Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #20
Jan und der Meisterspion
Boy, Jan Helmers bewährter Hund, hat die Spu...
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Knud Meister Carlo Andersen Jan als Detektiv #20
Jan und der Meisterspion
Boy, Jan Helmers bewährter Hund, hat die Spur aufgenommen. Unbeirrt folgt er ihr bis zu einem Haus im Zentrum Kopenhagens. Sollte sich hier der Mann verbergen, der Jan so bekannt vorgekommen war und der sich so verdächtig vor dem Helmerschen Hause herumgetrieben hatte? Er muß es herausfinden, ob sich seine Vermutung bestätigt, wer dieser Mann ist. Es wäre ja unglaublich, wenn… ISBN: 3-275-00233-3 Albert Müller Verlag, AG., Rüschlikon-Zürich Dritte Auflage E-Book not for sale!!!
Die Bände der Reihe «JAN ALS DETEKTIV» 1 Jan wird Detektiv 2 Jan und die Juwelendiebe 3 Jan und die Kindsräuber 4 Das Geheimnis der «Oceanic» 5 Jan und die Falschmünzer 6 Spuren im Schnee 7 Der verschwundene Film 8 Jan auf der Spur 9 Jan ganz groß! 10 Jan stellt 20 Fragen 11 Jan gewinnt die dritte Runde 12 Jan packt zu 13 Jan ruft SOS 14 Jan hat Glück 15 Jan und die Schmuggler 16 Jan, wir kommen! 17 Jan siegt zweimal 18 Jan in der Falle 19 Jan, paß auf! 20 Jan und der Meisterspion 21 Jan schöpft Verdacht 22 Jan zieht in die Welt 23 Jan auf großer Fahrt 24 Jan und die Marokkaner 25 Jan und die Leopardenmenschen 26 Jan zeigt Mut 27 Jan und das verhängnisvolle Telegramm 28 Jan wird bedroht 29 Jan in der Schußlinie 30 Jan und das Gold 31 Jan und die Dunkelmänner 32 Jan und die Rachegeister 33 Jan und die Posträuber
ALBERT MÜLLER VERLAG
Buch Detektivgeschichte für Buben und Mädchen («Jan als Detektiv», Band 20) Boy, Jan Helmers bewährter Hund, hat die Spur aufgenommen. Unbeirrt folgt er ihr bis zu einem Haus im Zentrum Kopenhagens. Sollte sich hier der Mann verbergen, der Jan so bekannt vorgekommen war und der sich so verdächtig vor dem Helmerschen Hause herumgetrieben hatte? Er muß es herausfinden, ob sich seine Vermutung bestätigt, wer dieser Mann ist. Es wäre ja unglaublich, wenn… Mit doppelter Spannung verfolgt man Jans neuestes Abenteuer: noch niemals stand er einer so großen Gefahr gegenüber, und zudem kämpft er gegen eines der gemeinsten Verbrechen, die Spionage, die nicht danach fragt, wem sie dient, sondern sich aus reiner Geldgier dem Meistbietenden verkauft. Paul Katz, der Meisterspion, kennt keine Skrupel… Im Rachegedanken gegen Jan, dessen Aufmerksamkeit ihm seinen letzten Gefängnisaufenthalt eingebrockt hatte, läßt er die letzten Hemmungen fallen… Ein waghalsiger Sprung rettet Jan vor seinem Verfolger. Jetzt weiß er, mit wem er es zu tun hat! Jetzt kann er seinem Vater, dem Chef der Kopenhagener Kriminalpolizei, einen ganz genauen Hinweis geben… Etwas Gefährliches muß im Gang sein, die Spionageorganisation muß einen großen Schlag planen. Der Apparat der Kriminalpolizei läuft auf Hochtouren. Es gilt, Jan zu schützen und den hinterhältigen Anschlag auf das geheime Rüstungsprojekt zu vereiteln. Wird es gelingen?
ERSTES KAPITEL Der Gefängnisdirektor lehnte sich in seinen Sessel zurück und trommelte einen Augenblick nachdenklich mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. Dann warf er nochmals einen Blick auf den Brief des Justizministeriums und nickte dem militärisch aussehenden Herrn mittleren Alters, der ihm gegenüber saß, zu. «Eine gute Nachricht. Jetzt werden wir Katz endlich los. Ich muß sagen, es wird für uns eine Erleichterung bedeuten.» «Hm», sagte der Inspektor bloß. Der Direktor lächelte versonnen. «Ich weiß, woran Sie denken, Holm… Aber unsere Polizisten haben die Verantwortung für Katz nur bis zur dänischen Grenze; dort übernimmt die westdeutsche Polizei das Risiko.» «Katz ist zu gefährlich…» «Bestimmt… wahrscheinlich der gefährlichste unter all unsern Gefangenen… aber in Handschellen und mit zwei tüchtigen Leuten als Bewachung bis zur Grenze brauchen wir gewiß keine Bedenken zu haben.» «Hoffentlich nicht!» Inspektor Holms Mißtrauen war verständlich. Der deutsche Meisterspion Paul Katz hatte den dänischen Behörden schon eine Menge Kopfzerbrechen bereitet. Auch Jan Helmer und seine Freunde waren mit diesem gefährlichen Herrn vor längerer Zeit zusammengestoßen*. Damals war Katz den deutschen Behörden entschlüpft und hatte sein Unwesen dann in Dänemark getrieben. Dank Jans Aufmerksamkeit und Mut war es schließlich gelungen, ihn in der Nähe von Sonderburg ausfindig zu machen und nach einer abenteuerlichen Verfolgung in einem Zirkus zu stellen. Zu dieser Zeit wußten nur wenige, daß Paul Katz zu den tüchtigsten und rücksichtslosesten Spionen -4-
Europas zählte. Erst nach und nach ging der dänischen Justizbehörde auf, welchen Fang sie da gemacht hatte. Denn Katz war ein gefährlicher Gegner, dessen Verbindungen weit über die Grenzen Dänemarks reichten. Jan und seine Freunde hatten dennoch die letzte Runde in diesem spannenden und nervenaufreibenden Kampf gewonnen, und Katz wurde zu einer längeren Gefängnisstrafe verurteilt. Inzwischen hatte die deutsche Justizbehörde einen Auslieferungsantrag gestellt, und daraufhin sollte er jetzt nach Deutschland geschafft werden, obwohl er seine Strafe in Dänemark noch nicht verbüßt hatte. Die deutsche * Davon erzählt Bd. 9 der Reihe «Jan als Detektiv» mit dem Titel «Jan ganz groß!», erschienen im Albert Müller Verlag, Rüschlikon bei Zürich, und in jeder guten Buchhandlung erhältlich. Gegenspionage hoffte, von Katz wichtige Auskünfte über seine Hintermänner zu erhalten – wenn er bereit war, den Mund aufzumachen. Das war jedoch anzunehmen, denn Katz gehörte zu jenen Spionen, die für jeden beliebigen Auftraggeber arbeiten, wenn sie nur gutes Geld dafür bekommen. Er führte seine gefährlichen Aufträge nicht aus idealistischen Beweggründen, sondern aus Geldgier durch. Und eben deswegen war er so gefährlich. Er nahm keine Rücksicht, wenn man ihm in die Quere kam. Jan und seine Freunde hatten das mehrmals zu spüren bekommen. Der Gefängnisdirektor richtete sich in seinem Sessel auf und sagte: «Ich bin froh, den Kerl loszuwerden.» Inspektor Holm nickte. «Verständlich. Ich auch. Aber ich wage mich erst dann zu freuen, wenn er sich auf der anderen Seite der Grenze befindet. Wann soll er abgeschoben werden?» «Morgen. Um die Mittagszeit soll die deutsche Polizei ihn bei Padborg übernehmen. Sorgen Sie bloß für sichere Bewachung, Holm.» -5-
«Ja. Wir werden zwei Paar Handschellen nehmen, damit er doppelt gesichert ist», sagte der Inspektor ernst und erhob sich. «Diesmal soll er keine Gelegenheit zur Flucht finden… das hoffe ich wenigstens.» «Ihre Bedenken kommen mir denn doch etwas übertrieben vor.» «Ich habe immer Bedenken, solange Katz nicht wohlbehalten in einer Zelle sitzt. Es besteht ja kein Zweifel darüber, daß er nicht nur hier in Dänemark, sondern auch in Deutschland die besten Verbindungen hat, die alles daran setzen werden, ihn zu befreien.» «Gewiß», räumte der Gefängnisdirektor ein. «Er hat auf beiden Seiten der Grenze gute Beziehungen. Möglicherweise wissen diese Leute schon jetzt, daß er den deutschen Behörden ausgeliefert werden soll… aber damit ist ja nicht gesagt, daß sie auch den genauen Zeitpunkt und den Ort der Auslieferung kennen. Wenn wir ihn bei Padborg losgeworden sind, sollen sich die Deutschen um alles übrige kümmern.» Als die Tür sich hinter Inspektor Holm geschlossen hatte, beugte sich der Gefängnisdirektor über die Berichte, die auf seinem Schreibtisch lagen. Aber er konnte sich nur mit Mühe darauf konzentrieren. Der gefährliche Spion beschäftigte ihn zu sehr. * Der geräumige Polizeiwagen fuhr mit großer Geschwindigkeit durch Jütland. Der Fahrer saß vorne allein; auf dem Rücksitz Katz zwischen zwei kräftigen Polizisten. Seine beiden Handgelenke waren durch Handschellen mit denen seiner Bewacher verbunden, was recht außergewöhnlich war; aber Inspektor Holm wollte jedes Risiko ausschließen. Selbst die gefährlichsten Verbrecher wurden sonst nur an einen Polizisten -6-
gefesselt. Holm war jedoch der Meinung, daß Katz mindestens so gefährlich war wie ein Dutzend andere Verbrecher zusammen. Lange saß der Spion stumm da; dann lehnte er sich plötzlich in seinen Sitz zurück und begann zu lächeln. Als er sich eine Weile vergnügt umgesehen hatte, fragte einer der Polizisten trocken: «Wir möchten auch an Ihrer Freude teilnehmen, Katz. Um was geht es?» Katz lächelte weiter und gab dann in seinem etwas gebrochenen Dänisch zur Antwort. «Aber gern. Findet ihr es nicht komisch, daß man mich gleich an zwei starke Männer gefesselt hat?» «Nein, Katz… wir machen uns nie über einen Befehl lustig. Schließlich sind diese Sicherheitsmaßnahmen nicht ohne Grund angeordnet worden. Die Vorstellung, die Sie seinerzeit bei Ihrer Flucht in Hansted gegeben haben, überbot alles, was je dagewesen war.» Katz grinste zufrieden bei dem Gedanken an sein Glanzstück, das lange Zeit die ersten Seiten der Zeitungen gefüllt hatte. «Es dürfte ja nun schwerfallen, diesen Spaß zu wiederholen », meinte er und hob vielsagend die gefesselten Hände. «Ich kann ja nicht gut fliehen, wenn ich euch beide mitschleppen muß. – Darf ich um eine Zigarette bitten?» «Natürlich.» Einer der Polizisten zog eine Zigarette hervor, steckte sie dem Gefangenen zwischen die Lippen und gab ihm Feuer. Vergnügt paffte der Gefangene vor sich hin. Seine Bewacher blickten sich verstohlen an. Die Tatsache, daß Katz auf einmal so frohgemut schien, machte sie mißtrauisch. Ob er wohl wieder einen seiner bekannten Streiche plante? Aber wo sollte er dazu die Gelegenheit bekommen? Schließlich war er ja auf die sicherste Art und Weise an seine Bewacher gefesselt. Gefährlich und erfindungsreich mochte er -7-
ja sein… hexen aber konnte selbst er nicht! Wieder lachte der Spion leise vor sich hin. «Ich kann mir denken, daß ihr beide bewaffnet seid?» Der Polizist, der zu seiner Rechten saß, erwiderte barsch: «Worauf Sie sich verlassen können, Katz… Und wir haben Befehl, sofort zu schießen, falls es notwendig ist.» «Ich fühle mich geehrt durch so viel Fürsorge», entgegnete Katz ironisch und lehnte sich gemütlich zurück. «Aber ich kann euch beruhigen; diesmal wird es nicht nötig sein, von der Schußwaffe Gebrauch zu machen». «Sie freuen sich wohl schon darauf, Ihre Landsleute begrüßen zu können?» Diesmal lachte Katz laut. «Ehrlich gesagt, glaube ich, daß sich meine lieben Landsleute mehr darauf freuen, mich begrüßen zu können. Aber die werden enttäuscht sein, wenn sie glauben, daß sie mich zum Reden bringen können. Darauf läuft die ganze Geschichte doch hinaus.» Eine Weile saßen die drei stumm im Wagen. Mit ziemlich hoher Geschwindigkeit durchquerten sie die freundliche südjütländische Landschaft. Die Herbstsonne schien über ihnen, und die Bäume am Rande der Landstraße leuchteten rot und golden. Åbenrå lag bereits hinter ihnen; bald würden sie die dänisch-deutsche Grenze erreichen. Als der Wagen an der Sögård-Kaserne vorbeifuhr, fragte Katz mit gespielter Gleichgültigkeit: «Werde ich in Kruså oder in Padborg ausgeliefert?» Einer der Wachleute setzte automatisch zu einer Antwort an, aber sein Kamerad kam ihm zuvor: «Warum wollen Sie das wissen, Katz?» Der Spion zog die Schultern hoch. «Ach, nur so. Über irgend etwas muß man doch reden. Mir kann es schließlich gleich sein, wo ich ausgeliefert werde.» -8-
«Dann ist ja alles in Ordnung», brummte der Polizist barsch. «Ihre Neugier wird bald befriedigt werden.» Es war dem Deutschen nicht anzusehen, ob er sich über diese Antwort ärgerte oder nicht. Mit gleichgültiger Miene betrachtete er die Landschaft. Ein unterdrücktes Lächeln spielte um seine Mundwinkel, als sie sich der Kreuzung der sechs Landstraßen näherten und in Richtung Bov weiterfuhren. – Er sollte also nach Padborg gebracht werden! Der Fahrer verlangsamte die Geschwindigkeit, als der Wagen durch Padborg fuhr, unter der Unterführung durch und weiter auf der weiten Straße zur Grenze. An der Grenze hatten sie nur wenige Formalitäten zu erledigen, denn die Grenzbeamten beider Länder waren informiert. Die beiden Polizisten wechselten ein paar scherzhafte Bemerkungen mit den dänischen Grenzbeamten, die ihre Neugier nicht verbargen und Katz eingehend musterten. Schließlich sieht man ja nicht alle Tage einen berühmten Spion! Auf der deutschen Seite der Grenze warteten westdeutsche Polizisten in ihrem Wagen. Sie lächelten, als sie feststellten, daß Katz doppelte Handschellen trug und gleich an zwei dänische Polizisten gefesselt worden war. Übertrieb man damit die sicher gebotene Vorsicht nicht ein wenig? Die deutschen Polizisten stiegen aus, und gleich darauf bildete Katz den Mittelpunkt einer kleinen Gruppe. Ruhig und ungerührt stand er da, während seine Bewacher Grußworte und Papiere austauschten. Offenbar interessierte ihn der ganze Vorgang wenig. Immer noch war er an einen seiner dänischen Bewacher gefesselt, während der andere seine Handschellen gelöst hatte, um sich bei der Erledigung der Formalitäten frei bewegen zu können. Als er fertig war, sagte er in fehlerfreiem Deutsch zu seinen deutschen Kollegen: «Paßt nur gut auf. Der Mann ist gefähr licher als man meint. Und er wird jede Fluchtmöglichkeit, -9-
die sich ihm bietet, ergreifen. Wir sind jedenfalls froh, daß wir ihn los sind.» Er wandte sich zu Katz und fuhr lächelnd fort: «Stimmt doch, Katz, nicht wahr? Sie überlegen doch jetzt schon, wie Sie entwischen können.» Der Spion gab keine Antwort; er sah sich gerade nach allen Seiten um. Es schien, als sei er plötzlich etwas nervös geworden. Aber niemand kümmerte sich darum. Schließlich war es nicht verwunderlich, daß Katz sich von der augenblicklichen Lage beeindrucken ließ. Bestimmt konnte er sich bei dem Gedanken, nun einige Jahre in einem deutschen Gefängnis zubringen zu müssen, nicht gerade freuen. «Sind wir soweit?» fragte der dänische Polizist, der immer noch an den Spion gefesselt war. «Ja», antwortete einer der deutschen Beamten und hielt ein Paar Handschellen bereit. «Wir werden schon aufpassen und ihn wohlbehalten nach Bonn schaffen.» «Hals- und Beinbruch!» «Danke.» «Gute Fahrt!» «Gleichfalls!» Der Däne öffnete die Handschellen. Katz blieb ruhig stehen und schlenkerte die rechte Hand, als wolle er sich versichern, daß er die störende ‚Manschette’ nun los sei. Dann rief er plötzlich laut und völlig unmotiviert: «Donnerwetter!» Sowohl die Deutschen als auch die Dänen starrten ihn verblüfft an, aber gleich darauf ertönte ein ohrenbetäubender Knall. Hinter dem deutschen Zollgebäude wirbelten Erde und Steine hoch in die Luft, zerbrochene Fensterscheiben klirrten, und Dachziegel flogen herunter. «Explosion», schrie jemand. «Duckt euch!» Instinktiv warfen sich die Polizisten flach auf den Boden, und -10-
während einiger Sekunden herrschte größte Verwirrung. Autofahrer, die an der Grenze auf Abfertigung warteten, versuchten zu wenden und wegzufahren, Frauen schrien vor Angst auf. Vom Luftdruck waren einige Kinder zu Boden gerissen worden, wo sie liegenblieben und laut weinten. Ein dichter Regen aus Steinen, Kies und Erde ergoß sich über die erschrockenen Menschen, die nicht wissen konnten, ob der ersten Explosion eine zweite folgen würde. In all der Verwirrung dachte niemand an Katz, bis plötzlich einer der dänischen Polizisten laut rief: «Achtung, Katz flieht!» Der Spion lief gerade den steilen Bahndamm hinauf. Der Däne zog seine Pistole, aber sein Kollege fiel ihm in den Arm. «Nicht schießen, Jensen!» «Warum nicht?» «Wir haben den Gefangenen abgeliefert und befinden uns auf deutschem Gebiet.» «Ihm nach!» rief ein deutscher Polizist und rannte schon auf den Bahndamm zu. «Er darf uns nicht entkommen!» Sämtliche Polizisten – Dänen und Deutsche – setzten sich in Bewegung, aber Katz hatte einen recht guten Vorsprung und war bereits auf der andern Seite der Eisenbahnschienen verschwunden. Da keiner der Deutschen eine Pistole zog, rief Jensen dem Polizisten, der neben ihm lief, atemlos zu: «Seid ihr denn nicht bewaffnet?» «Nein! Nur mit Knüppeln.» «Dann nehmen Sie meine Pistole. Ich darf hier ja nicht schießen… Achtung!» Jensen blieb unvermittelt stehen, denn hinter ihm krachte ein Schuß, und an seinem Ohr sauste etwas vorbei. Oben am Damm wurde eine kleine Staubwolke sichtbar. «Katz hat Helfer! Wir werden beschossen! Von hinten», rief -11-
Jensen. Die Polizisten blieben stehen und schauten sich um. Aber sie sahen nur die wartenden Autofahrer, die zu drehen versuchten und von dem Durcheinander vollkommen verwirrt zu sein schienen. Natürlich konnte keiner von ihnen geschossen haben, doch das ließ sich im Augenblick nicht feststellen. «Weiter!» rief einer der Deutschen. Ein paar Sekunden später standen alle oben auf dem Damm und blickten um sich. «Verflixt und zugenäht!» Die deutschen Polizisten fluchten nach Noten. Katz war verschwunden!
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ZWEITES KAPITEL Vom Zoll aus wurde sofort die Kriminalpolizei in Flensburg alarmiert und gebeten, die Straßen zu sperren, während einige der deutschen Grenzpolizisten sich mit ihren Diens thunden aufmachten und die Nachbarschaft durchsuchten. Die übrigen wandten sich der Untersuchung der seltsamen Begleitumstände der Flucht zu. Zunächst mußte die Ursache der Explosion festgestellt werden. Sie hatte den hinteren Teil des Zollgebäudes erheblich beschädigt. Über das Zentrum der Explosion bestand kein Zweifel; denn man fand bald ein ziemlich tiefes Loch im Erdboden, von wo aus eine Leitung am Bahndamm entlang ins Gelände führte, bis zu einem dichten Gebüsch. Es stand demnach fest, daß die Explosion gut vorbereitet gewesen war. Als die Polizei ihre Untersuchungen abgeschlossen hatte, war sie zu folgendem Ergebnis gekommen: Die Organisation, der Paul Katz angehörte, mußte über den Zeitpunkt und den Ort der Auslieferung genau informiert gewesen sein. Sie hatte einen Fluchtplan in allen Einzelheiten ausgearbeitet. Es war abgesprochen worden, daß Katz laut «Donnerwetter» rufen sollte, sobald er von den dänischen Handschellen befreit worden war. In diesem Augenblick brachten die Fluchthelfer die Sprengladung durch elektrische Zündung zur Explosion. Während der dadurch entstehenden Verwirrung boten sich Katz die besten Fluchtmöglichkeiten, die durch den Schuß, abgefeuert von einem der Helfer, noch verbessert wurden. «Ja, so ähnlich muß es gewesen sein», meinte einer der deutschen Beamten. «Es handelt sich offenbar um einen Spionagering, der keine Mittel scheut. Im übrigen muß Katz schon im Gefängnis die nötigen Weisungen bekommen haben, sonst hätte er ja die Aktion durch das Schlüsselwort -13-
‚Donnerwetter’ nicht auslösen können.» Jensen zuckte die Schultern. «Ich habe ja gleich gesagt, daß der Mann gefährlich ist, aber ihr habt darüber gelacht.» «Jetzt sind wir überzeugt», entgegnete der Deutsche trocken. «Vielen Dank für die Pistole. Leider hat sie uns nichts genützt. Der Helfer des Spions schoß nicht, um jemanden zu treffen. Auf jeden Fall erreichte er aber, daß die Verfolgung aufgehalten wurde.» «Hm!» sagte Jensen. «Wenn der Mann nicht treffen wollte, muß er ein schlechter Schütze sein. Ich wünsche mir jedenfalls nicht, daß eine Kugel nochmals so nahe an meinem Ohr vorbeistreicht. Ich habe sogar den Luftdruck gespürt, und das war kein sehr angenehmes Gefühl.» Den dänischen Beamten blieb nichts anderes übrig, als heimzufahren. Ihren deutschen Kollegen konnten sie nicht helfen, und ihren Auftrag hatten sie ja auch mit der Übergabe des Spions an die deutsche Polizei erfüllt. Jensen setzte sich etwas erschöpft auf seinem Sitz zurecht und sagte: «Puh, Möller, das war ein Ding… aber immerhin ein Dusel, daß wir jenseits der Grenze waren, bevor Katz entwischen konnte. Hoffentlich kriegen wir diesen Banditen nie mehr zu sehen. Die ganze Geschichte ist mir stark auf die Nerven gegangen.» Möller lächelte. «Jetzt wird Katz der deutschen Kriminalpolizei auf die Nerven gehen. Es wird nicht einfach sein, ihn wieder einzufangen, denn jetzt hilft ihm die Organisation seiner Auftraggeber, die sicher über große Geldmittel und entsprechende Macht verfügen. Die Deutschen sind nicht zu beneiden.» «Nein» sagte Jensen munter. «Ich bene ide sie jedenfalls nicht. Im übrigen könnte ich jetzt ein gutes Mittagessen vertragen. Was meinst du dazu?» «Einverstanden! Das haben wir uns ehrlich verdient. Aber ich muß zugeben, daß ich wenig Hunger verspürt hätte, wenn Katz -14-
uns diesseits der Grenze entwischt wäre.» «Hoffentlich haben die Deutschen Glück bei ihren Nachforschungen.» «Laß uns das Beste hoffen», sagte Möller. «Die Armen können gute Wünsche brauchen.» Zwei Tage später saßen sich in einem elegant eingerichteten Büro in der Hamburger Innenstadt zwei Männer gegenüber. Der eine war klein und zierlich, mit grauen Haaren, Spitzbart und Hornbrille. Er hieß Samuel Walther und glich einem Ministerialbeamten, war aber alles andere als das, nämlich der Leiter der größten Spionagezentrale auf dem europäischen Festland, wovon jedoch nur seine engsten Mitarbeiter wußten. Nach außen war er der ordentliche und unantastbare Chef einer ebenso ordentlichen Exportfirma, die mit vielen europäischen Ländern in Verbindung stand und überall ihre Vertreter hatte. In Hamburg beschäftigte er etwa zwanzig Angestellte, die keine Ahnung davon hatten, daß ihr Chef etwas anderes war als ein Geschäftsmann. An den verschiedenen Herren, die Samuel Walther in seinem Privatbüro empfing, war nichts Auffälliges, denn leider sieht man es einem Mann nicht an, daß er ein Spion ist. Der Mann, der Walther im Augenblick gegenüber saß, war Paul Katz. Er war groß und kräftig und wirkte neben seinem kleinen, zierlichen Chef noch größer. Abgesehen von ihrem Äußeren bestand zwischen den beiden Männern kein Unterschied. Beide waren Spione, für die Geld alles bedeutete – gleichgültig, von wem sie das Geld bekamen, und was sie tun mußten, um es zu erlangen, Mord und Totschlag eingeschlossen. Damit gehörten sie beide in die Klasse der gemeinen Verbrecher. Alle Länder unterhalten Nachrichtendienste, die sich mit Spionage und Spionageabwehr beschäftigen, aber die Mitglieder dieser Organisationen arbeiten immerhin im Dienst ihres Vaterlandes und werden wie andere Beamte vom Staat bezahlt. Mit Samuel Walther und seiner gut organisierten Bande standen -15-
die Dinge ganz anders. Sie verkauften ihre Nachrichten dem Meistbietenden, gleichviel ob es ein Landsmann oder ein Feind war. In den vergangenen Jahren hatte sich das als ein sehr einträgliches Geschäft erwiesen. Die deutsche Kriminalpolizei und der Nachrichtendienst in Westdeutschland hatten schon mehrmals ein Auge auf Samuel Walther geworfen, aber viel war dabei nicht herausgekommen. Der Bandenchef war schlau wie ein Fuchs und hatte sich immer geschickt aus der Schlinge gezogen. Es war nie gelungen, ihm etwas nachzuweisen; daher setzte er ruhig sein gefährliches Handwerk fort. Mit einem wohlwollenden Lächeln nickte Samuel Walther seinem vertrauten Mitarbeiter zu. «Gut gemacht, Katz, daß Sie den dänischen Behörden gegenüber dichtgehalten haben. Na ja, ich hatte natürlich nichts anderes erwartet. Aber für die im Gefängnis verbrachte Zeit haben Sie eine Sonderbelohnung verdient.» Er zog eine Schreibtischschublade auf, nahm ein Bündel Banknoten heraus und schob es Katz zu. «Hier sind dreitausend Mark… So langsam, mein lieber Katz, werden Sie ein teurer Herr für mich. Es hat mich weitere zweitausend Mark gekostet, in Erfahrung zu bringen, wo und wann Sie ausgeliefert werden sollten. Unser Agent in Bonn wußte sehr wohl, wie interessiert ich an dieser Auskunft war; deshalb schraubte er seine Forderung gewaltig in die Höhe. Aber das Geld hat sich gelohnt. Jetzt lassen Sie mich zunächst wissen, wie die Flucht verlief. Die Explosion hatte also die gewünschte Wirkung?» Katz grinste breit. «Und ob! In den ersten Sekunden herrschte völliges Durcheinander, und als die Polizisten wieder zur Besinnung kamen, war ich schon weit weg. Der Schuß stoppte die Verfolgung eine ganze Weile. Der Volkswagen stand mit laufendem Motor und unserem Mann am Steuer an dem vereinbarten Ort. In der ersten halben Stunde fuhren wir auf kleinen Seitenstraßen kreuz und quer, dabei vermieden wir natürlich die Stadt Flensburg.» «Sehr vernünftig», nickte der Chef. «Die Kriminalpolizei in -16-
Flensburg wurde bereits wenige Minuten nach Ihrer Flucht alarmiert. Weiter, Katz.» Und Katz setzte seinen Bericht fort. «Wir entgingen glücklicherweise allen Polizeistreifen und übernachteten an der vereinbarten Stelle. Der letzte Teil der Fahrt nach Hamburg ging auch ohne Schwierigkeiten vonstatten; niemand hat uns verfolgt.» «Das weiß man nie», unterbrach ihn der Chef barsch. «Ich glaube das zwar auch nicht, aber Sie müssen sich vorläufig ruhig verhalten, bis Sie weitere Befehle bekommen.» «Hier in Hamburg?» Der Chef nickte. «Ja. Ein gutes und bequemes Versteck steht Ihnen zur Verfügung; Sie werden es in den ersten Tagen nicht verlassen. Wir müssen Ihr Aussehen ein wenig verändern – vor allem die Haarfarbe – aber das wird an Ort und Stelle durchgeführt. Sie werden auch eine Hornbrille mit ungeschliffenen Gläsern bekommen; daran werden Sie sich gewöhnen müssen. Eine Brille verändert das Gesicht viel mehr als ein falscher Bart oder andere blöde Theaterrequisiten, die ein Fachmann sowieso gleich entdeckt.» Katz lächelte. «Ich habe mir einmal glänzend mit einem falschen Bart geholfen…» «Möglich, aber wahrscheinlich nur, weil Sie keinem Fachmann in die Arme liefen. Wir werden Ihr Aussehen schon so verändern, daß Sie bald für den nächsten Einsatz bereit sein werden. Anfang der nächsten Woche werde ich Sie wieder rufen lassen. Halten Sie sich also um diese Zeit bereit. Ihr neuer falscher Paß wird bis dahin auch fertig sein.» «Und wohin soll ich?» «Nach Dänemark!» Der sonst so unerschütterliche Katz zuckte nun doch etwas zusammen. Mit nachdenklichem Gesicht erwiderte er: «Nach -17-
Dänemark? Ob das ratsam ist… ich meine, unter den gegebenen Umständen?» «Mein bester Katz, lassen Sie es meine Sache sein, was ratsam ist. Sie haben bisher keinen Anlaß zu Klagen gehabt.» «Nein, natürlich nicht. Und wo soll ich in Dänemark arbeiten?» «In Kopenhagen! Unsere Leute dort sind nicht imstande, die neue Aufgabe zufriedenstellend zu lösen. Aber Sie werden dazu geeignet sein, denn Sie kennen die dänischen Verhältnisse am besten und wissen in der Hauptstadt Bescheid.» Ein böses Grinsen kräuselte die Lippen des Spions. «Nun, das paßt mir gut. Wenn ich nach Kopenhagen komme, erhalte ich wenigstens Gelegenheit, Rache zu nehmen. Darauf freue ich mich jetzt schon.» «Rache?» wiederholte Walther schroff. «Was meinen Sie damit?» «Ich denke da vor allem an einen widerlichen Burschen namens Jan Helmer. Er und seine Freunde sind mir schon einige Male in die Quere gekommen… und jetzt erhalte ich vielleicht die Möglichkeit, es ihnen heimzuzahlen…» «Quatsch!» unterbrach ihn der Chef mit gerunzelter Stirn. «Aus den Berichten weiß ich sehr genau Bescheid über diesen Jan Helmer. Bei unserer Art Arbeit dürfen wir kein Risiko eingehen und uns nicht mit privaten Racheakten belasten. Noch dazu, wenn es sich, wie in diesem Fall, um ein paar Schuljungen handelt, und wenn der Vater dieses Jan Kriminalkommissar ist. Also lassen Sie gefälligst die Finger davon.» Katz seufzte. «Das ist eine ganz schlaue Bande, Chef. Die Kerle haben mir das oft genug bewiesen.» «Ein Grund mehr, sie sich vom Leib zu halten. Ihre Aufgabe ist sehr wichtig, und wir müssen mit äußerster Vorsicht vorgehen. Wenn Sie sich in private Rachegeschichten einlassen, -18-
werden Sie die Folgen rasch spüren. Sie wissen doch, was Leuten geschieht, die sich nicht genau an meine Weisungen halten?» «Ja», murmelte Katz. «Gut, dann brauchen wir darüber kein Wort mehr zu verlieren. Unten auf der Straße steht ein Wagen für Sie. Sie werden direkt zu Ihrem Versteck gefahren und erwarten dort meine weiteren Befehle. Auf Wiedersehen, Katz.» «Auf Wiedersehen!» Als die Tür sich hinter Paul Katz geschlossen hatte, blieb Samuel Walther noch eine Weile mit düsterer Miene sitzen. Dann drückte er auf einen Knopf, und gleich darauf öffnete sich ganz leise eine Seitentür. Ein Mann trat ein und blieb abwartend neben der Tür stehen. «Setzen Sie sich, Wolf!» befahl der Chef, ohne sich nach dem Mann umzuwenden. «Haben Sie ihn deutlich genug gesehen?» «Ja», antwortete der Mann und setzte sich. «Ich konnte ihn die ganze Zeit durch das Guckloch beobachten.» «Haben Sie sich seinen Gang gemerkt?» «Ja, er zieht das rechte Bein ein wenig nach.» Der Chef nickte befriedigt. «Gut, Wolf. Sie haben die Augen offen gehalten. In einigen Tagen wird er sich ziemlich verändert haben, aber natürlich wird er das rechte Be in nach wie vor etwas nachziehen. Außerdem werden Sie vor seiner Abreise nach Kopenhagen nochmals Gelegenheit erhalten, ihn genau zu betrachten.» Er schwieg eine Weile und fuhr dann fort: «Ich dachte mir schon, daß Katz sich rächen möchte, wenn er wieder nach Kopenhagen kommt, aber das muß unter allen Umständen verhindert werden. Nicht aus Rücksicht gegenüber Jan Helmer und seinen Freunden, sondern weil wir ganz einfach jedes unnötige Risiko vermeiden müssen. Deshalb werden Sie Katz -19-
nach Kopenhagen folgen und darüber wachen, daß er meine Befehle bis ins kleinste Detail ausführt. Sollte Katz seinen Rachegelüsten trotz meiner Warnung nachgeben, dann wissen Sie, was Sie zu tun haben.» «Jawohl.» «Gut, ich verlasse mich auf Sie, Wolf. Ihre Belohnung wird dem entsprechen, was Sie leisten. Die vor uns liegende Aufgabe ist so wichtig, daß nichts schiefgehen darf, absolut nichts!» Wolf schwieg eine Weile, dann fragte er vorsichtig: «Glauben Sie denn, daß Katz es wagen wird, Ihren Befehlen zuwiderzuhandeln?» «Ich will es gar nicht erst darauf ankommen lassen», entgegnete Walther barsch. «Wenn ich ihn nicht gewarnt hätte, wäre er diesem Jan Helmer zweifellos zu Leibe gegangen. Wie es jetzt steht, weiß ich nicht genau. Hoffentlich wagt er es nicht. Es wäre schade um ihn, er ist ein tüchtiger Mann.» Aber im Hinblick auf die Wirkung seiner Warnung irrte sich der Spionagechef gründlich. Als Paul Katz die Treppen zu dem wartenden Auto hinabstieg, zischte er böse zwischen halbgeschlossenen Lippen: «Warte nur, Jan Helmer, mit dir werde ich trotzdem abrechnen!»
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DRITTES KAPITEL Katz war schon immer ein dreister Mann gewesen, der Warnungen in den Wind schlug. Ein weiterer Beweis dafür war die Art, wie er sich diesmal benahm, als er mit seinem neuen, eleganten Wagen zur deutsch-dänischen Grenze fuhr. Er hatte es sich nämlich in den Kopf gesetzt, die Grenze ausgerechnet bei Padborg zu überschreiten. Der Chef hatte ihm ausdrücklich befohlen, die Strecke Grossenbrode-Gedser zu benützen, aber Katz wollte das Schicksal herausfordern. Er wollte beweisen, daß die Grenzbeamten den Meisterspion Paul Katz nicht wiedererkannten, der jetzt laut seinem falschen Paß den Namen Heinrich Müller, Verkaufschef einer angesehenen Hamburger Exportfirma, trug. Seine Haare waren so geschickt gebleicht worden, daß kaum jemand auf den Gedanken kommen konnte, sie seien nicht von Natur so hell. Zudem veränderte die große Hornbrille sein Aussehen wesentlich, und der falsche Paß war gut. Seine Vermutung bestätigte sich. Unter den Beamten der Paßund Zollkontrolle erkannte er zwei, die eine Woche zuvor seine spannende Flucht miterlebt hatten, aber keiner schöpfte auch nur den leisesten Verdacht. Die wenigen Formalitäten wickelten sich schnell und reibungslos ab, dann fuhr der Verkaufschef Heinrich Müller vergnügt durch Jütland in Richtung Kopenhagen. Er mußte bei dem Gedanken lächeln, was der Chef wohl sagen würde, wenn er es wüßte… aber natürlich würde er es nie erfahren! Zwar war der gute Samuel Walther ein Mann, der überall Helfershelfer hatte, die ihm Nachrichten zutrugen. Aber dies… nein, dies würde ihm verborgen bleiben. Vier Stunden später wurde Samuel Walther bleich vor Wut. Er erhielt nämlich ein Telegramm, in dem es kurz und bündig hieß: -21-
«verkaufschef müller passierte padborg stop erhoffe gute geschäfte stop sonst alles in Ordnung stop wolf.» Katz wäre bestimmt schlechter Laune gewesen, wenn er gewußt hätte, daß Wolf, den er allerdings nicht kannte, ihm von Hamburg aus nachgefahren war, um ihn zu beschatten, und dem Chef sogleich telegrafisch Bericht erstattet hatte. Indessen befand sich Katz in glücklicher Unwissenheit der Lage, während er weiter durch Jütland fuhr. Er passierte die Brücke über den Kleinen Belt und hielt in Odense zu einem späten Frühstück im Grand Hotel an. Gegen Abend rollte er durch Kopenhagen. Die Fahrt war ungestört verlaufen; er sah die Zukunft in den rosigsten Farben. Er hatte nicht bloß die Aussicht, eine Menge Geld zu verdienen, sondern konnte sich nun endlich auch an dem verdammten Jan Helmer rächen, der ihm so oft in die Quere gekommen war. Katz war ein routinierter Autofahrer; er steuerte jetzt mit sicherer Hand den Wagen durch den dichten Verkehr der Vesterbrogade und weiter über den Rathausplatz durch die vielen engen Straßen zum Kongens Nytorv. Von dort fuhr er durch die Bredgade zum Marmorplatz, wo er seinen Wagen bei der Kirche parkte. Mit seinen beiden Koffern in den Händen ging er ein Stück die Store Kongensgade hinab, wo er vor einem alten Patrizierhaus stehenblieb. Hier sollte er auf Befehl des Chefs sein Hauptquartier aufschlagen. Er kannte das Haus recht gut, denn er hatte dieses Versteck schon oft benützt, es war noch nie von der Polizei entdeckt worden. In der alten, geräumigen Wohnung im obersten Stockwerk hatten die dänischen Mitglieder der Spionagebande schon manchen wichtigen Plan ausgeheckt. Das Haus war vor ungefähr hundertfünfzig Jahren von einem wohlhabenden Kopenhagener Bürger erbaut worden. Es trug noch immer die Spuren früherer Pracht, obwohl sich im Erdgeschoß jetzt Läden befanden und die alten Mauern häßlich verputzt worden waren. -22-
Katz ging die Treppen hinauf und klingelte dreimal kurz an der Tür. Im nächsten Augenblick wurde die Tür von einem Mann geöffnet, der genau so groß und kräftig war wie Katz. Sein Gesicht war brutal und abstoßend, und es wurde nicht ansprechender durch das breite Grinsen des Mannes. «Willkommen, Katz. Ist die Reise gut verlaufen?» «Ausgezeichnet.» Katz nickte. «Nimm meine Koffer!» «Jawohl.» Der Mann verschloß die Wohnungstür, und Katz fragte kurz: «Was Neues, Einar?» Der Mann zeigte wieder seine Zähne, als er breit grinste. «Nee. Das einzig Neue scheint zu sein, daß du Verkaufschef geworden bist und jetzt Heinrich Müller heißt.» «Und woher, zum Teufel, weißt du das?» fragte Katz verblüfft. «Hat der Chef dir das mitgeteilt?» «Nein. Aber vor einer halben Stunde kam ein Telegramm für den Verkaufschef Heinrich Müller, und da die Adresse stimmt, dachte ich mir, daß es für dich sei…» «Ein Telegramm?» wiederholte Katz interessiert. «Gib’s her!» Kurz darauf riß er den Umschlag auf und las mit gerunzelten Brauen: «befehl lautete grossenbrode- gedser stop warum fuhren sie über padborg obwohl in jütland keine geschäfte zu erledigen waren stop zukünftige nichtbeachtung meiner befehle bedeutet sofortige entlassung stop berichten sie über ihre gründe stop walther.» Einige Sekunden lang blieb Katz vor Erstaunen ganz steif stehen. Dann pfiff er durch die Zähne und steckte das Telegramm in die Tasche. Einar schielte zu ihm hinüber und fragte: «Eine unangenehme Nachricht?» «Nein!» fuhr Katz ihn an. «Warum meinst du das?» «Du siehst nicht gerade begeistert aus…» -23-
«Halt den Mund und trag die Koffer in mein Zimmer.» «Jawohl.» Katz folgte ihm und ließ sich auf den nächststehenden Sessel fallen. Dann starrte er düster vor sich hin. Woher hatte der Chef die Sache mit Padborg bloß erfahren? Und noch dazu so rasch? War dieser Mensch allwissend? Das grenzte ja an Zauberei! Und… ja, er mußte wohl in Zukunft vorsichtiger sein. Aber was jetzt mit Jan Helmer? Der Gedanke an seinen Widersacher ließ Katz die Fäuste ballen. Nein, diesmal sollte der Junge ihm nicht entkommen, obwohl der Chef befohlen hatte, Jan in Ruhe zu lassen. Er mußte sich rächen! Der brennende Wunsch nach Rache, der Katz jetzt erfüllte, war für ihn als Spion höchst gefährlich; schon früher hatte er aus dem gleichen Grunde Fehler begangen. Ein Spion, der eine bestimmte Aufgabe erfüllen soll, muß sich natürlich darauf konzentrieren und alle persönlichen Gefühle beiseite schieben. Denn jeder Spion muß damit rechnen, daß seine Gegner – die Kriminalpolizei und die Agenten der Nachrichtendienste – genau so tüchtig sind wie er. Auf der Hut vor diesen Feinden, kann er es sich nicht leisten, auch noch private Gegner zu bekämpfen. Katz war sich darüber auch im klaren, aber er brachte es nicht fertig, seine Rachegelüste zu unterdrücken. Außerdem erschien ihm das Risiko nicht sehr groß. Katz war immer ein Optimist gewesen, nicht nur bei seiner gefährlichen Arbeit, sondern in seiner ganzen Einstellung zum Leben. Immerhin war sein Optimismus im Augenblick etwas gedämpft. Er konnte nicht umhin, dauernd an Samuel Walther zu denken, der offenbar über seine Fahrt nach Dänemark genau informiert war. Wie war so etwas nur möglich? Wurde er etwa beschattet? Katz dachte über diese Frage immer noch nach, als Einar wieder ins Zimmer trat und sagte: «Ich hätte dich fast nicht -24-
wiedererkannt. Wenn ich nicht benachrichtigt worden wäre, daß du kommen würdest, hätte ich dir die Tür vor der Nase zugeschlagen.» «Freut mich», erwiderte Katz. «Findest du, daß die Haarfarbe mir steht?» Einar grinste. «Das wäre zuviel behauptet, aber dein Aussehen ist dadurch ganz verändert. Die Hornbrille macht auch viel aus. Hat das der Chef angeordnet?» «Ja, natürlich…» «Hm. Ich möchte eigentlich den Chef bei Gelegenheit einmal kennenlernen.» «Ja, das glaube ich», höhnte Katz. «Aber den Gedanken schlag dir lieber gleich aus dem Kopf. Der Chef empfängt nur seine engsten Mitarbeiter.» «Deine Flucht hat er jedenfalls sehr schlau geplant. Ich habe eine Menge Zeitungsausschnitte, die ich dir zeigen kann…» «Idiot», zischte Katz. «Wie?» «Ich sagte ‚Idiot’!» «Warum?» «Kannst du dir das nicht vorstellen, du Dummkopf? » «Nee…» Katz betrachtete seinen Untergebenen mitleidig. «Dann werde ich es dir erklären. Wie ein dummer Schuljunge hast du Zeitungsausschnitte gesammelt, die meine Flucht bei Padborg betreffen… und was würdest du tun, wenn diese Ausschnitte in falsche Hände gerieten?» «Wie meinst du das?» «Was wäre, wenn die Kriminalpolizei bei irgendeiner Gelegenheit die Zeitungsausschnitte erwischte? Sie würden sofort wissen, daß du dich besonders für meine Flucht -25-
interessiert hast. Dann würden sie dir eine Menge unangenehme Fragen stellen… Und was würdest du darauf antworten?» «Äh…» «Ja, genau. Du würdest bloß ‚äh’ sagen können. Aber du kannst Gift darauf nehmen, daß unsere Gegner mit dieser Antwort nicht zufrieden wären. Wo hast du die blödsinnigen Ausschnitte?» «In meinem Zimmer.» «Verbrenne sie sofort.» «Willst du sie nicht zuerst lesen?» «Nein! Verbrenne sie unverzüglich.» Einar ging hinaus, um den Befehl auszuführen. Katz ärgerte sich darüber, daß einer seiner Leute so unbedacht sein konnte. Dabei vergaß er, daß er selber nicht weniger unbedacht gehandelt hatte, als er bei Padborg die Grenze überschritt. Seine Rachepläne waren genauso unbedacht… Kurz danach läutete es dreimal an der Tür. Dann erklangen Stimmen in der Diele, und mehrere Männer traten ins Zimmer. Als sie Katz begrüßten, waren ihre Worte zwar herzlich, aber in ihren Stimmen klang auch eine gewisse Hochachtung mit. Für sie war Katz der Meisterspion, nach dem sich alle zu richten hatten. Er war das Gehirn all ihrer Unternehmungen. Wenn er persönlich nach Kopenhagen gekommen war, trotz der Gefahr, die er dabei lief, mußte ein wichtiges Unternehmen geplant sein… Und das bedeutete gutes Geld. Die Männer, fast alle Dänen, dachten nur an Geld. Es kümmerte sie überhaupt nicht, daß sie des Geldes wegen den Interessen ihres eigenen Landes schadeten. Leider gibt es solche Leute in jedem Land, und die internationalen Spione bedienen sich ihrer natürlich. Spione können sich oft eine Menge Auskünfte umsonst beschaffen, weil gedankenlose Menschen Dinge ausplaudern, über die sie besser den Mund halten sollten; -26-
die wichtigsten Informationen aber werden mit Geld bezahlt. Es gibt in jedem Land gemeine Menschen, die es nicht stört, wenn sie einen Judaslohn annehmen. Wenn dies nicht der Fall wäre, gäbe es weniger Spionage. Die Menschen, die für Geld ihr eigenes Land verraten, sind alle gemeine Verbrecher, die ihre Strafe verdienen, wenn man sie faßt. Nach und nach kamen noch mehr Männer dazu, und nach Ablauf einer Viertelstunde waren zehn Leute versammelt. Katz kannte sie nicht alle. Seine frühere Bande war von der Kriminalpolizei gesprengt worden, und nur wenige Mitglieder waren nach einer allzu kurz bemessenen Gefängnisstrafe wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Einar dagegen kannte sie alle und stellte sie Katz vor. Nachdem Einar einen abschätzenden Blick über die Versammelten geworfen hatte, wandte er sich an Katz und sagte: «Wir sind vollzählig.» «Gut», nickte der Deutsche. «Setzt euch.» Alle setzten sich und starrten ihn gespannt an. Paul Katz jedoch ließ sich Zeit. Mit seinen harten Augen blickte er jeden einzelnen abschätzend an, als wollte er sich vergewissern, ob er sich auf ihn verlassen könnte. Unter dem scharfen, forschenden Blick wurden mehrere der neuen Leute unruhig. Sie hatten schon viel über Katz gehört. Er sah wirklich so aus, als sei er ein sehr scharfer Herr und Meister. Sicher war es gefährlich, ihm zuwiderzuhandeln. Katz überflog eine Namenliste, die über jeden Mann einige kurze Angaben enthielt. Dann stützte er die Ellenbogen auf den Tisch, lehnte sich vor und sagte: «Ihr wißt natürlich alle, daß wir eine wichtige Aufgabe zu lösen haben; darauf komme ich noch zurück. Zunächst möchte ich betonen, daß ihr euch zu jeder Zeit genau nach meinen Befehlen zu richten habt. Habt ihr verstanden?» «Jawohl!» erklang es im Chor. -27-
«Gut, dann können wir weitergehen. Die Aufgabe, die wir gemeinsam lösen sollen, wird sehr gut bezahlt. Jeder von euch wird vorweg dreitausend Kronen bekommen und hernach nochmals siebentausend Kronen, wenn wir unser Ziel erreichen.» Katz lächelte ein wenig, bevor er fortfuhr: «Wie ihr euch alle denken könnt, steht die Bezahlung unserer Arbeit im Verhältnis zu der Gefahr, die damit verbunden ist. Wenn unser Chef sich in diesem Fall entschlossen hat, jedem, der dabei mitmacht, zehntausend Kronen zu zahlen, könnt ihr euch den Rest wohl selber vorstellen.» Es entstand ein Augenblick tiefen Schweigens, während die Männer sich verstohlen ansahen. Katz sagte ruhig: «Möchte jemand etwas fragen?» Einer der neuen Männer nahm seinen ganzen Mut zusammen und fragte ein wenig unsicher: «Ist die Gefahr… hm… Ist die Sache sehr gefährlich?» Katz nickte nur: «Ja, es geht auf Leben und Tod!» Die meisten der Männer schienen von diesen Worten erschüttert zu sein. Gewiß hatten sie nichts dagegen, viel Geld zu verdienen – ganz im Gegenteil. Sie waren auch bereit, ein gewisses Risiko einzugehen, aber ihr Leben aufs Spiel setzen… nein, das klang nicht sehr verlockend. Mit höhnischer Miene betrachtete Katz die Versammelten. Dann fragte er: «Nun, hat einer von euch Bedenken?» Da niemand es wagte, den Mund zu öffnen, befahl er kalt: «Ich möchte Antwort haben!» Aber die Furcht vor dem Meisterspion war so groß, daß nicht einer der Männer etwas zu sagen wagte. Jeder von ihnen war der Bande freiwillig beigetreten; jetzt hatten sie Angst vor den Folgen eines Absprungs. Katz lachte leise. «Ich sehe, daß ihr alle mit mir einig seid: Wir werden viel Geld verdienen; die damit verbundene Gefahr -28-
nehmen wir auf uns. Einverstanden? » «Einverstanden!» erklang es im Chor. Aber nicht alle antworteten mit der gleichen Stimmkraft. Die Neuen antworteten nur aus Angst, und Katz betrachtete sie mit nachsichtiger Miene. «Können wir jetzt erfahren, was wir tun müssen?» fragte einer der Männer, während die andern zustimmend nickten. «Natürlich», gab Katz zur Antwort. «Aber zuerst möchte ich jedem, der zu feig ist, mitzumachen, Gelegenheit geben, sich zurückzuziehen. Wenn ich den Plan erläutert habe, gibt es kein Zurück mehr. Jeder, der dann nicht mitmacht, wird nicht mehr lange leben. Das gilt auch für jeden, der jetzt geht und uns verrät!» Er warf einen Blick in die Runde und fuhr fort: «Augenscheinlich sind wir uns alle einig. Gut, dann werde ich euch jetzt die notwendigen Einzelheiten mitteilen. Sind die Türen und Fenster gesichert, Einar?» «Ja, alles in Ordnung.» «Und sind die Schußwaffen zur Verteilung bereit?» «Jawohl.» «Gut.» Während die Männer gespannt zuhörten, begann er zu erklären: «Wie die meisten von euch wissen, klappte es nicht, als wir die Pläne für den neuen Düsenjäger, den Ingenieur Ringhoff für die Luftwaffe der Nato entwickelt hat, entwenden wollten. Die serienmäßige Herstellung dieser Flugzeuge hat mittlerweile begonnen; daran läßt sich nichts ändern. Aber noch weiß man nichts über die Bewaffnung der Maschinen. Die Bauart dieser Düsenjäger deutet daraufhin, daß sie auf eine besondere Art bewaffnet werden sollen. Sonst wären sie andern modernen Maschinen ihres Typs nicht überlegen. Die dänischen und die -29-
alliierten Militärbehörden haben alle Hebel in Bewegung gesetzt, um diese spezielle Waffe rasch zu entwickeln. Auch in diesem Fall ist Ingenieur Ringhoff die Seele des Unternehmens. Er arbeitet mit vier der berühmtesten Waffenexperten zusammen, und das Projekt ist schon weit vorgeschritten.» Katz hob ein wenig die Stimme und setzte in barschem Ton hinzu: «Es wird unsere Aufgabe sein, die Vollendung dieser Arbeit zu verhindern, das heißt, die bereits vorliegenden Pläne und Modelle zu zerstören. Das ist die eine Seite der Angelegenheit. Die andere, mindestens ebenso wichtige: Ingenieur Ringhoff muß unschädlich gemacht werden!» «Unschädlich?» wiederholte einer der Männer. «Auf welche Weise?» «Am besten wäre es», sagte Katz, «wenn wir ihn lebend in unsere Hände bekommen könnten. Dann müßte ich ihn über die Grenze bringen, in ein bestimmtes Land. Dort könnten unsere Auftraggeber ihn vielleicht überreden, für sie zu arbeiten, und das würde sehr nützlich für sie sein, so nützlich, daß jeder von euch noch eine Sonderprämie bekommen würde. Wenn dieser Plan jedoch nicht glücken sollte, dann müssen wir wenigstens dafür sorgen, daß er seine Arbeit nicht weiterführen kann.» – Die Männer verstanden die Bedeutung dieser Worte und sahen sich unruhig an. Katz tat, als merke er es nicht, und fuhr fort: «Mit Rücksicht auf Ingenieur Ringhoff hoffe ich, daß uns seine Entführung glücken wird. Ich baue alle Pläne darauf auf, und wir wollen damit rechnen, daß wir Erfolg haben. Doch ob Entführung oder nicht; die Aufgabe ist schwierig und gefährlich. Ringhoff und die Waffenspezialisten arbeiten in eigens dafür hergerichteten Werkstätten, die mit allen Mitteln gesichert sind und streng bewacht werden. Es wird demnach sehr schwer sein, hineinzugelangen. Nun, deswegen wird unsere Arbeit ja auch so gut bezahlt. In den nächsten Tagen wollen wir uns darauf beschränken, das Gelände auszukundschaften. Die Leute, die -30-
das tun sollen, bestimme ich noch. Hernach gebe ich weitere Befehle. Daß diese Befehle genau auszuführen sind, betone ich nochmals.» «Auf welche Weise sind die Werkstätten gesichert?» fragte einer. «Mit modernen Warnanlagen, die durch Fotozellen betätigt werden, überdies durch unter Starkstrom stehende Drahtzäune und durch eine militärische Wachmannschaft, die Tag und Nacht Dienst tut. Falls alles andere fehlschlägt, haben wir Befehl, die Anlagen in die Luft zu sprengen. In diesem Fall müssen wir damit rechnen, daß es auch für uns um Leben oder Tod geht.» «Demnach sind die Wachen bewaffnet», sagte einer der Spione. Katz sah ihn scharf an. «Schwer bewaffnet sogar, mit Maschinenpistolen und Handgranaten. Und sie haben vermutlich Befehl, im Notfall sofort zu schießen.» «Verdammt und verflucht! Das klingt nicht gut.» «Stimmt!» fiel Katz höhnisch ein. «Hast du vielleicht gemeint, wir spielen Räuber und Gendarm?» «N-nein, das nicht. Aber in Dänemark geht man sonst nicht so scharf vor.» «Stimmt ebenfalls. Aber wir haben es mit der Nato zu tun. Und wenn man großes Geld verdienen will, muß man auch Gefahren auf sich nehmen.» In der nächsten halben Stunde gab Katz den Leuten, die das Gelände auskundschaften sollten, die nötigen Instruktionen. Dann versah Einar alle mit Pistolen und Munition. Vorläufig würden sie die Waffen kaum brauchen, aber niemand war im Zweifel darüber, daß sie schließlich nötig sein würden. Die meisten dachten nur mit Unbehagen daran, als sie die Wohnung verließen. -31-
Als Katz allein war, versank er eine Weile in tiefe Gedanken. Dann lächelte er vor sich hin; es war kein freundliches Lächeln. Schließlich nahm er das Telefonbuch zur Hand und begann zu blättern. Bald fand er, was er gesucht hatte, nahm ein Stück Papier und notierte sich die Adresse des Kriminalkommissars Helmer in der Österbro! Jetzt sollte der verflixte Jan eine Lehre bekommen, die ihm zeigte, daß man sich nicht ungestraft in die Angelegenheiten anderer Leute mischte! Natürlich war es für diesen Tag schon zu spät. Aber im Laufe des morgigen Tages würde es schon gelingen, ihn aufzuspüren.
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VIERTES KAPITEL Am nächsten Nachmittag ging Paul Katz durch die Store Kongensgade und weiter zum Österport-Bahnhof. Zuerst wollte er den Wagen benützen, entschloß sich dann aber, zu Fuß zu gehen. Es war nicht weit zu Jan Helmers Wohnung, und es war sicher besser, wenn in der Nähe kein Wagen mit deutschen Kennzeichen gesehen wurde. Katz bog in die stille Straße ein, wo Jan wohnte. Unwillkürlich begann er langsamer zu gehen. Er zog den Zettel mit der Adresse aus der Tasche und las die Hausnummer ab. Das Haus lag also auf der anderen Straßenseite, ganz in der Nähe. Er ging ein paar Schritte weiter und blieb dann unentschlossen stehen. Die Rachegedanken hatten ihn zwar sehr beschäftigt, aber er war bisher nicht imstande gewesen, einen Plan zu machen; es würde sich irgendwie ergeben müssen. Nur eines stand in diesem Augenblick fest: er mußte sich rächen! Plötzlich zuckte er zusammen. Wer war das, der da aus einer Haustüre trat? War das nicht ein alter Bekannter? Aber natürlich, das war doch der dicke Junge, der beste Freund Jan Helmers… Erling hieß er… ja, bestimmt war er es. Als Erling sein Fahrrad bestieg, schlüpfte Katz schnell in einen Hausgang, um sich zu verstecken. Dann aber entschloß er sich, das Schicksal herauszufordern. Er trat ruhig auf die Straße hinaus, so daß Erling ihn im Vorüberfahren sehen mußte. Nun würde es sich zeigen, ob seine Tarnung ihn schützte oder nicht. Sie tat es. Erling warf ihm nur einen flüchtigen Blick zu; man merkte sogleich, daß er seinen früheren Gegner nicht wiedererkannte. Die Haarfarbe und die Hornbrille taten also ihre Schuldigkeit. -33-
Als Erling um die nächste Straßenecke bog, nahm Katz das Papier mit Jans Adresse aus der Tasche, zerknüllte es und warf es in den Rinnstein. Er brauchte den Zettel nicht mehr, denn er kannte das Haus. Erling hatte es soeben verlassen. Nachdem Katz noch einen letzten Blick auf die Haustür geworfen hatte, schlenderte er zum Österport-Bahnhof. – In Gedanken spielte er mit allen möglichen Racheplänen, nur wußte er im Augenblick noch nicht, wie er sie durchführen sollte. Er wollte keinen der anderen Spione als Helfer haben, da es sich ja um eine private Angelegenheit handelte. Außerdem hätte ein Helfer plaudern können. Dann kam die Sache vielleicht dem Chef zu Ohren, und das würde gefährlich sein. Der Gedanke daran ließ Katz neuerdings grübeln. Es war ziemlich sicher, daß er nicht allein in Kopenhagen gelandet war, sondern daß sich noch irgendeine andere, dem Chef nahestehende Person in der Stadt befand. Es geschah oft, daß der schlaue Samuel Walther seine Leute überwachen ließ, ohne daß der Betreffende ahnte, daß er unter Kontrolle stand. Auf diese Weise behielt Walther seine Leute immer in der Hand, und das war bei seiner weitverzweigten Organisation sehr wichtig. Katz wußte sehr wohl, daß er als einer der engsten Vertrauten des Chefs galt… vielleicht war er sogar sein wicht igster Mitarbeiter. Dennoch oder gerade deshalb war es sehr wohl möglich, daß der Chef ihn beschatten ließ. Wie wäre es sonst möglich, daß Samuel Walther von seinem Grenzübergang bei Padborg sogleich erfahren hatte? Unwillkürlich warf Katz einen hastigen Blick um sich, um festzustellen, ob er verfolgt wurde; aber er sah nur friedliche Fußgänger, die gewiß keinen Gedanken an ihn verschwendeten. Nein, jetzt mußte er sich zusammenreißen, er begann ja schon am hellichten Tag Gespenster zu sehen. Der Chef saß schließlich ziemlich weit weg in Hamburg… und allwissend war er nun doch nicht. -34-
Als Katz das Haus in der Store Kongensgade erreichte, sah er sich nochmals nach einem Verfolger um und stieg dann die Treppen zum Oberstock hinauf. Einar schloß die Tür auf, und Katz fragte kurz angebunden: «Was Neues?» «Nein.» «Wann kommen die Leute zur Berichterstattung?» «Um siebzehn Uhr.» Katz warf einen Blick auf seine Armbanduhr. «In einer knappen Stunde also? Dann habe ich ja noch Zeit, eine Kleinigkeit zu essen. Heute abend habe ich viel zu tun.» «Was Wichtiges?» Der Meisterspion betrachtete seinen Untergebenen mit überlegener Miene. Dann gab er kühl zur Antwort: «Darüber werde ich dich schon unterrichten, wenn ich es für nötig halte. Mir scheint, du stellst oft recht überflüssige Fragen. Halt lieber den Mund und mach mir was zu essen.» «Jawohl.» Einar ging rasch in die Küche. Katz betrat sein Zimmer und setzte sich befriedigt hin. Einar mußte ab und zu geduckt werden. Es dauerte aber nicht lange, bis sich seine Miene wieder verfinsterte. Plötzlich fiel ihm ein, daß er ja vom Chef den Befehl bekommen hatte, zu erklären, warum er die Grenze bei Padborg überschritten hatte. Was sollte er da bloß schreiben? Am besten wäre es wohl, wenn er schrieb, daß er bloß hatte feststellen wollen, ob seine Verkleidung ihn wirklich schützte. Ob der Chef sich damit zufriedengeben würde? Nein, wahrscheinlich nicht. Im Gegenteil, denn wenn man ihn in Padborg erkannt hätte, wäre er ja sogleich verhaftet worden. Mit einem gereizten Knurren trat Katz gegen den nächststehenden Stuhl. Zum Teufel! Samuel Walther erfuhr doch wirklich alles zwischen Himmel und Erde! -35-
Als es an der Tür klingelte, richtete er sich plötzlich auf. Das war nicht das übliche Klingelzeichen seiner Leute, sondern ein langes Läuten. Wer konnte das sein? Unwillkürlich griff er nach seiner Pistole, die er in einem Schulterhalfter trug. Aber dann hörte er Einar ganz ruhig ein paar Worte sprechen. Gleich darauf kam er mit einem Brief herein, der an den Verkaufschef Heinrich Müller adressiert war. Katz riß den Brief schnell auf und fiel beinahe hintenüber vor Verblüffung, als er folgendes las: «Bevor Sie Hamburg verließen, befahl ich Ihnen, sich in jeder Beziehung genau an meine Anordnungen zu halten. Schon bei der Ausreise aus Deutschland übertraten Sie diese Weisung. Heute nachmittag geschah dies wiederum, als Sie sich in die Nähe von Jan Helmers Wohnung begaben. Betrachten Sie dies als letzte Warnung. Sollten Sie meine Befehle noch einmal übertreten, dann haben Sie sich die Folgen zuzuschreiben. Verbrennen Sie diesen Brief sofort, nachdem Sie ihn gelesen haben. Der Chef.»
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FÜNFTES KAPITEL Während Paul Katz auf der Straße stand und das Haus betrachtete, in dem Jan wohnte, schwebte unser Freund in glücklicher Unwissenheit über die Gefahr, die ihm drohte. An Katz dachte er überhaupt nicht. Zwar hatte er vor einiger Zeit die Zeitungsberichte über die dramatische Flucht des Spions gelesen und mit seinem Vater darüber gesprochen, aber er verlor keinen Gedanken an die Möglichkeit, daß Katz so dreist sein könne, nach Kopenhagen zurückzukehren. Jan und Erling unterhielten sich gerade, während Boy zu ihren Füßen auf dem Boden lag. Nur einmal beugte Jan sich zu ihm hinunter und streichelte seinen Kopf. «Ja, alter Freund, du langweilst dich wohl gehörig. Es ist schon lange her, daß du bei einer spannenden Aufgabe helfen durftest. Wenn das so weitergeht, wirst du noch alles verlernen.» Boy sprang sogleich auf und wedelte erwartungsvoll mit seiner buschigen Rute. Aber Jan fuhr lächelnd fort: «O nein, Boy. Im Augenblick gibt es nichts zu tun. Wir müssen unser trauriges Schicksal hinnehmen – du und ich. Aber Erling ist mit unserem friedlichen Leben höchst zufrieden.» «Ganz gewiß, lieber Freund», warf Erling ein. «Mir paßt es ganz gut, daß wir nicht dauernd mit heraushängender Zunge jemandem nachhetzen müssen. Das ist ja auch wirklich kein normales Leben für einen friedlichen Menschen wie Erling Krag. Hoffentlich bleibt es dabei. Toi, toi, toi!» Er klopfte dreimal auf die Tischplatte, nahm dann das letzte Stück Gebäck von der Kuchenplatte, die vor ihm stand und fügte hinzu: «Nun, die Pflicht ruft. Ich mache mich jetzt auf den Heimweg und sage danke schön für heute. Die Schulaufgaben…» «Und das Abendessen!» warf Jan lachend ein. -37-
Erling nickte. «Jawohl, auch das Abendessen, lieber Freund. Meine Mutter hat mir eines meiner Lieblingsgerichte in Aussicht gestellt, und man soll seine Mutter nicht unnötig ärgern.» In der Diele nahm Jan Abschied von seinem Freund und ging dann in sein Zimmer zurück. Er trat zum Fenster, um Erling nachzuwinken, aber kaum hatte er einen Blick aus dem Fenster geworfen, überfiel ihn ein sonderbares Gefühl. Es schien ihm, als sei der Mann, der da auf der gegenüberliegenden Seite der Straße stand und das Haus anstarrte, kein Unbekannter. Wer konnte das sein? Es war ein sehr gut angezogener Mann mit hellblondem Haar und einer großen Hornbrille. Nein, den kannte er nicht. Trotzdem – irgend etwas erinnerte ihn an irgend jemand, mit dem er einmal zu tun gehabt hatte. Unwillkürlich verzog sich Jan hinter die Gardine und beobachtete den Mann. In diesem Augenblick trat Erling auf die Straße, und Jan sah, wie sich der Mann schnell in einen Hausgang zurückzog. War das ein Zufall, oder wollte sich der Mann vor Erling verstecken? Nein, jetzt trat er ja wieder auf die Straße, und Erling fuhr auf seinem Rad direkt an ihm vorbei. Man merkte ganz deutlich, daß Erling ihn nicht kannte. Jan zweifelte an sich selber. Er konnte den Gedanken nicht loswerden, daß er den Fremden kannte; gleichzeitig sagte er sich, daß es ein Irrtum sein müsse. Erling bog um die Straßenecke, und der Mann zog einen Zettel aus der Tasche, zerknüllte ihn und ließ ihn fallen. Dann warf er einen letzten Blick auf das Haus und wandte sich langsamen Schrittes dem Österport-Bahnhof zu. Plötzlich zuckte Jan zusammen. Verflixt, der Mann ging ja -38-
genau wie… ja, wie Paul Katz… Er zog das rechte Bein nach… Wirklich erstaunlich, wie ähnlich der Gang dem des Meisterspions war… Die Größe und die Statur stimmten auch… eine verblüffende Ähnlichkeit, bis auf die Haarfarbe und die Brille. Konnte das Katz sein? Natürlich! Der Kerl hätte sich ja die Haare färben lassen können, und sich eine Brille auf die Nase zu setzen, war auch keine Kunst. Aber was in aller Welt hatte der Spion hier in Kopenhagen zu suche n? Und ausgerechnet in dieser Straße? Erneut ärgerte sich Jan über sich selber. Er nahm ja tatsächlich an, es handle sich um Paul Katz, der doch nach Deutschland entflohen war. Immerhin, die Möglichkeit bestand. Katz war frech genug, zurückzukommen. Das mußte unter allen Umständen näher untersucht werden. Aber wie? Er konnte dem Mann nicht einfach folgen, denn wenn es wirklich Paul Katz sein sollte und er sich umdrehte… nun, dann war vielleicht alles verdorben. Der Zettel, den der Mann weggeworfen hatte! Die Idee traf Jan wie ein Blitz, und er wandte sich schnell an Boy: «Jetzt hast du eine Gelegenheit, zu zeigen, Boy, ob du noch immer ein kluger Hund bist und eine Spur verfolgen kannst.» Boy sprang an ihm hoch; er zeigte deutlich, daß er Jan verstanden hatte. Seine Ohren stellten sich auf, und der große Schwanz wedelte erwartungsvoll. Als wolle er seinen jungen Herrn anfeuern, ließ er ein kurzes Kläffen ertönen. «Komm, Boy!» Jan eilte in die Diele hinaus und war Sekunden später auf der Treppe; der Schäferhund folgte ihm begeistert. Auf der Straße war der Mann nicht mehr zu sehen. Jan rannte über die Straße und fand sofort das kleine Stück Papier, das der Mann zerknüllt und in den Rinnstein geworfen hatte. Er glättete es und las seinen eigenen Namen und die Ad resse. Jetzt bestand -39-
für ihn kein Zweifel mehr. Es mußte Paul Katz sein, der wieder sein Unwesen in Kopenhagen trieb. Denn alles paßte recht gut zusammen: die Größe und die Figur des Mannes, seine Art zu gehen und sein seltsames Benehmen, als Erling auftauchte… Dazu jetzt noch dieser Zettel. «Boy!» rief Jan und hielt dem Hund den Zettel vor die Nase. «Dem Mann nach!» Boy schnupperte nur kurz und begann dann auf dem Gehsteig zu wittern. Kurz danach hob er den Kopf und schaute Jan an, als wolle er sagen: «Wir können anfangen, ich habe die Spur.» «Gut, Boy… dem Mann nach!» Der tüchtige Polizeihund war so eifrig, daß er sogleich mit gesenkter Nase zu rennen begann, aber Jan befahl: «Langsam, Boy, langsam!» Dann ging es in gleichmäßigem Tempo zum ÖsterportBahnho f. Hier schlug der Hund ohne Zögern die Richtung zur östlichen Anlage ein, lief über den Viadukt und an den niedrigen gelben Häusern entlang. Keinen Augenblick war er im Zweifel über die Spur, die er verfolgen mußte. Hie und da blieb er stehen, um sich zu versichern, daß sein junger Herr ihm folgte. Jan feuerte ihn jeweils ermunternd an: « Gut, Boy… vorwärts!» Und so ging es weiter durch die Store Kongensgade, bis Boy plötzlich vor einer Haustür anhielt. Er schnupperte etwas herum, um festzustellen, ob die Fährte weiterging; da dies nicht der Fall war, blieb er stehen und schaute Jan abwartend an. «Ist er hier hineingegangen, Boy?» fragte Jan lächelnd. «Wau!» gab der kluge Hund zur Antwort. Und Jan nahm dies als bejahende Antwort an. Er musterte das Haus. Es war alt, hatte aber sicher einmal bessere Tage gesehen. Jetzt befanden sich im Parterre Läden, und der einzige Eingang schien ein wenig verwahrlost zu sein. Was tun? -40-
Jan blieb stehen und überlegte. Daß Katz das Haus betreten hatte, stand fest. Boy irrte sich in solchen Fällen nie. Aber wohnte der Mann hier, oder machte er nur einen kurzen Besuch bei einem der Bewohner? Ob er lieber seinen Vater gleich anrufen sollte? Sicher war das am gescheitesten… aber was, wenn Katz in der Zwischenzeit verschwand? Jan schaute sich um, ob sich nicht ein Polizist blicken ließ, dem er alles erklären konnte – aber er sah nirgends eine Uniform. Da faßte er einen schnellen Entschluß, befahl Boy, zu warten, und trat in einen der Läden. Hinter dem Ladentisch stand ein Mann mittleren Alters in weißem Kittel, und Jan begann zu erklären: «Bitte, entschuldigen Sie vielmals, daß ich Sie störe, aber es ist ziemlich wichtig. Ich muß einem deutschen Herrn, der hier im Haus wohnen soll, etwas ausrichten; leider habe ich vergessen, wie er heißt… hm… und ich weiß auch nicht, in welchem Stock er wohnt. Könnten Sie mir vielleicht helfen?» «Ein deutscher Herr?» wiederholte der Mann und betrachtete Jan erstaunt. «Ich weiß nicht, ob ich dir da helfen kann. Ich kenne alle Bewohner des Hauses. Es sind nette und achtbare Leute, lauter Dänen, die schon lange hier wohnen. Aber im obersten Stock gibt es einen Mann, der oft Besuch erhält… seltsame Leute.» «Seltsam?» fragte Jan gespannt. Der Mann nickte. «Ja. Ich weiß nicht, wer sie sind, und was sie treiben. Ich sehe bloß, daß gegen Abend häufig viele Leute hinaufgehen… und einige von ihnen sprechen Deutsch…» «Vielen Dank», sagte Jan höflich. «Dann versuche ich es da oben.» «Ob das ratsam ist?» fragte der Verkäufer und machte ein bedenkliches Gesicht. «Weißt du, was ich glaube?» -41-
«Nein, was denn?» «Ich glaube, daß der Mann im Oberstock eine Spielhölle betreibt», flüsterte der Ladenbesitzer. «Das ist natürlich nur eine persönliche Annahme von mir, aber es würde mich gar nicht wundern, wenn es so wäre. Man liest so viel über Spielhöllen, die von der Polizei ausgehoben werden. Kürzlich gelang das gar nicht weit von hier. Das Haus ist zwar ordentlich und der Besitzer achtbar. Aber ich kann mir die vielen Besucher im Oberstock, die immer nur am Abend kommen, nicht anders erklären.» «Kann gut sein, daß es stimmt», gab Jan zurück. Er wollte gern so schnell wie möglich weg, anderseits aber nicht unhöflich sein. «Ich muß, wie gesagt, nur etwas ausrichten und werde jetzt im obersten Stock versuchen, den deutschen Herrn zu finden. Vielen Dank für Ihre Auskunft. Auf Wiedersehen!» «Auf Wiedersehen, junger Mann. Sieh nur zu, daß du nicht in schlechte Gesellschaft gerätst.» Jan lächelte freundlich. «Nein, ich werde gut aufpassen.» Auf der Straße blieb er stehen und überlegte. Es war sehr wahrscheinlich, daß Paul Katz sich im obersten Stockwerk des Hauses aufhielt, aber sicher war es besser, die Angelegenheit näher zu untersuchen, bevor er sich an einen Polizisten oder an seinen Vater wandte. Es wäre ja nicht übel, wenn er seinen Vater anrufen und ihm sagen könnte: «Hör zu, Vater, schicke bitte gleich einen Funkstreifenwagen in die Store Kongensgade Nummer so- und-so; dann könnt ihr den entflohenen Paul Katz und einige seiner Leute fangen!» Das wäre natürlich ein großer Triumph! Er trat ein wenig zurück und betrachtete das Nachbarhaus. Wenn er eine nähere Untersuchung vornehmen wollte, mußte er sich gewiß an dieses Haus halten und es von dort aus versuchen. Das Risiko, im gleichen Haus einfach die Treppen hinaufzugehen, war zu groß. Er würde wahrscheinlich Paul Katz -42-
oder seinen Kumpanen gleich in die Hände fallen. «Leg dich, Boy », befahl Jan. «Warte auf mich!» Der kluge Hund stieß ein leises «Wuff» aus und legte sich neben der Haustür hin. Er hatte den Befehl genau verstanden. Jan betrat sogleich das Nachbarhaus und eilte die Treppen hinauf. Er hatte festgestellt, daß die beiden Häuser fast gleich hoch waren und jetzt… ja, nun mußte er zusehen, ob sich droben eine Gelegenheit ergab, weiterzukommen. Als er am obersten Treppenabsatz angelangt war, klopfte sein Herz schneller als sonst. Von diesem Absatz führte eine schmale Treppe zu einem Dachraum, der wohl als Trockenboden diente. Jan horchte einen Augenblick mit angehaltenem Atem; dann schlich er die Stufen geräuschlos wie eine Katze hinauf. Kurz darauf stand er auf dem Trockenboden, wo Wäscheleinen unter den Dachbalken aufgespannt waren. Die Nachmittagssonne fiel in staubgefüllten Streifen durch die Dachluken, und die Luft war seltsam warm und drückend. Es schien Jan, als atme er aufgewärmten Staub ein. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute durch eine der Dachluken hinaus. Im Nachbarhaus standen die Fenster des obersten Stockwerks weit offen. Das mußte die Wohnung sein, von welcher der Ladenbesitzer gesprochen hatte. Und sehr wahrscheinlich befand sich Katz in diesem Augenblick dort! Das mußte stimmen, denn Boy irrte sich nie! Ohne Zögern war er der Spur bis zur Haustür gefolgt. Jan wußte nicht genau, was er jetzt unternehmen sollte. Er wog alle Möglichkeiten gegeneinander ab. Dann zog er sich an der Dachluke hoch und betrachtete das Dach. Unterhalb der Luke befand sich ein ziemlich schmaler Absatz, der bis zur Brandmauer des Nachbarhauses führte. Die Brandmauer zu erreichen, würde nicht schwierig sein. Aber was dann? Er sah eine Dachrinne, die an den offenen Fenstern vorbeiführte, aber man konnte sich gewiß nicht allzusehr auf die Tragfähigkeit der Dachrinnen in so alten Häusern verlassen. Es wäre nicht gerade angenehm, wenn sie abbrach und mit Jan Helmer in den Hof -43-
hinunter stürzte. Ein Mensch würde diesen Sturz sicher nicht überleben. Das Risiko war jedenfalls groß… aber warum, zum Teufel, war er dann erst hier hinaufgestiegen? Der Gedanke war gewesen, daß er erst ganz sichergehen wollte, ehe er seinen Vater verständigte. «Sollst du es wagen, Jan Helmer?» Fast unbewußt hatte sich Jan diese Frage mit halblauter Stimme gestellt – und er zögerte nicht lange mit der Antwort: «Ja, Jan, du mußt!» In seinem Innersten allerdings flüsterte eine Stimme Jan etwas zu – es war die Stimme des Kriminalkommissars Helmer – und sie sagte, daß ein junger Mensch eben dabei war, eine allzu große Gefahr auf sich zu nehmen. Jan wollte dieser Stimme nicht weiter zuhören. Jetzt hatte ihn die Freude an dem Abenteuer ergriffen, und er vergaß alles andere. Dies war doch endlich wieder einmal ein spannendes Erlebnis! Geschickt zog er sich ganz hoch und kroch durch die Dachluke hinaus. Kurz darauf schien es ihm, als gebe das Dach unter seinen Füßen nach. Vorsichtig probierte er aus, ob der schmale Absatz unterhalb der Luke stabil genug war. Es schien so, und so begab sich Jan Helmer in das bisher gefährlichste Abenteuer seines Lebens.
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SECHSTES KAPITEL Die Hände auf die roten, verwitterten Dachziegel gestützt, kroch Jan vorsichtig auf die Brandmauer zu. Sorgsam vermied er, einen Blick in den Hof hinunterzuwerfen, der wie eine tiefe Schlucht unter ihm lag. Eigentlich rechnete er nicht damit, schwindlig zu werden, aber warum ein unnötiges Risiko auf sich nehmen. Die Gefahr war sowieso schon groß genug. Als er die Brandmauer erreicht hatte, gönnte er sich eine Ruhepause und dachte über seine Lage nach. Wenn die Dachrinne des Nachbarhauses stabil genug war, konnte er die offenstehenden Fenster rasch erreichen… aber war sie wirklich stabil? Nun, diese Frage konnte man natürlich erst beantworten, wenn man es versucht hatte. Er lauschte, und es schien ihm, als höre er murmelnde Stimmen hinter den Fenstern. Es konnte sehr aufschlußreich sein, dem Gespräch zuzuhören. «Also gut», sagte Jan zu sich selber. «Du wirst es versuchen.» Und das tat er. Die Dachrinne schwankte etwas, als er entlangkroch, und hier und da knackte es auch, aber sie schien doch aus gutem Material zu sein. Eine Minute später lag Jan nahe bei dem ersten offenstehenden Fenster. Er drückte sich flach gegen die schrägen Dachziegel und horchte. Die Stimmen waren jetzt deutlich zu hören. Zwei Männer unterhielten sich. Der eine sprach Dänisch mit einem waschechten Kopenhagener Akzent, der andere sprach es gebrochen. Als Jan die zweite Stimme vernahm, zuckte er zusammen. Jetzt bestand gar kein Zweifel mehr: Paul Katz war der Sprecher. Die Stimme war nicht zu verkennen. Über was sprachen sie? -45-
Obwohl Jan mit angehaltenem Atem lauschte, konnte er nur Bruchstücke verstehen, denn die Männer befanden sich offenbar in dem Raum, der hinter dem zweiten offenstehenden Fenster lag. Sollte er es wagen, dorthin zu kriechen. Natürlich… da er sich nun schon so weit vorgewagt hatte. Vorsichtig streckte er den Kopf vor und spähte in das Zimmer hinein, neben dem er lag. Es war leer. Dann kroch er weiter, an dem offenen Fenster vorbei. Hoffentlich betrat nicht gerade jemand das leere Zimmer. Das würde schlimm für ihn sein. Aber alles ging gut. Einige Minuten später befand er sich kurz vor dem nächsten Fenster und konnte jetzt dem Gespräch der beiden Männer mühelos folgen. Katz sagte gerade: «Jetzt kann es nicht mehr lange dauern, bis die Leute kommen, Einar. Hast du für Getränke gesorgt?» «Ja, wie üblich», gab Einar zur Antwort. «Wird es eine längere Besprechung?» «Das kommt auf die Berichte an. Glaubst du, daß die Wohnung immer noch sicher ist?» «Sicher? Was meinst du damit?» «Hast du dir das nie überlegt, du Dummkopf? Ich halte es nicht für gut, den gleichen Unterschlupf längere Zeit zu benutzen. Die Hausbewohner könnten mißtrauisch werden. Vielleicht ist es besser, wenn wir eine Zeitlang von hier verschwinden und die Wohnung in der Svärtegade benützen. Kennst du die Bewohner in diesem Haus?» «Nein, ich grüße sie nur im Treppenhaus.» «Hm! Man kann nie vorsichtig genug sein. Ich denke, wir ziehen um.» «Gut, wird gemacht. Ich werde morgen früh gleich in die Svärtegade gehen und sehen, ob dort alles in Ordnung ist.» -46-
Jan hörte eine Klingel läuten, und die Männer im Zimmer verstummten. Kurz darauf betraten mehrere Leute den Raum und begrüßten Katz. Die Stimme des Spions klang überlegen und herrisch, deutlich kam darin zum Ausdruck, daß diese Männer seinem Befehl unterstanden. Ein äußerst unangenehmer Gedanke überkam Jan plötzlich. Bisher hatte er gar nicht darüber nachgedacht, warum Katz eine Stunde vorher in der Österbro gewesen war und das Haus, in dem Jan wohnte, betrachtet hatte. Dafür gab es sicher nur einen einzigen Grund: Der Schuft bespitzelte ihn, weil er sich rächen wollte! Es würde gewiß nicht angenehm werden, wenn Katz jetzt aus irgendeinem Grund den Kopf zum Fenster hinaussteckte und sah, daß sein Feind ihn belauerte… brrr, der Gedanke war höchst unerfreulich. Einen Augenblick lang wollte Jan sich zurückziehen und die Kriminalpolizei alarmieren, aber dann packte ihn wieder die Abenteuerlust, und seine Neugier gewann die Oberhand. Nein, er wollte noch ein wenig horchen, um festzustellen, was Katz plante. Sicher wurde hier eine neue Teufelei ausgeheckt. Plötzlich ertönte Katz’ harte Stimme: «Schließ die Fenster, Einar!» «Jawohl! Alle?» «Ja.» Jan drückte sich noch enger an das schräge Dach und wagte kaum Atem zu holen. Wenn dieser Einar jetzt bloß nicht auf den Gedanken kam, seinen Kopf zum Fenster hinauszustecken! Dann wäre alles vorbei! Der Mann konnte unmöglich übersehen, daß jemand auf dem Dach lag! Als die nächstliegenden Fenster geschlossen wurden, wagte Jan nicht den Kopf zu wenden. Dann vergingen einige Sekunden; jetzt würde dieser Einar wohl die Fenster des Zimmers schließen, vor dem Jan zuerst gelegen hatte. Aber es kam nicht soweit, denn eine laute erstaunte Stimme rief: «Was -47-
in aller Welt…», um nach einer kurzen Pause in aufgeregtem Ton fortzufahren: «Hallo, Katz! auf dem Dach liegt ein Bursche!» «Was?» brüllte Katz. «Ja, ja, tatsächlich, komm und schau selber nach.» Jan erstarrte vor Schreck, aber sein Gehirn arbeitete dennoch blitzschnell. Er befand sich in einer äußerst gefährlichen Lage. Schlimm genug, daß er entdeckt worden war, aber noch schlimmer war es, daß ihm der Rückweg zum Nachbarhaus abgeschnitten war. Er konnte nun unmöglich an dem Fenster vorbeikommen, wo dieser Einar bereitstand! Was sollte er bloß tun? Hastig sah er sich um. Wenn es ihm gelang, die nur wenige Meter entfernte, in gleicher Höhe verlaufende Dachrinne des anderen Nachbarhauses zu erreichen, konnte er von dort aus zum Dachfirst emporsteigen und sich so dem Zugriff der Feinde entziehen. Es würde zwar lebensgefährlich sein, über den schmalen Dachfirst zu balancieren, der sonst nur vom Schornsteinfeger benutzt wurde, aber einen anderen Ausweg gab es nicht. Da ertönte Katz’ harte Stimme. «Oh, das ist der verfluchte Jan Helmer… der darf uns nicht entkommen!» Jetzt handelte Jan schnell. Es galt, am nächsten Fenster vorbeizukommen, bevor es wieder geöffnet wurde; denn wenn das der Fall war, hatten sie ihn wie eine Ratte in der Falle: auf einer Dachrinne balancierend zwischen zwei Fenstern! Jan war kaum an dem geschlossenen Fenster vorbeigekrochen, als es aufgerissen wurde und er einen Chor erregter Stimmen vernahm. Die Dachrinne knackte unter ihm, während er weiterkroch, sich dann halb aufrichtete und schnell zum Dachfirst des Nachbarhauses vorarbeitete. Jetzt hatte er sein Ziel erreicht! -48-
«Stehenbleiben!» erschallte die wütende Stimme des Spions. « Stehenbleiben, oder ich schieße!» Einen Augenblick fühlte Jan, wie es ihm eiskalt über den Rücken lief, aber dann begann sein Gehirn ruhig zu arbeiten. Zweifellos war Katz bewaffnet; sicher hatte er große Lust zu schießen… Aber die Frage war: Würde er es wagen? Nein! Schüsse zu dieser Tageszeit in dieser belebten Gegend würden die ganze Nachbarschaft alarmieren. Und die Polizei würde rasch zur Stelle sein. Das konnte Katz sich auf gar keinen Fall leisten. Jan warf einen schnellen Blick den Dachfirst entlang. Das Dach fiel auf beiden Seiten ziemlich steil ab, und bis zum nächsten Schornstein waren es mindestens sieben bis acht Meter! Er nahm eine große Gefahr auf sich… aber was sollte er sonst tun? Zurück konnte er auf keinen Fall. Unterhalb des Schornsteins befand sich eine offenstehende Dachluke, und Jan war sicher, daß er leicht durch diese Luke steigen konnte, wenn er bloß den Schornstein wohlbehalten erreichte. Würde ihm das gelingen? Hätte er sich dem Erdboden nahe befunden, wäre ihm dieser Balanceakt als Spiel erschienen, denn schließlich war er beim Turnen oft über schmale Balken gelaufen, sogar mit geschlossenen Augen. Aber er befand sich auf dem Dach eines fünfstöckigen Hauses! Schon der Gedanke daran ließ den sonst unerschrockenen Jan erschauern. Leider blieb ihm keine Wahl. «Stehenbleiben oder ich schieße», brüllte Katz nochmals. Jetzt handelte Jan. Er zog sich hoch, trat schnell auf den Dachfirst hinaus und lief dann geschwind auf den Schornstein zu. Hinter ihm knallte kein Schuß, und die erregten Stimmen verstummten. -49-
Er seufzte auf vor Erleichterung, als er den Schornstein wohlbehalten erreicht hatte und sich durch die offene Dachluke gleiten ließ. Kurz darauf stand er mit einem Sprung zum zweitenmal an diesem Tag auf einem Trockenboden. Was Katz und seine Kumpane jetzt wohl tun würden? Sicher würden sie versuchen, ihn unten im Haus zu erwischen. Oder… ja, vielleicht hielten sie es für ratsamer, davonzulaufen. Jan konnte sein Herz klopfen hören, während er zu der Tür eilte, die zum Treppenhaus führte. Glücklicherweise war sie nicht verschlossen, und er sprang mit großen Schritten die Stufen hinunter. Auf dem ersten Absatz blieb er stehen und horchte; kein Laut war zu hören. Ob Katz tatsächlich aufgegeben hatte? Das sah ihm nicht ähnlich; sicher war es besser, kein weiteres Risiko einzugehen. Jan klingelte schnell an der nächstliegenden Wohnungstür, die bald darauf von einem jungen rotbärtigen Herrn in einer Samtjacke, zerknautschten Hosen und mit einem Malerpinsel in der Hand geöffnet wurde. Jan war sich gleich darüber im klaren, daß es ein Kunstmaler war. «Hallo», rief der Maler. «Was möchtest du?» «Entschuldigen Sie bitte! Haben Sie ein Telefon, das ich benützen dürfte?» Der Maler lachte. «Ja, noch habe ich eines… aber morgen wird es stillgelegt, weil ich die Rechnung nicht bezahlt habe. Wenn du es benütze n willst, dann komm nur herein. Was ist passiert, mein Freund? Du siehst ein wenig erregt aus…» «Ich werde Ihnen gleich alles erklären. Lassen Sie mich nur zuerst meinen Vater im Polizeipräsidium anrufen. Es handelt sich um gefährliche Spione…» «Spione?» wiederholte der Maler belustigt. «So etwas, das klingt übel. Deine Phantasie geht doch wohl nicht mit dir durch?» -50-
«Nein! Nein!» gab Jan schnell zur Antwort. «Was ich sage, stimmt.» Der Maler nickte. «Ja, man sieht es dir beinahe an, junger Mann. Also, rein mit dir.» «Vielen Dank.» Jan trat schnell ins Atelier, wo ein grausiges Durcheinander herrschte. Längs der Wände reihten sich viele Gemälde, alle ungerahmt, und auf der Staffelei stand ein großer Blendrahmen mit einer Leinwand, die erst wenige Pinselstriche aufwies. Ein Winkel wurde von einer unaufgeräumten Schlafcouch eingenommen; auf einem kleinen Tisch stand eine leere Flasche und ein Teller mit Speiseresten. Der Kunstmaler deutete in eine Ecke, wo sich das Telefon auf dem Boden befand. «Leider wirst du dich auf den Boden setzen müssen, wenn du telefonieren willst… aber das macht dir wohl nichts aus?» «Vielen Dank.» Jan setzte sich hin, griff nach dem Hörer und verlangte Central 1448. Als das Polizeipräsidium sich meldete, bat er, ihn mit Kommissar Helmer zu verbinden. Kurz darauf hörte er seinen Vater sprechen. «Hallo, Jan, was ist los?» fragte der Kriminalkommissar. Ein wenig stockend begann Jan: «Paul Katz ist in Kopenhagen, Vater, und ich habe ihn gesehen…» «Katz?» unterbrach ihn der Vater. «Der entflo hene Spion? Sag mal, Jan, du siehst wohl nicht am hellichten Tag Gespenster?» «Ganz bestimmt nicht, Vater. Hör bitte zu.» Dann erklärte Jan kurz, was geschehen war. Als er fertig war, sagte der Vater nur: «In Ordnung, Jan, wir kommen sofort! Wo bist du jetzt?» «Bei einem Kunstmaler im Nachbarhaus.» «Bleib dort, bis wir kommen. Katz ist gefährlich, und du zeigst -51-
dich vorerst am besten nicht mehr auf der Straße.» «Ich warte hier, Vater.» «Gut, mein Junge. Auf Wiedersehen.» Als Jan den Hörer aufgelegt hatte, meinte der junge Kunstmaler lächelnd: «Hör mal, du scheinst ja ein Tausendsasa zu sein, hm? Wohl schon ein richtiger Detektiv?» «Nein», entgegnete Jan etwas befangen, «ich bin nicht anders als die ändern. Ich bin nur zufällig in eine ziemlich abenteuerliche Sache hineingeraten.» «Ich verstehe», sagte der Maler. «Welch ein Glück, daß du aufgetaucht bist, während mein Telefon noch funktionierte.» Jan lachte ihn an. «Vielleicht schlagen Sie doch noch ein Gemälde los, damit Sie die Telefonrechnung bezahlen könne n.» «Ach, lieber Freund», seufzte der Maler. «Du verstehst nicht, worum es geht. Du mußt wissen, daß man hier in Dänemark als Kunstmaler kaum leben kann. Vor einem Monat hatte ich so viele Kröten zusammengekratzt, daß ich eine Ausstellung machen konnte, aber dort habe ich nur ein einziges Bild verkauft… und das an einen Delikatessenhändler. Für die Hälfte des Preises mußte ich ihm Schlackwürste abnehmen.» Der junge Maler warf einen Blick auf die Speisereste und rülpste vor Unbehagen. «Inzwischen habe ich einen ganzen Monat von Schlackwürsten und Brot gelebt; auf so lange Zeit bekommt einem das nicht gerade gut.» Unten auf der Straße bremsten scharf einige Wagen. Jan horchte auf und sagte: «Das sind die Streifenwagen der Polizei. Ich möchte mich jetzt vielmals für Ihre Freundlichkeit bedanken. Vielleicht kann ich meinen Vater dazu überreden, Ihnen ein Bild abzukaufen… vielleicht schon morgen, bevor das Telefon gesperrt wird.» «Das wäre prima.» Der Künstler lächelte. «Aber eines sage ich -52-
dir: Ich nehme um keine n Preis mehr Wurst in Zahlung.» «Geht in Ordnung», rief Jan. Dann lief er die Treppen hinunter.
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SIEBENTES KAPITEL Als Jan auf die Straße trat, war sein Vater der erste, den er erblickte. Kommissar Helmer war an der Spitze einer großen Mannschaft angekommen und schon dabei, die nötigen Befehle zu erteilen. Ein Teil der Beamten wurde zur Haustreppe beordert, während die andern auf dem Hof und auf der Straße Posten bezogen. Helmer sagte lächelnd: «Nun, Jan, da hätten wir den Burschen ja wohl wieder, nicht wahr? Du hast dich doch hoffentlich nicht geirrt, ich meine, was Katz angeht?» «Bestimmt nicht, Vater. Am Anfang zweifelte ich noch, aber jetzt bin ich ganz sicher. Obendrein hörte ich, daß einer der Spione Katz beim Namen nannte. Dabei glaube ich doch bestimmt, daß er jetzt ganz anders heißt. Er kann doch nur mit einem falschen Paß über die Grenze gekommen sein. Meinst du nicht auch?» «Doch, das wird wohl stimmen.» Helmer wurde von Boy unterbrochen, der seinen jungen Herrn begeistert ansprang, um ihn zu begrüßen. Der treue Hund hatte befehlsgemäß vor dem Haus gewartet; jetzt war seine Wiedersehensfreude groß. «Bravo, Boy», rief Jan und streichelte den Kopf des Hundes. «Wie gut, dich wiederzusehen.» «Hör zu, Jan», sagte der Kommissar. «Warte hier unten, zusammen mit Boy. Ich gehe mit den Beamten hinauf.» «Darf ich nicht mit hinaufgehen, Vater?» «Nein, auf gar keinen Fall! Wahrscheinlich sind die Vögel schon ausgeflogen, aber wenn nicht, gibt es vielleicht eine Schießerei, und dabei können wir dich nicht brauchen. Ich komme zurück, sobald ich Bescheid weiß.» -54-
Der Kriminalkommissar verschwand in der Haustür, und Jan warf einen Blick in die Runde. In der verkehrsreichen Straße hatten die Streifenwagen große Aufmerksamkeit erregt; schon jetzt standen ein paar Dutzend Menschen herum und starrten das Haus an. Zwei Polizisten hatten größte Mühe, die Menge der Neugierigen in Abstand zu halten. Jan überlegte, ob wohl nur die Kopenhagener oder die Dänen im allgemeinen so unglaublich neugierig waren. Meist spielte eine solche Menschenansammlung ja keine Rolle, aber bei ernsten Vorfällen konnte sie sich als sehr unangenehm erweisen, denn die Neugierigen bildeten oft eine richtige Mauer, die die Rettungsmannschaft daran hinderte, einem Verunglückten Hilfe zu leisten oder zu einem Katastrophenort vorzudringen. Eigentlich war es scheußlich, wenn man daran dachte, daß Leute aus purer Neugier so gedankenlos sein konnten. Manchmal waren sie sogar imstande, sich gegenseitig halb tot zu drücken, nur um einen Menschen zu sehen, der im Straßenverkehr verletzt worden war. Und wenn eine Ambulanz vor einer Haustür hielt, mußte man immer damit rechnen, daß sich eine mehrfache Reihe von Leuten bildete, die von der Haustür bis zum Krankenwagen reichte, damit man nur ja einen Blick auf den Kranken werfen konnte, der ins Spital gebracht werden sollte. Widerlich war das! Der freundliche Ladenbesitzer war ebenfalls draußen. Er kam herbei und nickte Jan zu. «Jetzt bist du wohl der Mittelpunkt der Ereignisse geworden, nicht wahr? Hast du den deutschen Herrn im Oberstock erwischt?» Jan lächelte ein wenig. «Nein, und er hat mich auch nicht erwischt. Da oben stimmt sicher etwas nicht.» «Ja, da hast du wohl recht.» Der Mann nickte. «Vor zehn Minuten kam ein ganzer Schwarm die Treppe heruntergestürzt. Ich sah gerade noch, wie sie in Richtung zum Marmorplatz verschwanden. Die wußten bestimmt schon, daß die Polizei ihre Spielhölle ausheben wollte.» -55-
Er schwieg plötzlich und betrachtete Jan mit mißtrauischen Augen. Dann fuhr er in strengerem Ton fort: «Hör mal, junger Mann… du hast die Spieler doch wohl nicht gewarnt? » «Nein, keineswegs», sagte Jan lachend. «Der Kriminalkommissar, der diese Polizeiaktion anführt, ist mein Vater. Er durchsucht gerade mit seinen Leuten die Wohnung da oben. Wenn er herunterkommt, können Sie ihn fragen. Mein Vater möchte sicher noch einiges über die Männer hören, die das Haus verließen.» «Sind es gefährliche Verbrecher?» fragte der Mann gespannt und dämpfte unwillkürlich seine Stimme. «Da müssen Sie meinen Vater fragen », erwiderte Jan diplomatisch. Etwas später erschien Helmer mit einigen seiner Leute wieder auf der Straße. Es war natürlich so gewesen, wie der Kriminalkommissar es sich gedacht hatte: Katz und die andern Spione waren geflohen. Die Wohnung wurde jetzt durchsucht. Helmer klopfte Jan freundschaftlich auf die Schulter. «Eigentlich müßte ich dir gleichzeitig danken und dich tüchtig schelten, Jan. Es war ausgezeichnet von dir, daß du Katz erkannt hast und ihm zusammen mit Boy gefolgt bist, aber mehr hättest du auf eigene Faust nicht unternehmen sollen. Wenn du dann gleich die Polizei alarmiert hättest, wäre Katz nicht gewarnt worden, und wir hätten ihn jetzt in der Zange. Dein Anblick auf der Dachrinne hat ihn natürlich vorsichtig gemacht, und die Polizei wird es schwer haben, ihn zu finden.» Jan nickte etwas bedrückt. «Ich weiß das wohl, Vater, aber alles ging so entsetzlich schnell. Ich hätte die Kriminalpolizei übrigens gleich verständigt, wenn ich nur einen Polizisten gesehen hätte. Wäre ich selbst zu einer Telefonzelle gegangen, so hätte Katz das Haus inzwischen vielleicht verlassen.» «Ist schon gut, mein Junge.» Helmer lächelte. «Wir werden ihn schon wiederfinden. Hauptsache ist, daß wir über seine -56-
Anwesenheit in Kopenhagen Bescheid wissen.» Er wandte sich an den Ladenbesitzer im weißen Kittel, der vor Ungeduld hin und her trippelte: «Möchten Sie mit mir sprechen?» Der Mann nickte eifrig. «Ich habe es schon Ihrem Sohn gesagt. Vor zehn Minuten kam eine ganze Schar Männer aus der Haustür heraus und rannte zum Marmorplatz. Einige von ihnen habe ich erkannt… Es waren Leute, die den Mieter der obersten Wohnung oft besuchten.» «Wie viele waren es? » «Oh, so an die sieben oder acht…» «Sind sie alle zum Marmorplatz gerannt?» «Ja!» «Haben sie miteinander gesprochen?» «Ja, und sie waren sehr aufgeregt. Aber ich konnte nicht hören, was sie sagten. Es klang, als ob einer von ihnen Befehle gäbe. Es war ein großer, kräftiger Mann mit einer Hornbrille…» «Haben Sie den auch schon einmal gesehen?» «Nein, ich glaube nicht.» Helmer bedankte sich für die Auskunft und wandte sich seinen Leuten zu, um neue Anordnungen zu erteilen. Dann sagte er zu Jan: «Komm mit in einen Wagen, Jan, dann können wir weitersprechen. Ich muß alle Einzelheiten erfahren.» «Gut, Vater», sagte Jan. «Aber einen Augenblick noch. Da ist etwas, was du gleich wissen mußt. Als ich dort oben auf dem Dach lag, hörte ich, wie Katz einen Mann, den er Einar nannte, fragte, ob die Wohnung auch sicher sei. Dann fügte er hinzu, es sei vielleicht gescheiter, in ihr anderes Versteck umzuziehen. Dabei nannte er die Svärtegade.» «Die Svärtegade?» wiederholte Helmer erstaunt. «Donnerwetter! Bist du dessen sicher?» -57-
«Ja, bestimmt.» «Na, dann wollen wir dort mal suchen. Es wäre ja herrlich, wenn Katz uns selbst auf seine neue Spur gebracht hätte.» Helmer wandte sich an einen Oberwachtmeister und sprach mit gedämpfter Stimme zu ihm. Kurz darauf verschwand einer der Streifenwagen mit großer Geschwindigkeit. «So, nun komm mit, Jan», sagte der Kommissar. «Wir fahren nach Hause. Ich will einen Happen essen, bevor ich wieder ins Präsidium muß. Vermutlich erwartet mich eine arbeitsreiche Nacht. Die ganze Polizei ist in Alarmbereitschaft.» Jan saß vorne neben dem Vater, als sie nach Hause fuhren. «Nun erzähl mal der Reihe nach», forderte Helmer ihn auf. Und Jan berichtete sein Erlebnis mit allen Einzelheiten. Als er fertig war, nickte ihm der Vater zu. «Du bist wirklich ein erstklassiger Spürhund, mein Junge.» Jan drehte sich um; er streichelte Boy, der auf dem Rücksitz lag. «Boy ist noch tüchtiger, Vater. Er hat die Spur Schritt für Schritt verfolgt; ohne ihn hätte ich es niemals geschafft.» Boy winselte leise vor Freude und Wohlbehagen, denn er verstand genau, daß Jan ihn lobte. Wenn er jetzt nach Hause kam, erwartete ihn vielleicht ein leckerer Knochen. Ja, das Leben war wirklich lebenswert für einen gutdressierten Polizeihund! Helmer schwieg eine Weile, dann sagte er: «Wie üblich wollen wir Mutter nicht mehr sagen als unbedingt notwendig, mein Junge. Du weißt ja, daß sie immer Angst um dich hat. Und was sie nicht weiß, macht ihr nicht heiß…» «Natürlich, Vater.» «Gut, Jan. Und dann ist da noch etwas…» «Ja?» «Hm! Ich werde erst ganz beruhigt sein, wenn wir Katz hinter Schloß und Riegel haben. Seine Rückkehr nach Kopenhagen -58-
bedeutet sicher, daß er eine besonders wichtige Aufgabe zu erfüllen hat und eine neue Schurkerei plant. Aber, na ja, wir, wissen ja beide, daß er ein äußerst rachsüchtiger Kerl ist. Als er sich heute nachmittag vor unserem Haus aufhielt, überlegte er sich bestimmt einen Racheakt.» «Daran habe ich auch schon gedacht, Vater.» Helmer nickte. «Dann denke auch weiterhin daran, Jan. Du bist Katz jetzt schon wieder in die Quere gekommen; sein Haß gegen dich ist dadurch nur noch gesteigert worden. Er wird alles daransetzen, dir eins auszuwischen; du mußt also sehr vorsichtig sein. Gebrauche deine Augen und Ohren. Und sollte dir etwas verdächtig vorkommen, dann gib mir oder dem nächsten Polizisten sofort einen Wink. Weder du noch deine Freunde sollten sich auf irgend etwas Waghalsiges einlassen. Versprichst du mir das?» «Ja, Vater.» «Dann sind wir uns einig.» Als die Familie Helmer eine Viertelstunde später vor einem reich gedeckten Tisch saß, waren alle in bester Stimmung. Selbst die ängstliche Frau Helmer hatte nicht gemerkt, daß etwas Besonderes vorgefallen war. Sie war es gewöhnt, daß ihr Mann oft auch nachts arbeiten mußte. Als der Vater wieder gegangen war, nahm Jan Boy mit in die Küche, öffnete die Tür der Speisekammer und ließ seine Blicke über die Vorräte schweifen. Leider fand er keine Knochen, dafür aber eine Schüssel mit duftenden Frikadellen. Jan schielte zu dem erwartungsvoll dastehenden Boy hinüber und sagte: «Ja, mein Guter, stehlen ist eigentlich verboten, aber Not kennt kein Gebot. Wenn ich Mutter erst frage, ob ich dir ein paar Frikadellen geben darf, wird sie sofort Unheil wittern. Und dann wird sie nervös… und wenn sie nervös ist, kann sie nachts nicht schlafen… Naja, Boy, du verstehst schon, was ich meine.» «Wuff», gab Boy gedämpft zur Antwort. -59-
«Richtig, mein Guter.» Jan lachte, ergriff einige Frikadellen und wollte gerade die Tür der Speisekammer wieder schließen, als eine muntere Stimme ertönte: «Halt! Hier sind wohl Diebe am Werk.» Jan wandte sich hastig um und beschwichtigte die lachende Schwester. «Nicht so laut, Lis. Komm mit in mein Zimmer.» «Bist du mit Boy auf Verbrecherjagd gewesen?» «Das werde ich dir gleich erklären. Komm nur mit!» Sie eilten in Jans Zimmer, und während Boy sich die leckeren Frikadellen einverleibte, erzählte Jan seiner Schwester alles, was sich ereignet hatte. Lis nickte mit ernstem Gesicht. «Ich dachte mir schon, daß etwas Außergewöhnliches geschehen sein muß, wenn du Boy so königlich belohnst. Aber nimm dich jetzt bloß in acht, Jan. Dieser gräßliche Katz wird dir bestimmt irgendwo auflauern, um sich an dir zu rächen… und… und…» Ihre Stimme überschlug sich beinahe, und Tränen traten in ihre Augen. Jan nahm sie in die Arme und gab ihr einen schmatzenden Kuß auf die Wange. «Du bist eine prima Schwester, Lis… hm… jedenfalls immer, wenn es darauf ankommt. Und ich passe bestimmt gut auf mich auf.» «Ach, Jan, du kannst es ja nie bleibenlassen.» «Ich habe es Vater versprochen.» Lis seufzte ein wenig. «Das ist alles gut und schön, Jan. Aber dieser Katz ist ein hinterhältiger Schuft, der vor keiner Untat zurückschreckt. Er wird dir irgendwo mit seiner Bande eine Falle stellen.» «Quatsch, Lis», sagte Jan. «Ich gebe zu, daß er ein widerlicher, rachgieriger Kerl und ein Schurke ist, aber ich glaube eher, daß er mir jetzt aus dem Wege geht. Ich habe ihm einen ganz schö nen Schrecken eingejagt, und er weiß, daß die Polizei seine Maske kennt. Überdies hat er bestimmt wichtigere -60-
Dinge im Kopf…» «Ich habe trotzdem Angst, Jan.» «Unnötige Sorge, Lis. Katz ist sicher gezwungen, jetzt alle persönlichen Rachegedanken aufzugeben, um seine eigentliche Aufgabe durchzuführen. Dann wird er Kopenhagen gleich wieder verlassen, wenn die Polizei ihn nicht inzwischen geschnappt hat.» Wenn Jan in diesem Augenblick seinen Widersacher gesehen hätte, wäre er bestimmt weniger ruhig gewesen. Denn Katz stand in einer kleinen Autowerkstatt, wo ein Mechaniker gerade damit beschäftigt war, die deutschen Nummernschilder seines Wagens gegen dänische Schilder auszutauschen. Der Mann gehörte ebenfalls zu Walthers Spionageorganisation. Katz sah düster drein. Er dachte an Jan Helmer. Jetzt hatte der unverschämte Kerl ihm schon wieder ein Bein gestellt… aber das sollte bestimmt das letzte Mal gewesen sein. Jetzt würde er Jan aus dem Wege räumen. Das schwor er sich und bekräftigte es mit einem Fluch.
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ACHTES KAPITEL Für Katz war es klar, daß die Entwicklung der Dinge ein schnelles Handeln erforderte. Trotzdem war er gezwungen, sich einige Tage ruhig zu verhalten. Die Wohnung in der Store Kongensgade konnte natürlich nicht mehr verwendet werden, aber seine Leute hatten den Befehl erhalten, sich zwei Tage später in der Svärtegade einzufinden. Er selber war vorläufig bei dem Automechaniker, der die Nummernschilder seines Wagens ausgetauscht hatte, untergeschlüpft. Selbst als Verkaufschef Heinrich Müller wagte er nicht in einem Hotel zu wohnen, denn die dänische Kriminalpolizei würde jetzt mit Hochdruck nach ihm fahnden und alle ausländischen Hotelgäste – besonders aber die deutschen – unter die Lupe nehmen. Nach und nach war der Meisterspion in einen Wutrausch geraten, der jeden klaren Gedankengang ausschloß. Mehr denn je dachte er an Rache, und Jan Helmer ging ihm nicht aus dem Sinn, obwohl Walther ihn nun schon zweimal gewarnt hatte. Lange hatte Katz darüber gegrübelt, wieso ihm der Chef seinen Warnbrief so promp t hatte schicken können. Es war natürlich klar, daß ihn jemand beschattet hatte, als er von der Store Kongensgade zu Jans Haus gegangen war, aber wer konnte der Verräter sein? Etwa Einar? Katz wußte ja nicht, daß der ihm unbekannte Wolf als Vertrauensmann des Chefs jeden seiner Schritte in Kopenhagen überwachte und anschließend sofort Bericht erstattete. Natürlich war es auch Wolf gewesen, der den Warnbrief geschrieben und abgeschickt hatte, auf Befehl Samuel Walthers. Wenn auch diese Warnung nichts nützte… blieb nichts anderes übrig, als Katz aus dem Weg zu räumen. Wolf war sich völlig darüber im klaren, wie er sich zu verhalten hatte, und gewillt, dementsprechend zu handeln. Walther war ein strenger Herr, der keine Übertretung seiner Anordnungen -62-
duldete. Auch seine engsten Mitarbeiter mußten sich ihm voll und ganz unterordnen. Darüber wußte auch Katz Bescheid, und es lag für ihn auf der Hand, daß er eine große Gefahr auf sich nahm, wenn er seine privaten Rachepläne weiterverfolgte. Dennoch warf er alle Vorsicht über Bord. Jan Helmer mußte beseitigt werden. Diesmal würde er es schon einzurichten wissen, daß der Chef nichts davon erfuhr. Die Kopenhagener Polizei arbeitete mit allen ihr zu Gebote stehenden Hilfsmitteln, und Kriminalkommissar Helmer hielt die Fäden in seiner Hand. Die Svärtegade war von den tüchtigsten Beamten auf sehr diskrete Weise buchstäblich durchgekämmt worden, und schließlich blieb nur eine verdächtige Wohnung übrig, die im Augenblick leer stand. Die Kriminalpolizei hielt sie unter ständiger Bewachung. Helmer saß in seinem Büro im Präsidium und besprach sich mit Oberwachtmeister Jensen, einem seiner tüchtigsten Mitarbeiter: «Ja, Jensen», sagte der Kommissar, «wir hoffen natürlich, daß wir in der Svärtegade früher oder später Erfolg haben werden. Trotzdem müssen wir damit rechnen, daß es auch eine falsche Spur sein kann, und alle anderen Möglichkeiten in Betracht ziehen. Haben die Hotelrazzien etwas erbracht?» Der Wachtmeister zuckte die Schultern. «Wir haben ein paar kleine Fische gefangen, aber der große Fisch ist uns nicht ins Netz gegangen. Katz ist schlau genug, sich jetzt nicht in ein Kopenhagener Hotel zu wagen.» «Stimmt! Aber wenn er die große Gefahr auf sich genommen hat, nach Dänemark zurückzukehren, muß es dafür sehr zwingende Gründ e geben, das heißt eine besonders wichtige Angelegenheit, die gewisse Leute im Ausland interessieren kann. Ich habe sehr eingehende Nachforschungen angestellt und mich sowohl mit dem militärischen Nachrichtendienst als auch mit unserem eigenen Sicherheitsdienst in Verbindung gesetzt. -63-
Soweit ich es überblicken kann, gibt es nur eine Sache, die den Einsatz eines Meisterspions und seiner Leute lohnen könnte. Sind Sie über Ingenieur Ringhoff und die von ihm konstruierten neuen Düsenjäger im Bilde?» «Ja.» «Ringhoff arbeitet zur Zeit an einem damit zusammenhängenden Projekt, und es würde mich gar nicht wundern, wenn Katz den Auftrag hätte, dieses Projekt zu sabotieren, die Pläne zu stehlen und vielleicht sogar Ringhoff zu entführen. Es bestehen jedenfalls keine Zweifel darüber, daß internationale Spione sich sehr dafür interessieren. Der Sicherheitsdienst hat Ringhoff bereits einen Wink gegeben; seine Werkstätten und seine Privatwohnung werden bei Tag und Nacht sorgsam überwacht. Ob das ein Resultat bringt, müssen wir abwarten. Aber Katz ist ein schlauer und rücksichtsloser Verbrecher, der vor nichts zurückschreckt, auch nicht vor Gewalttat, wenn ihm das richtig erscheint.» «Erwarten Sie einen bewaffneten Angriff auf Ringhoffs Werkstätten, Herr Kommissar?» Helmer zö gerte etwas. «Wir müssen wohl alle Möglichkeiten in Betracht ziehen. Auch die, daß Katz hinter Ringhoff selbst her ist, um ihn beiseite oder über die Grenze zu schaffen. Erst wenn Katz unschädlich gemacht worden ist, können wir wieder aufatmen. Er hat uns wirklich in den letzten Jahren in Atem gehalten.» «Das kann man wohl sagen», seufzte Jensen. «Als wir ihm das letzte Mal nachstellten, bekamen wir innerhalb einer Woche keine zehn Stunden Schlaf.» Der Kriminalkommissar lächelte. «Hoffentlich geht es uns diesmal nicht so. Wir haben alle verfügbaren Leute eingesetzt; da dürfen wir wohl etwas optimistisch sein.» * -64-
Während die Kriminalpolizei Katz fieberhaft suchte, kümmerte sich Jan – getreu seinem Versprechen – nicht mehr um ihn, obwohl er oft überlegte, was Katz wohl plante. Im Augenblick lag ihm jeder Gedanke an Katz allerdings fern, denn Jan war mit seinem Freund Carl auf der «Rex» unterwegs. Beide benützten gern jede Gelegenheit zu einer Segeltour. Meist waren auch Erling und Jesper mit von der Partie, aber an diesem Tag hatten sie keine Zeit gehabt. So segelten Jan und Carl allein durch den Öresund hinauf bis nördlich von Hveen. Auf der Heimfahrt kamen sie in der schwachen Brise nur langsam vorwärts. Das Segel klatschte ab und zu träge gegen den Mast. Jan, der am Ruder saß, lachte. «Hoffentlich haben wir mehr Wind bei der Segelregatta am Sonntag, Carl. Wir würden uns doch gern einen kleinen Preis holen.» «Warum einen kleinen?» Carl grinste. «Natürlich bekommen wir den ersten Preis. Das wäre doch nicht das erste Mal.» «Nein, natürlich nicht», räumte Jan ein. Ihm machte die unschuldige Prahlerei seines Freundes Spaß. «Jedenfalls werden wir unser Bestes tun und noch etwas darüber hinaus, wenn es möglich ist.» Carls Gesicht wurde plötzlich düster, als er sagte: «Wenn bloß dieser verdammte Katz nicht plötzlich auftaucht, Jan. Erling hat mir erzählt, daß er wieder im Lande und hinter dir her ist. Das plagt mich schon die ganze Zeit. Wäre es nicht besser, wenn ich dich heute abend nach Hause begleitete?» «Ach was!» Jan lächelte und betrachtete den vom Mond beleuchteten Öresund. «An so einem herrlichen mondhellen Abend bleiben alle Schurken daheim. Ich habe keine Angst. Überdies kann ich mich auch meiner Haut wehren.» «Nein, du hast keine Angst, aber wir haben Angst um dich», erwiderte Carl trocken. «Wir wissen doch schließlich aus Erfahrung, daß Katz ein rachsüchtiger Schuft ist, der vor nichts -65-
zurückschreckt. Ich möchte ihm gern wieder mal eine richtige Tracht Prügel verabreichen. Das würde vielleicht recht nützlich sein.» Jan lachte. «Gut möglich! Aber ich bin sicher, daß Katz einen großen Bogen machen würde, wenn er dich erblickte, Carl. Er hat schon einmal mehr als genug von dir bekommen.» «Und es war doch noch zu wenig.» «Hm. Katz ist da wohl anderer Meinung.» Dem hatte Carl nichts beizufügen. Während die Fahrt weiterging, war er sehr schweigsam, und erst als sie im Hafen lagen, nahm er das Gespräch wieder auf. «Soll ich dich nicht doch nach Hause begleiten, Jan?» Jan warf einen Blick auf seine Armbanduhr und gab etwas ungeduldig zur Antwort: «Auf gar keinen Fall, Carl. Es ist ja erst zehn Uhr. Jetzt möchte ich noch eine Tasse Tee trinken, bevor ich mich auf den Weg mache.» «In Ordnung, ich auch», sagte Carl und verschwand in der Kajüte. Fünf Minuten später saßen sich die beiden Freunde schon bei Tee und Keksen gegenüber. Jan genoß die leichte Mahlzeit mit Wohlbehagen, während Carl keinen rechten Appetit zu haben schien. Er dachte dauernd an die Gefahr, in der sein bester Freund schwebte. Wenn er doch nur diesen widerlichen Katz zwischen seine Fäuste bekommen könnte! «Iß, Carl!» forderte Jan ihn auf. «Ich habe keinen Hunger.» «Quatsch! Bisher hast du nach jeder Segeltour Hunger gehabt. Aber du denkst nur noch an Katz. Ich sage dir, der hat andere Sorgen im Kopf, denn schließlich ist die gesamte Kopenhagener Polizei hinter ihm her. Dadurch wird ihm die Lust vergehen, mir nachzustellen.» «Mag sein», murrte Carl, während er nun doch noch einen -66-
Keks ergriff. «Aber ich kann den Gedanken nicht loswerden, daß der Kerl dich bespitzeln läßt, um dich in einem geeigneten Moment zu erwischen. Dein Vater sollte dich überwachen lassen. Dann würde er bald auf Katz oder seine Kumpane stoßen.» Jan lachte. «Ich werde es ihm ausrichten», sagte er, «aber jetzt wollen wir lieber von erfreulicheren Dingen sprechen, zum Beispiel von der Regatta am Sonntag.» Auf diesen Köder biß Carl sogleich an, denn Segeln war seine große Leidenschaft. In den nächsten Minuten vergaßen die beiden Freunde Katz und widmeten sich ihrer «Rex». Für den nächsten Tag wurde eine Trainingsfahrt vereinbart, an der auch Erling und Jesper teilnehmen sollten. Am Sonntag mußten sie ja alle in guter Form sein. Gegen elf Uhr verabschiedete Jan sich von Carl und ging zum Klubhaus hinauf. Ganze Reihen von Segelbooten lagen vertäut im Hafen, aber kein Mensch war zu sehen. Wahrscheinlich waren die meisten schon daheim, denn die Saison ging zu Ende. Im Hochsommer war wesentlich mehr im Hafen los, selbst um Mitternacht herrschte da noch reges Treiben; manchmal fuhren die Segelboote sogar um diese Zeit zu einer Mondscheinfahrt auf den Öresund hinaus. Jan ging langsam an den hübschen, gepflegten Gartenanlagen des Klubs entlang, um sein Fahrrad zu holen, das er beim Klubhaus abgestellt hatte. Der Wind ließ die Blätter leise rascheln, und vom Klubhaus her hörte er Wortfetzen und Gelächter – sonst war alles still. Der Mond beschien die vielen Boote mit ihren schlanken Masten, das Hafenbecken und den Vorplatz des Klubhauses. Nur das gestutzte Gebüsch am Rand der Gartenanlage dicht neben Jan wurde vom Mondschein nicht beleuchtet; große Teile davon lagen in tiefem Dunkel. Plötzlich stockte Jan und blieb stehen. Er hatte auf einmal das seltsame Gefühl, daß ihm eine Gefahr drohte. Er warf einen -67-
Blick in die Runde, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Dennoch blieb das Gefühl der Bedrohung. Hatte er sich von Carls Nervosität und Bedenken anstecken lassen? Doch halt, was war das? Im Gebüsch neben ihm raschelte es leise, dann knackte ein Ast. Die schwache Brise konnte dieses Geräusch nicht verursacht haben. Er fuhr herum, und im gleichen Augenblick sprang eine dunkle Gestalt aus dem Gebüsch auf ihn zu. Im fahlen Mondlicht erkannte Jan Katz, der die rechte Hand hob, die einen kurzen dicken Knüppel hielt. Doch ehe Katz zuschlagen konnte, krachte ein Schuß… Katz schrie auf und ließ den Knüppel fallen. Augenscheinlich hatte die Kugel seine Hand durchbohrt, denn Jan sah, daß sie zu bluten begann. Was weiter geschah, verlief so blitzschnell, daß Jan gar nicht zum Handeln kam. Mit einem lauten Fluch verschwand Katz im Gebüsch… von der Straße jenseits der Gartenanlage her ertönten laute Rufe… dann dröhnte ein Motor, und ein Auto fuhr in rasender Fahrt davon. Erst jetzt kehrte Jans Tatkraft zurück. Er rannte durch die Anlagen auf die Straße hinaus. Das erste, was er sah, war nicht sehr erfreulich. Carl erhob sich gerade mühsam vom Boden. Offenbar war er niedergeschlagen oder angefahren worden. Er sah recht mitgenommen aus und stieß einige kräftige Flüche aus, die dem wegrasenden Wagen galten, der gerade die Kurve nahm, die zum Strandvejen führte. «Was, zum Teufel, machst du denn hier?» brach Jan aus. Carl stöhnte. «Diese beiden Schufte! Sie haben mich absichtlich angefahren. Ist dir etwas passiert, Jan?» «Nein, mir wurde kein Haar gekrümmt, aber es war wohl nahe daran. Katz sprang mich plötzlich an, aus dem Gebüsch, um mich mit einem Knüppel niederzuschlagen. Aber dann krachte ein Schuß, der Katz an der Hand traf. Wer kann ihn angeschossen haben? Du warst es doch sicher nicht, Carl?» -68-
«Ich?» rief Carl erbost. «Womit, zum Kuckuck, hätte ich denn schießen sollen? Ich besitze nicht einmal ein Luftgewehr. Nein, ich bin dir nur nachgegangen, weil ich besorgt war, aber außen herum, weil du mich nicht sehen solltest. Als ich hier ankam, hörte ich den Schuß und einen lauten Schrei. Dann kam ein Mann aus dem Garten gerannt und sprang in das Auto.» «Welches Auto?» «Direkt an der Einfahrt zum Klubhaus stand ein Wagen mit laufendem Motor. Der Mann sprang hinein und setzte sich neben einen anderen Kerl, der am Steuer saß und sogleich Gas gab. Als ich hinüberlief, um sie aufzuhalten, fuhr der Wagen direkt auf mich zu. Ich sprang zur Seite, aber ein Kotflügel packte mich und riß mich zu Boden. Nach dem, was du gesagt hast, war Katz der Kerl, der aus dem Garten kam und in den Wagen sprang. Verflucht und zugenäht, hätte ich den nur erwischt. Jetzt wirst du mir wohl recht geben, Jan. Der Schuft ist dauernd hinter dir her.» Jan nickte nur. «Na, dann wirst du vielleicht doch noch zur Vernunft kommen. Soll ich dich nach Hause begleiten?» «Diesmal sage ich nicht nein, Carl. Ich hätte gleich auf dich hören sollen.»
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NEUNTES KAPITEL Inzwischen waren einige Klubkameraden hinzugekommen, die sich im Klubhaus aufgehalten und den Schuß gehört hatten. Es waren meist erwachsene Segelsportler, die natürlich wissen wollten, was vorgefallen war. Jan erklärte es ihnen. «Wir müssen sofort die Kriminalpolizei anrufen », sagte einer der Männer. «Laßt uns erst nach dem Knüppel suchen», schlug ein anderer vor. Jan nickte eifrig. «Ja, das ist richtig… kommt!» Mit Jan an der Spitze eilte die Schar durch den Garten zu dem Ort, wo sich der Überfall abgespielt hatte. Sie brauchten nicht lange zu suchen, denn der Knüppel lag auf dem Kies. Es war ein ziemlich kurzer Holzgriff, den man in ein Stück Bleirohr getrieben hatte. Wenn ihn diese Waffe getroffen hätte, wäre ihm sicher der Schädel eingeschlagen worden. Einer der Segler wollte die Waffe aufheben, aber Jan kam ihm zuvor. «Nein, Höyer, laß mich das lieber machen. Die Polizei wird die Waffe auf Fingerabdrücke untersuchen wollen.» Er zog sein Taschentuch hervor, entfaltete es, wickelte den Knüppel säuberlich ein. «Jetzt können wir die Kriminalpolizei anrufen», sagte Jan. «Ich glaube, daß mein Vater noch im Präsidium ist.» Vom Telefon im Klubhaus rief Jan seinen Vater an, der sich noch in seinem Büro befand. Als er eine kurze Erklärung abgegeben hatte, sagte sein Vater in sehr bestimmtem Ton: «Jan, du bleibst, wo du bist. Ich bin in einer Viertelstunde dort. Du darfst das Klubhaus nicht verlassen!» «In Ordnung, Vater. Ich warte hier auf dich.» Die Klubkameraden waren natürlich neugierig. Sie wollten -70-
wissen, wer der Übeltäter sein mochte; noch mehr interessierte sie jedoch der mysteriöse Schütze, der ohne Zweifel Jans Leben gerettet hatte. Um nicht zuviel zu sagen, erklärte Jan bloß: «Ich weiß nicht, wieviel und was ich sagen darf. Ihr könnt ja meinen Vater fragen, wenn er kommt.» «Hast du den Mann erkannt, der dich niederschlagen wollte?» «Ja.» «Wer war es?» «Fragt meinen Vater.» Mehr wollte Jan nicht sagen. Und in einem Punkt war er auch nicht klüger als seine Kameraden: er wußte nicht, wer der Schütze war. Wer in aller Welt konnte es gewesen sein? Der Mann hatte ihm ganz gewiß das Leben gerettet. Wenn er ein gutes Gewissen hatte, warum gab er sich dann nicht zu erkennen? Aber er war sogleich spurlos verschwunden… Es war wirklich eine sehr rätselhafte Angelegenheit! Was der Vater wohl dazu sagen würde? Als sie ins Klubhaus kamen, wandte sich Andersen, der Wirt, an Jan und Carl: «Hört mal, ihr Buben, wollt ihr nicht etwas trinken? Ein Glas Sodawasser mit Eis würde euch bestimmt guttun.» «Und ob», brummte Carl, der immer noch ab und zu stöhnte. «Bringen Sie es bloß rasch her, bitte.» Bald darauf betrat Mogens Helmer mit zwei Kriminalbeamten das Klubhaus; er fand Jan und Carl friedlich vor ihrem Sodawasser sitzen. Man sah ihnen jedenfalls nicht mehr an, daß sie kurz vorher ein sehr gefährliches Erlebnis gehabt hatten. «Nun, mein Junge», sagte der Kommissar. «Jetzt erzähle mal alles der Reihe nach.» Alle hörten Jans Worten interessiert zu; hernach gingen die beiden Kriminalbeamten auf Helmers Anordnung hinaus, um -71-
die Umgebung in Augenschein zu nehmen. Natürlich hoffte niemand, dort noch den geheimnisvollen Schützen zu finden; aber die gutgeschulten Kriminalbeamten konnten vielleicht wichtige Spuren entdecken. Helmer war sehr zufrieden darüber, daß Jan so umsichtig mit der Waffe umgegangen war; vielleicht ließen sich darauf Fingerabdrücke finden. Jedenfalls wußte Jan, daß Katz keine Handschuhe getragen hatte, denn die blutende Wunde an seiner rechten Hand war deutlich sichtbar gewesen. Die gründliche Durchsuchung des Gartens ergab jedoch keine Resultate, und eine halbe Stunde später fuhr Jan mit seinem Vater und seinen Begleitern heim, nachdem er sich herzlich von Carl verabschiedet hatte. Der kräftige Bursche war viel besser gelaunt, als er zur «Rex» zurückkehrte, denn jetzt befand sich sein Freund ja in guten Händen. Schon früh am nächsten Morgen, als die Familie Helmer noch beim Frühstück saß, kam ein Anruf aus dem Präsidium für den Kommissar. Nach einem längeren Gespräch lächelte er Jan befriedigt an: «Du hattest doch recht mit deinem Hinweis, Söhnchen. In der Svärtegade haben sich bereits drei Männer eingefunden; die Wohnung wird weiterhin scharf überwacht.» «Katz auch?» fragte Jan eifrig. «Nein, er hat sich noch nicht gezeigt, aber er wird wohl auch bald auftauchen, wenn seine Schußwunde ihn nicht daran hindert. Ich habe das Gefühl, daß er seinen großen Coup jetzt in aller Eile vorbereiten wird.» «Warum meinst du das, Vater?» «Weil der Boden ihm unter den Füßen brennt und zwar in doppelter Hinsicht. Er weiß, daß ihm die Kriminalpolizei auf den Fersen ist, aber er muß auch gegen einen Feind unter seinen eigenen Leuten kämpfen.» Als Helmer Jans erstaunten Gesichtsausdruck sah, fügte er erklärend hinzu: «Ich meine den geheimnisvollen Schuß im Garten des Klubhauses. Daß es sich dabei um einen Zufall -72-
handelte, glaube ich nicht. Der Schuß wurde vielmehr mit voller Absicht abgegeben, um Katz an seinem Angriff auf dich zu hindern.» «Das verstehe ich nicht, Vater. Wie kommst du auf diese Idee?» «Hm. Ein Polizeibeamter muß stets sehr vorsichtig sein und darf nicht drauflos raten. Aber hier lassen die Dinge nur einen Schluß zu. Hätte der geheimnisvolle Schütze eine reine Weste gehabt, wäre er bestimmt aufgetaucht. Ich nehme daher an, daß er zu der Spionageorganisation gehört. Möglicherweise hat Katz von seinem Chef den Befehl bekommen, dich in Ruhe zu lassen, um seine eigentliche Aufgabe nicht zu gefährden, denn ein solches Risiko darf ein tüchtiger Spion nicht eingehen. Als Katz nun diesen Befehl übertrat, bekam er von einem Vertrauten des Chefs, der ihn beschattet, eine ernste Warnung. Vielleicht sollte Katz sogar umgebracht werden! Innerhalb der internationalen Spionageringe herrscht eine eiskalte Disziplin; meine Theorie ist also nicht aus der Luft gegriffen.» Helmer warf einen schnellen Blick auf die Uhr. «Ich muß jetzt gehen. Ich glaube, daß Katz innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden losschlagen wird. Wenn er ausgescha ltet worden ist, wird ein anderer Mann an seine Stelle treten, um die geplante Aktion durchzuführen. Wir werden also bestimmt einen anstrengenden Tag bekommen. Auf Wiedersehen!» «Wann?» fragte Frau Helmer mit bekümmerter Miene. Der Kriminalkommissar küßte sie zärtlich auf die Wange und sagte: «Sobald ich heimkomme, Mutti… Denn du weißt ja, die Pflicht geht vor.» «Ja, leider», seufzte sie. Als der Vater gegangen war, eilte Jan zur Schule, aber es fiel ihm sehr schwer, sich in den folgenden Stunden auf den Unterricht zu konzentrieren. Er wurde sowohl in der -73-
Biologiestunde als auch in Geschichte aufgerufen, aber mit den Noten, die er bekam, konnte er nicht gerade prahlen. Am Nachmittag fuhr er zusammen mit Erling und Jesper zum Segelklub. Die beiden Freunde hatten zwar schon einiges über die Ereignisse des Vortags gehört, aber sie kannten die Einzelheiten noch nicht. «Lieber Jan», erkundigte sich Erling, «ich glaube, etwas bedrückt dich. Du schienst ein wenig abwesend, als du im Unterricht aufgerufen wurdest. Kann Onkel Erling dir irgendwie helfen?» «Ja, indem er den Mund hält», erklärte Jan lachend. «Wenn wir auf der ‚Rex’ sind, werde ich euch alles erzählen.» Sobald die drei Freunde den Segelklub erreicht hatten, rief Jan seinen Vater an, um zu hören, wie die Dinge standen. Der Kommissar war bester Laune, als er sagte: «Es geht dich zwar eigentlich nichts an, Jan, aber als Belohnung für den Hinweis auf die Svärtegade sollst du erfahren, daß die drei Leute aus der bewachten Wohnung auf verschiedenen Wegen zu dem Gelände gegangen sind, auf dem sich Ingenieur Ringhoffs Werkstätten befinden, und dort Posten bezogen haben. Vieles deutet darauf hin, daß heute abend etwas passieren wird.» «Haben deine Leute auch Katz gesehen, Vater?» «Nein, und deswegen haben wir die Falle in der Svärtegade noch nicht zuschnappen lassen. Sicher wird Katz heute abend dort oder bei Ringhoff auftauchen, wenn es ernst wird… und diesmal soll er uns nicht entkommen! Wo bist du?» «Im Segelklub. Wir machen eine Trainingsfahrt.» «Viel Glück, mein Junge!» «Gleichfalls, Vater.» Jan legte den Hörer auf und eilte zu seinen Freunden auf der «Rex». Carl und Jesper bereiteten schon den Nachmittagstee, während Erling wie üblich auf Deck faulenzte. -74-
Als sie alle zusammen um den kleinen Tisch in der Kajüte saßen, erzählte Jan seinen Freunden, was am Vorabend geschehen war. Carl wußte ja schon Bescheid, aber für die beiden andern waren es Neuigkeiten. Erling rieb sich mit zufriedener Miene die Hände. «Welch eine Freude, lieber Jan, daß wir ausnahmsweise einmal nicht in Sachen hineingezogen werden, die nur die Kriminalpolizei angehen. Glücklicherweise bist du heil aus diesem Abenteuer herausgekommen. Jetzt können wir alle froh und zufrieden sein…» «Nein», sagte Carl böse. «Wie bitte?» fragte Erling. «Bist du etwa nicht zufrieden?» «Nein! Natürlich werde ich froh sein, wenn die Polizei den Katz endlich erwischt, aber ich hätte den Schuft lieber selber gestellt. Heute abend werde ich jedenfalls versuchen, der Polizei ein wenig dabei zu helfen…» «Bist du von Sinnen, Carl?» unterbrach ihn Jan erschrocken. «Mein Vater hat gesagt, daß es heute abend sehr ernst werden kann, und du hast kein Recht, dich da einzumischen.» «Wo steht das geschrieben?» fragte Carl, und seine sonst so ruhige Stimme klang herausfordernd. «Niema nd kann mich daran hindern hinzufahren, und ich werde es auch tun. Ich glaube bestimmt, daß ich auf der ganzen Welt nur einen Menschen hasse, und der heißt Katz. Dieser Schuft hat uns immer wieder verfolgt, und gestern abend wollte er dich erschlagen, Jan…» «Stimmt alles, Carl», gab Jan zu. «Aber Erling hat diesmal recht. Katz und seine Bande unschädlich zu machen, ist Sache der Polizei, und du darfst sicher sein, daß sie ihn packen wird.» «Ich will aber noch sicherer sein!» beharrte Carl. «Wenn es Katz gelingen sollte, der Polizei ein Schnippchen zu schlagen, werde ich ihn auf jeden Fall erwischen, und dann bekommt er, was er schon längst verdient hat.» -75-
Jan war mit der Entwicklung des Gesprächs gar nicht zufrieden, denn es zeigte sich deutlich, daß sein starker Freund trotzig auf seinem Vorhaben beharren würde. Was ließ sich da tun? Natürlich konnte niemand von ihnen Carl zwingen, am Abend auf der «Rex» zu bleiben, statt den Schauplatz der bevorstehenden Ereignisse aufzusuchen – höchstens die Polizei. Aber seinen Vater mochte Jan nicht verständigen. Der hatte ohnedies genug zu tun. So versuchte Jan auf jede mögliche Weise, Carl zur Vernunft zu bringen, doch es war hoffnungslos. Nie war Carl so eigensinnig und verbissen gewesen. Jeder Appell an seine Vernunft prallte an ihm ab. Jan wurde dabei angst und bange. Schließlich unterbrach der kleine Jesper das Gespräch. «Du bist ein dummes Schaf, Carl, wenn du nicht auf Jan hören willst. Aber wenn du unbedingt deinen Kopf durchsetzen mußt, dann werde ich heute abend mit dir gehen.» «Ich ebenfalls», erklärte Erling und nahm sich das letzte Butterbrot. «Ich lasse einen Freund in der Not nicht im Stich.» «Ach, ihr seid ja alle drei verrückt», rief Jan. Und seufzend fügte er hinzu: «Natürlich werde ich dann auch mitgehen.» «Bravo!» Jan seufzte erneut. «Ihr könnt leicht Bravo rufen, aber Spaß macht mir diese Geschichte wirklich nicht. Ich habe meinem Vater versprochen, Katz nicht mehr in die Quere zu kommen und auch sonst kein Risiko mehr einzugehen.» «Das tust du ja auch nicht», meinte Erling. «Die Polizei wird sich des sauberen Herrn schon annehmen… und wir andern werden nur dabei sein, um darauf zu achten, daß unser braver Freund Carl keine Dummheiten macht. Ich sehe darin keine besondere Gefahr.» «Richtig!» sagte Jesper. Jan schüttelte ergeben den Kopf, aber er mußte doch lächeln. -76-
Genau genommen, übertrat er das väterliche Verbot ja wirklich nicht, wenn er mit seinen drei Freunden am Abend zu Ringhoffs Werkstätten hinausfuhr… Im Gegenteil! Es wäre verantwortungslos, den wütenden Carl allein gehen zu lassen. Sich die Ereignisse aus gebührendem Abstand anzusehen, wenn überhaupt etwas geschah, war sicher ganz ungefährlich. Jedenfalls konnten sie dann Carl hindern, Dummheiten zu machen. Mit einer gewissen Spannung begann Jan sich auf das zu freuen, was sich womöglich als letzter Akt des Dramas entpuppen mochte.
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ZEHNTES KAPITEL Die Werkstätten und die Büros, in denen Ingenieur Ringhoff und die Waffenexperten tagsüber arbeiteten, sahen nicht gerade großartig aus, denn sie bestanden zur Hauptsache aus drei großen Baracken, die aber gut gesichert waren. Zwei hohe Stacheldrahtzäune, durch einen drei Meter tiefen, betonierten Graben getrennt, umschlossen die ganze Anlage. Große Warnschilder wiesen darauf hin, daß die Zäune unter Starkstrom standen. Wenn man die Drähte durchschnitt, trat sofort ein sinnvoll konstruiertes Alarmsystem in Funktion. Fenster und Türen waren mit lichtelektrischen Zellen versehen, die ebenfalls Alarm auslösten, sobald jemand in den Weg der Elektronenstrahlen geriet. Auf dem Gelände innerhalb der Drahtzäune patrouillierten Tag und Nacht sechs schwerbewaffnete Soldaten, die alle zwei Stunden abgelöst wurden. Schließlich gab es noch einen zwischen den Baracken stehenden Wachtturm, der nach drei Seiten gute Aussicht und freies Schußfeld bot. Auf der vierten Seite grenzte das Gelände an eine Wiese, hinter der sich ein dichter Wald befand. Das war natürlich ein Nachteil, den der Sicherheitsdienst längst beanstandet hatte. Die Anlage war jedoch ursprünglich für ganz andere Zwecke vorgesehen, und aus Sparsamkeitsgründen hatte man darauf zurückgegriffen. Ringhoff und seine Mitarbeiter fanden die Lösung schon deswegen gut, weil ihr Arbeitsplatz in kurzer Zeit von der Hauptstadt aus zu erreichen war. Und ein erfolgreiche r Angriff darauf schien im Hinblick auf die Sicherungsmaßnahmen ausgeschlossen. Es war fast Mitternacht, aber in den verschiedenen Arbeitsräumen brannte immer noch Licht, denn die Beleuchtung wurde nie ausgeschaltet. Katz und seine Leute – im ganzen zehn Mann – schlichen vorsichtig durch den Wald. Der Meisterspion hatte alles bis ins kleinste vorbereitet und die Verhältnisse mehrere Tage lang genau -78-
erkundet. Einige Männer schleppten Sprengladungen, Zündgeräte und große Rollen mit Leitungsdraht. Alle trugen über ihrer Kleidung grüne Schutzanzüge, um in dem klaren Mondlicht auf der Wiese nicht allzusehr aufzufallen. Katz hatte sich entschlossen, die Drahtzäune an mehreren Stellen zu sprengen, in der Hoffnung, dadurch auch die Wachen unschädlich zu machen. Er war sich klar darüber, daß diese Aktion Menschenleben kosten würde, aber das kümmerte ihn nicht. Er war mittlerweile verzweifelt geworden und handelte jetzt auf eine Art und Weise, vor der er früher zurückgewichen wäre. Zwar hatte er nie Respekt vor dem Leben anderer Menschen gehabt, aber einen so tollkühnen Plan, der sofort Alarm auslösen mußte, hätte er bei klarem Verstand selbst als höchst unklug verworfen. Während die Spione alles für die Sprengladungen vorbereiteten, verhielten sich Helmer und seine Leute abwartend. Das gesamte Gelände war mit bewaffneter Polizei gespickt, die sich nicht nur über den ganzen Wald verteilte, und den Spionen dort folgte, sondern auch überall dort lag, wo es eine Möglichkeit zur Deckung gab. Selbst Kriminalbeamte, die schon seit Jahren im Dienst waren, konnten sich nicht erinnern, daß jemals ein so umfangreicher Einsatz erfolgt war. Etwa fünfzig Beamte waren zum Kampf gegen Katz und seine Bande aufgeboten worden. Vorläufig lagen sie jedoch in Deckung und warteten auf Helmers Signal: drei rasch nacheinander abgefeuerte Pistolenschüsse. Die Beamten waren über ein so großes Gelände verteilt, daß ein Signal erforderlich war, das von allen gleichzeitig gehört wurde. Helmer hatte dem Befehlsgeber der Wachen innerhalb der Anlage mitgeteilt, daß im Laufe der Nacht bestimmt ein Angriff erfolgen würde. Die Wachen waren daher in Alarmbereitschaft, hatten jedoch den Befehl erhalten, nur dann einzugreifen, wenn es den Banditen gelang, die Werkstätten zu erreichen. Die Entscheidung würde vermutlich außerhalb der Absperrung -79-
fallen, und hier war die Polizei zahlreich genug vertreten. Jan hatte zusammen mit seinen drei Freunden schon gegen zehn Uhr am Rand des Waldes Posten bezogen, um die Entwicklung der Dinge zu verfolgen. Vernünftigerweise ha tte er seinen Vater um Erlaubnis gebeten und von ihm einen Passierschein erhalten, mit der Anweisung, sehr früh an Ort und Stelle zu sein. Sie lagen in guter Deckung und verhielten sich ganz still. Wenn sie ein paar Worte miteinander wechselten, dann geschah dies nur flüsternd. Als zwei Stunden lang nichts geschah, wurden Erling und Jesper ungeduldig. Aber Jan wußte, daß die Polizei alarmiert worden war, und mahnte immer wieder zu Geduld. Schließlich sah er zwei Männer, die den Wald verließen und über die Wiese krochen. Jan flüsterte: «So, jetzt wird’s bald losgehen. Könnt ihr die dunklen Gestalten dort drüben sehen? Sie kriechen auf den Telefonmast zu.» Erling und Jesper schüttelten den Kopf. «Ich sehe sie… und ich wette, daß es die Vorhut der Spione ist, die den Auftrag hat, die Telefonleitungen zu durchschneiden.» «Ja, jetzt kann ich zwei Männer erkennen», sagte Carl, der beinahe so gute Augen hatte wie Jan. «Ob die Polizei sie auch sieht?» fragte Jesper mit unsicherer Stimme. «Darauf kannst du dich verlassen», gab Jan zur Antwort. «Der Telefonmast wird genau beobachtet. An solche Dinge denkt mein Vater stets zuerst.» Plötzlich schwieg er und blieb mäuschenstill liegen, während er gespannt über die halb im Schatten des Waldes liegende, halb vom Mondlicht erhellte Wiese starrte, die sich bis zu den Drahtzäunen erstreckte. Dann sagte er mit einer vor Spannung ganz heiseren Stimme: «Da drüben müssen noch mehr Leute sein. Es hat ein paarmal ganz kurz aufgeblitzt. Ich bin fast -80-
sicher, daß es Lichtreflexe von Zünd geräten oder blanken DrahtEnden sind…» «Zündgeräte?» murmelte Carl. «Ja. Sicher bereiten die Spione im Augenblick die Sprengung der Drahtzäune vor, und dazu müssen sie Leitungen legen und Zündgeräte anschließen… Aber das ist doch seltsam. Die Leitungen können ja nicht von selbst über den Boden kriechen, und ich kann keinen Menschen sehen… Doch, eben hat sich da drüben etwas bewegt…» Kurz darauf fuhr Jan fort: «Jetzt bin ich fast sicher, daß die Spione grüne Tarnkleider tragen, die sich von der Wiese kaum abheben. Katz denkt wirklich an alles.» Als Jan den Namen nannte, fuhr Carl auf, aber Jan drückte ihn schnell wieder zu Boden. «Bist du total verrückt, Carl? Wenn du jetzt plötzlich aufspringst, verdirbst du der Polizei doch alles.» Carl gab nach, aber Jan merkte, daß er sich nicht halten lassen würde, sobald es losging, denn er wollte Katz selbst zu Leibe. Immerhin – es gab eine Möglichkeit, Carl zu zähmen. Der Kommissar hatte Jan darauf gebracht, als er ihm von Carls Absichten erzählte. Jan mußte lächeln, als er daran dachte. Glücklicherweise wußte Carl nicht, was ihm bevorstand. In diesem Augenblick ertönten drei Pistolenschüsse! Und dann nahmen die Ereignisse ihren Lauf. Kaum waren die Schüsse verklungen, als die ganze Gegend zum Leben erwachte. Auf der Wiese wurden Gestalten sichtbar, die aufsprangen und auf den Wald zu eilten. Vom Waldrand her kamen Polizisten gelaufen, aus allen anderen Richtungen auch. Die Nacht hallte von Rufen wider, und dann begann ein höllisches Schießen. Die Schüsse knallten ohne Unterlaß aus allen Richtungen. Es bestand kein Zweifel darüber, daß die Spione ihre Freiheit so teuer wie möglich verkaufen wollten. -81-
Als Carl aufspringen wollte, hielt Jan ihn zum zweitenmal zurück und rief: «Warte einen Augenblick, Carl! Ich verstehe sehr gut, daß du Katz fangen willst. Wenn du ihn packst, darfst du ihn aber nicht gleich halbtot schlagen. Leg ihm lieber Handschellen an…» «Handschellen?» fragte Carl verwundert. «Ja, ich habe sie von Vater geliehen. Streck die Hände aus, Carl. Ich zeige dir, was du tun mußt.» Der starke Carl streckte treuherzig die Hände aus, und gleich darauf schnappten die Handschellen zu. Jan sagte mit ernster Stimme: «So, Carl, du mußt schon entschuldigen, aber ich mußte dich daran hindern, in den Kampf einzugreifen. Mein Vater hat das befohlen!» «Zum Teufel, was soll das bedeuten?» schrie Carl. « Mach mich sofort frei!» Jan schüttelte den Kopf. «Erst wenn alles vorbei ist, Carl. Wir drei hätten keine Möglichkeit gehabt, dich zurückzuhalten, aber ich habe meinem Vater versprochen, daß wir dem Kampf fernbleiben und kein Risiko eingehen… Nun, die Handschellen sind das beste Mittel, dich zu zähmen.» Eine Weile saß Carl vor Verblüffung wie gelähmt da. Als ihm seine Lage klar wurde, war er nahe daran, vor Wut zu platzen; er sprang auf und fluchte. Erling und Jesper waren ebenso überrascht wie Carl; unsicher schauten sie sich an. Keiner von beiden wagte sich zu äußern – außerdem war der Lärm inzwischen so groß geworden, daß man kein Wort mehr verstehen konnte. Der Kampf im Gelände war in vollem Gange. Schließlich faßte sich Carl und fand sich mit dem Unabänderlichen ab. Er wußte sehr wohl, daß Jan sein bester Freund war… und das mit den Handschellen war eigentlich ein Zeichen echter Freundschaft! «In Ordnung, Jan», rief er. «Ich sehe ein, daß du recht hast. Etwas anderes kann ich sowieso nicht tun.» -82-
Jan klopfte ihm munter auf die Schulter. «Prima, Carl. Ich kann dir versichern, daß wir denen da draußen nicht zu helfen brauchen.» Nach und nach wurde es ruhiger; ab und zu krachte noch ein Schuß. Dann senkte sich für eine Weile Stille über die Gegend, bis man in der Ferne die Sirenen von Krankenwagen hörte. Die vier Freunde starrten gespannt auf die Werkstätten, wo es jetzt lebhaft zuging. Viele dunkle Gestalten bewegten sich dort. Krankenwagen fuhren an, und Befehle schallten durch die Nacht. «Ob wir jetzt nicht hingehen könnten?» fragte Jesper vorsichtig. «Nein», entschied Jan. «Die Polizisten wissen nicht alle, daß wir hier sind. Wenn wir hinüberlaufen, könnte es uns schlecht bekommen. Wir sind ja nur gekommen, um ein Auge auf unseren hitzigen Freund Carl zu halten… und das ist uns geglückt! Soll ich die Handschellen jetzt öffnen, Carl?» Als Carl befreit war, grinste er über das ganze Gesicht. «Es war wohl wirklich gut so, Jan… Ich weiß jedenfalls, daß du es in bester Absicht getan hast. Darum bin ich dir auch nicht böse.» * Als der Kriminalkommissar am nächsten Morgen zum Frühstück erschien, war er vortrefflicher Laune. Die Aktion der Polizei war genau nach seinen Plänen abgelaufen. Als Helmer das Signal gegeben hatte, befanden sich alle Spione, auch Katz, auf der Wiese zwischen dem Wald und den Werkstätten und konnten daher umzingelt werden. Bei der Schießerei waren einige Polizeibeamte verletzt worden, aber erfreulicherweise nur leicht. Drei der Spione waren böser dran; ob sie davonkommen würden, war ungewiß. «Und was ist mit Katz?» fragte Jan gespannt. «Er ist tot!» antwortete der Vater mit ernstem Gesicht. -83-
«Tot? Wurde er erschossen?» «Nein, er erschoß sich selber. Als der Kampf seinem Ende zuging, war er umstellt, und die Polizisten forderten ihn auf, sich zu ergeben… Da hob er schnell seine Pistole gegen die Stirn und drückte ab. Er sah natürlich, daß alles schiefgegangen war; eine lange Zuchthausstrafe erschien ihm wohl unerträglich. Man kann sagen, er erlitt den Tod, der seinem Wesen entsprach. Wenn er seine Talente im Dienst einer besseren Sache eingesetzt hätte, wäre er weit gekommen…» Helmer schwieg eine Weile und fuhr dann fort: «Wir haben übrigens einen Fang gemacht, der mich zunächst überraschte. Es ist ein Deutscher mit Namen Wolf, der sich im Wald befand, aber an dem Angriff nicht teilnahm, obwohl er bewaffnet war. Keiner der übrigen Spione kennt ihn, und ich bin fast davon überzeugt, daß dieser Wolf nach Kopenhagen geschickt worden ist, um Katz zu überwachen. Ich glaube auch, daß er es war, der den geheimnisvollen Schuß im Garten des Segelklubs abgab. Bisher hat er nicht reden wollen, aber er wird den Mund schon noch aufmachen. Wenn er Katz tatsächlich angeschossen hat, als Katz dir zu Leibe wollte, sind wir ihm jedenfalls Dank schuldig…» «Jan zu Leibe wollte!» Frau Helmer rang nach Luft und stellte die Kaffeekanne so schnell nieder, daß ihr Inhalt über die weiße Decke spritzte. «Was sagst du da, Mogens? Ist Jan in Gefahr gewesen?» Der Kommissar biß sich verärgert auf die Lippe, weil er die gewohnte Vorsicht vergessen hatte. Er wußte genau, wie nervös seine Frau war, und daß sie ständig Angst hatte, Jan könnte etwas zustoßen. Er blinzelte daher Jan zu und antwortete munter: «Oh, nimm das nicht so tragisch, Mutti. Das ganze war ein Versuch mit untauglichen Mitteln. Im Grunde nicht der Rede wert. Du siehst ja, daß Jan in bester Verfassung hier sitzt und recht ausgiebig frühstückt.» -84-
«Ja, ja», seufzte Frau Helmer. «Aber du sagst doch, daß dieser Wolf geschossen hat. Demnach muß die Geschichte doch ernst gewesen sein. Ich glaube, ihr schwindelt beide.» Jan lächelte sie liebevoll an: «Mir geht’s prima, Mutter. Und die Orangenmarmelade ist herrlich. Hast du sie selbst gemacht? Hm… wie die schmeckt!» «Findest du, mein Junge? Ja, das Rezept bekam ich von Frau Carstensen. Sie ist eine geborene Engländerin… und auf Orangenmarmelade verstehen sich die Engländer besonders gut.» «Hat dir Frau Carstensen noch andere Rezepte gegeben?» fragte Jan. Frau Helmer nickte eifrig, und nun drehte sich das Tischgespräch ausschließlich um Küchenfragen, die große Leidenschaft der Mutter, so daß die ernsten Probleme in Vergessenheit gerieten. Als der Kriminalbeamte ging, begleitete Jan ihn ein Stück weit auf dem Weg zur Schule. «Vater, ich möchte dich um etwas bitten.» «Was ist es, mein Junge?» «Mutter hat doch nächste Woche Geburtstag. Könnten wir da nicht alle zusammenlegen und ihr ein hübsches Gemälde schenken?» «Natürlich… aber wie kommst du gerade auf ein Gemälde, Jan?» «Ich habe dir doch damals von dem Kunstmaler erzählt, der mich telefonieren ließ. Er besaß keinen Heller, hatte einen Monat lang von Brot und Wurst gelebt und rechnete damit, daß ihm am nächsten Tag sein Telefon gesperrt würde… Er war also sehr schlecht dran, und wir könnten ihm helfen, wenn wir ihm ein Bild abkauften. » «In Ordnung, Jan.» Helmer lachte und schlug seinem Sohn auf -85-
die Schulter. «Wir wollen uns heute nachmittag seine Gemälde anschauen.» «Vielen Dank, Vater… und… da ist noch etwas.» Jan zog die Handschellen aus der Tasche. «Ich möchte mich herzlich für deinen guten Rat und die Dinger da bedanken. Sie waren sehr nützlich, aber jetzt brauche ich sie nicht mehr.» «Sehr nützlich, so, so!» sagte der Kommissar und warf seinem Sohn einen scharfen Blick zu. «Ist es dir etwa gelungen, einen gefährlichen Menschen damit zu bändigen?» «Ja, einen sehr gefährlichen Menschen… jedenfalls unter gewissen Umständen.»
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