht. „Achte auf Schiffe, die auf uns zulaufen, Luke!“ rief er zum Großmars hinauf. „Bis jetzt sehe ich nur ein paar Lichter, die zwischen Reggio und Messina hin und her schwabbern. Werden Fährboote sein oder so was.“ „Halte die Augen offen, Luke.“ „Aye, aye, Sir.“ Aber es war dann nicht Luke, der das Schiff entdeckte, sondern Dan. Und auch er sah es erst, als es schon zu spät war. Die Galeere schoß hinter dem Kap Punta del Faro hervor. Es war ein riesiger Dreidecker, der von fast hundert Riemen angetrieben wurde, und das Schiff wurde erst gesehen, als es weniger als zweihundert Yards heran war und in den hellen Lichtkreis des Leuchtturms geriet, auf dem wahrscheinlich auch die Beobachter saßen, die den Angriff befohlen hatten. „Hart Backbord! An die Brassen!“ rief Hasard, als er die Umrisse der Galeere Steuerbord voraus auftauchen sah. Er mußte versuchen, den Sizilianer vor seine Steuerbordbreitseite zu bekommen und gleichzeitig vermeiden, vor die Rohre der Galeere zu geraten. Aber das Ruderschiff war wendiger als die schwere Galeone, und die erste Salve krachte, als die „Isabella“ mitten in der Drehbewegung war. Kettenkugeln und gehacktes Blei fetzten über das Deck der „Isabella“, schlugen ein riesiges Loch in das Großsegel und rasierten den Besanmast dicht über dem Deck ab. Er kippte auf das Ruderhaus, schlug es in Trümmer und klemmte Pete Ballie ein. Das Schiff lief aus dem Ruder. Hasard fühlte Blut über seine rechte Wange rinnen. Wahrscheinlich ein Mastsplitter.
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„Helft mir!“ rief er den drei Männern zu, die an den Drehbassen des Achterdecks standen, und begann, die Trümmer des Ruderhauses beiseite zu zerren. Smoky, Bob Grey und Sam Roskill stemmten den schweren Dachteil zur Seite, der wie ein Rammklotz auf Pete Ballie hinuntergekracht war. Pete war bewußtlos, und das war gut so. Sein rechter Arm war blutverschmiert, und die Elle in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt. „Sofort zum Kutscher mit ihm.“ Hasard riß noch ein paar Trümmer zur Seite, um das Rad freizukriegen. „Laß mich mal ran.“ Ferris Tucker schwang seine riesige Axt über den Kopf, und nach drei Hieben brach ein schwerer Balken, der das Rad blockierte, in Stücke. „Schöne Scheiße“, murmelte Ferris, als das Rad frei lag. Der Radkranz war abgebrochen, die meisten Speichen nur noch kurze Stumpen. Hasard stemmte sich in den Rest des Rades und fühlte Widerstand. „Ich glaube, es funktioniert noch!“ Er starrte zum Bug hinüber, der langsam nach Backbord schwang. Die „Isabella“ ging wieder an den Wind, die schlaff herabhängenden Segel füllten sich, und das Schiff nahm Fahrt auf. Hasard starrte auf das Deck hinunter, als Smoky und Sam Roskill den verwundeten Pete Ballie den Niedergang hinabschleppten. Sonst schien von den Männern niemand verletzt worden zu sein. An Steuerbord blitzte es auf, ein dumpfes Dröhnen rollte über das Wasser, und zwanzig Yards von der Bordwand sprang eine riesige Fontäne auf. Sie waren der Scylla zu nahe geraten, erkannte er. Oder war es Charybdis? Jedenfalls waren sie mit dem verklemmten Ruder zu nahe an die sizilianische Küste gelaufen, und jetzt wollten die schweren Landgeschütze auch mitmischen. Aber die Irrfahrt hatte wenigstens den Vorteil gehabt, daß die Galeere an ihnen vorbeigeschossen war und nun versuchte, von achtern aufzuschließen.
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„Shane! Batuti! Zu mir!“ schrie Hasard. Mit der lendenlahm geschossenen „Isabella“ mußte er sich die Burschen möglichst weit vom Hals halten. Und dazu waren die Pfeile der beiden am besten geeignet. „Laß den Dreck liegen und übernimm das Ruder“, sagte er zu Bob Grey, der noch immer Trümmer von Ruderhaus und Besanmast beiseite räumte. Bob packte die Speichenstumpen. des Rades, und Hasard trat an das achtere Schanzkleid. Er überzeugte sich gerade, daß beide Drehbassen feuerbereit waren, als die beiden Riesen der „Isabella“ erschienen. Shane und Batuti hatten ein paar Dutzend Brandpfeile unter den Armen. „Haltet die Galeere auf Distanz“, wies Hasard sie an. „Distanz, gut“, echote der Gambia-Neger grinsend und stellte sich das Kohlebecken zurecht, in dem sie die Spitzen der Brandpfeile anzünden wollten. „Warte noch etwas“, hielt Shane ihn zurück, als er sofort den ersten Pfeil losschicken wollte. „Sie sollen ruhig noch etwas näher herankommen und sich richtig sicher fühlen.“ Die Riemen der Galeere krebsten wie die Beine einer riesigen Spinne durch das Wasser, und wenige Minuten später war sie auf dreihundert Yards heran. „Jetzt!“ Zwei Brandpfeile zischten gleichzeitig von den Sehnen. Einer bohrte sich in das breite Lateinersegel, der andere schlug ins Vordeck der Galeere, und Sekunden später entzündeten sich die Pulverladungen in den Hohlschäften. Das Segel stand sofort in Flammen. Den Brand auf dem Vorschiff versuchten die Männer der vorderen Drehbassen mit Wasserpützen zu bekämpfen. „Sehr gut.“ Hasard nickte ihnen anerkennend zu, während die beiden zwei weitere Pfeile entzündeten. Normalerweise hätte der Treffer ins Segel die Galeere zurückfallen lassen. Auf keinen Fall hätte sie bei diesem Wind mit einer Galeone Schritt halten können. Aber
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bei der havarierten „Isabella“ konnten sie sogar noch Boden gewinnen. „Wie weit seid ihr mit dem neuen Großsegel, Ed?“ rief Hasard, ohne die Galeere aus den Augen zu lassen. „Ist in fünf Minuten oben!“ schrie Carberry zurück. „Na, los, ihr Rübenschweine! Der Seewolf wartet, daß ihr den Lappen setzt. Wenn das Ding nicht in fünf Minuten oben ist, ziehe ich euch die Haut streifenweise von euren Affenärschen!“ Sie schienen Hunderte von Männern auf der Galeere zu haben, dachte Hasard. Die Brandpfeile hatten an mehreren Stellen Flammen auflodern lassen. Aber jeder Brand wurde sofort von zwei oder drei Männern eingedämmt. Zweihundert Yards! Jetzt lagen sie im Feuerbereich der Bugdrehbassen. Die Sizilianer richteten die schmalen Rohre auf das Achterdeck der „Isabella“. Batuti und Shane schossen wieder fast gleichzeitig. Einer der Brandpfeile zischte zwischen den Männern hindurch und fuhr in das bereits lichterloh brennende Segel. Der andere schlug dem Mann in die Brust, der gerade die Lunte auf das Zündloch seiner Drehbasse drückte. Er fuhr zurück, riß das Rohr hoch, und die Kugel fuhr fast senkrecht in die Luft. Im nächsten Augenblick explodierte die Pulverladung des Pfeils und setzte den Mann in Brand. Bis zum Heck der „Isabella“ hörten sie sein Schreien, als er wie eine lebende Fackel zur Reling torkelte und ins Wasser stürzte. Sofort trat ein anderer Mann an seine Stelle und begann, das Rohr nachzuladen. Hasard zielte sorgfältig und feuerte. Die Kugel traf die Lafette der noch feuerbereiten Drehbasse und riß sie aus dem Deck. Hasard trat an die zweite Drehbasse. Auf der Galeere waren mehrere Männer dabei, das Bugkastell aufzuräumen. Sie schafften Verwundete fort, warfen einen Toten über Bord und wuchteten die umgerissene Drehbasse hoch. Die Sizilianer schienen eine unerschöpfliche Menschenreserve und
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Männer zu haben, die bereit waren, ihr Leben zu opfern. Hasard feuerte. Die Kugel fuhr zwischen die Männer, die die Drehbasse aufrichteten, riß zwei von ihnen zu Boden und fetzte ein Loch in das Backbordschanzkleid. „So kommen wir nicht weiter, Hasard“, hörte er eine Stimme sagen, als er die Steuerborddrehbasse wieder nachlud. Dan O’Flynn war auf das Achterdeck gekommen. Seine Jacke hing in Fetzen, und über die Stirn lief eine blutige Schramme. „Das weiß ich selbst“, knurrte Hasard, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. „Hast du einen besseren Vorschlag?“ „Vielleicht.“ Dan fuhr mit dem Handrücken über seine blutige Stirn. „Es ist vielleicht etwas riskant, aber es könnte die Lösung bringen.“ Hasard warf ihm einen raschen Blick zu. „Die rollende Salve“, erklärte Dan. „Bei dem Don hat sie doch wunderbar geklappt. Warum sollte sie hier nicht auch wirken?“ Hasard überlegte ein paar Sekunden. Es war riskant, erkannte er, verdammt riskant sogar. Sie mußten etwas nach Steuerbord abfallen und den Sizilianer reizen, sich neben die „Isabella“ zu setzen, um seine Breitseite zur Wirkung zu bringen. Aber bevor es so weit war, würde die „Isabella“ hart Backbord gehen und auf kürzeste Entfernung die acht Culverinen der Backbordbreitseite in den Bug der Galeere feuern. „In Ordnung, Dan. Sag Bescheid, wenn unten alles klar ist.“ „Schon passiert. Es kann sofort losgehen.“ Hasard mußte wider Willen grinsen. Der Junge hatte ein verdammt gut entwickeltes Selbstvertrauen. „Zehn Grad Steuerbord“, sagte er zu Bob Grey. Langsamer als sonst schwang der Bug herum. Nach etwa zweihundert Yards ließ Hasard auf den alten Kurs zurückgehen. Er blickte zur Galeere hinüber. Sie hatte durch das Manöver etwas auf - geholt, behielt aber ihren Kurs bei. Seine Berechnung war richtig gewesen. Die
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Sizilianer wollten sich neben die „Isabella“ setzen, um sie mit ihrer Steuerbordbreitseite beharken zu können. „Hart Backbord, Bob!“ Viel zu langsam drehte der Bug weg. „Gut so!“ Im stumpfen Winkel scherte die „Isabella“ in den Kurs der Galeere. Drüben krachte jetzt eine Drehbasse, und die Kugel surrte dicht über Hasards Kopf weg. Drohend schob sich der hohe Bug der Galeere auf die „Isabella“ zu. Der Winkel war zu kurz! Der Sizilianer würde sie rammen! Und dann dröhnten die schweren Culverinen der Backbordbatterie. Eine rollende Salve, und eine Kugel nach der anderen fetzte in die Bugplanken der Galeere. Das Oberdeck brach zusammen. Drehbassen und Menschen stürzten in die See. „Hart Backbord, Bob!“ Der blonde, drahtige Mann reagierte sofort. Im letzten Augenblick drehte die „Isabella“ ihr Heck aus dem Kurs der Galeere, deren Bordwand nur eine der großen Hecklaternen abriß. Krachend brachen Dutzende von Riemen, als die Galeere am Heck der „Isabella“ vorbeischerte. Wenn die Brüder einen Funken Verstand haben, tun sie mit uns das gleiche und knallen uns das Heck weg, überlegte Hasard und krampfte die Hände um die Balustrade. Aber die Galeere lief vorbei, ohne daß ein Schuß fiel. Auf einem sinkenden Schiff haben die Menschen andere Sorgen. Der Bug des Schiffes lag schon ziemlich tief im Wasser, und sie versuchten, heil an Land zu kommen, bevor es absoff. Hasard sah, daß Reserveriemen aus den Backbordduchten geschoben wurden. Im Oberdeck griffen jetzt sogar die Soldaten
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zu, um die Galeere möglichst rasch in seichtes Wasser zu bringen. „Heißt Hauptsegel!“ Die Blöcke knarrten, und die Rah stieg am Hauptmast hoch. „Hat ein bißchen länger gedauert als fünf Minuten!“ rief Ed Carberry entschuldigend. „Aber die Männer hatten zwischendurch noch etwas anderes zu tun.“ * Die Straße von Messina lag hinter ihnen. Scylla und Charybdis hatten ihr Opfer wieder freigeben müssen. Im Schein der aufgehenden Sonne starrte Hasard über das Deck der „Isabella“. Sie hatte ziemlich Federn lassen müssen, erkannte er. Der zerschossene Besanmast war abgehackt und über Bord geworfen worden. Eine Kugel hatte ein Stück des Backbordschanzkleides mitgenommen, und die Männer würden eine ganze Weile zu tun haben, um die Schäden zu beseitigen. Wahrscheinlich würden sie eine Weile in irgendeinem Hafen liegen müssen, um alles wieder richtig ins Lot zu bringen. „Das Kaiki erwischen wir jetzt nicht mehr“, sprach Ben Brighton Hasards Gedanken aus. Hasard nickte. Mit dem lendenlahmen Schiff bestimmt nicht. „Aber das heißt noch lange nicht, daß ich die Jagd aufgebe, Ben.“ „Das habe ich auch nicht erwartet“, sagte Brighton ruhig. Auf dem Meer war die Jagd zu Ende, wußte Hasard. Aber er würde die beiden Bastarde auch zu Lande weiterjagen, so lange, bis er sie erwischt hatte, bis seine Kinder bei ihm an Bord der „Isabella“ waren. „Piräus“, murmelte er. „Nach Piräus ...“
ENDE