Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #28
Jan wird bedroht
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Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #28
Jan wird bedroht
So sehr es dem jungen Meisterdetektiv Jan auch widerstrebt, er muß ein Mädchen zu seiner Mitarbeiterin machen. Freilich, es ist ein forsches, sportgewandtes Mädchen, diese Hanne Beyer, und sie fürchtet sich weder vor Gespenstern noch vor gefährlichen Verbrechern; aber eine Schwäche hat sie, die Jan sehr bald entdeckt… ISBN 3-275-00587-1 Originals: «Jan og stemmen i mörket» und «Jan og fjern synsmysteriet», Aus dem Dänischen übersetzt von Ursula von Wiese 1975, Albert Müller Verlag
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Buch KNUD MEISTER UND CARLO ANDERSEN Jan wird bedroht Eine Detektivgeschichte für die Jugend («Jan als Detektiv», Band 28) So sehr es dem jungen Meisterdetektiv Jan auch widerstrebt, er muß ein Mädchen zu seiner Mitarbeiterin machen. Freilich, es ist ein forsches, sportgewandtes Mädchen, diese Hanne Beyer, und sie fürchtet sich weder vor Gespenstern noch vor gefährlichen Verbrechern; aber eine Schwäche hat sie, die Jan sehr bald entdeckt: Sie hat Angst vor Mäusen! Mit einem Gespenst bekommen die beiden es nämlich zu tun – wenigstens scheint es so –, jedenfalls mit einer geheimnisvollen Stimme, die Jan mit dem Tode droht. Aber damit hat es nicht sein Bewenden, denn kaum ist dieser Fall geklärt, folgt auch schon der nächste, in den Hannes Onkel, ein reicher Schiffsreeder, verwickelt ist. Er stellt einen Privatdetektiv an, der bei einem Kostümfest die wertvolle Perlenkette seiner Frau bewachen soll. Daß die kostbaren Perlen trotzdem verschwinden, dafür kann der redliche Privatdetektiv nichts, und doch ist er im Kostüm eines roten Fechters der Dieb. Wie Jan hinter die verwickelten Zusammenhänge kommt und wie Hanne ihr Teil dazu beiträgt, den flüchtigen Dieb aufzuspüren – nicht zu vergessen Jans prächtigen Schäferhund Boy, der die kostbare Perlenkette findet –, das erzählen die beiden dänischen Autoren spannend, wie es die jungen «Jan»-Freunde erwarten! ALBERT MÜLLER VERLAG RÜSCHLIKON-ZÜRICH • STUTTGART • WIEN
Die Bände der Reihe «JAN ALS DETEKTIV» 1 Jan wird Detektiv 2 Jan und die Juwelendiebe 3 Jan und die Kindsräuber 4 Das Geheimnis der «Oceanic» 5 Jan und die Falschmünzer 6 Spuren im Schnee 7 Der verschwundene Film 8 Jan auf der Spur 9 Jan ganz groß! 10 Jan stellt 20 Fragen 11 Jan gewinnt die dritte Runde 12 Jan packt zu 13 Jan ruft SOS 14 Jan hat Glück 15 Jan und die Schmuggler 16 Jan, wir kommen! 17 Jan siegt zweimal 18 Jan in der Falle 19 Jan, paß auf! 20 Jan und der Meisterspion 21 Jan schöpft Verdacht 22 Jan zieht in die Welt 23 Jan auf großer Fahrt 24 Jan und die Marokkaner 25 Jan und die Leopardenmenschen 26 Jan zeigt Mut 27 Jan und das verhängnisvolle Telegramm 28 Jan wird bedroht 29 Jan in der Schußlinie 30 Jan und das Gold 31 Jan und die Dunkelmänner 32 Jan und die Rachegeister 33 Jan und die Posträuber
ERSTES KAPITEL An der Ostküste der dänischen Provinz Jütland, nur einen halben Kilometer vom Kattegat entfernt, liegt in Djursland das alte Schloß Ulvsborg. Vom Meer aus sieht es bei grauem Wetter oder im Dämmerlicht eines Wintertags wie eine drohende Faust oben auf dem Hang aus, aber wenn die Sonne vom wolkenlosen Himmel herabscheint, übt die umgebende Landschaft ihre mildernde Wirkung aus, so daß das Renaissancegebäude keinen düsteren Eindruck macht. Als die Bauernkriege vor vielen Jahrhunderten zahlreiche Herrenhöfe in Schutt und Asche legten, entging Ulvsborg irgendwie diesem Schicksal, und während der Herrschaft Friedrichs II. (1559 bis 1588) wurden einige Teile im Renaissancestil umgebaut. Der große Haupttrakt ist dem Meer zugekehrt, und vom Turm und dem obersten Stockwerk kann man weit über das Kattegat sehen. Auf der Landseite breitet sich ein Park aus, der in Buchenwald übergeht; dazwischen liegt eine Heide mit niedrigem Gesträuch. Die beiden Seitenflügel sind die ältesten Teile des Schlosses, auf Granit erbaut. Steht man im Schloßhof, so kann man sich leicht in die Zeit zurückträumen, wo Spieße und Streitäxte in der Sonne glänzten und aus den dunklen Verliesen Kettenrasseln und Stöhnen ertönte, ja, man brauchte nicht viel Phantasie aufzubringen, um sich im finsteren, aber turbulenten Mittelalter zu fühlen. Droben vom Wehrgang konnten Bogenschützen den Angreifern einen Regen von Pfeilen entgegensenden, und aus den Schießscharten wurden die Kühneren der Angreifer, die sich den massiven Mauern näherten, mit kochendem Wasser und siedendem Pech empfangen. Wenn man das Hauptgebäude betrachtet, stellt man fest, daß in der Renaissance weniger Wert auf die Verteidigung als auf die Bequemlichkeit der Bewohner gelegt wurde. Damals rechnete man damit, daß die blutigen -4-
Bauernkriege ein für allemal beendet wären, und so gönnten sich die Burgherren mehr Licht und Luft als bei der älteren Anlage. Im großen und ganzen hat Schloß Ulvsborg auch im Innern sein mittelalterliches Gepräge bewahrt. Unter den Kreuzgewölben findet man immer noch die alten Verliese, und die langen Gänge sind mit Fliesen belegt. Hingegen haben die meisten Zimmer und der ehemalige Rittersaal Parkettboden erhalten, und mit der Zeit ist das Schloß mit Zentralheizung, Badezimmern, Toiletten und allem übrigen modernen Zubehör ausgestattet worden. Wie fast alle alten dänischen Schlösser ist Ulvsborg sagenumwoben. Durchaus glaubwürdige Leute behaupten, aus den tiefen Kellerräumen höre man nachts Seufzer und Kettenrasseln, und sowo hl in den fliesenbelegten Gängen als auch im Schloßhof habe man «die graue Dame» gesehen, als der verschleierte Mond einen unbestimmten Übergang zwischen Licht und Schatten schuf oder Nebelschwaden über die Heide und durch den Park wallten. Der Gutsbesitzer Winther, der jetzige Eigentümer des Schlosses, hatte nie dergleichen erlebt, und er konnte recht ärgerlich werden, wenn er es mit heidnischem Aberglauben zu tun bekam. Aber er vermochte nichts gegen die abergläubische Furcht, die in der Umgebung herrscht e; die Anwohner trauten sich nachts nicht in die Nähe des Schlosses. Vor einigen Jahren hatte eine Schmugglerbande in der Gegend ihr Unwesen getrieben, und da der Anführer, ein ehemaliger Einbrecher, sich den Aberglauben zunutze gemacht und als «Bruder Johannes» gespenstert hatte, war den Spukgeschichten neue Nahrung zugeführt worden. Dagegen half es auch nicht, daß das Gespenst als «der verrückte Jens» – so wurde Jens Eskildsen genannt – entlarvt und hinter Gitter gebracht worden war. Trotz dieser ganz natürlichen Lösung munkelten die Leute immer noch: «Sonderbar ist es dabei doch zugegangen…» -5-
Es war ein milder Sommerabend. Tagsüber hatte große Hitze geherrscht, und im «Blauen Salon» standen einige Fenster offen. Hier saß Gutsbesitzer Paul Winther in angeregtem Gespräch mit drei jungen Mädchen. Das Ehepaar Winther hatte keine Kinder, liebte es aber, Jugend um sich zu haben, und augenblicklich waren Lis Helmer, Yvonne Smith und Hanne Beyer zu Gast auf Ulvsborg. Yvonne war die Nichte des Gutsbesitzers und die Tochter von Ingenieur Smith, der sich mit Jan Helmers Freunden immer noch auf einer Weltreise befand. Ihre zwei Jahre jüngere Freundin Hanne war zum erstenmal auf Ulvsborg und genoß den Aufenthalt ganz besonders. Hanne war ein schlankes, sportgewandtes Mädchen mit kurzgeschnittenen blonden Haaren und blitzblauen Augen, die Humor und Abenteuerlust verrieten. Man brauchte nicht lange mit ihr zu reden, um zu merken, daß sie schlagfertig und intelligent war; ihre lustigen Beiträge zum Gespräch riefen oft Gelächter hervor. Lis hatte sie erst auf dem Schloß kennengelernt, aber sofort große Stücke von ihr gehalten. Der Altersunterschied zwischen Hanne und den beiden andern fiel überhaupt nicht ins Gewicht. Die Unterhaltung hatte sich um Lis Helmers bevorstehende Hochzeit gedreht, und Winther sagte zum Schluß: «Ich erinnere mich noch gut, wie du Jens Bach hier kennenlerntest. Einen besseren Mann könntest du gar nicht bekommen. Er bewies damals Mut und Entschlossenheit, als er Jan unter die Arme griff*. Warum hast du ihn eigentlich nicht mitgebracht?» «Er wurde ja nicht eingeladen», antwortete Lis. Der Gutsbesitzer lachte. «Dummes Zeug! Für Jens Bach sind doch keine feierlichen Einladungen nötig. An Gastzimmern fehlt es uns wahrhaftig nicht, und in der Speisekammer werden wohl noch ein paar Bissen zu finden sein. Du hättest Jan und Jens gut mitbringen können, aber vielleicht haben die beiden so viel zu tun, daß sie sich keine Ferien leisten können?» -6-
«Zu tun hatten sie einiges», erklärte Lis, deren Miene sich verdüstert hatte. «Jan kann sich ja von gefährlichen Abenteuern nicht zurückhalten, und seit er von der Weltreise heimgekommen ist, hat er Jens ein paarmal in eine Verbrecherjagd verwickelt. Ich hoffe nur, daß sie keine Dummheiten machen, während ich hier auf Ulvsborg bin…» «Ach was», erwiderte Winther, «Jan ist wie eine Katze, die immer auf die Füße fällt, und dein Jens ist bei ihm in guten Händen.» Er wandte sich an Hanne: «Für dich wäre es auch nett, Jan kennenzulernen…» «Das bezweifle ich», warf Lis ein. «Jan interessiert sich nicht für Mädchen, sondern nur für Leute, die er in seine Unternehmungen einspannen kann.» «Das wird sich noch ändern», meinte Winther. «Es könnte ja auch sein, daß ich dieselbe Wellenlänge habe wie er», sagte Hanne übermütig. «Ich interessiere * Davon erzählt der 16. Band der «Jan»-Reihe mit dem Titel «Jan, wir kommen!», ebenfalls erschienen im Albert Müller Verlag, Rüschlikon-Zürich, und in jeder guten Buchhandlung erhältlich. mich ebensowenig für junge Männer, die nur mit mir tanzen oder ins Kino gehen wollen. Mir sind spannende Erlebnisse und Sport wichtiger.» «Da fällt mir ein», sagte Yvonne, «hast du meinem Onkel schon von deinem Erlebnis im Keller erzählt?» «Nein.» «Was ist das für ein Erlebnis?» fragte der Gutsbesitzer. «Na ja, ein Erlebnis kann man es eigentlich nicht nennen», berichtete Hanne. «Ich schaute mich gestern abend ein bißchen im Schloß um, und als ich in einen der größeren Kellerräume gelangte…» «Hu, wie gruselig!» rief Yvonne. -7-
«Gruselig war es nicht, denn unten ist ja fast überall elektrisches Licht. Da hörte ich plötzlich ein Gerassel und wurde natürlich neugierig…» «Neugierig?» wiederholte Winther erstaunt. «Bekamst du es nicht eher mit der Angst zu tun? Hand aufs Herz!» «Vielleicht», gab Hanne zu, «aber meine Neugier war stärker, jedenfalls wollte ich die Sache untersuchen. Schließlich kam ich in einen kleineren Kellerraum, wo kein elektrisches Licht ist. Trotzdem konnte ich rostige Ketten erkennen, die in der Wand eingelassen sind, und ich bin sicher, daß sie gerasselt haben. Ist das ein altes Verlies?» «Ja, das stimmt, glaube ich», antwortete Winther. «Aber die Ketten können doch nicht von selbst rasseln.» Hanne entgegnete fest: «Außer mir war aber keine Seele im Keller.» «Vielleicht ist eine Ratte an die Ketten gestoßen», meinte Lis. Hanne ließ sich nicht beirren: «Die längste Kette hängt so hoch, daß eine Ratte nicht daran stoßen kann. Durch ein kleines Guckloch kommt zwar etwas Luft herein, aber es könnte niemals ein so starker Luftzug entstehen, daß sich die Ketten bewegen.» «Ich muß sagen, du hast die Verhältnisse gründlich untersucht», bemerkte Winther. «Vermutlich hast du dich verhört.» «Bestimmt nicht, ich hörte ganz deutlich ein Gerassel, ein paar Sekunden lang ziemlich laut, und dann war plötzlich alles still.» Der Gutsbesitzer schwieg. Er wollte den jungen Mädchen nicht verraten, daß er vor einigen Tagen das Gerassel selbst gehört und tags darauf vom Futtermeister Carlsen denselben Bericht erhalten hatte. Carlsen war ein besonnener, nüchterner Jütländer, der nicht so ohne weiteres an die «graue Dame» oder an gespenstische Reiter mit dem Kopf unter dem Arm glaubte; -8-
aber er hätte einen heiligen Eid darauf ablegen können, daß die Ketten im Verlies gerasselt hatten, als er in den Keller gegangen war. Winther fühlte sich leicht gereizt, als er daran dachte. Wenn drei verschiedene Personen unabhängig voneinander das Rasseln gehört hatten, mußte man ja an den Tatbestand glauben; aber andrerseits mußte es dafür eine ganz natürliche Erklärung geben. Von einem Spuk konnte selbstverständlich keine Rede sein – von so einem dummen Aberglauben ließ er sich gewiß nicht beeinflussen, obwohl man ihm fünfzehn Jahre lang die Ohren mit Gespenstergeschichten vollgeredet hatte. Doch wie ließ sich eine Sache abtun, die er mit eigenen gesunden Sinnen wahrgenommen hatte? Gab es vielleicht doch etwas, das die normale menschliche Vernunft nicht zu erklären vermochte? Unwillkürlich knurrte Winther ärgerlich vor sich hin, so daß Yvonne ihn mitfühlend fragte: «Was hast du, Onkel Paul?» Er schüttelte den Kopf. «Nichts nichts», wehrte er ab und stand auf. Er ging zu einer tieferen Fensternische und blickte in den Park hinaus. In der Dunkelheit sah man deutlich die Nebelschwaden, die seltsame Gestalt annahmen, wenn der Wind sie durchs Schloßtor trieb. Er lächelte, weil er daran denken mußte, wie leicht diese eigentümlichen Nebelformen die Phantasie einfacher Leute anregen konnten, so daß daraus die Erscheinung einer «grauen Dame» wurde. Und dann war es kein großer Schritt mehr zu einem kopflosen Reiter… Unvermittelt drehte er sich um. Mit gespielt harmlosem Ton sagte er: «Ich habe einen Gedanken, Kinder. Ich finde es auf Ulvsborg ziemlich langweilig für euch, deshalb will ich Jan anrufen. Wenn er und Jens ein paar Tage herkommen können, wird es hier viel unterhaltender werden.» «Ein glänzender Gedanke!» rief Lis hocherfreut. Hanne stimmte vergnügt ein: «Ja, das finde ich auch. Dann kann sich Jan nicht nur das geheimnisvolle Rasseln anhören, -9-
sondern ich habe auch die Ehre, den tüchtigsten Junior-Detektiv von Dänemark kennenzulernen!»
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ZWEITES KAPITEL Als Jan Helmer von einem Spaziergang mit seinem Hund Boy heimkehrte, erfuhr er, daß ihm ein persönlicher Anruf aus Ulvsborg bevorstand. Zuerst dachte er, Lis wolle nur hören, wie es allen zu Hause ging; aber als sich Paul Winther meldete, ihn mit Jens zusammen aufs Schloß einlud und ihm die Beweggründe auseinandersetzte, erwachte sein Interesse. Winther schloß mit den Worten: «Den Mädchen habe ich noch nichts gesagt, es wäre ja sinnlos, sie zu beunruhigen. Aber ich finde keine Ruhe, bis das Geheimnis der rasselnden Ketten enthüllt ist. Wann könnt ihr abfahren?» «Morgen mit dem ersten Zug», antwortete Jan bereitwillig. «Ich nehme auch Boy mit. Offengestanden, Herr Winther, ich langweile mich gerade weidlich, denn ich habe seit einem Monat nichts mehr erlebt. Ich zweifle nur sehr, ob Jens mir wirklich eine Hilfe sein wird. Wenn Lis dabei ist, wird sie ihn sicher in Beschlag nehmen und nicht erlauben, daß er mit mir Detektiv spielt.» «Es ist ja gar nicht gesagt, daß es hier etwas aufzuklären gibt.» Winther lachte. «Im übrigen habe ich eine neue Mitarbeiterin für dich, eine Freundin von Yvonne. Sie heißt Hanne Beyer. Ich kann dir versichern, daß sie Mumm in den Knochen hat. Benachrichtige also Jens, und dann erwarten wir euch morgen nachmittag. Abgemacht?» «Abgemacht, ja. Auf Wiedersehen, Herr Winther.» Als Jens beim Abendessen seinen Eltern von Winthers Anruf und der Einladung erzählte, lachte sein Vater, der als Kriminalkommissar nur nüchterne Tatsachen und handfeste Beweise gelten ließ, wohingegen seine Mutter wie gewöhnlich Bedenken hatte. -11-
Sie sagte mit einem Seufzer: «Ach, Jan, mußt du dich denn schon wieder in ein Abenteuer stürzen?» «Na, na», beschwichtigte Mogens Helmer, «von einem Abenteuer kann wohl keine Rede sein, wenn ein paar Ketten rasseln.» Dann wandte er sich an seinen Sohn: «Aber was auf Schloß Ulvsborg auch los sein mag, ich verlange von dir, daß du dich nicht in Gefahr begibst und sofort die Polizei benachrichtigst, wenn es brenzlig wird. Ist das klar?» «Natürlich, Vater.» Der Kommissar nickte zufrieden. «Ich bin überzeugt, daß es mit den rasselnden Ketten nichts Besonderes auf sich hat, aber die Luftveränderung wird dir auf alle Fälle gut tun.» Als Jan und Jens am folgenden Morgen mit Boy nach Jütland fuhren, waren beide aufgeräumt, weil sie sich auf die Abwechslung freuten. Bei Jens kam die Freude aufs Wiedersehen mit seiner Verlobten hinzu. Auf einer kleinen Station mußten sie in einen Autobus umsteigen. Obwohl Jan fast immer von einem sechsten Sinn geleitet wurde, so daß ihm selten etwas entging, schenkte er diesmal einem Mann, der auf einem der hintersten Plätze im Autobus saß, keinen Blick. Es war ein großer, hagerer Mann, auffallend gepflegt und gut angezogen, der keineswegs wie ein Dutzendmensch aussah. Er zuckte zusammen, als Jan einstieg, und im nächsten Augenblick zog er sich den Hut tief in die Stirn und verdeckte mit der Linken die untere Gesichtshälfte. So blieb er unbeweglich sitzen, bis Jan mit dem Rücken zu ihm Platz genommen hatte. Dann pfiff er unhörbar durch die Zähne, und in seinen stechenden Augen glühte es unheilvoll auf. Wäre Jans Blick beim Einsteigen auf ihn gefallen, so hätte er ihn zweifellos wiedererkannt, und er hätte sich nicht so behaglich und seelenruhig hingesetzt, wie es nun der Fall war. Während er sich vergnügt mit seinem Schwager unterhielt, ahnte er nicht, daß -12-
wenige Meter hinter ihm ein unversöhnlicher, gefährlicher Todfeind saß. Auf Schloß Ulvsborg wurden die neuen Gäste herzlich empfangen. Die jungen Mädchen waren unten am Strand, aber Paul Winther und seine Frau Erna ließen es sich nicht nehmen, Jan und Jens erst einmal zu einem reichgedeckten Kaffeetisch zu bitten. «Da sieht man, wie die Zeit vergeht», sagte Winther munter. «Als ich dich das letztemal sah, Jan, warst du noch in den Flegeljahren, und jetzt bist du ein junger Mann, den ich eigentlich siezen müßte.» «Nein, bitte nicht», wehrte Jan ab. «Er hat recht», sagte Frau Winther. «Ich sehe in ihm immer noch den lang aufgeschossenen Jungen von damals.» Boy lag neben dem Tisch auf dem Boden, und Winther, der ein guter Hundekenner war, hielt mit seiner Bewunderung nicht zurück. «Er übertrifft äußerlich sogar seinen berühmten Vater, aber ob er auch so tüchtig ist?» «Mindestens so tüchtig, wenn nicht noch tüchtige r», antwortete Jan im Brustton der Überzeugung. «Möglich, daß uns seine guten Eigenschaften in den nächsten Tagen zustatten kommen werden», sagte Winther. «Ich bin nämlich der Auffassung, daß hinter dem Gerassel im Keller irgend etwas steckt, selbstverständlich etwas, das sich auf natürliche Weise erklären läßt…» Seine Frau unterbrach ihn: «Nein, Paul, in diesem Punkt werden wir uns wohl nie einig werden. Es gibt Dinge zwischen Himmel und Erde, die wir kleinen Menschen nicht verstehen können. Hier auf Ulvsborg hat sich schon mancherlei Seltsames zugetragen. Das Gerassel ist einfach unheimlich, und ich bin der Ansicht, daß übernatürliche Kräfte im Spiel sind…» «Ach, Unsinn!» rief er leicht gereizt; aber Jan hatte den -13-
Eindruck, daß der Gutsbesitzer seiner Sache nicht ganz sicher war. «Für das Gerassel wird sich eine ganz natürliche Erklärung finden lassen, und Jan wird bestimmt dahinterkommen.» «Vielen Dank für das Vertrauen», sagte Jan lächelnd. «Ich will mein Bestes tun. Jedenfalls glaube ich nicht an Gespens ter. Ich gebe zu, daß man in Zweifel geraten kann, aber nur so lange, bis die natürliche Erklärung gefunden ist. So wird es auch in diesem Falle sein.» «Hoffentlich», seufzte Frau Winther mit düsterer Miene. In diesem Augenblick wurden draußen auf dem Gang Stimmen laut, und gleich darauf kamen die drei jungen Mädchen herein. Lis fiel mit einem Freudenschrei ihrem Verlobten in die Arme und rief: «Ach, du hast mir ja so gefehlt, Jens!» «So muß es auch sein», bemerkte Winther schmunzelnd. «Es ist ja geradezu unmenschlich, daß die Turteltauben sich ganze vier Tage nicht gesehen haben.» Yvonne begrüßte Jan kameradschaftlich; sie hatte ihn zwei Jahre lang nicht gesehen, und natürlich mußte er ihr von ihrem Vater berichten, der mit Jans Freunden immer noch auf der Weltreise war. Hanne stand ein wenig verlegen bei der Tür. Endlich besann sich Lis auf ihre gute Kinderstube und machte sie mit ihrem Bruder und ihrem Verlobten bekannt. Frau Winther hatte plötzlich alle Gedanken ans Übernatürliche vergessen und erwies sich als durchaus erdgebunden. Sie sagte munter: «Kinder, ich bin dafür, daß ihr alle Förmlichkeiten weglaßt und euch einfach duzt. Das ist immer eine gute Grundlage zum Freundschaftschließen. Einverstanden?» «Einverstanden», sagten Hanne und Jan wie aus einem Mund. Jan verlor keine Zeit, sondern suchte sofort seinen alten Bekannten Futtermeister Carlsen auf, um Näheres über die -14-
Ereignisse im Keller zu hören. Aus Carlsen war jedoch nicht viel herauszuholen; er konnte nur wiederholen, was der Gutsbesitzer bereits berichtet hatte, und zum Schluß fügte er hinzu: «Du weißt ja von früher her, Jan, daß ich keinen Alkohol trinke, und so kannst du sicher sein, daß ich das Rasseln wirklich gehört habe, obwohl kein Mensch im Keller war. Ich möchte beinahe wetten, daß Marschall Stig und seine Geächteten dort unten ihr Unwesen treiben.» Jan wußte nicht recht, was er antworten sollte. Die Geschichte von Marschall Stig, der 1286 mit seinen Getreuen wegen Mordes an Hauptmann Erik Glipping geächtet worden war, kannte er, und unwillkürlich dachte er daran zurück, wie er mit Erling zusammen den Geheimgang gefunden hatte, der vom Strand zu der uralten Burgruine führte, zur ursprünglichen Ulvsborg. Plötzlich durchzuckte ihn ein Gedanke. Der Geheimgang vom Strand zur Ruine hinauf war jetzt wahrscheinlich ganz zusammengestürzt, aber konnte es nicht sein, daß es auch zum jetzigen Ulvsborg einen geheimen Gang gab? Dieses Schloß war zwar jünger als die gleichnamige erste Burg, und in der Regel beruhten Sagen von Geheimgängen nur auf münd licher Überlieferung, gleichwohl mochte es sich lohnen, die Sache näher zu untersuchen. Der alte Futtermeister trat in seinen Holzschuhen von einem Fuß auf den andern. Man merkte ihm an, daß er gern irgendwie behilflich gewesen wäre; aber vorläufig genügte es Jan, daß Carlsen beschwören konnte, das Gerassel im Keller gehört zu haben. Als Jan zum Schloß zurückkehrte, kamen Jens und die drei jungen Mädchen gerade heraus. Alle hatten Badezeug unter dem Arm, und Lis fragte: «Na, Brüderchen, kommst du nicht mit uns ins Wasser?» «Nein, ich habe zu tun», wich er aus. -15-
«Er ist wasserscheu», rief Lis lachend. Jens flüsterte ihm ins Ohr: «Gibt es etwas, wobei ich helfen kann?» «Vielleicht später», flüsterte Jan zurück. Laut sagte er: «Doch, ich komme mit. Ich hole schnell mein Badezeug.» Fünf Minuten später waren alle fünf auf dem Weg zum Strand. Sie genossen das Vergnügen sehr. Jan ahnte nicht, daß ihm eine Überraschung bevorstand. Er war von jeher ein vorzüglicher Schwimmer gewesen und beim Kraulen noch nie von einem Kameraden übertroffen worden; aber als Hanne ihn zu einem Wettkampf herausforderte, mußte er es erleben, daß sie ihn um einige Meter schlug. Er vermochte es kaum zu fassen. «Du schwimmst ja wie ein Delphin», sagte er atemlos, als er bei der Boje eintraf, die das Ziel bildete. Sie lachte ihn an, während sie Wasser trat. «Findest du nicht, wir sollten zusammenarbeiten?» «Wie meinst du das?» fragte er verdutzt. «Beim Schwimmen…» «Unsinn, damit dürfen wir keine Zeit verlieren. Du brauchst doch sicher Hilfe, wenn du das Geheimnis der rasselnden Ketten aufklären willst.» Sie lachte über sein Gesicht. «Du, ich bin nicht von gestern, und ich kann mir denken, warum du nach Ulvsborg gekommen bist. Kannst du mich nicht als Hilfe brauchen?» «Dich – ein Mädchen!» Er war ganz verwirrt und betrachtete ihr lachendes nasses Gesicht. «Ich glaube nicht, daß ich Hilfe brauche.» «Du wirst schon sehen», rief sie siegessicher. «Komm, wir schwimmen zurück, aber diesmal nicht um die Wette.» Während Jan mit langen, ruhigen Stößen zum Ufer zurückschwamm, wunderte er sich immer noch über Hannes -16-
Vorschlag. Er mußte daran denken, wie seine Freunde ihn auslachen würden, wenn er sie durch ein Mädchen ersetzte. Am Strand ging Hanne abseits, um ihren Badeanzug zu wechseln. Lis trat zu Jan und fragte leicht spöttisch: «Na, Jan, konntest du sie schlagen?» Er schüttelte den Kopf. «Das glaube ich gern», lachte Lis. «Während du auf deiner Weltreise warst, haben wir nämlich eine neue Juniorenmeisterin im Kraulstil bekommen, und sie heißt Hanne Beyer!» «Donnerwetter!» stieß er hervor. «Irgendwie kam mir der Name bekannt vor. Vielleicht habe ich die Meldung in den dänischen Zeitungen gelesen, die ihr uns geschickt habt. Sie hat mir kein Wort von der Meisterschaft verraten.» «Hanne prahlt nie mit ihren Leistungen», sagte Lis. «Findest du sie nicht auch entzückend? » «Na ja…» brummte er widerstrebend. «Du wirst schon dahinterkommen, was für ein famoser Kerl sie ist.» Lis lächelte spitzbübisch. Jan wollte ihr eine patzige Antwort geben, aber die andern gesellten sich zu ihnen, und alle legten sich nun auf ihren Badetüchern an die Sonne. Es ergab sich ganz von selbst, daß die Rede wieder auf das rätselhafte Gerassel kam, zumal keiner Zweifel hegte, aus welchem Grunde Jan nach Ulvsborg eingeladen worden war. Die Meinungen waren geteilt. Yvonne und Lis neigten dazu, an etwas Übernatürliches zu glauben, für das die Menschen keine Erklärung finden konnten; doch sie wurden von den drei andern überstimmt. Jan sagte entschieden: «Ich hatte schon manchmal mit Dingen zu tun, die unheimlich und unverständlich zu sein schienen und dann doch eine natürliche Erklärung fanden. Hier in der Gegend gab es vor Jahren eine Spukgestalt, von den Leuten ‹Bruder -17-
Johannes› genannt, weil sie immer in einer Mönchskutte auftrat. Und was war es in Wirklichkeit? Ein ganz gewöhnlicher Einbrecher, der eine Schmugglerbande leitete…» Er brach unvermittelt ab und blickte geistesabwesend aufs Wasser. Lis fragte neugierig: «Was ist, Jan? Warum erzählst du nicht weiter?» Er kehrte zur Gegenwart zurück. «Es gibt nichts mehr zu erzählen. Mir ist nur aufgefallen, daß ‹Bruder Johannes›, der in Wirklichkeit Jens Eskildsen hieß, einige Jahre Gefängnis bekam. Vermutlich ist er inzwischen freigelassen worden…» «Also ein ganz realer Schluß einer Gespenstergeschichte», bemerkte Hanne nachdrücklich. «Wenn mir etwas Unheimliches begegnete, würde ich mich nicht ins Bockshorn jagen lassen.» Hanne Beyer war ein kluges Mädchen, aber sogar die klügsten Menschen können sich irren.
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DRITTES KAPITEL Es drohte Regen, möglicherweise ein Gewitter, denn die Luft war drückend. Dunkle Wolken ballten sich am Abendhimmel, als Jan mit Boy einen Spaziergang unternahm. Der Mond kam nur ab und zu zum Vorschein; dann lagen Bäume und Sträucher in blauweißem Licht, das kurz darauf vo n Dunkelheit abgelöst wurde. Da Jan die Umgebung des Schlosses von früheren Besuchen her genau kannte, fiel es ihm nicht schwer, sich in der Finsternis zurechtzufinden. Er ging langsam, während Boy umherstreifte. Der Hund schien die Schwüle nicht zu empfinden. Im Wald setzte sich Jan auf einen Baumstamm, um in Ruhe nachzudenken. Er dachte daran, daß er am nächsten Morgen die ihm anvertraute Aufgabe in Angriff nehmen wollte. Jens hatte sich ja anerboten, ihn dabei zu unterstützen, aber die Frage war, ob Lis ihn nicht allzusehr mit Beschlag belegen würde. Dann blieb ihm immer noch Hannes. Jan lächelte bei diesem Gedanken vor sich hin. Das Mädchen schien keine Furcht zu kennen, wenn es gewagt hatte, nach dem geheimnisvollen Gerassel das Verlies näher zu untersuchen. Neun von zehn Mädchen – wahrscheinlich auch ebensoviele Jungen – wären erschrocken weggelaufen. Boy schien nun doch müde geworden zu sein, denn er kam herbei und legte sich zu Jans Füßen nieder. Jan streichelte ihn, warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr und sagte: «Na ja, Boy, es wird Zeit, daß wir uns auf den Rückweg machen.» Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, da wurde er von einer seltsam ungemütlichen Stimmung erfaßt. Das kam ganz unerwartet, und er vermochte sich den Grund nicht zu erklären. An der Dunkelheit und der düsteren Umgebung lag es gewiß -19-
nicht, nein, es mußte etwas ganz anderes sein… aber was? Er hatte das Gefühl, von etwas Bösem und Gefährlichem beschlichen zu werden. Er schaute rings um sich, aber die Dunkelheit war dicht. Der sonst so wachsame Boy lag ruhig abwartend da. Demnach konnte der Hund nichts Ungewöhnliches bemerkt haben. Doch gerade das beunruhigte Jan. Er wußte ja, daß er sich im allgemeinen auf einen sechsten Sinn verlassen konnte, und jetzt fühlte er deutlich, daß etwas Böses im Anzug war… aber wieso reagierte Boy nicht? Er erhob sich und blieb reglos stehen. Der Hund war im gleichen Augenblick auf den Beinen; er blickte wedelnd zu seinem Herrn auf. Mit aller Macht schüttelte Jan das unheimliche Gefühl ab und schalt sich töricht. Er machte ein paar Schritte zum Weg hin, erstarrte aber, denn in der Dunkelheit ertönte eine heisere Flüsterstimme: «Gut, daß ich dich treffe, Jan, gut, daß ich dich treffe…» Er stand wie festgenagelt, während die Stimme fortfuhr: «Wie kannst du dich um diese Zeit in den Wald hinauswagen, Jan? Das kann für dich gefährlich werden, kann dich vielleicht das Leben kosten… und auch oben im Schloß lauert dir der Tod in jedem Winkel auf…» Ein leises, hohles Lachen erklang, dann sprach die Stimme weiter: «Das Schicksal redet mit dir, Jan, und du weißt, daß man mich nie herausfordern darf. Jedem, der sich mir widersetzt, ergeht es schlecht.» Boy wedelte unangefochten mit dem Schwanz, obwohl die Stimme lauter wurde: «Dies ist des Schicksals erste Warnung für dich, Jan, vielleicht wird es sogar die einzige sein. Vergiß nicht, daß auf Ulvsborg der Tod auf dich lauert!» Ein gedämpftes Hohngelächter – dann herrschte Stille. Später hätte Jan nicht zu sagen gewußt, wie lange er immer -20-
noch reglos im Wald stand, nachdem die Stimme verstummt war. Vielleicht handelte es sich um Minuten, vielleicht nur um Sekunden. Er kam eigentlich erst wieder zu sich, als er auf dem Waldweg zum Schloß zurückkehrte. Das unheimliche Gefühl war verschwunden, und er konnte wieder klar denken. Daß er nicht geträumt hatte, stand fest. Die Stimme war irgendwo in der Dunkelheit erklungen, aber Abstand und Richtung ließen sich unmöglich bestimmen. Boy mußte sie natürlich ebenfalls gehört haben, aber warum hatte er nicht die mindeste Unruhe gezeigt? Diese Überlegung verwirrte Jan. Ein Mensch, der mit so leiser Stimme vernehmbar sprach, konnte ja nicht weit entfernt sein; aber wie hatte er sich nähern können, ohne von Boy gewittert zu werden? Hatte der Hund am Ende versagt? Die Antwort auf diese Frage erhielt Jan ein paar Minuten später, denn kaum war er in den Park gelangt, da blieb Boy mit gespitzten Ohren stehen. Als er gar knurrte, erkannte Jan sofort, daß der Hund ein Lebewesen witterte. Jan lauschte mit angehaltenem Atem, aber ringsum war alles still. Nichts wurde laut – der Kies knirschte nicht, kein Zweig knackte, nichts raschelte im Laub. Trotzdem blieb der Hund in seiner wachsamen Stellung und knurrte. Als der Mond hinter den Wolken hervorkam, faßte Jan schnell einen Entschluß und befahl: «Such, Boy, such!» Sofort schoß der Hund wie eine Rakete los. Über die Richtung war er offenbar nicht im Zweifel. Er folgte einem Weg, der etwa fünfzig Meter entfernt um ein Gebüsch herumführte, und im nächsten Augenblick wurden Rufe und Gelächter hörbar, gemischt mit Boys Freudengebell. Dann tauchten Lis und Jens im Mondschein auf. «He, Jan!» rief Lis munter. «Machst du einen einsamen Mondscheinspaziergang?» -21-
«Ich bin ja mit Boy zusammen», antwortete Jan zerstreut. Lis lachte. «Das brauchst du uns nicht zu sagen. Das vierbeinige Ungeheuer hat uns beinahe zu Tode erschreckt, als wir hier friedlich lustwandelten. Was hast du denn, Jan? Bist du einem Gespenst begegnet?» Sie musterte ihren Bruder besorgt. «Nein, nein, ich habe gar nichts», wehrte er ab. Er hätte gern von seinem merkwürdigen Erlebnis berichtet, aber er mußte erst seine Gedanken sammeln. Boy hatte ja soeben bewiesen, daß mit seinen Sinneswahrnehmungen alles stimmte; folglich mußte die Stimme im Wald als weiteres unerklärliches Phänomen betrachtet werden. Jan verhielt sich ziemlich schweigsam, als er mit den andern zum Schloß zurückkehrte. Beim Abendessen kam die Rede nach allen möglichen Belanglosigkeiten wieder auf das Übernatürliche, und die Gastgeberin erzählte trotz des Einspruches von Herrn Winther die Geschichte der Ahnfrau von Schloß Lindenborg, die wegen des Mordes an ihrem Gatten im Jahr 1678 zum Spuken verdammt war. Sie schloß mit den Worten: «Voriges Jahr waren wir auf Lindenborg, und da ging ich der Sache natürlich nach. Sowohl die kleine Komtesse Elisabeth als auch der Gutsverwalter versicherten mir, sie hätten die graue Dame wandeln gesehen…» «Hu!» rief Yvonne schaudernd. «Hatte die Komtesse keine Angst vor ihr?» «Nein, sie nahm es ganz ruhig. Sie meinte, so etwas wäre reine Gewohnheitssache. Übrigens glaube ich, daß die übernatürlichen Wesen nur denjenigen etwas zuleide tun, die ihr Vorhandensein bezweifeln.» «Das soll wohl auf mich gemünzt sein, wie?» brummte Paul Winther. «Wenn du uns noch mehr solche Geschichten auftischst, wage ich mir keine Zigarre mehr anzuzünden, aus Furcht, ich könnte den Rauch in die verkehrte Kehle -22-
bekommen.» Er wandte sich lachend an Jan: «Was meinst du dazu, mein Junge?» «Na ja, man sollte mit seinen Äußerungen vielleicht vorsichtig sein, wenn so viele zuverlässige und nüchterne Leute übernatürliche Dinge erlebt haben.» Der Gutsbesitzer machte ein verdutztes Gesicht. «Es kommt mir wahrhaftig vor, als hättest du in kurzer Zeit deine Ansicht geändert. Es fehlt bloß, daß du uns erzählst, du wärst Marschall Stigs Gespenst im Park begegnet.» «Nein, ich bin keinem begegnet», erwiderte Jan ausweichend, und das entsprach ja der Wahrheit. Während die andern ein neues Gesprächsthema aufgriffen, sagte Hanne leise zu Jan: «Was hat sich heute abend ereignet, Herr Sherlock Holmes?» «Ereignet?» wiederholte er mit gespielter Verwunderung. Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm. «Tu doch nicht so unschuldig! Glaubst du vielleicht, ich hätte keine Augen im Kopf?» «Im Gegenteil, du hast sehr schöne blaue Augen.» «Danke. Hast du das wirklich gemerkt?» Sie lächelte ihn an. «Aber wir wollen nicht von meinen Augen reden. Was ist auf dem Spaziergang mit deinem Hund geschehen?» «Nichts… jedenfalls nichts von Bedeutung.» «Du Ekel! Du willst bloß nicht mit der Sprache herausrücken. Ich bin nicht etwa neugierig…» «Soso!» «Sondern ich möchte dir helfen. Aber wenn du dafür nicht zu haben bist, will ich dir etwas sagen…» «Und das wäre?» «Dann werde ich eben auf eigene Faust Detektiv spielen», sagte sie. «Und dann werden wir ja sehen, wer als erster zu -23-
einem Ergebnis kommt!» «Das wirst du nicht tun!» fuhr er sie erschrocken an. «Warum nicht?» fragte sie schnell. Jan war ratlos; er wußte nicht, was er sagen sollte. Die Lage kam ihm niederträchtig verwickelt vor. Hanne Beyer fürchtete sich offenbar vor nichts und niemand, am wenigsten vor Gespenstern; aber es konnte vielleicht doch gefährlich werden, wenn sie sich auf eigene Faust in ein Abenteuer stürzte. Sein Erlebnis im Wald war schuld daran, daß er diese Betrachtungen anstellte. Obwohl er sich den Kopf zerbrochen hatte, war es ihm nicht gelungen, dafür eine natürliche Erklärung zu finden. Zum zwanzigstenmal hielt er sich vor: Wenn es ein Mensch gewesen war, der da gesprochen hatte, mußte sich der Betreffende ganz in der Nähe befunden haben. Das aber war undenkbar, weil Boy nicht reagiert hatte. Aber wenn es kein Menschenwesen gewesen war… was dann? Als «Schicksal» hatte sich die Stimme ausgegeben und gesagt, es gelte Jans Leben auf Ulvsborg… Ach, dummes Zeug! Jan ärgerte sich über sich selbst. Daß er überhaupt auf derartige Gedanken kommen konnte! Aber schon ein paar Sekunden später war er aufs neue unsicher. Er dachte an das unheimliche Gefühl, das ihn befallen hatte, bevor die Stimme zu sprechen begann. Auch dafür gab es keine sogenannte natürliche Erklärung. Jetzt dünkte es ihn, daß böse und gefährliche Kräfte rings um Schloß Ulvsborg walteten, und er fand es unsinnig, wenn sich Hanne auf ein Wagnis einließ. Niemand konnte bestreiten, daß sich Jan Mädchen gegenüber immer besonnen und ritterlich verhalten hatte; aber nun spielten ihm seine Nerven einen Streich, und er fuhr Hanne gereizt an: «Ich will von diesem Blödsinn nichts mehr hören, hast du verstanden?» -24-
Sie nickte spöttisch. «Ich verstehe mehr, als du weißt, Herr Meisterdetektiv.» «Ein Glück für dich», antwortete er kurz. Mit engelhaftem Lächeln sagte sie: «Wie höflich du bist, wenn man sich in aller Ruhe mit dir unterhält, lieber Jan. Entweder hat dich deine Mutter bei der Erziehung allzusehr verwöhnt, oder deine Nerven sind ein bißchen ausgefranst.» Sie stand auf und fügte hinzu: «Wenn es mir gestattet ist, zu raten, so tippe ich auf die Erklärung mit den Nerven. Das nächste Mal werden wir sicher ein vernünftiges Gespräch führen können. Ich wünsche dir eine geruhsame Nacht.» Er blickte ihr nach, während sie auf die andere Seite des Tisches ging und sich zu Frau Winther und Yvonne setzte. Er war wütend auf sich selbst. Die ganze Sache entwickelte sich auf eine Art und Weise, wie er es sich nicht einmal im Traum hätte einfallen lassen. Jan hatte ein Gastzimmer im ersten Stock für sich allein erhalten. Es war hübsch und geschmackvoll eingerichtet, und wenn das weißgekalkte Kreuzgewölbe und die halbmetertiefen Fensternischen nicht gewesen wären, hätte man kaum vermutet, sich hier in einem alten dänischen Schloß zu befinden. Sogar ein anstoßendes kleines Badezimmer fehlte nicht. In seinem Zimmer schritt Jan rastlos auf und ab. So viele Gedanken wirbelten ihm durch den Kopf, daß er unmöglich schlafen konnte. Boy schien das zu spüren, denn er folgte seinem Herrn mit den Augen, die zu sagen schienen: «Was plagt dich, Jan? Kann ich dir nicht irgendwie helfen?» Aber augenblicklich konnte Boy nicht helfen. Jan wußte ja selbst nicht ein noch aus. Vergeblich suchte er eine Erklärung für das rätselhafte Geschehen im Wald. Dazu kam jedoch noch etwas Schlimmeres: Im Wald hatte er zum erstenmal in seinem Leben Angst gehabt. Darüber grübelte er erst jetzt nach, nachdem er etwas Abstand gewonnen hatte, und er war ehrlich -25-
genug, sich seine Furcht einzugestehen. Er hatte sich nie als einen «Helden» betrachtet, sondern es gehörte zu seinem Wesen, daß ihm Angst im allgemeinen fern lag. Schon oft hatte ihn peinigende Spannung ergriffen, und manchmal war ihm auch unheimlich zumute gewesen, aber richtige Angst hatte er bisher nicht gekannt. Er betrat eine Fensternische und öffnete das Fenster. Die Luft war nicht mehr so schwül, und die Wolken verzogen sich; das Gewitter schien sich anderswo ausgetobt zu haben. Der Park lag größtenteils in Mondschein gebadet. Jan stützte die Ellenbogen aufs Fenstersims, schaute hinaus und atmete in tiefen Zügen die Nachtluft ein. Plötzlich zuckte er zusammen. Irgendwo draußen im mondbeschienenen Park ertönte wieder die heisere, belegte Stimme: «Begreiflich, daß du nicht schlafen kannst, Jan. Das Schicksal hat heute abend mit dir gesprochen, und jetzt spricht es abermals. Überall auf Ulvsborg lauert der Tod auf dich… im Salon, im Rittersaal, in den Kellerräumen, ja sogar in deinem Zimmer…» Jan vermochte sich nicht zu rühren, und er fühlte den Schweiß auf seiner Stirn, während die Stimme fortfuhr: «Jan Helmer, du spielst mit deinem eigenen Leben. Zwischen Himmel und Erde gibt es viel mehr, als du und viele andere Menschen verstehen. Warum wollt ihr nicht auf die Stimme des Schicksals hören, solange es noch Zeit ist? Vielleicht ist es die letzte Gelegenheit. Ach, warum spricht man vergebens zu euch törichten kleinen Menschen? Das Schicksal kann böse sein, Jan Helmer, es kann aber auch milde sein und warnen. Nur Toren hören nicht auf die Warnung, und dann kommt die böse Kraft, die euch ohne Gnade und Barmherzigkeit zermalmt…» Nach kurzer Pause ertönte Hohngelächter. «Ich bin bei weitem der Stärkere von uns beiden, Jan Helmer, und nun werde ich mich gegen dich wenden, denn du verdienst kein besseres Los. -26-
Denk über meine Worte nach… vielleicht ist dies die letzte Nacht, die du noch am Leben bist…» Obwohl Jan angespannt lauschte, vernahm er nichts mehr. Er lehnte sich vor und blickte an der Mauer hinunter, nach rechts und nach links, in den Park hinaus… aber nein, kein lebendes Wesen war zu sehen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und wich verwirrt ins Zimmer zurück. Das war ja nicht auszuhalten! Was für Teufelskräfte waren hier am Werk? Ganz aus der Nähe war die Stimme an seine Ohren gedrungen und trotzdem niemand zu sehen gewesen… Er faßte sich mühsam und begann planmäßig das Zimmer zu untersuchen, wo der Tod wie überall auf ihn lauern sollte. Er schaute unter den Möbeln nach, beklopfte die Täfelung, rüttelte an der verschlossenen Tür und sank schließlich ermattet auf einen Stuhl. Obwohl er sich den Kopf zermarterte, war es ihm unmöglich, einen vernünftigen Gedanken zu fassen. Er verstand das Ganze nicht. Sein eingefleischtes Mißtrauen allem scheinbar Übernatürlichen gegenüber sagte ihm klipp und klar, daß er es mit einem phantastischen Schwindel zu tun hatte; doch gleichzeitig mußte er sich eingestehen, daß sich die rätselhaften Vorfälle mit logischem Denken nicht erklären ließen. Seufzend fuhr er sich wieder über die Stirn. Gewiß, es gab Dinge zwischen Himmel und Erde… Nein, diesen Gedanken wollte er nicht zu Ende denken! Er sprang auf und schritt aufs neue hin und her. Schließlich blieb er vor Boy stehen, und es tat ihm wohl, die unerschütterliche Ruhe des Hundes zu sehen. Er bückte sich, streichelte ihn und sagte: «Eine verrückte Sache, Boy. Du hast auch nichts bemerkt, aber wir werden schon dahinterkommen, wenn wir zusammenhalten. Wir wollen nun schlafen, morgen ist wieder ein Tag, und es steht nirgends geschrieben, daß er ebenso ungemütlich werden wird.» -27-
VIERTES KAPITEL Die Sonne schien, als Jan erwachte. Zuerst wußte er nicht, wo er sich befand, und er mußte sich besinnen, bis ihm alles wieder einfiel. Mit einem Satz sprang er aus dem Bett. Alle andern saßen schon am Frühstückstisch, als er hinunterkam, und er entschuldigte sich bei Frau Winther wegen der Verspätung. «Macht gar nichts», sagte sie lächelnd. «Du hast wohl schlecht geschlafen?» «O nein…» antwortete er gedehnt. «Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen», bemerkte Hanne leicht spöttisch. «Und du hast offenbar kein gutes Gewissen», stimmte Lis im gleichen Ton ein. «Wieso?» «Du siehst müde aus.» «Du hast wohl einen nächtlichen Spaziergang gemacht?» fragte Jens mit breitem Lächeln. «Ich kenne doch meine Pappenhe imer!» Jan wurde der Antwort enthoben, denn Hanne verkündete: «Ich habe übrigens auch nicht gut geschlafen.» «Warum denn nicht, mein liebes Kind?» erkundigte sich Frau Winther teilnehmend. «Ich mußte mich erst von einem Schrecken erholen.» Alle wurden aufmerksam, und im Chor wiederholten sie: «Von einem Schrecken?» «Ja, bevor ich zu Bett ging, stand ich ein Weilchen am Fenster, um frische Luft zu schöpfen, und da hörte ich plötzlich eine unheimliche Stimme im Park…» -28-
Jan verschluckte sich an seinem Kaffee, und Hanne fragte mit Unschuldsmiene: «Was hast du denn, Jan?» Er murmelte etwas Unverständliches, und sie fuhr unbefangen fort: «Ja, ich hörte wirklich eine unheimliche Stimme. Die Worte konnte ich nicht verstehen, und das sonderbare war, daß unten im Park keine Menschenseele zu sehen war.» «Kunststück, wenn’s dunkel ist», warf Winther ein. «Es war aber nicht dunkel, sondern der Park lag in romantischem Mondschein wie in einem Liebesroman.» «Das hast du bloß geträumt», meinte Lis. «Recht unwahrscheinlich, wenn man bedenkt, daß ich noch nicht zu Bett gegangen war. Ich wette um mein nächstes Taschengeld, daß ich die Stimme gehört habe.» Sie wandte sich an Jan: «Findest du das nicht merkwürdig, Jan?» «Sehr merkwürdig», antwortete er obenhin. «Aber wir hörten ja gestern, daß es mehr Dinge zwischen Himmel und Erde gibt, als wir einfältigen Menschen zu fassen vermögen, nicht wahr, Jan?» «Das dürfte wohl richtig sein.» «Hast du die Stimme nicht auch gehört?» «Nein…» «Du schliefst vielleicht… mit gutem Gewissen als Ruhekissen?» «Du Biest!» zischte er so leise, daß nur Hanne es verstehen konnte. Sie begnügte sich mit einem Lächeln, und das Gespräch ging auf ein anderes Thema über. Die anderen nahmen Hannes Erwähnung der «Stimme» nicht ernst, zumal auf Ulvsborg so viel Unerklärliches geschehen war, daß derartige Berichte keinen Reiz mehr ausübten. Jan frühstückte schweigend weiter. Ab und zu warf Hanne ihm -29-
einen verstohlenen Blick zu, während sie die Tischrunde unterhielt. Nach dem Frühstück verstreuten sich alle. Jan war auf dem Weg zur Küche, um Boy zu holen, der dort sein Futter erhalten hatte. Wie zufällig gesellte sich Hanne zu ihm und stieß ihn freundschaftlich in die Seite, während sie fragte: «Na, alter Meisterdetektiv, geht es dir gut?» «Ausgezeichnet!» «Und wie steht’s mit deinem Gehör?» «Wie bitte?» Mit Unschuldsmiene fragte sie: «Hörst du nachts nicht so gut?» «Keine Ahnung, was du meinst», erwiderte er kurz. «Manchmal bist du ein bißchen schwer von Begriff, scheint mir. Die Stimme im Park richtete ihre Worte nämlich ausschließlich an dich; aber wenn du sie nicht gehört hast, will ich dir gern berichten, was sie gesagt hat.» «Nicht nötig!» Sie lachte. «Aha, jetzt beginnt der große Detektiv etwas umgänglicher zu werden. Deinem Gehör fehlt also nichts, und auch meine Ohren sind ganz in Ordnung, denn wenn ich mich nicht irre, nanntest du mich vorhin ein Biest…» «Du irrst dich nicht.» «Ist es dein Ernst?» «Ja!» Sie faßte ihn am Arm und hielt ihn zurück. Ihre blauen Augen funkelten lustig, während sie sagte: «Du kannst von mir denken, was du willst, aber etwas sollst du wissen: Hier auf Ulvsborg geht etwas vor, das dir vielleicht solche Schwierigkeiten bereiten wird, daß du nicht allein damit fertig werden kannst, und darum möchte ich dich fragen, ob dir das Biest ein bißchen unter die Arme greifen darf?» Da er nicht sofort antwortete, -30-
rüttelte sie ihn und drang in ihn: «Nun?» Jan begegnete ihrem Blick, und plötzlich mußte er lachen. «Ich gebe mich geschlagen, du närrisches Geschöpf! Offenbar hast du eine ausgesprochene Begabung, dich in Dinge einzumischen, die dich gar nichts angehen, und gegebenen Tatsachen muß man sich eben fügen.» «Wir machen also gemeinsame Sache?» Er schnitt eine Grimasse. «Bleibt mir etwas anderes übrig?» «Nicht das geringste», erklärte sie freimütig. «Du sollst es auch nicht bereuen. Hand darauf!» Er schlug ein und sagte: «Du hast recht, hier auf Ulvsborg geschehen unerklärliche Dinge, aber wir werden das Rätsel lösen, davon bin ich überzeugt. Es kann ja gar nicht anders sein, wenn man mit dir zusammenarbeitet, du… Biest!» Nachdem Jan – mehr oder minder freiwillig – Hanne als Mitarbeiterin gewonnen hatte, konnte er ebensogut alle seine Karten auf den Tisch legen. «Laß uns in den Park gehen», sagte er deshalb zu ihr. «Wir haben allerlei zu bereden.» «Ich bin zu allen Taten bereit», antwortete sie munter. Kurz darauf schlenderten sie über den Rasen. Das sah Lis, die in einer Fensternische stand, und sie rief eifrig: «Komm einmal her, Yvonne, und schau dir das an!» Yvonne eilte zum Fenster, und Lis fuhr vergnügt fort: «Ich muß sagen, die Dinge entwickeln sich schnell. Aber ich wußte es. Hanne ist ein famoser Kerl, und ich könnte mir keine bessere Schwägerin wünschen…» «Na, na, sachte, sachte!» Yvonne lachte. «Du redest ja, als ob die beiden Kinder da draußen auf dem Weg zum Standesamt wären.» «Es ist doch sonnenklar, daß sie sich gut verstehen. Sieh nur, -31-
wie sie die Köpfe zusammenstecken!» «Ach, wir kennen doch Jan. Wenn er mit einem Menschen gemeinsame Sache macht, führt er immer etwas im Schilde, und zwar dreht es sich dabei um Detektivarbeit. Ich wette, daß er augenblicklich an etwas ganz anderes als an Hanne denkt.» «Mußt du mir die romantische Stimmung verderben?» murrte Lis. «Ich freue mich doch gerade so an dem Anblick des hübschen Liebespärchens.» «Übersteh du erst einmal deine eigene Hochzeit», spöttelte Yvonne. «Mit Jan und Hanne hat es noch viel Zeit. Wenn sie in vier, fünf Jahren immer noch zusammen Spazierengehen, kannst du gut und gern Heiratsvermittlerin spielen. Wie gesagt, jetzt hat Jan andere Dinge im Kopf.» Damit hatte Yvonne durchaus recht, denn Jan war gerade mitten in der Beschreibung des sonderbaren Erlebnisses im Wald. Sie saßen auf einer Bank im Park, als Jan seinen Bericht mit den Worten schloß: «So ging es also zu, Hanne, aber ich finde keine Erklärung dafür. Noch nie hatte ich einen so leeren Kopf.» Hanne machte ein nachdenkliches Gesicht. «Laß uns versuchen, logisch zu überlegen. Du hörtest die Stimme ganz nahe, aber Boy blieb ruhig, und kurz darauf bewies er dir, daß mit seinen Sinnen alles in Ordnung war. Trotzdem können wir beide nicht glauben, daß ein übernatürliches Wesen zu dir gesprochen hat. Auf diesen albernen Gedanken wäre ich auch gestern nacht niemals gekommen.» «Wieso hast du die Drohungen überhaupt gehört?» fragte er, ohne ihr zu gestehen, daß ihm ihre vernünftige Denkweise wohltat. «Ich stand zufällig am offenen Fenster, und als die Stimme ertönte, traute ich zuerst meinen Ohren nicht. Es war einfach phantastisch, aber auch mir kam es vor, als wäre die Stimme nur ein paar Meter entfernt.» -32-
«Und was hast du dann gemacht? » «Eine Zeitlang war ich wie gelähmt. Dann kletterte ich aufs Fenstersims und guckte hinaus. Der Mond schien hell, aber im Park war niemand zu sehen. Immerhin gäbe es eine Möglichkeit…» «Ja, mir ist auc h ein Gedanke gekommen», pflichtete er bei. «Die Tatsache, daß im Erdgeschoß einige Fenster offen waren?» fragte sie eifrig. «Genau!» Er freute sich. «Du scheinst mir keine schlechte Mitarbeiterin zu sein.» «Und was ergibt sich daraus? » «Leider nur etwas Negatives.» Er schüttelte den Kopf. «Wenn die Stimme durch die offenen Fenster unten kam, muß es ein Schloßbewohner gewesen sein. Da es eine Männerstimme war, können wir die Frauen von vornherein ausschließen, nämlich Frau Winther, die beiden Hausmädchen, Lis und Yvonne. Es bleiben also nur Herr Winther und Jens. Winther können wir ebenfalls ausschließen. Ihm liegt ja daran, das Rätsel der rasselnden Ketten aufzuklären, und da er mich zu diesem Zweck eigens aus Kopenhagen hergerufen hat, wird er sich kaum damit abgeben, mir die Sache zu erschweren.» «Demnach bleibt nur noch Jens», warf Hanne ein. «Etwas würde für ihn sprechen…» Hanne war verdutzt. «Für Jens? Was denn?» «Lis hat mir früher gern Streiche gespielt, und es könnte sein, daß sie Jens angestiftet hat, als Geisterstimme aufzutreten.» «Du, das wäre eine einleuchtende Erklärung!» rief sie. «Wenn man Freude an einem Schabernack hat…» «Aber dagegen spricht eine schlichte Tatsache. Meiner festen Überzeugung nach war es dieselbe Stimme, die ich abends im Wald gehört habe. Jens und Lis waren zwar draußen, doch wenn Jens in meine Nähe gekommen wäre – in den Wald, verstehst du -33-
–, dann hätte Boy sofort reagiert. Und noch etwas. Die Stimme vom Garten her hat es ja entschieden darauf angelegt, mir Angst einzujage n, und das wäre ihr nicht gelungen, wenn ich nicht am offenen Fenster gestanden hätte. Daß ich dort in diesem Augenblick stand, konnte ein Mensch im Erdgeschoß unmöglich wissen.» Hanne seufzte. «Gegen deine Argumente ist kein Kraut gewachsen. Jetzt ist mein Kopf ebenso leer wie deiner. Wenn es so weitergeht, glaube ich schließlich auch, daß wir es mit einem übernatürlichen Wesen zu tun haben. Ich habe keine blasse Ahnung, was wir unternehmen könnten, um der Sache auf den Grund zu kommen.» «Aber ich», antwortete Jan lächelnd. «So blaß meine Ahnung auch ist, wir werden ihr nachgehen. Komm, wir wollen mit Carlsen sprechen!» Sie fanden den Futtermeister in der alten Geschirrkammer. Carlsen schielte neugierig auf Hanne und fragte unverblümt: «Na, Jan, ist das dein Schatz?» «Noch nicht», erwiderte Hanne schlagfertig. «Ich bin erst auf Probe!» Im Gegensatz zu ihr war Jan verlegen – er errötete sogar ein wenig –, aber er schüttelte die Verwirrung ab und erwies sich als Herr der Lage, indem er ruhig sagte: «Wir möchten mit Ihnen sprechen, Carlsen. Hier auf Ulvsborg gehen ja geheimnisvolle Dinge vor sich, die wir klären wollen…» «Das wird dir niemals gelingen», unterbrach ihn der Alte. «Gegen die übernatürlichen Mächte kommen wir kleinen Menschen nicht an.» «Das sagten Sie schon vor Jahren», versetzte Jan. «Erinnern Sie sich, wie Sie damals hoch und heilig schworen, hier in der Gegend spuke ein Mönch?» «Na ja…» Carlsen kratzte sich am Kopf. -34-
«Und dieser ‹Bruder Johannes› entpuppte sich als ein Mensch aus Fleisch und Blut. Wissen Sie zufällig, wo der Verrückte Jens jetzt steckt?» «Der Verrückte Jens?» wiederholte Carlsen verwundert. «Er sitzt doch hinter Schloß und Riegel.» Jan schüttelte den Kopf. «Bestimmt nicht mehr, denn er bekam damals nur drei Jahre. Sie haben also nichts von ihm gehört oder gesehen? » «Nein. Hier in der Gegend wird er sicher nicht stecken.» «Wer weiß? Aber kommen wir nun zur Sache. Wissen Sie, ob es unter der jetzigen Ulvsborg einen Geheimgang gibt?» Carlsen legte den Kopf schräg. «Wie komisch, daß du danach fragst, denn dafür hat sich in den letzten fünfzig Jahren keine Katze interessiert.» «Wurde denn früher davon gesprochen?» forschte Jan weiter. «Na ja, das muß an die sechzig Jahre her sein. Damals wurde ich als Vierzehnjähriger hier Hüterjunge. Der damalige Gutsbesitzer behauptete, er stamme vom alten Adelsgeschlecht Skjöd ab – das war wohl nur Prahlerei –, und er war ganz versessen darauf, einen Geheimgang zu finden.» «Und hat er ihn gefunden?» «Nein, ich glaube nicht. Wir wußten ja alle, daß die Familie Skjöd und der geächtete Marschall Stig vor Zeiten dicke Freunde waren, und es ging auch die Sage von einem Geheimgang, der vom Strand zur Ruine der einstigen Ulvsborg führen sollte. Angeblich benutzte ihn der Marschall, wenn er seine Freunde besuchte. Aber das brauche ich dir gar nicht zu erzählen, denn du hast den Geheimgang ja selbst gefunden.» Jan nickte. «Gewiß, aber mich interessiert die Frage, ob es unter dem jetzigen Schloß Ulvsborg einen Geheimgang gibt.» «Da kann ich dir nicht helfen, Junge», erwiderte Carlsen und legte den Kopf auf die andere Seite. «Wie gesagt, der -35-
Gutsbesitzer war ganz närrisch und suchte den Gang; aber ich glaube, er gab es schließlich auf. Übrigens verschwand er dann ziemlich plötzlich…» «Er verschwand?» «Ja, man munkelte, er wäre in Geldschwierigkeiten geraten und ins Ausland verduftet. Aber das war wohl nur Gerede, denn Ulvsborg war auch damals ein erstklassiges Gut, das großen Ertrag brachte.» «Hat man von dem verschwundenen Gutsbesitzer nie mehr etwas gehört?» «Kein Sterbenswörtchen. Es hieß, er sei nach Australien gegangen; aber er muß schon lange tot sein.» Carlsen lachte. «Es kommt ja selten vor, daß ein Mensch hundertzehn Jahre alt wird. Möchtest du noch mehr wissen?» «Ja, gern. Der Verrückte Jens arbeitete ja mit einer gutorganisierten Schmugglerbande zusammen. Haben Sie jemals gehört, daß die Bande hier auf Ulvsborg irgend etwas Wertvolles versteckt oder zurückgelassen hat?» «Die ungewaschenen Mäuler redeten natürlich alles mögliche, aber davon ist nicht viel zu halten. Was soll die Frage?» «Ach, mir kam nur so ein blödsinniger kleiner Gedanke», antwortete Jan. «Man könnte ja annehmen, daß die Bande in den Mauern von Ulvsborg etwas Wertvolles versteckt hat, und dann wäre es nicht weiter sonderbar, wenn nun einer der Bande oder mehrere Mitglieder versuchten, die Sachen in die Hände zu bekommen.» Der alte Futtermeister grinste. «Du hast schon immer eine blühende Phantasie gehabt, Jan, aber das ist wohl notwendig, wenn man sich als Detektiv betätigt. Leider kann ich dir nicht helfen. Ich habe nie ein Sterbenswörtchen von einem verborgenen Schatz gehört, und wenn es der Fall gewesen wäre, hätte ich es bestimmt für dummes Zeug gehalten.» -36-
«Ich will auch nichts mit Sicherheit behaupten», versetzte Jan. «Wie gesagt, es war ein blödsinniger Gedanke, und man klammert sich an einen Strohhalm, wenn man sonst nichts zum Anklammern hat. Na, dann vielen Dank für die Auskunft, Carlsen.» «Es war ja nur wenig. Aber ich stehe dir jederzeit zu Diensten, wenn du wieder einmal etwas auf dem Herzen hast.» Sie verabschiedeten sich von Carlsen. Jan rechnete es Hanne hoch an, daß sie sich nicht eingemischt, sondern nur zugehört hatte. Jetzt aber sagte sie, als sie außer Hörweite waren: «Lieber Sherlock Holmes, du hast bestimmt mehr herausgefunden, als du zugeben wolltest.» «Ich wünschte, es wäre so», antwortete er seufzend. «Vorläufig ist alles bloß Vermutung, vielleicht auch nur dummes Zeug, wie Carlsen sagte. Aber wir müssen ja an dem Ende anfangen, zu dem wir das meiste Zutrauen haben.» «Wir?» wiederholte sie leicht mißmutig. «Ich für mein Teil hege weder Zutrauen noch Mißtrauen.» Sie stieß ihn mit dem Ellenbogen an. «Ich habe nicht einmal Zutrauen zu dir!» «Warum nicht?» Er lachte. «Weil man vor einem verschwiegenen Mitarbeiter keine Heimlichkeiten haben soll. Heraus mit der Sprache, du Ekel!» «Neugierig, Hanne?» «Nein, wißbegierig! Weshalb faselst du von einem Geheimgang, und welche Rolle spielt er bei der Sache?» Wieder lachte er. «Du bist entwaffnend, wenn du unumwunden Fragen stellst, und deine Wißbegier soll gestillt werden. Aber alles zu seiner Zeit – zuerst müssen wir uns an eine interessante Aufgabe machen.» «Worauf bist du aus? » «Wir müssen den Geheimgang suchen!» -37-
«Du weißt ja gar nicht, ob er vorhanden ist.» «Darum müssen wir eben suchen. Wir wissen mit Sicherheit, daß es einen Gang vom Strand zur Ruine gibt, aber ich glaube, um den brauchen wir uns nicht zu kümmern…» Hanne klopfte ihm auf die Schulter. «Lieber Jan, ich hege den Verdacht, daß du in der Geschichte der Architektur nicht bewandert bist. Über den unterirdischen Gang zur alten Ulvsborg wundert sich kein Mensch, denn an solchen Dingen fand man zu Marschall Stigs Zeiten Vergnügen. Aber im ganzen Königreich Dänemark wirst du kein Renaissanceschloß aufstöbern, das sich eines Geheimgangs rühmen kann.» «Das ist mir durchaus klar.» «Wie bitte?» Er lächelte ein wenig überlegen. «Der Hauptteil des Schlosses ist zwar ein Renaissancegebäude, wie du richtig festgestellt hast, aber die beiden Seitenflügel sind zwei Jahrhunderte älter – jedenfalls was die Kellerräume betrifft –, und zufällig interessiere ich mich nur für die beiden Flügel.» Sie schwieg verdutzt. Sie näherten sich dem Haupteingang, während er fortfuhr: «Vor allem interessiert mich das alte Verlies. Bis jetzt ist es der geheimnisvollen Stimme nämlich noch nicht gelungen, meinen Kinderglauben zu erschüttern, daß es auf dieser Welt nichts Übernatürliches gibt. Hingegen weiß ich etwas mit Sicherheit.» «Und was ist das?» «Ketten rasseln nicht von selbst!»
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FÜNFTES KAPITEL Es glückte Jan und Hanne, unbemerkt die Kellertreppe hinunterzuschleichen. Sie machten überall Licht, aber plötzlich sagte Hanne: «Im Verlies gibt es kein elektrisches Licht.» Jan beklopfte vergnügt seine Tasche. «Sicherheitshalber habe ich immer eine kleine Taschenlampe bei mir. Das ist ganz einfach ein unumgänglich notwendiger Gegenstand.» Die Kellerräume, die untereinander durch niedrige Türen verbunden waren, dienten verschiedenen Zwecken. In dem einen war die Zentralheizung, im nächsten häuften sich Koks und Holz, den dritten füllte allerlei Kram und so weiter. Mehrere waren jedoch ganz leer, und hier hallten die Schritte unter dem Kreuzgewölbe. Jan sah seine Begleiterin an. «Hattest du damals, als du allein hier unten warst und das Gerassel hörtest, keine Angst?» «Nein, ich war eher neugierig…» «Wißbegierig!» verbesserte er neckend. Ein Stück weiter ging es scharf nach links, und nun befanden sie sich unter dem alten Nordflügel. Das Verlies, das sie kurz darauf betraten, lag in schwachem Dämmerlicht, das durch ein Guckloch hoch oben in der Mauer hereinfiel. Trotzdem schaltete Jan seine Taschenlampe ein und ging sofort zu den vielberedeten Eisenketten hinüber. Es waren fünf rostige, ungefähr halbmeterlange Ketten, an denen zum Teil noch Reste verrosteter Handschellen hingen. Jan ließ ein paar Ketten an die Steinmauer prallen. «Hörtest du dieses Geräusch?» fragte er. «Nein, es war ein richtiges Rasseln, fast ein Geklingel.» -39-
Er nahm abermals die Ketten in die Hand und ließ sie lose an die Mauer baumeln. «So?» forschte er. Hanne nickte. «Ja, etwa so ähnlich. Hat es denn etwas zu bedeuten, wie das Geräusch klang?» «Das wird sich zeigen.» Er wollte sich bücken, um die Mauer näher zu untersuchen. In diesem Augenblick ertönte eine leise, höhnische Stimme: «Jan Helmer, du bist noch immer nicht klüger geworden. Armer junger Mensch, der bald aus dem Leben scheiden muß, ja, sehr bald, denn das Schicksal ist unerbittlich.» Während die Stimme sprach, standen beide reglos wie Statuen. Er versuchte zu bestimmen, woher die Stimme kam; aber das war fast unmöglich. Vielleicht spielte die absonderliche Akustik mit, denn die Stimme konnte ebensogut aus dem einen Kellerraum wie aus dem andern kommen, ja sogar von oben. Plötzlich hatte Jan einen Gedanken; er schlich lautlos unter das kleine Guckloch, durch das ein schwacher Luftzug hereindrang. Gespannt lauschte er, während die Stimme fortfuhr: «Ich habe dich gewarnt, Jan Helmer, aber du wolltest das Schicksal herausfordern, und jetzt ist deine Zeit abgelaufen.» Jan ging auf Zehenspitzen zu Hanne hinüber und flüsterte ihr zu: «Hanne, jetzt müssen wir blitzschnell handeln. Lauf hinauf und schau, ob irgend jemand in der Nähe des Gucklochs ist. Beeil dich! Ich will inzwischen das ‹Schicksal› beschäftigen.» Um Hannes Laufschritte zu übertönen, lachte er laut und rief: «Wie lustig ist es, dem Schicksal auf diese Weise zu begegnen! Aber lassen Sie mich Ihnen sagen, Herr Schicksal, daß ich mich wehren und Sie zu Fall bringen werde! Ist das klar?» Eine Weile herrschte tiefe Stille, dann zischte die Stimme haßerfüllt: «Jan Helmer, du hast dein eigenes Todesurteil unterschrieben, und es wird vor Mitternacht vollstreckt werden!» -40-
Danach wurde es wieder still. Jan rührte sich nicht von der Stelle, sondern lauschte weiter, aber es war kein Laut mehr zu hören. Ob die Stimme doch aus der Luke gekommen war? Abermals wurde Jan von dem unheilvollen Ahnen erfaßt, das er sich nicht zu erklären vermochte. Fast unwillkürlich ließ er den Lichtkegel seiner Lampe über Wände und Decke gleiten, über den Steinboden und in jeden Winkel. Es war nichts Besonderes zu sehen. Er strich sich über die Stirn und merkte, daß ihm der Schweiß ausgebrochen war. Obwohl er sich das Gegenteil einzureden suchte, mußte er sich eingestehen, daß ihm die unheimliche Stimme auf die Nerven gegangen war. Er schrak zusammen, als das Guckloch verdunkelt wurde und eine Stimme erklang: «Hallo, Jan!» «Hallo, Hanne!» antwortete er gepreßt. «Hast du jemand gesehen? » «Keine Seele. Ringsherum ist hier alles öde und verlassen.» «Unmöglich!» «Bestimmt!» Er fuhr sich abermals über die Stirn und sagte: «Na gut, dann komm nur wieder herunter.» «Wird gemacht!» Die Luke wurde hell. Jan lehnte sich an die Wand und überlegte. Kein Zweifel, die unheimliche Stimme beunruhigte ihn. Sie troff förmlich von Bosheit und giftigem Haß, so daß dem «Todesurteil» beinahe zu glauben war. Vor Mitternacht sollte es vollstreckt werden… Auf einmal vernahm er einen gellenden Schreckensschrei, der sich durch die Kellergewölbe fortsetzte und Jan in die Glieder fuhr. Hanne hatte den Schrei ausgestoßen! Im Nu schoß er aus dem Verlies und rannte durch die beiden -41-
nächsten Kellerräume. «Ich komme, Hanne!» rief er. Im dritten Kellerraum blieb er verblüfft stehen. Hanne drückte sich starr vor Entsetzen an die weißgekalkte Wand und stierte vor sich hin. Die Nägel ihrer gespreizten Finger bohrten sich in die Mauer. Er sprang zu ihr und packte sie am Arm. «Hanne, komm zu dir! Was ist geschehen?» «Ach, nein, ach, nein…» stieß sie nur hervor. «Fehlt dir etwas?» «Ach, Jan, es war furchtbar…» Er schüttelte sie beinahe unsanft. «Was ist denn geschehen?» «Eine Maus… eine lebende Maus…» «Eine Maus?» wiederholte er fassungslos. Sie nickte und blickte sich ängstlich um. «Vielleicht ist sie noch hier drinnen. Könntest du nicht nachsehen? » Er lachte herzlich und nahm sie beschützend am Arm. «Komm jetzt mit mir, kleine Heldin. Wenn wir der Maus begegnen, springst du mir einfach auf den Rücken, und ich trage dich huckepack.» «Ach, Jan, es war ganz entsetzlich. Glaub mir, sie quiekte mich an… dort drüben von der Wand her…» «Sie ging aber nicht zum Angriff über?» Sie legte die Hand aufs Herz und sagte in flehendem Ton: «Du darfst dich nicht über mich lustig machen, wenn ich mich so aufrege. Ich habe noch immer Herzklopfen.» «Das ist bloß ein Zeichen, daß du no ch am Leben bist», erwiderte er munter. «Komm jetzt!» «Ja… ja…» Sie äugte furchtsam umher, während sie durch die Kellerräume zum Verlies zurückgingen; aber zum Glück war -42-
das graue Mäuschen verschwunden. Jan war so erheitert, daß er keine düsteren Gedanken mehr hegte. Diese Maus war zur richtigen Zeit aufgetreten. Sie hatte den Eindruck der unheimlichen Stimme vertrieben, und es entbehrte nicht der Komik, daß ein so kleines Geschöpf stärker war als die Stimme des Schicksals. «Nun, geht es dir besser, Hanne?» erkundigte er sich. «Ein bißchen», antwortete sie. «Wenn du mich festhältst, fühle ich mich fast ganz sicher.» «Hm, ich glaube zwar nicht, daß Mäuse sich dadurch abschrecken lassen würden. Hoffentlich glaubst du nicht, daß ich dich nun die ganze Zeit festhalten werde.» «Es wäre mir am liebsten.» Jan mochte nicht auf diese Weise in der Bewegungsfreiheit gehemmt werden; deshalb ließ er Hannes Arm los, als sie wieder im Verlies standen, und sagte: «Jetzt wollen wir keine Zeit mehr mit der Maus verlieren. Bist du sicher, daß dort oben kein Mensch zu sehen war?» Da Hanne es hoch und heilig beteuerte, war er ratlos. Seufzend wandte er sich wieder den rostigen Ketten zu. Langsam und planmäßig leuchtete er die Wand ab, die aus größeren und kleineren Granitquadern bestand. Zwischen den Quadern waren tiefe Ritzen, und plötzlich stellte er etwas fest, das ihn stutzig machte. Der Stein, in dem die Ketten eingelassen waren, wies ringsum tiefere und breitere Ritzen auf als die andern. Schnell holte er sein Taschenmesser hervor und stach die längste Klinge in eine Ritze. Die Klinge begegnete keinem Widerstand, auch dann nicht, als er sie ganz um den Quader herumführte. Mit zufriedener Miene steckte er das Taschenmesser ein und packte die Ketten. Hanne sah ihm verwundert zu, als er mit aller Kraft daran zerrte. «Willst du die Ketten herausreißen?» fragte sie. -43-
«Ja, aber der Stein müßte mitkommen», stöhnte er. «Ich möchte fast glauben, daß wir den unterirdischen Gang gefunden haben.» «Heiliges Kanonenrohr!» Er stemmte den rechten Fuß gegen die Wand und zog mit aller Macht. Plötzlich merkte er, daß der Stein nachgab. Es war nur eine kaum wahrnehmbare Bewegung, aber sie war da! Er richtete sich auf und ließ die Ketten los, die an die Wand klirrten. Allein konnte er die Aufgabe nicht bewältigen, aber etwas war so gut wie sicher: Dieser Quader war nicht so fest eingemauert wie die übrigen; er ließ sich lösen, wenn nur die nötige Muskelkraft angewendet wurde, und dann konnte man in den unterirdischen Gang gelangen. Während er vor sich hin sann, fragte Hanne: «Was nun?» «Allein bringe ich den Stein nicht heraus, aber das tut nichts zur Sache. Ich lasse mir später von Jens helfen, und dann wird es wohl glücken.» «Herr Winther könnte ja auch helfen…» «Vorläufig kein Wort davon zu ihm!» fiel er hastig ein. «Natürlich möchte er, daß das Geheimnis aufgeklärt wird, aber wenn er etwas von einem Geheimgang hört, ist der Teufel los. Der andere unterirdische Gang, den wir früher gefunden haben, ist halb zusammengestürzt, und ich weiß aus Erfahrung, wie gefährlich es war, ihn zu betreten. Also wird Herr Winther Bedenken haben, wenn er erfährt, daß wir mit einem zweiten Geheimgang rechnen.» Sie sagte eifrig: «Wenn du mit Jens hineingehst, mußt du mich auf jeden Fall mitnehmen, hast du verstanden?» «Na ja, wenn es nicht zu gewagt aussieht…» «Red keinen Quatsch!» Jan wunderte sich im stillen. Diese Hanne war ein merkwürdiges Mädchen. Sie fürchtete sich vor nichts, weder vor -44-
Lebenden noch vor Toten, aber wenn sie eine Maus erblickte, wurde sie vor Schrecken beinahe ohnmächtig. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, und er sagte: «Jens ist der einzige, der etwas von unserer Entdeckung wissen darf. Wenn Lis einen Pieps davon hört, macht sie uns einen Tanz. Sie hat immer Angst, daß Jens und ich in Gefahr geraten könnten. Das ist zwar sehr nett von ihr, aber manchmal recht unangenehm und hemmend.» «Ich halte nur den Mund, wenn du mir versprichst, daß ich in den unterirdischen Gang mitkommen darf.» Er seufzte schicksalsergeben. «Ja, ja, du kannst mitkommen, du Dickkopf!» Kurz darauf verließen sie den Keller. Über die geheimnisvolle Stimme hatten sie nicht mehr gesprochen, und daran war die Maus schuld. Von Frau Winther erfuhren sie, daß die drei andern schwimmen gegangen waren, und kurzerhand beschlossen sie, ihr Badeze ug zu holen. Unten am Strand fand Jan Gelegenheit, seinen künftigen Schwager beiseite zu nehmen und einzuweihen. Jens war sofort Feuer und Flamme. «Natürlich mache ich mit», erklärte er, «und auch ich finde es besser, Lis vorläufig nichts davon zu verraten. Wie packen wir die Sache an?» «Wir warten, bis alle zu Bett gegangen sind.» «Müssen wir Hanne mitnehmen?» fragte Jens bedenklich. «Ich habe es ihr versprochen.» «Na ja, vielleicht hat sie gar keine Lust mehr und geht lieber schlafen.» Jan lachte. «Da kennst du Hanne schlecht!»
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SECHSTES KAPITEL Wie gewöhnlich verlief der Abend auf Ulvsborg angenehm und vergnüglich, aber zwischen den drei «Verschworenen» herrschte eine gespannte Stimmung, die sie kaum zu verbergen vermochten. Jan saß mit Jens abseits in einem Winkel und unterhielt sich gedämpft mit ihm. Jens sagte: «Natürlich glaube ich nicht an etwas ‹Übernatürliches›. Die Sache erscheint zwar mysteriös, das will ich einräumen, aber sie wird eine ganz banale Lösung finden. Wenn ich die Drohung ernst nähme, würde ich dich ja von dem nächtlichen Unternehmen abhalten.» «Ich sehe es ebenso nüchtern an wie du», pflichtete Jan bei. «Trotzdem muß ich dir gestehen, daß mir schon ein paarmal die Nerven gerissen sind. Ich kann nicht behaupten, daß ich hier erholsame Ferien erlebe.» «Hast du das vielleicht erwartet?» «Nein, aber ich hatte wenigstens gehofft…» Lis kam zu ihnen und fragte ein wenig mißtrauisch: «Na, ihr beiden, was habt ihr für Geheimnisse? Das schlechte Gewissen sieht euch ja zu den Augen heraus. Habt ihr etwa irgendwelche Bubenstreiche vor? » «Bubenstreiche?» wiederholte Jens mit seiner unschuldigsten Miene. «Geht die Phantasie mit dir durch, Schätzchen? » «Na, ich weiß nicht…» Argwöhnisch betrachtete sie ihren Verlobten und ihren Bruder. Hanne eilte den beiden zu Hilfe. Sie setzte sich auf die Armlehne von Jans Sessel und sagte: «Wie wär’s, wenn du uns von deinen Abenteuern auf der ‹Flying Star› erzähltest? Yvonne hat mir zwar einige Briefe von ihrem Vater gezeigt, aber ich hätte gern von dir eine brühwarme Schilderung.» -46-
Jan warf einen Blick auf seine Armbanduhr. «Dazu ist es viel zu spät. Ich brauchte Stunden und Stunden…» «Fang bloß nicht an», wehrte Jens mit gespieltem Entsetzen ab. «Ich bin nämlich hundemüde.» Hanne verstand den Wink, und es glückte ihr, herzhaft zu gähnen. «Ja, ich auch. Daran ist wahrscheinlich das Schwimmen im Meer schuld.» «Und die frische Luft», stimmte Lis in holder Ahnungslosigkeit zu. Dann aber sah sie, daß Jan und Jens einen Blick wechselten, und sie hatte das unbestimmte Gefühl, daß ihr doch etwas verheimlicht wurde. Sie enthielt sich einer Bemerkung, nickte nur beifällig und sagte: «Wenn ihr schlafen gehen wollt, mir soll’s recht sein.» Sie winkte Yvonne herbei. «Du hast doch auch nichts dagegen, in die Federn zu kriechen?» «Nicht das geringste», antwortete Yvonne bereitwillig. Eine Viertelstunde später hatten sich alle fünf in die Gastzimmer zurückgezogen. Da Jan damit rechnete, daß die drei Verschworenen mindestens eine halbe Stunde verstreichen lassen müßten, ehe sie zur Tat schritten, ließ er sich bequem in einem Sessel nieder und plauderte mit Boy. Ein paarmal schielte er zum offenen Fenster, aber er bezwang seine Lust, dorthin zu gehen. Die halbe Stunde kam ihm unerträglich lang vor. Es wurde an die Tür geklopft, und Boy knurrte leise. «Still, Boy!» befahl Jan und machte vorsichtig die Tür auf. Draußen standen die beiden andern «Verschwörer», und Jens flüsterte: «Wir sind bereit zum Ausrücken. Hast du eine Taschenlampe bei dir?» «Selbstverständlich. Also los, aber leise!» Sie gelangten in den Keller, ohne einem Menschen zu begegnen. Jan ordnete leise an: «Wir zünden kein Licht an, sondern behelfen uns mit der Taschenlampe.» -47-
«Und wenn die Maus wiederkommt?» bemerkte Hanne verzagt. Jan ärgerte sich über diesen lächerlichen Einwand und erwiderte kurz angebunden: «Hier unten gibt es wahrscheinlich Hunderte von Mäusen, aber darauf können wir jetzt keine Rücksicht nehmen. Wenn dich das stört, gehst du besser zu Bett.» «Auf keinen Fall!» «Halte dich hinter mir, und Jens bildet die Nachhut. Zwei Männer werden wohl mit piepsenden Mäuschen fertig werden.» Ohne daß Hanne einen Schreckensschrei ausstoßen mußte, erreichten sie das Verlies. Jan beleuchtete die rostigen Ketten und sagte: «Das ist also die Stelle, Jens. Jetzt wird es sich ja zeigen, ob wir mit vereinten Kräften den Stein herausbringen können. Hanne, du hältst die Lampe.» Jens spuckte zum Spaß in die Hände. Hanne hielt die Taschenlampe, während die beiden jungen Männer die Eisenketten ergriffen und zu ziehen begannen. Regelmäßig kommandierte Jan: «Eins. zwei. ziehen!» Tatsächlich bewegte sich der Steinquader jedesmal. «Er sitzt ganz gerade», sagte Jan, als sie eine Weile verschnauften. «Wir haben ihn schon einen Viertelmeter draußen. Hoffentlich ist er nicht einen ganzen Meter dick!» «Ausgeschlossen», entgegnete Jens bestimmt. «Wenn die Ketten gerasselt haben, dann liegt es daran, daß der Stein vom Gang aus herausgedrückt wurde, und das ließe sich nicht machen, wenn er so dick wäre. Wollen wir’s wieder versuchen?» «Ich bin bereit. Eins… zwei… ziehen!» Sie mußten nur noch zweimal ziehen, dann glitt der Quader ziemlich leicht über den Fliesenboden und hinterließ ein dunkles Loch. -48-
«Bravo!» rief Hanne. «Schieben wir ihn etwas weiter weg, damit wir uns durchzwängen können.» Der Granitstein war erstaunlich dünn in Anbetracht der Tatsache, daß er zum Fundament einer alten Burg gehörte; aber das war natürlich Absicht. Als Zugang zu einem Geheimgang hätte ein zentnerschwerer Quader nichts genützt. Nach Jans Dafürhalten mußte er früher viel leichter zu bewegen gewesen sein, aber dieses Problem stand augenblicklich nicht zur Debatte, und er schlug es sich aus dem Kopf. Als der Platz zum Hineinkriechen genügte, wandte sich Jan an Hanne: «Na, Mädchen hast du dich anders besonnen, oder willst du immer noch mitkommen?» «So eine blöde Frage!» zischte sie ihn an. «Glaubst du etwa, ich will hier bei all den Mäusen allein zurückbleiben?» «Das ist allerdings auch ein Standpunkt», antwortete er. «Also los!» Er kroch als erster durch die Öffnung, und die andern folgten ihm. Das Licht der Taschenlampe enthüllte, daß der Gang aus Ziegelstein gemauert war. Ursprünglich mußten die Steine natürlich rot gewesen sein, jetzt aber waren sie fast schwarz. Der Boden bestand nur aus Erde, die Modergestank verbreitete. «Gemütlich ist es hier nicht», murmelte Jens. «Zugegeben», antwortete Jan kurz. «Aber von einem Jahrhunderte alten Gang kann man keinen Komfort verlangen.» Immerhin war er so hoch, daß sie aufrecht gehen konnten. Dafür erschwerte die klamme, eingesperrte Luft das Atmen. Nachdem sie etwa fünfzig Meter zurückgelegt hatten, gelangten sie zu einer Stelle, wo die eine Seitenwind teilweise eingebrochen war. Mauersteine häuften sich auf dem Boden, von Erdbrocken bedeckt. Jan wollte gerade darüberklettern, stutzte jedoch und leuchtete -49-
die Stelle ab. «Was ist los?» fragte Jens gespannt. «Hast du etwas entdeckt?» Jan wandte den Kopf und sagte gepreßt: «Offen gestanden, ich wünschte, wir hätten Hanne nicht mitgenommen.» «Weshalb?» «Weil ich ihr diesen Anblick lieber erspart hätte…» «Eine Maus?» rief Hanne ängstlich. «Nein, ein Skelett!» «Ach, weiter nichts?» Sie seufzte erleichtert auf. «Das Skelett einer Maus? » «Nein, eines erwachsenen Mannes, soweit ich es beurteilen kann. Schnell weiter!» Absichtlich richtete er das Licht nach oben, damit es nicht auf das Skelett fiel; aber sogar Jens, der zuhinterst ging, erhaschte einen Blick auf den Schädel und den Brustkorb. Hanne ließ sich nicht anmerken, ob sie etwas davon gewahrte, und wieder wunderte sich Jan über dieses merkwürdige Mädchen. Eine Zeitlang gingen sie schweigend weiter, bis Jens fragte: «Wo wir wohl enden werden?» «Vielleicht in Grenaa oder in Ebeltofft, denn mir scheint, wir sind in dieser Richtung gegangen. Nanu, was ist denn das?» Wieder stand er vor einem Steinhaufen. Zuerst nahm er an, auch hier sei die Mauer eingestürzt, aber über dem Steinhaufen war ein schwarzes Loch, und nachdem er hineingeleuchtet hatte, rief er: «So eine Überraschung!» «Was ist denn?» fragte Jens. Jan überlegte, bevor er antwortete: «Ich habe mich möglichst nach der Himmelsrichtung orientiert. Hier ist ein zweiter Gang; er zweigt von der Verbindung zwischen dem Strand und der Ruine ab, wenn ich mich nicht irre.» -50-
«Es kommt mir vor, als wären wir in den römischen Katakomben», brummte Jens. «Nicht nur stoßen wir auf ein Skelett, sondern wir haben es anscheinend auch mit einem Labyrinth zu tun. Willst du weitergehen?» «Nein, denn ich weiß schon, wo der Gang endet. Wir wollen…» Jan brach ab und zischte: «Still!» «Was ist denn?» flüsterte Hanne. «Duckt euch hinter die Steine!» Die beiden andern befolgten die Anweisung sofort. Jan schaltete seine Lampe aus und sagte leise: «Nun schaut!» Sie spähten über den Steinhaufen zurück. Etwa fünfzig Meter entfernt beschrieb der Gang einen leichten Bo gen, und auf der linken Seite war ein schwaches Licht zu sehen. «Zündhölzer… ist es die Möglichkeit!» stieß Jens hervor. «Ja», flüsterte Jan, «aber in einem unterirdischen Gang sind Zündhölzer ein so primitives Beleuchtungsmittel, daß mir bei dem Gedanken ganz ungemütlich zumute wird.» «Was meinst du?» «Ich sag’s dir gleich. Still! » Zwei schwache Lichter näherten sich. Da kamen unerwartet zwei Menschen – waren es Freunde oder Feinde? Jan hegte in dieser Hinsicht keinen Zweifel. Warum aber waren sie aufgetaucht? Sie gingen ja im Schneckentempo… «Wer kann das sein?» raunte Jens. «Das frage ich mich auch», sagte Hanne ebenso leise. «Morgen muß ich mein schönes Sommerkleid in die Reinigung geben, wenn ich noch lange hier auf dem schmutzigen Boden…» «Still!» fuhr Jan sie an. «Wenn du nicht den Mund hältst, fange ich eine Maus und stecke sie dir in dein blödes Kleid.» Hanne stieß einen erstickten Schreckensruf aus. -51-
Plötzlich rief Jan: «Hab’ ich mir’s nicht gedacht! Da kommen Lis und Yvonne!» Jan sprang auf; Hanne und Jens folgten seinem Beispiel. «He, ihr Mädchen!» schrie Jan. Hanne und Jens stimmten johlend ein. Die Rufe wirkten offenbar so erschreckend auf die beiden jungen Mädchen, daß sie ihre brennenden Zündhölzer verloren, denn ein paar Sekunden lang herrschte Dunkelheit. Jan schaltete seine Taschenlampe ein und rief: «Keine Angst, wir haben euch erkannt!» «Bist du das, Jan?» «Ja, ich bin’s. Bleibt stehen, wo ihr seid!» «Nein, wir kommen zu euch…» «Ihr bleibt, wo ihr seid!» befahl er scharf. Er wandte sich rasch an die andern: «Jetzt ist das ganze Unternehmen ohnehin verdorben, und wir müssen schnell zurückkehren. Wenn Lis und Yvonne zu dem Skelett kommen, können wir sie morgen in eine Nervenklinik einliefern. Also gehen wir lieber zu ihnen.» Sie gingen zurück, vorbei an dem Skelett, und als sie mit Lis und Yvonne zusammentrafen, fragte Jan barsch: «Was zum Teufel treibt ihr hier unten? » Aber Lis hatte inzwischen ihre übliche Unbefangenheit zurückgewonnen und erwiderte forsch: «Das gleiche können wir euch fragen. Ich finde es, offen gestanden, gar nicht nett, daß ihr einfach weggeschlichen seid…» Zornig fuhr sie ihren Verlobten an: «Das hätte ich nicht von dir erwartet, Jens!» Der arme Jens war so ratlos, daß ihm nur eine Antwort einfiel: «Wir dachten, es könnte vielleicht gefährlich werden, und natürlich wollte ich dich keiner Gefahr aussetzen.» «Um so schlimmer!» rief Lis aufgebracht. «Ach, Jens, du bist -52-
hoffnungslos. Mußt du dich denn immer von Jan verführen lassen?» Jan brummte leicht gereizt: «Gehen wir hinauf ins Bett. Das Ganze ist jetzt sowieso verdorben.» «Haben wir etwas verdorben?» fragte Yvonne arglos. «Allerdings!» «Du hättest uns ja nur einzuweihen brauchen.» «Blödsinn! Es handelte sich nicht um einen Touristenausflug! » «Warum durfte dann Hanne mitkommen? » «Das kann ich euch jetzt nicht erklären. Habt ihr unterwegs keine Maus gesehen?» «Eine Maus? Nein.» «Schade, sonst wärt ihr vielleicht umgekehrt.» «Wie höflich du bist, lieber Bruder», spöttelte Lis. «Ich bin wütend. Jetzt marsch ins Bett!» Als sie durch die Öffnung ins Verlies gekrochen waren, sagte Jens: «Wir sollten den Stein wieder an seinen Platz schieben.» Jan schüttelte den Kopf. «Nein, dann müssen wir uns morgen nur von neuem abmühen, denn morgen soll der Gang vom einen Ende zum andern unt ersucht werden.» Eine halbe Stunde später herrschte auf Ulvsborg nächtliche Stille.
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SIEBENTES KAPITEL Am folgenden Morgen war Jan schlecht gelaunt. Eigentlich konnte er es Lis und Yvonne nicht übelnehmen, daß sie ihnen in den unterirdischen Gang gefolgt waren. Natürlich hatte sich Lis um ihren Verlobten gesorgt, und da sie sich nicht allein in den Keller traute, hatte sie Yvonne zum Mitkommen überredet. Vielmehr ergrimmte es ihn, daß er sich so schlecht benommen hatte, und er nahm sich vor, sich beim Frühstück zu entschuldigen. Erst als er geduscht und sich angezogen hatte, stellte er fest, daß er viel zu früh aufgestanden war, denn seine Uhr zeigte noch nicht einmal sieben. Da er bis zum Frühstück noch eine Stunde warten mußte, faßte er einen schnellen Entschluß. «Komm, Boy», sagte er. «Wir wollen uns die Beine vertreten.» Der Hund war sofort bereit und folgte ihm sichtlich erfreut ins Erdgeschoß und dann in den Keller hinunter. Das ganze Haus lag öde und still. Im Verlies erlebte Jan seine erste Überraschung. Neben dem Granitstein sah er ein blutiges Taschentuch auf dem Boden liegen. Fassungslos starrte er darauf. Vor sechs Stunden hatte das Taschentuch nicht hier gelegen, folglich war in der Zwischenzeit noch ein anderer Mensch im Keller gewesen… Als Jan wieder klar zu denken vermochte, bückte er sich, wies auf das Taschentuch und befahl seinem Hund: «Riech, Boy! Fährte!» Boy gehorchte augenblicklich. Er schnüffelte an dem Taschentuch und hob dann den Kopf, als wollte er zu seinem Herrn sagen: «Nun habe ich daran gerochen. Folgen wir der Fährte!» -54-
«Brav, Boy», lobte Jan. «Wir fangen an – komm!» Er kroch durch das Loch in den Gang, aber es dauerte nicht lange, bis Boy die Führung übernahm, während Jan mit der Taschenlampe hinterdrein leuchtete. Der Hund behielt die Schnauze am Boden; zweifellos folgte er der Fährte. Für das Skelett zeigte Boy nicht das geringste Interesse; er eilte unablässig weiter durch den Tunnel. So eifrig war er, daß Jan ein paarmal kommandieren mußte: «Ruhig, Boy, ruhig!» Dann blieb Boy jedesmal stehen, bebte aber förmlich vor Spannung und wartete nur auf das eine Wort: «Weiter!» So wurde der lange Marsch fortgesetzt. Ab und zu mußte Jan über Steinhaufen klettern, aber er kam schnell vorwärts. Mit der Zeit wurde ihm ein wenig schwindlig – daran war wohl die sauerstoffarme Luft schuld –, aber nichts hätte ihn davon abbringen können, die Sache bis zum Ende durchzuführen. Plötzlich gewahrte er weiter vorn einen schwachen Lichtstreifen, so daß er das Schwindelgefühl vergaß. «Es wird hell, Boy», sagte er. «Nur weiter!» Dieses Kommando war durchaus nach dem Sinne des Hundes, und da Boy entschieden der Fährte folgte, blieb Jan hinter ihm. Der Lichtstreifen verstärkte sich, und schließlich konnte Jan die Lampe ausschalten. Bald darauf blieb Boy an einer Stelle stehen, die offenbar das Ende des unterirdischen Ganges bezeichnete, und da erlebte Jan die zweite Überraschung dieses Morgens: Er stand, nachdem er sich durch die Öffnung gezwängt hatte, inmitten einer Ruine. Seine Vermutung hatte sich bestätigt. In derselben Ruine hatte er schon vor einigen Jahren gestanden, aber von einem ganz anderen unterirdischen Gang aus – anscheinend vereinte sich das verzweigte Tunnelsystem an diesem Ort. Er blickte sich rasch um und kommandierte: «Weiter, Boy! Such, such!» -55-
Der Hund richtete die Nase zu Boden und kreiste kurze Zeit zwischen den verwitterten Steinen. Dann lief er über ein Feld zum Waldrand, dem er bis zur Heide folgte. Jan wischte sich den Schweiß von der Stirn und murmelte vor sich hin: «Puh, das ist wahrhaftig das schärfste Morgentraining, das ich jemals durchgemacht habe. Wenn Erling dabei wäre, hätte er schon längst aufgegeben, so aber…» Er brach seinen Monolog ab, weil Boy zu Jans Verblüffung einer baufälligen alten Hütte mitten auf der Heide zustrebte. Diese Hütte kannte Jan recht gut von der Zeit her, wo der Verrückte Jens sie bewohnt hatte. «Bruder Johannes» hatte er sich damals genannt, obwohl er in Wirklichkeit Jens Eskildsen hieß. Vor der Hüttentür blieb Boy stehen. Kein Zweifel, hier endete die Fährte; folglich mußte sich der Gesuchte in der Hütte befinden. Ausgeschlossen, daß sich Boy irrte. Was nun? Jan überlegte. Er rechnete damit, daß er von der Hütte aus gesehen werden konnte; doch das ließ sich nicht ändern. Sie hatte nur einen Eingang, den Boy jetzt bewachte, und so lautete die wichtigste Frage: War der Mann in der Hütte bewaffnet? Sonderbarerweise dachte Jan in diesem Augenblick mehr an Boys Sicherheit als an seine eigene; aber nun geschah etwas, das ihn aller Überlegungen enthob. Die Tür wurde aufgerissen, und in der Öffnung stand – Jens Eskildsen! Jan erkannte ihn sofort wieder, obwohl der Mann gut gekleidet war – die große, hagere Gestalt, die hohlen Wangen und die stechenden Augen waren nicht zu verkennen. Offenbar hatte der Verrückte Jens beschlossen, einem Angriff zuvorzukommen, denn er fragte barsch: «Was willst du?» Jan ging langsam näher, während er antwortete: «Ich möchte nur mit Ihnen sprechen, Jens Eskildsen.» -56-
«Jens Eskildsen?» wiederholte der Mann unwirsch. «Ich heiße Sören Hansen, und ich begreife nicht, warum du mich mit deinem Hund verfolgst.» «Das will ich Ihnen gern sagen», gab Jan kaltblütig zurück. «Vorige Nacht waren Sie auf Ulvsborg, wo Sie gar nichts zu suchen haben, und Sie werden Herrn Winther den Grund erklären müssen.» «So, glaubst du?» schnarrte der Mann. Blitzschnell zog er ein Messer. «Jetzt könnt ihr ja herankommen!» Jan bangte um seinen Hund, der nur auf das Kommando wartete, den Mann trotz seines Messers anzufallen. Er hielt es fürs beste, Eskildsen von der Hütte wegzulocken. Deshalb sagte er so ruhig wie möglich: «Wenn ich meinem Hund befehle, auf Sie loszugehen, gibt es nichts mehr zu bereden, Jens Eskildsen…» «Sören Hansen!» «Meinetwegen Sören Hansen, obwohl wir beide uns ja recht gut kennen…» «Ich habe dic h noch nie gesehen.» «O doch; es ist zwar einige Jahre her», erwiderte Jan. «Aber verlieren wir keine Zeit mit derartigen Bagatellen. Wenn Sie nicht in fünf Minuten verschwinden, gebe ich meinem Hund den Befehl, Sie zu zerreißen!» Ohne das Messer zu senken, schielte der Mann auf Boy, der ihm die Zähne zeigte. Anscheinend behagte ihm dieser Anblick nicht, denn er machte ein paar Schritte seitwärts, indem er sagte: «Wenn der Hund mir folgt, kannst du sicher sein, daß ich ihm das Messer ins Herz steche!» «Ruhig, Boy!» kommandierte Jan. Der Mann zog sich immer weiter zurück. Er beschleunigte das Tempo zum Laufschritt, aber zwischendurch blickte er zurück, und das Messer behielt er in der Hand. -57-
Jan befahl kurz: «Komm, Boy!» Dann streichelte er ihn und sagte beinahe abbittend: «Wir konnten nichts anderes tun, Boy. Ich wollte dein Leben nicht aufs Spiel setzen.» Er hatte die größte Lust, die Hütte näher zu untersuchen; aber dazu war die Zeit zu knapp. Er mußte schleunigst nach Ulvsborg zurückkehren und die Kriminalpolizei benachrichtigen, getreu dem Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte. Boy wandte den Kopf und schaute dem Flüchtenden nach. «Du hättest ihn gern geschnappt, was?» Jan lachte. «Aber dem Kerl bleibt nur noch eine kurze Frist. Bald wird die Polizei ihn wieder hinter Schloß und Riegel setzen. Also schnell nach Hause, Boy!» Als Jan zurückkehrte, saßen alle andern Schloßbewohner am Frühstückstisch. Wie ein Wirbelsturm raste er ins Zimmer und fragte hastig: «Herr Winther, darf ich rasch telefonieren?» «Ja, natürlich, aber…» «Ich erkläre alles nachher», rief Jan, ehe er hinausrannte. «Der Junge könnte als Zündsatz für eine Bombe benutzt werden», sagte der Gutsbesitzer kopfschüttelnd. «Die Götter mögen wissen, was er wieder getrieben hat.» Die vier jungen Gäste wechselten verstohlene Blicke, denn bisher hatte Paul Winther ja noch nichts von den nächtlichen Begebenheiten erfahren. Das mußte Jan ihm erzählen, aber sein Telefongespräch dauerte ziemlich lange. Als er endlich wiederkam und sich entschuldigte, sagte Frau Winther: «Trink erst einmal einen Schluck Tee, und dann laß uns hören, was es gibt. Wir sind sehr gespannt.» Nach einer Weile begann Jan: «Die Geschichte ist ein bißchen verwickelt, denn in den letzten acht Stunden sind ja nicht weniger als zwei Geheimnisse so gut wie aufgeklärt worden…» -58-
«Zwei?» wiederholte Paul Winther verwundert. «Ja, aber das Geheimnis Ihrer rasselnden Ketten kommt später an die Reihe. Ich fange mit dem ersten an. Vor ungefähr fünfzig Jahren verschwand der Besitzer von Ulvsborg auf rätselhafte Weise…» «Die Geschichte kenne ich», fiel Winther ein. «Es heißt, er sei nach Australien gegangen.» «Das glaube ich nicht», erwiderte Jan ernst. «Wenn ich mich nicht sehr irre, ist sein Skelett unten im Geheimgang zu finden.» «Skelett… Geheimgang…» stieß Winther hervor. «Was faselst du da?» Mit kurzen Worten schilderte Jan, wie er sowohl den Geheimgang als auch das Skelett entdeckt hatte. Danach fuhr er fort: «Mir sagte die Vernunft, daß das Kettenrasseln, das drei Menschen unabhängig vone inander gehört hatten, von der andern Seite der Mauer verursacht werden mußte; folglich mußte ein Geheimgang vorhanden sein. Wenn aber jemand vom Geheimgang aus in das Verlies einzudringen versuchte, mußte der Betreffende einen triftigen Grund dafür haben, und so kam mir der Gedanke, daß der oder die Eindringlinge auf der Suche nach etwas waren, das sie früher in einem der Kellerräume versteckt hatten.» «Hast du damit recht gehabt?» fragte Frau Winther. «Ich glaube, ja, aber mit Bestimmtheit läßt sich das erst sagen, wenn die Polizei Jens Eskildsens Hütte untersucht hat.» «Jens Eskildsen?» rief Winther verblüfft. «Was hat denn der Verrückte Jens mit der Sache zu tun?» Nun berichtete Jan von der Verfolgung der Fährte, die Boy im Verlies aufgenommen hatte. Er schloß mit den Worten: «In ein paar Stunden wird alles aufgeklärt sein bis auf die geheimnisvolle Stimme. Hinter dieses Phänomen könnte nicht einmal der tüchtigste Detektiv kommen…» -59-
«Hab’ ich’s nicht immer gesagt?» Frau Winther nickte befriedigt. «Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als…» Ihr Mann unterbrach sie schnell: «Erna, bitte keine Gespenstergeschichten mehr! Vorläufig haben wir mehr als genug mit dem Skelett unten im Geheimgang. Was meinst du dazu, Jan? Glaubst du, daß es sich um ein Verbrechen handelt?» «Das möchte ich nicht beschwören», antwortete Jan, «aber meiner Ansicht nach wird eine nähere Untersuchung den Fall klären. Von Carlsen erfuhr ich, daß der Gutsbesitzer damals ganz versessen darauf war, einen Geheimgang unter dem Schloß zu finden. Der Gedanke liegt nahe, daß er den Geheimgang schließlich gefunden hat und dort unten irgendwie zu Schaden gekommen ist. Das Skelett liegt ja bei einem Steinhaufen. Also ist der Gutsbesitzer vielleicht gestolpert und so unglücklich gefallen, daß er nicht mehr imstande war, sich zurückzuschleppen. Selbst wenn die Ratten alles aufgefressen haben, wird der wissenschaftliche Dienst Licht in die Sache bringen können.» «Hu!» Hanne schüttelte sich. Jan lächelte sie an. «Ich sprach von Ratten, Hanne, nicht von Mäusen.» «Wie konntest du wissen, daß der Verrückte Jens unten im Verlies und im Geheimgang gewesen war?» fragte Winther. «Ich wußte nicht, daß er es war, aber das blutige Taschentuch neben dem Stein verriet mir, daß irgend jemand nach uns ins Verlies eingedrungen war. Das war ein glücklicher Zufall, denn so konnte Boy die Spur aufnehmen.» Winther schwieg eine Weile. Dann sagte er: «Ich bin gespannt, was die Kriminalpolizei noch herausfinden wird.» «Ich auch», stimmte Jan aus vollem Herzen zu. Drei Polizeibeamte und zwei Experten beschäftigten sich -60-
mehrere Stunden lang mit Untersuchungen und Verhören. Das Ehepaar Winther und die fünf jungen Leute waren im Blauen Salon versammelt, als Polizeimeister Hansen hereinkam. Mit zufriedener Miene sagte er: «Ich glaube, wir sind mit unserer Arbeit hier fertig. Ich habe soeben mit dem Revier telefoniert und erfahren, daß Jens Eskildsen festgenommen worden ist. Er wurde in einem Überland-Autobus verhaftet. Vorläufig streitet er noch alles ab, doch das wird ihm wenig nützen, denn wir haben ja genügend Beweise gegen ihn.» Er wandte sich an Jan: «Ihnen haben wir viel zu verdanken, Herr Helmer. Sie haben vortreffliche Detektivarbeit geleistet, aber das ist ja vom Sohn des berühmten Kriminalkommissars Mogens Helmer kaum anders zu erwarten.» Er lächelte freundlich. «Ich kann mir denken, daß Sie gern gewisse Aufschlüsse hätten…» «Ja, wir alle sind neugierig», fiel Jan eifrig ein. «Sie sollen sie nun bekommen. In Eskildsens Hütte fanden wir eine Metallkassette mit kostbarem Schmuck. Das ist bestimmt Diebesgut, und wir haben auch die Stelle im Keller entdeckt, wo der Schatz wahrscheinlich vorher versteckt war. Ob die Schmuggler ihn seinerzeit woanders gefunden haben, läßt sich erst ermitteln, wenn Jens Eskildsen vor Gericht zum Reden gebracht wird. Der Gedanke liegt nahe, daß er damals seine Spießgesellen betrogen hat, um sich nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis den Schatz allein anzueignen. Hauptsache ist, daß Sie ihm das Handwerk gelegt haben.» «Ohne meinen Hund wäre es mir nicht gelungen», wehrte Jan bescheiden ab. «Jedenfalls bin ich froh, daß alles aufgeklärt ist… vielmehr fast alles, denn hinter das Geheimnis der Stimme wird man wohl nie kommen, nicht?» «Im Gegenteil, wir sind schon dahintergekommen», erwiderte Hansen lachend. «Was?» staunte Jan. -61-
Alle fragten aufgeregt durcheinander. Der Polizeimeister nickte nachdrücklich. «Ich verstehe Ihre Überraschung. Die Erklärung ist verhältnismäßig einfach. Jens Eskildsen benutzte nämlich ein Mikro-Megaphon.» «Ein Mikro-Megaphon?» wiederholte Jan verdutzt. «Was ist denn das?» rief Hanne. «Wir fanden es in seiner Hütte. Ein elektrisches Megaphon besteht aus einem Trichterlautsprecher, einem Mikrophon und einem Verstärker. Mit diesem Sprechgerät kann man bei verhältnismäßig geringem Stimmaufwand kräftige Schallenergie erzeugen. Man kann sich damit auf ziemlich weite Entfernung verständlich machen. Der Zuhörer hat dann den Eindruck, daß sich der Sprechende ganz in der Nähe befindet. Vor einigen Jahren wurden in einer nordenglischen Stadt mehrere unheimliche Morde verübt, bei denen ein solches MikroMegaphon eine große Rolle spielte. Möglich, daß Jens Eskildsen dadurch auf den Gedanken gekommen ist, auf ähnliche Weise Gespenst zu spielen. Allerdings dürfte er den kostbaren Apparat kaum auf ehrliche Weise in die Finger bekommen haben.» «Hm», schmunzelte Winther. «Daß doch alle übernatürlichen Dinge auf ganz natürliche Weise erklärt werden können…» Er sah seine Frau an. «Nicht wahr, Erna?» Frau Winther würdigte ihn keiner Antwort, mußte sich aber das Lachen verbeißen. «Und was ist mit dem Skelett?» wollte Jan wissen. «Auch in diesem Punkt haben Sie wahrscheinlich recht», antwortete Hansen. «Der frühere Gutsbesitzer scheint im Geheimgang umgekommen zu sein. Ob sich die näheren Umstände erhellen lassen, wird sich durch die Untersuchung der Experten ergeben. Ich persönlich glaube nicht, daß es sich um ein Verbrechen handelt. Wesentlich ist vor allem, daß diese rätselhafte Begebenheit nach so vielen Jahren eine Erklärung gefunden hat.» -62-
Paul Winther seufzte erleichtert auf. «Und für mich ist wesentlich, daß wir die geheimnisvolle Stimme los sind. Jetzt kann ich es ja gestehen – unheimlich war sie auf jeden Fall. Eins steht für mich fest: Den Geheimgang lasse ich an beiden Enden zumauern. Ich will mit Schmugglern, Dieben und Gespenstern nichts mehr zu tun haben!» Die nächsten Tage wurden für die fünf jungen Leute noch zu einer herrlichen Ferienzeit. Sie tummelten sich fröhlich im Meer und waren stets in bester Stimmung. Lis hatte längst ihren Ärger darüber vergessen, daß sie und Yvonne bei der nächtlichen Expedition nicht mitgenommen worden waren. Als sie ein einziges Mal darauf zu sprechen kam, brauchte Jens sie bloß «mein geliebter Schatz» zu nennen, und schon war sie wieder ganz strahlende Braut. Es machte ihr auch nichts aus, daß Jan sie wegen ihres Aberglaubens neckte und darauf hinwies, daß das «Übernatürliche» eine natürliche Lösung gefunden hatte. Sie warf nur den Kopf zurück und antwortete: «Tu nicht so, Brüderchen, sondern gesteh lieber, daß die unheimliche Stimme dich fast ins Wanken gebracht hat!» «Ja, das muß ich zugeben», sagte Jan lachend. Am letzten Tag unternahmen Jan und Hanne einen langen Spaziergang. Ihr war ein wenig wehmütig zumute wegen des bevorstehenden Abschieds; doch sie tröstete sich mit dem Gedanken, daß sie nach den Sommerferien in Kopenhagen studieren sollte. «Dann sehen wir uns wieder, nicht wahr, Jan?» fragte sie ein wenig ängstlich. «Ja, sicher», gab er geistesabwesend zurück. «Du kannst ja auch Lis immer wieder besuche n, selbst wenn sie bis dahin verheiratet ist.» «Ich habe in Kopenhagen einen sehr netten Onkel, Schiffsreeder Williamsen. Er wird uns sicher einmal einladen.» «Uns?» fragte Jan verwundert. «Warum nicht? Und vielleicht gibt es einen neuen Fall für dich -63-
zu klären, und ich bin wieder deine Assistentin.» «Was?» «Man kann nie wissen.» Sie lachte. Er zuckte die Schultern. «Es tut mir leid, dir sagen zu müssen, daß die spannenden ‹Fälle› nicht an den Bäumen hängen. Aber wenn sich etwas ergibt, werde ich an dich denken. Jedoch unter einer Bedingung.» «Und das wäre?» «Du wirst nicht mitmachen, wenn eine Maus in den Fall verwickelt ist!» «Diese Bedingung nehme ich gern an. Hand drauf!» Sie gaben einander die Hand, ohne zu ahnen, daß Hanne prophetische Worte gesprochen hatte.
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ACHTES KAPITEL Ungefähr zwei Wochen später saß der Privatdetektiv Ivar Paulsen, ein ehemaliger Angehöriger der Kopenhagener Kriminalpolizei, der sich selbständig gemacht hatte, ziemlich mißmutig an seinem Schreibtisch. Schlechter Stimmung war er, weil er augenblicklich keinen Auftrag hatte, denn die Fälle hingen, wie Jan richtig bemerkt hatte, nicht an den Bäumen. Plötzlich klingelte das Telefon. Ohne besondere Erwartung nahm er den Hörer ab, doch es dauerte nicht lange, da erhellte sich seine düstere Miene. Der steinreiche Schiffsreeder Einar Williamsen kündigte ihm seinen Besuch an, weil er einen Privatdetektiv brauchte. Mit einem Schlag änderte sich Paulsens Stimmung. Kurz darauf trat ein großer, eleganter Herr ein. Er trug einen weißen Seidenschal um den Hals, der den unteren Teil des Gesichts verdeckte. Als er den Mantel öffnete, glitt das Seidentuch hinunter, und unwillkürlich zuckte Paulsen zusammen. Obwohl er dieses Gesicht schon einige Male auf der Bühne gesehen hatte, war er überrascht. Der Besucher lächelte flüchtig. «Ja, Herr Paulsen, wir beide gleichen einander wie zwei Wassertropfen, und mit ein wenig gutem Willen könnten Sie ohne weiteres als der Schauspieler Leo Carter auftreten. Darf ich mich setzen?» «Ja, natürlich», stammelte Paulsen. Nachdem der Schauspieler Platz genommen hatte, fragte Paulsen verwirrt: «Womit kann ich Ihnen dienen, Herr Carter? » «Mit einer Kleinigkeit, für die ich Sie gut bezahlen werde», antwortete Carter und schlug lässig die Beine übereinander. «Als ich Sie einmal zufällig hier ins Haus gehen sah, fiel mir die große Ähnlichkeit zwischen uns beiden auf, und darum komme ich heute zu Ihnen.» -65-
«Ich verstehe nicht recht…» «Unterwegs hat mich niemand erkannt, und mein Wagen steht um die Ecke. Ich brauche Sie heute nachmittag für ein paar Stunden als meinen Doppelgänger… hm… für eine besondere Aufgabe. Wieviel verlangen Sie?» «Das kommt auf die Art der Aufgabe an», antwortete Paulsen. «Ich gebe Ihnen mein Wort darauf, daß es sich nicht um eine Gesetzesübertretung hand elt. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, bevor ich weiß, ob Sie mir heute von eins bis vier Uhr zur Verfügung stehen können.» «Zu dieser Zeit bin ich leider besetzt.» Carter biß sich ärgerlich auf die Lippe. Seine Stimme wurde auf einmal hart: «Die Sache bedeutet viel für mich, Paulsen. Können Sie ihre Verabredung nicht absagen? » «Ausgeschlossen», entgegnete der Detektiv fest. «Vor einer Viertelstunde wäre es mir möglich gewesen, aber inzwischen hat sich ein Klient angemeldet, der um zwei Uhr hier sein wird.» Carter lehnte sich zurück und steckte die Hände in die Manteltaschen. Er betrachtete den Privatdetektiv mit zusammengekniffenen Augen. «Vielleicht brauche ich Sie nicht länger als bis drei Uhr. Können Sie die Unterredung nicht bis dahin verschieben?» «Leider nicht.» Carter schien zu überlegen. Er runzelte die Stirn, und seine Hände kramten nervös in den Taschen. Endlich sagte er entschlossen: «Gut, Herr Paulsen, bis zwei Uhr haben wir noch zwei Stunden Zeit, und wenn wir sofort aufbrechen, kann meine Angelegenheit bis dahin erledigt sein. Ich biete Ihnen für die zweistündige Arbeit zweihundert Kronen an. Einverstanden?» Jetzt dachte Paulsen angestrengt nach. Was mochte hinter dem Anliegen des Schauspielers stecken? Wozu brauchte er einen Doppelgänger? Seit einem halben Jahr hatte er täglich die -66-
Hauptrolle in Sinclairs «Sohn des Volkes» gespielt, aber erst gestern hatte die Presse mitgeteilt, er habe wegen Überanstrengung vierzehn Tage Urlaub genommen. Daß sein Doppelgänger ihn auf der Bühne nicht vertreten konnte, war klar. Es mußte sich also um eine Privatangelegenheit handeln. Natürlich waren zweihundert Kronen viel Geld für einen mittellosen Privatdetektiv… Aber wenn er um zwei Uhr nicht zurück war, entging ihm vielleicht ein noch viel besser bezahlter Auftrag… Paulsen schüttelte den Kopf. «Tür mir leid, Herr Carter, ich kann Ihnen unmöglich dienen.» «Ist das Ihr letztes Wort?» «Ja.» «Dann tut es mir leid, Sie zwingen zu müssen!» Blitzschnell nahm Carter die rechte Hand aus der Manteltasche, und zu seiner fassungslosen Verwunderung sah Paulsen eine Pistole auf sich gerichtet. «Das hätte ich gern vermieden», fuhr Carter kalt fort, «aber Sie haben mir keine Wahl gelassen. Wie gesagt, die Sache ist für mich äußerst wichtig, so daß mir jedes Mittel recht sein muß. Wenn Sie irgendwelche Sperenzchen machen, schieße ich augenblicklich, und ich warne Sie, ich gelte als sehr guter Schütze!» Paulsen hatte sich unwillkürlich zusammengeduckt, um zum Angriff überzugehen, aber jetzt lockerte er sich. Der Schauspieler fuhr spöttisch fort: «So ist’s besser. Im übrigen kann ich Sie beruhigen: Sie werden um zwei Uhr wieder hier sein, und das Honorar von zweihundert Kronen ist Ihnen sicher. Hoffentlich können Sie autofahren?» Paulsen nickte mechanisch. «Aber ich verstehe nicht…» «Das wird schon kommen. Nun gehen wir zusammen zu meinem Buick, den Sie nach meinen Anweisungen fahren werden. Aus guten Gründen lasse ich meine Pistole nicht los, die – damit Sie’s wissen – einen Schalldämpfer hat. Wenn Sie -67-
keinen Widerstand leisten, werden Sie um zwei Uhr für Ihre Unterredung mit dem Schiffsreeder Einar Williamsen zurück sein.» Paulsen machte große Augen. «Woher wissen Sie das?» Carter lächelte schief. «Lassen Sie das vorläufig mein Geheimnis bleiben, Paulsen. Bevor wir uns trennen, sollen Sie es erfahren. Vielleicht befriedigt es Ihre Neugier, wenn ich Ihnen verrate, daß Sie Williamsens Auftrag viel müheloser erledigen können, wenn Sie zuerst für mich arbeiten.» Er lachte spöttisch. «Die Fäden greifen nämlich auf besondere Weise ineinander. Gehen wir nun, damit Sie Williamsen pünktlich um zwei mit aller gebührenden Ehre empfangen können.» Mit einem Schulterzucken gehorchte Paulsen. Der Gedanke durchzuckte ihn, daß er es mit einem Wahnsinnigen zu tun haben könnte. Als er die Treppe hinunterging, spürte er die Pistole im Nacken. Aber der Hinweis auf Einar Williamsen ließ einen Entschluß in ihm reifen. Ein Mensch, der mit der Pistole drohte, mußte etwas Ungutes im Schilde führen. Paulsen glaubte es seiner Ehre schuldig zu sein, einer unklaren Sache nicht als willenloses Werkzeug zu dienen. Carter mußte wenigstens Farbe bekennen… Paulsens Entschluß war gefaßt. Vor der Haustür drehte er sich jählings um, um dem Schauspieler die Pistole zu entwinden und ihn zu überwältigen; aber im selben Augenblick hörte er ein dumpfes Geräusch und fühlte einen Stich im rechten Oberarm. Er taumelte und vernahm Carters scharfe Stimme: «Ich habe Sie gewarnt, Paulsen. Das war nur ein kleiner Streifschuß, aber wenn Sie noch eine einzige Dummheit machen, bekommen Sie die Kugel in den Kopf.» Paulsen richtete sich benommen auf. Er merkte, daß ihm Blut über den rechten Arm rieselte, und er zweifelte nicht mehr: sein Leben stand auf dem Spiel!
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Schlag zwei Uhr hielt der Cadillac des Schiffsreeders Einar Williamsen vor dem grauen Betonkasten, der Paulsens Detektei beherbergte. Während der weißuniformierte Chauffeur neben dem Wagen wartete, erklomm Williamsen die vielen Stiegen zum Büro des Privatdetektivs. Dabei kam er ins Schwitzen, und verärgert machte er sich darauf gefaßt, daß Paulsen ihn wohl werde warten lassen, um sich wichtig zu machen. Doch darin irrte er sich. Er wurde ebenso pünktlich empfangen, wie er gekommen war, wurde gebeten, Platz zu nehmen und mit einem höflich abwartenden Lächeln bedacht. Er kam sogleich zur Sache: «Ich wende mich an Sie, Herr Paulsen, weil Sie mir als besonders tüchtig und zuverlässig empfohlen wurden. Das Honorar können Sie selbst bestimmen, aber ich rechne damit, daß ich über Ihre Zeit verfügen darf.» «Selbstverständlich, Herr Williamsen.» «Gut. Als erstes möchte ich Sie bitten, eine Namensveränderung vorzunehmen, sagen wir, Kapitän Höjer…» «Kapitän Höjer?» Der Schiffsreeder nickte. «Haben Sie etwas dagegen? » «Natürlich nicht, wenn Sie wünschen, daß ich unter diesem Namen auftrete.» «Gut. Also weiter, Kapitän Höjer. Meine Familie und der Kreis, in den ich Sie einführen werde, brauchen nicht zu wissen, wer und was Sie in Wirklichkeit sind. Sie sollen Ihre Arbeit mit möglichster Diskretion tun. Kennen viele Menschen Sie vom Sehen?» «In Ihren Kreisen wohl kaum, Herr Direktor.» «Hm… Mir scheint es aber, als kennte ich Sie vom Sehen…» «Kapitän Höjer» lächelte flüchtig. «Es kommt vor, daß ich mit dem Schauspieler Leo Carter verwechselt werde.» «Richtig, ja, jetzt sehe ich eine gewisse Ähnlichkeit… nein, -69-
eine geradezu verblüffende Ähnlichkeit. Vor einigen Monaten sah ich ihn in Sinclairs Schauspiel. Wenn das Gerücht stimmt, steckt er in finanziellen Schwierigkeiten, so daß er einen Nervenzusammenbruch erlitten hat. Kennen Sie ihn persönlich?» «Nein.» «Nun, das tut ja nichts zur Sache», brummte Williamsen. «Könnten Sie sofort mit mir kommen?» «An und für sich könnte ich, aber ich wüßte doch gern, was Sie von mir wünschen.» Williamsen tupfte sich mit einem seidenen Taschentuch die Stirn ab. «Ich kann Ihnen das Ganze mit wenigen Worten erklären. Meine Frau gibt heute abend bei uns im Hause einen Kostümball. Wir haben sehr viele Gäste eingeladen, und das Fernsehen will für die Tagesschau Aufnahmen machen, weil das Fest als größtes gesellschaftliches Ereignis von Kopenhagen betrachtet wird. Können sie mir folgen?» «Gewiß.» «Gut. Leider hat sich meine Frau in den Kopf gesetzt, als Königin von Saba aufzutreten, und deswegen möchte sie ihren kostbaren Schmuck tragen, unter anderem die fast unschätzbaren Rain-Perlen. Sie haben davon gehört? » «Ich erinnere mich dunkel.» «Gut. Ich rechne nicht damit, daß unter unseren Gästen Diebe und Räuber vertreten sind; trotzdem finde ich es unklug von meiner Frau, sich mit den Perlen zu schmücken, die eine halbe Million Kronen wert sind.» «Verständlich.» «Jedenfalls soll man das Unheil nicht herausfordern, und darum möchte ich Ihnen die Aufgabe anvertrauen, die Perlen im Auge zu behalten, ohne daß es meiner Frau oder irgendeinem der Gäste auffällt. Da niemand wissen soll, daß Sie ein -70-
Privatdetektiv sind, werden Sie als Kapitän Höjer vorgestellt werden.» «Ich verstehe. Hegen Sie einen Verdacht gegen einen bestimmten Menschen… hm… vielleicht gegen einen Hausangestellten?» «Na ja, möglicherweise…» «Gegen wen?» Williamsen bedachte sich, bevor er antwortete: «Gegen einen der Diener, Georg Österby heißt er. Bisher hatte ich nicht das geringste an ihm auszusetzen, aber jetzt…» «Ja?» «Ach, daran ist vielleicht nur die Phantasie eines jungen Mannes schuld.» Williamsen lachte ein wenig verlegen. «Er heißt Jan Helmer und ist mit meiner Nichte befreundet. Die beiden sind auch eingeladen, und heute vormittag haben sie bei den Vorbereitungen geholfen. Österby war in der Nähe, als ich ihnen sagte, daß ich Sie als Hausdetektiv anstellen wollte, und später erklärte mir Jan Helmer, der Diener hätte ein sonderbares Gesicht gemacht…» Er rieb sich das Kinn. «Helmer ist ein begabter junger Mann, der schon öfters schwierige Kriminalfälle gelöst hat – vielleicht haben Sie davon gehört –, und darum meine ich, man sollte sein Mißtrauen nicht einfach abtun. Nachdem er mich darauf aufmerksam gemacht hatte, fiel mir auf, daß Österby großes Interesse für verschiedene Vorbereitungen zeigte, für das Kostüm meiner Frau, für den Transport der Perlen vom Banktresor und so weiter… Aber selbst wenn mein Mißtrauen ganz unbegründet ist, muß ich doch einräumen, daß ein Fest mit so vielen Gästen einem geschickten Juwelendieb gute Möglichkeiten bietet.» «Durchaus richtig. Hat Jan Helmer mich empfohlen?» «Ja, er kennt Sie von Ihrer Tätigkeit bei der Kriminalpolizei her – sein Vater ist ja Kommissar –, und je mehr ich es mir überlegte, desto überzeugter wurde ich, daß er mit seinem -71-
Verdacht recht haben könnte.» «Wieso? » «Nachdem Österby dummerweise gehört hatte, daß ich einen Hausdetektiv anstellen wollte, bat er mich, ihn für eine Stunde zu beurlauben, und ich gab ihm frei, obwohl wir wahrhaftig alle Hände voll zu tun haben. Das fand Jan Helmer besonders verdächtig. Das war’s also, Kapitän Höjer. Selbstverständlich werden wir für Sie ein Kostüm beschaffen. Da fällt mir ein – sind Sie bewaffnet? » «Nein, ich habe keinen Waffenschein, aber dafür zwei kräftige Fäuste, und ich darf mich rühmen, flink zu sein. Ist Leo Carter auch eingeladen?» «Nein», antwortete Williamsen verwundert. «Wie kommen Sie denn darauf?» «Ach, nur so, vielleicht aus Neugier.» «Kapitän Höjer» lächelte. Williamsen seufzte. «Na, ich werde froh sein, wenn der Abend überstanden ist. Ich möchte nicht, daß die Fernsehleute eine Sensation zu filmen bekommen. Dramatische Ereignisse im eigenen Haus… nein, das ist nichts für mich.»
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NEUNTES KAPITEL Es verhielt sich in der Tat so, wie der Schiffsreeder Williamsen gesagt hatte. Eigentlich war es eher zufällig geschehen. Er hatte seine Nichte Hanne zu dem Kostümfest eingeladen, dem großen gesellschaftlichen Ereignis von Kopenhagen, und ihr erlaubt, einen Kavalier mitzubringen. Natürlich war ihre Wahl auf Jan gefallen. Schon am Morgen fuhren sie gemeinsam zu der prächtigen Villa von Hannes Onkel – man konnte sie fast einen Palast nennen –, um sich nützlich zu machen, und Jan interessierte sich vor allem für die Vorbereitungen der Fernsehtechniker, die Scheinwerfer aufstellten und Kabel legten. Obwohl ein scheinbares Durcheinander herrschte, entging es ihm nicht, daß der Diener Österby seinerseits auffallendes Interesse für Frau Williamsens Kostüm und Schmuck zeigte. Nicht etwa, daß er dem Diener mißtraute, aber das brachte ihn grundsätzlich auf den Gedanken, daß es vielleicht ganz gut wäre, einen Hausdetektiv anzustellen. Diesen Vorschlag machte er Williamsen, der nicht abgeneigt zu sein schien, den Rat zu befolgen, und sofort fragte: «Wissen Sie mir einen zuverlässigen Mann?» «Ja, ich kenne einen Privatdetektiv, der früher bei der Kriminalpolizei war», antwortete Jan. «Paulsen heißt er, und er ist sehr tüchtig… Oh, entschuldigen Sie!» Er brach unvermittelt ab und ging schnell zu einer der Türen des Saales, die alle offen standen, weil die Fernsehtechniker hin und her eilten. Dort hatte er einen Mann bemerkt, der sich im Gegensatz zu allen übrigen nicht rührte. «Möchten Sie mit dem Herrn Direktor sprechen?» fragte er ihn unumwunden. «Nein… äh… ich bin gerade auf dem Weg zur Küche, und da -73-
dachte ich mir…» «Was dachten Sie sich?» forschte Jan in freundlichem Tone. «Ach, nichts weiter.» Der Diener machte kehrt und lief durch den Gang. Jan blickte ihm nachdenklich nach. Dann trat er wieder zu Hanne und Williamsen und erkundigte sich nach dem Namen des Mannes. «Österby», sagte Williamsen. «Warum wollen Sie das wissen?» Statt einer Antwort fragte Jan: «Vertrauen Sie ihm?» «Ja, durchaus. Er ist seit vier Jahren bei mir im Dienst und hat nie zu Klagen Anlaß gegeben.» Williamsen wiederholte: «Warum?» «Mir scheint, er hat gehorcht», erklärte Jan. Der Schiffsreeder lachte. «Hanne erzählte mir ja, daß Sie sich auf Gespenster verstehen, Herr Helmer, aber nun sehen Sie sie offenbar am hellichten Tage!» «Natürlich kann er sich irren», legte sich Hanne ins Mittel. «Zugegeben», räumte Jan ein. «Trotzdem sollten Sie Paulsen raten, nicht nur den Schmuck Ihrer Frau, sondern auch Österby im Auge zu behalten. Sie werden den Detektiv doch anstellen?» «Na ja, das ist kein schlechter Gedanke. Bestimmt wäre es auch im Interesse meiner Gäste. Ich werde mich mit diesem Paulsen gleich in Verbindung setzen.» Gerade als Williamsen den Saal verlassen wollte, kam Österby herbei und fragte höflich: «Entschuldigen Sie, Herr Direktor, könnte ich wohl eine Stunde frei bekommen? Ich habe etwas Dringendes in der Stadt zu erledigen.» «Ausgerechnet heute, wo es so viel zu tun gibt?» erwiderte Williamsen. «Also gut, aber kommen Sie so schnell wie möglich zurück.» -74-
«Besten Dank, Herr Direktor.» Österby eilte aus dem Saal. «Merkwürdig», murmelte Jan. «Wieso findest du das merkwürdig?» fragte Hanne. «Warum hat er nicht früher darum gebeten?» .antwortete Jan. Wieder lachte Williamsen. «Dein Freund scheint mir aus Gewohnheit den Teufel an die Wand zu malen. Doch zu Ihrer Beruhigung, Herr Helmer, ich werde Paulsen anstellen. Lassen wir das nun ruhen. Als was werdet ihr beide heute abend erscheinen?» «Ich als Colombine, Onkel Einar», sagte Hanne. «Und ich als Harlekin», fügte Jan hinzu. Der Schiffsreeder lächelte liebenswürdig. «Ihr werdet sicher ein hübsches Paar sein. Jedenfalls wünsche ich euch viel Vergnügen.» Die Gastgeber konnten mit dem Erfolg ihres Festes zufrieden sein. Ein farbenfrohes Gewimmel herrschte im prächtig ausgeschmückten Ballsaal, wo ein beliebtes Tanzorchester aufspielte. Luftschlangen flogen über die maskierten Gäste, deren Kostüme vom Scheinwerferlicht hell angestrahlt wurden, und außer den Kameraleuten und den Beleuchtern vom Fernsehen amüsierten sich alle königlich. Zwischendurch gaben Kabarettisten erheiternde Nummern zum besten. In einem Winkel saßen Colombine und Harlekin und stießen miteinander an, obwo hl sie sich mit Orangensaft begnügten. «Puh, mir ist ganz heiß vom Tanzen», sagte Hanne. «Ich bin froh, daß wir uns bald demaskieren können. Weißt du, Jan, mir scheint, du bist der einige, der sich nicht richtig amüsiert. Warum mußt du dir auch immer Sorgen machen? Du bist ganz einfach ein Schwarzseher.» «Mag sein», antwortete Jan zerstreut. Er betrachtete eine große Gestalt in rotseidenem Fechterkostüm. «Es ist mir ein Rätsel, -75-
weshalb Paulsen mich so hochnäsig begrüßt hat. Nicht einmal ein Wort des Dankes, daß ich ihn deinem Onkel empfohlen habe…» «Vielleicht ist er nervös», meinte Hanne und betrachtete ebenfalls den Fechter. «Er trägt ja eine große Verantwortung.» Jan schüttelte den Kopf. «Paulsen und nervös? Das ist mir neu. Es sei denn, er hat irgend etwas erfahren…» «Na, vorläufig ist alles gut gegangen.» «Ja, vorläufig…» Der Fechter lehnte regungslos an der Wand. Das Scheinwerferlicht ließ die rote Seide seines Kostüms und seinen langen Degen glänzen. Hinter der roten Halbmaske verfolgten seine wachsame n Augen jede Bewegung der etwas fülligen, juwelengeschmückten Dame, die den Mittelpunkt des Festes zu bilden schien. Niemand zweifelte daran, daß die Königin von Saba mit den schönen Rain-Perlen Frau Williamsen war. Wenn sie mitunter das Parkett verließ, um an der Bar etwas zu trinken oder einem der Diener eine Anweisung zu geben, ging ihr der rote Fechter diskret nach. Keiner der Gäste außer Hanne und Jan wußte, daß sich unter ihnen ein Privatdetektiv befand. Sogar Frau Williamsen hatte keine Ahnung davon, und da ihr Wächter sein Handwerk offenbar verstand, merkte sie nicht, daß er sie keine Sekunde aus den Augen ließ. «Laß uns wieder tanzen, Jan», bat Hanne. «Später, nach der Demaskierung», wehrte er ab. Unvermittelt sagte er: «Ich habe eine Idee, Hanne.» «Wirklich? Eine gute Idee?» «Das wird sich zeigen.» Jans Stimme war auf einmal heiser vor Aufregung. «Gleich werde ich wissen, ob es eine gute Idee ist. Und um das festzustellen, mußt du mir helfen.» «Ich? Wie denn?» «Indem du einen Satz mit sieben Wörtern sprichst.» -76-
«Ich soll einen Satz mit sieben Wörtern sprechen?» Hannes lebhaftes Gesicht nahm einen beinahe dummen Ausdruck an. «Du hast wohl nicht alle Tassen auf dem Klavier?» «Ob auf dem Klavier oder im Schrank, sie sind alle noch da», erwiderte er. «Mein Wecker ist ganz in Ordnung.» «Mir schleierhaft, was darin vorgeht.» Hanne schüttelte verwundert den Kopf. «Hör also gut zu.» Jan flüsterte ihr etwas ins Ohr. Dann drang er in sie: «Los, mach rasch!» Als die Demaskierung bevorstand, wurde der Trubel im Ballsaal immer größer. Die Diener trugen Sektkübel herein und stellten sie ringsum auf den Tischen ab. Wenn die Masken fielen, sollten die Sektpfropfen knallen. Der rote Fechter stand neben einem Tischchen und verfolgte Frau Williamsen mit den Augen. Plötzlich ertönte hinter ihm eine helle Jungmädchenstimme: «Dann beweise es und komm mit mir!» Der Fechter fuhr herum und hob den rechten Arm. Mitten in der Bewegung hielt er inne, und sein Arm sank herab. Durch den Augenschlitz seiner Maske betrachtete er die reizende Colombine, die sich lachend mit einem Harlekin unterhielt. Anscheinend beachtete das Paar die Reaktion des Fechters nicht weiter, denn die beiden gingen Arm in Arm davon. Der rote Fechter warf einen hastigen Blick auf seine Armbanduhr, die sechs Minuten vor Mitternacht anzeigte. Seine Augen schweiften durch den Saal. Der Diener Österby trat zu Frau Williamsen und übermittelte ihr offenbar einen Bescheid, denn sie verließ sofort den Ballsaal und begab sich durch einen gewölbten Gang zum Wintergarten. Österby folgte ihr, und der Fechter bahnte sich schnell einen Weg durch das Gewimmel der Tanzpaare. -77-
Jan, dessen wachsamen Augen nichts von all dem entgangen war, sagte schnell: «Hanne, ich bin überzeugt, daß mein Mißtrauen berechtigt war. Schrecklich…» «Was ist denn los?» fragte Hanne verwundert. Er faßte sie am Arm. «Komm rasch mit!» Sie drängten sich an der Wand entlang zu einem Nebenzimmer, durch das man ebenfalls zum Wintergarten gelangen konnte. In diesem Augenblick schrie eine Frauenstimme gellend auf. Nur die nächsten Paare vernahmen den Schrei, denn im Ballsaal spielte das Orchester mit voller Lautstärke. Die wenigen Leute, die sich in der Nähe des Ganges zum Wintergarten befanden, stürzten dorthin. Bei der Tür beugte sich Jan über eine reglose Gestalt, die am Boden lag. Es war Einar Williamsen. Zweifellos war der Schiffsreeder mit irgendeinem Gegenstand niedergeschlagen worden. Er hatte eine dicke Beule an der Stirn, war aber offenbar nur bewußtlos. Jan entwand seiner geballten Hand einen Stoffetzen. Immer mehr Gäste kamen herbei, und nun erlebten sie den zweiten Schock, denn im Nebenraum lag Frau Williamsen – ohne die Rain-Perlen… Schreckensrufe wurden laut, ratlos starrten die kostümierten Gäste einander an. Jan richtete sich auf und sah, daß sich der rote Fechter zu dem bewußtlosen Schiffsreeder durchdrängte. «Sind Sie dem Angreifer nachgelaufen?» fragte Jan mit heiserer Stimme. Der Fechter ächzte atemlos: «Ich war hinter einer Gestalt her, die zur Halle lief…» «Warten Sie hier!» fiel Jan ein. «Ich bin gleich zurück.» «Nein, niemand darf fort, bevor die Polizei kommt!» Der Fechter hatte ihn blitzschnell am Arm gepackt. «Lassen Sie mich los!» Jan zischte die Worte und machte sich -78-
mit einem Ruck frei. Es gelang ihm, den Raum zu verlassen, obwohl ihn einige Gäste aufzuhalten versuchten. Der Fechter nahm die Maske vom Gesicht und hob die Arme, um Ruhe zu gebieten. Als er sich endlich Gehör verschafft hatte, sagte er laut und gebieterisch: «Mein Name ist Ivar Paulsen, ich bin Privatdetektiv. Ich wurde von Herrn Williamsen angestellt, die Rain-Perlen zu überwachen. Ein Verbrecher hat mich überlistet, aber die Kriminalpolizei wird benachrichtigt werden. Niemand darf das Haus verlassen. Wer war der Harlekin, der sich davongemacht hat?» «Das wissen Sie recht gut», erklang Hannes Stimme. «Das ist Jan Helmer.» Der Fechter schien verwirrt zu sein. «Ach so… ja, natürlich.» Hanne wunderte sich im stillen. Ob Jan recht damit hatte, daß mit dem Privatdetektiv Ivar Paulsen etwas nicht stimmte? Jedenfalls kam ihr der Mann sonderbar vor. In diesem Augenblick kehrte Jan zurück. Er trug keine Maske mehr und ging geradenwegs auf den Fechter zu. In der Hand hielt er einen roten Seidenfetzen, den er vorstreckte, während er sagte: «Fehlt Ihnen dieses Stück nicht am linken Ärmel, Herr Leo Carter?» Die Gäste murmelten untereinander und starrten mit großen Augen auf den berühmten Schauspieler, der wie vom Blitz erschlagen stand. Dann geschah etwas Unerwartetes. Mit einem Satz sauste Carter zur Tür. Jan wollte ihm zuvorkommen, wurde aber so heftig zurückgestoßen, daß er gegen die verwirrten und schreienden Gäste taumelte. Carter entschlüpfte durch die Tür. Jan faßte sich und rief: «Ihm nach! Er darf nicht entkommen!» Sie eilten alle zum Haus hinaus und weiter durch den Park. Jan glaubte die Schritte des Flüchtenden zu hören und rannte auf dichtes Gesträuch zu, das den Park vom Weg abgrenzte. Er blieb -79-
davor stehen und lauschte; aber es war nichts mehr zu hören. Er überlegte. Wenn er Boy bei sich gehabt hätte, wäre alles leichter gewesen; aber Leo Carter konnte nicht nur bewaffnet sein, sondern er war jetzt auch ein verzweifelter Mensch. Jan dachte an das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte, und sagte sich, daß es am vernünftigsten wäre, die Polizei anzurufen. Niedergeschlagen kehrte er zum Haus zurück, wo er von den neugierigen Gästen umringt und mit Fragen überhäuft wurde. Das Ehepaar Williamsen war inzwischen zu sich gekommen. Frau Williamsen war einer neuen Ohnmacht nahe, als sie entdeckte, daß ihr kostbares Perlen-Collier verschwunden war. Ihr Mann nahm die Sache ruhiger und tröstete sie immer wieder damit, daß es versichert sei. Sowie Jan die Kriminalpolizei angerufen hatte, nahm Hanne ihn beiseite und bat ihn um eine Erklärung. «Du hättest sie mir schon vorher abgeben sollen», schmollte sie. «Wie bist du überhaupt dahintergekommen, daß sich der Schauspieler Leo Carter als Privatdetektiv Paulsen ausgegeben hat?» «Eines fügte sich zum andern», antwortete er. «Du weißt ja, wie merkwürdig ich es fand, daß der Diener Österby auf einmal in die Stadt wollte, und ich wurde den Gedanken nicht los, daß er die Absicht hatte, sich mit irgendeinem Spießgesellen zu besprechen. Und beim angeblichen Paulsen fiel mir sofort auf, daß er mich wie Luft behandelte, als ich mit ihm zu reden wünschte. Er benahm sich ja, als ob er mich nicht kennte…» «Sahst du nicht, daß es ein anderer Mann war?» Jan spreizte die Hände. «Auf den Gedanken kam ich gar nicht, denn die Ähnlichkeit zwischen den beiden ist wirklich verblüffend. Jetzt ist mir klar, daß Carter mit Paulsen zusammengetroffen sein muß, denn er ahmte auch den Tonfall des Detektivs nach. Sogar von seiner Stimme ließ ich mich narren. Als ich vor einiger Zeit mit meinen Eltern im Theater war, fiel uns auf, wie sehr der Hauptdarsteller in dem Stück -80-
‹Sohn des Volkes› dem ehemaligen Kriminalbeamten Paulsen glich – Vater machte deswegen eine Bemerkung –, aber daran dachte ich erst vor einer halben Stunde. Erinnerst du dich, mir kam doch plötzlich ein Gedanke…» «Das war es also! Du wolltest den angeblichen Paulsen auf die Probe stellen?» Er nickte. «In dem Stück ist der Satz ‹Dann beweise es und komm mit mir› das Stichwort für Carter, sich schnell umzudrehen und zuzuschlagen. Das ist ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, daß er genauso reagierte, als du diese Worte sprachst. Als ich das sah, wußte ich, daß der Mann im roten Fechterkostüm nicht Paulsen, sondern sein Doppelgänger war. Und jetzt bange ich um Paulsen.» «Warum, Jan?» «Hoffentlich irre ich mich, aber ich fürchte, Paulsen ist tot.» «Wie kannst du so etwas Schreckliches annehmen!» rief sie entsetzt. «Es ist doch ziemlich klar, daß Österby Carter angerufen hat – die beiden stecken bestimmt unter einer Decke –, um ihm mitzuteilen, daß Paulsen als Hausdetektiv angestellt werden sollte. Daraufhin ging Carter zu Paulsen und…» «Und tötete ihn?» vervollständigte sie mit aufgerissenen Augen. «Der Gedanke liegt nahe», sagte er ernst und niedergeschlagen. «Ich kann nur wiederholen: Hoffentlich irre ich mich. Der Perlendieb ist auf jeden Fall Österby, dem ich vorhin vergeblich nachgelaufen bin, aber Carter hat ebenso große Schuld. Zweifellos hat dein Onkel den Diener überrascht, als er deine Tante niederschlug. Dann ging der verzweifelte Carter auf deinen Onkel los, und beim Kampf wurde ihm ein Stück seines Ärmels ausgerissen. Ich kümmerte mich zuerst weder um deine Verwandten, noch um Carter, weil ich Österby mitsamt den Perlen noch zu erwischen hoffte.» -81-
«Meine arme Tante», seufzte Hanne. «Der Verlust der Rain-Perlen ist zu verschmerzen», erwiderte Jan. «Deine Tante und dein Onkel können froh sein, daß sie mit dem Leben davongekommen sind. Meine Sorge gilt vor allem Paulsen.» Als die Kriminalpolizei kam, mußte Jan als erster Bericht erstatten und nach ihm Herr Williamsen. Die Untersuchung führte Wachtmeister Holgersen, den die gestohlenen Perlen weniger interessierten als das Schicksal seines ehemaligen Kollegen Ivar Paulsen. Er übertrug deshalb die weiteren Nachforschungen im Hause des Schiffsreeders den Leuten vom Spurensicherungsdienst – «Reine Routinearbeit», sagte er erklärend zu Williamsen – und verabschiedete sich für kurze Zeit, um zu Carters Wohnung zu fahren. «Darf ich mitkommen?» bat Jan eifrig. Holgersen rieb sich die Wange. «Na ja, kann nichts schaden», willigte er ein. «Unterwegs können wir alles noch einmal durchgehen.» Carters Haus lag in einem stillen Villenviertel. Nirgends brannte Licht, und niemand machte ihnen auf. «Kein Wunder», knurrte der Wachtmeister. «Der Vogel ist natürlich ausgeflogen.» «Wie kommen wir nun hinein?» fragte Jan. «Unter diesen Umständen brauchen wir keinen Haussuchungsbefehl», antwortete Holgersen. «Hast du schon einmal einen Toten gesehen, Jan?» Jan schüttelte beklommen den Kopf. «Möchtest du lieber draußen warten?» «Nein, auf keinen Fall!» Sie hatten Glück, denn ein Kellerfenster stand offen. Dem Wachtmeister erlaubte sein Leibesumfang nicht, auf diesem Wege einzudringen; aber Jan gelang es mühelos, und er öffnete -82-
von innen das größere Fenster der Waschküche, so daß auch Holgersen einsteigen konnte. Sicherheitshalber machten sie einen schnellen Rundgang durchs Haus, bevor sie die Kellerräume durchsuchten. Jan fand den Gesuchten im Heizraum. Es rieselte ihm kalt über den Rücken, als er das Bündel in einem Winkel sah. Erleichtert atmete er auf, als er feststellte, daß er einen Gefesselten und Geknebelten vor sich hatte. So brauchte man einen Toten nicht zu behandeln! Er rief Holgersen herbei, und gemeinsam befreiten sie Paulsen, der sich mühsam aufrichtete und seine tauben Hände knetete. «Das war ja ein schönes Erlebnis», stöhnte er. «Wie habt ihr mich gefunden?» «Das erzählen wir dir später», beschwichtigte Holgersen. «Wie geht es dir?» «Wie es einem eben geht, wenn man stundenlang auf einem Zementboden gelegen hat. Habt ihr Carter?» «Leider noch nicht. Hast du eine Ahnung, wo er steckt?» Paulsen schüttelte den Kopf. «Auf dem Kostümfest hat er sich natürlich für mich ausgegeben, und die Rain-Perlen… die Perlen sind wohl verschwunden? Der Kerl hat mir nämlich seinen ganzen Plan verraten, während er mir den Arm verband.» «Ja, die Perlen sind weg.» «Er zwang mich mit der Pistole in der Hand, mit ihm zu kommen», fuhr Paulsen ächzend fort. «Ich konnte beim besten Willen nicht gegen ihn an.» «Ich bin froh, daß du noch am Leben bist», sagte Holgersen. «Ich auch», stimmte Jan aus vollem Herzen bei. «Laßt mich hören, was geschehen ist», bat der Detektiv. Holgersen und Jan schilderten ihm abwechselnd die Ereignisse, und zum Schluß sagte der Wachtmeister: «Morgen lassen wir das Haus hier untersuchen, vielleicht bringt uns das -83-
auf eine Spur. Wenn du nicht zu mitgenommen bist, Paulsen, möchte ich dich bitten, mit uns beiden zu Williamsen zurückzufahren. Dort wird es sicher eine Erfrischung für dich geben.» Noch hatte keiner der Gäste die Villa des Schiffsreeders verlassen, zumal die Fernseh-Equipe die Gelegenheit wahrnahm, Interviews zu veranstalten. Natürlich wollte sich der Regisseur den jungen Amateurdetektiv Jan Helmer gleich nach der Rückkehr kapern; aber Jan entzog sich ihm und machte sich auf die Suche nach Hanne. «Habt ihr die beiden Halunken gefunden?» erkundigte sie sich sofort. «Leider nicht. Wie geht es deinem Onkel und deiner Tante?» «Onkel Einar geht es ganz gut, aber Tante Marion hat wegen der verlorenen Perlen beinahe einen Nervenzusammenbruch bekommen.» «Sag mir, hat die Polizei Österbys Zimmer schon untersucht?» «Ja, längst, aber meines Wissens nichts von Bedeutung gefunden», antwortete Hanne. «Warum fragst du?» «Weil wir dann Nachlese halten können.» «Oh, fein!» Hanne war sogleich Feuer und Flamme. Österbys Zimmer lag im Erdgeschoß des Personalflügels am Ende eines langen Ganges. Es war hübsch eingerichtet und tadellos ordentlich. Von der Durchsuchung merkte man nichts; aber Jan stellte fest, daß die Polizei die Schubfächer eines kleinen Schreibtischs im Winkel geleert hatte. «Hier finden wir nichts, das uns auf die Spur der Juwelendiebe bringen würde», sagte er leicht enttäuscht; doch als er geistesabwesend, fast mechanisch eine Schreibmappe aufklappte, stutzte er. Obwohl das oberste Blatt des Schreibblocks unbeschrieben war, beugte er sich darüber. «Was ist?» fragte Hanne neugierig. -84-
«Schau selbst!» Hanne beguckte das Blatt. «Es steht nichts darauf», sagte sie mißmutig. «Man sieht nur einen Abdruck. Anscheinend wurde das zuletzt herausgerissene Blatt mit einem harten Bleistift beschrieben, und so ist der Abdruck entstanden.» «Bravo, Hanne!» «Aber er ist nicht zu entziffern.» «Das ließe sich machen, wenn wir Ruß hätten.» «Mit Ruß?» «Ja, wenn man Ruß darauf streut und ihn vorsichtig wegbläst, bleibt ein Rest in den Vertiefungen zurück, und dann kann man die Schrift entziffern.» «Mach das, Jan, mach das doch!» drang sie in ihn. «Eigentlich müßte ich den Block der Polizei abliefern…» «Ach, Unsinn! Die Leute vom Spurensicherungsdienst haben ihn ja übersehen. Kannst du dir Ruß beschaffen?» Jan hatte seinen Entschluß schon gefaßt. «Ich rufe dich morgen früh an. Ruß kann ich leicht herstellen, und dann gebe ich dir Bescheid.» Ohne sich länger zu besinnen, riß er das Blatt ab, faltete es sorgsam und steckte es ein.
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ZEHNTES KAPITEL Um neun Uhr früh rief Jan seine Assistentin an. «Hanne, bist du morgen frisch?» «Wie ein Seeadler!» «Freut mich. Magst du heute abend eine kleine Expedition mitmachen? » «Und ob! Worum handelt es sich?» «Ich habe die Schrift gedeutet. Auf dem Papier steht: ‹Villa Clara, Ulmenallee, Sonntag, 22.30 Uhr›.» «Das macht mich nicht schlauer.» «Nein? Vermutlich wird sich Österby heute abend dort einstellen, um Leo Carter zu treffen.» «Meinst du? Und wir werden uns auch einstellen?» «Richtig, Doktor Watsona. Ich radle heute vormittag schon hin, um das Terrain zu sondieren. Im Dunkeln ist die Villa Clara vielleicht nicht zu finden. Kann ich dich um halb zehn abholen?» «Klar! Ich pumpe sofort mein Fahrrad auf.» Jan lachte über ihren Eifer. Aber er war selbst ebenso eifrig bei der Sache und machte sich sogleich auf. Es bereitete ihm keine große Mühe, die Villa Clara in der Ulmenallee zu finden. Es war ein ziemlich bescheidenes Haus in einem großen Garten. Er hatte die größte Lust, sich näher umzusehen, doch er bezwang sich. Auf dem Rückweg machten ihm Bedenken zu schaffen, weil er sich das Blatt mit dem Schriftabdruck angeeignet hatte, anstatt es der Polizei zu übergeben. Plötzlich kam ihm ein Gedanke, der ihm ein guter Ausweg zu sein schien. In den Frühnachrichten war verkündet worden, daß die -86-
Versicherungsgesellschaft für denjenigen, der die Polizei auf die Spur der Juwelendiebe führte, eine Belohnung von zwanzigtausend Kronen ausgesetzt hatte, sofern der kostbare Perlenschmuck dadurch der Besitzerin zurückerstattet wurde. War es nicht recht und billig, dem Privatdetektiv Paulsen eine Chance zu bieten? Der arme Kerl hatte wirklich genug ausgestanden, und gleichzeitig wäre er, Jan, unter dem Schutz eines ehemaligen Polizeibeamten, so daß er sein dem Vater gegebenes Versprechen, kein unnötiges Wagnis einzugehen, halten könnte. Ja, Paulsen sollte eine Chance haben! Zwanzig Minuten später betrat Jan das bescheidene Büro des Privatdetektivs. Paulsen begrüßte ihn mit einem matten Lächeln und erkundigte sich: «Na, Jan, was hast du auf dem Herzen? Jedenfalls hätte ich Zeit für dich, denn ich sitze hier und warte auf Kunden. Nimm Platz.» Jan folgte der Aufforderung und fragte: «Haben Sie das böse Erlebnis gut überstanden?» «So ziemlich. Der Arm ist in Ordnung. Aber es wurmt mich innerlich, und ich würde den vertrackten Leo Carter gern in die Finger bekommen.» «Vielleicht besteht dazu Aussicht, Herr Paulsen.» «Was?» «Gleichzeitig bekämen Sie zwanzigtausend Kronen in die Finger. Sie hörten doch die Nachricht im Radio?» «Ja, und das wäre gar nicht schlecht für den Ruf eines Privatdetektivs.» Jan erzählte ihm nun von seiner Entdeckung, und der ehemalige Polizeimann hörte gespannt zu. Er zerstreute Jans Bedenken wegen des eigenmächtigen Vorgehens. «Wenn Holm und Jensen in Österbys Zimmer etwas übersehen haben, ist den beiden mit einer Aufklärung nur gedient. Der Vorwurf wird dann nicht allzu schwer wiegen. Du hast natürlich -87-
recht mit deiner Vermutung, daß sich Österby heute abend in der Ulmenallee einstellen wird. Aber wenn wir Erfolg haben, mußt du die ausgesetzte Belohnung einstecken.» Jan schüttelte den Kopf und erläuterte dem Detektiv, warum er Schutz und Deckung brauchte, wenn er etwas Gefährliches unternahm. Paulsen lächelte breit. «Na, zuerst müssen wir den erhofften Erfolg haben, und dann werden wir ja sehen. Können wir uns hier bei mir treffen?» «Ja, aber ich habe Hanne Beyer – Sie kennen ja die Nichte von Schiffsreeder Williamsen – versprochen, sie mitzunehmen.» «Das paßt mir gar nicht», entgegnete Paulsen. «Ein Mädchen…» Jan hatte einige Mühe, ihn umzustimmen; aber schließlich willigte Paulsen ein. «Ihr könnt die Räder unten im Flur abstellen», sagte er zum Schluß. «Ich habe einen kleinen Wagen, mit dem wir hinfahren werden.» Es war längst dunkel, als Paulsen seinen Wagen in der Nähe der Ulmenallee parkte. Das letzte Stück gingen sie zu Fuß. Die Villa Clara machte einen unbewohnten Eindruck, und der vernachlässigte Garten verriet, daß sie lange Zeit leer gestanden hatte. Die drei versteckten sich im Gebüsch und behielten das Haus im Auge, zu dem eine breite Freitreppe hinaufführte. Die Zeit wurde ihnen lang, bis sich endlich ein Fenster im ersten Stock erhellte. Kurz darauf gewahrten sie eine Gestalt, die langsam über den Fliesenweg zum Haus ging. «Ob das Österby ist?» flüsterte Hanne. «Still!» fuhr Paulsen sie an. Nachdem der Mann das Haus betreten hatte, sagte Paulsen -88-
leise: «Sie bleiben hier, Fräulein Beyer.» Sie wollte widersprechen, aber er sagte scharf: «Wir sind hier nicht in der Sonntagsschule, und ich befehle Ihnen, hier im Gebüsch zu warten.» Sie seufzte schicksalsergeben und blickte ihm und Jan sehnsüchtig nach. Die Haustür war nicht verschlossen. Im Hintergrund der spärlich beleuchteten Diele führte eine Treppe zum ersten Stock hinauf. Von oben drang undeutliches Stimmengemurme l. Paulsen raunte Jan zu: «Folg mir, aber geh ja nicht in der Mitte der Treppe – vielleicht knarren die Stufen.» Vorsichtig stiegen sie hinauf. Die Stimmen wurden deutlicher; es klang, als ob sich zwei Männer stritten. Auf dem Treppenabsatz horchten sie an der Tür, hinter der sich ein erregter Dialog abwickelte. Schreckgelähmt erstarrten sie, als sie die schneidende Stimme des Schauspielers dramatisch sagen hörten: «Jetzt hat dein letztes Stündlein geschlagen, Georg!» «Nein, nein, beruhige dich doch, Leo! Du brauchst nicht mit mir zu teilen…» Ohne sich länger zu besinnen, riß Paulsen die Tür auf. Mit einem Blick erfaßten er und Jan die Lage: An der einen Wand lehnte Österby mit erhobenen Händen, und wenige Meter von ihm entfernt stand Leo Carter – mit gezückter Pistole. Der Schauspieler fuhr herum, und sowie er die beiden Eindringlinge gewahrte, schrie er: «Hände hoch, oder ich schieße!» Kein Zweifel, dieser rabiate Mensch würde seine Drohung wahrmachen. Mechanisch hoben Jan und Paulsen die Arme. Carter lachte spöttisch. «Na, da haben wir ja meinen Doppelgänger… und den Harlekin vom Kostümfest. Hoffentlich hatten Sie es nicht zu unbequem in meinem Keller, Herr Paulsen. Möchte nur wissen, wie Sie wohl entkommen sind. -89-
Aber das kann mir gleich sein. Hauptsache, Sie sind im entscheidenden Augenblick erschienen.» Sein Lachen klang irr. «Wären Sie fünf Sekunden später aufgetreten, so hätten Sie meinen langjährigen Freund Georg Österby als Leiche vorgefunden. Wenn man endlich nach langer Mühe die wertvollen Rain-Perlen in seinen Besitz gebracht hat, wäre es ja reine Dummheit, den Raub mit einem andern zu teilen. Aus bestimmten Gründen bin ich genötigt, meinen Schauspielerberuf aufzugeben, aber ich tue es ohne Sorge, denn für den Rest meiner Tage werde ich als reicher Mann im Ausland leben. Daran wird mich niemand hindern.» Er unterbrach seinen Redefluß und schien zu überlegen, ehe er fortfuhr: «Es dürfte wohl das klügste sein, euch alle drei zu erschießen… aber drei Menschenleben auf dem Gewissen, das ist ein bißchen viel. Ich denke, ich werde doch Gnade vor Recht ergehen lassen…» Plötzlich erkannte Jan, daß sie es mit einem Geisteskranken zu tun hatten, der zu allem fähig war. Unbegreiflich! Leo Carter gehörte zu den größten Schauspielern des Landes, und jetzt war er nicht nur zum Juwelendieb geworden, sondern überlegte sogar kaltblütig, ob er drei Menschen umbringen sollte… Wieder ertönte Carters unheimliches Lachen. «Euch zwei Schnüfflern mag es ein Trost sein, daß ihr nicht mit leeren Händen von hier abziehen werdet. Ich überlasse euch Georg Österby, mit dem der Staatsanwalt sicher gern reden wird. Ist das nicht nett von mir?» «Sehr nett», antwortete Paulsen ironisch. «Dann sind wir uns also einig, mein guter Paulsen. Und nun erlaube ich mir, zu verschwinden.» Ohne die Pistole zu senken, wich Carter rückwärts zur Tür. Dabei sagte er: «Es geht schlimm für den aus, der mir zu folgen versucht. Ich würde auf der Stelle schießen. Gute Nacht, meine Herren. Es war mir ein Vergnügen, Sie wiederzusehen, aber es -90-
wird das letztemal gewesen sein.» «Bestimmt nicht», entfuhr es Paulsen. «Wir sehen uns auf jeden Fall vor den Schranken des Gerichts wieder.» Carter reckte sich hochmütig. «Sie vergessen, daß ich ein Künstler bin, Herr Paulsen. Ich habe alles genau geplant und nichts außer acht gelassen. Mein letzter Auftritt liegt hinter mir, Sie können ihn morgen abend im Fernsehen verfolgen.» Mit großer Geste verschwand er durch die Tür. Jan wollte ihm nachstürzen, aber Paulsen hielt ihn zurück. «Nein, Jan, das nützt nichts. Der Kerl hätte keine Bedenken, zu schießen! Außerdem haben wir hier mit Österby zu tun.» Österby hatte die Arme fallen lassen, rührte sich jedoch nicht von der Stelle. Er zitterte am ganzen Leibe und stammelte: «Er wollte mich töten… er wollte mich töten…» «Allerdings», sagte Paulsen trocken. «Wie lange kennen Sie ihn schon?» «Wir gingen zusammen in die Schauspielschule», murmelte Österby. «Ich wollte auch zum Theater, aber daraus wurde nichts.» «Hat er den Coup geplant?» Österby nickte. «Er brauchte dringend Geld, er lebte weit über seine Verhältnisse.» «Wahrscheinlich ist er größenwahnsinnig», bemerkte Paulsen. «Na ja, die Einzelheiten werden ja beim Verhör herauskommen. Sie werden Ihre Helfersdienste teuer bezahlen müssen. Wo ist hier das Telefon? » «Die Nummer ist aufgehoben. Das Haus hat lange leer gestanden.» «Zum Teufel!» rief Paulsen ärgerlich. «Dann müssen wir Sie eben mitnehmen und bei der Polizei abliefern. Daß Sie mir unterwegs ja keine Dummheiten machen! Das Spiel ist für Sie verloren.» -91-
«Ich weiß», murmelte Österby. Jan hatte unwillkürlich Mitleid mit Georg Österby, der wahrscheinlich von einer großartigen Künstlerlaufbahn geträumt, Schiffbruch erlitten hatte und aus Schwäche zum Verbrecher geworden war. «Gehen wir», sagte Paulsen kurz. «Von der nächsten Telefonzelle aus müssen wir die Polizei benachrichtigen, damit die Streifenwagen nach Carter fahnden können.» Im Garten pfiff Jan durch die Finger und rief: «Hanne, komm hervor!» Nichts rührte sich. Er rief abermals, aber vergebens. «Warten Sie», sagte er zu Paulsen, der hinter Österby stehengeblieben war. Aus dem Gebüsch erhielt Jan keine Antwort, und Hanne war nirgends zu sehen. Sicherheitshalber durchsuchte er den ganzen Garten und rief immer wieder nach ihr. «Wo kann sie nur stecken?» sagte er verzweifelt zu Paulsen. «Schnell zur Polizei», antwortete Paulsen kurz. «Ob ihr etwas zugestoßen ist?» Paulsen ließ sich von seiner Unruhe nichts anmerken. «Jedenfalls ist Carter ein gefährlicher Mensch», sagte er ebenso kurz. Es paßte Hanne gar nicht, im Garten zurückgelassen zu werden. Ihrer Ansicht nach mußte es drinnen im Haus spannend zugehen, und das hätte sie brennend gern miterlebt. Die Neugier plagte sie schier unerträglich, während sie zu dem erhellten Fenster hinaufstarrte. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Behutsam schlich sie sich zum Haus heran und trat durch die unverschlossene Tür ein. Der Schrecken fuhr ihr in die Glieder, als sie von oben Carters Stimme vernahm: «Sie vergessen, daß ich ein Künstler bin, Herr -92-
Paulsen. Ich habe alles genau geplant und nichts außer acht gelassen. Mein letzter Auftritt liegt hinter mir, Sie können ihn morgen abend im Fernsehen verfolgen.» Sie wich neben einem Schrank in den Winkel zurück, als sie Carter mit gezückter Pistole oben durch die Tür kommen sah. Er eilte die Treppe herunter und stürzte hinaus. Nur ein paar Sekunden war Hanne ratlos. Dann faßte sie einen Entschluß. Carter konnte nicht wissen, daß sie die Dritte im Bunde war… Ohne zu zögern, folgte sie ihm und sah ihn den Garten verlassen. Er wandte sich nach links. Auf dem Wege zur Villa Clara war ihr dort in kurzer Entfernung ein Taxistand aufgefallen – sicher strebte er dorthin. Sie konnte nur inbrünstig hoffen, daß mehr als ein Taxi auf Kunden wartete; sonst mußte sie alle Hoffnung auf eine Verfolgung aufgeben. Sie hatte recht mit ihrer Überlegung. Leo Carter steuerte geradenwegs auf den Standplatz zu, und zu ihrer Erleichterung stellte sie fest, daß dort drei Wagen mit grünem Licht standen. Daß Carter einem jungen Mädchen, das ebenfalls ein Taxi bestieg, kaum Beachtung schenken würde, durfte sie wohl voraussetzen. Sie sputete sich, und fast gleichzeitig wie er ins erste stieg sie in ein anderes Taxi vorn ein. «Bitte folgen Sie dem Wagen dort», wies sie den Fahrer an. «Ich erkläre Ihnen alles unterwegs, und Sie sollen ein gutes Trinkgeld bekommen, wenn sie ihn nicht aus den Augen verlieren.» «Da will wohl Ihr Schatz verduften?» bemerkte der Fahrer und ließ den Motor an. «Unsinn!» lachte sie. «Oder soll am Ende ein Verbrecher beschattet werden?» scherzte er weiter. Zu seiner Verblüffung bejahte sie. -93-
«Weiß er, daß Sie hinter ihm her sind?» «Nein», erwiderte sie, und während er die Jagd aufnahm, erklärte sie ihm die Zusammenhänge. «Donnerwetter!» stieß der Fahrer hervor. «Haben Sie sich da nicht in eine gefährliche Sache eingelassen?» «Eine Sonntagsschule ist es nicht», sagte Hanne. «Haben Sie Angst?» «Ich und Angst! Aber wenn wir einen Streifenwagen treffen, werde ich ihn alarmieren. Außerdem will ich meinen Chef anrufen, damit er die Polizei benachrichtigt.» «Ein glänzender Gedanke!» Der Fahrer sprach über Funk mit seinem Chef und setzte ihm die Sachlage auseinander. Hanne fieberte vor Erregung. «Ich rufe wieder an, wenn sich hier irgend etwas ergibt», schloß der Fahrer. «Ende.» Hanne ließ den vorderen Wagen nicht aus den Augen. «Er hat von der Verfolgung nichts gemerkt», sagte sie. «Er schaut nicht einmal durchs Rückfenster.» «Ja, aber mein Kollege hat es bestimmt gemerkt», meinte der Fahrer. «Wird er es seinem Fahrgast sagen?» fragte sie besorgt. Der Chauffeur gr inste breit. «Sie können Ihre Seligkeit verwetten, daß er das nicht tun wird. Wahrscheinlich hat er auch gesehen, daß ich gefunkt habe, und da wird er sich wohl zusammenreimen, daß wir das Recht auf unserer Seite haben. Hoffen wir also aufs Beste, anstatt ans Schlimmste zu denken.» Hanne kannte sich jetzt in der Gegend aus, denn sie fuhren durch die Stadt und dann die Langby-Straße entlang. Der Fahrer rief nochmals seinen Chef an und teilte ihm die Position mit. Nach einem Viadukt bog der vordere Wagen nach links ein. Nach etwa einer Minute kurvte er in einen kleinen, stillen Villenweg. -94-
Hanne sagte rasch: «Nein, folgen Sie ihm nicht in den Weg. Es ist eine Sackgasse.» Sie hatte das Verkehrszeichen gerade noch beizeiten bemerkt. «Halten Sie drüben an der Ecke.» Der Fahrer tat wie geheißen. Von ihrem Standort aus konnten sie den kurzen Villenweg überblicken. Die Bremslichter des verfolgten Wagens leuchteten rot. «Jetzt ist mir klar, wo Carter hin will», sagte Hanne. «Warten Sie bitte hier, ich werde mich ein bißchen umschauen. Sie können ja inzwischen melden, wo wir sind.» Der Fahrer machte ein bedenkliches Gesicht. «Hören Sie, Fräulein, Sie sollten nicht auf eigene Faust vorgehen. Meinen Sie nicht…» «Es besteht keine Gefahr», unterbrach ihn Hanne, die schon ausgestiegen war. «Bald wird ein Patrouillenwagen kommen, wenn Sie Meldung erstatten. Warten Sie ruhig hier.» Sie blieb an der Ecke stehen, bis das andere Taxi gewendet hatte, um zur Stadt zurückzukehren. Dann bog sie in den Weg ein. Carter war im dritten Haus rechter Hand verschwunden, dem einzigen, wo nun Licht brannte. Die Neugier stachelte Hanne an, das Erscheinen der Polizei nicht abzuwarten. Immerhin hielt sie es für geboten, nicht durchs Gartentor zu gehen; sie zwängte sich durch die Hecke. Der Mond schien mit gespenstischem Licht auf Bäume und Sträucher, und das Haus warf einen Schlagschatten. Unwillkürlich schauderte Hanne. Wäre es wenigstens ein hübsches, gepflegtes Haus gewesen, aber der Schauspieler und Juwelendieb Leo Carter hegte offenbar eine Vorliebe für alte und vernachlässigte Gebäude. Ob er hier die Perlen ihrer Tante in Sicherheit gebracht hatte? Kaum anzunehmen, daß er sie zur Zusammenkunft mit Österby in der Ulmenallee mit sich getragen hatte. Vielleicht war seine Flucht längst vorbereitet, und er wollte sie nur noch abholen… Ja, das mußte näher untersucht werden. Hanne besann sich nicht länger. Sowie eine Wolke den Mond -95-
verdeckte, eilte sie über den ungeschnittenen Rasen und an der Mauer entlang zur Rückseite des Hauses. Hier entdeckte sie ein angelehntes Kellerfenster, das sich leicht aufstoßen ließ. Sollte sie es wirklich wagen? Der Gedanke, daß Carter vor der Ankunft der Polizei mit dem Schmuck entkommen könnte, ließ sie alle Bedenken in den Wind schlagen. Außerdem trieb sie der Wunsch, Jan Eindruck zu machen; doch das gestand sie sich nicht ein. In dem Kellerraum, wo es muffig roch, häuften sich Kartoffeln mit langen bleichen Trieben, die unheimlich wirkten. Mühsam kletterte sie darüber. Die Kellertür war unverschlossen, und Hanne tastete sich durch einen Gang. Sie fühlte einen Schalter, wagte aber nicht, Licht zu machen. Auch die nächste Tür ließ sich ohne weiteres öffnen, und als Hanne die dahinterliegende Treppe erstieg, gewahrte sie unter einer Tür einen Lichtschein. Nun wurde es ernst! Sie betrat einen matt erleuchteten Raum, der eine Art Vorzimmer zu sein schien, denn es gingen hier vier Türen ab. Eine davon stand offen, und von dort kam helles Licht. Katzenleise schlich sie zu dieser Tür und äugte um die Ecke. Sie erschrak. Vor einem Spiegel stand mit dem Rücken zur Tür ein Mann, der sich offensichtlich schminkte. Im Spiegel konnte sie sehen, daß er ein schwarzes Schnurrbärtchen hatte und sich gerade die Brauen mit einem Stift färbte. Das mußte Leo Carter sein, obwohl er kaum wiederzuerkennen war. Er galt nicht nur als großer Schauspieler, sondern genoß auch besonderen Ruf als Maskenbildner, so daß es nicht weiter verwunderlich war, wenn er sich in wenigen Minuten verändern konnte. Er war hemdärmelig und arbeitete hurtig mit den Schminksachen, die er von einem Tischchen nahm; aber auf dem Tisch lag noch etwas, das Hanne Herzklopfen verursachte – eine Pistole. Carter kramte geflissentlich unter den Schminksachen, als ob -96-
er etwas Bestimmtes suchte, ergriff die Pistole, fuhr herum und schnarrte: «Hände hoch!» «Ach, nein…» «Hände hoch, oder ich schieße! Kommen Sie hervor!» Mechanisch gehorchte Hanne, die zu träumen glaubte. Er machte ein paar Schritte auf sie zu. «Was sehe ich? Wenn ich mich nicht irre, ist das die kleine Colombine vom Kostümfest. Sind Sie allein?» «Ja… ja…» «Wie sind Sie hierher gekommen?» «Mit dem Taxi.» «Wer hat Sie geschickt?» «Niemand.» «Reine Lüge! Wenn Sie mir so dummes Zeug einreden wollen, schieße ich Ihnen eine Kugel durch den Kopf.» Er lachte hohl. «Wo ich mich heute abend auch befinde, da taucht ein Schnüffler auf… oder eine Schnüfflerin, aber jetzt ist es mit meiner Geduld zu Ende. Vor einer Stunde verschonte ich drei Menschenleben – idiotisch von mir. Sie werden nicht lebend aus diesem Hause kommen! Ich frage Sie zum letztenmal: Wer hat Sie auf mich gehetzt?» «Niemand.» «Lüge! Ich zähle bis drei, und wenn Sie mir bis dahin nicht die volle Wahrheit gesagt haben, schieße ich. Eins… zwei…» «Warten Sie!» rief Hanne verzweifelt, die in Todesangst geraten war. «Ich will Ihnen ja alles sagen…» «Also heraus mit der Sprache!» Sie berichtete genau, wie es sich zugetragen hatte. Als einziges verschwieg sie, daß die Kriminalpolizei über das Funkgerät des Taxis benachrichtigt worden war. Trotz ihrer schlimmen Lage war ihr klar, daß sie Zeit gewinnen mußte, und deshalb -97-
schmückte sie ihre Darstellung nach Kräften aus. Aber ob die Minuten reichen würden? Als sie nicht mehr weiter wußte, lachte Carter höhnisch. «Wie dumm von Ihnen, sich einzumischen. Nun werden Sie es büßen müssen.» «Nein, nein!» schrie sie auf. In diesem Augenblick wurde an die Haustür gedonnert. Eine Stimme rief: «Im Namen des Gesetzes, öffnen Sie!» Carter ließ die Hand sinken; er schien auf einmal vollständig ausgepumpt zu sein. «Kriminalpolizei! Öffnen Sie!» Carter zischte: «Daran bist du schuld, du verfluchte Puppe! Aber mit dir werde ich noch abrechnen!» Mit zwei langen Sätzen war er bei der Tür, gab Hanne einen Stoß, polterte die Treppe hinunter und flüchtete durch die Hintertür. Unten splitterte Holz, als die Haustür gewaltsam geöffnet wurde. Gleichzeitig fielen draußen zwei Schüsse. Zwei Polizisten stürmten herein, und Hanne rief ihnen zu: «Er ist durch die Hintertür entkommen!» Während die Polizisten dem Hinweis folgten, knallte wieder ein Schuß. Ein Kollege, der seinen linken Oberarm mit der rechten Hand festhielt, taumelte ihnen entgegen. «Er hat mich getroffen», stöhnte er. «Nur ein Streifschuß, glaube ich. Ohne Hunde können wir ihn unmöglich aufspüren.» «Wir fordern sie sofort an.» Während sie auf die Verstärkung warteten, wurde der Verletzte verbunden und Hanne von Wachtmeister Rasmussen verhört. Er sparte nicht mir Vorwürfen, weil sie so eigenmächtig gehandelt hatte. «Wir hätten ihn wahrscheinlich überrumpeln können, wenn Sie sich nicht eingemischt hätten, Fräulein Beyer», knurrte er. -98-
«Sie haben sich sehr dumm benommen. Natürlich hat Carter Sie im Spiegel gesehen. Beschreiben Sie mir seine Maske.» Nachdem sie der Aufforderung nachgekommen war, fragte er: «Die Haare hat er sich nicht gefärbt?» «Nein. Der Gegensatz zu den blonden Haaren war sehr auffällig.» «Und er war hemdärmelig?» «Ja. Dort liegt ja noch sein Rock.» Der Wachtmeister durchkramte die Taschen, ohne etwas zu finden. «Den Rock hätte er sicher nicht abgelegt, wenn die RainPerlen in einer Tasche gewesen wären», sagte er mißmutig. «Hier im Haus werden sie kaum zu finden sein. Er wird sie wohl bei sich tragen.» Grimmig fügte er hinzu: «Aber er wird nicht weit damit kommen.»
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ELFTES KAPITEL Währenddessen hatten Jan und Paulsen nicht auf der faulen Haut gelegen. Nachdem sie Georg Österby im Untersuchungsgefängnis abgeliefert hatten, suchten sie Kriminalkommissar Mogens Helmer in seinem Büro auf. In Anbetracht der dramatischen Ereignisse machte Helmer Nachtdienst und leitete die Suche nach Leo Carter. Er empfing seinen Sohn und Paulsen lächelnd. «Ihr beide habt ja einiges geleistet», sagte er. «Na, Paulsen, sind Sie mit Ihrer Tätigkeit als Privatdetektiv zufrieden?» «Was diesen Fall betrifft, gewiß nicht», antwortete Paulsen offen. «Ich bin ja ganz schön hereingelegt worden.» «Wir nehmen Sie jederzeit gern wieder in unsere Reihen auf. Sagte ich Ihnen nicht, daß man als Privatdetektiv nicht auf Rosen gebettet ist – damals, als Sie den Abschied nahmen?» Paulsen lächelte schief. «Ich bin inzwischen um ein gut Teil ärmer an Geld und reicher an Erfahrungen geworden.» «Also überlegen Sie sich’s…» Jan unterbrach das Gespräch ungeduldig: «Vater, habt ihr nichts von Hanne gehört?» «Fragst du erst jetzt nach ihr, Junge? O doch, wir haben von ihr gehört. Sie ist Leo Carter auf der Spur.» «Was?» rief Jan verblüfft. «Jawohl. Wir stehen seit einer Weile mit der TaxameterZentrale in Verbindung. Über Funk hat ein Chauffeur mitgeteilt, daß Hanne in einem Taxi sitzt und dem Schauspieler folgt, der mit einem andern Taxi fährt…» «Wo sind sie jetzt?» unterbrach Jan aufgeregt. «In der Langby-Straße. Sicher werden wir bald Näheres hören. -100-
Ein halbes Dutzend Streifenwagen sind nach der Gegend beordert worden; wir können also damit rechnen, daß Carter bald festgenommen wird.» «Vater, glaubst du, daß Hanne etwas zustoßen könnte?» «Schwer zu sagen», antwortete Helmer. «Sie ist ja ein bißchen tollkühn, aber Taxichauffeure sind in der Regel zuverlässig und besonnen, so daß Hanne in guten Händen sein dürfte.» «Hoffentlich», seufzte Jan. «Jetzt laß mich aber hören, wie du Carter und Österby auf die Spur gekommen bist.» Alle Ausflüchte nützten Jan nichts, zumal Paulsen es in diesem Falle mit der Ehrlichkeit hielt. So ungern sie die beiden nachlässigen Beamten preisgaben, sie mußten Farbe bekennen. Bevor der Kommissar sich dazu äußern konnte, schellte das Telefon auf seinem Schreibtisch. Helmer nahm den Hörer ab und hörte schweigend zu; zwischendurch nickte er nur mit ernster Miene, oder er begnügte sich mit einem kurzen «Jawohl». Zum Schluß sagte er: «Die Hunde werden sofort aufgeboten, und wir benachrichtigen die Streifenwagen.» Wieder lauschte er. «Sie soll nach Hause gebracht werden, sie braucht sicher Schlaf. Auf Wiederhören.» Er legte den Hörer auf, und Jan fragte gespannt: «Ist etwas mit Hanne?» Helmer nickte. «Warte, ich muß erst Order geben.» Nachdem er die Anweisungen erteilt hatte, erklärte er: «Ja, es handelte sich um deine Freundin, Jan. Natürlich hat sie ihr hübsches Näschen hineingesteckt, aber zum Glück ist ihr nichts zugestoßen. Du solltest meine Ratschläge an sie weitergeben und ihr sagen, daß es töricht ist, sich in unnötige Gefahr zu begeben.» Er schilderte die Vorfälle in der Villa Clara, und Paulsen machte seinem Ärger Luft. Jan begütigte ihn, indem er sagte: -101-
«Wissen Sie was, Herr Paulsen, während die Polizei hinter Carter her ist, könnten wir doch die Rain-Perlen suchen. Vater, erlaubst du, daß wir mit Boy zur Villa Clara fahren?» «Bist du nicht zu müde? » «Nicht die Spur!» beteuerte er. «Na, gut», sagte Helmer nach kurzer Überlegung. «Es könnte ja sein, daß Carter das Perlencollier bei seiner überstürzten Flucht zurückgelassen hat. Da er selbst über alle Berge ist, besteht wohl kaum Gefahr. Aber sei leise, Jan, wenn du Boy holst, damit du Mutter nicht weckst. Du weißt, wie sehr sie sich immer ängstigt. Viel Glück bei der Schatzsuche!» In der Villa Clara wurden Jan und Paulsen von Wachtmeister Rasmussen begrüßt, der von Helmer benachrichtigt worden war. Rasmussen freute sich nicht gerade über die Verstärkung, denn es wurmte ihn, daß die Polizeihunde, die er teilweise selbst abgerichtet hatte, bisher vergeblich eingesetzt worden waren. Freilich, er mußte Boys hervorragende Eigenschaften anerkennen, aber er empfand es doch als Herausforderung und bemerkte ein wenig säuerlich, daß Boy wohl auch nichts erreichen werde, wo seine eigenen Hunde versagt hatten. Zu seinem ehemaligen Kollegen Paulsen sagte er kühl: «Wir sind hier eigentlich fertig, und es dürfte schade um Ihren Nachtschlaf sein.» Paulsen zuckte die Schultern. «Möglich, viel erwarten wir auch nicht. Haben die Hunde denn gar keine Spur aufgenommen?» «Doch, aber nach einigen hundert Metern nördlich verloren. Zum Teufel, ich weiß nicht, wie es zugegangen ist, aber Carter scheint vom Erdboden verschluckt zu sein.» Währenddessen schnüffelte Boy am Parkettboden herum. Ab und zu hielt er inne und blickte zu Jan empor, als wollte er -102-
sagen: «Hast du denn gar keinen Befehl für mich?» Jan tätschelte ihn und sagte: «Nimm es mit der Ruhe, Boy, du wirst schon noch zu tun bekommen. Platz!» Sofort tat sich der Hund nieder, aber seine wachsamen Augen verfolgten jede Bewegung seines Herrn, und er spitzte gespannt die Ohren. Er schien genau zu wissen, daß irgend etwas im Gange war. Nachdem die Polizeileute abgefahren waren, sagte Jan: «Ich hatte das Gefühl, daß Wachtmeister Rasmussen mit der Lage nicht zufrieden war.» «Stimmt», pflichtete Paulsen bei. «Er ist nämlich sehr stolz auf seine Hunde, und deshalb kränkt es ihn, daß Boy sie ablösen soll. Natürlich befürchtet er, daß dein Hund ihnen den Rang streitig machen könnte.» Jan lachte. «Das wollen wir einmal sehen. Komm, Boy!» Im Nu war Boy auf den Beinen und schaute ihn erwartungsvoll an. Jan ließ ihn eine Weile an Carters Rock schnüffeln und befahl dann: «Such, Boy, such!» Der Hund senkte die Nase zu Boden und stöberte umher, zuerst eher aufs Geratewohl, zuletzt aber blieb er bei der Tür stehen und sah mit schrägem Kopf zu Jan empor. «Gut, Boy», lobte Jan, «nun hast du ja die Fährte, und wir werden wohl irgendwo im Norden enden.» Aber in diesem Punkt erlebte er eine Überraschung. Sowie er die Tür geöffnet hatte, schoß Boy die Treppe hinunter zur Diele, jedoch nicht zur Hintertür. Statt dessen schnüffelte er in der Diele umher und blieb dann vor einer der geschlossenen Türen stehen. Jan wunderte sich. «Hast du eine andere Spur aufgenommen als deine Kollegen? Laß uns sehen, worum es sich handelt.» Er machte die Tür auf, zündete das Licht an und befahl abermals: «Such, Boy, such!» -103-
Er blickte sich in dem Raum um. Es war ein kleineres, besonders hübsch möbliertes Zimmer. Ringsum standen alte Eichenmöbel, und den Boden bedeckte zum Teil ein etwas abgetretener Teppich. «Such, Boy, such!» wiederholte Jan. Nach kurzer Zeit blieb der Hund bei der einen Ecke des Teppichs stehen, sah Jan an und begann dann mit der rechten Vorderpfote zu scharren. Jan zitterte beinahe vor Spannung. Er beeilte sich, den Teppichzipfel hochzuheben. Darunter lag nichts. Schon wollte er den Zipfel fallen lassen, doch da scharrte Boy auf den Dielen. «Nanu, Boy?» murmelte Jan. «Bist du verrückt geworden?» Er bückte sich und stellte zu seiner Verwunderung fest, daß die Ritzen hier ausgeprägter waren als bei den übrigen Dielen. Mit den Nägeln bohrte er hinein, aber die Dielen gaben nicht nach. «Herr Paulsen!» rief er durchs Treppenhaus. «Kommen Sie bitte!» Paulsen, der oben weitergesucht hatte, kam sofort herunter. «Ich möchte wetten, daß hier unter dem Boden etwas Interessantes versteckt ist», erklärte ihm Jan. «Boy irrt sich nie bei einer Fährte. Womit könnten wir nur die Dielen aufbrechen?» «Mit meinem Taschenmesser. Versuchen wir’s.» Paulsen kniete nieder und steckte die größte Klinge in eine Ritze. Als er sie hin und her führte, gab das Brett nach. Er vergrößerte die Öffnung, indem er noch einige Bretter löste. Beide beugten sich über das Loch. «Heiliger Strohsack!» stieß Jan hervor. Paulsen stöhnte beinahe. «Daß ich nicht lache!» «Sind das die Rain-Perlen? » fragte Jan atemlos. -104-
«Zweifellos», antwortete Paulsen. «Was sollte es sonst sein?» Er holte das Collier hervor und betrachtete ehrfürchtig die matt schimmernden Perlen. «Ich kann es kaum fassen…» Jan lachte fröhlich. «Ich auch nicht! Boy, du bist ein Tausendsasa!» Er streichelte seinen Hund und lobte ihn überschwenglich. «Wir müssen die Kriminalpolizei anrufen», sagte Paulsen, der sich von seinem Erstaunen erholt hatte. «Nein, warten Sie!» wehrte Jan eifrig ab. «Wissen Sie, was ich glaube?» «Was denn?» fragte Paulsen ungeduldig. «Ich glaube, daß Carter hierher zurückkommen wird.» «Um die Perlen zu holen?» «Natürlich! Da man ihn nic ht gefangen hat, rechnet er sicher damit, daß die Suche hier in der Gegend aufgegeben worden ist, so daß er die Luft für rein hält. Er hat wegen der Perlen schon so viel aufs Spiel gesetzt und sich mehrfach strafbar gemacht, so daß es ihm auf nichts mehr ankommen wird. Außerdem ist er so besessen, daß er seine Beute bestimmt nicht im Stich lassen will.» «Durchaus möglich», sagte Paulsen sinnend. «Aber um so mehr wäre es unsere Pflicht, die Kriminalpolizei zu benachrichtigen. Ich kenne doch die Vorschriften…» «Sie stehen aber nicht im Dienst der Polizei!» drang Jan in ihn. «Diese Vorschriften gelten erst wieder für Sie, wenn Sie vereidigt worden sind. Noch sind Sie Privatdetektiv.» «Das stimmt.» Paulsen schien immer noch zu zaudern. «Stellen Sie sich vor, wenn es uns gelingt, Carter zu schnappen! Dann haben wir nicht nur die Perlen gefunden, sondern auch…» «Du meinst wir sollen hier warten und sehen, ob Carter zurückkehrt?» -105-
«Ja, ja!» «Also gut. Aber bist du dir über einen Punkt klar?» «Worüber?» «Carter ist bewaffnet.» Wieder mußte Jan daran denken, daß er seinem Vater versprochen hatte, kein unnötiges Wagnis einzugehen. Aber stand er nicht unter dem Schutz eines erfahrenen Detektivs? Und hatte er nicht Boy bei sich? Wenn man die Sache so drehte, konnte doch vo n einem Wagnis kaum die Rede sein. Mit allen Mitteln suchte sich Jan zu überzeugen, daß keine Gefahr für ihn bestand, und zum Schluß fand er es geradezu unsinnig, die Kriminalpolizei zu benachrichtigen, zumal es ja nur eine Vermutung war, daß Carter in die Villa Clara zurückkehren würde. Ob sein Vater die Sache auch so ansehen würde? Diesen Gedanken schob er sofort von sich. Fest sagte er: «Uns kann nichts geschehen. Wir haben ja Boy, der uns warnen würde. Da kommt mir übrigens ein Gedanke…» «Und das wäre?» «Wir setzen Boy auf eine andere Fährte.» «Auf was für eine Fährte? Und warum?» «Rasmussens Polizeihunde waren überhaupt nicht in diesem Zimmer hier, sondern sie wurden draußen auf Carters Spur gesetzt. Sie verfolgten ihn einige hundert Meter weit nordwärts und verloren dann die Spur. Ich möchte gern sehen, was Boy draußen machen wird. Wenn Sie inzwischen hier im Haus bleiben und überall das Licht löschen…» «Nein!» «Was?» «Du darfst nicht allein hinaus, Jan. Wenn dein Vater das wüßte, wäre er bestimmt dagegen. Ich lasse es nur zu, wenn ich -106-
mitkommen kann.» Paulsen machte ein strenges Gesicht. «Ja, mein Freund, wenn du dich mir nicht fügst, sehe ich mich genötigt, deinen Vater anzurufen.» Jan zuckte die Schultern. «Na, schön. Sie haben natürlich recht. Wir ge hen also zusammen mit Boy. Aber… aber was geschieht dann mit den Perlen?» «Wir müssen ein sicheres Versteck für sie suchen. Wir können sie ja nicht einfach einstecken.» «Auf in den Kampf!» Es dauerte nicht lange, bis sie ein Versteck gefunden hatten. Sie standen in der Küche vor einem spinnwebverhängten Eckschrank. Oben auf diesem blaubemalten Schrank würde wohl niemand einen wertvollen Schmuck suchen. «Mein lieber Boy», sagte Jan dann heiter zu seinem Hund, «kein Mensch kann leugnen, daß du heute nacht großartige Arbeit geleistet hast, aber du bist noch nicht fertig. Komm!» Boy folgte ihm bereitwillig. Vor der Hintertür wies Jan auf den Boden und befahl: «Such, Boy, such!» Der Hund, der die Spur ja immer noch in der Nase hatte, sah zu Jan auf, als ob er ein weiteres Kommando erwartete. Da öffnete Jan die Tür und wiederholte den Befehl. Im Nu war Boy im Hintergarten; Jan und Paulsen eilten ihm nach. Die Wolken hatten sich verzogen, und im hellen Mondschein war alles deutlich zu sehen. Boy schnüffelte draußen in der Nähe der Hintertür kurze Zeit herum, bevor er sich nordwärts der Hecke zuwandte, die den Garten abgrenzte. Als er sich der Hecke näherte, blieb er stehen, um sich zu überzeugen, daß sein Herr ihm folgte. Der prächtige Hund war so gut abgerichtet, daß er nach Jans Meinung beinahe wie ein Mensch dachte. «Weißt du was», sagte Paulsen, «ich schaue mich zuerst noch -107-
hier im Garten um. Du hast doch deinen Hund vollständig unter Kontrolle, nicht wahr?» «Hundertprozentig», antwortete Jan im Brustton der Überzeugung. «Ich will nur sehen, ob er die Fährte ebenfalls verliert – es ist ja nicht weit –, und dann treffen wir uns beim Haus wieder.» «Einverstanden. Aber kehr beizeiten um», mahnte Paulsen. «Ich verspreche es Ihnen.» Nachdem sich Paulsen entfernt hatte, spornte Jan seinen Hund abermals an: «Such, Boy, such!» Nun geschah etwas Merkwürdiges. Nach diesem Befehl hätte Boy eigentlich die Fährte durch irgendein Loch in der Hecke weiterverfolgen müssen, aber das tat er nicht. Im Gegenteil, es schien, als wäre er plötzlich unruhig und verwirrt. Er schnüffelte umher, beschrieb immer größere Kreise und strebte schließlich fort. Jan wunderte sich und befahl ziemlich scharf: «Boy, komm her!» Augenblicklich kehrte der Hund zurück, aber als er vor seinem Herrn stand, drehte er immerzu den Kopf, als ob er irgend etwas witterte. Jan blickte nach allen Seiten, aber im Mondschein war nichts Besonderes zu sehen. Alles lag still und verlassen. Wo war Ivar Paulsen? Jan rief mit gedämpfter Stimme, erhielt jedoch keine Antwort. Nochmals rief er, diesmal lauter – wieder vergebens. Er beruhigte sich mit dem Gedanken, daß der Privatdetektiv auf den Weg hinausgegangen war, um sich dort umzutun; aber seine Verwunderung über Boys Verhalten ließ sich nicht so ohne weiteres abschütteln. Irgend etwas stimmte nicht Was konnte es nur sein? Wieder blickte er ringsum. Die Nacht war ganz still. An den -108-
Bäumen bewegte sich kein Zweig, kein Blatt, und im hellen Mondschein sah alles ruhig und friedlich aus. Was aber hatte Boys Aufmerksamkeit erregt? Jan war unschlüssig. Nicht zum erstenmal war er in einer solchen Lage. Er wußte, daß er so etwas wie einen sechsten Sinn hatte, auf den er sich verlassen durfte, und auch jetzt spürte er, daß irgend etwas nicht in Ordnung war… was mochte es bloß sein? Und warum benahm sich Boy so merkwürdig? Auf einmal durchzuckte ihn ein Gedanke, der ihn unheimlich berührte. Ob sich wohl Leo Carter mit einer geladenen Pistole in der Hand irgendwo in der Nähe befand? Das würde nicht nur Boys Verhalten erklären, sondern der Gedanke lag ja auch nahe, weil der Mann aller Wahrscheinlichkeit nach versuchen würde, sich die kostbare Beute zu holen, die er hatte zurücklassen müssen. Jan gestand sich unumwunden ein, daß er sich die Hand mit der geladenen Pistole ungern vorstellte. Aufs neue dachte er an das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte: niemals ein unnötiges Wagnis einzugehen und sich nicht in Gefahr zu begeben. Wie aber sollte er entscheiden, ob er in Gefahr war, und ob er, was er auch tat, ein Wagnis einging? Vielleicht spielten ihm seine Nerven infolge des Schlafmangels einen Streich? Boy, der unruhig hin und her gelaufen war, kam zurück, und Jan wußte sich nicht anders zu helfen als mit dem Kommando: «Ja, such, Boy, such!» Sonderbarerweise lief Boy schnurstracks in östlicher Richtung zum Gebüsch, und kurz darauf bellte er. Jan besann sich nicht lange, sondern rannte ihm sofort nach. Das Gebell ertönte auf der andern Seite. Dornen zerkratzten ihm die Hände, und Zweige schlugen ihm ins Gesicht, als er sich hindurchwand; aber schließlich gelangte er zu einer kleinen Lichtung, wo Boy -109-
unbeweglich stand und ihm entgegenbellte. Auf dem Boden lag rücklings ein Mensch, dessen Gesicht im Mondschein leichenblaß aussah. Der Leblose war Ivar Paulsen! Sowie sich Jan von seinem Schrecken erholt hatte, bückte er sich und schüttelte den Leblosen, wobei er immer wieder erschrocken sagte: «Paulsen… Paulsen!» Aber Paulsen rührte sich nicht. Jan legte das Ohr an seine Brust, und er atmete erleichtert auf, als er das Herz schlagen hörte. Der arme Ivar Paulsen war also nur bewußtlos. Aber wieso und warum? War er niedergeschlagen worden? Jan richtete sich auf und schaute schnell ringsum. Nirgends regte sich etwas; das sanfte Mondlicht wirkte beruhigend. Konnte ein anderer als Leo Carter diesen Schurkenstreich verübt haben? Nein, er mußte es gewesen sein, aber wo mochte er jetzt stecken? Jan überlegte blitzschnell. Paulsen war nur bewußtlos, und es konnte nicht lange dauern, bis er zu sich kam. Möglicherweise war nun jede Minute kostbar. Die Rain-Perlen waren zwar gut versteckt, aber wenn Carter sie doch fand und sich mit der Beute davonmachte, war alle Mühe umsonst gewesen. Auf jeden Fall mußte er feststellen, ob sich der Verbrecher augenblicklich im Haus befand. Er selbst hatte sich so weit vorgewagt, daß er die Sache bis zum bittern Ende durchführen mußte. Oder war das Wagnis allzu groß? Genau genommen, wußte er ja nicht einmal, ob Paulsen wirklich niedergeschlagen worden war. Nein, wenn er so dachte, machte er sich etwas vor; denn wenn Paulsen gestolpert und unglücklich gefallen wäre, dann hätte er auf dem Bauch gelegen, nicht auf dem Rücken. Ach, käme er -110-
doch nur zu sich! Wieder rüttelte Jan den Bewußtlosen, wieder vergeblich. «Wasser!» dachte er verzweifelt. Mit einem Wasserguß hätte er ihn wahrscheinlich rasch zum Leben erwecken können. Schließlich gab er es auf und befahl: «Boy, komm her!» Boy war sofort an der Seite seines Herrn und sah ihn erwartungsvoll an. Im Mondschein glänzten seine braunen Augen zutraulich. Jan streichelte ihn und sagte: «Du bist ein zuverlässiger Kerl. Kann sein, daß wir jetzt noch eine Überraschung erleben werden. Komm, Boy!» Als er vorsichtig zum Haus schlich, folgte ihm der Hund ohne das geringste Widerstreben. Kein einziges Mal blieb er stehen oder traf Anstalten, sich zu entfernen. Als Jan vor der Hintertür stand, wurde er von einem unheimlichen Gefühl beschlichen. Es kam ihm vor, als lauerte irgendwo in den Schatten eine Gefahr. So stark war diese schlimme Ahnung, daß es ihm kalt über den Rücken lief. Er dachte an Carters geladene Pistole, und unsinnigerweise fiel ihm die Gespensterstimme von Schloß Ulvsborg ein. Er sehnte sie geradezu herbei, denn lieber, ach, viel lieber hätte er es mit diesem scheinbar unerklärlichen Phänomen zu tun gehabt als mit dem gefähr lichen Menschen aus Fleisch und Blut, der – wie er wußte – vor nichts zurückschreckte. Er drehte sich um und spähte nach rechts und links in den mondbeschienenen Garten. Nichts war dort zu sehen. Hingegen stand Boy mit der Nase zur Tür. Der Feind mußte also im Hause sein… Kein unnötiges Wagnis eingehen! Es dünkte Jan, er könnte die vernünftigen Mahnworte seines Vaters hören – er hatte sie ja in Wirklichkeit oft genug gehört –, dennoch trieb ihn die Abenteuerlust, sich gegen die Stimme taub zu stellen. Das Spiel -111-
war nun auf dem Höhepunkt, und er wäre ein schlechter Spieler gewesen, wenn er so kurz vor dem Finale aufgegeben hätte… Aber ob sein Vater es ebenso ansehen würde? Das mußte er, wenn er ehrlich war, bezweifeln, und gleichzeitig stimmte ihn der Gedanke an den bewußtlosen Privatdetektiv nachdenklich. Doch nein, in Lebensgefahr schwebte er gewiß nicht, und die Sekunden waren kostbar. Was wäre nun das klügste? Am sichersten war es natürlich, Boy ins Haus mitzunehmen. Auf Kommando verhielt er sich ganz still, aber es ließ sich nicht verhindern, daß seine Pfoten auf dem Fliesenboden ein Geräusch hervorriefen, und in der nächtlichen Stille war jeder Laut mit doppelter Deutlichkeit zu vernehmen. Wenn sich Leo Carter im Haus befand, war er sicherlich auf der Hut, so daß es nicht viel brauchte, ihn zu warnen. Jan beugte sich zu Boy hinunter und flüsterte: «Bleib hier, Boy, und verhalt dich ganz still! Platz!» Wie immer gehorchte der Hund augenblicklich, und Jan schlüpfte durch die Hintertür. In der Diele brannte Licht. Ob Carter wohl in dem kleinen Zimmer war, um den Schatz unter dem Teppich hervorzuholen? Die Stille wirkte unheimlich. Jan fühlte sie fast greifbar. Er wagte kaum zu atmen. Auf den Zehenspitzen näherte er sich der Tür. Da sie geschlossen war, konnte er keinen Blick in das Zimmer werfen. Vorsichtig drückte er auf die Klinke und schob die Tür langsam auf, bis das Zimmer zu übersehen war. Anscheinend hielt sich kein Mensch darin auf. Gerade als er eintreten wollte, vernahm er hinter sich ein schwaches Geräusch. Schnell fuhr er herum, doch da traf ihn ein Schlag an die Stirn, und er fiel zu Boden. Es wurde ihm schwarz vor den Augen, aber das Bewußtsein verlor er nicht. Wie im Halbtraum gewahrte er eine Gestalt, die über ihn hinwegstieg und ins Zimmer stürzte. Sein umnebeltes Gehirn war -112-
außerstande, die Lage richtig zu erfassen, und er vermochte keinen Plan zu machen. Der Instinkt befahl ihm nur, sich nicht zu rühren und den Lauf der Ereignisse abzuwarten. Er wollte sich bewußtlos stellen. Allmählich lichtete sich der Nebel vor seinen Augen, und er drehte den Kopf. Der Anblick, der sich ihm bot, überraschte ihn nicht weiter. Im Winkel des Zimmers kniete ein Mann. Ja, es war Leo Carter. Anscheinend hatte er das Bodenbrett schon früher gelockert, denn er suchte eifrig in der Vertiefung unter dem Teppich. Seine Hände tasteten umher, und schließlich richtete er sich auf und machte Licht. Jan hielt den Atem an. Carter kniete wieder bei der Vertiefung. Plötzlich stieß er einen schnarrenden Stöhnlaut aus. Er mußte entdeckt haben, daß sein Versteck leer war. Er suchte nochmals, als ob er es nicht fassen könnte. Plötzlich sprang er auf und war mit zwei Schritten bei Jan, der schnell die Augen geschlossen hatte. Er versetzte dem scheinbar Bewußtlosen einen kräftigen Tritt in die Seite und brüllte: «Wach auf, du Schweinehund! Wach auf, sage ich!» Jan ächzte vor Schmerz, denn der Mann hatte hart zugetreten. Dennoch biß er die Zähne zusammen und stellte sich weiter bewußtlos. Als er einen zweiten Tritt erhielt, wurde ihm klar, daß Carter diese unsanfte Behandlung fortsetzen würde, bis er erreichte, was er wollte. Um sich das zu ersparen, beschloß Jan, nachzugeben und zu sehen, was geschehen würde. Er schlug die Augen auf, stöhnte ein wenig und tat, als erwachte er aus einer Ohnmacht, ohne recht zu wissen, was vor sich gegangen war. «Auf mit dir!» fauchte der Schauspieler und stieg über ihn hinweg. «Oh… au…» «Steh auf, du verfluchter Kerl!» -113-
Jan setzte sich umständlich auf und strich sich mit der Hand über Stirn und Augen. Er faßte sich an den Kopf und ächzte abermals. Schließlich fragte er: «Was ist los? Ich verstehe nicht…» «Du sollst aufstehen! Los, steh auf!» Jan raffte sich auf und stand schwankend. Er spielte seine Rolle so gut, daß selbst der berühmte Schauspieler Leo Carter es nicht besser hätte machen können, und es glückte ihm, seinen Gegner tatsächlich zu bluffen. Carter starrte ihn böse an. Er schien ratlos zu sein. Dann fuhr er ihn in drohendem Tone an: «Komm endlich zu dir! Sonst wird es ungemütlich für dich!» «Oh, mein Kopf…» «Wo sind die Perlen?» «Die Perlen?» murmelte Jan und machte ein dummes Gesicht. «Was für Perlen?» «Die Rain-Perlen!» Carter faßte ihn grob an und schüttelte ihn. «Wo sind sie?» «Ach so, die Perlen… Die Polizei hat sie gefunden», sagte Jan, als ob er den Zusammenhang endlich erfaßt hätte. «Das ist erstunken und erlogen! Du selbst hast sie gefunden! Ich gebe dir zehn Sekunden Bedenkzeit, und wenn du dich bis dahin nicht besonnen hast, ist es um dich geschehen! » Sein Gesicht war verzerrt, und Jan bekam es mit der Angst. Wieder wurde er wütend geschüttelt, und Carter zischte: «Du hast oft genug meinen Weg gekreuzt, und eigentlich sollte ich dir auf der Stelle den Garaus machen! Aber ich will wissen, wo die Perlen sind. Ich zähle bis drei. Eins…» Jan dachte fieberhaft nach. Zweifellos würde der rabiate Mann seine Drohung wahrmachen, wenn er sich nicht mehr zu bezähmen vermochte; aber andrerseits lag ihm alles daran, herauszufinden, wo sich die Perlenkette jetzt befand. Vermutlich -114-
hatte er Paulsen vergeblich durchsucht und nahm an, daß der Privatdetektiv sie irgendwo sonst versteckt hatte. «Zwei…» Jan geriet innerlich ins Schwanken. Was mochte bei dem Rasenden stärker sein, die Besitzgier, das Verlangen, den schwer erkämpften Raub an sich zu bringen, oder Haß und Wut auf den Menschen, der ihm wiederholt in die Quere gekommen war und sein Vorhaben vereitelt hatte? Wie ließ sich das entscheiden? Unwillkürlich stieß Jan einen Seufzer aus. Dann aber konnte er nicht verhindern, daß sich sein Gesicht erhellte. Carter hatte die Pistole gezogen, und nun senkte er sie unwillkürlich, weil er Jans Mienenspiel falsch deutete. «Hast du dich endlich eines Besseren besonnen?» knurrte er. «Also heraus mit der Sprache!» Jan unterdrückte einen Jubelruf. Hinter Carter war eine Gestalt aufgetaucht. Es war, wie Jan blitzschnell erkannte, Ivar Paulsen. Wie ein Tiger sprang Paulsen auf Carter los. Der Schauspieler schrie auf und stürzte zu Boden. Die Waffe entfiel seiner Hand, im Nu bückte sich Jan danach. Hastig steckte er sie ein, ehe er sich auf Carter warf, der inzwischen auf die Füße gekommen und auf Paulsen losgegangen war. Carter wehrte sich wild, und da seine Kräfte durch die Verzweiflung verdoppelt wurden, machte er seinen Gegnern zu schaffen. Wahrscheinlich wäre der ungleiche Kampf rascher ausgegangen, wenn Jan nicht einen so heftigen Tritt gegen das Schienbein abbekommen hätte, daß er sich vor Schmerzen krümmte. Trotzdem sah er, daß Paulsen dem Verbrecher den entscheidenden Kinnhaken versetzte. Carter ging zu Boden. Obwohl er zweifellos k.o. geschlagen war, ließ sich Paulsen die Pistole von Jan geben und behielt sie in der Hand. -115-
«Bin froh, daß wir sie nicht benutzen mußten», brummte er. «Und ich bin froh, daß er sie nicht benutzen konnte», sagte Jan aufatmend, während er sich das Schienbein rieb. Paulsen betrachtete den Bewußtlosen. «Das war ein schwerer Brocken.» «Ihnen verdanke ich mein Leben.» Jan hätte gern mehr gesagt, fand jedoch keine Worte. «Unsinn», wehrte Paulsen ab. «Wie ich dich kenne, hättest du dir schon zu helfen gewußt. Jedenfalls ist es allerhand, daß du standhaft geblieben bist und das Versteck nicht verraten hast.» «Aber Sie haben mir das Leben gerettet», wiederholte Jan. «Wie dem auch sein mag, wir haben gemeinsam gute Arbeit geleistet.» Paulsen lächelte zufrieden. «Und jetzt müssen wir schleunigst einen Streifenwagen kommen lassen, damit wir nach Hause fahren und uns in aller Seelenruhe schlafen legen können.» Jan nickte. «Mir tut es nur leid, daß Boy beim dramatischen letzten Akt nicht mitgewirkt hat.» «Immerhin hat er die Rain-Perlen gefunden.» «Ja, und zur Belohnung soll er einen schönen Knochen bekommen.» Mehrere Tage lieferte der großes Aufsehen erregende Fall allen Zeitungen des Landes Stoff für lange Artikel. Natürlich bedeutete es eine gewaltige Sensation, daß der berühmteste Schauspieler Dänemarks zum Juwelendieb geworden war und sogar verschiedene Menschen mit dem Tode bedroht hatte. Manche Stimmen wurden laut, die mit psychologischer Beweisführung erklärten, er hätte im Ernstfall wahrscheinlich niemals geschossen; doch das hinderte nicht, daß Jan Helmer und Ivar Paulsen für ihren Einsatz hohes Lob ernteten, und Schiffsreeder Williamsen hielt mit seiner Meinung nicht zurück, -116-
daß sie die von der Versicherung ausgesetzte Belohnung redlich verdient hätten. Beim Verhör vor dem Untersuchungsrichter entpuppte sich Leo Carter als aalglatter Lügner, was ihm jedoch wenig nützte, nicht nur weil handgreifliche Beweise gegen ihn sprachen, sondern weil Georg Österby alles gestand. Es stellte sich heraus, daß er selbst als willenloses Werkzeug gedient hatte, und daß Carter der Anstifter gewesen war, der ja nicht einmal davor zurückschreckte, sich seines Helfershelfers zu entledigen, um sich die Beute voll und ganz anzueignen. Bei der Teilung der Belohnung ging es entschieden edler zu. Es wurde nicht vergessen, daß auch Hanne Beyer bei der Auffindung der Rain-Perlen tatkräftig mitgeholfen hatte. Vielleicht wären die Rain-Perlen über die Landesgrenze geschafft worden, wenn sie den Dieb nicht im Taxi verfolgt hätte. Darüber wurde eines Abends gesprochen, als sie bei der Familie Helmer zu Gast war. «Ich finde es durchaus richtig, daß Jan auf seinen Anteil an der Belohnung zu Paulsens Gunsten verzichtet», sagte Mogens Helmer. «Aber Hanne gebührt auch ein Teil, rein jur istisch betrachtet.» Hanne schüttelte entschieden den Kopf. «Ich will nichts davon», erwiderte sie. «Ich weiß ja, daß ich mich dumm benommen habe, und Strafe muß sein.» «Es gefällt mir, daß du das einsiehst. Ich will deine Geistesgegenwart und die Tatkraft gewiß nicht schmälern, die du mit der Verfolgung im Taxi bewiesen hast; aber es war ein großer Fehler von dir, dich in die Villa Clara zu schleichen.» Jan mußte lachen. «Hanne ist genauso hereingefallen wie ich damals, als ich nicht merkte, daß mich der Spion Werner Katz im Spiegel sehen konnte.» «Einen solchen Fehler werden wir beide nie mehr machen», -117-
verhieß Hanne munter. «Ach nein, ach nein», klagte Frau Helmer. «Hast du das gehört, Mogens? Als ob es nicht genügte, daß die beiden diesmal in Lebensgefahr waren!» «Na, sie werden ja älter und hoffentlich auch vernünftiger», begütigte der Kommissar. «Sie sind beide tüchtige Amateurdetektive, das muß ich einräumen, aber sie müssen noch viel lernen. Das beste an der ganzen Sache ist jedenfalls, daß der tüchtige Paulsen zur Kriminalpolizei zurückkehren wird, obwohl er ein reicher Mann wird, wenn ihr ihm die ganze Belohnung überlaßt.»
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