Desmond Morris
Jason im Wunderland Der erste Fantasy-Roman vom Autor des Bestsellers >Der nackte Affe< Die Abenteuer u...
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Desmond Morris
Jason im Wunderland Der erste Fantasy-Roman vom Autor des Bestsellers >Der nackte Affe< Die Abenteuer unseres Jasons – eines ganz und gar unmythischen Helden -, der kein goldenes Vlies sondern bezeichnenderweise goldene Würmer sucht – beginnen, als er einen Spalt in einem alten Felsen entdeckt und das Land >Infels< betritt. Der Bewacher dieses Durchgangs ist ein gigantischer Maulwurf, der unbedingt die goldenen Würmer braucht – sonst wächst er ins Unermeßliche und verschließt das Tor. Auf der Suche nach den Würmern begegnet Jason nund den irrwitzigsten Figuren: dem >Bildhauer-Weltenbauer<, dem >Chaos-Erzeuger<, den gefiederten Zwergen, dem Schnauzenkönig und vielen anderen. Fantasy in der Tradition von Lewis Carrolls >Alice im Wunderland<
Aus dem Englischen übertragen von Rose Aichele
Made in Germany -1/85-1. Auflage 1110 © der Originalausgabe 1983 by Desmond Morris © der deutschsprachigen Ausgabe 1985 by Wilhelm Goldmann Verlag, München Umschlagentwurf: Design Team München Umschlagillustration: Klaus Holitzka, Mossautal Satz: Fotosatz Glücker, Würzburg Druck: Eisnerdruck GmbH, Berlin Verlagsnummer: 23862 Lektorat: Peter-Alexander Sondermann/Peter Wilfert Herstellung: Peter Papenbrok ISBN 3-442-23862-5
1. Das verlassene Dorf Die Schornsteine des Dorfes rauchten friedlich im graugelben Licht der Abenddämmerung. Es war schon Frühling, aber während der langen Wintermonate hatten sich die Dorfbewohner daran gewöhnt, ein Feuer brennen zu lassen, eine Angewohnheit, von der sie sich jetzt nur schwer trennen konnten. Jason trat ins Freie und schlenderte die Straße hinunter. Die Häuser, die sich im Dorfkern dicht aneinanderdrängten, machten einen verschlafenen und einträchtigen Eindruck. Nichts rührte sich. Einen Augenblick lang war es Jason so, als ob er das einzige menschliche Wesen sei, das am Leben geblieben wäre. Als er die Straße entlangging, versuchte er sich vorzustellen, was er tun würde, wenn er im Dorf niemanden mehr anträfe. In den Küchen der Häuser würde er bestimmt eine Menge zu essen finden. Er könnte dann überall herumschlendern, in den Gärten, in den Häusern und tun und lassen, was er wollte. Nach einer Weile würde er sich dann zwar ziemlich einsam fühlen, aber es wäre natürlich sehr aufregend, vollkommen frei zu sein, ohne jemanden, der einem im Weg stünde. Das ganze Dorf würde ihm gehören! Als er stehenblieb und einen langen Grashalm aus seiner Hülse zog, um an seinem weichen Ende zu saugen, hörte er ein dumpfes Grollen hinter sich. Er fuhr herum, konnte aber nichts sehen. Das Geräusch wurde lauter und durchdringender. Jason beobachtete prüfend den Abschnitt des Himmels, wo noch vor einer Stunde die Sonne gestanden hatte und der nun in ein orangefarbenes Licht getaucht war. Ihm war so, als ob er eine verschwommen umrissene Gestalt erkennen könnte. Plötzlich war dieses Etwas direkt über ihm - ein großer, schwarzer Schatten, der den dunkler werdenden Himmel durchfurchte. Der Schatten blieb pochend über Jason stehen und verschwand dann in einer Baumgruppe. Jason hatte zeitlebens in Avebury gelebt, aber so etwas war ihm noch nie begegnet. Merkwürdig, daß noch keiner im Dorf aus dem Haus gestürzt war, um nachzusehen, was es war. Vielleicht war der Ort wirklich menschenleer. Möglich war auch, daß der Schatten früher am Tag irgendwo in der Nähe gelandet war und die Dorfbewohner an einen abgelegenen Ort mitgenommen hatte. Jason war aus Versehen hiergeblieben, weil er den ganzen Nachmittag über in der alten Scheune
gelegen und eine der Katzen, die zum Hof gehörten, beobachtet hatte, wie sie sich um ihre Jungen sorgte. In dieser Zeit mußte es passiert sein. Es kann sich jetzt nur noch um Augenblicke handeln, dachte Jason, als er sich dem Dorf näherte. Jetzt muß doch dann gleich jemand zur Tür heraustreten oder ein Karren um die Ecke gerattert kommen, denn dann habe ich wieder den festen Boden der Wirklichkeit unter den Füßen. Tagträume sind zwar aufregend, aber er wußte, daß sie nicht lange dauern und immer etwas dazwischen kommt. Zugeben mußte er allerdings schon, daß Avebury ein seltsamer Ort war, an dem sich eine merkwürdige Denkweise beinahe von selbst ergab. Manche Orte sind so normal, daß man sich kaum vorstellen kann, daß dort jemals etwas Merkwürdiges passiert. Aber mit Avebury verhielt es sich anders. Schon am Ortsrand kann man es spüren, denn hier stehen überall die geheimnisvollen, senkrechten Felsblöcke, die die Häuser in einem weiten, exakt berechneten Kreis umgeben. Der größte Felsblock ist an die fünf Meter hoch und wiegt mehr als siebzig Tonnen. Jason hatte oft über sie etwas wissen wollen, aber nie eine befriedigende Antwort erhalten. Alles, was er herausfinden konnte, war, daß die Steine in grauer Vorzeit dort aufgestellt worden waren, vor Tausenden von Jahren. Angeblich sollten sie über Zauberkraft verfügen, aber was für eine Magie das sein sollte, konnte ihm keiner sagen. Heutzutage kommen die Leute oft von weit her, um sie zu besichtigen; aber wenn sie dann wieder abreisen, sind sie meistens auch nicht klüger als zuvor. Als er sich dem Dorf näherte, konnte er die dunklen Konturen einiger der Steine sehen, aber im Augenblick zwang ihn etwas, auf den Boden zu sehen. Als er die Straßenoberfläche mit den Blicken absuchte, hatte er das Gefühl, daß sie glühte. Nachdem sie dann ein paar Sekunden lang ganz fahl gewesen war, wurde sie wieder dunkel. »Toll!« sagte er, aber das Wort wurde durch ein tiefes Donnern übertönt. Die Erde fing an zu beben, und dann war wieder alles still, ja sogar ruhiger als zuvor. Jason wartete ab. Nach einer Weile, in der sich nichts mehr ereignet hatte, drehte er sich mit einem Ruck um, beinahe so, als ob er damit gerechnet hätte, jemanden hinter sich stehen zu sehen, aber die Straße, die zum Hof führte, war leer. Dann hörte er ein vertrautes Geräusch, das Trommeln von schweren Regentropfen, die auf die großen Blätter niederprasselten. Also war es nur ein Gewitter. Was für eine große
Enttäuschung, nachdem er zu der Überzeugung gelangt war, daß etwas Ungewöhnliches im Gange war. Aber Jasons Enttäuschung verflog rasch wieder, als er zu dem nächststehenden Baum aufblickte. Dessen Blätter waren vollkommen ohne den geringsten Tropfen, und erstaunlicherweise wurde das Getrappel immer lauter. Es kam von hinten, aus der Richtung des Dorfes. Er warf einen Blick über die Schulter zurück und wurde ganz starr vor Verwunderung. Alle Hunde aus dem Dorf waren auf dem engen Pfad. Die Hunde, zusammengerottet in einem riesigen Rudel, hetzten den Weg entlang, so schnell sie konnten, und erzeugten dabei das Trommelgeräusch auf der harten Straßenoberfläche. Sie näherten sich Jason, jaulten und bellten jedoch nicht, so daß er nur das Getrappel hören konnte, das sie beim Rennen verursachten. Keiner fehlte von der Hundemeute, die Jason so gut kannte, die Terrier, die Jagdhunde und die Bastarde, alle waren sie da zusammen. Ganz vorne gewahrte Jason die Gestalt Satans, seines Lieblingshundes, der die Meute anführte. Satan war der ergraute alte Boxer des Pfarrers. Er war mit einem schweren ledernen Maulkorb versehen, aber nicht um ihn daran zu hindern, andere Hunde zu beißen, denn er war der gutmütigste Hund im Dorf, sondern um ihn daran zu hindern, seine Knochen im Friedhof zu vergraben. Dieses Schicksal ereilte ihn, als die Bäckerswitwe eines Abends einen weißen Blumenstrauß zum Grab ihres Gatten trug und sich plötzlich Satan gegenübersah, der über einem frischgegrabenen Loch in unmittelbarer Nähe des Grabsteines stand und etwas zwischen den Zähnen hielt, das ihr wie ein Knochen ihres lieben Verblichenen erscheinen mußte. Sie hatte die Blumen fallen lassen und angefangen zu schreien. Sie hörte nicht mehr auf damit, bis sie drei Stunden später dann schließlich ihre Stimme verlor. Auch die Tatsache, daß der Hund den Knochen nur vergraben wollte, statt ihn auszugraben, brachte ihr keinen Trost. Von diesem Zeitpunkt an mußte der arme Boxer immer einen Maulkorb anhaben, wenn er nach draußen ging. Prompt hatten die Leute dem Hund den Spitznamen Satan gegeben, alle außer dem Pfarrer natürlich, der das bedauernswerte Geschöpf dadurch verwirrte, daß er es bei seinem alten Namen, Rex, rief. Jason liebte den häßlichen Hund und war erstaunt, als er ihn mit einer solchen Geschwindigkeit und einem wild entschlossenen Blick unverwandt auf sich zurasen sah. Als Satan ganz nahe war, pfiff Jason und rief ihn mehrmals hintereinander bei seinem Namen. Jasons Stimme wurde von
Mal zu Mal lauter, aber der Hund beachtete ihn überhaupt nicht. Die ganze Meute hetzte an Jason vorbei, ohne anzuhalten. Sie rasten die Straße hinauf, den Weg zum Bahnhof entlang und verschwanden beim Wäldchen hinter der Wegbiegung. »Toll!« entfuhr es Jason wieder, aber diesmal war seine Stimme der einzige Laut, der zu hören war. Wieder einmal war er vollkommen allein. Was hatte dies alles zu bedeuten? Wohin liefen sie und warum waren sie dabei so bestimmt und todernst? Er nahm seinen Weg zum Dorf wieder auf und beschleunigte jetzt seine Schritte, denn er wollte sich nichts entgehen lassen. Bevor Jason den Ortskern von Avebury erreichte, mußte er den großen Kreis der aufgerichteten Felsblöcke passieren, die wie erstarrte Wächter um den Haufen von Häusern herumstanden. Die meisten waren so groß, daß sie Jason überragten. Besonders einer war riesig, größer als die anderen, und Jasons Onkel hatte ihm erzählt, daß dies ein wachsender Stein war und daß ihn einige als das neunte Weltwunder ansähen. Die älteren Dorfbewohner schworen, daß er früher kleiner gewesen sei und daß er jedes Jahr ein paar Zentimeter wachse, aber keiner hatte sich jemals die Mühe gemacht, den Stein zu messen, um das sicher zu beweisen. Jason schaute sich nach dem riesigen wachsenden Stein um, als er ins Dorf gelangte, und eine winzige Sekunde lang meinte er, daß er gesehen habe, wie er sich ganz leicht bewegte. Wahrscheinlich war es aber nur ein Streich, den ihm das schwächer werdende Licht spielte, und er ging weiter und direkt auf den Dorfplatz zu. Nichts passierte. Absolut gar nichts. Weder die Dorfbewohner noch das Vieh zeigten sich. Nichts rührte sich. Jason rannte zum Haus eines Freundes und klopfte an die Tür. Keine Antwort. Er spähte durchs Fenster und rief nach seinem Freund. Aber er bekam immer noch keine Antwort. Der ganze Ort schien verlassen zu sein. Nachdem Jason auch bei anderen Häusern nach einem Lebenszeichen gesucht hatte, aber erfolglos geblieben war, beschloß er, daß ihm nichts anderes zu tun blieb, als sofort zum Hof zurückzukehren und dort zu berichten, was er gesehen hatte. In seinem Tagtraum war er munter von Küche zu Küche geschlendert und hatte sich ausgiebig an den zurückgelassenen Speisen gelabt, aber dies war eben kein Tagtraum, sondern bare Wirklichkeit, und Jason brach daher unverzüglich auf. Als er an den Dorfrand kam, fiel sein Blick wieder auf den wachsenden Stein, der in der fortschreitenden Dämmerung fast schwarz war. Wie vom
Schlag getroffen, hielt er inne. Der Stein bewegte sich wirklich, bebte sichtbar. Jason hörte ein leises Zischen, das aus eben dieser Richtung kam. Ganz vorsichtig bewegte er sich darauf zu, öffnete ein kleines Gatter im Zaun, der die Straße säumte, glitt hindurch und duckte sich im Gras. Er war ungefähr zehn Meter vom Stein entfernt und konnte ihn deutlich sehen. Der Stein bebte nun noch heftiger. Jason beobachtete ihn, ohne sich zu bewegen. Er zuckte noch drei- oder viermal kurz hintereinander und kam dann zum Stillstand. Auch das Zischen hatte aufgehört. Jason wartete, aber nichts passierte. Nach einer Weile stand er auf und näherte sich dem Stein so leise wie möglich. Als er nur noch ungefähr einen Meter entfernt war, begann es im Innern des Steins zu klopfen. An seiner Oberfläche zeichnete sich jetzt ein langer Riß ab. Jason berührte den Spalt mit den Fingerspitzen und fühlte, daß er größer wurde. Der Riß wand sich wie eine Schlange über die Vorderseite des riesigen Felsblocks, die dunkle Linie wurde immer länger, bis sie schließlich den Boden berührte. Jason sah zu, wie sie im Gras verschwand, dann schaute er auf, gerade noch rechtzeitig, um das andere Ende des Spalts über der Spitze des Steins verschwinden zu sehen. Nun setzte sich der Spalt auch auf der Rückseite blitzartig nach unten fort, wo er ebenfalls im Boden verschwand. »Er bricht auf wie ein ausgebrütetes Ei«, keuchte Jason und sprang zurück, um nicht von einem der Teile getroffen zu werden. Ächzend begannen die beiden Teile auseinanderzufallen, wobei sich ein heftiger Wind erhob, Blätter und Grasbüschel losgerissen wurden und wirbelnd in dem schwarzen Loch in der Mitte des Steins wie hineingesogen verschwanden. Der Wind pfiff und zischte, und Jason fühlte, wie er nach und nach in die gleiche Richtung gezogen wurde. Er versuchte noch, sich am Rasen festzuklammern, aber es war sinnlos. Im Nu hatte es auch ihn fortgewirbelt. Im Innern des wachsenden Steins stieß er mit etwas Weichem zusammen, an dem er sich mit beiden Armen festhielt. Was es auch sein mochte, es begann mit ihm zu kämpfen. Es puffte, stieß und grunzte, als es gegen die aufheulende Windbö ankämpfte. Schließlich gelang es der Kreatur, sich aus dem klaffenden Loch zu befreien und über den Felsrand zu ziehen, wo sie verschwand. Jason zog es gegen eine feste Oberfläche, wo ihn der Wind plattdrückte. Er konnte nicht mehr atmen. Stöhnend ebbte die Bö ab, so daß Jason wieder herauskriechen konnte und keuchend auf dem weichen Rasen liegen blieb. Zum ersten Mal, nachdem die Hunde so schnell verschwunden waren, wurde ihm nun bewußt, daß er nicht allein
war. Irgendwo im Halbdunkel hatte er einen seltsamen Leidensgenossen, den er noch nicht kannte. Jason erhob sich und schüttelte die Blätter und Gräser von seinen Kleidern und aus seinem Haar. Dann hörte er eine Stimme: »Klonk, klonk, klonk.« »Wer bist du?« rief Jason. »Wo bist du?« »Klonk-klonk-klonk-klonk.« »Was willst du von mir?« fragte er mit fester Stimme. »Klonk-klonk. Klonk.« »Ist das eigentlich das einzige Geräusch, zu dem du fähig bist?« fragte Jason. Da hörte er ein leises Gemurmel. Es schien von einem der anderen Felsblöcke in dem weiten Ring zu kommen. Das Gemurmel ging in ein Glucksen über, und das wiederum verwandelte sich in eine traurige, leise Stimme: »Wirst du mir weh tun?« »Nein, natürlich nicht«, antwortete Jason. »Komm aus deinem Versteck heraus, damit ich dich sehen kann!« »Sie haben mir aber erzählt, daß du mir weh tun würdest«, ließ sich die Stimme wieder vernehmen. »Ich tu doch keinem Tier etwas zuleide - und auch keinem Menschen«, fügte er schnell hinzu, weil er ja nicht wußte, mit was für einem Geschöpf er sprach und weil er es auf keinen Fall durch eine unbedachte Äußerung verletzen wollte. »Wirst du mir helfen?« fragte das Wesen mit Zweifeln in der Stimme. »Warum bist du eigentlich so mißtrauisch?« fragte Jason. »Natürlich werde ich dir helfen. Jetzt komm schon hierher.« Nur sehr zögernd kam das seltsame Wesen hinter dem Stein hervorgekrochen und bewegte sich in Jasons Richtung. Dabei machte es wieder das Klonkgeräusch. »Klonk, klonk, klonk. Klonk. Klonk-klonk.« Als die Gestalt näherkam, sah Jason nur ihr Gesicht ganz deutlich im Mondschein. Ein großes, rundes Gesicht mit einem unendlich traurigen Ausdruck, riesigen Augen und einer großen, flachen Schnauze schaute ihn an. Die weichen Lippen hingen an den Seiten herunter. Unmittelbar unter der schwarzen Schnauze befanden sich zwei kurze, zweimal nach innen geknickte Arme, deren Hände unter dem Kinn
aneinanderstießen. Statt der Finger zeigten sich an den Händen lange, gebogene Klauen mit einer stumpfen Spitze. Das Wesen stand auf zwei langen Beinen, die sich nach unten verjüngten. Die Füße sahen aus wie Vogelkrallen. Für Jason stellte es sich so dar, als ob die Glieder direkt aus dem riesigen, runden Kopf kämen. Das Wesen schien kaum einen Körper zu haben. Sowohl der Kopf als auch die Glieder bedeckte ein weicher, dichter, brauner Pelz. Nur am Hinterkopf waren statt der Haare Stacheln, die bei jedem Schritt auf und nieder wippten. Zwischen den breiten Stacheln befanden sich etwas dünnere Röhren mit einem Wulst an der Spitze. »Wie heißt du?« fragte Jason. Das Wesen antwortete nicht, sondern starrte ihn nur verzweifelt mit seinen riesigen, schwarzen Augen an. »Ich heiße Jason. Sag mir bitte, wie du heißt!« Statt zu antworten, spazierte die Kreatur plötzlich davon und klonkte dabei wieder. Sie bewegte sich im Kreis. Nach ein paar Sekunden war sie wieder genau an der gleichen Stelle wie zuvor und starrte Jason an. Er wiederholte seine Frage noch mehrmals, aber jedesmal reagierte das Wesen auf die gleiche Weise, das heißt, es wandte sich zuerst von Jason ab, tat so, als ob es ihn verlassen wolle, um dann in einem Bogen wieder zu ihm zurückzukehren und sich mit einer bedrückten Miene vor ihm aufzustellen. So kam Jason jedenfalls nicht weiter. Er beschloß, eine andere Taktik anzuwenden. Da er gesehen hatte, daß das Wesen sein Maul geschlossen ließ, wenn es das Klonkgeräusch machte, sagte Jason in seinem freundlichsten Tonfall: »Du mußt ein Bauchredner sein.« Die Augen des Wesens wurden immer größer. »Nein«, sagte es, »das ist wohl kaum möglich.« »Und warum nicht?« »Weil ich nicht weiß, was das Wort bedeutet.« »Das ist doch albern«, sagte Jason. »Als du geboren wurdest, hast du sicher geweint, ohne zu wissen, was >weinen< bedeutet.« Die Reaktion des Wesens auf Jasons Rede war höchst merkwürdig. Als es das Wort »geboren« hörte, begann es zu zittern, bis es wenig später auf dem Boden in sich zusammenfiel. »Was ist denn nun schon wieder los?« fragte Jason, der wegen der Wirkung seiner Worte natürlich furchtbar erschrak. »Dieses Wort, dieses Wort«, ließ sich die Kreatur vernehmen. »Welches Wort meinst du? Etwa >geboren« Als Jason dies sagte, wurde das Zittern wieder heftiger, und das bedauernswerte Geschöpf schlug mit den Armen und Beinen um sich. Schwankend erhob es sich und begann wie ein Nachtfalter, der sich die
Flügel an einer Lampe verbrannt hat, zu kreisen. Dabei murmelte und gluckste es vor sich hin. Das Geklonke erfolgte in immer kürzeren Abständen. »Aarrh. Grrh. Aarrh«, rief es und vergrub dabei seinen Kopf in einer Erdmulde. Die spitzen Stacheln des Geschöpfs ragten in die Luft, während das Gesicht verborgen blieb. Es begann nun, auf dem Boden herumzuscharren und sehr schnell zu graben. Mit den dünnen Hinterbeinchen schleuderte es die Erde nach hinten. Allmählich versank das Wesen immer tiefer im selbstgeschaufelten Loch. Nur noch der Schopf mit den Stacheln und Röhren ragte heraus und sah aus wie eine seltene, stachlige Pflanzenart. Jason rannte zu ihm hin, um es zu beruhigen, aber alles, was er zu hören bekam, war ein ersticktes Murmeln. Als er sich niederbeugte, um einen der Stacheln zu berühren, zuckten sie alle zusammen und begannen, sich zu verdrehen. Auch das Klonkgeräusch war nun wieder zu hören. »So klonkt ihr also! Mit euren Stacheln. Wenn du mir deinen Namen nicht sagst, werde ich dich einfach Klonk nennen. He Klonk, komm raus! Ich tu dir nichts.« Aber Klonk zog es vor, liegen zu bleiben und vor sich hin zu murmeln. Jason versuchte, an einem Stachel zu ziehen. Dabei vermied er es tunlichst, sich am spitzen Ende weh zu tun. Klonk ließ ein langgedehntes Gurgeln hören: »Wwuugll. Wwrrghh. Wwuugll. Grrhh.« Und dabei begann er wieder zu scharren. Als Klonk immer weiter im Boden versank, bemerkte Jason, daß sich die dünnen Röhrchen, die zwischen den Stacheln wuchsen, zu verändern begannen. Die Wülste an ihren Spitzen wuchsen sehr schnell und veränderten sich in der Farbe hin zu einem sehr viel helleren Aussehen. Als sie sich ausdehnten, wurden sie rot und gelb und erglühten auffällig in der schwach erhellten Umgebung. Als sie zehnmal so groß waren wie am Anfang, glichen sie prachtvollen, farbenfrohen Blumen. »Hallo Klonk!« rief Jason, »du treibst ja Blüten!« Jason hörte nur, daß der Klonk mit trauriger Stimme etwas vor sich hin murmelte. Nun entfalteten sich die Blumen erst zu ihrer vollen Schönheit, so daß Jason der Versuchung nicht widerstehen konnte, eine zu pflücken. Doch kaum tat er dies, bewegten sich wieder die Stacheln und klonkten aufgebracht, und von unten kam ein wildes Gurgeln herauf.
»Wwrrghh! Goorrghh!« Der Klonk schrie vor Schmerz auf und erhob sich schwankend. Jason sprang zurück, damit ihn die spitzen Stacheln ja nicht verletzten, und sah sich die Blume an, die er in der Hand hielt. Als er an ihr riechen wollte, fiel sie in sich zusammen und verwelkte. Nach wenigen Sekunden war sie so schlaff wie ein Ballon, aus dem die Luft entwichen war. »Siehst du nun!« brüllte der Klonk und schlug sich dabei verzweifelt die Hände über den Kopf zusammen. »Ich wußte ja, daß du mir weh tun würdest. Sie hatten recht. Ich bin ein Unglücksrabe. Ich hätte nie heraufkommen sollen. Niemals!« Und mit einem lauten Stöhnen und zitternd vor Schmerz ließ sich das seltsame Geschöpfe im Gras nieder. »Es tut mir ja furchtbar leid«, sagte Jason. »Ich wollte dir bestimmt nicht weh tun. Es war dumm von mir, aber ich konnte einfach der Versuchung nicht widerstehen, eine dieser herrlichen Blumen zu pflücken.« »Genau, das ist es ja. Du konntest der Versuchung nicht widerstehen das ist genau das, was sie mir sagten. Ach, ich Unglücksrabe!« Der Klonk sah nun noch trauriger aus als am Anfang. »Aber du bist jetzt sicher vor mir. Ich würde ja gar nicht daran denken, es nochmals zu tun«, besänftigte ihn Jason. »Es gibt ja auch noch andere - jeder wird mir was ausreißen wollen, wenn er mich zum ersten Mal sieht. Es wird mir das Leben kosten. Auf eine langsame und schmerzhafte Weise wird es mich umbringen. Ich weiß nun, daß ich ihnen hätte glauben sollen.« »Unsinn, ich werde jedem sagen, daß er dich nicht berühren soll«, versicherte ihm Jason. »Das ist leicht gesagt«, fuhr ihn der Klonk an, »aber ich bin eben viel zu verführerisch, wenn meine Blumen blühen. Keiner kann mir widerstehen, wenn er mich zum ersten Mal sieht.« »Sie werden vernünftig handeln«, sagte Jason, »sie werden es bestimmt lernen.« »Bis dahin bin ich tot - zu Tode gepflückt, meine ganzen Blüten werden dahin sein!« grollte der Klonk. »Dann werde ich dich vor ihnen verstecken. Wenn du mich begleitest, verstecke ich dich in der alten Scheune. Keiner ist mehr dort gewesen, seit die neue Scheune im letzten Winter fertig wurde. Du kannst dort bleiben, und ich werde dir was zu fressen und Wasser bringen. Was frißt du überhaupt?«
»Würmer«, antwortete der Klonk. »Oh«, meinte Jason, »ich werde mir alle erdenkliche Mühe geben, daß es dir an nichts fehlt. Jetzt komm schon!«
2 Die goldenen Würmer Als sie zum Bauernhof spazierten, war Jason ziemlich schweigsam, denn er überlegte. Der Klonk murmelte leise vor sich hin und leckte sich die Lippen, als er an die versprochenen Würmer dachte. Er trottete dahin und klonkte dabei ziemlich geräuschvoll. Seine Blumen waren wieder in die Röhren zurückgeschrumpft. »Warum verrätst du mir eigentlich nicht deinen richtigen Namen?« fragte Jason unvermittelt. »Damit würde ich nur in deine Schuld geraten«, murmelte der Klonk. »Aber das ist doch lächerlich«, sagte Jason. »Ich hab' dir ja auch schließlich meinen Namen genannt und bin dadurch nicht in deine Schuld geraten.« »Warum willst du mich dann verstecken und mir zu fressen geben?« fragte der Klonk. »Weil ich dir helfen will.« »Genau. Das ist es ja, was ich meine«, erwiderte der Klonk. »Du hast mir deinen Namen aufgehalst und willst dich dafür revanchieren, indem du mir behilflich bist. Aber dies ist dein ganz spezielles Spielchen. Ich bin keine Spielernatur.« Jason beschloß, sich nicht mehr mit dem Klonk herumzustreiten, und so gingen sie schweigend weiter. Die Stille wurde nur durch die Klonkgeräusche und ein gelegentliches Gemurmel unterbrochen. Jason hätte gern mehr über die heftige Reaktion gewußt, die er durch das Wort »geboren« verursacht hatte, aber er befürchtete, daß das Ganze von neuem beginnen würde, und hielt lieber den Mund, bis sie zum Hof gelangten. »Die Scheune ist dort drüben«, sagte er und wies mit dem Finger dem Klonk den Weg zu einem großen, baufälligen Tor am Ende des Gebäudes. Drinnen machte sich das Geschöpf auf einem Heuhaufen ein Lager zurecht und schlief sofort ein. Es begann geräuschvoll zu schniefen und zu schnarchen, sobald sich die Lider über den großen, schwarzen Augen gesenkt hatten. Es überraschte Jason, als er jeweils einen großen,
schwarzen Fleck auf jedem Lid entdeckte, so daß er das Gefühl hatte, daß ihn das seltsame Wesen auch noch mit fest geschlossenen Augen anstarrte. Jedenfalls würde sich jeder, der nicht genau hinsah, davon täuschen lassen, dachte Jason, und es sich zweimal überlegen, ob er sich an den Klonk heranmachen sollte, um ihn zu überlisten. Allerdings wurde der Trick durch dieses fürchterliche Geschnarche vereitelt. Ja, der arme, alte Klonk war wirklich eine Art Unglücksrabe. Er brauchte jemand, der ihm half. Jason nahm die Lampe vom Haken und holte einen alten, verbeulten Eimer. Dann machte er sich auf die Suche nach Würmern. In dem Rasen hinter dem Hof fand er einige ohne große Mühe. Es waren große, saftige, die sich in der kühlen Nacht an die Oberfläche gewagt hatten. Sie krochen dort zu Hunderten herum, rund, fett und glänzend; sie steckten noch zur Hälfte in der Erde. Jason mußte sie festhalten, bevor sie in ihre Löcher zurückzuckten, und sie dann — wie es die Amseln taten - langsam herausziehen, damit sie nicht auseinanderbrachen. Voller Eifer machte sich Jason an die Arbeit, kroch hierhin und dorthin und warf einen Wurm nach dem anderen in den alten Eimer. Nach zehn Minuten wischte er sich die Finger am Gras ab und betrachtete beim Schein der Lampe seinen Fang. Zufrieden mit dieser krabbelnden Menge von Klonkfutter, kehrte er zur Scheune zurück und öffnete leise das Tor. Er konnte das Wesen nirgends sehen, aber dann hörte er ein Scharren und Schnüffeln, begleitet von einem gelegentlichen »Klonk-klonk«, das aus einer entfernten Ecke der Scheune kam. »Was zum Donnerwetter machst du denn?« rief Jason. »Du kannst doch nicht einfach den Scheunenboden umgraben!« »Würmer«, murmelte der Klonk vor sich hin. »Ich muß jetzt unbedingt Würmer haben!« »Ich weiß ja, daß du hungrig bist, aber deswegen mußt du doch nicht alles gleich kaputtmachen. Ich hab' dir einen ganzen Haufen Würmer mitgebracht. Frische Landwürmer, eigene Zucht.« Der Klonk kroch aus dem Loch heraus und stürzte sich mit einem wahren Heißhunger auf den Eimer. Er stieß seine breite Schnauze über den Rand mitten in die Würmer und begann dabei wollüstig zu schmatzen. Wenig später sank er gesättigt auf den Boden und schleppte sich noch zum Heuhaufen hinüber, wo er sich müde auf dem weichen Lager niederließ, das ihm vorher zum Schlafen gedient hatte. »Das ist der entscheidende Augenblick, die Stunde der Wahrheit«, plapperte er vor sich hin. »Nun werde ich's jeden Augenblick erfahren. Ich
muß es herausfinden. Die Maischnucken mögen mich beschützen und alle anderen, die sich von Würmern ernähren.« Er faltete seine Vorderpfoten, schloß die Augen und verharrte in dieser Stellung, als ob er etwas Schreckliches erwarten würde. Jason wurde ungeduldig. »Von welchem Augenblick sprichst du eigentlich?« fragte er. »Was meinst du damit?« »Sieh mich ganz genau an«, antwortete der Klonk, der seine Augen immer noch fest geschlossen hielt. »Bring die Lampe hierher - und sag mir, ob du eine Veränderung oder etwas Seltsames bemerkst.« »Glaubst du, daß dir von den Würmern schlecht wird? Mußt du dich übergeben?« Aber Jason bekam keine Antwort. Der Klonk holte tief Atem und schien sich sehr intensiv auf etwas zu konzentrieren. Nach ein paar Minuten öffnete er die Augen wieder und schaute an sich hinunter. »Habe ich mich verändert? Ist dir eine Veränderung aufgefallen?« »Eigentlich nicht, außer daß du vielleicht ein bißchen gewachsen bist. Aber ich nehme an, das ist ganz normal mit all den Würmern in deinem Bauch.« »Wwrrghh! Gllrrghh! Wwrrghh!« kreischte der Klonk. »Ich habe versagt! Ich werde sterben müssen. Entsetzlich! Wwrrghh! Abscheulich! Grrarrghh! Einfach unbeschreiblich! Gllrrghh!« Geifernd und gurgelnd schlug der Klonk im Heu um sich. Jason wartete erst mal ab, denn es hätte ja nichts genützt, den Klonk zu unterbrechen. Er war in voller Fahrt, und das beste war, das Ganze über sich ergehen zu lassen. Schließlich sank das Geschöpf in sich zu einem Häuflein Elend zusammen. Jason und der Klonk schauten sich schweigend an. »Nun gut«, sagte Jason in geschäftsmäßigem Ton, »wenn du mir alles erklärst, werde ich versuchen, dir zu helfen.« »Dazu ist es zu spät, du kannst mir nicht mehr helfen.« »Leg zuerst mal diese Leichenbittermiene ab, du bist noch lange nicht tot.« »Über kurz oder lang werde ich es sein. Sie haben uns davor gewarnt, was passieren würde, wenn wir die Regel mißachten. Ich hätte es nicht riskieren sollen!« »Wie wirst du sterben?« fragte Jason mit ernster Stimme. »Was wird dich nach deiner Meinung umbringen? Und wer sind eigentlich >sie«
»Sie sind die Herrschenden, und sie haben gesagt, daß, wenn wir ohne Erlaubnis versuchten, einen Durchbruch zu wagen, das heißt ohne die goldene Zeremonie, wir... wir...« »Jetzt red schon weiter!« »Wir an Gewicht zunehmen würden.« »Wie albern!« schnaubte Jason. »Das wird dich ja wirklich nicht umbringen!« »Du blöder, plattfüßiger, quadratschädliger, idiotischer...« Der Klonk fing wieder zu zittern an. Wütend fuchtelte er mit den Armen und Beinen in der Luft herum. Schließlich schüttelte es ihn vor Furcht und Wut. Wieder einmal mußte Jason geduldig warten, bis der Anfall vorüber war. Nach einer längeren Pause sagte der Klonk traurig: »Ich muß wohl sterben, weil ich immer größer und so schwer werde, daß ich mein Gewicht nicht mehr verkraften kann. Ich werde ersticken. Wenn ich es geschafft hätte, die Regel zu durchbrechen, wäre mein Bauch nach dieser Mahlzeit von Würmern nicht angeschwollen. In diesem Augenblick hat sich mir die Wahrheit offenbart. Und ich habe versagt. Ich fing sofort zu wachsen an, und es wird so weitergehen, bis ich die gesamte Scheune ausfülle.« »Warum gehst du dann nicht dorthin zurück, woher du gekommen bist?« Jason versuchte, ihm einen nützlichen Rat zu geben. »Sieh mich doch an! Nimm die Lampe und leuchte mich an!« »Nun wird mir klar, was du meinst«, sagte Jason. Er wunderte sich allerdings sehr über seine Entdeckung, denn der Klonk war tatsächlich schon zweimal so groß wie vorher. »Du bist nun schon zu groß, um durch das Loch im wachsenden Stein zu gelangen.« Der Klonk schluchzte immer kläglicher und versank immer tiefer im Heu. »Aber halt!« rief Jason. »Es ist ja ein Stein, der wächst. Wenn er also auch größer wird, vielleicht...« Aber der Klonk unterbrach ihn. »Nein, ach nein - das ist doch alles Unsinn! Wer hat dir denn das erzählt? Der Stein selber wächst nicht. Er wird als wachsender Stein bezeichnet, weil wir wachsen, wenn wir ihn ohne Erlaubnis durchbrechen. Wir wachsen, bis wir sterben. Wwrrghh! Grrhh! Schmerzhaft, furchtbar, abscheulich...!« »Klonk!« »... Erbärmlich, ekelhaft, entsetzlich...!«
»Ach Klonk!« rief Jason. »Halt endlich den Mund und laß mich mal überlegen.« Beide schwiegen nun. Die Zeit verstrich, aber Jason fiel nichts Vernünftiges ein, und ganz offensichtlich wuchs der Klonk nun schneller. Er kam ihm vor wie ein Luftballon, der aufgeblasen wird. Jason hielt nicht viel davon, plötzlich einen Klonk auf dem Hals zu haben, der so groß wie die Scheune war. Die Furcht des seltsamen Geschöpfes bezüglich seines zukünftigen Wachstums begann auch ihn mit Sorge zu erfüllen. Vielleicht würde der Klonk tatsächlich unter entsetzlichen Schmerzen eingehen, erstickt durch sein Körpergewicht wie ein gestrandeter Wal. So etwas mit ansehen zu müssen wäre für Jason wirklich schrecklich gewesen. Er mußte also etwas tun, einen Ausweg finden. »Gibt es wirklich nichts, das dich daran hindern könnte weiterzuwachsen?« fragte er hoffnungsvoll. »Nur die Goldenen Würmer«, murmelte der Klonk. Jason sprang auf. »Warum hast du mir das denn nicht schon früher gesagt, du großer, dummer Klonk? Ich werde dir sofort welche besorgen. Wo gibt es sie denn?« »Sie sind im Innengestein, aber du würdest sie nie im Leben finden! Solange ich mich erinnern kann, habe ich nach ihnen gesucht. Sie leben an einer ganz bestimmten Stelle, und keiner weiß, wo die eigentlich ist. Nun, vielleicht wissen sie darüber Bescheid, aber keiner hat sie mir je verraten.« »Mir werden sie die Stelle schon verraten«, meinte Jason. »Ich werde ihnen eben die Würmer aus der Nase ziehen.« »Wenn du glaubst, dies ist die Zeit zum Witze reißen, dann hoffe ich, daß dich der Bildhauer in seine Gewalt bekommt. So, das wäre alles!« schloß der Klonk. Wütend stieß er dabei mit seinem geschwollenen Fuß an den leeren Eimer. »Der Bildhauer? Wer ist denn das?« fragte Jason. »Ach, vergiß es! Du wirst ohnehin nicht ins Innengestein gelangen. Keiner von draußen hat das bis jetzt geschafft. Keiner. Nur umgekehrt ist's schon gelungen.« »Warum kann ich nicht einfach durch den Spalt hindurchschlüpfen, wie du das ja auch gemacht hast, und mich dorthin begeben, wo du herkommst? Schließlich hast du ja den Stein offengelassen, als du...« »Was?« fauchte ihn der Klonk an. »Was soll ich getan haben?« »Nun, ich habe dich wohl erschreckt«, erklärte Jason, »und du bist weggerannt und hast den Stein offengelassen.«
»Das ist ja eine Katastrophe, eine ganz und gar mißliche Angelegenheit! Ich muß sofort weg und ihn wieder verschließen ... Wenn nicht, wird es im Innengestein ein Massaker geben. Der Bildhauer wird verrückt werden, und meine Freunde werden darunter zu leiden haben. Ich habe sie verraten. Ach du meine Güte, was habe ich ihnen bloß angetan!« Der Klonk machte verzweifelte Anstrengungen, wieder auf die Beine zu kommen, aber sein Gewicht war zuviel für sie, und sie bogen sich unter seiner ballonförmigen Gestalt nach beiden Seiten. »Ruh dich aus. Ich gehe allein. Versuch zu schlafen.« Jason streckte die Hand aus und streichelte das weiche Fell des Riesenkopfes. »Armer alter Klonk, du steckst ja wirklich in der Klemme! Aber keine Bange, du stehst jetzt unter meinem persönlichen Schutz. Ich werde mir schon noch etwas einfallen lassen.« Der Klonk sah ihn lange und wehmütig an, blinzelte dann und würgte. Dann seufzte er tief und schloß die Augen. Jason überließ den vor sich hin plappernden Klonk sich selbst. In Gedanken versunken ging er zum Scheunentor. Er zögerte und versuchte, einen Entschluß zu fassen. Irgendwie hatte er das Gefühl, daß es für ihn nicht schwer sein würde, die Goldenen Würmer zu finden. Offensichtlich mußte sich der Klonk dabei ganz besonders dumm angestellt haben. Bestimmt erforderte es nur ein wenig kluges und schlaues Handeln. Aber angenommen, er hatte unrecht und es würde viel Zeit in Anspruch nehmen, würde sich dann noch die Mühe lohnen? Unter Umständen wäre er dann zu spät dran, um den immer größer werdenden Klonk noch zu retten. Andererseits war das Schicksal des Klonks jedoch besiegelt, wenn er nicht ging. Er hatte also nichts zu verlieren, und wenn er sich selbst gegenüber ehrlich war, dann verlangte es ihn nach einem Abenteuer, und hier bot sich ein idealer Anlaß dazu, er mußte also gehen, koste es, was es wolle. Er stieß mit der Hand das Scheunentor auf, drehte sich noch einmal um und rannte zu dem im Heu schlummernden Klonk zurück. »Klonk! Wach auf!« zischte er. »Wwrrghh?« »Wach auf und hör mir gut zu. Ich muß dich etwas fragen, bevor ich weggehe. Du mußt mir vertrauen und mir deinen richtigen Namen sagen und alles über dich erzählen, was mir helfen könnte. Klonk, bitte wach auf!« Jason begann das unförmige Bündel kräftig zu schütteln. »Ach du meine Güte! Nun, wenn du meinst, daß es dir hilft. Ja doch, das könnte vielleicht der Fall sein. Wo soll ich bloß anfangen?«
»Mit deinem Namen.« »Nun - sie nennen mich Großmaul. Meine Freunde - ja, du hast richtig gehört! - sagen, daß ich verrückt bin und nennen mich das verrückte Großmaul. Sie haben mich verstoßen, aber ich wollte es nicht wahrhaben. Das habe ich nun davon! Ich komme vom Silbernen Sumpf. Für mich ist nur eines wichtig: eine Unmenge Würmer, genau richtig...« und dabei schlössen sich die Augen wieder genüßlich. »Halt! Du sollst wach bleiben - nur noch einen Augenblick ... Sag mir, was passiert ist, als du hierher kamst und die Schranke zur Außenwelt durchbrochen hast? Man hörte ein lautes Donnergrollen, und die Dorfhunde wurden von einer richtigen Panik ergriffen.« »Mag... Magnetie... Mag... jetzt fällt mir das Wort nicht mehr ein... Die Magneten gerieten durcheinander... alles bebte... Furchtbare Zeit... jetzt schlafen... schlaaafen.« »Du bist ein hoffnungsloser Fall, Klonk. Ist das wirklich alles, was du mir zu sagen hast?« »Würmer. Muß die Goldenen Würmerhaben. Goldenen...« »Klonk!« »Nimm dich in acht vor dem Bildhauer...! Wwrrghh...« Jason gab auf. Er warf noch einen letzten Blick auf seinen merkwürdigen, schlaftrunkenen Besucher und ging wieder zum Scheunentor. Diesmal wandte er sich nicht mehr um. Draußen war es so still, daß man die Stille förmlich greifen konnte, so als ob sie darauf warten würde, daß ein schneidender Ton ihre Monotonie unterbrechen würde. Als Jason die Straße erreichte, machte er einen Satz. Er hörte ja wirklich ein Geräusch, und zwar das verzweifelte Gebell eines einzelnen Hundes. Und dann wieder Stille und das unmerkliche Vibrieren. »Satan! Satan, bist du das?« Einen Augenblick lang hatte Jason geglaubt, daß das Jaulen so klang, als ob es von seinem alten Freund, dem Boxer des Pfarrers, käme. Aber er mußte sich getäuscht haben. Er war sich nicht sicher. Jedenfalls blieb sein Rufen unbeantwortet, und er hörte auch sonst keinen Laut mehr, als er eilends den Weg zum Dorf und damit zum wachsenden Stein hinunterging. Die Öffnung, durch die der Klonk gekommen war, klaffte, noch immer unverändert, im Gestein. Ohne zu zögern, drang Jason ins Innere vor. »Es muß doch eine Möglichkeit geben, die Öffnung wieder zu schließen«, sagte er laut vor sich hin, »denn die Arme des Klonks sind ja
auch nicht so stark. Wie hat er es bloß fertiggebracht, den Stein zu öffnen?« Er tastete alles ab und drückte überall drauf, aber nichts passierte. Dann versuchte er es, indem er auf dem Boden unter seinen Füßen herumtrampelte. Beim vierten Mal spürte er ein leichtes Vibrieren, auf das ein Beben folgte. Die beiden Steinhälften ächzten, gaben ein zischendes Geräusch von sich und glitten langsam wieder aufeinander zu, bis sie schließlich zuschnappten. In diesem Augenblick war es Jason, als ob es im Innern des Gesteins heller würde. Woher kam das Licht? Er drehte sich nach allen Seiten in der kleinen Höhle. Als er über die Schulter zurückblickte, erkannte er dessen Ursprung. Zu seiner großen Verwunderung kam das Licht vom Vollmond her. In dem Augenblick, als die beiden Hälften zuschnappten, war nämlich der ganze wachsende Stein durchsichtig geworden, so daß Jason durch ihn wie durch eine Glaskuppel hindurchsehen konnte. »Das ist ja ganz toll!« rief er. »Sie können uns also die ganze Zeit über sehen, aber wir sie nicht. Ich frage mich, ob alle Arten von Gestein so sind.« Jason stampfte wieder auf, aber dieses Mal passierte überhaupt nichts. Er stampfte noch einmal, stärker. Nichts. Dann hörte er ein leises Schwirren, das zu einem lauten Gebrüll anschwoll. Im Nu war es so laut, daß er sich die Ohren zuhalten mußte, um nicht taub zu werden. Das Gestein begann zu beben. Als Jason dies abwartete, spannte sich sein Körper, denn er fühlte, wie der Boden unter ihm weicher wurde und er allmählich darin zu versinken begann. Die Erdkörner wurden immer lockerer, und sie bewegten sich so, als ob sie durch ein Sieb geschüttelt würden. Er sank nun immer schneller ein. Die Beine waren schon verschwunden, und der übrige Körper folgte nach. Er hielt die eine Hand vor die Augen, und mit der anderen schützte er Nase und Mund... und sank immer tiefer. Es war warm und fühlte sich weich an, als er hinunterglitt, seine Geschwindigkeit nahm mit jedem Augenblick zu. Er hielt den Atem an und machte sich steif. Seine Kleider zog es nach oben, und sie wurden ihm beinahe vom Leib gerissen. Aber zu Jasons Erleichterung schien ihm die Reise nach unten durch die rutschenden, herumwirbelnden, vibrierenden Erdkörner keinen Schaden zuzufügen. Er empfand keinen Schmerz. Plötzlich bemerkte Jason, daß er zur Seite abglitt. Der Abhang wurde zusehends flacher. Noch ein lautes Donnern, und alles war still. Jasons Fahrt kam zum Stillstand. Und wieder umfing ihn Totenstille.
3. Das Schaugefängnis Einen Augenblick lang blieb er regungslos dort liegen. Dann versuchte er, zuerst seine linken Zehen zu bewegen, dann die rechten. Er war nicht verletzt. Er fühlte, wie sie zuckten. Er holte tief Luft, öffnete die Augen und richtete sich auf. Er lag auf einem riesigen, locker aufgeschütteten Erdhaufen. Vor sich sah er die Umrisse einer großen Höhle. Als er an sich heruntersah, stellte er erstaunt fest, daß seine Kleider in Fetzen an ihm herunterhingen. »Irgendwie muß ich wieder dort hinauf«, sagte er sich, »und es wird nicht einfach sein. Aber zuerst muß ich den Ort herausbekommen, wo die Goldenen Würmer sind, bevor der Klonk das Scheunentor sprengt.« Die Höhle war warm und trocken. In der Ferne sah er, daß die Höhle nach rechts weiterging. Das Licht war dort stärker. Jason ging vorsichtig über den unebenen Boden auf die Helligkeit zu. Einmal meinte er ein klägliches Winseln zu hören, und er rief laut: »Satan! Satan, bist du das?« Aber er bekam keine Antwort. Jason schaute in all den dunklen Winkeln nach, aber von seinem alten Freund entdeckte er keine Spur. Das Winseln kam ihm jedenfalls ziemlich bekannt vor. Aber er mußte sich abermals getäuscht haben. Vielleicht kam es auch nur aus seinem Gehirn. Jason hatte jedenfalls ein merkwürdiges Gefühl. Aber das einzige, was er nun noch tun konnte, war, dem Licht nachzugehen. Die Höhle wurde allmählich breiter, bis er zuletzt in eine riesige Felsarena trat. »Die Ausweispapiere, bitte!« Eine Stimme in Ellbogenhöhe pfiff Jason scharf an. Sie kam aus dem engen Schlitz in der Wand an seiner Seite. Jason rückte näher und war erstaunt, als er sah, daß ihn zwanzig oder dreißig winzige Augen aus dem Dämmerlicht entgegenstarrten. Es sah so aus, als ob sie im dunklen Innern des Schlitzes frei herumschwebten. Jedes einzelne Auge war unabhängig von den Bewegungen des anderen. »Wer bist du?« fragte Jason höflich. »Kannst du mir bitte helfen. Ich suche nach den Gol...« Jason wurde durch ein wütendes Rasseln unterbrochen. Aus dem Spalt schoß ein langes, gepanzertes, stachelartiges Gebilde hervor, das bedrohlich vor seinem Gesicht schwebte. Immer noch rasselnd, begann das Instrument seinen ganzen Körper abzutasten. Dabei hielt sich der Stachel
immer einige Zentimeter von der Körperoberfläche entfernt, schien den Fremdling gründlich zu untersuchen, ohne ihn wirklich zu berühren. Als die Untersuchung beendet war, tauchten die Augen langsam aus der Dunkelheit auf, und Jason konnte nun sehen, daß sie sich auf langen Stielen befanden, die wie Fühler aussahen. Sie bewegten sich hin und her, jedes besah sich einen anderen Teil seiner zerfetzten Kleidung. »Wer bist du?« fragte Jason wieder. Beim rauhen Ton seiner Stimme schreckten die Augenstiele ein bißchen zurück und drängten sich zusammen. Sie beobachteten ihn, indem sie vor seiner Nase auf und ab tanzten. »Ich bin ein Polizisti. Papiere vorzeigen! Du kennst ja die Regeln, nach denen keiner den Hauptversammlungsort von einem Seitentunnel betreten darf, ohne seine Liebes- und Namenspapiere vorzuweisen. Sicher wurdest du auch über die Strafe für die Übertretung dieser Regel unterrichtet!« »Ich bin nur unglücklich abgestürzt. Du kannst ja selbst sehen, daß meine Kleider zerfetzt sind. Ich habe keine Papiere.« »Du weißt, daß ich dann gezwungen sein werde, dich aufzuspießen«, sagte der Polizisti. »Tut das eigentlich weh?« fragte Jason stirnrunzelnd. Dabei fiel sein Blick auf den gepanzerten Stachel vor seinem Bauch. Die Frage schien den Polizisti zu beunruhigen. Er kam langsam aus dem Spalt hervor und stellte sich in starrer Haltung vor der zerlumpten Gestalt auf. Jason konnte ihn nun deutlich vor sich sehen. Er war groß und dürr, und seine Augenfühler wuchsen direkt aus seinem langen, schlanken Körper heraus. Sein gepanzerter Stachel, der sich ebenfalls am Ende eines Stiels befand, wuchs aus der Mitte seines Bauchs hervor. Seine Beine waren lang und verjüngten sich nach unten hin. Die vogelartigen Krallen anstelle der Füße erinnerten Jason an den Klonk. Jason wiederholte seine Frage: »Tut das weh? Wirst du mich dabei verletzen?« »Nun, das nehme ich doch stark an«, antwortete der Polizisti, »sonst hätte es ja wenig Sinn. Aber ehrlich gesagt, ich habe ihn bis jetzt noch nie benützen müssen, so daß ich mir über die Wirkung nicht einmal ganz so sicher bin. Es wäre mir wirklich lieber, wenn du mir deine Papiere herzeigen würdest, zuerst die Liebespapiere, dann bitte die Namenspapiere.«
»Was sind Liebespapiere?« fragte Jason ganz unschuldig. Sämtliche Augen begannen wieder zu tanzen und zu funkeln, der Stachel rasselte aufgebracht. »So langsam habe ich deine dummen Spielchen satt! Du weißt doch ganz genau, wovon die Rede ist. In den Liebespapieren sind die Namen all der Personen aufgeführt, die du liebst, und die Gründe dafür. In den Namenspapieren stehen alle Namen, die du während deinen verschiedenen Gestaltphasen hattest. Und nun, wird's bald? Rück sie schon raus! Gleich wird der Interviewer kommen, und ich werde ihm Bericht erstatten müssen.« »Ich würde sie dir ja gerne vorzeigen, aber es geht eben nicht. Verstehst du denn nicht? Ich habe keine Papiere! Tut mir leid, aber ich muß jetzt weiter. Ich habe einen wichtigen Auftrag zu erledigen. Ich muß etwas ganz Bestimmtes finden.« Jason hatte beschlossen, nicht mehr nach den Goldenen Würmern zu fragen, um sich nicht noch mehr in Schwierigkeiten zu verstricken. »Ich bin ein Polizisti und mir bleibt keine andere Wahl.« Die Fühler wurden starr und richteten sich zu ihrer vollen Größe auf. »Im Namen des Bildhauers stachle ich dich auf.« Mit diesen Worten streckte er seinen gepanzerten Stachel aus. Als dieser mit Jasons Körper in Berührung kam, zischte und rasselte er heftiger als zuvor. Jason fühlte, wie er selber durchgeschüttelt wurde. Seine Arme und Beine schlugen gegeneinander und wurden ohne sein Zutun steif. Er begann mit den Zähnen zu klappern. Es schüttelte ihn nun am ganzen Körper, ohne daß er es kontrollieren konnte. Um Jason herum wurde es heller, bis die ganze Höhle schließlich in grelle Weißglut getaucht war. Jason wurde immer heftiger geschüttelt, Schockwellen durchliefen seinen Körper von Kopf bis Fuß. Dann verblaßte das Licht wieder, und es wurde stockfinster. Jason fiel kraftlos zu Boden. Kaum daß er dort lag, bog eine große, schlaffe Gestalt um die Ecke und beschnupperte ihn. Der Polizisti verbeugte sich vor dem Neuankömmling, wobei seine Fühler beinahe bis auf den Boden herunterhingen. »Los, berichte! Willst du jetzt nicht endlich berichten!« dröhnte der Schlaffe. »Melde Bereitschaft zur Berichterstattung, Vorgesetzter«, schnarrte der Polizisti. Schweigend hörte sich der Interviewer seine Geschichte an. Als Jason wieder erwachte, stellte er fest, daß man ihn woandershin gebracht hatte. Der Polizisti war weg. Zuerst dachte er, daß er allein sei, aber als sich seine Augen an das grelle Licht gewöhnt hatten, sah er, daß er
von einer großen Menge umgeben war, die ihn alle angestrengt beobachteten. Er lag auf einer glatten Felsplatte auf einem leicht erhöhten Podium, das aussah, als ob es für eine Musikkapelle errichtet worden wäre. Als Jason sich erhob, wich die Menge ein bißchen zurück, um dann umso eifriger wieder nach vorn zu drängeln. Rund um den Podiumsrand konnte er ein paar Gestalten sehen, die wie Polizisti aussahen, nur daß sie größer waren und mehrere ineinandergeschachtelte Stacheln hatten. Sie standen mit dem Gesicht zur Menge, so als ob sie das Podium bewachten, aber gelegentlich drehte sich das eine oder andere ihrer Stielaugen für einen kurzen Augenblick lang nach Jason um und schwang dann wieder in seine Ausgangsposition zurück. Die Menge setzte sich aus allerlei Arten von seltsamen Kreaturen zusammen. Einige waren groß, andere klein; Dünne oder sogar Spindeldürre standen neben solchen, die fett und stämmig erschienen. Ihre Köpfe, ihr Körperbau und ihre Glieder setzten Jason in Verwunderung, denn sie unterschieden sich von allem, was er bisher gesehen hatte. Überall sah er merkwürdige Gestalten und Farben, Geschöpfe mit Röhren, Hörnern, Schuppen, mit Fleischlappen an den merkwürdigsten Stellen und Haarbüscheln, die nach allen Richtungen wuchsen. Die Menge stand so dicht beisammen, daß es schwer war zu beurteilen, welche Körperteile wohl zu welchem Geschöpf gehörten. Es war ein heilloses Durcheinander, und Jason wurde es bald müde, dort hinzustarren, und widmete sich dafür der Untersuchung seiner näheren Umgebung. Das Podium, auf dem er sich befand, war kreisrund und hatte einen Durchmesser von sechs Metern. In der Nähe seiner Steinplatte sah Jason eine kreisförmige Figur von ungefähr einem Meter auf dem Podium, um die ein schmaler Spalt herumlief. Sonst war das Podium ganz glatt. Jason sah nach oben, aber er wurde von einem grellen, hellgelben Licht geblendet. Als er sich wieder ins Gedächtnis zurückrief, was ihm im Innern des wachsenden Steins zugestoßen war, erhob er sich von der Steinplatte und stampfte mit dem Fuß auf den Spalt. Die Stielaugen der Wachen gerieten sofort in Bewegung und drehten sich in seine Richtung. Sie starrten ihn an und blinzelten dabei heftig. Jason tat so, als ob er nichts bemerkt hätte, und stampfte noch einmal auf, diesmal mit aller Kraft, wobei er beide Füße zu Hilfe nahm. Plötzlich hörte es Jason unter sich knirschen, der kreisförmige Ausschnitt begann sich in Bewegung zu setzen. Er hatte eigentlich
erwartet, daß die Platte wie eine Falltür hinunterfallen würde, aber stattdessen stieg sie auf und wurde mit der Zeit zu einer hohen Steinsäule, die in Jasons Raum vorstieß. Es stellte sich heraus, daß die Säule zum Teil hohl war, und aus diesem Teil trat ein junges Mädchen heraus. Sie sah schüchtern aus, aber zu Jasons Verwunderung schrie sie ihn mit dreister, hoher Stimme an: »Niedersitzen! Los, leg dich auf die Steinplatte! Wird's bald?« Dabei trieb sie ihn auch noch mit einem langen Stock an. Jason gehorchte, und das Mädchen schien sich wieder zu beruhigen. Sie verbeugte sich vor der Menge und ging langsam um die Steinplatte herum wie ein Löwenbändiger. »Weißt du, ich bin kein wildes Tier«, wagte Jason zu sagen und setzte sich auf, als das Mädchen näher herantrat, ihn genauer zu begutachten. »Hinlegen! Aber ein bißchen plötzlich!« schrie sie und sprang zurück. »Hinlegen!« wiederholte sie und stieß dabei mit ihrem Stock gegen seine Kehle, damit er sich wieder hinlegte. »Also gut, wie du willst«, murmelte Jason. »Ich nehme an, daß du dich nur aufspielen willst.« Das Mädchen stolzierte nun wieder auf dem Podium herum und tat so, als ob Jason gar nicht vorhanden wäre, warf aber doch ab und zu einen Blick nach ihm, um zu sehen, ob er sich auch ja nicht rührte. Er nahm die Gelegenheit wahr, um sie genauer zu betrachten. Sie war ein bißchen kleiner als er. Ein weicher, kurzhaariger Pelz von einer hellbraunen Farbe bedeckte ihre Haut. Aus ihrem Kopf wuchsen zwei kurze, gebogene Hörner. Ansonsten erschien sie Jason wie ein ganz normales Mädchen, die einzige menschenähnliche Gestalt, die er gesehen hatte, seit er das Innengestein betreten hatte. »Wo bin ich?« fragte er sanft. »Sag mir bitte, wo ich bin«, flehte Jason sie an. »Du bist im Schaugefängnis«, sagte sie und schaute dabei auf ihn herab. »Bald wird das Verhör beginnen. Aber vorher muß ich dich noch zähmen, damit du keine Szene machst, wenn du drankommst.« »Ich bin aber schon zahm«, sagte Jason, »du kannst dich ja selbst davon überzeugen!« »Also gut. Steh auf! Mach ein paar Schritte rückwärts! Dreh dich um! Nochmals. Setz dich auf den Boden! Gut so. Leg dich flach hin! Arme und Beine spreizen! Schließen! Spreizen! Schließen! Und wieder spreizen! Gut so. Steh auf! Dreh dich zu mir her! Berühr mein Gesicht mit deiner Hand! Nun die andere Hand. Niederknien! Mit beiden Knien! Kopf nach vorn
beugen! Mit dem Gesicht auf den Boden! Halt!« Langsam ging sie um Jason herum, während die Menge anerkennend zischte und rasselte. »Gut, du kannst dich nun zu den anderen gesellen«, sagte das Mädchen und deutete auf das Loch in der Säule. Als die Säule wieder im Boden verschwand, seufzte Jason erleichtert auf. Er hatte die Befehle des Mädchens genau befolgt, in der Hoffnung, daß ihm sein Gehorsam weiterhelfen würde, was ja auch geschehen war. Zugegebenermaßen war er zwar noch nicht frei, aber wenigstens wurde er auch nicht mehr länger zur Schau gestellt und unablässig von einer Unmenge neugieriger Augen angegafft. Unter dem Podium verlief ein unterirdischer Gang. Als die Säule noch einmal aufgestiegen war und das Mädchen mit den Hörnern herabgeholt hatte, gingen sie zusammen durch den gewundenen Gang. »Hier rein!« befahl sie und wies dabei auf die offene Tür in der Wand. Das Mädchen blieb im Gang stehen, und Jason ging an ihr vorbei durch die Öffnung. Er hörte gerade noch, wie die Tür hinter ihm zuschnappte, und augenblicklich umfing ihn undurchdringliche Finsternis. Jason tastete sich mühselig voran. Plötzlich fiel eine Klappe vor ihm herunter, und er stürzte auf einer Rutschbahn in die Tiefe, wo ihn wieder gleißendes Licht umgab. Dieses Mal befand er sich unter einer Kuppel in einem riesigen Raum, der von erhöhten, runden Sitzen umgeben war, auf denen noch seltsamere Geschöpfe saßen als in der Arena. Wie dort gehörten auch sie wieder den verschiedensten Arten an. Vier Gestalten stürzten sich auf Jason, um ihn gebührend zu empfangen: Zwei packten ihn bei den Armen, die anderen beiden bei den Beinen. Alle zogen ihn nach den verschiedensten Richtungen und schleppten ihn schließlich zur Mitte des Raumes, wo sie ihn auf einen riesigen Ball hievten und ihn hierhin und dorthin zu ziehen begannen. Dabei rollte der Ball, auf dem Jason lag, hin und her. Plötzlich leuchtete ein Licht auf, und die vier Gestalten ließen beinahe gleichzeitig von ihm ab, so daß Jason, der alle viere von sich streckend auf dem Ball lag, mit diesem weiterrollte. Unglücklicherweise kam der Ball zum Stillstand, als Jason gerade unter ihm lag und kaum mehr Luft bekam. Als Jason den Kopf drehte, sah er seine Peiniger am Ende der Rutschbahn herumkrabbeln, wo sie kleine Kügelchen auflasen, um sie gierig zu verschlingen.
»Helft mir doch!« rief er, aber sie schenkten ihm keinerlei Beachtung. Er fühlte, wie er allmählich ohnmächtig wurde, denn das Gewicht des Balls wurde unerträglich. Als sie alle Kügelchen aufgefressen hatten, ruhten sich die vier Kerle aus, indem sie sich zufrieden auf dem Boden ausstreckten. Zwei von ihnen waren von blauer Hautfarbe, hatten vier kurze, stämmige Beine und trompetenförmige Köpfe. Der dritte hatte zwei ziemlich lange Beine, einen halbmondförmigen Körper und Glotzaugen an der Spitze zweier dünner, spindelförmiger Röhren. Der vierte hatte einen fetten, runden, mit Warzen bedeckten Körper von einer tiefroten Farbe, große, verschlafene Augen, buschige Schnurrhaare und kurze, spitze Ohren. Er spreizte seine vogelartigen Füße auf dem Boden. »Ich glaube, daß er stirbt«, sagte Rotwarze und schnalzte dabei genüßlich. »Vielleicht sollten wir ihn lieber rausholen, sonst sitzen wir wieder in der Tinte.« »Ach, können wir ihm nicht beim Abkratzen zuschauen?« fragte Schwarzer Mond hoffnungsvoll. »Ich möchte sehen, ob er auch so röchelt, wenn er ausgetrocknet ist, wie dieser alberne, zuckende Macker, mit dem wir uns neulich abgegeben haben.« Die Blauen Trompeten sahen sich gegenseitig an, zuckten mit der Schulter und gingen dann weg. Jason stöhnte leise vor sich hin. Auf dieses Signal hin marschierte Schwarzer Mond zu ihm hinüber und ließ sich direkt vor Jasons Kopf nieder. »Na, kratzt du endlich ab?« fragte er aufgeregt. »Ich liebe Abkratzer oder heißt es Abkratzers? Ich weiß nicht mehr, aber ist ja auch wurscht.« Jason suchte krampfhaft nach etwas Abschreckendem, das er ihm an den Kopf werfen könnte: »Polizisti!« Zischte er mit furchterregender Stimme. »Keine Chance damit, Kleiner. Nicht mit uns. Mach schon, beiß ins Gras. Auf geht's! Ich möcht' wieder mal einen röcheln hören!« Jason versuchte ihnen dann mit dem Namen zu drohen, den er noch kannte: »Der Bildhauer wird euch schon noch dafür zur Rechenschaft ziehen«, pfiff er mit letzter Kraft. Die Worte wirkten wie Zauber. Schwarzer Mond sprang \ plötzlich auf, und auch Rotwarze stürzte herbei. Die beiden stießen zusammen und fielen gegen den Ball, der sich zu bewegen begann. Die Blauen Trompeten
kugelten ihm entgegen und stemmten sich gegen den Ball. Im Nu war er frei. Jason japste nach Luft, richtete sich auf und sah sie wütend an: »Das habt ihr euch wohl nicht träumen lassen, daß ich ein Spion des Bildhauers bin. Nun, was könnt ihr zu eurer Entschuldigung sagen?« Rotwarze wurde schwach in den Knien, und sein fetter Körper plumpste auf den Boden. Er begann laut zu zischen, und aus seinen Warzen entwich gelber Dampf. Sein kugelrunder Körper schrumpfte zusammen, und er schloß die Augen. »Du hast ihn getötet!« schrie Schwarzer Mond mit schriller Stimme. »Du hast ihn abgemurkst, er ist ein toter Warzi. Herrlich! Toll! Das erste Mal, daß ich einen Toten sehe, der an einem Schock draufgegangen ist. Reine Schockwirkung. Sofort tot. Ganz vorzüglich! Du bist ja ganz großartig! Hut ab vor dir!« »Du bist ein Scheusal«, sagte Jason. »Ich wollte ihn gar nicht töten.« »Ach, mach dir doch nichts daraus!« Die beiden Blauen Trompeten versuchten, ihn gemeinsam zu beruhigen. »Es war ein klarer Fall von Selbstverteidigung. Wir werden dich in Schutz nehmen, keine Sorge. Und wie geht es unserem lieben Bildhauer denn so? Wir haben den Großen schon so lange...« »Haltet die Klappe!« brüllte Jason, und sofort verlor sich das süßliche Geflöte der beiden in einem ängstlichen Gewisper, während sie sich unsicher ansahen. Jason beugte und streckte sich, um damit seinen Blutkreislauf wieder anzuregen. Er sah wütend zu den Blauen Trompeten hinüber, die verlegen mit den Füßen scharrten. »Versucht Rotwarze zu helfen! Versucht ihn wenigstens wieder aufzublasen oder sein Loch zu flicken. Tut doch endlich was! Steht nicht so herum, als ob nichts passiert wäre!« »Du hast sie wohl nicht mehr alle!« grinste Schwarzer Mond. »Unser alter Rotwarze ist besser dran als wir. Wir haben dir nur eben mal einen Gefallen getan. Wenn mir diese blödsinnigen Trompeten dort drüben nicht so furchtbar zuwider wären, hätte ich ihnen schon längst den Garaus gemacht. Das ist nämlich das einzige Mittel, um - du weißt schon, was ich meine — zu entgehen.« »Nein, was meinst du damit?« fragte Jason. »Was soll dieser Du-weißtschon-was-ich-meine-Unsinn?«
»Die Verhöre natürlich«, zischte Schwarzer Mond zurück. »Die verdammten Verhöre. Verstehst du nun, du nichtsnutziger, blöder Schrumpfkopf?« »Nein, leider überhaupt nicht«, sagte Jason beharrlich. »Was ist denn so schrecklich daran? Sie haben mir gesagt, daß ich jeden Augenblick mit meinem Verhör rechnen muß.« »Igitt!« kreischte Schwarzer Mond. »Berührt ihn bloß nicht, es könnte ansteckend sein!« Darauf zogen sich alle in die äußerste Ecke des Kuppelbaus zurück. Jason holte tief Atem und ging zu Rotwarzes zusammengesacktem Leichnam hinüber. In diesem Augenblick klappte der Boden zu seiner Linken auf, vier kleine Polizisti stürmten hervor und umringten ihn. Etwas, das aussah wie ein grüner Doppelapfel auf Beinen, sprang nach vorn, blickte auf Rotwarzes Leichnam hinab, stieß ihn verächtlich mit seinem purpurfarbenen Fuß an und brach in lautes Gelächter aus. »Ach, das wird ein Heidenspaß!« grölte er. »Wird das aber lustig! Mein Leib- und Magenverhör - ein Verhör fünfzigsten Grades. Einfach phantastisch! Führt den Fremden ab und bereitet ihn ordentlich dafür vor. Ich kann es kaum erwarten!« Jason wurde zu einem langgestreckten, unterirdischen Raum geführt, dessen Boden mit Wasser bedeckt war. Schlanke Kreaturen mit weichen Fühlern und von einer rosafarbenen Hautfarbe nahmen ihm die zerfetzten Kleider ab und benetzten seine Haut. Jason überließ sich seinen Phantasien und träumte, daß er wieder zu Hause sei und ein Dampfbad nehmen würde nach einem heißen Tag, den er damit verbracht hatte, mit Satan Hasen auf den Feldern zu jagen. Die Fühler der Rosazarten streichelten und liebkosten ihn, sie seiften ihn ein und strichen sein Haar glatt. Dann wickelten sie ihn in etwas ein, was ihm wie eine große Rolle mit blauer Wolle vorkam, und trugen ihn die paar Stufen zu dem Zimmer hinauf, in dem die Opfer geölt und gesalbt wurden. Die Luft war erfüllt von köstlichen Gerüchen. Jason wurde auf eine Bank gelegt und mit warmem Öl massiert. Die Rosazarten benutzten dazu die Läppchen, die aus ihren Körpern wuchsen. Sie ließen diese fleischigen Auswüchse mit so großer Geschicklichkeit über Jasons Körper flattern, daß Jason dabei immer entspannter und schläfriger wurde. Er vergaß vollkommen die Suche nach den Goldenen Würmern und den anschwellenden Klonk in seiner furchtbaren Zwangslage. »Ich habe mich noch nie so gut gefühlt«, murmelte er vor sich hin.
»Pst!« flüsterten die Rosazarten. »Dein Körper muß ganz und gar entspannt sein. Wir wollen, daß du ruhig wirst und die richtige Kondition bekommst.« Sie zerstäubten verschiedene Parfüms über Jasons Körper, von denen die einen wohltuend warm und die anderen erfrischend kühl waren. Jason fühlte sich, als ob er in einer prickelnden Dunstwolke davongetragen würde. Seine Arme, seine Beine, sein ganzer Körper wurde schlaff. Vollkommen friedlich lag er in dem von Düften erfüllten Raum und streckte alle viere von sich, denn alle inneren Spannungen waren verschwunden. Die Rosazarten nickten bedeutungsvoll und zogen sich dann schweigend zurück. Jason döste vor sich hin und träumte. Der Traum war verschwommen und durcheinander: Blasse Farben wogten überall und wechselten ständig ihre Richtung; unklar umrissene Gestalten wirbelten um ihn herum; alles war schummerig. Jason trieb durch eine Welt, die aus zerfließendem Licht und verschwommenen Schatten bestand. Als er wieder erwachte, befand er sich in einem anderen Raum, der ungefähr so groß war wie das Zimmer, in dem er gesalbt und geölt worden war, aber in dem eine ganz andere Atmosphäre herrschte. Jason war in ein langes, blaues Tuch gewickelt. Um sich herum beobachtete er geschäftiges Treiben. Ein spindelförmiges, blaugestreiftes Geschöpf wuselte um ihn herum und schrie dabei mit hoher, schriller Stimme: »Nein, aber nein! Doch nicht Gelb. Ich habe euch doch gesagt, daß kein Gelb mehr da ist. Wie oft muß ich euch noch... He, Schätzchen«, sagte er und blinzelte dabei Jason an. »Du mußt ja ganz schön erschöpft gewesen sein, daß du bei dem Lärm schlafen konntest. Einfach unvorstellbar. Du mußt dich ja herrlich in der Hand haben. Ich wollte, ich könnte das. Aber sieh mich an, ich bin nur ein körperliches und geistiges Wrack. Das ist alles die Schuld von diesen vertrottelten, ungeschickten, inkompetenten, tuntigen Typen.« Er machte eine Atempause und besah sich dabei Jasons Gesicht sehr gründlich. »Was sollen wir bloß mit dir machen? Ach, was sollen wir denn bloß mit dir machen? Was sollen wir denn bloß mit dir machen? Was sollen wir denn bloß mit dir machen}« jammerte er in einem fort. »Danke, mir geht's gut«, fühlte sich Jason bemüßigt zu sagen. »Aber ich habe Durst...« »Später mein Lieber«, flötete der Blaugestreifte. »Eines nach dem anderen, wie ich immer zu sagen pflege. Also das Haar, was sollen wir damit machen? Wir können dich doch nicht so herumlaufen lassen, wie du
jetzt aussiehst. Also, ich hab's -einfach fabelhaft - glänzende Idee. Ach, ich weiß auch nicht, wie ich's fertigkriege, so ein toller Kerl zu sein. Wo nehme ich bloß diese genialen Ideen her für meine Kreationen? Es ist wie so eine Art Zauber. Ich nehme sie aus der unerschöpflichen Quelle meiner Schöpferkraft, und ab sofort sind sie frei zum sofortigen Verkauf. Jetzt hör mir mal gut zu, mein Lieber, du wirst eine Sensation! Merk dir's, eine Sensation! Sie werden noch wochenlang von dir reden, aber mindestens tagelang, na ja, vielleicht auch nur für ein paar Minuten. Aber ehrlich, es ist der Mühe wert. Ja, ungelogen. Man kann nie wissen, wer da ist oder wie die Sache verläuft. Man muß immer auf alles gefaßt sein, sage ich dir. Meinst du nicht auch, daß das ein vernünftiger Standpunkt ist, mein Schatz?« »Ich...« »Nun, ich sag' dir jetzt, was ich mit dir machen werde: Schwarz und weiß - im Moment bin ich darauf gekommen, im Moment. Hört mal alle zu! Ich werde dieses entzückende Geschöpf von Grund auf verändern. Schwarz und weiß. Also, schwarz und weiß. Halb und halb. Kurzer Kittel, links schwarz und rechts weiß. Langes Haar, laßt es ja lang, kein heimliches Schnippeln hinter meinem Rücken. Das Haar wird rechts schwarz und links weiß. Genau in der Mitte muß es gescheitelt werden, merkt euch, genau in der Mitte. Der rechte Schuh wird pechschwarz und der linke Schuh dementsprechend blütenweiß. Es ist alles denkbar einfach! Haben es alle verstanden -verstanden, was ich meine? Gut - dann also an die Arbeit. Laßt euch so viel Zeit, wie euch recht ist, das heißt natürlich: so viel Zeit, wir mir recht ist. Hm, hm, hm...« Nachdem er seine Anweisungen gegeben hatte, begann er zu summen und vor sich hin zu pfeifen. Dabei hantierte er auf einem Tablett mit merkwürdigen Instrumenten herum. In den darauffolgenden Stunden fuhrwerkten sie alle eifrig herum, bis ein schrilles Glockengeläut ertönte und sich plötzlich eine Tür öffnete. Eine kleine, orangefarbene Röhrenkreatur mit einem müden Auge bog sich um die Tür und rief: »Die Verhöre beginnen in fünf Minuten. Alles fertigmachen!« Und weg war sie... »Ach du meine Güte, wie die Zeit verfliegt! Nun, auf geht's. Sieh in den Spiegel und sag mir, wie du dich findest.« Jason blieb die Spucke weg. Er erkannte sich kaum wieder. Die eine Hälfte seines Haars hatten sie völlig ausgebleicht, die andere war
rabenschwarz gefärbt. Auf seinem kurzen Kittel war das Muster versetzt. Seine Gesichtsfarbe war ein dunkles Braun mit ein paar schwarzen und weißen Punkten. Seine Lippen waren weiß und seine Augenbrauen schwarz. »Also ich weiß wirklich nicht, was ich dazu sagen soll!« rief er. »Also sprachlos! Ich wußte es ja. Sie sind alle sprachlos. Nun kann's für dich losgehen. Also, amüsier dich gut! Du wirst einen Heidenspaß haben. Aber paß auf den alten Kinni auf. Er soll ein ziemlich harter Bursche sein. Wenigstens haben sie mir das weismachen wollen. Also tschüs, mein Lieber, tschüs, tschüs, tschüs«, sagte er und schob Jason durch die Tür. Draußen gaben ihm zwei Polizisti, die silbern und grün waren und deren Stacheln golden glänzten, das Geleit. Am Ende des hellerleuchteten Gangs, durch den sie gingen, war ein großer Torbogen, der mit einem schweren, malvenfarbenen Vorhang dekoriert war. »Die Daumen«, zischte einer der Polizisti. »Die Daumen!« »Was denn?« fragte Jason und schaute auf seine Daumen. »Was ist mit meinen Daumen los?« »Du sollst sie übereinanderfalten«, zischte sein Wärter. »Schnell, bevor der Vorhang hochgeht.« Jason gehorchte und wartete. Hinter dem Vorhang war ein Stimmengemurmel zu hören, als ob dort eine große Menge wartete. Wie auf ein Signal hin hörte das Murmeln auf, und eine Stimme, die Jason als die des grünen Doppelapfelgeschöpfes erkannte, verkündete: »Mylord Zehnkinn, Granits, ehrwürdige Damen und Herren ... Darf ich vorstellen: Der Junge Spion.«
4. Das Zehnkinnbankett Mit einem Rauschen hob sich der malvenfarbene Vorhang, und Jason betrat einen riesigen Festsaal. Grünapfel stand neben einem massiven Thron in Rot und Schwarz, auf dem eine beleibte Figur saß. Alle Köpfe drehten sich nach Jason um, als er eintrat und an den Tischen vorbeigeführt wurde, die unter einer reichen Vielfalt von seltsamen Speisen und Flaschen ächzten. »Keine Umstände. Um Himmels willen keine Umstände! Ich kann das nicht ausstehen!« rief die beleibte Person auf dem Thron. »Setze dich
neben mich, mein lieber Junge, und nun kein Getöse mehr. Essen, alles essen!« Als er dies sagte, fing die Menge von bunt gekleideten, verschiedenartigen Geschöpfen, die um die Tische herum saßen, im Takt an zu stampfen. Der ganze Boden begann zu beben. »Lang lebe Lord Zehnkinn!« rief eine Stimme aus der Tiefe des Saals. »Ach, ihr seid zu gütig. Wirklich, zu gütig«, murmelte Zehnkinn. »Nun eßt aber. Habt ihr gehört, eßt!« Daraufhin fielen sie alle über das Essen her. Sie schlürften und schmatzten ganz entsetzlich. Die Kerne spuckten sie einfach aus. »Wir haben hier drei neue Gäste, mit denen Sie's versuchen können, Mylord«, sagte Grünapfel. »Ach ja, vielen Dank«, seufzte Zehnkinn, als der erste der neuen Gäste in den Saal getrieben wurde. Unterwürfig und jammernd näherte er sich dem Thron. Gedankenvoll schnupperte der Große Lord an seiner ausgestreckten Hand herum und leckte sie dann mit seiner langen, rauhen Zunge ab. »Nicht übel, gar nicht übel«, murmelte er vor sich hin. »Ein gutes Jahr für Raffelmumpfe. Laßt ihn auf der Bank Platz nehmen. Der nächste!« Der Vorgang wiederholte sich, aber Zehnkinn konnte kaum sein Desinteresse verbergen. Er gähnte gelangweilt. »Ich nehme an, daß dies dein erstes Verhör ist«, sagte Zehnkinn. Nachdem er sich geräuspert hatte, verlagerte er seine Körperfülle und lehnte sich zu Jason hinüber. »Ja, das stimmt, aber ich weiß nicht so richtig, was ...« »Ach bitte, zerbrich dir nicht den Kopf darüber«, erwiderte Zehnkinn. »In deinem Fall ist das doch eine reine Formsache. Sobald wir erfuhren, daß du ein Freund des Bildhauers bist, haben wir unsere Betrachtungsweise dieser Tatsache angepaßt, könnte man sagen. Wie geht es übrigens dem Bildhauer?« »Sehr gut«, sagte Jason. Er begriff, daß er die Rolle weiterspielen mußte. »Aber kürzlich hat er sich über etwas ziemlich geärgert.« »Ach ja? Wirklich?« Seine Lordschaft warf schnell einen Blick auf Grünapfel, der ebenfalls neben ihm saß. »Und was ist wohl der Grund für den Zorn des Allmächtigen?« fragte er beiläufig und stopfte sich dabei ein bißchen zuviele kleine orangenfarbene Würfel auf einmal in den Mund, die er nachdenklich kaute. »Oder vielleicht darfst du...« er wartete, »diese
Information...« er machte eine ausladende Geste, »in diesem Augenblick gar nicht weitergeben?« »Es hat etwas mit den Goldenen Würmern zu tun«, sagte Jason mit leiser, aber fester Stimme. Er hoffte, daß er von Zehnkinn einen Hinweis bekommen würde. »Ach ja«, sagte Zehnkinn erleichtert. »Das überrascht mich nicht. Eine wirklich scheußliche Situation. Sehr unangenehm. Sehr delikat. Ja wirklich.« »Was meinen Sie eigentlich mit >scheußlich« fragte Jason. »In welcher Beziehung >scheußlich« »Ach, weißt du, all diese Gerüchte. Geschichten, daß die GWs überhaupt nicht existieren, daß sie eine Erfindung des Allmächtigen sind, um alle Versuche zu unterbinden, nach oben durchzubrechen«. Für einen kurzen Augenblick richtete er seine Augen zur Decke, »also ohne Erlaubnis. Es betrifft mich nicht direkt, aber es tut mir leid, daß der Allmächtige damit Schwierigkeiten hat. Ich glaube, daß es sich bald wieder legen wird, was in solchen Fällen meistens passiert.« »Ja, das nehme ich auch an«, sagte Jason nachdenklich. Er überlegte sich, wie er seinem Gesprächspartner noch mehr Informationen über die Goldenen Würmer entlocken könnte. Aber Seine Lordschaft war zu sehr mit dem Essen beschäftigt. Er mahlte mit den Zähnen, schnaufte schwer und ließ das Fett über seine zehn großen, hängenden Kinne rinnen. Die vielen Wülste reichten bis zu seinem Schoß herunter und wabbelten sachte, wenn er kaute und schluckte. Sein riesiger Kopf war vollkommen nackt, kein Haar war zu sehen, außer an den Spitzen seiner kleinen Ohren. Eine purpurrote Robe verbarg den unförmigen Körper, indem sie ihn unter einer Vielzahl von Falten feinen Tuches begrub. Nur die Enden seiner behaarten Pfoten schauten noch heraus. An jeder Fingerspitze war ein großes, rundes Polster, mit dem er sich die Happen holte. Jeder Happen, den er mit seinen Fingerspitzen berührt hatte, blieb dort hängen, als ob er sich festgesaugt hätte. Dann steckte Zehnkinn die ganze Pfote ins Maul und saugte ziemlich geräuschvoll daran. »Ein köstlicher Schmaus, was?« fragte er Jason und schenkte ihm dabei ein flüchtiges Lächeln. »Natürlich mache ich mir selber nicht so viel daraus. Zuviel zeremonielles Getue, zuviel Ritual. Aber meine Stellung verpflichtet mich dazu.« Er gab Grünapfel einen Wink mit den Fingern, worauf dieser aufsprang und in den Saal brüllte:
»Kinnwischer!« Zwei verschrumpelte, graue Gestalten kamen von der Seite des Saals. Sie waren klobig, ihr Körper sah wie ein Faß aus, aus dem lange Arme und sehr behaarte Hände herausragten. Sie beugten sich über den Thron und begannen mit den Handrücken die fettverschmierten Kinne Seiner Lordschaft sorgfältig abzuwischen. Der eine begann oben, der andere unten. So begannen sie ein Kinn ums andere zu säubern, bis sie sich in der Mitte trafen. Dann zogen sie sich mit fetttriefenden Händen wieder zurück, nachdem sie zuvor einen devoten Kratzfuß gemacht und sich verbeugt hatten. Als sie den Torbogen erreichten, wurden sie von zwei Polizisti aufgespießt und in eine große Mülltonne gestopft. »Was wird denn nun aus den Kinnwischern?« fragte Jason. »Sie haben sie doch hoffentlich nicht getötet!« ' »Aber natürlich«, gähnte Seine Lordschaft. »In dieser Beziehung sind wir sehr fortschrittlich. Sie sind zum Wegwerfen da. Früher hatten wir die altmodischen abwaschbaren Kinnwischer, aber nun haben wir nur noch die Wegwerfsorte. Ist ja viel sicherer, viel hygienischer. Bei den anderen wußte man nie so recht, wen sie außer uns noch abgewischt haben.« Jason hätte sich gerne bei seinem grobschlächtigen Gastgeber wegen der grausamen Behandlung der harmlosen Kinnwischer beschwert, aber er befürchtete, daß dies etwas deplaciert gewesen wäre. Schließlich war er der vermeintliche Spion des Bildhauers und mußte sich davor hüten, auch nur den geringsten Verdacht zu erwecken. Ohnehin war es nun schon viel zu spät, um den unglückseligen Geschöpfen noch zu helfen. Das Essen verschwand ziemlich schnell von den Tischen. »Diese Filterversorger dort drüben«, bemerkte Lord Zehnkinn gegenüber Grünapfel, »sind wirklich zu unappetitlich bei Tisch. Erinnere mich daran, daß ich bei den nächsten Wahlen etwas gegen sie unternehme. Nimm sie unter die Lupe, damit du etwas Anstößiges findest, einen Skandal, eine Krankheit, egal was. Du weißt, was ich meine.« Grünapfel nickte verständnisvoll mit den beiden Lappen seines KopfKörpers, nahm einen Bleistift hervor und kritzelte ganz schnell etwas auf seine Nasenflossen, von denen er eine ganz beachtliche Menge hatte. Plötzlich hievte sich Zehnkinn hoch und erhob das Glas. Unter der Menge trat Schweigen ein. »Auf den Bildhauer, auf die Erinnerung an Granits vergangene Größe und die Einigkeit des Innengesteins! Tod den Verbrechern, die hochklettern!« rief Zehnkinn aus und leerte sein Glas in einem Zug. Dann
fiel er auf seinen Sitz zurück. Die Menge erhob sich und wiederholte den Toast mit großer Feierlichkeit. Jason folgte ihrem Beispiel. »Meine ehrwürdigen Damen und Herren«, dröhnte Grünapfel. »Sie können jetzt lachen.« Auf dieses Kommando fing die Menge an zu kichern, um dann später in schallendes Gelächter auszubrechen. »Das ist ja läppisch!« bemerkte Zehnkinn. »Einfach lächerlich. Ich glaube, es kommt von meiner dummen Angewohnheit, zu viele Gnadenerweise zu bezeigen. Ich bin doch einfach viel zu gutmütig und hätte nie damit anfangen sollen.« »Aber das tut ihnen doch sicher gut, und Sie haben auf diese Weise weniger Ärger mit ihnen«, meinte Jason. »Ach, was bist du doch für ein niedliches, kleines Unschuldslamm!« murmelte Zehnkinn und kraulte Jason zärtlich hinter dem Ohr. »Du verstehst aber auch rein gar nichts von Gunstbezeigungen. Du hattest wohl noch nie etwas damit zu tun. Siehst du, das Problem ist ganz einfach das, daß man durch Gnadenerweise eben nicht alle glücklich machen kann. Es geht dabei nicht so sehr um denjenigen, dem man die Gunst erweist, als um diejenigen, die man dabei ausläßt. Wenn man das einmal begriffen hat, kennt man auch schon den Hauptgrundsatz des Regierens. Es ist vollkommen egal, worin die Gunstbezeigung besteht, erst die Angst vor ihrem Ausbleiben spornt den Untertan zum Ehrgeiz an.« Er machte sich an den Falten seines Gewandes zu schaffen und zog ein paar stumpfe rote Nadeln heraus. »Siehst du die? Das sind meine neuesten Gunsterweise. Ein paar wertlose, unbedeutende Ziernägel. Aber meine Untertanen tun alles, um die zu bekommen. Wenn sie sie dann haben, lassen sie sich die Nägel ins Fleisch hämmern, was natürlich ein ganz entsetzlich schmerzhafter Prozeß ist, und dann stolzieren sie mit ihnen auf und ab, als ob sie dadurch etwas Besseres geworden wären.« Zehnkinn begann boshaft vor sich hin zu glucksen und seine zehn fetten Kinne dabei hin und her zu wabbeln wie mit Wasser gefüllte Ballons. »Zu albern, aber die durchschauen's einfach nicht. Fallen total drauf rein. Und hier sitze ich nun mit den armen Deppen herum, die auf jeden Huster von mir losspringen. Einfach lächerlich! Und natürlich verschwende ich enorm viel Zeit damit, wo ich doch anderweitig so viel zu erledigen hätte.« »Was wäre das zum Beispiel?« fragte Jason. »Meine Granitforschung«, erklärte der fette Lord. Zum ersten Mal schien er am Gespräch interessiert. »Interessierst du dich zufällig auch für die Forschung?«
»O ja, sehr.« »Sehr?« »Ja. Interessiert mich sehr.« »Du bist ja ein phantastischer Kerl. Wirklich phantastisch! Was meinst du, Grünapfel? Sag!« »O ja, ganz phantastisch, mein Herr.« »Grünapfel, tausche den Platz mit ihm. Seine schwarze Seite langweilt mich. Ich möchte zur Abwechslung mal mit einem Blonden sprechen. Zur Zeit gibt's nicht viel von der Sorte, und wo sie doch gewöhnlich um so vieles klüger sind!« Jason und Grünapfel tauschten die Plätze. »Nun, wenn du wirklich mehr über meine Forschungsarbeit hören willst, werde ich dir zuerst eine kurze Zusammenfassung über den derzeitigen Stand der Dinge geben.« »Oh, vielen Dank«, sagte Jason. »Ich interessiere mich immer für neue Ideen.« »O ja, nun, hm, natürlich, ich eigentlich auch, aber ich wollte über meine Forschungsarbeit berichten.« »Aber die hat doch sicher etwas mit neuen Ideen zu tun?« fragte Jason. »Aber mein lieber Junge, du hast da ganz falsche Vorstellungen. Wir suchen nicht nach neuen Ideen, sondern wir erforschen die alten. Forschung bedeutet, daß wir uns die Ideen anderer Leute vornehmen und sie aufarbeiten. Nichts Neues also. Um es bildlich auszudrücken: Wir mischen nur das Kartenspiel von neuem, sortieren es ein bißchen anders.« »Ach so. Ich muß mich wohl vertan haben.« »Ja, du hast offensichtlich mit Leuten gesprochen, die selber keine Forschung betreiben. Die haben manchmal eine seltsame Vorstellung. Aber laß mich nun über die Granits erzählen. Wir gelangten zu der Einsicht, daß es höchste Zeit sei zu analysieren, wie sie es machten.« »Was machen sie?« fragte Jason. »Tut mir leid, aber ich verstehe Sie nicht.« Zehnkinn sah ihn argwöhnisch an. »Wie kommt es eigentlich, daß ein Bewohner des Innengesteins, besonders wenn er ein persönlicher Freund des Bildhauers ist, nicht einmal über die elementaren Gegebenheiten des Granitlebens Bescheid weiß?« fragte er Jason.
Jason, der eine Gefahr heraufziehen sah, antwortete schnell: »Ach ja, ich habe ja ganz vergessen, Ihnen zu sagen, daß ich vor kurzem sehr schwer gestürzt bin und dabei Teile meines Gedächtnisses verloren habe.« »Hm. Das tut mir sehr leid. Ist ja höchst ungewöhnlich, weil sogar ein Untergumpf weiß, daß die Granits für unser Überleben von der allergrößten Wichtigkeit sind. Während ihrer Lebensdauer versorgen sie uns mit Licht: Dieses Meer von weißem Licht über unseren Köpfen besteht aus einer Unmenge von schwebenden Granits, es sind Tausende, die auf uns herabscheinen. Und wenn einmal ein Einbruchsalarm ausgelöst wird, werden die Granits alarmiert und schwärmen millionenweise aus, um die Angelegenheit zu regeln. An manchen Plätzen wird es dann zeitweise ziemlich düster, aber sie vermehren sich so schnell, daß die Lichtversorgung rasch wiederhergestellt ist.« »Welche Art von Einbrüchen verursachen euch den größten Ärger?« fragte Jason teilnahmsvoll, weil er herausbekommen wollte, was ein Einbruch überhaupt war. »Aha, das ist eine interessante und - ohne dir nahetreten zu wollen auch eine intelligente Frage. Ich habe erst neulich eine Übersicht erstellt, das heißt, meine Techniker haben das besorgt - ich trage zwar manchmal auch eine weiße Arbeitskluft, um Eindruck zu schinden, aber die Kleinarbeit überlasse ich meinen Technikern. Ich spare ihnen nur die Mühe, der Öffentlichkeit die Ergebnisse ihrer Forschungsarbeit vorlegen zu müssen. Aber wo war ich doch gleich stehengeblieben? - Ach ja, meiner neuesten Statistik kann man entnehmen, daß achtzig Prozent der gegenwärtigen Einbrüche manchmal durch menschliche Einmischung verursacht werden: zum Beispiel Sprengungen, Bombenabwürfe, Bohrungen und so weiter. Nur zwanzig Prozent davon haben natürliche Ursachen: wie zum Beispiel Gesteinserosion, Geländesenkungen, Erdbeben und so weiter. Die Einbrüche, die durch die Menschen verursacht werden, sind unvorhersehbar, wie wir herausgefunden haben, und die Granits werden trotz ihrer Geschwindigkeit manchmal auf eine harte Probe gestellt. Wenn wir nicht aufpassen, wird es eines Tages so weit kommen, daß die Menschen eine Bresche in unsere Verteidigungsanlagen schlagen, und dann werden diese Ungeheuer dort oben einen sicheren Beweis von unserem Vorhandensein bekommen. Wie ich befürchte, würde das der Anfang vom Ende des Innengesteinslebens sein. Deswegen ist meine Forschungsarbeit auch so wichtig. Siehst du, für uns wird es eine Frage auf Leben und Tod sein, ob wir Mittel finden, um die
Geschwindigkeit der Granits zu erhöhen, damit sie mit der immer wirkungsvoller werdenden Sprengkraft bei den menschlichen Einbrüchen Schritt halten können. Darum lasse ich auch so viele Granits fangen und aufschneiden, um ihr Gesetze der Fortbewegung studieren zu können. Es sind häßliche, kleine Geschöpfe, und niemand hat etwas dagegen, daß man sie so behandelt«, fügte Zehnkinn vertraulich hinzu. Jason war durch diese Neuigkeiten ziemlich aufgebracht, aber fest entschlossen, so viel herauszubekommen wie möglich. »Wie verhindern sie eigentlich die Einbrüche?« fragte er. »Du mußt aber wirklich einen ganz schweren Sturz mitgemacht haben«, wunderte sich Zehnkinn. »Nun, wie jeder hier weiß, wirkt sich der Druckwechsel, der bei einem Einbruch entsteht, auf die hochempfindlichen Druckzellen der Granits aus. Die Druckzellen sind die kleinen weißen Punkte auf ihren Flügeln. Daraufhin eilen dann diese phantastischen Geschöpfe zum Ursprung der Störung. Es sieht wie ein Lichtstrom aus, wenn sie in millionenfacher Zahl dorthin schwirren und sich Hals über Kopf in den Spalt stürzen. Schichtweise stürzen sie mit unglaublicher Stärke übereinander und werden sofort zu Stein, um den Spalt wieder zu schließen. Ihre Körper bestehen, wie du wohl weißt, oder vielmehr nicht mehr weißt, größtenteils aus harter, spröder Materie, sie sind wie lebende Schalen von Muscheln. Ein Paar Flügel haben sie vorne und ein weiteres Paar an ihrem hinteren Ende. In der Mitte befindet sich eine Reihe winziger Augen, die von einem Ende bis zum anderen reicht. Ihre Bäuche strahlen weißes Licht aus. Unter normalen Bedingungen schweben sie hoch oben in der Luft, wie eine Decke aus Licht. Ihre Nahrung bereiten sie sich aus den Ausscheidungspartikeln, die von uns hier unten aufsteigen. Sie absorbieren die verbrauchte Luft und wandeln sie in frische um. Es sind wirklich ganz bemerkenswerte kleine Geschöpfe und sehr schwer zu fangen. Wir hatten ziemlich viele Schwierigkeiten damit. Wenn nämlich eines von ihnen verwundet wird, fressen es die anderen sofort auf - sie umschwärmen es und saugen so lange, bis es ausgetrocknet ist. Wir schaffen es daher kaum einmal, eines hier herunter zu bekommen. Ich bin nicht dazu befugt, die exakte Methode aufzudecken, mit der wir die Lebewesen einfangen, denn sie ist immer noch streng geheim. Überhaupt habe ich das Gefühl, daß ich schon zuviel gesagt habe, aber ich komme so leicht ins Schwärmen! Mein bevorzugter Gesprächsstoff. Verzeih, aber ich glaube, es wird Zeit, daß wir mit den Verhören beginnen.«
»Eine letzte Frage noch«, wagte Jason einzuwenden, »was passiert eigentlich, wenn sie auf den Spalt auftreffen, und zwar so, daß sie durchbrechen und auf der anderen Seite im oberirdischen Bereich wieder auftauchen?« »Oh, das ist entsetzlich, ganz entsetzlich«, plapperte Zehnkinn vor sich hin. »Eine furchtbare Sauerei... Sie erhitzen sich zu stark, und eine sehr große Menge von ihnen wird über das Außengestein ausgespuckt. Wenn dies passiert, muß es dem Bildhauer als vulkanisches Katastrophengebiet gemeldet werden, und man muß teuer dafür blechen. Aber zum Glück gibt es in unserer Zeit nicht mehr so viele Vulkane. Aber nun müssen wir wirklich mit den Verhören anfangen.« Er gab Grünapfel ein Zeichen, damit er dem Publikum Schweigen gebot. »Bringt den ersten Untergumpf herein«, befahl Seine Lordschaft. Er wandte sich Jason zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Um dich daran zu erinnern, es gibt vier Klassen - Unter-gumpfe, Gumpfe, Übergumpfe und Großgumpfe. Beinahe alle Gäste hier gehören der normalen Gumpfklasse an. Grünapfel, ich und noch der eine oder andere sind zu Übergumpfen ernannt worden. Großgumpfe sind natürlich sehr selten, und ich bezweifle, daß es im ganzen Innengestein mehr als fünf oder sechs davon gibt. Wenn die Untergumpfe ihre Verhöre erfolgreich durchgestanden haben, können sie normale Gumpfe werden, wie du gleich sehen wirst, obgleich ich bei denen, die uns heute angeboten wurden, meine Zweifel habe.« Der Vorhang ging auf, und durch den Torbogen kamen die beiden Blauen Trompeten herein, mit denen Jason im Schaugefängnis eine so schmerzhafte Erfahrung gemacht hatte. Als sie sich ihren Weg durch die Tischreihen hindurch bahnten, wurden sie von den Gästen gezwickt und geschlagen. Vor Lord Zehnkinn machten sie halt. Seine Lordschaft zwinkerte Grünapfel zu. »Beantwortet die folgenden drei Fragen!« befahl Grünapfel mit dröhnender Stimme. »Erstens: Warum leuchten uns die Granits auf unserem Weg?« »Mein Lieblingsfrage«, vertraute Zehnkinn Jason an. »Antwortet!« dröhnte Grünapfel. »Weil es der Wille des Bildhauers ist«, sangen die Blauen Trompeten miteinander. »Richtig!« antwortete Grünapfel, und die Gäste trampelten mit den Füßen auf den Boden. »Zweitens: Warum gehorchen wir den Polizist! ?«
»Weil es der Wille des Bildhauers ist«, wiederholten die Blauen Trompeten. »Richtig!« Wieder stampften die Gäste, bis Grünapfel die Hand erhob, um Ruhe zu gebieten. »Drittens: Warum steht ihr zitternd da, während wir es uns hier gutgehen lassen?« »Darauf werden sie hereinfallen«, murmelte Zehnkinn mit einem leichten Kopfnicken zu Jason. »Weil es der Wille des Bildhauers ist«, trällerten die Blauen Trompeten nervös. »Falsch!« donnerte Grünapfel mit Nachdruck. Die Gäste quittierten die Antwort mit einem langandauernden Zischkonzert. Die Trompeten verfielen in einen heftigen Schüttelkrampf. »Ihr Urteil, Mylord?« fragte Grünapfel mit süffisantem Grinsen. Zehnkinn wandte sich ihm zu, und sie steckten die Köpfe zusammen. Jason kam es so vor, als ob sie »Schnaffel, schnaffel, schnaffel« zueinander sagten und sich dabei ständig wiederholten. Aber er mochte sich auch täuschen. Dann nickte Zehnkinn Grünapfel mit einem grimmigen Blick zu und lehnte sich zu Jason herüber. Mit seinem großen Kopf kam er ihm unangenehm nahe. »Schnaffel, schnaffel, schnaffel«, stimmte er an. »Was?« erkundigte sich Jason. »Schnaffel, schnaffel, schnaffel«, wiederholte Zehnkinn, und dann sagte er im Flüsterton: »Sag das gleiche. Es ergibt zwar keinen Sinn, aber es spart uns die Mühe, den Fall zu diskutieren. Nach den alten Regeln müßte ich mir einen Rat einholen. Natürlich denke ich überhaupt nicht daran - es hätte auch keinen Zweck -, aber ich möchte mich wenigstens an die Formalitäten halten. Das macht einen guten Eindruck auf die Gumpfe«, und Zehnkinn zwinkerte Jason wieder einmal vielsagend im Zeitlupentempo zu. »Schnaffel, schnaffel, schnaffel«, sagt er laut. »Schnaffel, schnaffel, schnaffel«, antwortete Jason, der sich dabei entsetzlich blöde vorkam. »Gut, gut, gut«, meinte Zehnkinn. »Dann sind wir also alle einer Meinung?« Grünapfel nickte und schaute verloren in die Ferne. Zehnkinn stand umständlich auf. »Blaue Trompeten, ihr habt es nicht geschafft. Das ist euer siebtes Verhör, und deswegen bleibt mir keine andere Wahl...«, Zehnkinn zupfte an seinem fünften Kinn herum, streichelte die knotige Geschwulst aus fettem Fleisch, »ich verurteile euch zur permanenten Zurschaustellung im Gefängnis.«
Zu Jasons Erstaunen wurden die Blauen Trompeten plötzlich munter und trotteten mit schnellen Schritten aus dem Festsaal. Nach einer kurzen Pause wurde Schwarzer Mond hereingebracht. Er versagte fürchterlich, und Zehnkinn wurde immer wütender. Seine Kinne wechselten die Farbe, sie liefen rot, blau und gelb an. Plötzlich sprang er auf und fuhr auf die Gestalt los, die vor ihm kauerte: »Du idiotischer, triefäugiger, unfähiger Aufsteiger! Du Wildsau, du schwuler Schleimer! Du bist es nicht wert, hier zu wohnen. Du bist eine Schande für die alte und ehrwürdige Zunft der Gumpfe. Ich verurteile dich dazu, daß du bei dem nächsten Granit-Alarm versteinert wirst!« Die Gäste stampften und zischten. Schwarzer Mond schrie erbärmlich und begann vor Verzweiflung im Kreis herumzurennen. Er wurde sehr schnell von Polizisti umringt, die ihn aufspießten. Sein steifer Körper wurde aus dem Saal getragen. »Bin ich froh, daß dies vorüber ist«, seufzte Zehnkinn und entspannte sich dabei wieder. »Nun bist du an der Reihe, mein lieber Junge. In deinem Fall ist es natürlich eine reine Formalität. Würdest du dich bitte dort drüben aufstellen? Danke.« Jason ging um den Tisch herum und stellte sich vor dem Thron auf. Im Saal war es ruhiger denn je. »Erste Frage...«, brüllte Grünapfel mit gelangweilter Stimme. Offensichtlich war er enttäuscht, daß keine aufregende Prüfung mehr stattfinden würde. Er hatte fest damit gerechnet, daß über sein nächstes Opfer die Folter fünfzigsten Grades verhängt würde, weil Jason Rotwarzes Tod verursacht hatte. Aber nur weil dieser Kerl den Bildhauer persönlich kannte, wurde er so milde behandelt. »Typisch!« murmelte er vor sich hin, als er die Liste mit den Fragen durchsah, »das hätte es früher, als ich noch jung war, nicht gegeben, damals waren Regeln eben noch Regeln. Aber mir kann's ja egal sein. Ich muß mich beeilen, damit ich's hinter mich bringe.« Mit unbewegter Stimme dröhnte er: »Erstens: Hat dir das Essen geschmeckt?« »Ja. Jeder Bissen.« »Richtig. Zweitens: Geht dir das Schicksal der Blauen Trompeten nahe?« »Nein, das ist ihr Bier.« »Richtig. Drittens: Macht dir die bevorstehende Versteinerung von Schwarzem Mond etwas aus?« »Nein, das ist sein Bier.«
»Richtig.« »Meinen herzlichsten Glückwunsch!« Lord Zehnkinn strahlte Jason an. »Das war ja eine ganz vorzügliche Leistung! Ich bin überzeugt davon, daß der Bildhauer stolz auf dich gewesen wäre. Bitte setz dich doch wieder hierher. Du bist nun ein ausgewachsener Gumpf!« Jason setzte sich wieder an seinen alten Platz. Der fette Lord lehnte sich zu ihm herüber und flüsterte ihm vertraulich ins Ohr: »Ich muß schon sagen«, flüsterte er hinter seiner vorgehaltenen Pranke, »du kannst ja ganz vorzüglich lügen. Welch bewundernswerte Ausdruckskraft und Selbsteinschätzung... Großartig, einfach großartig!« »Woher wollen Sie denn wissen, daß ich gelogen habe?« fragte Jason betroffen. »Ach, mein guter Junge, das ist doch sonnenklar. Ich wollte damit nur sagen, daß du ja sonst nicht das Verhör überstanden hättest. Und darüber weißt du selbst am besten Bescheid. Dennoch ist dein unschuldiges Gehabe reizvoll, sogar sehr reizvoll, und ich bin dir dankbar dafür. Heutzutage finden es einfach die meisten überhaupt nicht mehr der Mühe wert. Das ist schade, weil es den ganzen Spaß daran verdirbt. Nun, wo ist denn dieses junge Weibchen mit den Hörnern? Ah, dort ist sie ja. Hole sie bitte hier herüber. Wie heißt sie, Grünapfel?« »Ludo, Mylord.« »Ach ja, natürlich, Ludo. Ludo, komm bitte hier herüber und führe den jungen Spion zu seiner Unterkunft. Mein guter Junge, auf Wiedersehen! Es war mir ein großes Vergnügen, dich verhören zu dürfen. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder. Meine besten Empfehlungen an den Bildhauer. Leb wohl, mein guter Junge, leb wohl!« Jason wurde aus dem Saal geführt. Das Mädchen mit dem Fell und den Hörnern, das er zum ersten Mal im Schaugefängnis gesehen hatte, begleitete ihn. Sie war sehr still und starrte mürrisch auf den Boden, als sie vor ihm herging. »Ich nehme an, daß Sie sauer auf mich sind, weil Sie mich nun nicht mehr mit Ihrem Stock zähmen können«, bemerkte Jason trocken. »Nein, Sir, ich frage mich nur, was aus mir wird, wenn Sie mich beim Bildhauer verpetzen?« murmelte sie. »Ach, vergessen Sie's. Wir wollen jetzt einen neuen Anfang machen, ja?« Jason lächelte sie an. Er hatte genug Zeit gehabt, um einzusehen, wie bitter nötig er einen Freund und Verbündeten brauchte. »Nenn mich Jason, und ich nenn' dich Ludo. So heißt du doch, oder?«
»Ja, ich danke dir.« Ihr Gesicht hellte sich zusehends auf. Sie räusperte sich verlegen und sagte dann: »So komm schon, hier geht's lang...« Sie bogen in einen Seitengang ein und gelangten dann ins offene Gelände.
5. Der Geysir-Sturm Für Jason war es ein wunderbares Gefühl, wieder frei zu sein, und es fiel ihm schwer, seine große Erleichterung zu verbergen. Als ihn Ludo aus den labyrinthartigen Bauten heraus und ins weite Land führte, atmete Jason tief auf, er füllte seine Lungen, bis sie beinahe platzten. Beim Ausatmen seufzte er geräuschvoll auf. Das Mädchen mit dem Fell und den Hörnern, das sehr aufrecht ging und ihm beim Gehen immer etwas voraus war, machte keine Bemerkungen über sein seltsames Verhalten. Nachdem sie schon ein schönes Stück Wegs gegangen waren, sagte sie beiläufig: »Mein Dorf ist ungefähr zehn Kilometer weit weg. Ich bin dir bis zum nächsten Besuch des Bildhauers zugewiesen worden. Vielleicht kannst du dann, wenn du zufrieden mit mir warst, beim Bildhauer ein gutes Wort für mich einlegen.« Wenn dieser Tag kommt, werde ich wirklich in der Klemme sitzen, dachte Jason. Bis dahin muß ich mich umfassend informieren und etwas über die Goldenen Würmer herausfinden. Das Mädchen sah ihn fragend an, und Jason begriff, daß sie auf eine Antwort wartete. »Ja, natürlich. Übrigens bin ich mit dem Bildhauer hier noch nie herumgereist. Wie läuft es gewöhnlich ab? Wann erwartet ihr den nächsten Besuch des Meisters?« Er wollte lässig erscheinen, als ob die Frage nur wenig Bedeutung für ihn hätte. »Das wissen wir nie so genau. Er wird nie angekündigt. Es kann jeden Tag passieren. Wir hissen die Körperflaggen auf den Dächern unserer Wohnzellen als Zeichen, daß wir warten. Aber die Besuche des Bildhauers sind selten geworden. Wir wissen auch nicht, warum, aber es beunruhigt uns.« »Was ist eine Körperflagge? Dort, wo ich herkomme, gibt es auch Flaggen, auf denen aber Zeichen abgebildet sind und keine Körper.«
»Auch auf den Körperflaggen sind Zeichen, aber die Zeichen haben einen Bezug zu ganz spezifischen Körpermerkmalen. Zum Beispiel besteht mein Zeichen aus einem Paar kurzer, gekrümmter Hörner. Deines - wenn du mal eines bekommst - wird dein schwarz-weißes Haar zeigen. Wenn der Bildhauer an uns arbeitet und uns verändert, bekommen wir eine neue Körperflagge, die seine Verbesserungen würdigt. Aus diesem Anlaß wird im Dorf immer ein großes Fest gefeiert. Alle tanzen um die Zelle, von der die neue Flagge flattert. Wir trinken dann, waschen uns gegenseitig und berühren uns die ganze Nacht über mit den Füßen.« »Das klingt ja wirklich aufregend, aber in der Gegend, aus der ich stamme, gibt es Zellen nur im Gefängnis.« »Hier ist das anders. Für uns ist eine Zelle der Ort, wo wir schlafen und die Geschmackseier zu uns nehmen. Sie ist unser Heim, der Ort, an dem wir uns sicher fühlen. Keine Fremden werden hereingelassen. Wir treffen uns mit den Fremden nur außerhalb der Zellenmauern.« »Aber ich bin doch auch ein Fremder«, räumte Jason ein. »Ach nein. Du hast ja das Verhör durchgestanden. Das ist sicher auch schon bei uns verkündet worden. Du bist kein Fremder mehr und wirst die Zelle mit mir teilen. Aber wir müssen nun nach einem Reittier ausschauen, es ist zu weit, um zu Fuß zu gehen, sonst erreichen wir unser Ziel nicht, bevor die Granits bei Einbruch der Nacht verdunkelt werden. Komm, dort drüben ist ein Flumel, es wird uns ins Dorf bringen.« Ein großes Tier mit sechs Höckern, einem dreieckigen Kopf und vier dünnen Beinen kam angetrabt und kauerte sich vor ihnen nieder. Ludo half Jason zwischen dem zweiten und dritten Höcker hinaufzuklettern und nahm selber zwischen dem dritten und vierten Platz. Das Flumel grunzte, stand schwerfällig auf und verfiel in einen gleichmäßigen Trott. Sie trabten in gemächlichem Tempo dahin, und Jason konnte die seltsame Landschaft betrachten. Der rosafarbene Sand auf dem Boden war mit vielen kleinen farbigen Büscheln übersät, die in den verschiedensten Farben leuchteten: verschiedene Schattierungen von Gelb, blassem Grün und Tiefblau. Sie funkelten und blitzten wie Juwelen. Ab und zu sah er auch einen großen weißen Stachel aus dem Boden aufragen, der an der Spitze winzige purpurrote Kugeln trug. Glänzende, eidechsenartige Tiere wichen vor dem Flumel aus, als sie näherkamen. Um ein paar dunkle, zickzackförmige Risse im Boden herum entdeckte Jason lange, dünne Wesen in der Luft, die im intensiven Licht der Granits smaragdgrün und golden schillerten. Sie summten und schwirrten aufgeregt herum, als das
Flumel die Spalten umging. Dann verfielen sie aber wieder in ihren ruhigen Schwebezustand, als das mächtige, sechshöckrige Tier vorüber war. In der Ferne war ein schwaches Grollen zu hören. »Nun können wir uns aber auf was gefaßt machen!« rief Ludo. »Wir kommen direkt in einem Geysir-Sturm. Ich fürchte, wir müssen mitten durch. Wir haben keine Zeit mehr, um ihn zu umgehen.« Das Grollen wurde lauter. »Halt dich an deinem Höcker fest, wir müssen uns sputen!« Sie stieß das Flumel heftig in die Flanken. Das Tier, dessen Mundwinkel zuckten, klimperte vor Aufregung mit den Augenlidern, von denen die langen seidigen Wimpern herabhingen, senkte den Kopf und setzte zu einem holprigen und unsteten Galopp an. Jason hielt sich verzweifelt an dem schwankenden Höcker vor ihm fest und wartete darauf, daß der Sturm losbrach. »Hör dir nur dieses Rattata an!« Ludo versuchte das Donnergrollen zu überschreien. »Jetzt kann es jeden Moment losgehen und herauf gießen!« »Herauf?« verwunderte sich Jason. »Was meinst du mit >herauf« Aber Ludos Antwort ging im Grollen unter, das nun zu einem Donnergrollen angeschwollen war. Und schon brach das ' Unwetter herein. Gerade noch bevor sich das Flumel tapfer in den Sturm stürzte, sah Jason, was das Mädchen gemeint hatte. Das Wasser, das das Gewitter mit sich brachte, schoß aus dem Sand herauf und fiel nicht wie der Regen, den Jason von zu Hause gewohnt war, vom Himmel herab. Die Wüste, die einen Augenblick zuvor noch ganz ausgetrocknet gewesen war, hob und senkte sich wegen der unzähligen Wasserstrahlen, die einige Meter weit in die Luft aufschössen, bevor sie wieder zurückfielen. Das Flumel galoppierte direkt auf dieses Meer von Fontänen zu. Es waren über eine Million, soweit Jason dies mit bloßem Auge beurteilen konnte. Mit einem Krachen sausten sie hinein, und Jason stellte sehr bald fest, daß er wegen des Wasserdrucks kaum mehr atmen konnte. Mit dem einen Arm umklammerte er krampfhaft den Höcker, der nun vom Regen ganz glitschig wurde, und mit der freien Hand schützte er Nase und Mund, damit kein Wasser eindringen konnte. Er wagte nicht, sich nach Ludo umzuschauen und um sie zu kümmern, es genügte ihm, das Flumel zu sehen, wie es den Kopf schüttelte und prustete, um das Wasser abzuhalten. Irgendwie brachte es das unbeholfene Tier aber doch fertig, sich seinen Weg durch den schlimmsten Einbruch des Sturms zu bahnen, bis die Geysir-Fontänen nur noch zwei Meter hoch waren. Auch bei diesem
Marschabschnitt waren nur noch die Köpfe Jasons, Ludos und der des Tieres, sowie dessen sechs Höcker über der Wasseroberfläche zu sehen. Es war, als ob sie einen seichten See durchwateten, das Flumel sah wirklich aus wie eine Wasserschlange. »Wir haben das Schlimmste geschafft«, schrie Ludo. »Nein, stimmt nicht! Ich hätte es beinahe vergessen! Halt dich fest! Festhalten!« Ihre Stimme schwoll zu einem Geheul an, als das Flumel anfing, Bocksprünge zu machen, sich aufzubäumen und wie irr zu kichern, ein Benehmen, das zu seinem unförmigen Körperbau überhaupt nicht paßte. »Hi, hi hi, oh, oh, oh, ah, ah, hi, hi, hi«, kreischte das Flumel und machte immer verrücktere Kapriolen, indem es mit den Beinen ausschlug und seinen Rücken bog. »Was ist denn los?« fragte Jason, als er zwischen den wackelnden Höckern hin- und hergeworfen wurde. »Die Fontänen sind auf Bauchhöhe gesunken«, rief Ludo, »und die Flumele drehen dabei fast durch, weil sie nämlich kitzlig sind. Ich habe vergessen, ihm seinen Bauchschutz umzubinden, bevor wir losgezogen sind. Tut mir leid. Du mußt dich eben festhalten.« Aber schon war es zu spät. Das hysterische Flumel rutschte aus und brach kläglich auf dem Boden zusammen, wo es immer noch kicherte, ohne sich dagegen wehren zu können. Jason und Ludo wurden auf den nassen Sand geschleudert, während um sie herum überall die kraftvollen Fontänen aus dem Boden schössen. Ludo rannte zu dem stöhnenden, verzweifelt kämpfenden Tier hinüber und nahm eine schwere, zusammengerollte Decke, die zwischen dem fünften und sechsten Höcker befestigt war, herunter , breitete sie aus und band sie mit Jasons Hilfe am klatschnassen Bauch des Tieres fest, worauf sich das Flumel langsam beruhigte. Jason und Ludo prusteten und schluckten, das Wasser rann in Strömen an ihnen herunter, und sie konnten kaum atmen, als sie gemeinsam versuchten, das Tier wieder auf die Beine zu hieven. Einen Augenblick lang stand es wacklig vor ihnen und zuckte mit der Haut, aber dann kniete es gehorsam nieder, damit sie es besteigen konnten. Nachdem sie ein paarmal tief Luft geholt hatten, machten sie sich wieder auf den Weg. Bald waren sie durch das Schlimmste hindurch und näherten sich allmählich dem Dorf, das in der Ferne lag. Sie kamen nun ohne nennenswerte Zwischenfälle voran, denn das gute Flumel war wieder so gehorsam wie zuvor. Ludo begann plötzlich zu lachen.
»Was gibt's?« fragte Jason. »Der Kosmetiker würde jetzt einen Wutanfall bekommen«, rief sie zurück. »Deine Farben sind ausgelaufen. Seine Creation ist total futsch. Du bist nicht mehr schwarz und weiß. Der Sturm hat dein neues Muster weggewaschen.« Jason sah auf seinen Kittel herunter. Er war nun ganz weiß. Die Schuhe hatten dieselbe Farbe. Er betastete sein Gesicht. »Ja, das ebenfalls«, sagte sie. »Es hat wieder seine natürliche Farbe, wie auch dein Haar.« »Es hat nicht lang gehalten, wie?« lachte Jason, der froh war, daß er das alberne Schwarz-Weiß-Muster los war. »Es sollte auch gar nicht lange halten. Denn wenn die Schöpfungen des Kosmetikers dauerhaft wären, wäre er im Nu arbeitslos. Aber ich glaube, das war sogar für ihn ein bißchen kurzlebig. Er muß sich nun eine neue Körperflagge für dich ausdenken.« »Bloß nicht!« schrie Jason. Auf eine etwas merkwürdige Art fühlte er sich nun ganz zufrieden und stieß deswegen das Flumel spielerisch in die Flanken, worauf das Tier in einem ziemlich schnellen Tempo loszog und nach allen Seiten spuckte. »Versucht es eigentlich etwas mit dem Spucken zu treffen, oder spuckt es überall hin?« fragte Jason. »Das ist nur der Anfang. Warte, bis wir die Randzone des Sturms erreicht haben, dann wirst du sehen, ob es zielen kann oder nicht!« antwortete Ludo. Die Wasserfontänen wurden allmählich dünner und waren nur noch etwas über einen Meter hoch. Weiter weg konnte Jason kleine rote Blasen an der Spitze der stärkeren Wasserstrahlen unterscheiden. Er zeigte sie Ludo. »Ach ja, da sind sie also wieder... Wir nennen sie Fließbluter. Das sind ekelhafte, kleine Schmarotzer, die sich auf dich stürzen, platzen und dann schließlich auf den Boden tropfen. Dabei reißen sie Haut- und Fleischfetzen von dir ab, die sie dann unterwegs auflösen. Wenn sie auf dem Boden angelangt sind, rollen sie sich zu einem anderen Wasserstrahl hinüber, mit dem sie wieder nach oben gelangen, wo sie auf ihr nächstes Opfer warten. Glücklicherweise können sie nicht sehr weit schnellen, und außerdem können die Flumele ganz ausgezeichnet mit Sandkügelchen schießen.« »Wie feuern sie sie ab?« fragte Jason.
»Flumele schlucken ziemlich viel Sand, wenn sie sich ausruhen, und schießen die Kügelchen durch ihren langen Hals zur Zungenwurzel hinauf. Die Zunge rollen sie dann zu einem Blasrohr zusammen, durch das sie darauf die Sandkugelchen bis zu sechs Meter weit blasen können. Die Reichweite der Fließbluter ist nur etwas weniger als zwei Meter, so daß wir also so ziemlich keine Gefahr zu fürchten haben. Sieh dir das an! Sandkügelchen begannen mit erstaunlicher Geschwindigkeit in der Gegend umherzufliegen, als das Flumel mit gesenktem Kopf und eingezogenem Schwanz das Gebiet mit den Fließblutern durchstürmte. Glänzende rote Kugeln mit zotteligen unordentlichen Haaren sprangen und schnellten durch die Luft, und jede versuchte verbissen, die Flanken des galoppierenden, speienden Tieres zu erreichen. Ab und zu gab es kleine Explosionen, wenn die Sandkügelchen ihr Ziel getroffen hatten und die mit Blut angefüllten Blasen sprengten. Die Blutbeutel wurden durch die Wasserstrahlen hinuntergespült. Bei einer großen Blase hatte das Flumel danebengetroffen, und dieses ekelhafte Tierchen machte nun einen großen Satz und ließ sich nach einem Rekordsprung von über zwei Metern auf dem sich krümmenden Rumpf des großen Tieres nieder. »Walla-walla-walla-walla!« brüllte das verwundete Flumel. Dabei sprang es in die Luft wie ein Känguruh, das einen Seeigel in seinem Beutel stecken hat. Aus seinem Maul schössen Sandkügelchen hervor wie aus einem Maschinengewehr, sein langer Hals bog sich vor Schmerz in alle Richtungen, und seine funkelnden Augen blitzten vor Angst und Schmerz. »Geh in Deckung!« schrie Ludo hinter dem dritten Höcker hervor, als das vor Schmerz wahnsinnige Flumel seinen Hals verdrehte und auf seinen eigenen Rumpf zu zielen begann. »Walla-walla-walla!« schrie das Flumel, als es vor Schreck den ersten Höcker mit drei großen Kugeln getroffen hatte. Jason duckte sich und hoffte insgeheim, daß die Höcker kugelsicher sein möchten. Dann war der Spuk nach einem weiteren Ruck zu Ende. Sie waren durch die Zone mit den Fließblutern hindurch und nach der Sturmzone wieder auf trockenen, warmen Wüstensand gelangt, der ihnen jetzt wohltat. Das Flumel sank schnaufend und stöhnend auf die Knie, und seine durchgeschüttelten Reiter stiegen herunter. Mit weichen Knien gingen sie um das arme Tier herum, tätschelten und beruhigten es. Mit überdrehtem, nervösem Gekicher lachten sie über ihre geglückte Flucht.
»Bah!« sagte Ludo schließlich. »Das war ja ein schlimmes Unwetter! Das übelste, das ich jemals erlebt habe! Ist bei dir alles in Ordnung?« »Ja, ich bin noch gesund und munter. Aber was macht unser Flumel?« »Es wird sich gleich wieder erholt haben. Es steht unter Schock. Sein Zustand ist auf keine ernsthaften Ursachen zurückzuführen. In ein paar Tagen wird alles wieder verheilt sein - und das Flumel wird so gut wie neugeboren sein. Flumele sind nun mal ziemlich zähe Viecher. Aber wir müssen ihm ein paar Minuten Zeit lassen, damit es sich beruhigt.« Wütend lud sich das Flumel wieder mit Sandkörnern auf, die es gierig hinunterschlang, während es bei jeder neuen Ladung sich finster nach der Zone mit den Fließblutern umschaute, als ob es auf Rache sänne. Ludo und Jason hatten sich auf dem heißen Sand ausgestreckt, um zu trocknen. »Wo kommt denn bloß plötzlich all das Wasser her mitten in der Wüste?« fragte Jason. Zum Zeitvertreib pflückte er sich ein paar bunte Blumen aus Kristall, die in der Nähe herumlagen, und ließ sie in dem Lederbeutel an seinem Gürtel verschwinden. »Früher war das Klima viel feuchter, und es gab hier auch einen Sumpf, der Silbersumpf genannt wurde. Es war ein beliebter Jagdgrund für einen Teil der Dorfbewohner. Dann begann das ganze Gebiet auszutrocknen. Ein schrecklicher Sandsturm wütete und deckte den Sumpf mit Abermillionen Tonnen Sand zu. Der Sumpf wurde zwar verschüttet, aber der Wasserdruck dort unten ist sehr stark, und jedesmal, wenn das Wasser wieder durchbricht, haben wir es mit einem dieser Geysir-Stürme zu tun, bei denen es von unten nach oben schüttet. Unglücklicherweise wird dabei auch ein Teil des Sumpfungeziefers nach oben geschwemmt, und eine Art hat es verstanden, die Situation zu ihrem Vorteil auszunützen. Ich brauche dir ja nicht zu sagen, welche Art dies ist. Komm jetzt, ich glaube, das Flumel hat sich wieder erholt.« Sie stiegen auf und setzten ihren Ritt in aller Ruhe fort. In der Ferne entdeckte Jason etwas, das ein orangefarbenes Licht von sich gab. »Dies ist mein Heimatdorf«, sagte Ludo stolz. »Wir werden bald dort sein.« Das Land war total ausgetrocknet und durch die Hitze die Oberfläche aufgebrochen. Jason hatte beim Durchreiten das Gefühl von Weite. Gelegentlich wurde die Öde durch ein buntglänzendes Büschel von Kristallen belebt, die auf dem hellen Sand funkelten und glänzten. »Sammelst du eigentlich auch manchmal diese Juwelen, diese Kristalle auf und trägst sie zu dir nach Hause?« fragte Jason.
»Nein«, antwortete Ludo, »niemals, denn sie sollen angeblich Unglück bringen.« Sie sagte es ganz arglos, denn sie hatte während ihrer Rast nach dem Sturm nicht gesehen, daß Jason Kristalle aufgehoben hatte. »Glaubst du das auch?« »Ich bin mir nicht sicher. Aber warum sollte ich es riskieren? Wir können sie ja hier draußen anschauen, so oft wir wollen.« »Du willst sie also nicht besitzen?« »Nein, natürlich nicht. Du kannst Leute besitzen, aber doch keine Gegenstände.« »Das verstehe ich nicht.« »Nun«, sagte Ludo stirnrunzelnd, »du besitzt doch etwas erst dann, wenn es weiß, daß es dein Eigentum ist. Und da Gegenstände nichts wissen können, kannst du sie auch nicht besitzen. Bei Menschen ist das anders.« Jason gab auf, dies zu verstehen, und beschloß, die Kristalle niemand zu zeigen. Die Landschaft war zu interessant, um unnötige Zeit auf einen Streit zu verschwenden. Schweigend ritten sie weiter. Ziemlich weit in der Ferne auf seiner Linken sah Jason einen Hund, der rannte. Aber als er endlich Ludos Aufmerksamkeit darauf gelenkt hatte, war er schon verschwunden. Vielleicht hatte er ihn sich auch nur eingebildet. Das Dorf konnten sie nun deutlicher vor sich sehen. Jason konnte die kleinen, runden Häuser unterscheiden, die wie glatte Türme ohne Fenster aussahen. Als sie an den Dorfrand kamen, wurde der rosafarbene Sand weißlicher und dann blaßblau. Das Flumel rutschte beinahe aus, und Jason erkannte, daß der Boden aus viereckigen Kacheln bestand, die so sorgfältig zusammengefügt waren, daß die Ränder kaum zu sehen waren. Zuerst waren die Kacheln noch mit weißem Sand bedeckt, aber als sie sich der Dorfmitte näherten, wurde der Sand immer dünner und verschwand schließlich ganz. Übrig blieb nur der makellos glatte, blaue Boden. »Dort drüben ist meine Zelle«, sagte Ludo und deutete dabei auf einen hellen, orangefarbenen Turm nahe einem freien Platz. »Die braune und weiße Flagge mit den Hörnern ist meine Körperflagge.« Jason stellte fest, daß auf jedem der Türme eine Flagge mit einem anderen Abzeichen wehte. »Wenn man von der einzelnen Flagge auf jedem Haus ausgeht, müßte man annehmen, daß ihr alle allein lebt?« »Das stimmt insofern, als wir keine Familien haben. Wir sind von der Gesellschaft geächtet und werden deshalb nicht kopiert, aber das ganze Dorf ist wie eine große Familie. Wenn man sich daran gewöhnt, ist das gar
nicht so schlecht. Deine Zelle wird erst in ein paar Wochen fertig sein. Bis dahin wirst du meine mit mir teilen.« »Ach so, ich verstehe«, sagte Jason leise. Langsam dämmerte es ihm, daß er drauf und dran war, der Hausgenosse dieses seltsamen, behaarten Mädchens mit den Hörnern zu werden, aber er konnte nicht so richtig sagen, ob ihm das recht war. »Außer uns beiden wird dann niemand in deiner Zelle sein?« fragte er, als sie vom Flumel herunterstieg, das in der Mitte des Platzes niedergekniet war. »Ja, gewiß nur wir beide«, versicherte ihm Ludo. »Deswegen wird es auch keine Komplikationen geben«, sagte sie und ging über den Platz auf ihre Haustür zu. Die Mauer des Rundbaus war ziemlich tief und voller Gänge, die zu kleinen Türen oder mit Vorhängen behangenen Torbögen führten, aber Ludo erklärte ihm nicht, was sie vorhatte. Mit festen Schritten kletterten die beiden einen kurvenreichen Gang hinauf. Ludo war sichtlich erleichtert, daß sie wieder zu Hause war. Ihre innere Spannung hatte nackgelassen. Sie führte Jason an einem roten Wandschirm vorbei zu einem Fußweg, der wie eine Balustrade an der Außenseite der Turmspitze entlanglief. »Wie findest du's?« fragte Ludo voller Stolz. »Toll«, sagte Jason. »Die Aussicht - die ganzen Flaggen, die Turmdächer und natürlich die Wüste dort in der Ferne. Was sind denn das für Türme - die beiden großen dort drüben mit der ganzen Reihe von Flaggen?« »Der eine zur Linken gehört dem Dorfkoch, und die beiden anderen Häuser gehören den ortsansässigen Polizisti. In den umliegenden Dörfern ist es ganz ähnlich.« »Warum hat der Koch eine so große Bedeutung?« fragte Jason. »Weil er die Geschmackseier für das ganze Dorf überwacht. Es ist eine sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Alle Einwohner hängen von ihm ab. Du wirst ja jetzt - so kurz nach dem Festschmaus - noch keinen Hunger haben, aber später, wenn wir ausgeschlafen haben, zeige ich dir mein Geschmacksei. Es ist ein ganz neues Modell, sehr empfindsam, du wirst es mögen.« »Ja, ich glaube schon«, sagte Jason, aber er hatte keine Ahnung, wovon sie sprach. Auf dem Dach des hohen Polizisti-Turms begann eine Glocke zu läuten. Ludo pfiff durch die Zähne.
»Es ist viel später, als ich dachte. Wir haben es gerade noch geschafft. Fünf Minuten bis zur Granit-Verdunkelung. Mach schnell, spring dort herunter!« »Springen?« »Ja, dort, in die Mitte der Zelle. Das ist unsere Höhle -unsere Schlafhöhle.« »Ja, aber das ist doch mindestens sechs Meter tief. Ich werde mir das Bein oder vielleicht sogar den Hals brechen!« »Unsinn! Der ganze Boden ist fünf-polstrig. Wo du auch liegst, du sinkst tief ein. Es ist, als ob du auf einem Flossil schwimmst. Sieh mir zu, ich mach' dir's vor.« Mit diesen Worten sprang Ludo von der Balustrade. Dabei wedelte sie wild in der Luft herum, als ob sie vor dem Springen Angst hätte. Ludo landete vollkommen lautlos auf dem Boden. Sie lag unten und lachte zu Jason herauf. Jason zählte bis zwei und sprang ebenfalls. Ludo schrie auf und krabbelte gerade noch rechtzeitig zur Seite, als er mit einem Seufzer in der Mitte der kreisförmigen Schlafhöhle landete. Ein paar Minuten lang hüpfte er froh auf dem Boden herum, so als ob er eine neue Matratze ausprobieren würde. Zuletzt ließ er sich dann auf den Rücken fallen und streckte alle viere von sich. Erschöpft starrte er nach oben, sein Blick glitt über die Turmwand zum Himmel mit den glitzernden Granits. Ludo stützte sich auf einen ihrer behaarten Ellbogen, starrte ihn an und lächelte. »Der Bildhauer hat sich bei dir aber große Mühe gegeben. Ich verstehe nicht, warum du verstoßen wurdest.« Jason schloß die Augen. Alles war für ihn so verwirrend. »Ich bin nicht verstoßen worden«, murmelte er. »Ich habe ja das Verhör überstanden. Du warst ja dort und hast es selbst gesehen.« »Nein, du scheinst aber auch gar nichts zu verstehen! Natürlich hast du das Verhör überstanden. Das hat doch nichts damit zu tun, daß man verstoßen wird. Wir hier sind alle Ausgestoßene. Jeder einzelne Dorfbewohner. Wenn wir es nicht wären, wären wir nicht hier. Wir würden in Außengestein, also dort oben, wohnen. Hast du mich jetzt verstanden? Die Verhöre entscheiden nur darüber, zu welcher Klasse von Ausgestoßenen wir gehören. Untergumpfe sind am schlimmsten dran und versuchen, Gumpfe zu werden, aber wenn sie siebenmal erfolglos sind, werden sie verurteilt. Das besiegelt dann ihr Schicksal. Du hast es ja selbst gesehen. Aber wie gesagt, wir sind alle Ausgestoßene. Der Bildhauer besucht uns von Zeit zu Zeit und probiert beim einen oder anderen etwas Neues aus - fügt etwas hinzu, nimmt etwas weg oder verändert etwas - und
dann, wenn der Große Meister mit dem Ergebnis zufrieden ist, wird der Ausgestoßene dazu erwählt, ins Testgebiet aufzusteigen. Ich weiß auch nicht so genau, was dort passiert, aber ich glaube, daß es eine ziemlich harte Sache ist, und erst wenn du den Test bestanden hast, bekommst du den Passierschein nach draußen. Wenn du erfolgreich bist, wartest du, bis du an die Reihe kommst, und eines Tages geht es - ssst - durch den Felsen und nach draußen, du bist dann oben und frei.« »Ach so, jetzt verstehe ich«, sagte Jason. So langsam begann es zu dämmern, und er verstand, was sie meinte. »Der Bildhauer modelliert euch also zu Versuchszwecken um. Und wenn ihr diese Tests nicht besteht, verstößt er euch wieder. Vermutlich deswegen seid ihr alle so verschieden, und es gibt kaum zwei von euch, die sich gleichen.« »Natürlich, es wäre kaum sinnvoll, eine ganze Familie von Ausgestoßenen zu gründen - ich glaube, ich habe dir das schon erklärt weil wir ja anfangen könnten, uns zu vermehren. Und das würde ja zu nichts führen, oder? Der Bildhauer hätte nur mehr Arbeit damit. Jeder von uns ist ein Prototyp. Sobald wir zur Versuchsstation zugelassen sind, wird von uns ein Duplikat gemacht, bevor wir unseren Passierschein nach draußen bekommen. Draußen können wir uns dann auch vermehren. Du wirst nicht bestreiten wollen, daß dies ein ziemlich vernünftiges System ist. Ich kann mir nicht vorstellen, wie es anders funktionieren sollte.« »Nein«, fügte Jason schnell hinzu, weil er keinen Streit anfangen wollte. »Es hört sich alles sehr vernünftig an.« »Natürlich leben hier auch Wesen, die keine Gumpfe sind. Sie sind über das ganze Innengestein verteilt. Aber sie sind anders als wir - keine Einzelgänger, es gibt eine ganze Menge von jeder Art. Sie leben und vermehren sich und bleiben für immer hier. Aber sie zählen nicht. Der Bildhauer rührt sie nicht einmal an. Die meisten sind eine Plage, aber einige Arten sind eßbar, und wieder andere sind recht nützlich, wie zum Beispiel die Flumele.« »Und was ist mit den Blauen Trompeten los? Es waren auch zwei - und doch waren sie Gumpfe, das heißt Untergumpfe, aber immerhin...« »Ach ja, ich weiß, aber sie waren kein richtiges Paar, sondern nur Zwillinge. Eines von des Bildhauers häßlichen Spielchen, pfui! Ich wollte nicht, daß es zwei von mir gäbe, du vielleicht?« »Ich habe eigentlich nie darüber nachgedacht. Aber ich danke dir dafür, daß du mir alles erklärt hast. Du bist ja sehr geduldig mit mir gewesen.«
»Es muß furchtbar sein, wenn man soviel vergessen hat. Sie haben mir erzählt, daß du unglücklich gestürzt bist und dich nur noch an wenig erinnern kannst. Ich soll dein Gedächtnis wieder trainieren. Frag daher, soviel du willst.« Jason versuchte in Gedanken eine möglichst unschuldig klingende Frage nach den Goldenen Würmern zu formulieren, als das Licht immer mehr abnahm. Es passierte so plötzlich, daß er sich verwirrt aufrichtete und ängstlich zu Ludo hinüberschaute. »Granit-Verdunkelung«, erklärte sie ruhig. »Deine Augen werden sich bald daran gewöhnen. Es bleibt genügend Licht übrig, daß du im Notfall deinen Weg findest, aber du wirst es nur selten brauchen. Schau jetzt wieder nach oben!« Als Jason ihrer Aufforderung folgte, sah er, daß dort winzige Lichttupfer waren, die hell funkelten. Der Himmel war übersät mit länglichen, strichartigen Sternen. »Das sind Ritzen im Verdunkelungsschirm«, erklärte Ludo. »Ursprünglich waren sie ein Kunstfehler, aber es hat sich als nützlich ewiesen, daß man sie dort gelassen hat. Wir nennen es >Schlitzlicht<. Das ist dann sehr romantisch, wenn die Verstoßenen so daliegen und von der Zeit träumen, in der sie zum Rest zugelassen werden und eine Kopie von ihnen hergestellt wird, in die sie sich verheben können, weil es ein Wesen ihrer eigenen Art ist. Einige von uns werden in dieser Stunde aber auch traurig. Ich habe mich an das Ausgestoßensein gewöhnt. Auf jeden Fall habe ich so ein Gefühl, daß es bald klappen wird.« »Dessen bin ich völlig sicher. Aber vielleicht sollten wir jetzt versuchen zu schlafen«, sagte Jason bestimmt. »Ja, du mußt furchtbar müde sein. Ich werde dir meinen Traumstengel leihen. Hier, mach die Hand auf.« »Was ist denn das?« fragte Jason, als Ludo ihm ein schmales Röhrchen mit einer silbernen Quaste überreichte. »Ich werd's dir zeigen.« Sie stand auf und beugte sich über ihn. »Gib's mir zurück, und ich werde es für dich richten.« Ludo führte das Röhrchen vorsichtig in sein rechtes Ohr ein, die Quaste breitete sie auf der Oberfläche des weichen Bettes aus. »Wenn du jetzt einschläfst, wirst du einen wunderbaren Traum haben. Es ist eine neue Erfindung des Kochs. Ich habe den Traumstengel erst seit einer Woche. Ich hatte vorher nicht geahnt, was ich dabei verpaßte. Es ist, als ob du in eine andere Welt kommst.«
»Das ist dann allerdings etwas ganz Neues«, sagte Jason, indem er auf das herrlich weiche Bett zurücksank, aber natürlich hatte Ludo den Sarkasmus seiner Bemerkung nicht verstanden. Sie grinste zufrieden und streichelte sein Gesicht. Ihr kurzer, dichter Pelz fühlte sich angenehm für ihn an, was er ja auch gar nicht anders erwartet hatte. Voller Erstaunen fühlte er dessen Wärme. »Du fühlst dich heiß an, bist du wohlauf?« fragte Jason schläfrig. »Ja. Ich habe mir gerade überlegt, wie kühl deine Haut sich anfühlt. Ich glaube, das ist so, weil du kein Fell hast. Es macht mir natürlich nichts aus, daß du unbehaart bist«, fügte sie schnell hinzu. »Ich muß zugeben, ich weiß zwar nicht so recht, was sich der Bildhauer dabei gedacht hat, als er dich entwarf, aber es macht mir nichts aus, und schon gar nicht stößt es mich ab. Wirklich, nichts dergleichen!« Ludo beugte sich wieder über Jason, ihr Gesicht war dem seinen sehr nahe. Sie atmete tief ein. Dann öffnete er die Augen, und sie blickten sich an. »Tut mir leid, ich hätte dir nicht soviel von deinem Geruch wegatmen sollen, aber du riechst so golden.« »Gute Nacht, Ludo, und vielen Dank für alles.« »Gute Nacht, Jason. Träume schön.« Und er träumte wirklich...
6. Der Traumstengel Jasons Traum begann zu dem Zeitpunkt, als er einschlief. Er fühlte, wie er immer leichter wurde und über dem großen, kreisförmigen Bett zu schweben begann. Er blickte hinunter und sah Ludo ausgestreckt auf dem Bett unter sich liegen. Sein Körper stieg immer höher, wie ein Vogel erhob er sich in die Lüfte, flog über die Turmmauern hinaus. Die Flaggen auf den Häusern blieben unter ihm zurück, entzogen sich allmählich seinem Blick, und er schwebte den länglichen Sterngebilden entgegen. Wie durch einen Zauber passierte er den Verdunkelungsschirm und tauchte in das gleißende Lichtermeer, das Millionen winziger Granits verursachten. Er wurde durch den Glanz geblendet und mußte sein Gesicht mit den Händen schützen. Jason schwebte immer noch weiter und konnte bald den Flügelschlag von Unmengen kleiner Granits um ihn herum auf der Haut spüren. Er stieg durch die unübersehbare Menge von leuchtenden
Winzlingen bis zur Felsdecke empor, die die neue Welt, in der er sich befand, von seiner alten trennte. Beim Aufprall erhielt Jason einen leichten Stoß und öffnete die Augen. Er wurde immer wieder sanft gegen die felsige Decke gedrückt und kam sich wie ein gefangener Luftballon vor. Er streckte den Arm aus und berührte das Gestein mit den Fingern. Es fühlte sich warm und glatt an und setzte sich aus vielerlei Farbschichten zusammen. Wenn er dagegen stieß, konnte er auf der Seite schweben. Es war beinahe wie Schwimmen, und bald bewegte er sich sehr schnell entlang der Oberfläche. Plötzlich wurde er von einer Windbö ergriffen, die ihn überrascht hatte, und er begann sich um seine eigene Achse zu drehen. Der Wind wurde stärker und wirbelte ihn immer schneller im Kreis herum. Jason fühlte, wie er von einem heftigen Windstoß emporgerissen wurde. Die Decke begann sich nach oben zu wölben. Er hatte aufgehört, sich zu drehen, und sauste nun senkrecht nach oben durch eine riesige Felsröhre, deren Wände mit weißen und grünen Kristallen bedeckt waren, die funkelten und glitzerten, als er vorbeischoß. Schließlich verengte sich die Röhre, so daß er nur noch durch einen schmalen Tunnel flog. Die Oberfläche des Gesteins veränderte sich, wurde dunkler, mit feuerrotem und orangefarbenen Streifen. Es war stockdunkel, und er spürte nur feinen Sand über seinen Körper rieseln. Mit einem lauten Zischgeräusch tauchte er wieder ins Licht und landete auf einem gewellten, gelb-braunen Boden. Er wischte den Staub ab und sah sich dann in seiner Umgebung um. Er war in einer schönen Höhle gelandet, von deren Decke lange gewundene Säulen in Blau und Purpurrot hingen. Jason ging zwischen ihnen hindurch und kam zum Ufer eines unterirdischen Flusses. Auf der anderen Seite führten Stufen und ein schmaler Weg zum Ende des gewundenen Tunnels und da zu einer Lichtscheibe, die größer und heller wurde, als er auch schon heraustrat. Zu seinem Erstaunen war er auf einen winzigen Felsvorsprung hoch über einem Bergabhang hinausgetreten. Schneebedeckte Bergspitzen und hohe Tannen umgaben Jason. In der Ferne konnte er das Geläute von Kuhglocken hören. Er kletterte den Abhang hinab, bis er zu einem holprigen Weg kam, der kaum mehr als ein Pfad für Esel war. Nach ein paar hundert Schritten darauf kam er zu einer scharfen Kurve. An dieser Stelle befand sich eine niedrige Hütte, aus deren steinernem Kamin Rauch kam. Vor der Tür saß eine zerbrechliche alte Frau mit langem, schwarzem Haar. Ihre Haut war faltig und verschrumpelt, aber sie hielt sich würdevoll aufrecht, als ob sie sich noch sehr wohl an die Tage erinnern könnte, da sie
noch schön gewesen war und die Herzen der jungen Männer im Dorf gebrochen hatte. »Du bist von weither gekommen«, sagte die alte Frau, ohne aufzusehen. Ihre Hände waren damit beschäftigt, zähe grüne Blätter auseinanderzupflücken und sie in einen großen, irdenen Topf zu ihren Füßen zu werfen. »Ja, es war eine ermüdende Reise«, erwiderte Jason, »und hier ist es so friedlich. Ich würde gerne ein bißchen ausruhen, wenn ich darf.« »Setz dich«, sagte die alte Frau, »und sammle deine Kräfte. In dem Krug dort drüben ist klares Quellwasser. Trink und du wirst dich gleich frischer fühlen.« Jason nahm den Krug und trank. Sie hockten beide auf dem Boden und lehnten sich gegen die Hausmauer. »Wenn ich hier wohnen könnte, würde ich nie mehr fortwollen. Es ist so schön. Ich fühle mich bereits so, als ob ich hier den Rest meines Lebens verbringen wollte.« »Trink noch ein bißchen Quellwasser, und dann erzähle ich dir eine Geschichte. Kennst du die Erzählung von der Prinzessin auf dem Seeadler?« Jason schüttelte den Kopf und nahm noch einen Schluck aus dem schwarzen Krug. Die alte Frau hörte auf zu arbeiten und blickte in die Ferne. Dann begann sie ihre Geschichte: »Von allen Adlern ist der Seeadler der schönste. Sein Gefieder ist von einem prächtigen Kastanienbraun, aber sein Kopf und Hals sind blütenweiß. Der Seeadler ist ein mächtiges, wildes Geschöpf, das von allen gefürchtet wird, aber im Grunde ist er sehr betrübt. Immer wenn die Trauer seiner Seele seine Kräfte übersteigt, wirft er den Kopf zurück und läßt einen klagenden Schrei ertönen, der einem durch Mark und Bein geht, ein Schrei, der die verzweifelte Frage einer einsamen Kreatur darstellt. Keines der anderen Tiere kann sie beantworten, weil sie den Inhalt der Frage nicht verstehen. Auch starke und kluge Menschen können die Tiefe der Frage nicht ausloten. Nur ein schönes Mädchen auf der Suche nach Liebe kann sagen, was der große Vogel meint, und wenn sie die Frage hört, lächelt sie still vor sich hin und antwortet mit sanfter Stimme. Aber der stolze Adler kann ihre Worte nicht verstehen und muß deswegen seinen Kopf immer wieder zurückwerfen und seine leidenschaftliche Botschaft hinausschreien. Das war für den Seeadler ein trauriges Los, bis eines Tages eine schöne Prinzessin am Ufer des Flusses, seines Reiches, entlangging. Sie war von
weither gekommen, um nach Wasser für ihr Volk zu suchen, das kurz davor stand, an den Folgen einer entsetzlichen Dürre zu sterben. Als deren Prinzessin schlug ihr Herz ihrem Volk in Liebe entgegen, und sie betete, daß sich im Reich des großen Adlers auch brauchbares Wasser fände, durch das ihr Volk gerettet würde. Ihr Gesicht, das in Liebe erstrahlte, die sie im Herzen trug, konnte jede Frage beantworten, ohne Worte zu Hilfe nehmen zu müssen. Der einsame Vogel mit dem weißen Halsgefieder sah die Prinzessin, warf den Kopf zurück und schrie seine ewige Frage heraus. Ihre Blicke trafen sich, und obwohl sie kein Wort sagte, bekam der mächtige Vogel endlich seine Antwort. Mit ausgebreiteten Schwingen kreiste er über ihr, erfaßte sie ganz sanft mit seinen kräftigen Krallen und flog mit ihr langsam himmelwärts. Er hielt nicht an, bis sie zu einem sehr grünen Berg gelangten. Dort ließen sie sich Seite an Seite nieder. Bald waren sie auch imstande, die Sprache des anderen zu verstehen und konnten glücklich miteinander reden. Schließlich sah der Seeadler die Prinzessin mit festem Blick an und sagte: >Sag mir, welche Tat ich vollbringen muß, um mich vor dir zu bewähren?« Die Prinzessin überlegte lange, damit ihr eine Tat einfiele, die bedeutend genug sei. Die Liebe für ihr Volk loderte immer noch in ihrem Innern, und wenn der Seeadler nicht durch eine wirklich große Tat eben dieses Feuer löschen würde, mußte sie allein wieder den Berg hinunterklettern und zum ausgetrockneten Tal zurückkehren, um mit ihren Untertanen eines ehrenvollen Todes zu sterben. Nachdem viele Stunden verstrichen waren, antwortete sie: >Du bist ein gebieterischer Seeadler, aber die Dürre hat das Wasser deines Flusses verdorben und brackig werden lassen, so daß du weite Strecken fliegen mußt, bis du das Meer erreichst, wo du die Fische findest, die du fressen kannst. Um dich vor mir zu bewähren, mußt du mir den größten Wal bringen, den du findest, und ihn zu mir zurückbringen. Nur dann werde ich bei dir bleiben und das Leiden meines Volkes vergessen können.« Der Seeadler flog schweren Herzens davon, denn er wußte, daß er trotz seiner scharfen Krallen nicht fähig sein würde, einen Wal zu halten. Aber er konnte ihr auch nicht die Wahrheit sagen, denn er liebte sie mit jeder Faser seines Daseins. Nachdem er viele entsetzliche Abenteuer bestanden hatte, flog der große Vogel zum Berg zurück, aber er hatte nur einen kleinen Fisch in den Krallen. Ein paarmal wäre er beinahe ertrunken, er war von riesigen
Wellen überspült worden, als er sich verzweifelt in den Rücken der gewaltigen Wale festgekrallt hatte, aber die Tiere waren immer entkommen, und der kleine Fisch war alles, was er hatte fangen können. Er hatte seine Aufgabe nicht erfüllt und mußte es nun der Prinzessin gestehen. So würde er ihre Liebe für immer verlieren. Als er heranflog, lag sie ausgestreckt in der Sonne und schlief auf dem höchsten Punkt des Berges. Er ließ sich in ihrer Nähe herab, konnte es jedoch kaum glauben, daß sie noch schöner geworden war. Bei diesem Anblick stieg seine Liebe wieder in ihm empor, und es war ihm, als ob er zerbersten würde. Er warf den Kopf zurück, um seine klagende Frage ein letztes Mal zu wiederholen, aber dann richtete er doch nur seinen starren Blick gen Himmel und blieb still. Kein Ton drang aus seinem aufgesperrten Schnabel, weil ihn in dem Augenblick plötzlich ein seltsames Gefühl überkam. Er sah hinab und gab einen erstaunten Laut von sich, denn zwischen seinen Krallen wuchs der kleine Fisch wie durch ein Wunder zu einem großen, glänzenden Wal heran. Er wuchs und entwand sich dem Griff des Seeadlers. Zuletzt war er größer als alle Wale, die er im Meer gesehen hatte. In diesem Augenblick erwachte die Prinzessin und lächelte ihn an. >Ach, du bist zurückgekommen und hast mir meinen wunderschönen Wal mitgebracht.« Der Seeadler begann stammelnd die Wahrheit zu berichten, aber die Prinzessin berührte besänftigend seinen Schnabel mit der einen Hand, und mit der anderen liebkoste sie den Wal. Sie war erstaunt, als sie entdeckte, daß sich auf seinem Kopf ein Loch befand. Ein Fisch hat dort doch gewöhnlich kein Loch, dachte sie, vielleicht war der Wal schon von einem Jäger getötet worden, bevor ihn mein Seeadler gefunden hat. Als er den Zweifel im Herzen der Prinzessin erriet, sagte der Seeadler: >Kein Jäger hat dieses Loch gemacht, es ist ein Merkmal des Wals, durch das er einen hohen Wasserstrahl auszustoßen pflegt.« Bei diesen Worten schoß das Wasser wie eine Fontäne in die Luft und durchnäßte den Seeadler und die Prinzessin, die sich zärtlich umarmten. Die Fontäne entwickelte sich zu einer Wasserflut, und sie fühlten, wie sie durch den reißenden Schwall vom Berg ins Tal hinabgerissen wurden. Die Leute im Tal sahen sie kommen und riefen ihnen zu und winkten. Die Flut trug sie weit ins Tal hinein, bis sie von einem kräftigen Baum aufgehalten wurden. Das Wasser versickerte in der Erde, und das Tal wurde bald wieder fruchtbar. Als die Leute sahen, wie es auf ihren Feldern wieder wuchs und
gedieh, dankten sie der Prinzessin. >Wir wissen zwar, daß wir nun dein Herz verloren haben, aber du hast uns vor dem schleichenden Tod in einem dürren, ausgetrockneten Land errettet, und deswegen verzeihen wir dir.« Daraufhin erklärten sie den Seeadler zu einem großen Herrscher und trugen ihn und die Prinzessin zum höchsten Punkt ihres herrschaftlichen Besitzes, wo sie glücklich zusammen weiterlebten und die kalte, dünne Bergluft genossen.« Die alte Frau seufzte tief und wurde plötzlich ganz still. »Das war eine wunderschöne Geschichte«, sagte Jason leise. »Ja«, antwortete die alte Frau traurig. »Eine wunderschöne Geschichte.« »Warum macht sie Sie dann so traurig? Sie ist doch gut ausgegangen.« Die alte Frau schwieg. »Das war doch wirklich das Ende der Geschichte, oder?« Die alte Frau sagte immer noch nichts, vielmehr blickte sie verloren auf die Berggipfel in der Ferne. Nach einer Weile stand sie langsam auf und begab sich auf die andere Seite des Wegs. Dort lehnte sie sich an eine der hohen Tannen. Jason wartete, aber nichts geschah. So stand er auf und ging zu ihr hinüber, um zu sehen, ob ihr übel geworden wäre. Sie sah so zerbrechlich und traurig aus, wie sie an dem großen Baum lehnte. Als er um die schlanke Gestalt herumgegangen war und vor ihr stand, sah er, daß sie leise vor sich hin weinte. Tränenbäche strömten über ihre Wangen und benetzten ihren Schal. Kein Laut kam über ihre Lippen. Ihre Augen waren weit geöffnet, aber Jason hatte das Gefühl, daß sie nur starrte, ohne etwas wahrzunehmen. »Kann ich Ihnen helfen? Kann ich irgend etwas für Sie tun? Bitte lassen Sie mich helfen.« »Ach nein. Es ist nichts. Ich bin eben dumm. Eine alte, dumme Frau. Du solltest es gar nicht beachten.« »Aber ich kann Sie hier doch nicht in diesem Zustand zurücklassen!« »Ich dachte, du wolltest bis ans Ende deiner Tage hierbleiben«, sagte die Frau und lächelte dabei unter Tränen. »Das würde ich auch gerne tun, aber eigentlich muß ich einen ganz wichtigen Auftrag für einen Freund erledigen und bald zurückkehren, denn er sitzt ganz schön in der Patsche. Ich möchte wirklich gerne hierbleiben, aber ich kann nicht, wenigstens jetzt nicht. Vielleicht werde ich eines Tages zurückkommen und bei Ihnen bleiben.«
»Die Leute kehren nie zurück«, sagte die alte Frau traurig. »Immer kommt etwas dazwischen. Die Leute kehren jedenfalls nie zurück oder wenigstens nie als sie selbst.« »Aber ich verspreche Ihnen, daß ich zurückkehre, und dann bin ich noch immer ich selbst. Ich werde mich nicht verändert haben.« »Natürlich wirst du dann ein anderer sein! Und mach keine leeren Versprechungen, hörst du«, fuhr ihn die alte Frau an und drehte sich ruckartig um. »Versprechen werden gebrochen und damit das Herz. Es ist falsch, Versprechen zu geben, gefährlich und falsch.« Sie senkte traurig den Kopf und starrte auf den Boden. »Bevor ich weggehe«, sagte Jason entschlossen, »würde ich mir aber noch gern das Ende der Geschichte anhören. Was geschah mit dem Seeadler und der Prinzessin? Lebten sie glücklich miteinander bis ans Ende ihrer Tage? Warum hat die Geschichte Sie so traurig gemacht?« »Du bist noch so jung. Gib dich mit der Geschichte zufrieden, wie ich sie dir erzählt habe. Es ist eine schöne Geschichte.« »Aber wie sollte ich mich damit abfinden, ohne das Ende gehört zu haben?« Jason fing an zu betteln. »Bitte erzählen Sie's mir, oder ich muß das Schlimmste annehmen.« »Gut, aber es gibt nicht mehr viel darüber zu erzählen. Sie verlebten eine sehr lange, glückliche Zeit miteinander, aber die Leidenschaft, die der Seeadler gegenüber der Prinzessin empfand, war so mächtig und seine Krallen so scharf, daß er sie eines Tages aus Versehen verletzte. Sie liebte ihn auch weiterhin, aber begann sich unwillkürlich vor seiner unberechenbaren Kraft zu fürchten. Im Laufe der Zeit verletzte er sie immer häufiger. Die Liebe des Seeadlers war für die Prinzessin so schmerzhaft, daß sie sich immer mehr von ihm zurückzog, bis sie eines Morgens vom Berggipfel floh und sich in einer Höhle versteckte. Wegen seiner mächtigen Schwingen konnte er ihr dorthin nicht folgen. Er blieb deshalb am Eingang stehen und rief in klagendem Ton nach ihr. Sie hielt sich die Ohren zu und weinte, bis sie schließlich so erschöpft war, daß sie im Innern der Höhle einschlief. Am nächsten Tag kroch sie heraus und suchte überall nach dem Riesenvogel, konnte ihn aber nicht finden. Sie baute sich eine kleine Hütte am Berghang, wo sie ein stilles, zurückgezogenes Leben verbrachte. Sie hatte sowohl ihr Volk als auch ihren Prinzen verloren und blieb von nun an allein. Gelegentlich warf sie sehnsuchtsvolle Blicke nach den Gipfeln,
denn halb hoffte und halb fürchtete sie, daß der Seeadler eines Tages zu ihr zurückkehren werde.« Es entstand eine lange Pause. Das Schweigen wurde nur durch die Atemzüge der alten Frau und das schwache Läuten der Kuhglocken in der Ferne unterbrochen. Dann fuhr sie seufzend fort: »Aber der Seeadler wurde nie mehr gesehen. - Das ist das Ende der Geschichte. Du hättest mich eben nicht danach fragen sollen. Nun geh aber, ich will dich nicht mehr sehen! Ich habe dir schon viel zuviel erzählt. Laß mich jetzt allein.« Nachdem sie dies gesagt hatte, ging sie schweren Schrittes zu ihrer Holzhütte zurück und zog die Tür hinter sich zu. Jason klopfte und rief noch ein paarmal nach ihr, aber er bekam keine Antwort, und die Tür blieb fest verriegelt. Er machte sich Sorgen um die alte Frau, wegen ihrer Traurigkeit. Also versuchte er, um das Haus herumzuklettern und durchs Fenster zu schauen. Als er an einer der Wände aus rohem Fichtenholz hing, schauderte ihn, als er hinunterblickte. Die Hütte schmiegte sich an einen Felsvorsprung über einem steilen Abhang. Zwischen der Stelle, wo er stand, bis zum Steilhang lagen nur wenige Zentimeter. Vorsichtig bewegte er sich voran, Schritt für Schritt, bis sich plötzlich ein Stein unter seinem Gewicht löste. Als er das Gleichgewicht verlor, sah er, wie die Frau,, die ans Fenster getreten war, zu ihm herabschaute. Das weiße, faltige Gesicht blieb regungslos. Sie starrte ihm nur nach, als er den Halt verlor und in die Tiefe stürzte. »Helfen sie mir!« schrie er verzweifelt. »Ach, so helfen Sie mir doch!« Aber das maskenhafte Gesicht verzog keine Miene. Das Fenster blieb geschlossen. Jason kippte nach hinten und sauste in den Abgrund. Er versuchte nach den Bäumen und Felsen zu greifen, an denen er vorbeifiel. Aber es war vergeblich, und er gab es schließlich auf. Er schloß die Augen und ließ sich durch die schneidende, sausende Luft fallen. Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt. Durch die geschlossenen Augenlider konnte er blitzende Lichter erkennen. Plötzlich war es stockfinster, und er hörte ein leises Summen. Er fiel nun weicher. Dann wagte er es wieder, die Augen zu öffnen, und sah über sich die länglichen, schlitzartigen Sterne des Granitschirms. Er sank nun langsamer und landete sanft auf einer weichen Oberfläche. Jason setzte sich auf und sah sich um. Neben ihm schlief Ludo, alle viere von sich gestreckt. Ihre kurzen, gebogenen Hörner preßte sie leicht gegen Jasons linkes Bein. Als er es wegzog, wachte sie auf und murmelte verschlafen:
»Was ist denn los?« »Ich hatte den seltsamsten Traum, den ich jemals in meinem Leben...« »Das habe ich dir doch gleich gesagt!« unterbrach sie ihn und drehte sich auf die andere Seite. Einen Augenblick später war sie wieder fest eingeschlafen, und auch Jason legte sich wieder hin, starrte die Sterne an und dachte über seinen Traum nach. Aber er begann bereits zu verblassen. Nur noch das ausdruckslose, starrende Gesicht der alten Frau, die auf ihn herabsah, war ihm im Gedächtnis geblieben. Er wollte den Gedanken von sich abschütteln, stützte sich auf, zog den Traumstengel aus dem Ohr und legte sich dann wieder hin, in der Hoffnung auf eine ungestörte Nachtruhe.
7. Der Flaggenappell Als Jason die Augen wieder öffnete, war Ludo verschwunden. Er mußte ziemlich lange geschlafen haben, denn die hellen Granits leuchteten schon wieder. Er stand auf und versuchte zum Rand der Schlafhöhle zu gehen, aber das Bettpolster war zu weich, und er fiel hin. Den restlichen Weg legte er kriechend zurück. Dann schlüpfte er durch einen Vorhang hindurch und kletterte die Treppe zum Dach der Zelle empor. Dort fand er Ludo, die in einem großen Ei aus Kristall lag. Sie hatte die Augen geschlossen. Über ihr waren unzählige dünne Röhrchen, die von der Oberseite des Eies herabhingen. Sie sahen wie weiche, weiße Wurzeln aus, die sich offensichtlich an Ludos ausgestrecktem Körper festgesaugt hatten. Ein paarmal zuckten und flatterten ihre Hände, ehe sie sich dann aber gleich wieder entspannten; ansonsten bewegte sie sich kaum, außer daß beim Atmen sich ihre behaarte Brust hob und senkte. Jason tappte an die durchsichtige Schale. Ludo öffnete die Augen, lächelte ihn an und räkelte sich. Die plötzliche Bewegung brachte es mit sich, daß plötzlich alle Röhrchen in kleine, rundliche Klümpchen zurückschrumpften, die schlaff von der Oberseite des Eies herabhingen. Als Ludo die Eierschale berührte, öffnete sich diese, und sie trat heraus. »Du warst sehr müde, und ich wollte dich deswegen nicht aufwecken. Aber nun hast du bestimmt Hunger. Das ist zwar mein persönliches Geschmacksei, aber du kannst es auch benutzen, solange du hier bist.«
Ludo half Jason in die Kapsel hinein und wies ihn an, sehr still zu liegen. Bevor sie die Schale wieder schloß, erklärte sie ihm: »Du mußt überhaupt nichts tun und dich vor nichts fürchten. Die Röhren werden sich von selber an dir festsaugen, und zwar auf eine so sanfte Weise, daß du nichts davon spürst. Sie werden die Verbindung mit deinen Blutgefäßen herstellen und dir ein köstliches Mahl hineinpumpen. Die Röhren, die sich an deinem Mund und deiner Nase festsaugen, übermitteln dir Geschmack und Gerüche. Wenn du tief durchatmest, kannst du es besser genießen. Wir haben wirklich einen sehr guten Koch im Dorf. Er überwacht das Hauptei in dem großen Turm, den du gestern gesehen hast. Nun schließe ich das Ei und lasse dich deine Mahlzeit genießen.« Ludo wartete noch einen Augenblick, als sich auch schon die Klümpchen wieder zu dehnen begannen und an Jasons Haut festsaugten. Dann wandte sie sich langsam ab und begann die gekachelte Treppe hinabzusteigen. Beim Hinuntergehen hatte sie einen besorgten Gesichtsausdruck, weil sie Jason etwas Schwieriges fragen mußte, das nun aufgeschoben werden mußte. Sie legte sich in eine der kleinen Vertiefungen in der Zellenwand und dachte nach. Würde er ihr helfen? Konnte sie ihm vertrauen? »Das war ja ganz toll!« sagte Jason. Er stand vor ihr und lächelte mit dem Ausdruck höchster Zufriedenheit zu ihr herab. »Noch nie im Leben habe ich so gut gegessen. Ich weiß nicht, wie ich dir jemals deine Fürsorge vergelten soll!« Eigentlich war es noch zu früh, um ihn zu fragen, aber er war in einer so guten Laune, daß sie es vielleicht trotzdem wagen sollte... »Wenn dir irgend etwas einfällt, was ich für dich tun könnte, dann sag mir's doch bitte«, sagte Jason. Es war eine gute Gelegenheit zu ... »Sag mal...«, fing sie an, »ich... äh... hast du auch das Ei wieder richtig zugemacht?« »Ja, ich glaube, es ist alles in Ordnung.« »Da ist noch etwas, aber ich weiß nicht, ob ich dich fragen sollte«, sagte sie mit einem Stirnrunzeln und sah dabei auf ihre behaarten Hände herab. »Versuch's ruhig.« »Nun, es ist folgendes: Das Dorf hat da ein Problem. Vielleicht gerätst du in Schwierigkeiten, wenn du hilfst, aber das Risiko ist wohl gering.« »Was muß ich denn tun?«
»Einer der Bewohner, ein verrückter, armer Typ mit dem Namen Großmaul - wir nennen ihn auch noch verrücktes Großmaul - ist verschwunden. Er hat versucht, nach oben durchzubrechen, aber ohne die Erlaubnis dazu. Wir sagten ihm, daß er verrückt sei, aber er hat nicht auf uns gehört. Wir haben ihn gewarnt und ihm gesagt, daß er es nicht schaffen würde, ohne von den geweihten Goldenen Würmern gekostet zu haben. Aber er wollte nicht auf uns hören. Er sagte, daß er nicht mehr daran glaubte, daß der Bildhauer ihn jemals vervollkommnen und ihn ins Testgebiet lassen würde. Er wollte einfach nicht mehr warten. Er war so ungeduldig. Unser Leben hier ist gar nicht so übel, aber Großmaul langweilte sich zu Tode. Er wurde so unruhig, besonders als der Silbersumpf ausgetrocknet war und er damit sein Jagdrevier verloren hatte. Er jagte für sein Leben gern. Nun hat der Koch schon Verdacht geschöpft. Wir gehen zwar von Zeit zu Zeit zu Großmauls Geschmacksei, um es zu benutzen und um sein Verschwinden zu vertuschen, aber man hat es, glaube ich, doch entdeckt. Jetzt können jeden Augenblick die Polizisti alarmiert werden und einen Flaggenappell abhalten. Dann müssen wir die Karten auf den Tisch legen und werden alle bestraft. Das Gesetz verlangt, daß das ganze Dorf für schuldig befunden werden wird.« »Was ist denn ein Flaggenappell?« »Ein Appell, den sie dann veranstalten, wenn sie herausfinden wollen, ob alle Dorfbewohner anwesend sind. Jeder von uns muß bei einem ganz bestimmten Signal, einem Glockenzeichen, auf das Dach seiner Zelle gehen. Bei einem anderen Signal, einem Trommelwirbel, muß jeder seine persönliche Flagge einziehen. Dann prüfen sie nach, ob noch irgendwo eine Flagge gehißt ist, überprüfen, ob die Besitzer mit den Personen in ihren Reiselisten identisch sind. So können sie herausbekommen, ob jemand unerlaubterweise fehlt. Wenn jemand ohne Erlaubnis weg ist, warten sie drei Granit-Verdunkelungen ab und schlagen dann zu. Vollkommen wahllos greifen sie sich zehn Bewohner heraus und schlagen sie kurz und klein. Ich habe das einmal mitansehen müssen. Es war ganz entsetzlich, und ich werde es nie mehr vergessen können.« Ludo schwieg. »Ich glaube, ich weiß, was du von mir willst«, erriet Jason. Ludo drehte sich ihm zu, aber sagte nichts. »Du willst, daß ich mich zu Klonks... ich meine natürlich, Großmauls Zelle begebe und seine Flagge einziehe, wenn das Signal ertönt.« »Es würde das ganze Dorf retten.«
»Dann werde ich es natürlich tun. Wenn du mir den Weg zeigst, werde ich so lange in seiner Zelle bleiben, bis die Luft wieder rein ist.« »Ich danke dir«, sagte Ludo. »Die Dorfbewohner werden sich an dich und deine Tat noch lange erinnern. Komm jetzt.« »Was passiert, wenn sie mich festnehmen?« fragte Jason, als sie zur verlassenen Zelle Großmauls gingen. »Ich weiß nicht. Wahrscheinlich werden sie etwas mit deinem Körper machen, aber es ist besser, nicht daran zu denken.« Als sie zu der leeren Zelle kamen, ertönte eine Glocke, die im ganzen Dorf zu hören war. »Das Signal für den Flaggenappell«, sagte Ludo. »Mach schnell. Geh zum Flaggenmast hinauf. Bleib dort stehen und nimm den Hebel in die Hand. Bei jedem Trommelschlag drehst du ihn einmal ganz durch. Wenn das Trommeln aufhört, tust du überhaupt nichts. Verstehst du, nichts? Beweg dich nicht. Bleib vollkommen ruhig stehen. Wenn dann die Glocke wieder anfängt zu läuten, kannst du den Griff in der entgegengesetzten Richtung drehen und die Flagge wieder nach oben ziehen. Wenn du das getan hast, springst du in Großmauls Schlafhöhle. Dort bleibst du liegen, bis ich komme, um nach dir zu sehen. Viel Glück... und nochmals vielen Dank.« Ludo kehrte schleunigst zu ihrer eigenen Zelle zurück, als sie dies alles erklärt hatte. Gerade als Jason zu Großmauls Flaggenmast hinaufgeklettert war, hörte die Glocke auf zu läuten. Er hatte gerade noch Zeit, das Zeichen auf der Flagge wahrzunehmen, einen Fächer mit scharfen Stacheln, die wie diejenigen auf Klonks Rücken aussahen, als auch schon in der Ferne die Trommel in rhythmischen Abständen geschlagen wurde. Er nahm den silberfarbenen Griff am Fuße des Masts in die Hand und setzte ihn in Bewegung. Anstatt zu fallen, schoß die Flagge nach oben zur Spitze des Masts und blieb dort hängen. »Ich habe ihn in die falsche Richtung gedreht«, keuchte er. Er versuchte verzweifelt, den Fehler wiedergutzumachen, aber die Flagge verhedderte sich am Haken auf der Spitze des Masts und bewegte sich nicht mehr. Es blieb nur eine Möglichkeit. Jason griff nach der Fahnenstange und begann hinaufzuklettern. Auf ihrem nahe gelegenen Turm jammerte Ludo vor Angst, als sie Jason sah, der sich an Großmauls Fahnenmast emporhangelte. Sie zupfte nervös an ihrem Pelz herum und stampfte vor Wut auf. Jason rutschte zurück und hätte beinahe den Halt verloren, aber fing sich dann doch wieder und kämpfte weiter, bis er schließlich die
Spitze erreichte. Obwohl der Mast bedenklich schwankte, zog er so lange an der Flagge, bis sie wieder frei war. Dann rutschte Jason hinunter. Er verrenkte sich dabei ziemlich unglücklich, so daß die Beine durch die Luft flogen. Seinen Händen entglitt die Stange, und er fiel vornüber in Großmauls Schlafhöhle. Nach einer weichen Landung auf dem Bettpolster krabbelte Jason zum Vorhang an der Seite hinüber und raste die gewundene Treppe in der Rundmauer wieder hinauf. Oben angekommen, sah er, daß die Flaggen der anderen Dorfbewohner zu zwei Dritteln eingezogen waren. Wenn nur ein paar Dorfbewohner offiziell unterwegs gewesen wären, hätte er seinen Fehler verbergen können, aber das ganze Dorf schien zu Hause zu sein. Nur die Flagge mit Großmauls Zeichen war an der Spitze des Masts geblieben. Jason keuchte nach Luft und drehte dann den Griff so schnell er konnte, dieses Mal nach der richtigen Seite. In Windeseile hatte er die anderen eingeholt. Und von da an zog er die Flagge mit ihnen zusammen ein -eine Umdrehung bei jedem Trommelschlag, bis die Trommeln aufhörten zu schlagen. Immer noch schwer atmend, kauerte sich Jason an der Brüstung zusammen und wartete. Nach einer schier unendlich langen Pause begann die Glocke wieder zu läuten, und er zog die Flagge wieder hoch, wie es ihm Ludo gesagt hatte. Mit einem Seufzer der Erleichterung sprang er in die Schlafhöhle und streckte sich wohlig auf dem warmen, weichen Polster aus. Einen Augenblick später hörte er trippelnde Füße und sah Ludo, die ihm entgegenkletterte. »Was ist passiert? Was ist denn schiefgegangen?« »Ich habe den Hebel in die falsche Richtung gedreht. Die Flagge hatte sich festgeklemmt. Glaubst du, sie haben etwas gemerkt?« »Wir können es wirklich nicht genau abschätzen«, sagte Ludo, »wir können nur abwarten.« Sie legten sich hin und verhielten sich sehr ruhig. Sie horchten gespannt. Minuten vergingen, ohne daß etwas geschah. Dann hörten sie plötzlich schwere Schritte, die sich der Zelle näherten und vor der Tür anhielten. Dann hörten sie ein lautes Klopfen. »Großmaul, genannt verrücktes Großmaul«, näselte eine unangenehm scharfe, schnarrende Stimme. »Das ist ein Befehl der Polizisti: Komm sofort an deine Zellentür!«
Ludo kroch zur Tür hinüber und kniete sich auf der Innenseite nieder. Die Stimme wiederholte den Befehl. »Hier bin ich«, rief Ludo mit fremdartig verstellter Stimme. »Was wollt ihr? Was habe ich euch getan?« »Offne die Tür!« »Nein. Ich habe Angst, und wie soll ich wissen, ob ihr wirklich Polizisti seid. Es könnte ja auch eine Falle sein. Ich möchte Beweise haben.« »Hör mit diesem Quatsch auf! Wir können dir die Beweise erst liefern, wenn du uns die Tür geöffnet hast. Gehorche dem Befehl, es ist unser letztes Wort!« »Aber wenn ich die Tür erst einmal geöffnet habe, wird es zu spät sein, und ich kann wirklich nicht wissen, wer ihr seid.« Sie hörten ein Zischgeräusch, und dann trat für einen kurzen Augenblick Stille ein. »Du bist ein Idiot, Großmaul! Ein hoffnungsloser Depp! Der Koch ist unzufrieden mit dir. Nichts entgeht seiner Aufmerksamkeit. Er hat gesehen, daß du zu spät dran warst mit dem Einziehen deiner Flagge. Du hast den Flaggenappell verdorben. Paß auf, daß es nicht noch einmal passiert. Dies ist eine letzte Warnung. Du hast uns auch schon früher Schwierigkeiten bereitet. Dies war das letzte Mal! Du mußt einen Hausarrest in deiner Zelle von drei Tagen verbüßen. So, das wär's.« Ludo und Jason hörten ein Knirschen vor der Tür und dann wieder die gedämpften Schritte, die sich diesmal entfernten. Sie klangen immer schwächer. Ludo kletterte in die Schlafhöhle zurück und sah Jason mit einem dankbaren Blick an. »Nun sind wir sicher. Wir haben es abgewendet. Das ganze Dorf wird dir dankbar sein.« »Haben sie uns eingeschlossen?« »Ja, in jeder Zellenmauer befindet sich eine sandbetriebene Zeituhr. Sie haben sie so gestellt, daß der Sand innerhalb von drei Tagen durchlaufen wird. Dann öffnet sich die Tür von selbst. Wenn es dann keinen Ärger mehr gibt mit irgendwelchen Flaggenappellen und wenn niemand nach mir in meiner eigenen Zelle fragt, dann sollte eigentlich alles in Ordnung sein.« »Was sollen wir drei Tage lang hier drinnen machen?« fragte Jason. »Wir können uns ausruhen - schlafen, träumen, essen und uns gegenseitig das Fell säubern. Die Zeit wird schnell genug vergehen.«
Jason lächelte vor sich hin und räkelte sich. Es hätte schlimmer kommen können, dachte er, und vielleicht konnte er nun endlich mehr über die Goldenen Würmer erfahren. In dieser Nacht probierte er Großmauls Traumstengel aus, der ein äußerst lebhaftes Traumerlebnis bei ihm auslöste. Dieses Mal wurde er zu Beginn seines Traums in ein fremdes, heißes Land gebracht. Am Fuße eines hohen, stachligen Baumes wurde er abgesetzt. Eine hungrige Ziege war auf den Baum geklettert und kaute nun genüßlich an den zähen, grünen Blättern. Sie balancierte vorsichtig an den Zweigen entlang, die ziemlich hoch waren. Sie war zu Tode erschrocken, als sie ein paar Zentimeter vor sich das Gesicht einer Giraffe aus dem Laub auftauchen sah. Die Augen der Giraffe waren mit einem Schleier überzogen und weiß. Offensichtlich war sie blind. Ihre lange Zunge bewegte sich nach allen Seiten, und sie riß die Blätter gierig ab, sobald sie in Berührung mit einem Zweig kam. »Äähh!« meckerte die Ziege, als die große, klebrige Zunge an ihr linkes Ohr klatschte. »Wer bist denn du?« fragte die blinde Giraffe, die nun ihrerseits stutzig wurde. »Ich dachte, ich wäre allein.« »Ich bin eine Freundin von dir«, keuchte die Ziege, die mit einer verzweifelten Anstrengung ihr Gleichgewicht zu halten versuchte, während die Giraffe sich nun bemüßigt fühlte, an ihrem Kopf herumzuschnuppern und ihn abzulecken. »Sei bitte vorsichtig, denn ich bin nicht so stark wie du und könnte mein Gleichgewicht verlieren.« »Du bist aber ganz schön groß«, sagte die blinde Giraffe, »ich bin an die fünf Meter groß, und du dürftest ungefähr genauso groß sein.« »Das kommt darauf an, wie du es mißt«, antwortete die Ziege. »Jetzt im Moment stimmt es, aber es ist nicht immer so.« »Das macht nichts aus«, sagte die Giraffe traurig, »ich lebe für den Augenblick. Seit mich eine betrunkene Baumschlange mit Blindheit geschlagen hat - ich wollte sie mit meiner Zunge auf einen Baum heben, aber da wurde das dumme Tier von Panik erfaßt und hat mir Gift ins Gesicht gespuckt - seither denke ich nicht mehr an die Zukunft. Ich lebe nur noch im Augenblick. In diesem Moment habe ich dich hier entdeckt und bete dich schon an. Ich fühle, daß du ein wunderschönes Gesicht hast, und bin bereits in dich verliebt. Sag mir, daß du eine Beziehung mit mir haben willst, und ich werde zum erstenmal glücklich sein seit vielen Jahreszeiten. Du wirst ein bißchen Licht in mein tristes Dasein bringen,
und endlich werde ich wieder dieser grausamen Welt entgegentreten können, ohne den Todeswunsch in mir zu fühlen.« »Ich fühle mich sehr geschmeichelt... eh... gerührt. Tief gerührt«, antwortete die Ziege, »aber ich fürchte, daß ich nicht die richtige Partnerin für dich bin. Meine Beine sind viel zu kurz, ganz zu schweigen von meinem Hals.« »Was das Auge nicht wahrnimmt...«, murmelte die blinde Giraffe und fuhr zärtlich mit der Zunge der Ziege über die Schnauze, die davon rücklings vom Baum herunterfiel. »Wo bist du?« jammerte die blinde Giraffe und suchte verzweifelt zwischen den Ästen nach der Ziege. »Verlaß mich nicht. Die anderen Giraffen haben mich alle verlassen. Ich bin ganz allein in meiner Verzweiflung. Ich werde mir das Leben nehmen, wenn du weggehst. So komm doch bitte zurück.« Die Ziege versteckte sich hinter dem Baumstamm und wartete, während sie nach ihren Verletzungen sah. Das Gejammer der blinden Giraffe weckte einen älteren Leoparden auf, der aus einem Gebüsch in der Nähe hervorgekrochen kam. Als er die riesengroße Giraffe sah, die im Laub des hohen Baumes wie verrückt herumsuchte, stöhnte er vor Lust. Seit Jahren war er ohne blutrünstiges Reißen ausgekommen, denn er genoß seinen friedvollen Ruhestand und ernährte sich von Kaninchen, die er beim Schlafen überraschte, oder von dreibeinigen Feldhasen. Aber nun sah es so aus, als ob er es mit einer ernstzunehmenden Herausforderung zu tun hätte. Er blickte über die Schulter zurück, nur um zu sehen, ob dort vielleicht Löwen waren, die ihm zusahen. Er wollte nicht seine Mitgliedschaft im Jagdklub verlieren, aber diese Giraffe stellte wirklich eine zu große Verlockung für ihn dar. Im übrigen war sie für ihn total unverdaulich. Gerade in dem Augenblick sah er die Ziege, die wie gebannt die hektischen Bewegungen ihres blinden Verehrers verfolgte. Ziegen sind gewöhnlich sehr wachsam, aber diese hier war so beschäftigt mit dem Problem, was sie mit einer verliebten, blinden Giraffe anfangen sollte, daß sie überhaupt nicht bemerkt^, wie sich der betagte Leopard von hinten anschlich. Unter Aufbietung all seiner Kräfte sprang der alte Jäger auf die Ziege und erledigte sie mit einem einzigen Schlag. Dann packte er sie nach Leopardenart mit den Zähnen und sprang mit ihr auf den Baum. Er klemmte seine Beute in eine Astgabel und ließ sich nieder, um auszuruhen,
weil er sich ziemlich verausgabt hatte. Er atmete nun so schwer, daß die blinde Giraffe es für das lustvolle Stöhnen ihrer geliebten Ziege hielt. »Ach, Geliebte, du bist ja immer noch hier. Wie ich höre, stöhnst du vor Lust. Du bist genauso erregt wie ich«, rief der große blinde Langhals. »Sag mir, daß du die Meine werden willst, und ich werde deine Tage mit Glück erfüllen.« Von neuem ließ sie ihre unglaublich lange Zunge über das Gesicht der Ziege gleiten. »Mach, daß du wegkommst, du unverdaulicher Idiot«, brüllte der Leopard und fauchte dabei bösartig. Mit seiner Pranke hielt er die Beute fest. »O jemine!« schrie die Giraffe. »Ich habe einem ekelhaften Leoparden eine Liebeserklärung gemacht!« Erschreckt floh sie von dannen und trampelte Büsche und Bäume auf ihrem Weg nieder. Der Lärm, der durch das appetitanregende Schmatzen des Leoparden verstärkt wurde, erweckte die Ziege wieder zum Leben, denn sie war glücklicherweise durch den Schlag des Leoparden nur betäubt gewesen. Das alte Raubtier wollte sich gerade an seiner Beute gütlich tun, als sich seine Blicke mit denen der Ziege kreuzten. Sie waren beide so überrascht, daß sie vom Baum herunterfielen. Die Ziege rannte davon, so schnell sie konnte, der Leopard war ihr dicht auf den Fersen. Nach kurzer Zeit hatte er sie jedoch eingeholt und wollte schon ein zweites Mal zuschlagen, als Jason aus dem Schlaf hochschreckte.
8. Lucios Angriff Jason lag ausgestreckt da und blickte zu den länglichen Sternen empor. Er war verwirrt, denn er hatte nie zuvor solche Träume gehabt. War es seine Schuld oder die des Traumstengels, der ihm diese seltsamen Dinge in den Kopf setzte? Erfand der Traumstengel Träume oder machte er sie nur intensiver? Er war sich nicht sicher, aber es ängstigte ihn. »Was ist denn bloß los mit dir?« fragte Ludo. »Du zittert ja am ganzen Leib!« »Ich hatte wieder einen bösen Traum«, murmelte Jason. »Aber es ist nichts. Tut mir leid.« »War er von der gleichen Art wie der zuvor?«
»Nicht direkt. Sie hatten einiges gemeinsam. Aber die Schauplätze waren ganz verschieden.« »Ja nun, du benutzt eben auch Großmauls Traumstengel, so daß zu befürchten ist, daß sich deine eigenen Träume in seinem Traumbereich abspielen. Ich wette, daß alles dschungelartig ist! Er mochte den Dschungel.« In der darauffolgenden Nacht war der Traum so real und intensiv wie zuvor. Und der Schauplatz war auch wirklich wieder der gleiche. Jason war wieder in Großmauls Traumbereich gelandet, im fremden heißen Land, unter den hohen, stachligen Bäumen. Er sah den alten Leoparden daherhumpeln. Die alte Wildkatze spuckte und hustete. Sie fegte fauchend und fluchend mit ihrem räudigen Schwanz über den heißen Boden. »Diese stinkenden Ziegen!« geiferte der Leopard. »Dick-schädlige Ziegen. Nur Haut und Knochen. Nicht kleinzukriegen. Auch gar nicht den Versuch wert. Schlechtes Kraftfutter - das ganze Geraffel.« Nachdem er sich so Luft gemacht hatte, schlurfte er mißmutig davon und machte sich auf die Suche nach einer Feldratte, über die sich ein paar Welpen beim letzten Jagdklubtreffen unterhalten hatten. »Potz Blitz und Donnerschlag!« ertönte eine Stimme direkt über Jasons Kopf. »Mit Hilfe meiner Hörner habe ich ihn vertrieben. Schmutziger alter Lausbeutel! Oh du meine Güte, mein Rücken bringt mich noch um!« Hoch oben auf einem Ast sah er die zitternde Gestalt der Ziege, deren Nasenflügel sich blähten. Behutsam versuchte sie ein Hinterbein auszustrecken und rutschte dabei beinahe aus, so daß der Ast bedrohlich knackte. »Ach, mein Täubchen!« Natürlich war es wieder die blinde Giraffe, die aus dem Nichts aufgetaucht war und sinnloses, verliebtes Zeug an die Ziege hinplapperte, die ihr zufälligerweise das Hinterteil zukehrte. »Nun sind wir endlich wieder vereint. Nichts kann uns mehr trennen. Wir werden uns um den Hals fallen und unsere Herzen werden immerdar füreinander schlagen. Meine treue Geliebte!« »Jetzt hör aber endlich damit auf, du altes Schlabbermaul«, empörte sich die Ziege, denn sie hatte Angst, wieder hinuntergestoßen zu werden. Aber der liebestolle Langhals war durch nichts mehr zu bremsen. Er folgte dem Klang des Ziegengemeckers und gelangte schließlich wieder zum Kopf der Ziege. Auf eine angeberische, männliche Art begann er seine hornartigen Stirnzapfen an der Stirn der Ziege zu reiben. Unglücklicherweise waren aber die Horngebilde der beiden Tiere
verschiedenartig geformt, die der Giraffe waren kurz und stumpf und die der Ziege lang und gebogen, so daß sie sich schließlich ineinander verhakten. »Wie leidenschaftlich und anhänglich du doch bist, meine einzige und wahre Liebe«, säuselte die blinde Giraffe, als die Ziege verzweifelt versuchte, sich zu befreien, indem sie ihren Kopf nach verschiedenen Seiten drehte und schließlich doch das Gleichgewicht verlor. Die Ziege, die ihre Augen geschlossen und ihre Beine gespreizt hatte, um besser aufzukommen, stellte erstaunt fest, daß sie mitten in der Luft hängengeblieben war. Sie öffnete ihr linkes Auge ein wenig und sah hinab. Der Boden war weit unten und schien unter ihren Blicken rasch dahinzuziehen. Sie öffnete nun beide Augen und sah zu ihrem Entsetzen, daß sie immer noch an den Hörnern der Giraffe hing und durch die Luft getragen wurde. Die Giraffe bewegte sich mit traumwandlerischer Sicherheit auf eine Wasserstelle zu. »Komm, mein Liebling, laß uns die Hälse in das Wasser tauchen und uns an dem köstlichen Naß laben. Wir werden unsere Vermählung mit sprudelndem, prickelndem Planschi-Planschi begießen.« »Ich bin doch eine Ziege, du alter Depp! Laß mich jetzt endlich runter!« meckerte die Ziege und strampelte dabei hilflos mit den Beinen in der Luft herum. »Du sollst jetzt nicht mehr an deine Vergangenheit denken«, besänftigte sie die Giraffe. »Durch mich wird dein Leben wieder einen Sinn bekommen.« »Du dickhäutiger Idiot!« meckerte die Ziege verzweifelt, aber sie hatte auch damit keinen Erfolg. Die blinde Giraffe träumte von einer gemeinsamen Zukunft, hörte schon das Donnern der vielen winzigen Hufe und sah die glückliche Herde vor ihrem inneren Auge. Als sie die Wasserstelle erreichten, die das Seitenbecken eines mächtigen Stromes war, spreizte Langhals seine Vorderbeine und bog den Hals mit einem eleganten Schwung nach unten. Dabei schrie er mit überschwenglicher Stimme: »Auf unser Wohl, mein Engel, auf unser gemeinsames Wohl!« »Amen«, murmelte die Ziege, als sie, festgehakt mit der Giraffe, in den Fluten des Teichs untertauchte. Die Giraffe nahm einen kräftigen Schluck, während von unten Blasen zu ihren Nasenlöchern aufstiegen.
»Ach, es sprudelt ja so schön«, prustete sie vergnügt, als sie ihren Hals schließlich wieder zurückschnellen ließ. »Wo bist du, mein Schatz? Komm näher, damit ich dich beschnuppern kann.« Sie schnüffelte in alle möglichen Richtungen. »Liebste, wo bist du denn?« Die Ziege, deren nasse Hörner sich aus der Umklammerung gelöst hatten, als der große Kopf der Giraffe wieder aufgetaucht war, schwamm mit in die Luft ragenden Hufen rücklings auf das Ufer zu. Immer noch drangen Blasen aus ihrer Nase. Als sie am Ufer anlangte, stieß sie an ein schlafendes Krokodil, das sein Maul wütend aufriß und gerade noch rechtzeitig aufgewacht war, um einen riesigen Huf von oben auf sich herniedersausen zu sehen. »Da bist du ja, mein Engel, Licht meines Lebens«, quiekte die Giraffe und stolperte dabei in dem seichten Wasser herum, während ihr Huf das tobende Reptil niederhielt. »Laß uns gemeinsam über die Prärie laufen und uns zusammen ins schnucklige Gras legen.« »Krokodil! Achtung!« prustete die Ziege, die von einem mächtigen Schwanzhieb des Reptils auf eine Sandbank geschleudert worden war. »Achtung, ein Krokodil!« »Jemine!« brüllte die Giraffe und rannte ganz schnell in die falsche Richtung, wo sie mit einem trinkenden Zebra zusammenstieß. »Paß doch auf, du langhalsiger Lümmel«, maulte das Zebra, das in seiner Mittelstreifenzone vom patschnassen Körper der vor Angst halbverrückten Ziege gerammt wurde. »Hau ab, du triefender Depp«, schrie das Zebra. »Sonst laufen meine Streifen aus, und dann sind wieder diese schmierigen Pferde hinter mir her. Mach, daß du fortkommst!« Die blinde Giraffe und die Ziege kehrten dem Zebra, das seine Streifen im Staub trocknete, und der Wasserstelle den Rücken zu und galoppierten so schnell sie konnten davon. »Endlich sind wir frei, mein Schatz«, sagte die Giraffe keuchend, »und dort drüben rieche ich Bäume.« Sie deutete mit ihrem langen Hals nach links und stolperte dabei über einen großen Löwen, der hier döste. Die Ziege hätte den Verehrer in diesem Augenblick nun wirklich verlassen, wenn sie nicht die anderen Löwen, die zu derselben Gruppe gehörten, gesehen hätte, wie sie sich nun rasch auf sie beide zubewegten, um sie einzukreisen. Es ist ein Kreuz, dachte sich die Ziege, diese tapsige Giraffe ist wie ein Klotz am Bein. Da gibt es nur noch einen Ausweg. »Zurück zum Fluß!« schrie sie. »Nur so können wir noch entkommen!«
Miteinander tauchten sie durch das seichte Nebenbecken, trampelten dabei noch einmal über das unglückselige Krokodil und trieben dann hinaus in die aufgewühlten Fluten des Hauptstroms. »Ängstige dich nicht, mein Engel, ich kenne diesen Fluß sehr genau. Auch an seiner tiefsten Stelle hat er nicht mehr als drei Meter. Wir können ihn spielend durchwaten«, sagte die Giraffe und ging hochnäsig und mit erhobenem Haupt der Ziege voraus. »Also dann mal los!« Nur ihr langer Hals war noch über der Wasseroberfläche zu sehen. Tapfer kämpfte sich die kleine Ziege an ihrer Seite durch die Fluten. »Ich werde dich wirklich glücklich machen. Richtig glücklich, du wirst ja sehen ...« Die Ziege hatte die Nase voll von Langhals. Die Strömung hatte sie in die Nähe eines Wasserfalls getrieben, dessen Donnern sie hören konnte. Verzweifelt um sich schlagend, wurde sie nach unten gerissen, immer tiefer ging's hinein in die schäumende, donnernde Gischt... Jason stöhnte und richtete sich mit einem Ruck auf. Er war in Schweiß gebadet. Ludo schlief friedlich an seiner Seite. Er schüttelte den Kopf, als ob er versuchte, die Traumbilder zu verscheuchen, und wischte mit der Hand über sein feuchtes Gesicht. Diese Träume mußten ein Ende nehmen, sie waren zu anstrengend. Es war, als ob ihm durch sie etwas signalisiert werden sollte, etwas, das er nicht wissen wollte. Er lehnte sich wieder zurück, schüttelte den Kopf über sich selber und zog den Traumstengel langsam aus dem Ohr. In der dritten Nacht, die er in Großmauls Zelle verbrachte, beschloß er, den Stengel nicht zu benutzen. Nachdem Ludo eingeschlafen war, zog er ihn wieder heraus und legte ihn so neben sich, daß es aussah, als ob er aus Versehen herausgefallen wäre. Ludo hatte so sehr darauf bestanden, daß er ihn jede Nacht nahm, und er wollte sie nicht verletzen. Am Morgen des letzten Tages erwachte er nach einer traumlosen Nacht gestärkt und zu allen Taten bereit. Das ist todlangweilig, dachte er bei sich. Ich habe hier drei kostbare Tage vertrödelt und so gut wie nichts über die Goldenen Würmer herausgebracht. Entweder will oder kann Ludo meine Fragen nicht beantworten. Ich habe meine kostbare Zeit vertan. Wenn sich die Tür öffnet, bin ich auf und davon. »Guten Morgen, Jason.« Ludo lächelte. »Wir haben's geschafft! Wir können gehen. Komm!« Ungeduldig folgte er ihr nach draußen.
»Komm, wir gehen zu meiner Zelle zurück!« »Nein. Du bist sehr freundlich zu mir gewesen, aber ich muß jetzt weg. Ich kann nicht noch mehr Zeit vertrödeln.« »Sei doch nicht so dumm. Es ist doch lustig hier, wenn du nicht zuviel fragst. Du wirst schon sehen. Bis jetzt war es ja ein bißchen schwierig, aber...« »Tut mir leid«, sagte Jason bestimmt. »Es hat keinen Wert. Ich muß sofort aufbrechen.« »Aber vielleicht kommt der Bildhauer bald, und wir hätten eine gute Chance, ummodelliert zu werden. Dann könnten wir gemeinsam zum Testgebiet gehen.« »Du kannst ja solange warten, wenn du willst. Aber ich kann nicht hierbleiben. Es können ja noch Jahre vergehen bis zum nächsten Besuch. Für mich ist es Zeit aufzubrechen. Jetzt! Ich bin dazu fest entschlossen!« »Nein, jetzt hör mir mal zu. Bitte, warte doch.« Ludo rannte ihm nach und hielt ihn am Arm fest. »Ich bin ziemlich sicher, daß der Große Meister bald kommt. Ich fühle es tief unter meinem Fell.« »Wann war er zum letztenmal hier?« »Ich weiß es nicht mehr genau. Es war...« »Natürlich kannst du dich nicht mehr erinnern. Ich bezweifle, ob er jemals hier war. Langsam beginne ich sogar daran zu zweifeln, ob es den Bildhauer überhaupt gibt. Wahrscheinlich ist das Wartenlassen nur ein Trick, um euch alle in Schach zu halten.« Jason wußte nicht, was er sagte. Seine Gedanken konzentrierten sich auf die Reise, die vor ihm lag. Ludo war auf einmal ganz starr geworden und verhielt sich mucksmäuschenstill. Ihre Augen zwinkerten nervös, und mit der Zunge befeuchtete sie sich mehrmals die Lippen. Sie stöhnte leise auf. Dann sank sie zu Jasons Verwunderung zu Boden, wo sie hocken blieb und sich vor Schmerzen krümmte. »Tut mir leid«, brachte Jason zwischen den Zähnen hervor, ihm war immer noch nicht klargeworden, was er gesagt hatte. »Ich wollte dich nicht in Zweifel stürzen.« »Ach, sei still!« zischte Ludo, die sich langsam wieder erhob. »So sei doch endlich still und komm jetzt!« Sie sah so ernst aus, daß Jason ihr ohne Widerrede folgte. Als sie wieder in Ludos Zelle waren, schlug sie die Tür hinter sich zu und ging schnurstracks auf die Schlafhöhle zu. Dort griff sie Jason aus heiterem Himmel an und stieß ihn so heftig mit ihren Hörnern, daß ihm die Spucke
wegblieb. Er taumelte nach hinten und verlor das Gleichgewicht. Als er am Boden lag, schaute sie auf ihn herab und zischte: »Jetzt erklär mir mal, was du dort drüben alles gesagt hast! Das heißt, wenn du dazu überhaupt in der Lage bist.« »Was meinst du damit?« fragte der verdutzte Jason, der sich seine schmerzende Brust rieb. »Ich habe doch gesagt, daß es . mir leid tut.« »Du weißt ganz genau, was ich meine. Wie kann ein persönlicher Freund, ja du hast richtig gehört, per-sön-licher Freund, des Bildhauers Zweifel an dessen Existenz haben? Du bist ein Betrüger, ein mieser Betrüger! Wer bist du wirklich? Woher kommst du eigentlich, und was hast du hier verloren?« Ludo wurde wütender und Jason, der nun merkte, was er getan hatte, mußte sich blitzschnell etwas überlegen. »Ich wollte dich doch nur auf die Probe stellen«, prustete er heraus. »Auf die Probe stellen, um zu sehen...« Aber er konnte den Satz nicht beenden. »Lügner!« schnauzte ihn Ludo an und senkte den Kopf, als ob sie ihn noch einmal auf die Hörner nehmen wollte. Jason machte sich ganz klein und bedeckte sein Gesicht mit beiden Armen, um es vor den spitzen, gebogenen Hörnern zu schützen. Er wartete, ohne sich zu rühren, aber es erfolgte nichts. Als er seine Arme wieder von den Augen nahm, stellte er fest, daß er allein war. Nun wird sie's ihnen verraten, dachte er und krabbelte eilends zum Rand der Höhle. Er eilte zur Tür der Zelle und wäre beinahe über die zusammengekauerte Gestalt von Ludo gestolpert, die dort auf einer der Stufen saß. Jason nahm sie in beide Arme und wiegte sie sachte hin und her. Ihre Wut war verflogen, und sie sah traurig aus, beinahe hätte man sagen können, verzweifelt. Am Eingang hielt Jason an. »Es tut mir ja so leid«, sagte er. »Wirklich. Ich mag dich. Du bist so gut zu mir gewesen. Das habe ich dir nun wirklich nicht antun wollen. Vergib mir - und halt mir die Daumen. Ich muß nun gehen.« Und damit wandte er sich zur Tür. »Warte«, sagte Ludo mit rauher Stimme, »geh nicht, es ist zu gefährlich. Ich werde dir helfen, aber zuerst mußt du mir helfen.« »Wie denn?« »Du mußt mir die Wahrheit sagen. Dann werden wir weitersehen. Wahrscheinlich werden sie mich dafür in die Mangel nehmen, aber ich kann dich nicht einfach allein weggehen lassen. Du bist mir ans Herz gewachsen. Ich habe deinen Körpergeruch eingeatmet, und du hast meinen
Pelz gesäubert. Ich kann dich nicht einfach so allein dort hinausgehen lassen!« Jason ließ sich auf dem Boden nieder und lehnte sich mit dem Rücken an die glatte, orangefarbene Mauer. »Gut, dann werde ich es dir sagen. Wo soll ich anfangen?« Eine Stunde später saßen sie immer noch dort. Keiner hatte sich bewegt. Ludo rieb sich mit den Händen die Augen. »Und dann«, sagte Jason abschließend, »hast du mich hierher ins Dorf gebracht, und das übrige weißt du ja selbst.« Ludo schloß die Augen und rieb sich den Hals, als ob es sie würgte. »Es ist schwer, dir zu glauben«, sagte sie schließlich, »aber ich muß wohl annehmen, daß es stimmt. Du hättest es nie im Leben erfinden können.« »Nein, das ist wahr.« »Und nun Willst du, daß ich dir helfe, die Goldenen Würmer zu finden?« »Ich hätte dich nie darum bitten sollen. Warum ausgerechnet dich? Du bist hier glücklich, und ich werde es schon irgendwie schaffen. Mir würde es ohnehin hier bald langweilig werden. Aber du mußt unbedingt hierbleiben. Du bist an das Leben hier gewöhnt, und es wäre falsch, es für eine Suche aufzugeben, die dich überhaupt nicht betrifft.« »Doch, das tut sie nun, das ist ja das Fatale. Ich möchte bei dir bleiben und dir helfen. Ich weiß auch nicht, warum. Ich gebe ja zu, daß es unvernünftig klingt. Gewöhnlich bleiben wir für uns allein. Aber mit dir ist es anders. Ich weiß auch nicht, aber es ist nun einmal so.« »Versprich mir, daß du mich nicht zurückhalten wirst!« »Ja, das verspreche ich dir. Ich habe ohnehin eingesehen, daß es für mich sinnlos wäre, es zu versuchen. Aber es wäre töricht, jetzt wegzugehen, im hellen Granitlicht. Wir brechen heute Nacht auf, sobald die Verdunkelung eingesetzt hat. Wir suchen uns einen Nachtschlabber und reiten damit zum Wurzelwald. Das ist ein guter Ausgangspunkt für die Suche. Ich erinnere mich, daß Großmaul plante, dort zu jagen, nachdem der Silbersumpf unter dem Sand verschüttet wurde. Damals dachten wir, daß es nur ein gewöhnlicher Jagdpfad sei, aber vielleicht hat doch mehr dahintergesteckt. Jedenfalls ist es der einzige Hinweis, den wir haben. Wir müssen uns nun so gut wie möglich ausruhen - wir werden all unsere Kräfte brauchen. Der Wurzelwald ist ziemlich verrufen!«
Als sie beide Seite an Seite in der Schlafhöhle lagen, starrte Ludo verloren in die Ferne. »Ich kann es kaum glauben«, sagte sie zu Jason. »Du bist wirklich dort oben gewesen, im Außengestein. Und wir hier unten sehnen uns danach, warten darauf und beten, daß wir dorthin dürfen. Und du setzt alles aufs Spiel, läßt alles hinter dir und kommst hier herunter, nur um dem dummen, dickköpfigen, verrückten Großmaul zu helfen, ausgerechnet solch einem schwachsinnigen Schwätzer! Entweder bist du unglaublich hilfsbereit oder aber furchtbar dumm...« »Oder beides«, seufzte Jason und schloß die Augen.
9. Der Wurzelwald Wach auf! Wach schon auf! Es ist dunkel!« zischte eine Stimme eindringlich in Jasons Ohr. »Komm, wir müssen jetzt aufbrechen, und zwar sofort.« Ludo schüttelte ihn am Arm. Er mußte mehr als eine Stunde vor sich hingedöst haben und fühlte die Benommenheit, die ein kurzer Schlaf gewöhnlich hinterläßt. Sie waren den ganzen Tag damit beschäftigt gewesen, ihre Reise zu planen und von ihren verschiedenen Welten zu berichten, in denen sie zu Hause waren. Für Jason war es außerordentlich erleichternd gewesen, daß er endlich die Wahrheit sagen konnte. Den Verlust seines Gedächtnisses vorzutäuschen, war für ihn eine große Belastung gewesen. Aber das lag nun alles hinter ihm, und die Freundschaft mit Ludo hatte trotzdem gehalten. Sie hatten auf den Einbruch der Dunkelheit gewartet. Da nichts mehr zu tun und das Reden nach einer Weile ermüdend geworden war, hatten sie sich in Ludos Schlafhöhle niedergelegt, um zu schlafen, aber nun galt es wieder zu handeln. Die Granitschirme waren aufgespannt und die schlitzförmigen Lichter schienen wieder. »Gut. Ich bin gleich soweit.« Schweigend schlichen sie sich durchs Dorf, über die gekachelten Wege bis hinaus zur Wüste mit ihrem weichen Sandboden. »Hier geht's lang«, flüsterte Ludo. »Bleib dicht hinter mir!« Ein seltsames Summen lag in der Luft, ein Pochen, das immer stärker wurde, je weiter sie sich vom Dorf entfernten. Ludo sagte nichts, aber Jason konnte erahnen, daß sie sich vorsichtig in Richtung auf einen Haufen
glitzernder Stacheln zubewegten. Die hohen, spitzen Formen funkelten in der Dunkelheit. Sie sahen wie lange, dünne, weiße Kristalle aus, die aus dem Boden emporwuchsen wie fremdartige Gewächse. Als sie näher kamen, wurde das Pochen zu einem mächtigen, regelmäßigen Pulsieren, das sich wie der Schlag eines verängstigten Herzens anhörte. Jason mußte die Zähne zusammenbeißen, um nicht laut aufzuheulen. Er spürte einen stechenden Schmerz in seinem Kopf. Er berührte Ludos Arm, und sie sah sich besorgt nach ihm um. »Ich werde noch verrückt«, flüsterte er, »das Pochen - mein Gehirn droht zu zerplatzen.« Ludo machte einen vollkommen ungerührten Eindruck. Offensichtlich konnte sie den Grund für Jasons Leiden nicht einsehen. »Wir können hier nicht stehenbleiben. Hier muß man doch irgendwo einen Nachtschlabber auftreiben können. Du wirst dich bald an den Gesang der Singenden Stäbe gewöhnt haben.« »Singenden!« stöhnte Jason. »Das soll Gesang sein! Ich halt's nicht mehr aus! Ich...« Plötzlich brachte er kein Wort mehr heraus. Seine Lippen formten zwar die Worte, aber kein Laut drang aus seiner Kehle. Es kam ihm so vor, als ob seine Beine meilenweit weg wären, denn er hatte kein Gefühl mehr in ihnen. Er brach zusammen und wand sich verzweifelt am Boden. Ludo eilte an seine Seite. Bis sie sich neben ihm niedergekniet hatte, war er schon bewußtlos. Sie hielt verzweifelt Ausschau nach Hilfe und verschwand dann in der Dunkelheit. Als Jason die Augen wieder öffnete, sah er Granit-Sterne über sich schwanken. Das Pochen hatte aufgehört, aber sein ganzer Körper wurde hin und her geworfen. Er stützte den Ellbogen auf und schaute sich um. Es war nicht nur seine Einbildung, sondern er schwankte tatsächlich. Dann hörte er Ludos Stimme: »Versuch nicht aufzustehen! Bleib liegen! Ich habe einen Schlabber ausfindig gemacht. Du bist in einer seiner Hintertaschen, ich auch, direkt hinter dir. Sorge dich nicht, alles wird gutgehen. Wir sind nun beinahe am Rand des Wurzelwaldes. Bleib ruhig liegen und entspanne dich.« Jason tat, wie ihm befohlen, aber er wandte seinen Kopf nach allen Seiten. So konnte er auch die Gestalt des seltsamen Wesens betrachten, auf dem sie ritten. Es sah wie eine Riesenschnecke aus, mit vier großen Augenfühlern an seinem Kopfende und einem breiten, gebogenen Dorn am anderen Ende. Auf seinem Rücken waren lauter weiche Vertiefungen, die wie niedrige Becken aussahen. Ludo lag in einem, Jason in einem anderen,
und winzige Ebenbilder des Schlabbers guckten aus den übrigen neun oder zehn Vertiefungen. »Ich mußte zwei seiner Jungen entfernen, um Platz für uns zu machen«, flüsterte Ludo. »Es war die einzige Möglichkeit. Ich habe es zwar ungern getan, aber es führte kein Weg daran vorbei.« »Trägt der Schlabber seine Jungen eigentlich immer auf dem Rücken mit sich herum?« »Ja, solange sie allein hilflos sind.« »Was wird dann aus den beiden, die du rausgeworfen hast, wenn sie noch so hilflos sind?« »Wahrscheinlich werden sie von den Sabeniten geschnappt werden, wenn es wieder Tag ist. Das ist nicht zu vermeiden. Sie sind eben schutzlos.« »Aber Ludo, das kannst du doch nicht tun! Sag dem Schlabber, daß er umkehren soll. Wir holen die beiden Jungen wieder.« »Jason, das hat keinen Sinn. Wenn wir den Wurzelwald nicht vor Tagesanbruch erreichen, wird der Schlabber ebenfalls getötet und mit ihm alle seine Nachkommen. Es ist nun zu spät dazu. Schau, man kann schon den Waldesrand dort drüben sehen.« Jason blieb die Antwort schuldig. Er ließ sich in den Beutel sinken und starrte den Granit-Himmel an. War es das alles wert? War das verrückte Großmaul die Anstrengung wert? Um den dicken Dummkopf zu retten, hatte er Ludo von zu Hause weggelockt und zwei hilflose Säuglingsschlabber auf dem Gewissen, nicht zu vergessen den unglücklichen Rotwarze im Schaugefängnis. Aber die Suche nach den Goldenen Würmern war auch für ihn selbst immer wichtiger geworden. Er war nun mit von der Partie und dachte, wenn er sich's so recht überlegte, nicht mehr ausschließlich an den guten, alten Klonk dort oben in der Scheune. Er wollte nun auch sich selber etwas beweisen. Einmal war er beschuldigt worden, daß er Dinge, die er angefangen hatte, nie zu Ende führte, und das hatte ihn damals ganz entsetzlich geärgert. Dieses Mal wollte er den anderen beweisen, daß er sehr wohl angefangene Arbeiten zu Ende führen konnte. Die Suche war für ihn also zu einer persönlichen Herausforderung geworden. Etwas strich ihm übers Gesicht. Seine Gedanken verflogen, und er richtete sich sofort auf. Dabei stieß er mit dem Kopf in einen Busch mit winzigen, herabhängenden Farnwedeln, die in seinem Haar und an seinen Wangen wie klebrige Spinnweben hängen blieben.
»Bleib unten!« schrie Ludo. »Wir kommen nun in den Wald. Wenn du dich aufrichtest, wirst du weggefegt.« Jason zog sich wieder in den Beutel zurück und versuchte verzweifelt, sich von den Fangarmen zu befreien, die an ihm haften geblieben waren, aber sie waren zu stark für ihn. Als der Nachtschlabber weiterglitt, fühlte Jason, wie er aus seiner Vertiefung heraus und über den glatten, schleimigen Rücken der Riesenschnecke gezogen wurde. Gerade noch rechtzeitig sah er den großen, gebogenen Dorn an ihrem Schwanzende vor sich, und es gelang ihm im letzten Moment, auf die Seite zu schwingen. An einem Bündel starker Fangarme baumelnd, blieb Jason mitten in der Luft hängen. Bis zum Boden war es nicht weit, und doch konnte er nicht loskommen. »Ludo«, schrie er in höchster Verzweiflung, als er den Riesenleib der Schnecke im Dickicht verschwinden sah, »komm zurück! Ich klebe hier fest. Hilf mir!« Aber seine Stimme ging in dem dichten Pflanzenwuchs unter. Wenig später hing er ganz allein, in sich zusammengesunken im Griff der Wurzelarme. Jedesmal, wenn er dagegen ankämpfte, hüpfte er auf und nieder wie eine Marionette an einem Gummiband. Er konnte nur darauf warten, daß Ludo ihn befreite. Wahrscheinlich würde sie bald merken, daß er fort war und nach ihm suchen. Er würde also stillhalten, sparsam mit seinen Kräften umgehen und warten. Unzählige Minuten vergingen, ohne daß etwas geschah. Von Ludo keine Spur. Dann hörte Jason ein leises Rascheln unter sich. Er schaute nach unten, indem er seinen Kopf nach allen Seiten drehte, aber durch die dschungelartige Vegetation konnte er nichts Tierähnliches entdecken. Das Rascheln hörte auf. Dann bemerkte er zu seinem Entsetzen, daß ihm irgend etwas seine Schuhe auszog. Winzige Hände tasteten sich an seinen Beinen entlang. Jason trat danach, worauf er ein verängstigtes Trippeln hörte, und dann war plötzlich wieder Ruhe. Nach einer Weile begann das Geraschel erneut. Dieses Mal war es stärker, als ob man Verstärkung herangeholt hätte. Ein paar Minuten später fühlte er, wie eine Unmenge kleiner Hände seine Füße und Beine hielten und ihn herunterzogen. Über ihm begannen sich die Fangarme zu dehnen, und die schwächeren rissen. In seinem luftigen Käfig schlotterte Jason vor Angst, als er so zwischen zwei Kräften gefangen war. Langsam, aber sicher
schienen die Hände zu siegen, denn krachend und ächzend gaben die Wurzeln allmählich nach, und er fiel auf den Boden. Kaum lag er dort, fühlte er eine Unmenge winziger Finger auf sich herumkrabbeln, die ihn ganz offensichtlich erkundeten. Mit großem Eifer untersuchten sie seine Kleidung und zogen an seinen Haaren. Er versuchte aufzustehen, aber brachte es nur fertig, sich herumzudrehen. Dabei sah er sie zum erstenmal: Es waren Hunderte, die ihn umschwärmten. Sie begannen ihn zusammen hochzuheben und ihn ganz langsam über den Waldboden fortzutragen. Jason schnappte sich eines der kleinen Wesen und hielt es so vor sich hin, daß er es besser sehen konnte. Es quiekte und wand sich, aber er hielt es fest. Es war sehr klein, ungefähr so groß wie die Hand eines Äffchens oder eines Babys. Und es bestand auch nur aus einer Hand, hatte vier Finger, einen Daumen und mitten in der Handfläche ein einziges Auge. Anstelle des Handgelenks hatte es zwei kleine, klauenartige Füße. Das war alles: eine Hand ohne Körper, eine sehende, gehende, klauenfüßige Babyhand. Er ließ sie fallen, und sie stolperte davon. Wie ein Schiff, das vom Stapel gelassen wird, glitt Jason mit Hilfe der Hände durch den Wald. Sie rutschten nun einen sanften Abhang hinab und gelangten in eine niedrige Höhle. Jason versuchte sich freizukämpfen, aber es war sinnlos. Immer dichtere Schwärme bildeten sich um ihn herum. Er gab seinen Widerstand auf. Nachdem sie durch einen langen Tunnel gezogen waren, legten sie ihn auf ein weiches Bett, das aus rosafarbener Erde bestand, und begannen nach allen Seiten auszuschwärmen. Zuerst wußte er nicht, was sie vorhatten. Doch dann dämmerte es ihm allmählich, daß sie einen Käfig bauten - einen festen Käfig aus Wurzeln, und er war das Tier, das sie darin gefangenhalten würden. Jason sprang auf und duckte sich wegen der niedrigen Decke, aber die Hände stürzten sich sofort wieder auf ihn. Schicht um Schicht senkte sich auf ihn nieder. Jason konnte nichts mehr sehen und erstickte beinahe. Sie begannen an seinen Kleidern zu zerren, und je heftiger er sich wehrte, desto stürmischer rissen und zogen sie. Bald bestand seine Jacke nur noch aus Fetzen, und er legte sich völlig erschöpft wieder hin. Sofort zogen sie sich zurück und nahmen die Fetzen seiner Kleidung mit. Jason lag auf dem Bauch und vergrub das Gesicht in den Armen. Das Klappern um ihn herum wurde immer lauter, bis es schließlich aufhörte. Als lautes Klatschen ertönte, sah Jason wieder auf. Der Käfig war fertig. Er saß in der Falle. Vor den Wurzelstäben waren lauter kleine Hände, soweit das Auge reichte. Sie
quietschten und hüpften vor Freude. Einige davon schnippten ihre Finger nach ihm. Andere wiederum klatschten paarweise zusammen. Dann rannten sie plötzlich in seine Richtung, nahmen den Käfig und trugen ihn immer tiefer in den Tunnel hinein. Ungefähr nach einer Stunde Handreise wurde es im Tunnel wieder heller. Breite, flache Streifen aus einem gummiartigen, braunen Material hingen von der Decke, und Jasons Käfig bewegte sich mit zunehmender Schwierigkeit durch diese zerfetzten Pflanzenvorhänge. Die Hände, die sich dort durchkämpfen mußten, schwitzten nun ganz gewaltig. Trotz ihrer Anstrengungen verringerte sich das Tempo. Gerade als es so aussah, als ob es nicht mehr weiterginge, blitzte ein Licht auf, und der Käfig schoß aus dem überwachsenen Tunnel heraus in eine breite, wurzelbestandene Allee hinein. Der Weg neigte sich leicht, so daß die Hände Mühe hatten, mit ihrer schweren Last Schritt zu halten, die ihnen beinahe davongerutscht war. Weil sie unter Aufbietung aller Kräfte so geschwind rannten, rissen sie den Käfig mit Jason so schnell den Abhang hinunter, daß er kaum Einzelheiten seiner Umgebung erkennen konnte, gerade noch ein paar verschiedene Arten von schuppigen Kreaturen mit scharfen Zähnen. Einige hatten merkwürdige fleischige Kragen, andere spitze Stacheln, und wieder andere trugen einen Warzenpanzer. Runde Glotzaugen blitzten auf, und lange, spitze Zungen fuhren aus ihren gierigen Mäulern heraus. Der Geruch war sehr intensiv, eine Mischung aus Waschküche und Kuhstall, oder vielleicht auch zwischen Küche und Abfallhaufen. Jason war sich nicht so ganz sicher, aber was es auch sein mochte, auf jeden Fall roch es unangenehm und benebelnd. Am Ende der Allee sah er ein schweres Tor und hoffte, daß, wenn er dort hindurch wäre, er auch den feuchten, dampfartigen Geruch hinter sich lassen würde. Als sie das riesige Tor erreichten, stellte sich jedoch heraus, daß die Hände den Griff nicht erreichen konnten, um es zu öffnen. Einige, die kräftiger waren, sprangen hinauf, aber kamen nicht einmal in seine Nähe. Einige von den schwammigeren, trägen Händen vertrieben sich unterdessen die Zeit damit, Jason durch die Stäbe des Gefängnisses hindurch zu necken, die sehnigeren Hände hielten eine eilends einberufene Konferenz ab. Unter aufgeregten Fingerschnippen und -knacken stellten sie sich in einer langen Reihe auf. Die Hand, die der Tür am nächsten war, stellte sich breitbeinig hin, die nächste rannte auf ihn zu und sprang behende auf seine Fingerspitzen. Die dritte machte das gleiche und nahm auf den Fingerspitzen den zweiten Platz ein. Der Rest folgte, kletterte an
seinen Kameraden hinauf, so lange, bis der Turm aus Händen bis zum Türgriff reichte. Der Turm schwankte zwar bedenklich, als sich die oberste Hand drehte, aber er fing sich wieder. Mit einem lauten Knirschen ging das Tor nach innen auf. Der Händeturm fiel in sich zusammen, und die Hände zerstreuten sich wieder. Eine kräftige Dampfwolke blies Jason aus dem Inneren entgegen und hätte ihn fast erstickt. Die Hitze war kaum zu ertragen und der Gestank schlimmer denn je. Triumphierend schwärmten die kleinen Hände um den Käfig herum, hoben ihre schwere Last dann wieder vom Boden auf und marschierten in das Prunkgemach. Die Tür schlössen sie hinter sich. »Endlich«, zischte eine wilde Stimme, die einem durch Mark und Bein fuhr, »endlich kommt das Flandgepäck an. Ich habe schon zu lange darauf warten müssen. Ich werde mich dafür bitter rächen!« Die Hände wurden plötzlich ganz traurig und niedergeschlagen, sie falteten sich gegenseitig. Vorsichtig setzten sie den Käfig in der Mitte des reichverzierten Bodens ab und stellten sich paarweise auf. Handfläche an Handfläche, begannen sich die einzelnen Paare zu verbeugen und dabei nach hinten zu bewegen. Mit einer unterwürfigen Geste verließen sie den Raum. Jason blickte auf. Er konnte es kaum glauben: Auf einen Berg von Kissen zurückgelehnt, lag Ludo. War es wirklich ihre Stimme gewesen, die er gerade gehört hatte? Sie lag träge da, hatte einen Ellbogen aufgestützt und knabberte an kleinen blauen Früchten aus einer Schale, die aus dem grünen und gelben Panzer einer zweiköpfigen, zweischwänzigen Schildkröte herauswuchs. Mühevoll bahnte sich die Schildkröte ihren Weg zwischen den Kissen hindurch. Jason beobachtete sie, wie sie ausrutschte und ein paar Früchte aus der Schale herausfielen. Ein scharfes Zischen folgte, und aus den Kissen fuhr eine lange, spitze Zunge hervor, die der Schildkröte ein paar kräftige Hiebe versetzte. Die Schildkröte fiel krachend über den Rand des Bettes und verschwand hinter den Kissen, während sich die blauen Früchte in alle Richtungen verteilten. Der Besitzer der Zunge ließ sich zu einem bösartigen, keuchenden Gelächter hinreißen und streckte sich dabei genüßlich. Aus seiner eigenen Perspektive konnte Jason, der auf dem Boden seines Käfigs kauerte, nur wenig sehen. Rechts von Ludo vermochte er nur eine häßliche Pfote und den Teil eines schuppigen Arms, die Wölbung eines schuppigen Bauchs und einen dünnen, peitschenartigen Schwanz zu erkennen, der sich an der
Spitze von selbst zusammenrollte. Ludo schien von ihrem neuen Gefährten fasziniert zu sein und lächelte holdselig nach allen Richtungen. »Ludo«, rief Jason, »bin ich aber froh, daß du hier bist. Sag deinem Freund, daß er mich rauslassen soll. Meine Glieder sind schon ganz steif! Aber beeil dich bitte!« Ludo drehte sich zu ihm herum und brach in schallendes Gelächter aus. »Jetzt hör dir das an. Es kann sprechen, es will uns etwas mitteilen!« sagte sie lachend zu dem Ungeheuer an ihrer Seite. Ein schmales Gesicht mit einem bösartigen Gesichtsausdruck erhob sich aus dem Kissenberg neben Ludo. Mit seinen runden, glasharten, gelben Augen starrte es Jason durchdringend an. Unter einem schuppigen Nasenschild zog er einen langen, spindeldürren Rüssel hervor, den er Jason vibrierend entgegenhielt. Durch das Vor- und Zurückschlängeln in der stickigen Luft prüfte er Jasons Geruch, und dabei begannen sich seine Schuppen wie die Federn auf dem Kopf eines Papageis zu sträuben und in sich zusammenzufallen. Die nadelförmig dünnen Zähne, die über die streng gezogene Linie seines Mauls hinausragten, schlugen in einer furchterregenden Weise aufeinander. Jason wich so weit zurück, wie es die Stäbe seines Gefängnisses erlaubten. »Ja, wirklich«, zischte das Ungeheuer. »In der Tat, es spricht. Sag was, du nichtsnutziger, schuppenloser Schleimer, du Drecksack!« Als er dies sagte, wuchtete er sich hoch, um sein neuerworbenes Spielzeug besser betrachten zu können. Jason konnte nun die Gestalt des Ungeheuers vollends sehen, aber er wünschte sich, daß dies nie der Fall gewesen wäre. Es war von Kopf bis Fuß mit Schuppen, Stacheln und lose herabhängenden Knorpeln bedeckt. Es schien den Körper einer fetten, dickbäuchigen Schlange zu haben und die Gliedmaßen eines aufgeblasenen Alligators. Der grotesk aufgeschwemmte Rumpf und die Gliedmaßen standen in einem seltsamen Kontrast zu dem schmalen Kopf, dem peitschenartigen Schwanz und seinen langen, dünnen Pfoten. Es schien eine abscheuliche Mißgeburt zu sein, und Jason fragte sich, ob das Wesen wohl jemals in der Lage sein würde, sich von dem weichen Kissenberg zu entfernen. »Laß mich aus diesem Käfig heraus!« schrie Jason verzweifelt. Das Ungeheuer zischte und sprudelte vor hämischem Vergnügen über. »Mach nur weiter«, keuchte es. »Hör bloß nicht auf damit! Das ist ja ganz allerliebst!« Aber Jason verharrte schweigend und dachte angestrengt nach.
»Ein ganz wundervolles Exemplar«, sagte Ludo und lehnte sich mit geheucheltem Interesse nach vorn. »Äußerst selten, würde ich sagen.« »Für mich nicht ganz so neu«, zischte das Ungeheuer und gackerte dabei albern vor sich hin, indem es mit seinem Schwanz wedelte. »Schau nur, es fängt gleich wieder an zu sprechen.« »Ich habe eine Nachricht vom Bildhauer«, rief Jason. Er hoffte, daß der Name wie sonst Wunder wirken würde. Aber Ludo beugte sich zu dem Schuppenkopf hinüber und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Jason konnte gerade noch hören, wie sie sagte: »Es ist nur ein Trick. Nimm keine Notiz davon!« »Ludo!« schrie Jason auf. »Was tust du denn da? Was ist denn nur mit dir los? Warum tust du denn so, als ob du mich nicht kennen würdest? Hilf mir doch bitte, ach, so hilf mir doch!« »Noch ein Trick«, murmelte Ludo, und das Ungeheuer nickte verständnisvoll. Schwer atmend, robbte es sich zum Rand des Lagers und starrte unverwandt in den Käfig. »Zeig deine Hände her«, keuchte es und rang dabei nach Atem. Ludo schaute mit einem belustigten Gesichtsausdruck zu. Jason zögerte und schob dann seine Arme widerstrebend dem Schuppenkopf durch die Gitterstäbe entgegen. Der lange Rüssel rollte sich wieder aus, und die zierliche Spitze schnupperte an seinen ausgestreckten Händen herum. »Ja, gute, kräftige Hände. Sie werden sich ausgezeichnet dafür eignen. Wir werden sie heute Nacht abhacken. Wir haben schon so lange keine Hand-ab-Zeremonie mehr gehabt. Meine Schuppen sträuben sich schon vor Vergnügen bei dem Gedanken. Herrlich, ganz herrlich!« Jason fand es schwer aufzunehmen, was das Ungeheuer sagte, denn sein Gehirn setzte vor Schreck aus. »Aber die Füße mag ich nicht besonders. Kein richtiger Griff. Nichts für Boten- und Lastendienste. Mit denen geb' ich mich erst gar nicht ab. Man soll seine Anforderungen schließlich nicht herunterschrauben.« In Jasons Gehirn hatte es sich wieder gelichtet. Ludo hatte ihn betrogen. Er saß nun in der Falle und würde bald geopfert werden oder zumindest verstümmelt, damit seine Majestät, das Monster, noch mehr Hand-Diener hatte. Etwas mußte geschehen, und zwar ziemlich schnell. Ohne über die Folgen noch weiter nachzugrübeln, griff er durch die Stäbe und packte den zuckenden Rüssel. Das Ungeheuer kreischte vor Schmerz auf, als es fühlte, wie sein empfindliches Riechorgan in den Käfig hineingezogen wurde.
Jasons leistete schnelle Arbeit und knotete den Rüssel an einem der Stäbe fest. »He du, Pelzige, wie war doch gleich dein Name, ach ja, Ludo, hilf mir hier doch!« schrie das Ungeheuer und peitschte dabei mit seinem langen, dünnen Schwanz über den reichverzierten Boden. Ludo kletterte vom Kissenberg herunter und überblickte die Szene. »Mein lieber Mha-kee«, sagte sie ernst, »o überlegener und mächtiger Herrscher über eine Million Schuppen, ich fürchte, Ihr sitzt in der Patsche!« »Ludo, das ist deine Chance!« rief Jason mit aufgeregter Stimme. »Öffne den Käfig, bevor er um Hilfe ruft! Verschwende jetzt nicht noch mehr Zeit!« Ludo schien keine Notiz von ihm zu nehmen. Sorgfältig besah sie sich den festgeknoteten Rüssel des Untiers. »Wenn ich versuchen würde, Euch zu befreien, o Unbarmherziger, würde ich mich dadurch ebenfalls gefangensetzen, o Fürst des Waldes. Ich wage es nicht, Euer königliches Riechorgan zu berühren, weil wir nämlich sonst beide Opfer dieses miesen, unbehaarten Geschöpfes würden.« Das Ungeheuer brüllte und wand sich vor Schmerzen. Sein Rüssel verfärbte sich zu blaßgrün und begann an der Spitze auszufransen. »Ach Ludo, bitte«, bettelte Jason. »Sei doch nicht so grausam und steh nicht untätig herum!« »Ich habe eine Idee«, sagte Ludo unvermittelt und kniete neben dem zischenden Ungeheuer nieder, das sich mit seinen ungeschlachten Klauen erfolglos an seinem eingeklemmten Rüssel zu schaffen machte. »Ich werde deine Diener, die Hände, zurückrufen. Sie werden dich aus den Fängen dieses unverschämten, schuppenlosen Miststücks befreien.« »Ludo«, winselte Jason. »Komm zurück!« Aber sie ging bereits auf das riesige Tor zu und drückte den schweren, grünen Griff nieder. Sie warf einen Blick in den Gang und stampfte dann mehrere Male mit dem Fuß auf. Die Hände schwärmten in großen Scharen herbei. Sie quiekten und schnippten mit den Fingern, stürzten sich dann auf den Käfig und begannen, ihn in Stücke zu reißen. Im Nu waren die Gitterstäbe auf dem Boden verstreut, und das stöhnende Ungeheuer kletterte mit viel Mühe auf seinen großen Kissenberg zurück, wo es seinen schmerzenden Rüssel hielt. Jason befreite sich und versuchte, zum offenen Tor zu kriechen, aber die Hände fielen in Schwärmen über ihn her und hielten ihn nieder. Sie zerrten
so lange an seinen Armen und Beinen, bis er ausgestreckt auf dem Boden lag. Er bäumte sich auf und wand sich verzweifelt, aber sie hielten ihn fest. Sobald ein Handtrupp erschöpft war und mit erschlafften Fingern zu Boden sank, stürmten die Hände, die hinter ihnen warteten, nach vorn, um mit großem Eifer ihren Platz einzunehmen. »Haltet ihn hoch!« zischte das Ungeheuer, »ich will sein Gesicht sehen.« Die Hände setzten sich in Positur und machten sich an die Arbeit, sie zogen und schoben, bis sie Jason an einer Holzwand hochgezogen hatten, die zwischen zwei Säulen befestigt war, und ihn dort hochhielten. Aufs Gitterwerk gespannt, war Jason ihnen wieder hilflos ausgeliefert. Die hellen, glasigen Augen Mha-kees, des Herrschers vom Wurzelwald, funkelten ihn bösartig an. Eine unerträglich lange, unheilschwangere Stille brach über Jason herein. Die Händeschar wartete andächtig auf neue Befehle von ihrem Herrn. Schließlich ergriff Ludo das Wort: »Mein lieber Mha-kee«, fragte sie, »wie verfahrt Ihr in derartigen Fällen?« »Sie sind ungewöhnlich«, zischte das Ungeheuer zwischen den Zähnen hervor, »wir haben dafür noch keine bestimmten Regeln. Ich werde mir etwas ganz Besonderes ausdenken müssen, um der Situation gerecht zu werden.« Dann hüllte er sich wieder in Schweigen. Nach einer langen Pause, die Jason wie eine Ewigkeit erschien, zischte er erneut. »Gewöhnlich schlagen wir den Opfern nur die Hände ab und geben sie dem Handflicker. Der prüft die Finger, und wenn er Gefallen an ihnen findet, vernäht er die Handgelenke und macht daraus ein Paar Klauen. Am Handgelenk bringt er einen ganz kleinen Mund an und in der Mitte der Handfläche ein Auge. Nach einer Woche haben sich die Hände dann von der Operation erholt und sind arbeitsfähig. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt habe ich ungefähr siebenhundert Hände, aber ein paar davon werden allmählich alt, schwach und runzelig. Ich bin ständig auf der Suche nach neuen Exemplaren.« »Und wenn Ihr die Hände abgetrennt habt«, fragte Ludo beiläufig, »was geschieht dann mit dem übrigen Leib?« »Wir werfen ihn den alten Händen zum Fraß vor«, antwortete Mha-kee. Dabei ließ er sich genießerisch in die Kissen zurücksinken und schob eine der blauen Früchte in das von Zähnen starrende Maul. »Es ist alles sehr ökonomisch. Kein Abfall. Keine Sauerei. Alles sehr sauber und praktisch.« »Und Ihr macht das nur mit nackten Händen?« fragte Ludo scheinheilig. »Na klar! Wir Schuppigen sind doch keine Barbaren. Für uns wäre es undenkbar, an einen anderen Schuppigen Hand anzulegen. Das wäre ja
entsetzlich! Ganz abscheulich! Wir sind viel zu sensibel dazu. Und was Kreaturen wie dich betrifft, die ein Fell haben, das sind natürlich gern gesehene Gäste.« »Natürlich«, murmelte Ludo vor sich hin, »ich verstehe.« »Nur diese niederen, nackten Wesen können wir so behandeln, ohne unsere vornehmeren Gefühle zu verletzen«, zischte Mha-kee beim Früchtemampfen. »Sie verfügen nur über einen äußerst primitiven Organismus und empfinden kaum Schmerz, wenigstens behauptet das der Flicker.« »Aber dieses Wesen hier hat Schmerzen verursacht, obwohl es keine empfinden kann«, erinnerte ihn Ludo lächelnd. »Tja«, antwortete Mha-kee gedehnt. »Das habe ich auch nicht vergessen, und deswegen wird es auch heute Abend eine ganz besondere Zeremonie geben. Etwas, das du nicht so schnell vergessen wirst, meine liebe Ludo, ein ganz exquisites Schauspiel, das verspreche ich dir. Aber nun muß ich mich ein wenig ausruhen. Der Schrecken, den ich eben erlebt habe, hat mich müde gemacht. Komm, wir ziehen uns jetzt zu den Dampffelsen zurück und lassen uns eine Handmassage geben. Dann schlafen wir und verdauen unser Essen.« Sie verschwanden jenseits des Kissenbergs, und Jason war wieder sich selbst überlassen. Nur die Händeschar war noch um ihn und hielt ihn fest. Also war Ludo doch keine Freundin, dachte er. Sie hatte ihn hierher belockt, was für ihn den sicheren Tod bedeutete. Der Wurzelwald war also sein Schicksal. Nur seine Hände würden weiterleben und für diesen abscheulichen, schuppenbedeckten Tyrannen Sklavendienste verrichten und kämpfen. Er seufzte und sackte vor dem hölzernen Gitter zusammen. Es lohnte sich nicht mehr zu kämpfen. Nun konnte er nur noch abwarten.
10. Das Hautgrab Völlig erschöpft döste Jason unruhig vor sich hin. Wie in einem Traum sah er Ludo geräuschlos auf sich zugleiten und ihn anlächeln. »Jason«, flüsterte sie, »sei leise und schrei bloß nicht.« Jason fuhr mit einem Ruck auf. Er träumte nicht. Es war wirklich Ludo. »Jetzt hör mal gut zu. Mha-kee schläft, und es gelang mir, mich davonzuschleichen. Ich konnte vorher nicht sprechen. Wenn er auch nur den geringsten Verdacht
geschöpft hätte, wäre es um uns beide geschehen gewesen. Es tut mir leid, daß ich uns in diese mißliche Lage gebracht habe, aber ich werde schon noch etwas deichseln können, ich weiß nur noch nicht, was. Wir müssen einfach ganz geduldig unsere Chancen abwarten. Die ganzen Gemächer hier werden von siebenköpfigen Schlangen bewacht. Du mußt mir vertrauen. Ich werde schon einen Ausweg finden. Verzeih mir.« »Verzeih du mir.« »Wofür?« »Daß ich gedacht habe... Ach, es ist nicht wichtig. Vergib mir nur, das ist das Wichtigste.« Ludo zuckte mit der Schulter. »Was auch immer du von mir gedacht hast, ich habe es mehr als verdient.« »Warum versuchen wir jetzt nicht zu fliehen?« beschwor sie Jason. »Zusammen könnten wir doch diese Hände überwältigen.« »Das bezweifle ich«, sagte Ludo, »und außerdem wird der Palast sehr streng bewacht, wenn er schläft. Die Wachen können jeden Moment hier aufkreuzen und dich inspizieren. Wenn wir jetzt etwas versuchen, verspielen wir jegliche Chance. Wir müssen bis später warten.« »Aber was ist mit der Zeremonie?... Er wird mich foltern und töten lassen, und dann werden mich diese abscheulichen Hände auffressen, die immer in Scharen über mich herfallen. Wir können einfach nicht mehr länger warten!« »Vertraue mir«, beschwor ihn Ludo, »du mußt mir vertrauen. Ich werde mir vorher noch etwas ausdenken.« Und weg war sie. Jason wurde von bangen Zweifeln geplagt. Konnte er Ludo auch wirklich trauen? Sollte er nicht vielleicht versuchen, allein zu fliehen? Er war drauf und dran, noch einmal eine letzte, verzweifelte Anstrengung zu machen, um einen Arm freizubekommen, als er etwas von hinten auf sich zugleiten hörte. Er wurde ganz starr vor Schreck und wartete ab. Etwas schlüpfte ganz langsam zwischen seinen Beinen hindurch und rieb sich an seiner Haut. Als es sich dann vor ihm aufrichtete und er es sah, schrie er vor Entsetzen auf. Die sieben Köpfe einer riesigen Schlange bewegten sich langsam vor Jasons Gesicht hin und her. Sieben Zungen, jeweils mit einer dreigeteilten Spitze versehen, flatterten ihm entgegen. Jasons Aufschrei hallte im ganzen Palast wider. Ludo, die sich gerade wieder geräuschlos auf dem Dampffelsen neben dem unförmigen, schlafenden Ungeheuer niederließ, erschauerte. Sollte sie zu Jason zurückkehren? Was machten sie mit ihm? Das Ungeheuer fing an sich zu
bewegen, und Ludo schloß schnell die Augen. Ihr Fell sträubte sich, als sie Jasons Schrei in der Ferne hörte. Sie packte sich selbst bei den Hörnern, vergrub den Kopf in den Armen und biß die Zähne zusammen. Heute Nacht. Sie mußte ihn heute Nacht retten. Ludo hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sich der Mha-kee erhob und streckte. »Sssss-uaaahh«, gähnte das große Reptil. »Essen. Bringt mir was zu essen!« Wie durch Zauberei erschienen in aufrechtem Gang große Eidechsen mit einem Kamm auf dem Kopf. Das Gleichgewicht hielten sie mittels ihrer breiten, stachligen Schwänze. In den Händen trugen sie flache Steine, auf denen es vor Insekten wimmelte. Der Mha-kee ließ seine lange Zunge hervorschnellen, über die Oberfläche der Steine gleiten und schaufelte massenweise Ungeziefer in sich hinein. In ein paar Minuten waren alle Insekten verschwunden, und die Eidechsen zogen sich diskret zurück. »Das war köstlich. Wirklich köstlich!« sagte der Mha-kee schmatzend. »Legt mir meinen Mantel um!« dröhnte er, worauf dann zwei Eidechsen wieder auftauchten. Sie trugen einen riesigen, bunten Umhang. In großer Eile, aber mit viel Geschick legten sie ihn Mha-kee um. Andere kamen herbei und trugen etwas, das wie eine Hängematte aussah, und hievten das Ungeheuer hinein. Sie formten einen Zug, der sich langsam in Bewegung setzte. Bei jedem Schritt zischten sie. Ludo folgte ihnen auf dem Weg zum Thronsaal. Als sie eintraten, sah sie sich besorgt um. Jason befand sich immer noch in der gleichen Stellung, aber sein Gesicht war müde und sah abgespannt aus. »Sein Gesicht«, rief Ludo. »Was soll damit sein?« fuhr sie Mha-kee an. »Ach nichts. Es sieht nur anders aus. Das ist alles.« »Hmmm. Seltsam. Ich frage mich, warum du dich plötzlich um so etwas Nebensächliches kümmerst«, zischte der Mhakee und ließ sich dabei aus der Hängematte herausgleiten und auf den Kissenberg herunterplumpsen. »An sich ist mir sein Gesicht wirklich egal. Mir ist es eben nur so aufgefallen. Das ist schon alles«, wandte Ludo ein, die erkannte, daß sie in Schwierigkeiten kommen konnte, wenn ihre Ansichten zu leicht erkennbar würden. »Quatsch, wir bemerken nur das, was für uns wirklich von Bedeutung ist. Keiner hat sich jemals mit etwas befaßt, in das er nicht auf die eine
oder andere Weise gefühlsmäßig verwickelt gewesen wäre. Stimmt's oder habe ich recht, meine liebe Ludo?« »Ja, natürlich, Ihr habt wie immer recht, o Ruhmreicher, und ich muß Euch nun ein Geständnis machen. In Wirklichkeit...freue...ich mich vielleicht zu sehr auf den Augenblick, in dem ich mir aus diesem Gesicht einen Festschmaus bereiten werde, vorausgesetzt natürlich, daß es die Hände entbehren können, wenn sie nach dem Abschlagen der Hände den übrigen Körper unter sich aufteilen. Es ist das appetitlichste, saftigste Gesicht, das ich seit langem gesehen habe, und ich befürchtete nur, daß Ihr ihn zu lange hängen laßt und sein Gesicht zu schrumpfen, zu welken und auszutrocknen anfängt. Das, muß ich Euch gestehen, war mein wahres Interesse, aber als Euer untertänigster Gast habe ich es als zu unverschämt empfunden, dies zu erwähnen.« »Aber nicht doch! Du ernährst dich also von Gesichtern? Sehr interessant. Wie hast du sie am liebsten, grinsend oder stirnrunzelnd?« fragte der Mha-kee, der nun wieder vollkommen beruhigt war. »Möglichst verzerrt. Aber im entscheidenden Moment hat man eben keine Wahl.« »Du ißt sie also lebendig?« »Klar, sie verlieren ihre frische Farbe sonst so schnell.« »Höchst ungewöhnlich. Du mußt mich wirklich öfters besuchen. Mir fehlt gegenwärtig der Umgang mit anspruchsvollen, kultivierten Wesen. Aber hören wir auf zu schwatzen, schreiten wir zur Tat. Wir verschwenden kostbare Zeit.« Die Eidechsen hüpften zu den großen Toren hinüber und öffneten sie. Eine wartende Menge stürzte herein. Sie_ bestand aus Schuppigen verschiedenster Art und Große. Schleifend, zischend und drängelnd verteilten sie sich über alle Winkel des Thronsaals und reckten erwartungsvoll die Köpfe nach vorn. »Strafen«, kreischte der Mha-kee, »ist das große Reinigungsmittel. Durch Strafen wird man wieder rein.« Ohne Jason anzusehen, fuhr er fort: »Du schleimiger, schuppenloser Hautsack hast gewagt, schweres nasenmäßiges Leid über diese königliche, ja göttliche Person zu bringen. Dir wird die schlimmste Strafe, die an meinem Hof bekannt ist, auferlegt, bevor dir die Hände abgehackt werden. Ich verdamme dich zu einem Statischen Wirbel. Das Urteil soll sofort und mit aller Starke durchgeführt werden. Ruft die Musiker!« Aufgeregtes Zischen und Gekeuche erfüllte den Thronsaal. Schlanke Körper begannen sich erwartungsvoll zu wiegen und zu schütteln. »O
Schlüpfriger und Wunderbarer, o Ehrfurchtgebietender und Erstaunlicher«, sagte Ludo so ruhig, wie es ihr möglich war... »Ja, ja. Macht weiter. Brecht jetzt nicht ab! Ich liebe es, ich liebe das über alles«, zischte der Mha-kee, der sich nun bequem in seine Kissen schmiegte, um die Hofkapelle zu erwarten. »O furchterregendes, gekröntes Haupt, o herrlicher Sultan, o edler Nabob, o majestätischer Monarch...« »Mehr! Ich will noch mehr davon! Meine Schuppen kringeln sich dabei vor Lust. Mehr!« »O ruhmreicher Großwesir, o würdevoller Souverän, o fürstlicher Potentat, o gefürchteter Diktator, o wunderbarer Mikado, o stattlicher Oberherr, o...« »Ich sterbe vor Stolz. Mehr, mehr, mehr!« »O Zar aller Wälder, Radscha der Reptile, Cäsar der Kaltblütigen, Gleitherrscher der Schlangen, Kanzler der Krokodilartigen, Doyen der Dinosaurier, Führer der Eidechsen, o höchstes Wesen in der Dampfwelt der Schuppigen, o Despot, o über alles geliebter Mha-kee...« »Ach, welch ein Vergnügen! Welch vortreffliche Poesie! Alles die reinste Poesie. Ich bin so gerührt, daß ich mich am liebsten häuten würde. Jetzt aber Ruhe! Unser ehrenwerter Gast will eine Frage an meine königliche Person stellen. Nun mach schon, heraus mit der Sprache!« »Ach... ich hab' ganz vergessen, was ich fragen wollte«, sagte Ludo, »ja, doch, jetzt erinnere ich mich wieder... könnt Ihr mir ganz genau erklären, was ein Statischer Wirbel ist?« »Aber ja. Du kennst diese Art von Urteil wohl nicht? Es wird in der Form eines Tanzes vollstreckt, der von den königlichen, siebenköpfigen Schlangen durchgeführt wird. - Hier sind sie ja schon. - Und was für ein Tanz das ist! Die Schlangen sind hypnotisiert, einfach faszinierend.« »Aber inwiefern soll dadurch der Täter bestraft werden? Ich erblicke darin nicht...« »Während des Tanzes wird er von den Handsklaven festgehalten. Er kann sich nicht bewegen.« Der ganze Hofstaat stöhnte bei Mha-kees Worten, aber Ludo hatte immer noch nicht begriffen. »Der Gefangene wird durch Hypnose gezwungen, sich am Tanz zu beteiligen, aber kann natürlich kein Glied bewegen, weil ihn die Hände festhalten. Die Todesqualen, die er erleiden wird, sind unbeschreiblich.« »Ach so«, sagte Ludo, die nun endlich begriffen hatte.
»Es ist die Strafe der Untersagung, die schwerste, die es bei uns gibt. Hier im Wurzelwald ist es die schlimmste Strafe, wenn man etwas nicht tun kann, was man gerne tun möchte. Es gibt keine größere Qual. Besonders im vorliegenden Fall ist diese Strafe legitim. Nun, ich wäre soweit. Wendet er auch das Gesicht den Musikern zu? Der Tanz kann beginnen!« Beschwörende Klänge erfüllten den Saal, und aus den Ecken glitten die langen, muskulösen Schlangen mit ihren glänzenden Leibern hervor. Im Takt der Musik richteten sie sich auf und begannen ihre mächtigen Körper hin und her zu wiegen und zu winden. Als das Tempo zunahm, wurden ihre schlängelnden Bewegungen immer rasender, bis sie schließlich mit solch hypnotischer Kraft durch die Luft wirbelten, daß sich Ludo unwillkürlich zu ihnen hingezogen fühlte. Alle Höflinge wiegten sich im Rhythmus der hypnotisierenden Musik. Sie konnten einfach nicht anders. Plötzlich schrie eine schuppenbedeckte Schildkröte ohne Panzer laut auf und begann sich immer schneller im Kreise zu drehen. Andere Reptilien folgten ihrem Beispiel und wirbelten immer schneller herum, bis sie die Kontrolle über ihre Bewegungen verloren. Ludo wurde von dem pulsierenden Rhythmus so heftig mitgerissen, daß sie Jasons Mißgeschick völlig vergaß. Sie wirbelte mit den anderen durch die Luft. Dabei lachte, schrie und sang sie zur Musik. Sogar der Mha-kee bewegte seinen schweren Körper. Das Ungeheuer drehte und walzte sich auf seinem weichen Kissenhügel. Als sie gerade wie ein lockerer Deckel auf einem kochenden Topf herumwirbelte, hörte Ludo durch ihre hypnotische Umnebelung einen durchdringenden Schmerzensschrei. Sie versuchte verzweifelt, ihrer Sinne wieder Herr zu werden, die Erinnerung an Jason durchzuckte ihr Gehirn. »Jason!« rief sie und setzte dabei alles aufs Spiel. »Jason, ich kann nicht aufhören. Wo bist du?« Beim Weiterdrehen sah sie seine verschwommene Gestalt für den Bruchteil einer Sekunde, aber sie konnte keine Einzelheiten erkennen. Sie bekam nur den verschwommenen Eindruck einer sich windenden menschlichen Gestalt, die durch eine Unzahl von Händen festgehalten wurde. Plötzlich verstummte die Musik ganz abrupt. Alle Höflinge fielen zuckend und sich windend zu Boden. Einen Augenblick lang blieb auch Ludo dort liegen, keuchend, weil sie in dem heißen Dampf kaum mehr atmen konnte. Dann stützte sie sich mit Mühe auf einen Ellbogen. Jason bewegte sich nicht. Sein Körper war unnatürlich verdreht und sein Kopf
nach vorne gesunken, so daß sein schmerzverzerrtes Gesicht halb verdeckt war. Ludo konnte zusehen, wie er gerade zusammensackte und ohnmächtig wurde. Sie kroch zu ihm hinüber. »Oh, das war ganz großartig«, hörte sie den Mha-kee unter einem Durcheinander von Kissen hervormurmeln. »Das war ja ganz großaaartig!« Zum Glück schien niemand bemerkt zu haben, daß Ludo während des Tanzes nach Jason gerufen hatte. Sie war immer noch in Sicherheit, aber sie beide durften nun keine Zeit mehr verlieren. Jason war zwar immer noch unverletzt, aber sie wußte nicht, wie übel er durch den Statischen Wirbel zugerichtet worden war. Sie hätte schon viel früher handeln und keine abwartende Haltung einnehmen sollen. Aber was hätte sie schon tun können? Wichtiger war allerdings, was sie nun tun konnte. »Ich glaube, ich bin jetzt wieder zu einem Wirbel bereit«, zischte der Mha-kee. Mühsam richtete er sich auf, um sich seine Höflinge anzusehen, die erschöpft auf dem Boden herumlagen. »Wie steht's mit euch? Auch noch einen Wirbel? Gut, gut. Ich glaube, wir sollten den Dampf noch ein bißchen erhitzen, damit wir vollends aus dem Häuschen geraten.« »Aber er kocht ja bereits«, wandte Ludo ein, über deren Gesicht der Schweiß in Strömen rann. Aber der Mha-kee ließ sich nicht beirren. »Stellt die Heizkäfer an, die Bereitschaftsdienst haben!« befahl er. »Es muß heißer sein, wenn wir noch schneller tanzen wollen.« Das brachte Ludo auf einen guten Gedanken. Wenn die erhitzte Luft die Reptilien zu schnelleren Bewegungen anfeuerte, so folgte daraus, daß die kalte Nachtluft außerhalb des Palastes ihre Bewegungen verlangsamen würde. Sie sah nach oben und entdeckte, daß die Kuppel des Thronsaals aus Kristallscheiben bestand. Sie schleppte sich zu einer Glasscheibe hinüber, die nicht so hoch droben war, nahm eine schwere Steintasse und schleuderte sie, ohne zu zögern, mit letzter Kraft nach oben. Sie hinterließ ein gezacktes Loch in der Kristalldecke. Sofort entstand ein gewaltiger Luftzug, der im Vergleich zum heißen Dampf im Inneren des Raumes eiskalt war. »Temperaturalarm!« kreischten die Höflinge, die sich eilends erhoben.»Temperaturalarm! Alle Hände zum Dach!« Aber jede Hilfe kam zu spät. Obwohl sich das Heer von Händen sofort an die Arbeit machte, sackte die riesige reptilartige Gestalt Mha-Kees und die seiner Gefolgsleute in sich zusammen und verharrten in einem erstarrten Zustand. Ihre Bewegungen wurden immer langsamer, bis sie schließlich ganz aufhörten.
Ludo stieg über die bewegungslosen Körper, die am Boden herumlagen. Ohne daß es die eifrig beschäftigten Hände bemerkten, schleifte sie den ohnmächtigen Jason in den Korridor hinaus. Die kühle Luft, die geholfen hatte, die Reptilien zu bezwingen, zeigte die entgegengesetzte Wirkung bei Jason, der sich bald wieder erholte, wobei ihm auch Ludos wiederbelebende Schläge halfen. »Los, wach endlich auf! Das ist unsere Chance zur Flucht, während die Hände auf dem Dach arbeiten. Bitte, wach endlich auf!« Jason erhob sich schwankend und wurde von Ludo in einen verschlungenen Seitengang, der sich nach allen Richtungen verzweigte, halb hineingezogen und halb getragen. »Wohin geht's?« keuchte Jason. Es waren die ersten Worte, die er seit der Qual durch den Statischen Wirbel hervorbrachte. »Hier runter, schnell. Der Gang führt zu dem Hauptgrab, das ist der Ort, an dem die alten Häute des Mha-kee aufbewahrt werden.« Sie rannten so schnell, wie es Jasons Zustand zuließ, einen gewundenen Tunnel hinunter. Am anderen Ende befand sich ein massives Bronzetor, das mit bunten Juwelen besetzt war. Die Steine waren so geformt, daß sie wie die Schuppen von Reptilien aussahen. In der Mitte der Tür befand sich ein schwerer Türklopfer, für den Mha-kees Kopf Modell gestanden hatte. Ludo klopfte viermal, worauf sich die Tür langsam und ächzend öffnete. »Ich werde sie morgen ölen. Bestimmt. Ich weiß, daß ich dies schon öfters gesagt habe, aber dieses Mal werde ich es bestimmt tun. Ich verspreche es. Ich verspreche es hoch und heilig. Einen Augenblick...« Der Wächter des Hauptgrabes blinzelte die beiden an, denn ihm wurde plötzlich bewußt, daß sie Fremde waren. »Wer seid ihr? Was wollt ihr hier?« Er war ein kleines, verschlafen aussehendes Geschöpf mit weißen Schuppen und verquollenen, rosafarbenen Augen. »Keine Sorge«, flüsterte Ludo Jason ins Ohr. »Der Mha-kee hat mir von diesem Ort erzählt. Ich weiß, was ich tun muß.« Daraufhin wandte sie sich dem Grabwächter zu und sagte zu ihm in eindringlichem Ton: »Der Mhakee häutet sich gerade ... früher als erwartet... er hat sich überfressen... Wir wurden schon vorausgeschickt, um Vorbereitungen für das Begräbnis zu treffen. Sind die Schlangen, die das Grab ausheben, einsatzbereit?« »O weh, nein! Nichts ist bereit. Also häuten tut er sich? O weh! Aber... das darf doch nicht wahr sein! Er ist doch erst in einer Woche dran. O weh.«
»Jetzt reg dich bloß nicht auf. Darum sind wir ja hier, um dir unter die Arme zu greifen. Zeig uns den Weg zum neuen Zimmer.« »O weh. O weh. Es kann ja gar nicht rechtzeitig fertig werden. Kommt und seht es euch selbst an«, meckerte der triefäugige Grabwächter vor sich hin und schlurfte einen Seitengang entlang. Jason und Ludo tauschten vielsagende Blicke miteinander aus und betraten dann das Hauptgemach des Hautgrabes. Die schwere Tür machten sie hinter sich zu. Dann folgten sie dem Grabwächter durch das Labyrinth der Gänge. Sie schwiegen, denn offensichtlich versuchten sie beide krampfhaft, sich einzuprägen, wie oft sie nach links oder rechts abgebogen waren. Sie gingen an vielen Türen vorbei, von denen jede mit einem Abbild Mha-kees versehen war, das in Schlangenstein gehauen und mit schuppenförmigen Juwelen besetzt war. »Einundfünfzig, zweiundfünfzig, da wären wir... Dreiundfünfzig«, sagte der Grabwächter. »Das ist jetzt seine dreiundfünfzigste Häutung. Und wenn er in diesem Tempo weitermacht und sich andauernd so vollfrißt, daß er dabei gleich immer aus allen Nähten platzt, muß er mir bald eine neue Mannschaft von Zimmergräbern zur Verfügung stellen. Die, die ich jetzt habe, sind vom Graben so gut wie völlig abgearbeitet.« Er stieß die Tür auf, worauf sich drinnen ein feindseliges Zischen erhob. Das dreiundfünfzigste Zimmer war nur halb ausgehoben, und loses Geröll lag auf dem unebenen Boden herum. Ein paar Gräberschlangen, die in einer Ecke in einem Knäuel zusammenlagen, glitten langsam auseinander und machten sich ohne großen Eifer an den Wänden des Grabes zu schaffen. »Seht ihr, was ich meine?« klagte der Grabwächter. »Sie sind sogar zu faul, um sich in Korkenziehermanier zu drehen. Seht zu, daß ihr fertig werdet, ihr Faulpelze!« Widerwillig folgten die Schlangen seinen Anweisungen und drehten sich spiralenförmig. Sie stemmten sich nun auch fester gegen die Wand und rotierten wie Drillbohrer. »Das ist schon viel besser. So sollte es eigentlich immer sein.« Er putzte sich die Nase mit einem schwarzen Spitzentaschentuch. »Ich muß eben dabei auf sie aufpassen und kann sie keinen Augenblick allein lassen.« »Wir können auf sie aufpassen. Du kannst dich solange ausruhen. Du siehst so aus, als ob du auch ein bißchen Ruhe brauchtest«, sagte Ludo mit freundlicher Stimme.
»Ja, das stimmt. Das ist sehr freundlich von euch. Ihr wißt ja, wo ich bin, wenn ihr mich braucht.« Dankbar schlurfte er davon. »Was nun?« fragte Jason und schwankte dabei leicht hin und her. »Du siehst immer noch ziemlich mitgenommen aus«, sagte Ludo. »Also bleibst du hier und paßt auf sie auf. Ich bin gleich wieder zurück.« Bei diesen Worten eilte Ludo aus dem Raum und verschwand im Gang. Jason hörte Geräusche und befürchtete, daß Ludo damit den Grabwächter aufwecken würde. Aber nach kürzet Zeit kam sie wieder zurück und schleifte eine riesige, ausgetrocknete Haut hinter sich her. »Das ist die Haut, die er zuletzt abgeworfen hat«, erklärte sie, »also ist sie noch verhältnismäßig frisch. Wenn wir sie um uns herumwickeln, sehen wir dem Mha-kee ähnlich genug, um fliehen zu können.« »Das wird uns keiner abnehmen«, wendete Jason ein. »Ich habe mein Möglichstes versucht«, sagte Ludo verzweifelt. »Es ist unsere einzige Hoffnung. Ich weiß, daß du erschöpft bist, aber es gibt keinen anderen Ausweg. Du übernimmst die Hinterbeine dieser Haut. Beug dich nach vorn, halt dich an mir fest. Los, beeil dich.« Der Grabwächter schnarchte zufrieden, als sie durch das Hauptgemach gingen, die Eingangstür aufrissen und mutig nach draußen gingen. Zu ihrer großen Erleichterung wehte die Luft im Palast immer noch kühl, und seine Bewohner waren immer noch benommen und bewegten sich nicht. Die beiden wurden auf ein Rascheln aufmerksam, das aus dem Thronsaal kam, wo ein Heer von müden Händen, von denen einige Handschuhe trugen, um sich gegen die Kälte zu schützen, immer noch damit beschäftigt waren, das Loch im Dach zu reparieren. »Hier geht's lang«, sagte Ludo und schleppte den halb bewußtlosen Jason hinter sich her, zum Ursprung des Geräusches. Die Hände wurden ganz starr vor Erstaunen, als sie plötzlich ihren Herrn vor sich sahen, der sie vom Eingang des Thronsaals aus anfunkelte. »Hört sofort damit auf!« zischte Ludo. »Führt mich zum Rand des Waldes. Ein bißchen plötzlich, oder ich beiße euch die Nägel ratzekal ab.« Die Hände zögerten, warfen verstohlene Blicke auf den wirklichen Mha-kee, der bewegungslos auf seinen Kissen lag und dann auf diese neue Erscheinung, die am Eingang stand und ihnen drohte. Einige von ihnen begannen verlegen mit den Fingern auf den Boden zu trommeln. »Wenn ihr mir nicht gehorcht, wird euch die Haut von den Knöcheln abgezogen, eure Daumen werden verdreht und die übrigen Finger gebrochen. Also los!«
Die Hände schüttelten sich vor Grauen und schritten zur Tat, indem sie von dem offenen Loch im Dach abließen, so daß noch mehr kühle Luft hereinströmte. Sie stolperten so schnell sie konnten davon. »Das gibt uns einen gewaltigen Vorsprung«, sagte Ludo zuversichtlich, als sie in den Wald vordrangen und das Heer von Händen den Weg vor ihnen räumte. Die Hände führten sie innerhalb einer Mulde entlang, wo sie vor den Fangarmen der Wurzeln sicher waren. Am Waldrand richtete sich der falsche Mha-kee noch einmal an die versammelten Hände. Es war Ludo, die sprach. »Jetzt hört mal gut zu. Ich muß euch etwas Wichtiges mitteilen. Ihr habt gute Arbeit geleistet, und ich werde allen Händen großmütig verzeihen, wenn mir eine von euch, egal welche, den Weg zu den Goldenen Würmern zeigt. Bevor euch der Flicker verwandelt hat, habt ihr Personen gehört, die aus den verschiedensten Gegenden kamen. Unter euch muß also eine sein, die den Ort kennt, von dem ich spreche. Wenn diese Hand jetzt vortritt, seid ihr alle frei und könnt tun, was ihr wollt. Dann müßt ihr nie mehr für mich schuften. Wenn diese Hand sich aber nicht zu erkennen gibt, werdet ihr bis in alle Ewigkeit Sklaven bleiben.« Ludo und Jason hielten den Atem an, während die Hände herumzappelten und miteinander flüsterten. Dann sahen sie, wie sich vom hinteren Ende eine knorrige, alte Faust ihren Weg durch die Menge bahnte, ausspuckte und sich vor dem falschen Mha-kee verbeugte: »Vor langer Zeit«, sagte die Faust, »hat man mir von einer Insel im Langen See erzählt, das ist dort, wo die Kopfjäger leben. Auf der Insel, hieß es, befände sich eine goldene Schachtel, die mit Goldenen Würmern gefüllt wäre. Diese würden an besonderen Festtagen von den Inselbewohnern um den Hals getragen und... aber das ist schon lange her... und ... das ist alles, was ich noch weiß.« »Gibt es keine Hand, die dem etwas hinzufügen könnte?« zischte Ludo ungehalten. Die Menge schwieg, bis zuletzt eine winzige, mollige Hand piepste: »Mir wurde gesagt, daß die Goldenen Würmer im Helm des Bildhauers leben.« Die anderen kicherten nervös. Eine andere Hand, die sogar noch kleiner und kaum größer als die eines Zwergaffen war, drängte sich dann wichtigtuerisch vor und sagte mit quäkender Stimme:
»Mir hat man aber erzählt, daß sich die Goldenen Würmer in den Kissen des Mha-kee verbergen.« Ein helles Gelächter ging durch die Menge. »Aber ich bin doch der Mha-kee, du dumme Pfote, und wenn die Goldenen Würmer im Wurzelwald wären, wüßte ich es bestimmt. Nun höre mit diesem Unsinn auf, oder ich werde dich so lange drücken, bis du in Schweiß gebadet bist. Jetzt aber Ruhe, und alles mal herhören: Offenbar habt ihr mir ja wirklich wenig zu sagen, aber ich will Milde walten lassen. Ihr habt euren guten Willen gezeigt und euer Möglichstes versucht, und das ist genug. Ich begnadige euch. Ihr könnt nun gehen... der Wurzelwald gehört euch.« Die Hände spendeten begeisterten Applaus. Die große Menge teilte sich in Paare, die laut klatschten. Der falsche Mha-kee nickte gnädig, wandte sich um und schritt majestätisch von dannen. Die Hände schüttelten sich gegenseitig mit großer Wärme, winkten dem scheidenden Herrscher frohgemut nach und begannen sich dann im Gehölz zu zerstreuen. Als sie außer Sichtweite waren, streiften Jason und Ludo Mha-kees Haut ab und begruben sie im rosafarbenen Sand. Dann machten sie sich in Richtung Wüste auf. Nach etlichen Kilometern kamen sie zu einem ausgetrockneten Flußbett, zu dem sie sich hinuntergleiten ließen. Jason fühlte sich nun schon sehr viel besser, denn die Bewegung hatte den Krampf in seinen Gliedern gelöst, den er während seiner Folterung erlitten hatte. Ludo war dagegen vollkommen erschöpft. Die seelische Anspannung während der Flucht aus dem Palast machte sich nun bemerkbar. Sie ruhten sich daher im Schatten eines vorspringenden Felsens aus. »Was meinst du zu den Antworten, die dir die Hände gegeben haben?« fragte Jason. »Hältst du sie für überhaupt bedenkenswert?« »Ich weiß nicht so recht. Keine der Hände hat die Antworten der beiden letzten ernst genommen, aber an der Bemerkung der alten Faust war wohl was Wahres dran. Es gibt einen Langen See, in dem sich auch wirklich ein paar Inseln befinden, aber ich kenne niemand, der jemals dort gewesen ist. Das eine Ende des Sees ist hier ganz in der Nähe, aber das Gerücht geht um, daß noch niemand das andere Ende erreicht hat. Es muß sehr weit weg sein. Das heißt aber gleichzeitig, daß man auch die Entfernung der Inseln nicht richtig abschätzen kann.« »Gibt es dort Boote?«
»Es gibt einen kleinen Fischereihafen auf dieser Seite des Sees. Wir könnten es dort versuchen, wenn du meinst, daß es sich lohnt.« »Wir haben kein lohnenderes Ziel.« »Das stimmt. Nun gut, dann eben auf zum See. Aber ich muß dir noch eines sagen: Ich kann nicht sehr weit schwimmen. Mein Pelz saugt sich voll, und dann gehe ich unter.« »Dann müssen wir eben ein solides, seetüchtiges Boot suchen.« »Oder selber eines bauen«, schlug Ludo vor. »Nun, wir werden ja sehen. Aber ich glaube, daß wir die Nacht besser hier verbringen und erst am Morgen weitergehen. Hier sind wir geschützt, und dort drüben liegen auch ein paar umgefallene Baumstämme mit weichen Zweigen.« Sie versuchten die Zweige abzubrechen, um sich daraus ein Lager zu machen, aber es gelang ihnen nicht. Sie legten sich also auf die bloßen Baumstämme und schliefen sehr schnell ein. Während sie von Booten, Inseln und goldenen Schachteln träumten, die mit Goldenen Würmern gefüllt waren, bahnte sich ein Rinnsal seinen Weg um die Biegung des staubigen Flußbetts und floß geräuschlos auf Ludos und Jasons Lager zu.
11. Der Hafen am Langen See Di-dum, di-dum-dum-dum.« Jason und Ludo wurden durch den Gesang einer tiefklingenden Stimme geweckt. »Di-dum, di-dum, di-dum-dumdum«, sang sie. »Di-dum, di-dum, di-dum-dum. Einen schönen guten Morgen. Guten Morgen. Kann ich euch vielleicht ein bißchen Glück verkaufen, an diesem schönen, sonnigen Tag?« Ludo und Jason setzten sich mit einem Ruck auf und blinzelten verschlafen in das helle Licht. Die Stämme, auf denen sie geschlafen hatten, glitten sanft an der Oberfläche des Flusses dahin, dessen Wasserpegel über Nacht auf wundersame Weise angestiegen war. Neben ihnen trieb ein großes braunes Tier im Wasser, das zwei Köpfe hatte. Es lag auf dem Rücken und hatte ein Brett mit Kieselsteinen auf dem Bauch. »Wo sind wir eigentlich?« fragte Ludo, die sich ängstlich an ihrem Baumstamm festhielt. »Und wo kommt das ganze Wasser her?« »Ihr seid gar nicht weit von La-se-Ha«, antwortete das braune Tier in freundlichem Ton, »und das Wasser fließt hier, weil der Damm gebrochen ist. Ich muß es wissen, denn ich habe ihn ja eingerissen, mit einem dieser
glückbringenden Kieselsteine natürlich. Wollt ihr mir einen davon abkaufen?« »Aber diese Steine liegen doch überall herum«, sagte Jason verschlafen. »Man braucht sie nur aufzulesen. Warum sollten wir dir dann ausgerechnet einen abkaufen wollen?« »Weil sie Glück bringen. Das sind eben keine ganz gewöhnlichen Steine. O du meine Güte, wirklich nicht. Ich mußte sechzig Meter tief in den Langen See hinuntertauchen, um diese heraufzuholen. Es sind ganz besondere Exemplare. In welcher Farbe wollt ihr sie? Rostrot? In heller Schlammfarbe? Oder vielleicht in diesem Schlammgrau?« »Wozu sollen die denn gut sein?« fragte Ludo und schnupperte dabei in deren Richtung. »Sie bringen Unglück«, sagte das braune Tier. »Aber natürlich nicht dir, du Dummerchen, sondern deinen Feinden. Du wirfst ganz einfach den Stein, und dann kracht's. Kann ich dich vielleicht für diesen dunkelgrünen begeistern? Sehr solides Material, garantiert großes Unglück mit diesem.« »Wieviel kostet er?« fragte Jason. Er hoffte, daß, wenn er ihn kaufte, das übertrieben freundliche Wesen seines Weges gehen und sie in Frieden lassen würde. »Wieviel hast du dabei?« »Ich gebe dir einen von diesen«, sagte Jason und suchte dabei in der Tasche an seinem Gürtel nach einem Wüstenkristall. Er zog einen kleinen gelben heraus und gab ihn dem braunen Tier. »Aber... das ist ja nur ganz gewöhnliches Wüstenglas oder -schweiß. Von diesen gibt es ja unendlich viele über die ganze Wüste verteilt«, maulte das braune Tier. »Aber nein«, erwiderte Jason, »dieser stammt vom Schauplatz des größten Geysir-Sturms, den das Innengestein jemals heimgesucht hat. Mir wurde ein Vermögen für diesen Kristall geboten. Erst neulich hat mir der große Mha-kee vom Wurzelwald all seine Handsklaven zum Tausch angeboten, nur damit er den Kristall in der Mitte des Haupttors an seinem Hautgrab anbringen könnte.« »Ach, dieser alte Schurke! Ich habe gehört, daß jemand sein Kapital eingefroren hat. Aber in Kristallen kennt er sich aus, das muß ich ihm lassen. Nun gut«, murmelte das braune Tier vor sich hin und händigte Jason nur sehr zögernd den grünen Kieselstein aus. Mit den Augen in seinen beiden Köpfen unterzog es den gelben Kristall einer gründlichen
Prüfung und sagte dann schließlich: »Nun, ich glaube, das war ein fairer Tausch.« »Unglaublich fair«, erwiderte Jason. Den unscheinbaren Kieselstein besah er sich nur ganz kurz und schob ihn dann in seine Gürteltasche. Während des ganzen Tauschhandels hatte er nur mit dem linken Kopf des Tieres verhandelt. Der rechte Kopf des Geschöpfs hatte keinen Laut von sich gegeben, offensichtlich war er vollkommen desinteressiert, abgesehen von dem flüchtigen Blick, den er auf den Kristall geworfen hatte. »Gibt eigentlich dein rechter Kopf auch manchmal etwas von sich?« fragte Jason, der nicht unhöflich erscheinen wollte, aber doch sah, daß der Steinverkäufer keinerlei Anstalten machte, weiterzuschwimmen. »Nur sehr wenig. Ich bin nämlich linksköpfig. Von Geburt an. Aber er denkt viel für mich mit, und wenn sonst keiner da ist, habe ich zumindest jemand, mit dem man sich unterhalten kann, obwohl er nicht oft antwortet.« »Ist das Tauchen nach Kieseln dein ganzer Beruf oder nur eine Teilzeitbeschäftigung?« »Meinem eigentlichen Beruf nach bin ich ein Dissoziator und Distraktor, und als solcher recht gefragt. Die Kieselsteine sind nur eine Nebenbeschäftigung. Sie eignen sich herrlich zum Zerschmettern und Zerbrechen. Bestes Beispiel: der Damm. Ach das war phantastisch! Ganz phantastisch. Ein Chaos wird ausbrechen, wenn die Flutwelle La-Se-Ha erreicht.« »Wo ist La-Se-Ha?« »La-Se-Ha? Ach, habe ich euch das noch gar nicht gesagt? Das ist meine Heimatstadt. Ja richtig, ihr kennt wahrscheinlich nicht die Abkürzung. In Wirklichkeit heißt der Ort Langer-See-Hafen, aber wir haben hier die Angewohnheit, alle Namen abzukürzen. Wir nehmen die beiden ersten Buchstaben jedes einzelnen Wortes und fügen sie zusammen: Langer wird zu La, See zu Se und Hafen zu Ha. Und zusammen heißt es dann La-Se-Ha. Es ist ganz einfach. Versuch's mal mit deinem eigenen Namen und sieh, was dabei herauskommt.« »Aber was habt ihr denn gegen Langer-See-Hafen? Ist doch ein ganz vernünftiger Name«, sagte Jason beharrlich, »und man braucht auch nicht viel mehr Zeit, um es auszusprechen. Ich weiß wirklich nicht, wofür die Abkürzung gut sein soll.« »Weil in den Formularen nie genügend Platz war.«
»Welche Formulare denn?« »Ach, eben Kieselgenehmigungen, Wasserknotenpunktserlaubnisscheine, Formulare für diese Art von Dingen. Es gibt Hunderte davon. Wir bekommen laufend neue Formulare, die ■wir nach allen Regeln der Kunst ausfüllen müssen, und für die Namen, Berufsbezeichnungen und Adressen war eben nie genügend Platz. Natürlich machen es die Formularhersteller absichtlich. Für sie ergab sich so die einzige Möglichkeit, ein bißchen Macht auszuüben. Aber wir haben ihnen ein Schnippchen geschlagen, indem wir alle Namen abkürzen. Natürlich waren sie wütend, aber sie wußten auch, daß es sinnlos wäre, sich dafür zu rächen und die Leerräume noch kleiner zu machen, weil sie wußten, daß wir dann nur noch die Anfangsbuchstaben benutzen würden. Mehrere von ihnen haben sich vor lauter Verzweiflung im See ertränkt. Das Ergebnis war sehr zufriedenstellend. Nun können die Leute, statt >He da, Dissoziator und Distraktor< zu rufen und sich dabei die Zunge zu brechen, ganz einfach >Hallo, Di-Di< sagen. Das ist viel hübscher. Und nun heiße ich euch in La-Se-Ha willkommen. Heute Abend müßt ihr meine Gäste sein, wenn wir den Dammbruch feiern.« »Aber wird man dich nicht ganz fürchterlich beschimpfen, weil du die Stadt überschwemmt hast?« »Beschimpfen? Aber weshalb denn? Sie werden mich wie einen Helden empfangen. Sie leben nur für meine Abenteuer. Wie könnten sie ohne sie überleben? Sie würden ja vor lauter Langeweile sterben. Ohne mich wäre das Leben in La-Se-Ha friedlich, heiter und vor allem ganz entsetzlich langweilig. Es wäre einfach undenkbar! Jede fortschrittliche Gemeinde hat ihren Di-Di. Wir sind ihre Götzen. Sie errichten Statuen von uns und komponieren uns zu Ehren Lieder. Beschimpfen -also ehrlich!« »Und wie gehst du eigentlich vor - also abgesehen von den Dammbrüchen?« »Nun, ich habe zwei Methoden: die indirekte und die direkte. Die indirekte ist sicherer, aber nicht so amüsant, wesentlich weniger amüsant. Ich verbreite zum Beispiel Gerüchte, wiegle zwei Rivalen gegeneinander auf und dergleichen mehr. Eine meiner Spezialitäten ist das, was ich >Erhöhung-der-Verlierer nenne. Ich suche mir eine kleine Schar von Rebellen aus - eine Protestgruppe, Streikende, eine Gruppe von Weltverbesserern, Meuterern, Reformern oder was auch immer. Ich unterstütze sie heimlich, helfe ihnen auf jede erdenkliche Weise. Gewöhnlich sind sie miserabel organisiert und wollen natürlich nicht
wirklich gewinnen, denn sie wissen instinktiv, daß sie so ihren Lebensstil ruinieren würden — schließlich kann man ja nicht gut weiterprotestieren, wenn man gewonnen hat. Ich schalte mich also ein und schüre eine Bewegung so lange, bis ich ihre Anhänger zur Raserei gebracht habe. Dann wird sie erst zu einer richtigen Plage und muß von allen anderen mit Gewalt bekämpft werden. Es finden dann fürchterliche Demonstrationen und Gegendemonstrationen statt, die zu Aufruhr, Plünderung und Brutalität führen, und bei denen eine Menge Blut vergossen wird. Sie alle lieben solch ein Freudenfest heiß und innig. Es ist wie Karneval, nur noch ein bißchen zündender. Ich ernte viel Lob dafür, und wenn ich Glück habe, machen sie mich sogar für eine Zeitlang zur Kultfigur.« »Was ist das?« »Das weiß ich auch nicht so genau, aber jedenfalls kleben sie eine Menge Plakate an die Wände, auf denen mein Gesicht abgebildet ist. Es tut einem schon sehr gut! Allerdings ist mir persönlich die indirekte Methode lieber. Sie verlangt mehr Stil und befriedigt einen unmittelbarer. Ich will es euch mal demonstrieren ...« - Und ohne daß er seine beiden Köpfe auch nur umgedreht hätte, schleuderte er einen großen, flachen Kieselstein ans Ufer. Er schlug in das Fundament eines hohen, baufälligen Holzturms ein, an dem sie gerade vorbeiglitten. Der Turm ächzte, schwankte und sank in Trümmer. Seine Bewohner wurden zu Boden geschleudert, während die zersplitterten Holzteile Feuer fingen. »Bist du verrückt?« schrie Jason. »Sie werden wütend sein! Du wirst mir doch nicht weismachen wollen, daß sie sich bei dir dafür bedanken?« »O nein. Sie wohl nicht. Sie sind, wie du mit Recht sagen wirst, zu unmittelbar davon betroffen.« »Ja, genau.« »Aber denk doch mal an das Vergnügen, das ihre Nachbarn dabei empfinden. Sie werden eine ganz billige Art von Befriedigung erleben, wenn sie die Flammen löschen können und sich weiß wie fromm dabei vorkommen, wenn sie die Heimatlosen aufnehmen. Vor allem werden sie sich aber im Gefühl ihrer größeren Sicherheit und Überlegenheit wiegen. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie sie gerade jetzt sagen: >Schnell, schnell, dort ist ein Feuer ausgebrochen. O jemine!< Und dann: >Ach ihr Armen! Ihr müßt ja halbtot sein, wie schrecklich für euch, wie ganz entsetzliche Und weiter: >Bin ich aber froh, daß es uns nicht erwischt hat. Habe ich nicht schon immer gesagt, daß ihr schäbiges altes Haus wie Zunder auflodern würde und vor allem auch ein Schandfleck wäre, aber ich
will nichts Schlechtes über die Betroffenen sagen!<... und so weiter. Sie werden mich dafür in ihr Herz schließen, die Schweine, und sie werden noch wochenlang darüber reden. Seht ihr nun, daß, wenn ich nicht wäre, es keine sensationellen Nachrichten geben würde, keinen gepfefferten Klatsch, keine schlimmen Skandale, kein schweinisches Gerede. Das wäre undenkbar! Freilich ist es ein gefährliches Geschäft. Ich will damit sagen, daß man sich dabei sorgfältig vorbereiten und vor allem Köpfchen haben muß. Wenn ich nämlich zu weit gehen würde und Katastrophen statt Störungen herbeiführen würde, dann läge schon bald mit Sicherheit eine Schlinge um meine beiden Hälse und ich wäre erhängt, und sie täten's genauso frohgemut, wie sie mir jetzt Blumengirlanden um den Hals legen. Aber ich bin ja ein Fachmann. Das kann ich mit einigem Recht von mir behaupten. Ich bin ... ich ... ich ... oh!« »Was ist los?« fragte Jason, der sah, daß sich der Ausdruck der beiden Gesichter des Tieres plötzlich in Entsetzen verwandelte. »Wohin wollt ihr gehen, habt ihr gesagt?« war alles, was das Tier herausbrachte. »Wir haben gar nichts gesagt«, antwortete Ludo, »aber wenn du's genau wissen willst, wir wollen zu einer Insel im See.« »Zu welcher denn? Es gibt mehrere.« Ludo und Jason tauschten vielsagende Blicke aus. »Zu der, auf die's ankommt«, sagte Ludo. »Ach, das ist bestimmt Goffland!« murmelte Di-Di. »Habt ihr denn ein Boot?« »Nein, wir...« »Laßt nur, wir nehmen meines. Ich werde euch selbst dort hinbringen natürlich für eine entsprechende Entlohnung. Wir segeln sofort los.« »Aber ich dachte, wir würden feiern. Ich dachte, daß du...« »Planänderung, Planänderung... So ein Tag wie heute kommt nicht wieder. Aufschub ist der Dieb der Zeit, und so weiter. Was du heute kannst besorgen... Seht ihr dort diese Turmspitzen und Türme in der Ferne vor euch aus dem Wasser aufragen, wo die kleinen Figuren drankleben? Nun, das ist, vielmehr das war La-Se-Ha.« »Er will damit sagen«, keifte der Zwillingsbruder, der nun zum erstenmal sprach, »daß seine letzte kleine Störaktion sich zu einer ausgewachsenen Katastrophe entwickelt hat. Die Stadt steht vollkommen unter Wasser. Alles ist zerstört worden. Ich habe ihm ins Gewissen geredet, aber er hat ja nicht auf mich hören wollen, der Idiot.«
»Tja, da kann man wohl nichts mehr machen. Zum Glück habe ich das Boot weiter draußen im See vor Anker liegen. Ich habe mir schon gedacht, daß das Risiko dabei ein bißchen groß ist, aber sie haben sich eben so fürchterlich gelangweilt. Ich mußte einfach etwas Spektakuläres veranstalten.« »Spektakulär nennst du das!« schnaubte Rechtskopf. »Wir können von Glück sagen, wenn sie uns nicht lynchen!« Anstatt darauf einzugehen, verfiel Linkskopf in einen Singsang: »Der Regentag, für den du dich schonst, ist nah. O der Regentag, für den du dich schonst, ist da. Ich störe und bestürze, in der spielerischen Zerstörung liegt die "Würze. Mein Heiligenschein, der wird zur Schlinge, wenn ich ihn nicht um Kopf, sondern um Hals mir schwinge. Dum-di-dum, di-dum, di-dum...« »Der hat nicht mehr alle Tassen im Schrank!« stieß Rechtskopf hervor. »Ihr braucht ihn wirklich nicht zu beachten, er ist nämlich immer so«, sagte Linkskopf. Dann wandte er sich seiner besseren Hälfte zu und dröhnte: »Halt die Luft an, alter Griesgram, ■wir tauchen unter.« Der Fluß wurde nun breiter, die aufgewühlten Wassermassen waren schlammig, auf denen lauter Trümmer schwammen. Darunter waren Akkordeons und Archilauten, Banjos und Baßgeigen, Cellos und Kastagnetten, Trommelschlegel und Dudelsäcke, Euphonien und E-Orgeln, Flageoletts und Flatterflöten, Gitarren und Glockenspiele, Harmoniken und Hornpfeifen, Intoniereisen und Instrumentenkästen, Jennygongs und Jumbobässe, Kesseltrommeln und Klaviaturen, Leiern und Leierkästen, Marimbas und Mandolinen, Nagaras und Notenblätter, Oboen und Okarinen, Pianos und Pikkolos, Quietschpfeifen und Querflöten, Recorder und Rasseln, Sackpfeifen und Spinette, Tom-Toms und Tamburine, Ukulelen und Uni-phone, Violinen und Virginale, Waldhörner und Waschbretter, Xylophone und Xenochorde, Yankee-Tubas und YetiHarfen, Zithern und Zimbale; um nur die wichtigsten Musiktrümmer zu erwähnen. Di-Di wollte gerade mit seinen beiden Köpfen untertauchen, als ihm auffiel, daß der größte Teil der Überreste einem Orchester entstammte. »Das darf doch nicht wahr sein!« stöhnte der Linkskopf reuevoll.
»Doch, doch«, fuhr ihn der Rechtskopf an, der nun sichtlich beunruhigt war. »Dieses Mal hat du's geschafft. Und dir habe ich vertraut! Du wußtest wohl nicht, daß die Klimperer in der Stadt waren, nicht wahr? Damit hattest du nicht gerechnet, du nichtsnutziger Idiot!« »Die Klimperer? Wer sind denn die Klimperer?« schrie Jason. »Die müssen wohl während der vergangenen Nacht in die Stadt gekommen sein«, jammerte der Linkskopf. »Das ist eine Gruppe von umherwandernden Musikanten, die Geißel des Landes. Sie sind bösartig, unbarmherzig und unberechenbar. Sie machen vor nichts halt. Sie klimpern jeden zu Tode. Sie kennen kein Mitleid, und sie lächeln die ganze Zeit und hören nie damit auf. Es ist ganz entsetzlich! Wahrscheinlich sind sie im Schutz der Finsternis gelandet und haben die Stadt besetzt, in der keiner etwas davon ahnte. Die Gegenstände, die dort herumschwimmen, sind die Waffen der Klimperer. Ich bin erledigt. Sie werden meine Trommelfelle zerreißen und mich kurz und klein klimpern. Ach, wie naß ist's mir!« Und als sie an der versunkenen Stadt vorbeitrieben, packte Di-Di die beiden Baumstämme, an denen sich Ludo und Jason festhielten und verschwand unter der trüben Oberfläche des schnell dahinschießenden Wassers. Sie sausten an den Giebeln der versunkenen Gebäude vorbei. Jason konnte die gestrandeten Bewohner der Stadt sehr deutlich erkennen, die sich überall festhielten, wo sie nur konnten und dabei verzweifelt schrien, fluchten und um Hilfe riefen. Das braune Tier blieb während der ganzen Zeit unter Wasser. Jason war schon nahe daran zu glauben, daß das Tier seinen Halt verloren hatte und fortgeschwemmt worden war. Aber als sie die Stadt schon beinahe hinter sich gelassen hatten und auf die sturmgepeitschten Fluten des Sees hinaustrieben, tauchten plötzlich zwei braune, keuchende Köpfe aus dem Wasser auf, schnappten gierig nach Luft und verschwanden dann wieder. Als sie die Stadt dann endgültig hinter sich gelassen hatten, kam Di-Di wieder an die Oberfläche und hielt verzweifelt nach dem Boot Ausschau. »Dort drüben ist es! Der Anker ist noch fest, und wir treiben direkt auf das Boot zu. Hurra, ihr beide! Springt, wenn wir näher dran sind, aber paßt auf die Strömung auf! Springt vor dem Boot ins Wasser, dann trägt's euch von selber dorthin.« »Aber das ist doch nur ein Floß und gar kein richtiges Boot«, rutschte es Ludo unwillkürlich heraus.
»Zu deiner Information: Das ist ein Fahrzeug, das fünf Knoten in der Stunde macht«, schnaubte Linkskopf. »Das schnellste Boot in ganz La-SeHa. Springt jetzt! So springt doch endlich!« Nachdem die drei aufs Floß geklettert waren, konnten sie zusehen, wie der mächtige Sog des Wassers die beiden Baumstämme mit sich fortriß. »Alles fertigmachen zum Ankerlichten!« brüllte Di-Di. Dann gaben beide Köpfe einen schrillen Pfiff von sich. An der Vorderseite des Floßes wurde das Wasser aufgewirbelt, als er heftig an den fünf Tauen zog, die dort angebracht wurden. Fünf naßglänzende Schnauzen tauchten ganz in der Nähe aus dem Wasser auf und antworteten Di-Di durch lautes Pfeifen. Dann wandten sie sich der Mitte des Sees zu. »Anker lichten!« befahl Di-Di. »Wasserknoten in Bereitschaft! Los, los! Und wenn wir unterwegs sind, müßt ihr in sicherer Entfernung vom Heck bleiben, weil ihr sonst durch die Wassermassen, die sich hinter uns auftürmen, hinweggespült würdet. Nun aber: Hau ruck, hau ruck, hau ruck!« Unter Aufbietung aller Kräfte zogen Jason und Ludo den Anker hoch, der aus einer riesigen Muschel bestand und beinahe wieder hinabgerollt wäre, als sie ihn schon oben hatten. Schließlich konnten sie ihn jedoch an Bord festmachen. Di-Dis Köpfe brüllten gleichzeitig: »Alle Fünfe mit Volldampf voraus!« Das Floß begann sich vorwärts zu bewegen, zuerst sehr langsam und dann immer schneller, bis im Kielwasser weißglänzende Gischt aufschäumte. »Phantastische Zugtiere«, brüllte Di-Di. »Seht sie euch doch nur an, was für ein tolles Team! Das beste weit und breit. Nun kann uns nichts mehr passieren.« Die fünf Wasserknoten, die Jason wie Miniaturwale vorkamen, hatten zusammengewachsene Schwimmflossen entlang ihrem Rücken. Mit ihren kräftigen Fischschwänzen peitschten sie auf die Wogen ein und zogen das provisorische Fahrzeug mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit durch den immer stürmischer werdenden See. La-Se-Ha, die vom Unglück heimgesuchte Stadt, verschwand zusehends in der Ferne. »Ich bin froh, daß wir das Ende der Klimperer gesehen haben«, rief Jason. »Das hat sehr unerfreulich geklungen!« »Was meinst du mit >geklungen Du hast sie ja nicht einmal klimpern gehört. Sie sind verrucht, abscheulich, diabolisch, nein sogar triabolisch. Mögen dich alle Granits vor ihrem Zorn beschützen«, brüllte Linkskopf.
»Und weshalb glaubst du eigentlich, daß dies dort ihr unseliges Ende bedeutet hat?« bemerkte Rechtskopf ganz trocken. »Was bringt dich auf diese süße, kleine, unschuldige Idee? Ihr seid alle verdammte Idioten!« Nach diesen Worten hüllten sich die beiden Di-Di-Köpfe in Schweigen und starrten lange und mit unverwandten Blicken zum Horizont. Stundenlang flogen sie über die monotone, weite Fläche des Sees, ohne daß sich die Kräfte der Wasserknoten erschöpft hätten. Schließlich brach die Nacht herein. Nachdem sie kein sehr verlockendes Mahl aus Schnecken und Krebsen eingenommen hatten, die von der Unterseite des Floßes abgekratzt und dann sorgfältig in Muscheln aufbewahrt worden waren, machten sie es sich bequem, weil sie bis zum Morgen warten mußten. Eingelullt wurden sie durch das andauernde Schaukeln des Bootes. Sie schliefen ziemlich tief, bis sie dann mitten in der Nacht durch einen lauten Donnerschlag aufgeweckt wurden. Ein Gewitter war aufgezogen. Die Windböen zischten, und das Floß wurde durch die tosenden Wassermassen hin und her gerissen. Der Anker rutschte über Bord und wurde weggerissen. Als sich die Reisenden in ihrer Todesangst am Floß festklammerten, hörten sie, wie die Taue, mit denen die Wasserknoten das Floß zogen, nacheinander rissen. Das Floß fing nun an zu rotieren und bäumte sich wie ein Flumel auf, das gekitzelt wird. Jason sah, daß Ludo ihren festen Halt verlor, und versuchte verzweifelt, ihr beizustehen, wurde aber statt dessen von einer Riesenwelle weggeschwemmt. Gerade als er zu sinken begann, fühlte er, wie ihn eine kräftige Schnauze an die Oberfläche zurückschleuderte. Das letzte, an das er sich noch erinnern konnte, bevor er ohnmächtig wurde, war, daß er nach Luft schnappte und daß ihm die Gischt ins Gesicht sprühte.
12. Die Insel der gefiederten Zwerge In der Ferne hörte Jason ein Hämmern. Zuerst meinte er, daß das Klopfen nur in seinen Ohren pochte, aber als er sich aufrecht hinsetzte, wurde ihm klar, daß wirklich jemand in der Ferne hämmerte und daß das Klopfen nicht von seinem Innern herrührte. Er befand sich auf trockenem Boden, vielmehr nassem Boden, aber doch immerhin fester Erde. Sanfte Wellen umspielten seine Hüften. Nur
noch seine Beine waren vom Wasser des unberechenbaren Sees benetzt. Als sich Jason den weißen, sandigen Abhang weiter hinaufschleppte, an dem er für unbestimmte Zeit gelegen haben mußte, hörte er hinter sich ein pfeifen; und er wendete den Kopf gerade noch rechtzeitig, um den grinsenden Wasserknoten im Wasser zu sehen, der sein Maul auf- und zuklappte, mit seinen Schwimmflossen wedelte und mit seinem breiten Schwanz die Wellen peitschte, um wohl eine Art Abschiedsgeste anzudeuten. »Ich danke dir«, rief Jason, als das Tier, das nun zufrieden war, wieder elegant durchs Wasser glitt, »ich danke dir, du hast mir das Leben gerettet.« Noch ein paar Quietschlaute, ein Prasseln und ein seltsames Geräusch, das wie das Knarren einer Tür klang,1 waren die einzige Reaktion des Tieres. Es tauchte unter und verschwand. Jason suchte den Küstenstreifen ab. Er schien sich auf einer kleinen, felsigen und ziemlich öden Insel zu befinden. Er sah sich nach Ludo und Di-Di um und rief sie beim Namen, aber er bekam keine Antwort, und nichts bewegte sich. Abgesehen von dem Hämmern gab es kein Lebenszeichen. Völlig durchnäßt stapfte Jason in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Als er um einen Felsen bog, sah er einen gefiederten Zwerg, der eine großformatige Bekanntmachung an einer alten, heruntergefallenen Tafel anschlug. Darauf stand: »Achtung! Jeder, der an diesem Strand barhäuptig herumläuft, wird festgenommen.« Der gefiederte Zwerg machte ein paar Schritte zurück, um sein Werk besser bewundern zu können, und stieß dabei mit Jason zusammen. Er schrie, plusterte sein Gefieder auf und rollte sich am Boden zusammen. Dann drehte er sich um und schwang wehrhaft seinen Hammer. Als er Jasons geschundene Gestalt sah, ließ er den Arm wieder sinken, richtete sich auf und glättete das Gefieder, das nun wieder an seinem Körper anlag. »Der Kopf!« rief er entsetzt. »Sehe sich nur einer diesen Kopf an! Er ist eine Schande, ein öffentliches Ärgernis. Lies dir doch mal die Bekanntmachung durch! Verstehst du was das heißt? Hast du denn überhaupt kein Schamgefühl, kein Gefühl für das, was sich in der Öffentlichkeit ziemt, wenn du in diesem schmutzigen und unanständigen Aufzug und ohne einen züchtig bedeckten Kopf herumläufst?« »Ich wäre beinahe ertrunken. Ich ...« »Das sagen sie alle, aber das ist keine Entschuldigung. Ich werde dich festnehmen müssen, wenn du nicht...«
»Wenn du nicht - ich sollte das ja nicht tun, aber du siehst aus, als ob es dir wirklich leid täte. Komm mal hier herüber!« Als er dies gesagt hatte, führte er Jason zu einer großen Tasche, die er neben dem Schild auf dem Sand stehengelassen hatte. Er öffnete die Tasche und wühlte in ihrem Innern herum. Einen Augenblick später brachte er einen buntbemalten Kopf zum Vorschein, der mit einer verrückten, blumengeschmückten Bademütze versehen war. »Vielleicht hast du eine andere Größe, aber du kannst ihn ja mal aufprobieren.« Bei diesen Worten suchte er den Strand mit ängstlichen Blicken ab. »Es verstößt zwar gegen die Bestimmungen, aber offensichtlich ist niemand in der Nähe, und es würde mir den langen Weg zum Gefängnis ersparen.« »Ihn aufsetzen?« »Ja, aber beeil dich und gib mir deinen alten Kopf!« »Meinen alten Kopf?« »Stell dich doch nicht so blöde an, oder bist du vielleicht auch einer von diesen Touristen vom Festland?« »Gewissermaßen ja. Ich komme vom Festland.« »Ach so, das erklärt alles. Dann ist es meine Pflicht, dich darüber zu informieren, daß du dich während deines hiesigen Aufenthaltes unseren Gesetzen und Gepflogenheiten unterwerfen mußt. Schwere Strafen stehen darauf, wenn man in der Öffentlichkeit mit dem unpassenden Kopf erscheint, wie es bei dir im Augenblick der Fall ist, mein Bester. Ich nehme an, daß du einer von diesen neumodischen Einheitsköpfigen bist.« »Einheitsköpfige?« »Ja, einer von diesen jungen Schmutzfinken, die nur unflätige Worte im Mund führen und meinen, sie könnten mit einem einzigen Kopf auf den Schultern ein Leben lang auskommen. Das ist ja ganz widerlich! Kannst du dir eigentlich auch nur im geringsten eine vage Vorstellung davon machen, wie viel Schmerzen und Qualen diese Art von Benehmen für einige unserer älteren Bewohner bedeutet? Sie können es beinahe nicht mehr ertragen, auf die Straße zu gehen. Sie haben Angst, ihre Federn in der Öffentlichkeit zu zeigen, weil sie befürchten müssen, von einem dieser abscheulichen Einheitsköpfigen angequatscht zu werden. Es ist abstoßend, wirklich abstoßend! Ich weiß nicht, was aus Kopfland noch werden soll.« »Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe und auch, daß ich nur einen Kopf habe. Aber dort draußen im See habe ich einen Freund, der zwei Köpfe besitzt.«
»Zwei! Das ist ja nicht zu fassen! Sogar der mieseste, schändlichste Politiker kann nicht mit weniger als sieben Köpfen auskommen. Und der ungehobelste und schäbigste kleine Priester hat mindestens fünf. Aber die großen Führer unserer Gesellschaft, die Abflußsortierer und Muschelabkratzer, unsere Flohabstauber und Muschelauffädler, unsere Lochfüller und Seilaufroller, und vor allem unsere Ritzenklopfer und Sandabsucher - sie sind es, die jeweils dreißig bis vierzig Köpfe besitzen.« »Das muß aber anstrengend sein, wenn sie die alle mit sich herumtragen.« »Ach, ihr blöden Typen vom Festland macht mich noch ganz krank. Ihr seid ebenso dumm wie frech. Setz dich, damit ich dir einmal alles erklären kann. Vor langer Zeit lebten auf Kopfland die Inselbewohner ruhig und zufrieden. Sie flickten ihre Netze und errichteten ihre großen, steinernen Tempel zur Ehre des alles-sehenden, alles-herbeipfeifenden, allwissenden Knotengottes. Man nannte ihn Dorschmusch. Er war ein nachsichtiger und verspielter Gott, aber er behütete und beschützte uns, bis eines unheilvollen Tages plündernde Horden vom Festland übersetzten und uns überfielen. Es handelte sich dabei um die Gülen, einem wilden Stamm von glutäugigen Feinden, die die Tempel zerstörten, die heiligen Statuen des unersetzlichen Dorschmusch zerschlugen und die Städte und Dörfer plünderten. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Sobald die Inselbewohner gelernt hatten, es ihren neuen Herren, den Gülen, rechtzumachen, erfolgte eine zweite Invasion. Dieses Mal handelte es sich um blutrünstige Räuber, die auf unserer Insel Fuß gefaßt hatten. Es waren die Schefs, große, bärtige Riesen, die so groß waren, daß sie sich beim Essen auf den Boden setzen mußten.« »Warum tun sie das eigentlich?« »Ich weiß nicht. Wie kommt es überhaupt zu dem Bedürfnis, jemanden überfallen zu wollen? Wahrscheinlich ist ihnen der Kamm geschwollen, das macht die Typen nervös, ihre Freunde fangen sie an zu hassen, was bewirkt, daß sie ihre Freunde ebenfalls hassen und deren Freunde. Und schließlich beginnen sie dann auch die Freunde der Freunde zu hassen, und dann wird es ihnen einfach zuviel, und sie sehen sich nach jemand um, an dem sie sich abreagieren können. Und so kommt es wahrscheinlich, daß sie eine arme, harmlose kleine Siedlung wie Kopfland überfallen. Habe ich damit deine Frage hinlänglich beantwortet?« »Nein, ich wollte nur wissen, warum die Schefs beim Essen auf dem Boden sitzen mußten.«
»Nun, das ist ganz einfach. Wenn sie wie wir im Stehen gegessen hätten, hätten sie nicht an das Essen herangereicht. Ihre Arme waren zu kurz, und wenn sie versucht hätten, sich zu bücken, wären sie vornüber gefallen. Sie waren nämlich groß und kopflastig. Es war hauptsächlich wegen der gepanzerten Barte. Häßliche Dinger. Kurz und gut, nach den Schefs kamen die Ecks, dunkelhäutige, finstere Schurken von der Westküste des Sees. Sie waren Federnjäger, und wir hatten fürchterlich unter ihnen zu leiden. Stell dir mal vor, daß du, ohne eingreifen zu können, dabei zusehen mußt, wie dein Freund bei lebendigem Leib gerupft wird! Zuletzt kamen dann die Goffs, kleine Wesen mit traurigen Gesichtern, die sich ihrem Wuchs zum Trotz als die Stärksten und Erbarmungslosesten erwiesen und die Insel in Goffland umbenannten. Und...« »Goffland! Dies ist also Goffland?« »Nein, nicht mehr. Zum Glück ist ihr Schreckensregiment vorüber, und wir sind endlich wieder unsere eigenen Herren. Das ist jetzt Kopfland. Bitte merk dir das und sprich ja nie wieder von den Goffs. Das hier ist jetzt nämlich Kopfland.« »Aha. Ich verstehe. Heißt es so wegen der vielen Köpfe?« »Ja. Verstehst du, jede neue Eroberungswelle brachte auch ihre eigenen Gesetze und Bräuche mit sich, und jedes Mal versuchten die Insulaner, die die schrecklichen Schlachten überlebt hatten, sich ihren neuen Herren zuliebe umzustellen. Schließlich sahen sie ein, daß ihre Situation hoffnungslos war, und beschlossen, besonders drastische Maßnahmen zu ergreifen. Wie du sehen kannst, sind unsere Körper mit Federn bedeckt. Früher hatten wir auch gefiederte Köpfe, die zu unserem übrigen Körper paßten. Schließlich kamen wir aber überein, daß ein einziger Kopf ein Hindernis sei. Nur mit vielen Köpfen zum Auswechseln konnten wir hoffen, die Launen unserer jeweiligen Herren zu überleben, wenn wir nämlich die Köpfe der Situation entsprechend austauschten. Eine Geschäftsstelle wurde eingerichtet und eine Fabrik gebaut, die hundert Köpfe pro Tag produzieren konnte, die nach der Form, Farbe und Stilart vollkommen verschieden waren. Bei einer zeremoniellen Feier gaben wir dann alle unsere Köpfe ab, die alten gefiederten wohlgemerkt, und der Kopf-Vorarbeiter der Fabrik stattete uns mit neuen Halsfassungen aus. Als Einführungsangebot stellte man uns vier Köpfe gratis in einem Handkoffer, der an das Ereignis erinnern sollte. Jeder setzte sich einen Kopf auf und trug die übrigen drei mit sich herum. Aber das war nur der Anfang. Die vier Köpfe waren so entworfen worden, daß sie uns die
Möglichkeit gaben, wie Angehörige der vier Stämme auszusehen, die uns überfallen hatten. Du mußt wissen, daß sich alle viere einige Stützpunkte auf der Insel zurückbehalten hatten und auf diese Weise immer noch unsere Lebensführung bestimmten. Mit unseren vier auswechselbaren Köpfen - davon stellte einer einen glutäugigen Gülen, der zweite einen bärtigen Schef, der dritte einen dunkelhäutigen Eck und der vierte einen traurig dreinblickenden Goff dar -konnten wir nun vom einen Teil der Insel zum anderen reisen, ohne uns unnötiges Kopfzerbrechen zu bereiten, denn wir konnten ja die Köpfe austauschen, um den jeweiligen Tyrannen genehm zu sein. Im Laufe der Zeit konnten wir dann aber neue Köpfe von der Geschäftsstelle besorgen, immer wenn wir es uns leisten konnten, und haben auf diese Weise unsere eigenen Kollektionen zusammengestellt. Wir haben neue Moden ausprobiert, neue Gefühlszustände und neue Persönlichkeitsbilder, eben alles, was unsere Einbildungskraft bewegt hat. Ein paar der alteingesessenen Familien haben einen sehr eindrucksvollen Kopfsaal, alle Köpfe ihrer Vorfahren werden in Glaskästen aufbewahrt, und an besonderen Festtagen nehmen sie sie aus den Kästen heraus und tragen sie bei Kostümbällen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt gelten sehr strenge Regeln, welche Köpfe bei welchen Gelegenheiten getragen werden müssen. Keiner würde sich zum Beispiel in der Öffentlichkeit mit einem Kopf wie deinem sehen lassen. Verzeih, aber in meinen Augen ist das ein ganz privater Schlafkopf, und vorausgesetzt dies ist dein einziger, dann ist anzunehmen, daß du damit ein ernstzunehmendes öffentliches Ärgernis erregst.« »Aber ich kann doch meinen Ausdruck verändern, mein Gesicht waschen, mein Haar glätten und, wenn notwendig, auch einen Hut tragen. Dann würdest du mich nicht wiedererkennen. Wenn dies nämlich die Insel ist, die einige Goffland nennen - irrtümlicherweise natürlich, das ist mir jetzt klargeworden -, dann muß ich hier eine wichtige Aufgabe erfüllen, und ich werde alles tun, was ihr von mir verlangt, solange ihr mir erlaubt, hierzubleiben. Aber zunächst... ich schäme mich, es zu erwähnen... bin ich ziemlich hungrig... Glaubst du..., daß es hier irgendwo etwas zu essen gibt?« »Zu essen? O ja, ich denke schon. Von welchen Körnern ernährst du dich denn?« »Körner?« fragte Jason verwundert. »Ja, alle ernähren sich hier von Körnern. Weil es das einzige ist, was wir hier anbauen können, müssen wir uns damit abfinden. Hier, probier
mal diese«, sagte der gefiederte Zwerg und streute eine Handvoll schwarzer und gelber Schoten auf den Boden. Jason sammelte sie hastig auf und stopfte sie sich in den Mund. Sie schmeckten entsetzlich, aber er schluckte sie einfach hinunter. »Im Austausch für die Körner mußt du mir aber jetzt deine verschiedenen Arten von Gesichtsausdrücken vorführen. Wir sind in dieser Beziehung ziemlich festgelegt. Wenn wir in einer fröhlichen Stimmung sein wollen, müssen wir ein glückliches Gesicht aufsetzen und es dann hinterher wieder abnehmen.« »Ach, das ist ganz einfach«, sagte Jason. »Jetzt sieh mal her!« Er ging alle möglichen Gefühlsäußerungen der Reihe nach durch und mimte den jeweiligen Ausdruck, der ihnen entsprach. Der gefiederte Zwerg sah aufmerksam zu. »Beachtlich. Wirklich, sehr beachtlich. Auch wenn du nur einen Kopf hast, so hast du doch ein sehr vielseitiges Modell. Ich habe eine Idee: Wenn du andere Inselbewohner triffst und es notwendig wird, das Gesicht auszutauschen, dann brauchst du dich nur umzudrehen und so zu tun, als ob du die Gesichter tauschst, obwohl du in Wirklichkeit nur einen neuen Gesichtsausdruck aufsetzt. Sag doch ganz einfach, daß du ein Zauberer seist und über ein unerschöpfliches magisches Repertoire verfügst. Einige von uns haben es zu einer großen Schnelligkeit beim Austauschen gebracht, und deswegen lassen sie dir's vielleicht durchgehen. Jetzt muß ich dich aber zum Kopf-Aufseher bringen.« Sie machten sich auf den Weg, und immer wenn sie einem anderen gefiederten Inselbewohner von Bedeutung begegneten, kramte der Zwerg in seiner Umhängetasche herum und setzte einen angemessenen Kopf auf, um die Passanten zu begrüßen. Jason bemerkte, daß der Zwerg jedoch seinen Kopf aufbehielt, wenn sie nur einem Bewohner von niedrigerem Stand begegneten. Es war nun die Aufgabe des anderen, den Tausch zu vollziehen. Jason amüsierte sich köstlich, als sie einem anderen Zwerg begegneten, der seinem Begleiter aufs Haar glich, deren Köpfe nur verschieden waren. Beide Zwerge kramten in ihren Taschen herum und tauschten ihre Köpfe aus. Wie zu erwarten war, trugen sie nun den Kopf, den der andere zuvor aufgehabt hatte. Sie griffen also wieder in ihre Taschen und sahen nach dem Tausch wieder wie am Anfang aus. Dieses Spielchen führten sie so lange fort, bis sie dann schließlich die gleichen Köpfe aufhatten. Mit einem Seufzer der Erleichterung umarmten sie sich und gingen dann sofort ihrer Wege.
Schließlich kamen Jason und sein seltsamer Begleiter zu einer Stadt aus Felshöhlen, die mit Muscheln und Mörtel verputzt waren. In einem großen Gewölbe entdeckten sie eine Gruppe von Inselbewohnern, die sehr wütend waren. Sie trugen Haß-Gesichter, vollführten ein fürchterliches Geschrei und waren dabei so aufgeregt, daß sich ihr aufgeplustertes Gefieder hob und senkte. In der Mitte sah Jason ein zerschundenes Floß. Jason war aber erleichtert, als er darauf die vollkommen niedergeschlagenen Gestalten von Ludo und Di-Di entdeckte. Als er sich zusammen mit dem Zwerg der Gruppe näherte, sprang ein großer, dürrer Insulaner mit schwarzem Gefieder auf einen Stein und setzte sich mit einer feierlichen Kopfbewegung auf, die soviel besagte wie: Ich mache mich jetzt dann gleich wichtig, also haltet den Mund!, und gebot Schweigen. Er deutete auf Di-Di, den drei große, gefiederte Polizisti sogleich umringten. Zögernd erhob sich das braune Tier. Seewasser tropfte auf die Überreste des Floßes herab. »Diese Kreatur, dieses schamlose braune Tier, hat es gewagt, auf unsere geheiligte Insel zu kommen, in unser geliebtes und verehrtes Kopfland, wo es sich nicht einmal davor scheut, zwei Köpfe gleichzeitig zu tragen. Stellt euch vor Brüder, zwei Köpfe gleichzeitig!« Bei diesen Worten erhob sich ein Gekreische unter den Anwesenden, aufgeregt plusterten sie ihre Federn auf. Der Sprecher fuhr fort: »Es bleibt uns keine andere Wahl, denn dieser gravierende Verstoß gegen jede Sittlichkeit verlangt strengste Maßnahmen. Das angeklagte Wesen besteht zwar auf seiner Immunität als Tourist, aber die öffentliche Moral muß zuerst bedacht werden, und deswegen müssen wir dafür Sorge tragen, daß er sein Gesicht verliert. Wir können nicht zulassen, daß diese Normen, die auf dem Festland gelten, bei uns Fuß fassen, denn das würde bedeuten, daß unsere gesamte moralische Ordnung unterminiert würde. Brüder, wie ihr deutlich sehen könnt, ist dieser Eindringling hier zweigesichtig! Ihr werdet erleichtert aufatmen, wenn ich euch jetzt sage, daß der Kopf-Aufseher bereits den Bau eines doppelten Hinrichtungsblocks in Auftrag gegeben hat. Die Organe, die unser Mißfallen erregt haben, werden morgen von unserem stellvertretenden Henker abgeschlagen werden. Die Köpfung ist auf Granit-plus-eins festgesetzt. Es werden kleine Erfrischungen gereicht werden. Dazu werden Schwarzköpfe getragen. Bitte informiert eure Freunde. Der Groß-Goff wird uns mit seiner Anwesenheit beehren.« Die Haß-Köpfe wurden schnell ausgetauscht. Es wurde laut geklatscht, die Federn glätteten sich wieder, und mit einem gelegentlichen Ruf aus der
Menge, der bestätigte, daß die Show angekommen war, zerstreuten sich die Besucher, um die gute Nachricht weiterzugeben. »So ein Glück!« frohlockte der Zwerg. »Morgen ist Bildhauers Tag, und diese Köpfung wird ein schöner Auftakt zu den Festlichkeiten sein. Es ist ein besonderer Tag für uns, an dem wir uns daran erinnern, daß der Bildhauer hier vor vielen Jahren Schiffbruch erlitten hat. Da fällt mir ein, daß ich nach meinen Goldenen Würmern sehen muß. Das darf ich ja nicht vergessen!« »Deine Goldenen Würmer?« »Ja, denn Bildhauers Tag ist die einzige Gelegenheit, bei der wir sie tragen dürfen.« »Ich habe schon davon gehört, aber sie nie gesehen. Ich bin schon sehr gespannt. Glaubst du, daß ich auch welche tragen darf?« »Ich weiß nicht so recht. Eigentlich sind sie nur für die hier Ansässigen, aber ich will mal sehen, was ich für dich tun kann.« »Danke. Was wird übrigens aus dem anderen Eindringling? Du weißt schon, die mit dem Fell und dem Kopf mit den Hörnern?« »Sie wird die Wahl haben.« »Zwischen was?« »Zwischen der linken Seite des Hinrichtungsblocks und der rechten. Denn sie ist eine Komplizin, wahrscheinlich ist sie die Agentin des zweigesichtigen Tiers oder sie fördert es sogar. Wir müssen uns ziemlich oft mit diesem Gelichter herumschlagen, vor allem seit man begonnen hat, diese armen Wasserknoten für den Seeverkehr einzuspannen - aber wir drücken ihnen mit beiden Klauen den Stempel auf: >Touristen< oder »Nichttouristen«. Komm, ich will mal sehen, ob ich noch ein paar Goldene Würmer finde, die du morgen tragen kannst.«
13. Der Einfall der Klimperer Jason und der Zwerg hatten gerade eine unterirdische Höhle betreten, in der faulende Fische und Kopfständer herumhingen und in der es so entsetzlich stank, als sie eine entsetzliche Explosion hörten. Aufgeregt liefen die gefiederten Einwohner zwischen ihren Behausungen hm und her, wobei sie schrien und kreischten. Einer kam in die Höhle des Zwergs
gestürzt und keuchte: »Die Klimperer kommen, die Klimperer kommen. Es ist eine Großinvasion. Los, in die Bunker! Geht in Deckung!« »Hier lang!« rief der Zwerg. »Wir werden wieder einmal belagert. Aber das war ja zu erwarten. Dieses Mal habe ich sogar Vorsichtsmaßnahmen dagegen getroffen. Ich habe einen nagelneuen Klimperer-Kopf in petto. Ich muß nur zu meinem Nest gehen und ihn suchen. Es wäre nicht lustig, ohne ihn erwischt zu werden. Bleib dicht hinter mir, sonst verirrst du dich noch.« »Was wird nun eigentlich aus den Goldenen Würmern? Du wolltest mir doch für morgen welche besorgen.« »Morgen! Was glaubst du wohl, wie es morgen hier aussehen wird, wenn es uns die Klimperer gegeben haben? Wird wohl nicht viel mit dem Feiern. Bildhauers Tag hin oder her.« »Aber vielleicht gewinnt ihr? Vielleicht schlagt ihr die Klimperer in die Flucht?« »Ja, das wäre noch eine Möglichkeit«, erwiderte der Zwerg. »Ich darf meinen Klimperer-Kopf nicht zu früh aufsetzen. Ich muß zuerst den Ausgang der Schlacht abwarten. Aber ich glaube nicht, daß wir viel Grund zur Hoffnung haben. Die Klimperer sind zu stark für uns.« Sie kamen zum Versteck des Zwerges, und er wühlte dort herum, indem er Kopfständer umwarf und in verschiedenen Taschen herumsuchte, bis er seinen neuen Klimperer-Kopf fand. Er nahm sich einen Augenblick lang Zeit, um ihn zu bewundern, bevor er ihn in seine Umhängetasche steckte. Und das war die Chance für Jason! Er nahm dem Zwerg den Kopf weg und hielt ihn hoch in die Luft. »Tut mir leid, daß ich das tun muß, aber ich habe eine wichtige Aufgabe zu erfüllen. Du mußt mir die Goldenen Würmer geben, sonst schmeiß ich deinen neuen Kopf auf den Boden. Schnell. Es ist mein voller Ernst.« »Vorsicht! Geh bloß vorsichtig damit um!« kreischte der Zwerg, seine Federn sträubten sich vor Angst. »Ich werde aufpassen, aber beeil dich. Horch, die Klimperer!« Die Explosionen draußen wurden immer lauter. »Du hast nicht mehr viel Zeit!« Der Zwerg zögerte noch einen Augenblick lang und rannte dann zu einer großen Schachtel in der Ecke seines Verstecks hinüber. Er riß sie auf, zog den Inhalt heraus und verstreute ihn auf den Boden. »Hier müssen sie irgendwo sein«, murmelte er vor sich hin. »Ja, wirklich. Ich habe sie doch letztes Jahr hier hereingetan. Ich kann sie doch
nicht einfach verloren haben. Ah, hier sind sie ja! Gib mir jetzt meinen Klimperer-Kopf wieder, und dann gehen wir zu den Bunkern zurück.« Sie machten ihr Tauschgeschäft, und Jason besah sich, was er sich eingehandelt hatte. Nach all den Abenteuern, den Prüfungen, bei denen er nur mit knapper Not davongekommen war, stand er nun am Ziel seiner Reise. In seinen Händen hielt er die Goldenen Würmer. Nun war es nur noch eine Frage der Zeit, bis er nach Hause zurückkehren und die Würmer dem dankbaren Großmaul überreichen konnte. Seine Suche war beendet. Allerdings hatte er sich nicht träumen lassen, daß er die kostbaren Würmer an einem so schäbigen Ort finden würde. Er hatte vielmehr mit einem großen Palast gerechnet, mit Wachen für die Würmer, mit denen er sich in einen Kampf auf Leben und Tod einlassen würde und mit feuerspeienden Drachen, die ein goldenes Tor bewachen, das zu einem goldenen Zimmer führt, das eine goldene Schatulle mit den unendlich kostbaren Goldenen Würmern enthält. Von dieser Schatulle hätte aber - nach Jasons Geschmack - ein magisches Leuchten ausgehen müssen. Mit seinen Armen, von denen Drachenblut tropfte, hätte er dann voll in den goldenen Schatz hineingegriffen und sich die Taschen damit vollgestopft. Auf dem Rückweg wäre er dann wieder an den schrecklichen Wurmwächtern vorbeigekommen, hätte gegen sie kämpfen müssen und wäre dann schließlich über die Palastmauer gesprungen, um sich in Sicherheit zu bringen. So hatte sich Jason das ungefähr vorgestellt. Aber hier war er nun in einem dunklen, übelriechenden, schlammbedeckten Zwergenschlupfwinkel und hielt eine Halskette in der Hand. Ein Halsband, das aus Goldenen Würmern geflochten war. Er unterzog sie einer genauen Prüfung. Sie glänzten ja wirklich sehr schön. Er betastete einen davon und fühlte, daß er sehr hart war. Der Wurm maß ungefähr zehn Zentimeter und glänzte, dort wo er gebogen war, besonders intensiv. Die Halskette bestand aus etwa zwanzig Würmern. Jason wunderte sich, daß kein Leben in ihnen war. Offensichtlich bestanden sie aus festem Metall. Wie sollte sie Großmaul überhaupt essen können?« »Komm schon! Vertrödle nicht deine Zeit damit, diese albernen Würmer anzustarren. Sie bringen uns um, wenn wir nicht rechtzeitig die Bunker erreichen.« »Diese Goldenen Würmer sind aber aus solidem Metall. Ich habe gedacht, daß man sie essen könnte.«
»Essen? Du spinnst wohl! Natürlich sind das nur Kopien, du federloser Trottel! Hast du gedacht, daß du hier die Originale des Bildhauers findest? Du mußt ja ganz schön verrückt sein. Aber nun komm schon!« »Kopien? Was quasselst du da?« schrie ihn Jason mit schriller Stimme an und schüttelte ihn kräftig durch. »Der Bildhauer bewahrt doch die Goldenen Würmer auf. Ich habe gedacht, jedermann wüßte das. Wir haben uns diese Kopien machen lassen, um sie am Tag des Bildhauers zu tragen. Eben um ihn dadurch zu ehren. Aber nun laß mich endlich los!« Jasons Hand sank schlaff herab. Der Zwerg strich sein Gefieder glatt und suchte das Weite. In einem Zustand von Benommenheit folgte ihm Jason nach draußen. Angewidert warf er das Halsband weg, überlegte es sich dann aber doch anders und hob es wieder auf. Nachdem er es schnell in seiner Gürteltasche verstaut hatte, kehrte er so schnell wie möglich zu dem Gewölbe zurück, in dem er Ludo und Di-Di zuletzt gesehen hatte. Der Ort war nun vollkommen verlassen, nur das zertrümmerte Floß lag noch verloren herum. Jason rannte überall herum, um nach Anhaltspunkten über den Verbleib der beiden Gefangenen zu suchen. Als er um eine Ecke bog, die auf der anderen Seite jäh abfiel, sah er sich plötzlich über einer Kuppel aus Lehm schweben, die ein großes, rundes Loch an der Seite hatte, durch das Jason hindurchfiel. Er stürzte durch die Dunkelheit und blieb dann still liegen. In der Nähe hörte er leise Stimmen. »Wenn ich sie nicht alle mitnehmen kann, gehe ich nicht mit!« »Mein Lieber, deine Feder-Öle sind der Schandfleck der ganzen Siedlung. Du läßt sie hier, und das ist ein Befehl, hast du verstanden? Ein Befehl! Nun beeil dich aber, die Klimperer werden gleich hier sein, und dann wird unser Gallon abgeschossen, bevor wir die Küstenlinie passiert haben. Wenn du nicht...« »Zu spät!« brüllte Jason. »Wir sind bereits hier. Bewegt euch nicht, oder ich klimpere euch tot.« Zu seiner großen Erleichterung funktionierte der Trick. Es trat eine spannungsgeladene Stille ein, die nur durch ein gelegentliches, unterdrücktes Gackern unterbrochen wurde. »Nun erzählt mir mal alles über euren Gallon. Wenn ihr auch nur einen Augenblick lang zögert, lasse ich euch beide RUPFEN!« Jason hatte das letzte Wort herausgebrüllt, und es hallte gespenstisch von den Innenwänden der Lehm- und Muschelhöhle wider. Als sich seine Augen an das trübe Licht gewöhnt hatten, konnte er zwei bebende,
gefiederte Gestalten erkennen, die mit zahlreichen Taschen und Koffern beladen waren. »Wir... Ich ... äh... das heißt... die hiesigen Regierungsbeamten und ich als ihr Präsident haben persönliche Gallone, die für Notfälle bereitstehen. Gallone ... Gallone sind... äh... sind...« »Heraus mit der Sprache!« »Gallone sind große, aufblasbare Inselbewohner von niedriger Herkunft mit roten Hautbeuteln auf ihrem Rücken. Sie... sie können Luft in sich aufnehmen und schweben dann hoch hinauf in die Luft. Bei günstigem Wind werden sie zum Festland hinübergeweht. In Friedenszeiten werden sie bei Gallonenrennen eingesetzt, aber in...« »... Krisenzeiten benutzen sie die feigen Führer dieser erbärmlichen Rasse, um damit zu fliehen und mit heiler Haut davonzukommen. Hab' ich recht?« »Nein! Nein! Nein! Es ist ein so sorgfältig geplanter Rückzug, ein strategischer Schachzug, ein Umgruppieren, ein von höchster diplomatischer Seite sanktioniertes, vom Komitee akzeptiertes, politisch anerkanntes ...« »Ach hör mit diesem ekelhaften, läppischen Geschwätz auf! Wo ist denn jetzt dein Gallon?« »Äh... Ich ...« »Los, antworte!« »Er befindet sich über uns, im Dachkäfig. Man muß die Treppe am Eingang hinaufgehen. Aber nimm doch Vernunft an - wir sind doch beide Männer von Welt... Wir...« »Ruhe! Ihr werdet beide eingelocht! Führt mich zu eurem Gefängnis!« Die beiden gackerten niedergeschlagen, aber gehorchten Jason. In den Kerkerverliesen traf Jason sehr schnell auf Ludo und Di-Di, die er befreite. Dann fesselte er seine beiden Gefangenen, die sich heftig widersetzten, und warf sie in die leergewordenen Zellen. »Keine Zeit für Erklärungen«, keuchte er. »Folgt mir!« Sie fanden den Gallon ohne große Schwierigkeiten. Er war froh darüber, daß man ihn befreite, und zeigte ihnen, wie man an seinen kräftigen Beinen den Korb für den Personentransport festmachte. Im Korb war eigentlich nur Platz für zwei, aber irgendwie schafften es die drei, sich hineinzuzwängen. Es gab nur einen kleinen Zwischenfall, als Ludo aus Versehen mit ihren Hörnern in die Unterseite des Gallons stieß. Dieser hatte schon etwas Luft getankt und schwebte nun über dem Korb, bereit
zum Abflug. Er verwechselte den Stoß mit einem Signal zum Start und begann daher seine riesigen, roten Hautbeutel aufzufüllen, indem er größere Luftmengen so schnell wie möglich einsog, um schnell aufzusteigen. Di-Di war zu diesem Zeitpunkt noch damit beschäftigt, sich in den Korb zu quetschen, wobei ihm Ludo und Jason halfen, als sich der Gallon plötzlich majestätisch vom Lehmdach erhob, wobei Di-Di weniger majestätisch ausrutschte und so lange mit allen vieren um sich schlug, bis er nur noch von seinen kräftigen Kiefern, die sich in der Außenwand des Korbes festgebissen hatten, mehr oder weniger kläglich von der Bordwand herabbaumelte. »Wenn du dir das angewöhnst, wirst du bald einen Zahnarzt aufsuchen müssen«, rief ihm Jason lachend zu und besah sich Di-Dis klaffende Mäuler aus der Nähe. Unglücklicherweise bekam Di-Di dabei einen solchen Lachkrampf, daß er den Korb losließ. Jason und Ludo konnten ihn gerade noch rechtzeitig an seinen beiden Nacken packen und erdrosselten ihn beinahe, als sie ihn an Bord zogen. Di-Di brach auf dem Korbboden immer noch lachend zusammen und spuckte die Zähne aus, die ihn das Manöver gekostet hatte. Der Gallon, der von alldem nichts mitbekommen hatte, flog nun sehr hoch über der Stadt. Geklimper lag in der Luft. In der Ferne konnten die drei unerschrockenen Gallonfahrer den Feind sehen, der sich der Stadt näherte. Kriegslärm hallte vom Granithimmel wider. Federn schwebten von unten herauf und tanzten um den schwankenden. Weidenkorb herum. »Du meine Güte«, rief Jason, »sie haben offenbar den Zwerg umgebracht, der mir geholfen hat. Dort drüben fliegen seine Federn in der Luft. Anscheinend verlieren die Inselbewohner die Schlacht, denn der Zwerg, denn ich kannte, hatte absolut nicht vor, an der Front zu kämpfen. Das heißt also, daß die Klimperer bis ins Innere der Stadt vorgedrungen sind. Wenn doch nur ein Wind wehen würde!« »Wir haben Windstille«, jammerte Di-Di. »Wir werden zu Tode geklimpert. Für euch ist es ja nicht so schlimm. Sie klimpern, und ihr rollt euch dann ganz einfach zusammen und sterbt, aber mich werden sie auf eine besonders grausame Weise foltern, und ich kann nun mal keinen Schmerz ertragen.« Der Gallon war ziemlich verlegen. »Und was werden sie dir zufügen?« fragte Jason. »Wahrscheinlich werden's die Dudelsäcke sein. Kannst du dir etwas Abscheulicheres als Dudelsäcke vorstellen? Welch eine grausame Todesart - von Dudelsäcken langsam zu Mus gemacht zu werden. Ich darf nicht daran denken!«
»Aber warum sollten sie denn so wütend auf dich sein? Sie haben doch nur ein paar von ihren Instrumenten in La-Se-Ha verloren. Außerdem müssen sie doch eigentlich eingesehen haben, daß du nicht wußtest, daß sie ausgerechnet in jener Nacht die Stadt überfallen wollten.« »Nein, aber sie hängen eben sehr an ihren Instrumenten. Wenn sie wie jetzt davon getrennt sind, muß das sehr schmerzhaft für sie sein, und deswegen werden sie mir auch nicht verzeihen. Weißt du, wenn sie noch ganz jung sind, lassen sie sich ihre Instrumente anbauen, um damit zu verwachsen. Dadurch erzielen sie einen vollkommenen Ausgleich und müssen gar nicht mehr an das Klimpern denken, sondern es wird ihnen zur zweiten Natur. Für einen Klimperer ist es genauso schmerzhaft, von seinem Instrument getrennt zu werden, wie für dich... das Abreißen deiner Ohrläppchen wäre.« »Dann sollten wir also alle anfangen, für einen günstigen Fahrtwind zu beten«, warf Ludo ein. »Nein, ich habe eine bessere Idee«, sagte Jason und beugte sich über die Seite des Korbes, um die Aufmerksamkeit des Gallons auf sich zu lenken. »Mach mal dein Maul auf und laß etwas Luft ab!« schrie er hinauf. »Aber dann werden wir doch sinken«, rief Ludo entsetzt, »bist du verrückt?« »Ja, wir werden etwas an Höhe verlieren, und uns aber dafür seitwärts fortbewegen. Im Prinzip funktioniert es wie ein Düsenantrieb.« Der Gallon schien verstanden zu haben und rülpste laut. Sie schössen seitwärts und etwas nach unten. »Nun mußt du langsam deine Beutel wieder füllen«, rief ihm Jason zu. »Langsam auffüllen, schnell leeren. Daran mußt du dich halten.« Der Gallon nickte und machte sich an die Arbeit. Allmählich gelang es ihm, sie vom Kriegsschauplatz ' fortzutragen, ohne zuviel an Höhe zu verlieren, bis sie dann schließlich die Küste von Kopfland erreichten, wo ihnen die Seebrise zu Hilfe kam. Langsam trieben sie übers Wasser aufs Festland zu. »Meine Beine!« schrie der Gallon plötzlich. »Ich halt's nicht mehr aus. Ich werde ohnmächtig. Ich bin nur ein Zweisitzer-Gallon, und ihr seid zu dritt. Einer von euch muß gehen. Schnell! Wenn ich ohnmächtig werde, werden meine Luftsäcke durchlässig, und dann ertrinken wir alle.« Jason und Ludo maßen sich gegenseitig mit den Blicken und dann den schweren Körper des zweiköpfigen Di-Di. »Wie gewonnen, so zerronnen«, rief das braune Tier und ging über Bord.
Sie schauten ihm nach, sahen, wie sein brauner Körper sich immer wieder überschlug und schließlich in den See eintauchte. »Er war zwar der größte Kieselsteintaucher von La-Se-Ha«, sagte Ludo nachdenklich, »aber trotzdem muß dies ein großes Opfer für ihn gewesen sein.« »Hmmm«, rief der Gallon, der unverwandt nach dem Festland schaute, dem sie sich nun sehr schnell näherten. »Vielleicht war es wirklich ein Opfer, oder vielleicht wußte er auch, woher der Wind wehte. Seht euch das mal an!« Sie drehten sich um und sahen nach dem Strand. Sie mußten nach Luft schnappen. Als der Gallon über den Strand trieb, der unter ihnen lag, konnten sie ganz deutlich die Truppenteile der Klimperer erkennen, die dort aufmarschiert waren, um ihre Vorhut auf der Insel bei Bedarf zu verstärken. »Warum hat uns dieser dumme Di-Di eigentlich nicht gewarnt?« rief Jason. »Ich vermute«, rief Ludo zurück, »daß er uns eine abschließende Demonstration seines beruflichen Könnens als Dissoziator und Distraktor geben wollte. Dieses Mal sind wir eben die Hauptpersonen.« »Eher die Leidtragenden«, schnaubte der Gallon, als ihnen Violinpfeile um die Ohren zu schwirren begannen. »Wenn sie die Lufttaschen treffen, sind wir erledigt«, rief Ludo angsterfüllt. Beinahe im selben Augenblick, als Ludo dies sagte, hörten sie ein scharfes Zischen über sich. »Ich habe ein Loch«, rief der Gallon mit schriller Stimme. »Wir müssen notlanden!« schrie er verzweifelt und sperrte dabei sein Maul weit auf. Der Gallon stürzte in einer Spirale herab. Unter sich sahen sie drei johlende und winkende Gestalten, die ihren Sieg über diesen unbekannten Flugkörper feierten, der nun seinem unaufhaltsamen Untergang entgegenflog. Sie brüllten und lachten, als der Gallon mit einem lauten Knall auf dem Strand aufprallte. Wie das Flugwesen vorausgesagt hatte, waren die Klimperer durch den Zwischenfall kein bißchen verstört, was man von der Besatzung des Gallons allerdings nicht behaupten konnte. Ganz im Gegenteil. Mit ausgestreckten Armen und Beinen landeten Ludo und Jason schließlich vor einem exzellent gestimmten Klimpermajor. »Versenkt das Ding mit den roten Taschen im See und bringt diese beiden ins Hauptquartier des Komponisten. Dort soll sie der Dirigent in Gewahrsam nehmen, um sie zu befrieden«, ordnete er an, und sein
stereotypes Lächeln ließ ihn dabei nicht im Stich. »Und vergeßt nicht, dabei zu klimpern.«
14. Das Befriedungsorchester Ludo und Jason hatten keine Zeit nachzudenken oder sich die Wesen, die sie gefangengenommen hatten, näher zu besehen. Im Nu waren sie von Wachen umringt und wurden über den Strand zu einem gefährlich aussehenden Tier mit einem Panzer getrieben, aus dessen Flanken zwei ovale Trommeln wuchsen. Die Trommeln wurden geöffnet und sie hineingeworfen. Jason auf der linken Seite und Ludo auf der rechten Seite. Dann schlug man die Deckel zu, und ein Klimperer sprang auf den Rücken des Tieres. Als es sich in Trab setzte, begann der Reiter die Trommeln im Rhythmus der Bewegung zu schlagen. Der Lärm im Innern der Trommeln war ohrenbetäubend. Zu seinem Glück fiel Jason bald in Ohnmacht. Als er wieder zu sich kam, stellte er fest, daß er in einer Falle gefangensaß, die wie eine kreisförmige Harfe aussah. Seine Füße schmerzten, als er sich erhob, und sein Kopf dröhnte. Er sah sich nach Ludo um, konnte sie aber nirgends entdecken. Er war ganz allein am Ende eines langen, niederen Raumes. Als er versuchte, sich durch die Drähte zu zwängen, die ihn umgaben, brachte er sie zum Klingen. Eine Tür öffnete sich, und drei Klimperer stürzten herein. Sie hoben seinen Käfig in die Höhe, kippten ihn und befreiten Jason. Bevor sie ihn jedoch ergreifen konnten, wendete er sich um, stieß sie mit Armen und Beinen und rannte mit voller Wucht gegen eine Doppeltür am anderen Ende des Raumes. Die Tür schlug auf, und Jason sah, daß er auf einem Podium gelandet war: Ein großes Orchester von Klimperern umgab ihn. Jason blieb wie vom Schlag getroffen stehen. Die drei Wachen, die er angefallen hatte, hatten ihn eingeholt und vereitelten seinen Rückzug. Jason sah, daß allen Klimperern, auch denen im Orchester, seltsame Musikinstrumente aus dem Bauch wuchsen. Damit stießen die Wachen Jason ins Kreuz und trieben ihn so in den riesigen Zuschauerraum. Eine erwartungsvolle Stille trat ein. Ein großer, hagerer, langhaariger Klimperer trat von hinten in den Zuschauerraum ein. Er trug einen grünen Overall. Anstelle seiner rechten Hand hatte er einen elfenbeinernen Stab mit einer silbernen Spitze. Das Orchester erhob sich mit lautem Getrappel,
als der Klimperer im grünen Overall sich dem Podium näherte, und setzte sich ebenso geräuschvoll wieder, als er sich davor aufstellte. »Ich bin Ihr Dirigent«, intonierte er, wobei er sich direkt an Jason wandte. »Leider ist uns Ihre behaarte Freundin entwischt, deren Hörner stärker als Trommelbespannung sind. Aber keine Sorge, wir kriegen sie schon noch und dann werden wir sie uns aber vorknöpfen. Als entschiedene Feinde der Vereinigten Klimperer müssen Sie beide befriedet werden. Das ist ein Befehl des Komponisten. Da die Zeit knapp ist, fangen wir mit Ihnen an, obwohl Ihre Komplizin abwesend ist. Wollen Sie noch etwas sagen, bevor wir mit der Behandlung beginnen?« Dem Grundsatz folgend, daß es immer besser ist, etwas zu sagen, und sei es auch nur, um Verwirrung zu stiften oder Zeit zu gewinnen, sagte Jason ganz schnell: »Ich plädiere für die Fünfte Symphonie.« »Wachen, gebt ihm einen Vorgeschmack von euren Stimmgabeln! Ich habe genug von seinem Blödsinn!« Die Wachen streckten ihre Zungen heraus, die wie Stimmgabeln aussahen und probierten sie an Jasons Ohren aus. »Ich wiederhole meine Frage. Wollen sie noch etwas sagen, bevor Sie befriedet werden?« »Ich...« ' »Vorsicht!« »Nein!« »Gut, dann nehmen Sie dort drüben Platz und schnallen sich bitte an, die Vorstellung wird gleich beginnen. Wenn Sie zum Sprechen aufgefordert werden, dann dürfen Sie nur eine einzige Bitte äußern, und zwar, daß Sie befriedet werden wollen.« »Aber ich...« »Ruhe!« In der Halle war es abgesehen von einem schwachen Wimmern vollkommen still. Als ob er durch dieses seltsame Geräusch festgehalten würde, saß Jason ganz steif auf seinem Platz und wartete. Er versuchte, nicht hinzuhören und das Geräusch zu ignorieren, indem er seine Haut straffte, aber das Wimmern wurde immer intensiver und verwandelte sich schließlich in ein monotones Pochen, das immer lauter und bedrohlicher wurde. Der Dirigent schloß die Augen und begann im Rhythmus mit der Musik vor und zurück zu schwanken.
»Genug! Wir müssen jetzt eine Antwort haben. Der Fremde muß antworten«, kreischte er und schwankte dabei vor und zurück. »Nein, ich werde nicht antworten!« keuchte Jason. »Ich will nicht befriedet werden.« Er wurde heftig geschüttelt, als er verzweifelt versuchte, der Macht des pulsierenden Rhythmus zu widerstehen. Nun schwankten alle Orchestermitglieder, ihre Körper wurden vor- und zurückgeworfen. Es sah so aus, als ob sie unsichtbare Schlingen um den Hals hätten, an denen ab und zu gezogen würde. Keiner schwankte seitwärts. Jedes Pochen riß sie nach vorn, dann fielen sie wieder zurück, und wieder nach vorn, zurück, und so fort. Stöhnend ertappte sich Jason dabei, daß er sich ganz der seltsamen Macht des Klagegeräuschs hingab. Das Pochen wurde immer schneller und war nun so intensiv, daß es ihn jedesmal keuchend nach vorn riß. Es war beinahe unerträglich. »Sprich! Antworte!« brüllte der Dirigent und schüttelte dabei seine Mähne, die ihm ins Gesicht fiel. Der Rhythmus war nun so schnell, daß Jasons Arme, die er vor sich in die Luft schleuderte, aussahen wie zitternde Streichhölzer, die von einer Riesenhand angezündet und wieder ausgeschnipst worden waren. Die Musik wurde immer schneller. Jason fing an zu zittern und verfiel dann in konvulsivische Zuckungen. Die Konturen verschwammen vor seinen Augen. Jason war am Ende. »Ja, ja. Ich werde sprechen. Laßt mich sprechen!« Sein Aufschrei war nicht viel mehr als ein Wispern, aber sofort hörte das Pulsieren auf, und die Musiker fielen auf ihre Sitze zurück. Der Dirigent stöhnte und klopfte mit dem Taktstock an das Holzpult. Sein Gesichtsausdruck war gequält. Plötzlich herrschte absolute Stille. Dann ertönte wieder das leise Dröhnen. »Nun, was ist? Schnell«, fuhr er Jason an. »Beim nächsten Mal wird es noch schlimmer. Sagen Sie endlich was!« »Ich... Ich möchte befriedet werden.« Jason sprach die Worte leise, aber verständlich. »Ahhh!« Das ganze Orchester würdigte Jasons Entschluß und begleitete ihn mit einem seltsamen Tusch auf den verschiedenartigen Instrumenten. »Ich möchte befriedet werden.« »Ahhh!« ertönte es wieder... ... und wurde vom Klopfen des Taktstocks unterbrochen.
»Meine Herren vom Orchester, bereiten Sie sich auf den Befriedungsakkord vor. Legt den jungen Fremden auf die Couch und fettet sein Gesicht ein!« Zwei Wärter führten Jason zu einer grünen Samtcouch, die wie eine offene Erbsenschote geformt war, und legten ihn hinein. Aus einem großen Cremetopf nahmen sie eine Handvoll orangefarbenes Gelee und schmierten es ihm ins Gesicht. Der süßliche Geruch war betäubend. Dann begann sich die Erbsenschote zu schließen. Jason wartete ab. Durch den Schlitz konnte er gedämpfte Geräusche hören. Plötzlich erweiterte sich der Schlitz, und er sah eine Reihe von neugierigen Gesichtern, die auf ihn herabschauten. Sie trugen Masken über den Nasen, starr und stier blickten sie ihn mit offenen Mündern an. Sie sagten kein Wort, und nach ein paar Sekunden wurde der Schlitz wieder enger. Ein voller Akkord erklang, der langsam abebbte und in jeder Spalte des riesigen Konzertsaals nachhallte. Jason fühlte, wie das orangefarbene Gelee auf seinem Gesicht heiß und brennend wurde und ihn versengte. Ein schwerer Dunst breitete sich in seiner Samtzelle aus. Als sich der Dunst verflüchtigt hatte, war die Schote wieder offen, und wieder erblickte Jason neugierige Gesichter, die sich um seine Couch scharten, nur daß sie dieses Mal keine Masken trugen. Sie lächelten traurig, und ab und zu neigte sich einer der Zuschauer nach vorn und küßte ihn zart auf die Stirn. Das Gelee war verschwunden, also entweder eingetrocknet oder verdunstet. Jasons Gesichtshaut fühlte sich kalt und trocken an. Sie war so straff, daß er seine Gesichtsmuskeln nicht mehr bewegen und seinen Gesichtsausdruck nicht mehr verändern konnte. Auch ließen sich die Augen nicht mehr schließen. Er versuchte, einem der Gesichter zuzuzwinkern, aber nicht einmal eine Augenwimper bewegte sich. »Das ist ja beinahe, als ob sie mich einbalsamiert und feierlich aufgebahrt hätten«, sagte er zu sich selber. Der Gedanke daran erfüllte Jason mit einer plötzlichen Panik. War es das, was sie unter »befrieden« verstanden? Ein erstarrter, lebender Körper, der sich nicht mehr bewegen konnte, aber alles mitbekam, was um ihn vor sich ging? War das vielleicht wie der Tod? Wie lange mochte der Zustand andauern? Ewig, wie bei Wachsfiguren, oder würde er langsam verwesen? Eine Träne trat aus dem starren Augenwinkel von Jasons linkem Auge. Sie schmerzte ihn unsäglich. Einer der Zuschauer schrie auf. Gesichter wurden zur Seite geschoben, der Dirigent beugte sich über Jason, und eiligst stülpte man ihm eine Schutzmaske über die Atemorgane.
»Eine Träne? O nein, eine Träne!« rief der Dirigent und schlug sich mit seinem schwitzenden Taktstock an den Kopf. »Räumt den Orchesterraum, wir müssen noch einmal von vorne beginnen. Los, beeilt euch, wir haben nicht mehr viel Zeit!« Jason spürte, wie er aus der Couch herausgehoben und an seinen Platz zurückgebracht wurde. Man stülpte ihm eine weiche, weiße Kapuze über den Kopf, die von außen angedrückt wurde. Er spürte, wie wieder ein bißchen Gefühl in seine starren Gesichtsmuskeln zurückkehrte. Er konnte sie nun wieder leicht bewegen, aber aus lauter Vorsicht verhielt er sich ganz ruhig und hörte nur zu. »Wir können das Ganze nur noch einmal von vorne beginnen, es hat keinen Wert, jetzt noch dran herumzupfuschen.« »Ihr werdet keine zweite Chance bekommen!« schrie Jason geistesgegenwärtig. »Seien Sie nicht so dumm, natürlich bekommen wir eine zweite Chance, und wenn nötig auch noch eine dritte und vierte.« »Dazu ist keine Zeit mehr«, schrie Jason und hoffte insgeheim, daß dies wirklich stimmte. »Doch, wir haben dafür genug Zeit«, murmelte der Dirigent, aber er sah ängstlich nach dem Haupteingang, als er dies sagte. »Da ihr nun meine Behandlung vermasselt habt«, sagte Jason in einem freundlicheren Ton, »sollten wir vielleicht von der Alternative Gebrauch machen.« Der Dirigent, noch eben damit beschäftigt, die Mitglieder seines Orchesters wieder an ihren Platz zurückzuscheuchen, hielt verdutzt inne. »Woher kennen Sie die Alternative?« fragte er in aufrichtiger Überraschung. Jason kannte sie natürlich nicht. Verzweifelt versuchte er alles, was die Prozedur in irgendeiner Weise verändern würde. Es lag ihm schon auf der Zunge zu sagen: >Ich würde es vorziehen, eingeäschert zu werden.< Denn er konnte sich daran erinnern, daß ein Onkel von ihm diesen Satz in sein Testament geschrieben hatte. >Es ist besser, als steif in einem Sarg zu liegen und langsam zu verwesen<, hatte der alte Mann noch hervorgegurgelt, als sie ihn wegkarrten. Aber wenn Jason dies hier versuchte, wäre es vielleicht noch schlimmer als Befriedung. »Sie wissen schon, was ich meine«, antwortete er so ruhig, wie er nur konnte. »Ausgerechnet Sie? Ein Feigling wie Sie würde das nicht durchstehen!«
»Aber versuchen Sie's doch mal mit mir, ich werde Sie überraschen.« Jason mußte sich über sich selbst wundern. Der Dirigent blickte nun wieder nach der Tür, aber nicht mehr so verstohlen wie vorher, und fingerte unruhig an seinem Taktstock herum. »Es ist natürlich ein bißchen riskant. Oder wenigstens glaube ich, daß es ein bißchen gewagt ist. Sie sind einfach nicht kräftig genug.« Er beugte sich über Jason und betastete dessen Arm dann sein Bein und wieder seinen Arm. Alle waren voller Erwartung. Nachdem der Dirigent ein paar hastige Worte mit dem Kapellmeister gewechselt hatte, schlug er wieder mit seinem Taktstock an das hölzerne Dirigentenpult und sagte: »Meine Herren, Sie haben heute mit viel Einfühlung gespielt, aber der große Befriedungsakkord ging daneben. Wir haben versagt, und die Zeit ist gegen uns. Das nächste Konzert kann jetzt jeden Augenblick beginnen. Wir haben keinen anderen Ausweg als die... Alternative!« Die Musiker warfen sich vielsagende Seitenblicke zu. »Junger Mann«, fuhr der Dirigent fort, »Sie sind wirklich mutig, daß Sie die Alternative als Möglichkeit in Betracht ziehen.« »Ich bin eben noch nicht ganz bereit dazu, befriedet zu werden«, sagte Jason mit einem gewinnenden Lächeln. »Ich muß vorher noch etwas tun. Etwas, das unwiderruflich getan werden muß, bevor ich überhaupt an Befriedung denken kann. Ich will sie nicht mit den Einzelheiten langweilen, aber ich kann Ihnen mein Wort darauf geben, daß es lebensnotwendig für mich ist, aktiv zu bleiben.« »Mit aktiv ist es ja milde ausgedrückt!« »Ich habe keine Angst vor körperlicher Tätigkeit.« »Offensichtlich, sonst hätten Sie wohl niemals die Alternative gewählt!« »Wie soll ich beginnen?« fragte Jason, der mit zitternden Knien aufstand. »Sie müssen zuerst hart gemacht werden. Dann wird man Sie entsprechend bewaffnen, und dann liegt alles bei Ihnen. Sie können das Opfer selbst wählen. Es könnte sogar...« - und dabei grinste er die Leute vom Orchester an - »... einer von uns sein!« Ein paar Musikanten lachten nervös. »Wie Sie wissen, müssen Sie Ihr Opfer innerhalb eines Lichtzyklus, vom Beginn der Jagd an gerechnet, töten und seinen Körper hierherbringen, damit er Ihren auf der Befriedungscouch ersetzt.« »Töten!« Unwillkürlich platzte Jason damit heraus. Der Dirigent sah ihn verwundert an.
»Natürlich töten«, wiederholte er, »was denn sonst? Mir ist eine Befriedigung in Ihrem Namen zuerkannt worden, und deswegen muß ich auch eine bekommen. Sie haben für die Alternative plädiert, und eine solche wird es auch sein. Sie bedeutet ganz genau das, was sie besagt, daß Sie nämlich einen Körper besorgen müssen, der Ihren eigenen ersetzt. Sie töten jemand und bringen die Leiche hierher für die Ersatzprozedur. Dann sind Sie frei und können gehen. Wenn Sie anstelle des Opfers getötet werden, dann sitze ich natürlich in der Patsche. Aber tun Sie von mir aus, was Sie wollen. Wenn Sie groß und stämmig wären, hätte ich ein besseres Gefühl gehabt. Aber so ist es nun eben, die Zeit ist gegen mich, und wenn diese Herren noch einmal einen Akkord vermasseln, dann könnte die Lage noch schlimmer werden. Und nun hängt es ganz von Ihnen ab. Am besten päpple ich sie ein bißchen auf, eine Protalisation und Muskulation kann nie schaden. Dann werden Sie einen kurzen, aber harten Kurs für die Freisetzung des Aggressionstriebes mitmachen müssen, und danach können Sie losschlagen. Ich hoffe nur, daß Sie sich einen ganz scheuen, sanften Trottel aussuchen, der sich von Ihnen einfach überrumpeln läßt. Ihr Lichtzyklus beginnt am Ende Ihres Trainings, beim Verlassen dieser Säle. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?« »Muß ich wirklich töten?« »Sie oder die anderen. Sorgen Sie dafür, daß es nicht Sie erwischt, mir zuliebe.« »Also die anderen«, sagte Jason beinahe unhörbar. »Gut. Die Wärter werden Sie nun zum Übungssaal bringen. Gutes Gelingen, und denken Sie daran, Blut, Unmengen von Blut. Das der anderen natürlich, nicht Ihres!« Bei diesen Worten rauschte er unter tosendem Applaus hinaus. »Wer hat eigentlich applaudiert?« fragte Jason den Wärter an seiner Seite, als sie einen Korridor entlanggingen, der aus Spiegeln bestand. »Ich habe gar kein Publikum gesehen.« »Es ist in seinen Ohren«, war alles, was der Wärter sagte. Im Übungssaal bekam Jason ein hautenges, einfaches weißes Trikot, in dem er sich lächerlich vorkam. Er nahm auf einer schwarzen Steinplatte in der Mitte des dunkelroten, gestrichenen Saales Platz und zog die Beine an. »Muskeln!« keifte eine Stimme. »Muskeln sind dunkelrot wie dieses Zimmer. Fleisch ist dunkelrot, und Muskeln sind Fleisch. Fleisch ist Muskeln. Eßt Fleisch, und ihr eßt Muskeln. Eßt Muskeln und macht
dadurch Muskeln. Ganz einfach. Einfache Form von Transformation. Ich bin dein Transformator. Dies ist der Muskelraum. Steh auf!« Jason tat, was man ihm sagte. Der Anblick des Transformators, der nur aus Muskeln zu bestehen schien, war ihm zuwider. Anstelle eines Kopfes hatte er ein Bündel von Fleischklumpen, die obszön über seinem schwarzen Umhang glänzten. Jason konnte keine Augen entdecken. »Folge mir«, befahl ihm der Transformator. »Was ist denn dann weißes Fleisch?« fragte Jason. Der Muskelkopf blies sich auf und wurde dunkelrot. »Daran wird hier drin nicht einmal gedacht!« brüllte er, und dabei wand sich die ganze Gestalt wie ein Sack voll Schlangen. »Hier lang, paß lieber auf, wohin du trittst!« Sie gingen schweigend, bis sie zu einem größeren roten Raum kamen, der einen weichen gepolsterten Boden hatte. »Jetzt sieh mir genau zu und mach's dann nach«, sagte der Transformator. Er warf sich auf den Boden und sprang wieder auf, dann warf er sich gegen eine Wand, ließ sich darauf rückwärts gegen eine große, weiche Säule fallen und kroch mit zunehmender Geschwindigkeit darum herum. Jason kauerte sich in eine Ecke und sah dem unförmigen Wesen zu, wie es hinstürzte, von Säule zu Säule rutschte und sich von der Decke auf den Boden fallen ließ, bis es schließlich im ganzen Raum mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit herumflog. Schließlich brach es auf dem Boden zusammen, sprang wieder auf, um Jasons Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und rief: »He, nun bist du dran. Hep, hep, hep!« Jason zögerte, worauf sich der Transformator auf ihn stürzte und ihn gegen die größte der Gummisäulen warf. Es verschlug ihm dabei den Atem, aber von dem Augenblick an verlor Jason die Kontrolle über sich und schlug los. Fünf Minuten später lag er in sich zusammengesunken und geschunden auf dem gepolsterten Boden, ein Häufchen Elend. Er schnaufte und keuchte und ließ zu, daß man seinen schlaffen Körper in ein Seitenzimmer schaffte, wo man ihn auf einen seltsamen Apparat aus Gummi spannte. Kanülen wurden in seinem Mund befestigt, und er fühlte, wie ein Schwall Nährflüssigkeit durch seine Kehle floß. Er versuchte zu husten, aber es war unmöglich. Er versuchte, sich zu wehren, aber er hatte die Kontrolle über seinen Muskelapparat verloren. Er bemerkte, wie er immer mehr anschwoll, bis seine Augen tränten und er in einen schaumartigen Schweiß ausbrach. Dann hörten die Kanülen auf, Flüssigkeit abzugeben, und die ganze Gummiwiege begann zu vibrieren.
Der Transformator schaute unbeteiligt zu, als der aufgeblähte Körper seines Opfers auf diese unsinnige Weise hin und her geworfen wurde. Jason fühlte sich benommen und begann zu würgen, woraufhin die Röhren wieder Flüssigkeit in seinen Körper pumpten. Dann wurde er wieder durchgeschüttelt, und es erfolgte eine erneute Flüssigkeitszufuhr. Dann war Ruhe. Die Welt um ihn herum wechselte von Rot zu Rosa und schließlich zu Weiß. Als Jason wieder erwachte, war er erstaunt festzustellen, daß er trotz der Tortur unversehrt war. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf der schwarzen Steinplatte im ersten roten Saal und hatte offensichtlich immer noch das gleiche, weiße, enganliegende Trikot an. »Setzen! Aufstehen! Ein bißchen hoppla!« befahl ihm die Stimme. Zu seiner Verwunderung war er im Handumdrehen wieder auf den Beinen, er trat auf der Stelle und streckte seinen Körper in die Höhe. »Gut. Los! Folg mir! Hep, hep, hep!« Jason sprang hinter dem Transformator her. Er fühlte sich so fit, daß er fünfzehn Kilometer hätte laufen können, wenn nötig. Als sie durch den Korridor mit den Spiegeln gingen, sah er sein Spiegelbild und schrie laut auf. Er taumelte mit dem Rücken gegen die andere Wand und starrte sein Spiegelbild an, das ihm eine riesige, muskulöse, weißgekleidete Figur zeigte, deren Arme und Beine sich unförmig wölbten und deren breiter Brustkorb sich deutlich hob und senkte. »Nein, das bin doch nicht ich!« rief er. »Nicht mehr der Alte, sondern der Neue! Ein ganz neuer Ansatz, ein ganz neuer Körper. Hep, hep!« »Hör doch endlich mit diesem albernen >Hep< auf! Was hast du mit mir gemacht? Du hast ein Ungeheuer aus mir gemacht!« Jasons ohnehin schon starke Halsmuskeln schwollen an, als er sich ins Haar griff. »Aua!« schrie er, weil er sich beinahe aus Versehen mit den eigenen Händen die Haare ausgerissen hätte. »Sachte! Ein neuer Körper - sachte! Du kannst deine eigene Kraft noch nicht richtig abschätzen. Du mußt ihn langsam trainieren. Das kannst du doch nicht tun, dir selber einen Schaden zufügen!« »Halt's Maul! Und hör mit diesem >Hep< auf! Ich halt's einfach nicht mehr aus! Sag mir lieber, was ihr jetzt mit mir machen wollt.« »Du wirst jetzt mutiviert, wenn dir das was sagt«, bellte der Transformator und bearbeitete dabei einen unsichtbaren Sandsack mit den Fäusten. »Es geht gleich los, beeil dich! Eins, zwei, eins, zwei. Folg mir. Hep!«
Wie ein verwundeter Bär stolperte Jason hinter ihm her. In einem verdunkelten Raum schnallte ihn der Transformator vor einem grünen Vorhang fest. Eine Maske wurde ihm so über die Augen gestülpt, daß er die Lider nicht schließen konnte. Sein Kopf wurde so fest angeschraubt, daß er ihn überhaupt nicht mehr bewegen konnte. Nicht nur konnte er sich nicht von den Szenen abwenden, die der Vorhang freigab, als er sich hob, sondern er konnte auch nicht mehr die Augen schließen, um abzuschalten. Er versuchte, seinen Blick zu verschleiern, was zur Folge hatte, daß die Konturen eben doch nicht undeutlich genug wurden. Was er sah, machte ihn immer wütender. Szene um Szene zog an ihm vorüber, und jede steigerte seine Wut, denn das Verhalten der Charaktere, die darin gezeigt wurden, wurde immer verabscheuungswürdiger. »Sie sind gemein, sie sind böse«, schrie er heraus. »Bremst sie, sie müssen daran gehindert werden, tötet sie, ach tötet sie doch endlich!« Schließlich wurde der Vorhang wieder heruntergelassen und die Maske von Jasons Gesicht entfernt. Er zwinkerte mit den Augen. Die Schraube wurde ebenfalls gelockert. Jason schüttelte sich und sprang auf. »Diese Schurken! Es sind alles Teufel!« brüllte er den grünen Vorhang an. Er drehte sich mit einem Ruck um, aber er war ganz allein. Der Saal hatte zwei Türen, von denen die eine verschlossen war und die andere einen Spaltbreit offen. Jason stemmte sich dagegen und zerbrach sie in kleine Stücke. Mit großen Schritten ging er nach draußen. Er befand sich plötzlich mitten in einer felsigen, geröllhaltigen Landschaft. Er rannte hinaus, wollte nur möglichst schnell von dem Gebäude wegkommen und stürzte hechelnd von Fels zu Fels. »Wo seid ihr?« brüllte er. »Kommt heraus und stellt euch! Wer seid ihr? Ich weiß, daß ihr hier seid. Feiglinge! Armselige Feiglinge! Zeigt euch, ihr stinkenden, schmierigen Feiglinge!« Speichel rann ihm dabei übers Kinn. Er hob einen Stein auf und schleuderte ihn über einen Felsblock. Ein dumpfer Aufschlag war zu hören, der von einem schrillen Schrei gefolgt war. Dann hörte Jason die Schritte eines Wesens, das sich entfernte. Er schwang sich um den Felsblock herum und sah gerade noch rechtzeitig in der Ferne eine Staubwolke. Mit großen Sprüngen setzte er ihr nach. Er rannte so schnell, daß der Wind durch sein Haar pfiff. Die Entfernung zwischen ihm und der Staubwolke verringerte sich zusehends. Jason lief nun zwischen riesigen Grashalmen hindurch, die er im Gehen niedermähte. Vor sich hörte er etwas ins Wasser platschen und davonschwimmen. Im Nu war er ebenfalls
im Wasser und schwamm mit wild um sich schlagenden Armen so schnell er konnte. Als das Wasser seichter wurde, versuchte er zu stehen, um zu sehen, wohin sein Opfer geflohen war, aber er mußte feststellen, daß er im Schlamm steckengeblieben war. Er verlor die Nerven und schlug verzweifelt um sich. Dadurch verschlechterte sich natürlich seine Lage. Als er immer tiefer in den weichen Schlamm sank, verschluckte er sich und bekam keine Luft mehr. Die ganze Welt um ihn herum schien nach oben zu gleiten, als sein sich krümmender Körper immer mehr einsank in den stinkenden Schlamm, der ihn hinabzog. Er heulte auf und schlug spuckend und prustend auf die Wasseroberfläche ein, als ob er das Wasser töten wollte, bis er vollends versank.
15. Die tödliche Alternative Wenig später mußte Jason husten. Es war aber auch möglich, daß schon sehr viel Zeit vergangen war. »Ist dir wieder besser?« Die besorgte Stimme gehörte jemand, den er kannte. Ludos vertrauter, pelzbedeckter Körper beugte sich über ihn. Er würgte. »Warum hast du mich verfolgt?« fragte Ludo, die erleichtert war, als Jason wenigstens ein Lebenszeichen von sich gab. »Hast du mich töten wollen? Was ist denn mit dir los?« Sie wurde unruhig. Ohne ein Wort zu sagen, wuchtete er sich aus dem Wasser, blickte sie finster an und wartete auf seinen nächsten Wutanfall, der aber nicht kam. Statt dessen brach er zusammen und begann zu schluchzen, dabei hob und senkte sich sein Rücken. Jason zitterte am ganzen Körper, während seine Zähne sich in die feuchte Erde gruben. Schließlich ließ die Spannung nach. »Ludo, ach Ludo, was haben die bloß mit mir angestellt?« Er hielt inne. »Feßle mir die Hände auf meinen Rücken, aber wirklich fest, denn wenn ich mich wieder gefangen habe, könnte es sein, daß ich dich wieder anfalle.« Ludo zögerte, denn sie war noch immer verwirrt und auf der Hut, aber dann tat sie, wie ihr geheißen. Er erwachte wieder in ihren Armen mitten auf der Wiese mit den Riesenhalmen. Sie hatten sich auf einem Lager von hartem Stroh niedergelassen. Eine Unzahl von widersprüchlichen Gedanken ging Jason durch seinen verwirrten Kopf. Er bewegte sich, um ihr Gesicht berühren zu können. War es, um sie zu liebkosen oder um ihr weh zu tun? Er konnte es
nicht sagen, denn sein Arm bewegte sich nicht. Er fühlte sich seltsam verkrampft und verrenkt an. Dann erinnerte er sich der Fesseln, die ihn festhielten. Ludo machte eine Bewegung, setzte sich aufrecht hin und kratzte nachdenklich die Hörner. Dann fuhr sie mit der Zunge über ihre Lippen und schniefte. Schließlich öffnete sie die Augen. Plötzlich sprang sie auf, wich vor Jason zurück und fauchte. Schritt um Schritt ging sie zurück, senkte ihr Haupt und ging dann auf den wehrlos daliegenden Jason los. Er schrie sie an und rollte sich im letzten Moment aus dem Weg. Ludo stieß mit den Hörnern ins Stroh, riß die Halme mit den Wurzeln aus und warf sie hoch in die Luft. Sie schnaubte wild und blickte auf. Ihre Augen funkelten bedrohlich. Sie sah nach rechts und links und rannte dann schnaubend davon. So hatte sie Jason noch nie zuvor gesehen. Er rappelte sich mühsam auf und stolperte durch das hohe Gras. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Arme, von den gefesselten Händen bis zu den Schultern. Nach kurzer Zeit sank er erschöpft auf die Knie und kippte nach vorn, bis er mit dem Gesicht den Boden berührte. Tränen flossen ihm über das Gesicht und bildeten kleine Schlammlachen in der trockenen Erde. In dieser Stellung blieb er einige Zeit liegen, und es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Nichts bewegte sich außer den Halmen, die leise im Wind schwankten und raschelten. Er richtete sich auf und versuchte Klarheit in seine Gedanken zu bringen. »Wenn ich ganz in Ordnung bin, was hat dann bloß dieses Reaktion bei Ludo provoziert? Mit mir stimmt etwas nicht. Sie muß eine bösartige, eine wilde Ausdünstung an mir wahrgenommen haben. Und doch hat sie mir letzte Nacht geholfen - ich verstehe das einfach nicht. Vielleicht hatte der Schlamm diesen Geruch verdeckt. Ich weiß es wirklich nicht.« Er rollte sich auf die Seite und lag ganz still, denn trotz seines langen Schlafes fühlte er sich erschöpft. »Wo ist sie hingegangen? Wird sie wieder zurückkommen und mich angreifen? Vielleicht spießt sie mich dann mit ihren Hörnern auf? Oder ist sie vielleicht nur weggegangen, um jemanden zu holen, der mich heilen kann? Aber wovon denn eigentlich?« Da raschelte es im Gras. Stimmen begannen zu flüstern. »Pst!« »Ich bin ja ganz leise!« »Dann sei eben noch leiser!« »Bin ich ja eh schon!« »Dann halt endlich den Mund!« »Also wirklich!« »Jetzt sei schon still!«
Jason lag regungslos da. Das Geraschel kam näher, und die Stimmen wurden deutlicher. »Was ist das?« fragte jemand. »Dumm!« antwortete ein anderer gereizt. »Was ist dumm?« »Deine Frage.« »Warum?« »Wie soll ich denn wissen, was das ist? Ich kann auch nicht mehr davon sehen als du.« »Für mich sieht es wie ein Weißer Wisch aus.« »Wie willst du das denn wissen?« »Weil ich dafür ausgebildet bin.« »So, das hast du mir ja nie gesagt!« »Ich verrate dir eben nicht alles, was ich weiß.« »Und warum nicht?« »Weil du dann mehr wüßtest als ich. Du wüßtest dann sowohl das, was ich weiß, und das, was du selber weißt. So blöde bin ich dann doch nicht!« »Wenigstens kannst du mir verraten, wie man sie ißt.« »Was denn?« »Die Weißen Wische natürlich!« »Ach so, die!« »Ja, genau die! Nun?« »Gesalzen.« »Geröstet oder roh?« »Vor allem lebend, mit Unmengen von Salz und Zitronen. So schmecken sie ganz vorzüglich!« »Sind sie gefährlich?« »Nein, nicht wirklich. Sie haben keine Arme. Schau, es ist ein Weißer Wisch, und was für einer!« »Du kannst ihn aber nicht ganz hinunterschlucken!« »Stimmt.« »Und du kannst ihn nicht lebendig essen, wenn du ihn nicht ganz hinunterschlucken kannst.« »Verflixt!« »Sollen wir nach einem kleineren suchen?« »Das wäre eine sündhafte Verschwendung. Es muß doch irgendeine Möglichkeit geben, ihn hinunterzuschlucken. Vielleicht sollten wir ihn ganz einfach in die Länge ziehen, daß er lang und dünn wird und Stückchen um Stückchen hinunterrutscht.«
»Es wäre immerhin einen Versuch wert.« Jason wurde bang ums Herz. Das Gras teilte sich, und zwei große, behaarte Wesen mit mehreren Reihen von winzigen Füßen hoppelten herbei und pflanzten sich vor ihm auf. Aus allen Teilen ihres Körpers schienen Schnurrhaare zu wachsen, sogar aus den Füßen, den Zehen und den Gesichtern. Jedes der Geschöpfe hatte jeweils fünf Paare von gelben, glänzenden Augen. Alle zwanzig Augen stierten Jasons zusammengekauerte und gekrümmte Gestalt bösartig an. Der erste Schnurrer zwinkerte dem zweiten Schnurrer fünfmal zu und räusperte sich dann. »Komm nur her, kleiner Wisch, hab keine Angst, wir tun dir doch nichts!« Jason drehte sich blitzschnell auf den Rücken und trat ihn mit seinem Fuß voll ins Gesicht genau zwischen sein drittes Augenpaar. In den Augen erlosch das gelbe Licht, und Blut begann an dem langen, mit Schnurrhaaren bewachsenen Kopf herabzutröpfeln. Das Tier schüttelte sich, und kleine Tropfen hellblauen Blutes bespritzten Jasons weißes Trikot. »Bleib, wo du bist!« schrie Jason, »Oder ich mach' dir den Garaus und trag' deine Schnurrhaare bei meiner Hochzeit.« Der erste Schnurrer gurgelte und schniefte vor sich hin, dann rollte er sich langsam zu einem Ball zusammen. Die Augen des zweiten Schnurrers leuchteten auf und wurden dunkelrot. Wie die Gabel eines Blitzes schössen zwei riesige Fangzähne unter dem zottigen Gesicht hervor und bohrten sich in seinen verwundeten Kameraden und spießten ihn auf grausame Weise auf. Langsam zog er den ersten Schnurrer, der immer noch leise vor sich hin gurgelte, zu sich heran und begann ihn laut schmatzend zu verzehren. Er spuckte die Schnurrhaare aus und mußte laut niesen. Jason schrak zurück. Der erste Schnurrer schwand dahin wie ein undichter Ballon. Bald war nichts mehr von ihm übrig, und der zweite Schnurrer leckte sich genüßlich die Lippen. »Hmm, war das aber gut! Einfach köstlich. Ein kaputter Wischesser, pflege ich zu sagen, ist ein schmackhafter Wischesser. Verschlinge ihn, solange du kannst.« Das Tier würgte und rülpste. »Gutes Futter soll man nicht verkommen lassen.« Bei diesen Worten machte er kehrt und hoppelte durch das wogende Gras davon. »Ich bin jetzt auch ein Barbar«, sagte sich Jason. »Ich hätte sie beide getötet, zu Tode getrampelt und getreten. Was haben nur die Klimperer mit
mir gemacht? Ludo hat dies erkannt. Sie hat es irgendwie gespürt. Sie wird mir nie mehr vertrauen. Ich muß zu dem Transformator zurück. Er muß mir helfen, er muß mich zurückverwandeln. Es ist meine letzte Hoffnung.« Aber dann fiel Jason wieder der häßliche Kopf des Transformators mit den Muskelwülsten ein und dessen wie besessen sich windender Körper. Es hatte keinen Zweck, denn dieses Ungeheuer würde ihm niemals helfen. Es würde ihn nicht einmal verstehen. Jason schauderte es, als er daran dachte, und er versuchte wieder klare Gedanken zu fassen. Er mußte es woanders versuchen. Aber wo? Und bei wem? Er stolperte durch das lange Gras, hartnäckig verfolgte er seinen Weg, bis er zu einer Lichtung kam. In der Mitte erblickte Jason einen schlafenden Musiker. Es war einer der Kontrabaßspieler aus dem Befriedungsorchester. Mit einem Schrei des Erstaunens wachte er auf, aber als er Jason sah, fing er an, wie am Spieß zu schreien. Aus lauter Verzweiflung versuchte er sich von dem Instrument loszureißen, mit dem die ganze Vorderseite seines Körpers verwachsen war. Mit einem entsetzlichen Geräusch riß er sich davon los, dann öffnete er die Rückseite des Instruments, sprang hinein, schlug die Tür wieder zu und kauerte sich zitternd im Innern zusammen, voller Erwartung, ob der Killer wieder weggehen würde. Jason konnte nur seine angsterfüllten Augen sehen, die durch einen der geschweiften Schlitze in der Vorderseite des Instruments blickten. Er näherte sich dem Instrument, das mit seiner Spitze in den Boden gerammt war, drehte sich vor ihm um und begann seine Handgelenke an den Saiten zu reiben, um die Fesseln durchzuwetzen, die ihn festhielten. Ludo hatte aus den zähesten Gräsern ein Seil gedreht, aber trotzdem riß nun ein Strang nach dem anderen. Jason vollführte einen fürchterlichen Lärm, als er sich an der Baßgeige zu schaffen machte, und der Gefangene im Innern schrie und jammerte. Gerade als die letzen Fesseln rissen, stürzte der Musikant durch die Öffnung auf der Rückseite des Instruments und wälzte sich auf dem Boden, wobei er ächzte und stöhnte und sich die Ohren zuhielt. »Ich bin taub! Durch deine Schuld! Durchbohrt! Du hast meine Trommelfelle durchstoßen. Ich werde nie mehr spielen können. Du Ungeheuer, du, du miserabler Kakophoniker!« Jasons Opfer war ein spindeldürres Wesen mit einem Schnabel. Es sah aus wie ein riesiges Insekt. Es zischelte, raschelte und wand sich auf der Erde. Dabei wirbelte es große braune Staubwolken auf. Jason vermochte
die Baßgeige zu nehmen, denn in seinen Händen löste sich langsam der Krampf, und das Blut fing wieder an zu pulsieren. Dann hielt er das Instrument in die Höhe. »Du dreckiger, kreischender, kriechender, schorfiger Auswurf!« ereiferte sich Jason und hielt die Baßgeige mit der Spitze nach unten über dem Kopf des armen Wesens, das in Todesangst zitterte. »Du mußt sterben an meiner Statt. Du wirst die Alternative bei der Zeremonie sein. Ich hasse dich. Ich werde dich vernichten!« Aber plötzlich begannen ihm Tränen übers Gesicht zu laufen, und in diesem Moment floh der Musiker außer Reichweite und rannte davon. Die Baßgeige stieß in den Boden, wo sich Jasons Opfer noch einen Augenblick zuvor gewunden hatte, und die Spitze grub sich tief in die trockene Erde. Ein Murmeln kam von dort, wo das Musikinstrument stand. Wasser begann an dieser Stelle aus dem Boden zu sickern. Jason packte das Instrument und zog es wie ein Schwert aus einer Wunde. Beim Herausziehen stieg ein Wasserstrahl hoch in die Luft auf und fiel über der Lichtung wieder herab, von dem Jason in ein paar Sekunden vollkommen durchnäßt war. Das Wasser war warm und klar, es war wie eine heiße Quelle. Jason breitete die Arme aus und badete darin. Er legte seinen Kopf in den Nacken und ließ das köstliche Naß in seinen Mund rinnen. Er fühlte sich wieder rein. Rein und gut und erfrischt. Befreit reckte er die Arme hoch und massierte sie in dem herabsprühenden Wasser. Dann beugte er seinen Oberkörper nach vorn und spülte den Schlamm und Staub aus seinem verklebten Haar. »Junger Mann!« Es war der Dirigent, der dies sagte. »Junger Mann, ich muß mit Ihnen reden!« Offensichtlich war er sehr nervös. »Sie sind in das Ruhegebiet des Orchesters eingedrungen. Wir ruhen uns hier von unseren anstrengenden zeremoniellen Verpflichtungen aus. Ruhe ist unbedingt erforderlich. Sie aber stören diese Ruhe. Und was noch viel schlimmer ist, Sie scheinen meinen kleinen Scherz, daß Sie einen von uns töten sollen, ein bißchen zu wörtlich zu nehmen.« Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, und er zuckte entschuldigend mit der Achsel. »Das kommt aber überhaupt nicht in Frage! Denn wie könnten wir jemals einen ausgeglichen Akkord spielen, wenn wir Ihre Alternative befriedigen - und Sie einen von uns getötet haben? Also seien Sie vernünftig. Es war ja wirklich nur ein Scherz, meine gewohnte Art, die Spieler zu ärgern. Sie müssen sich Ihr Jagdrevier woanders suchen.«
»Mein Opfer«, erwiderte Jason ernst, »wird man kaum mehr befrieden müssen, denn es wird dann bereits tot sein. Die Prozedur wird nur noch eine pure Formalität sein. Irgendein Akkord genügt, wenn ich mein Opfer abgemurkst habe.« Er stürzte nach vorn, worauf der Dirigent entsetzt zurückwich und über einen Stein stolpernd auf den nassen Boden fiel. Jason griff nach seinem stockförmigen Arm und preßte die Spitze des elfenbeinernen Stocks an die Kehle des Dirigenten. »Sie würden ja schließlich auch schon genügen! Und Sie spielen kein Instrument. Wenn ich Sie umbringe, dann wird es den Akkord nicht einmal beeinträchtigen.« »Aber... aber das ist doch einfach lächerlich! Sie wissen dann nicht einmal ihren Einsatz. Sie werden alle zu verschiedenen Zeiten anfangen zu spielen!« »Unsinn, ich gebe ihnen den Einsatz selber. Jeder Idiot kann so ein kleines Stöckchen bewegen, auch wenn des Exdirigenten Blut daran klebt.« Bei diesen Worten versetzte er dem wild auf und ab sausenden Adamsapfel des verängstigten Dirigenten mit dem Stock einen Hieb. »Ist ja schon gut! Jetzt ist es genug. Ich werde etwas arrangieren. Sie müssen mir nur eine Minute Zeit geben.« Aber Jason bewegte sich nicht von der Stelle. »Sehen Sie, wir haben dort drüben einen aufgedunsenen Wischesser gefunden, der sich mit etwas vollgestopft hat, das ihm nicht bekommen ist. Er war so voll, daß er nicht mehr atmen konnte. Der arme Kerl ist ganz einfach erstickt. Mausetot. Wir nehmen ihn. Genau, das ist die Lösung, wir nehmen ihn. Wir sagen ganz einfach, daß Sie ihn getötet haben. Wie finden Sie das?« »In gewisser Weise hab' ich's ja auch getan«, sagte Jason, »aber was wird aus mir? Sie können mich doch nicht so aufgeblasen rumlaufen lassen und mit diesem Haß im Bauch. Das kommt gar nicht in Frage, hören Sie?« Und bei diesen Worten schlug er den Dirigenten wieder mit seinem eigenen Taktstock. Der Unglückliche schrie vor Schmerz auf und fiel auf die Knie. »Hören Sie, ich werde das in Ordnung bringen. Es ist zwar nicht üblich, aber ich werde Ihnen dabei helfen. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht. Wenn Sie jetzt bitte mit mir kommen würden, dann werde ich den Transformator dazu bringen, Sie wiederherzustellen. Man muß den Prozeß eben nur umkehren, das ist alles. Aber Sie werden schon sehen, es wird dieses mal viel einfacher. Wirklich ganz angenehm. Beruhigend.
Hübsch. Nun, Sie werden es ja sehen. Kommen Sie, Sie brauchen doch wirklich keine Angst zu haben!« »Der letzte, der zu mir >Hab keine Angst< gesagt hat, wollte mich nur fressen«, fauchte Jason giftig. »Aber nicht dieses Mal, ganz bestimmt nicht dieses Mal«, sagte der Dirigent ganz weinerlich. Er umklammerte seinen Taktstock und humpelte davon. Mißtrauisch folgte ihm Jason auf den Fersen. Endlich gab es wieder einen Hoffnungsschimmer. Sie gelangten zu dem Saal, in dem Jason zum Haß mutiviert worden war. Der Dirigent veranlaßte ihn, sich hinzusetzen, um die nötigen Vorkehrungen zu treffen. Es war zwar ziemlich gewagt, ihn gehen zu lassen, aber irgendwie hatte Jason das Gefühl, daß er die Oberhand gewonnen hatte. Auf eine geheimnisvolle Weise hatte sich das Blatt gewendet, und er hatte die Klimperer mit ihren eigenen Waffen geschlagen. Der Haß, den sie in ihm eingepflanzt hatten, hatte sich als Bumerang erwiesen. Der Dirigent hatte gepfuscht und war jetzt wahrscheinlich darauf aus, ihn loszuwerden. Er konnte sich also beruhigen und darauf warten, bis sie wieder einen normalen Menschen aus ihm machten. Allerdings erwies sich der Vorgang als ziemlich langwierig. Tagelang wurden ihm Szenen vorgespielt, in denen Liebe, Harmonie und Güte die Hauptrolle spielten. Dies half, seine Wut auszulöschen. Während der Vorführung wurde er dazu veranlaßt, auf weichen Kissen herumzuliegen und die Zeit zu vertrödeln, während er sich mit Süßigkeiten, Cremeschnitten, süßen Brötchen, Schokoladekrapfen, in Sirup getauchten Waffeln und gelierten Feigentörtchen vollstopfte. Nach einer Woche waren sowohl sein Haß wie auch seine Muskeln auf ein Normalmaß reduziert, und er war wieder ganz der alte. Zum Abschied bekam er ein Trommodil, ein gepanzertes Tier, dem an den Flanken jeweils Trommeln hervorwuchsen. Es sah aus wie das Geschöpf, in dessen Trommeln die Klimperer am Strand Ludo und Jason gesteckt hatten. Dieses Mal sollte Jason jedoch auf dem Rücken des Tieres reiten, und seine Trommeln wurden mit Proviant für die Reise gefüllt. Bevor er wegritt, fragte Jason einen seiner Wärter, ob er sich vom Dirigenten verabschieden könne, aber man antwortete ihm nur sehr kurz angebunden, daß der in Frage stehende Beamte >ersetzt< worden sei. Man gab ihm keine weitere Erklärung, und es erschien ihm das beste, der Sache nicht weiter nachzugehen. Als er wegritt, hörte er den gedämpften Klang
eines großen Befriedungsakkords, der aus dem Innern des Klimpersaals schwach nachhallte, und er fragte sich, wer wohl das Opfer sein würde. Vielleicht war es sogar der Dirigent selbst, der in Ungnade gefallen und in die gefürchtete Samtschote gesperrt worden war. Vielleicht war es aber auch ein neues Opfer der Klimperer, das wie Jason zu etwas verurteilt war, das es aber erst verstehen würde, wenn es dazu zu spät war. Jason zögerte. Mehr als alles andere in der Welt wollte er vom Hauptquartier der Klimperer wegkommen, aber er konnte es kaum übers Herz bringen, wegzureiten und zu wissen, daß der Akkord bis zu seinem tödlichen Höhepunkt durchgespielt wurde. Er ließ das Trommodil umkehren und ritt zu den Hallen der Klimperer zurück, aber das Tier hatte nur ein paar Schritte gemacht, als auch schon ein Haufen von Wärtern herbeistürmte und ihm den Weg versperrte. Einer trat vor und deutete mit einer starren Handbewegung in die Ferne. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber dann stieß er einen kurzen Pfiff aus, bei dem das folgsame Trommodil kehrt machte und in die angezeigte Richtung galoppierte. Jason war sich bewußt, daß er herunterspringen und durch die Sperre der Wärter hindurch zu den Hallen hätte eilen sollen, aber offensichtlich war es hoffnungslos. Und kurz daraufhörte er, wie der gedämpfte Akkord seinen Höhepunkt erreichte, und wußte, daß nun ohnehin alles vorüber war. Als das Trommodil langsam seines Wegs durch das hohe wogende Gras ging und Jason gedankenvoll auf seinem breiten gepanzerten Rücken saß und sehr unglücklich darüber war, daß er dem Opfer in der samtenen Schote nicht helfen konnte, bewegte sich plötzlich etwas bei der Gruppe von dichten Stämmen vor Jason, und Ludo sprang aus dem Gebüsch. Sie schnüffelte in der Luft herum, jubelte auf und rannte um das Trommodil herum. Dann kletterte sie auf seinen Rücken und setzte sich hinter Jason. Als sie ganz dicht an ihm heran war, schnüffelte sie noch einmal, um sich zu überzeugen, daß er auch wirklich wieder ganz normal war. Dann schlang sie die Arme um ihn und jubelte vor Freude. Sie mußten beide lachen, und das war so ansteckend, daß sogar das Trommodil mitlachte, ohne zu wissen warum, und es gab ein tiefes, fröhliches Knurren von sich. Jason bearbeitete die Trommeln mit den Fäusten. Unter Jubelrufen galoppierten sie davon und sangen so laut sie nur konnten. Bald waren sie erschöpft und ritten schweigend weiter. Sie waren zufrieden.
»Ludo«, sagte Jason, nachdem er lange nachgedacht hatte, »mich irritiert das - warum glaubst du, haben mich die Klimperer dann doch noch laufen lassen, obwohl sie doch als so brutal gelten?« »Weil du den Dirigenten angegriffen hast. Als ich mich im langen Gras versteckt hielt, habe ich ein paar Musikern heimlich zugehört, die sich darüber unterhielten. Sie sagten, daß es nie zuvor passiert wäre und daß der Komponist deswegen ziemlich bestürzt sei und sich gleich daran gemacht habe, eine neue Haßpartitur zu schreiben, die die Klimperer gegen irgendwelche Zufälle absichert. Bei dir hatten sie eine AllzweckHaßpartitur verwendet, und das war eben zu gefährlich, aber das wollen sie ja jetzt ändern. Das wird allerdings Zeit in Anspruch nehmen, und so kamen sie überein, daß du dich zu einem unnötigen Risikofaktor auswächst und daß es am besten sei, den Verlust mit einzukalkulieren und dich laufen zu lassen. Wenn ich sie recht verstanden habe, war die Rede davon, den Dirigenten zu bestrafen.« »Daher habe ich beim Weggehen gehört, wie er also befriedet wurde. Einen Augenblick lang habe ich gedacht, daß du es wärst.« »Nein, sie konnten mich nicht einfangen. Ich konnte sie aus einem Kilometer Entfernung riechen. Ich konnte ihren Haß förmlich riechen. Ich fürchte, er war auch auf dich übergegangen, als sie dich der Behandlung unterzogen haben. Deswegen habe ich dich auch angegriffen. Es tut mir leid, aber ich konnte einfach nichts dagegen tun.« »Ich auch nicht. Sie haben mich vollkommen umgewandelt. Es war entsetzlich. Ich hoffe, daß du mir auch verziehen hast?« »Natürlich. Du warst ja nicht du selbst. Aber das ist nun alles vorüber und liegt hinter uns. Am besten sprechen wir nicht mehr darüber.« »Einverstanden.« »Schluß mit den Klimperern!« sagte Jason. »Schluß mit den Klimperern!« fügte Ludo hinzu. Sie ritten weiter und lächelten dabei still vor sich hin.
16. Die Schlacht der Schneehähne Es dauerte nicht lange, bis Ludo und Jason das Herrschaftsgebiet der Klimperer hinter sich gelassen hatten und durch eine angenehm bewaldete Gegend mit vereinzelten niedrigen Hügeln kamen. Als sie hungrig waren,
machten sie an einer kleinen Lichtung Rast, aßen und tranken von ihren Vorräten in den Trommeln und schliefen dann friedlich an einem grasbewachsenen Abhang ein. Vor seiner Abreise hatte man Jason seinen Gürtel und seinen sorgfältig geflickten Kittel in den Klimperer-Hallen zurückgegeben, und als er nun die Tasche an seinem Gürtel öffnete, holte er das Halsband mit den nachgemachten Goldenen Würmern hervor, und zeigte es Ludo. Er erzählte ihr auch die Geschichte, wie er es bekommen hatte. »Also bleibt uns nichts anderes übrig, als zum Bildhauer zu gehen«, sagte Ludo gedankenvoll. »Erinnerst du dich an diese winzige Hand damals im Wurzelwald, über die alle so furchtbar gelacht haben?« »Ja, natürlich, die kleine Hand, die sagte, daß die Goldenen Würmer im Helm des Bildhauers aufbewahrt werden. Sollte das vielleicht die Lösung des Problems sein?« »Möglicherweise. Der Bildhauer trägt immer eine Art Helm, wenn er einen von uns neu modelliert. Vor allem, um sein Gesicht zu schützen, glaube ich, denn der untere Teil ist durchsichtig. Aber oben hat er eine goldene Wölbung, die wie... eine Zwiebel aussieht. Glaubst du...?« »Es paßt alles ins Bild! Das muß die Lösung sein. Wir müssen es herausfinden, daran führt kein Weg vorbei!« Bei diesen Worten haute er grimmig auf den weichen Boden. Währenddessen starrte Ludo verloren in die Ferne, denn sie konnte seinen Eifer nicht teilen. Nach einer Weile sagte sie sanft: »Aber den Bildhauer kannst du nicht aufsuchen, der Bildhauer sucht dich auf.« Jason drehte sich auf die Seite, um sie anzuschauen. Vielleicht wurde sie der Suche überdrüssig. Er mußte sich etwas einfallen lassen. »Aber irgendwo muß es doch einen Ort geben - einen Palast, eine Festung oder eine große Burg, jedenfalls irgendetwas in der Art - wo der Helm aufbewahrt wird, wenn er außer Gebrauch ist, das heißt, wenn der Bildhauer nicht unterwegs ist. Hast du denn nie etwas darüber erfahren während der Modellierbesuche des Bildhauers?« »Nein, Fragen helfen dir in diesem Fall nicht weiter«, sagte Ludo niedergeschlagen, »denn der Große Meister muß dich immer zuerst angesprochen haben, bevor du etwas sagen kannst. Im Grunde genommen geben wir nur Antworten auf seine Fragen, also erfahren wir nur sehr wenig.« Jason sprang in die Höhe.
»Dann müssen wir eben so lange suchen, bis wir mehr darüber erfahren. Gibt es irgend jemanden, der uns dabei helfen könnte?«' »Wir könnten es vielleicht einmal in der Schule des Verlernens versuchen. Möglicherweise kann uns dort jemand sagen, was wir tun sollen.« »Weißt du, wo die ist?« »Ich weiß nur, daß sie sich auf einem Bergplateau befindet und daß du ein ziemlich guter Kletterer sein mußt, um dorthin zu gelangen. Aber viele gelehrte Leute gehen dorthin. Es ist ein wichtiges Gelehrtenzentrum, und mindestens einer der Schüler sollte uns weiterhelfen können.« »Aber hast du nicht gerade gesagt, daß es eine Schule des Verlernens sei? Warum sollten ausgerechnet gelehrte Leute dorthin gehen?« »Natürlich, um zu vergessen. Um die Vergessenskurse zu belegen. Dafür ist die Schule berühmt.« »Das verstehe ich nicht.« »Nun, mit jedem Tag erweitert sich doch unser Wissen, stimmt's?« »Ja.« »So daß am Ende unsere Gehirne mit Fakten so vollgestopft sind, daß kein Raum mehr für neue Ideen ist. Stimmt's?« »Ja.« »So daß wir also gelegentlich wieder verlernen und unsere Gehirne von all dem Kram entrümpeln müssen, damit wir wieder zu den reinen und einfachen Ideen zurückfinden. Stimmt's?« »Ich verstehe. Du meinst, daß einfache Ideen besser sind als komplizierte?« »Natürlich. Die einfachsten Ideen sind die größten. In der Schule des Verlernens beginnst du damit, alles aufzuschreiben, was du weißt, die unzähligen Details, die dein Gehirn verstopfen. Dann wird dir die Aufgabe gestellt, alles, was du weißt, auf eine einfache, grundlegende Erkenntnis zu reduzieren. Gewöhnlich dauert der Prozeß drei Jahre. Danach wirst du als ungelehrt eingestuft und als geeignet, wieder in die Welt hinauszugehen. Denn sie sind der Ansicht, daß man eine Person mit nur einer einzigen Idee im Kopf nicht zurückhalten kann.« »Warum gehen dann nicht alle hin?« »Weil man ein guter Kletterer sein muß, um hineinzukommen. Und natürlich sind viele so verwirrt durch all ihre Erfahrungen, daß sie nicht mehr begreifen, was ihnen das Vergessen bringen sollte.« »Ich fürchte, daß ich nicht den ganzen Kurs über dort bleiben kann, nicht wenn er drei Jahre dauert.«
»Das sehe ich ein, aber das muß auch nicht sein. Wir müssen ja nur die Neuankömmlinge befragen, die Gelehrten, die viel wissen. Denn sie sind diejenigen, die uns vielleicht weiterhelfen könnten.« »Richtig. Dann machen wir uns aber am besten auf den Weg und beginnen mit unserer Suche nach dem Berg mit der abgeflachten Spitze. Die Berge dort drüben sind etwas höher, so daß wir am besten in die Richtung gehen. Das heißt, wenn du nicht...« »Wenn ich nicht was?« »Wenn du nicht lieber zurückkehren willst. Du bist schon sehr weit weg von deinem Dorf. Und du warst dort doch sehr glücklich. Ich habe kein Recht darauf, von dir zu erwarten, daß du mitkommen willst. Ich kann auch allein weitergehen, wenn...« »Nach allem, was wir miteinander durchgemacht haben, bin ich ein bißchen erstaunt, daß du überhaupt noch fragst. Du weißt genauso gut wie ich, daß, wenn man die Gefahr mit jemandem teilt, dieser wichtiger für einen wird als andere, mit denen man jahrelang in Frieden dahingelebt hat. Und wir haben so viele Gefahren miteinander bestanden, daß ich jetzt überhaupt nicht mehr daran denken würde, allein zurückzugehen.« »Das freut mich.« Sie schauten sich einen Augenblick lang schweigend an, und weil sie dann verlegen wurden, drehten sie sich um und packten alles wieder in ihre Trommeln ein. Das Trommodil war nun ebenfalls ausgeruht und marschierte mit seinen schweren Beinen zügig von dannen. Dabei wedelte es vergnügt mit seinem unförmigen Schwanz. Als sie sich mühsam ihren Weg zwischen umgefallenen Bäumen und Pflanzen hindurchbahnten und auf die höchsten Berge, die sie sehen konnte, zugingen, begann das große Tier fröhlich vor sich hin zu summen und schließlich sogar ein richtiges Lied anzustimmen. Es war ein merkwürdiger Walzer, und das Tier schwankte von einer Seite zur anderen, als es sein Lied sang: »O bitte fäll mir einen Pfeiler, Pell mir einen Feiler, Und zieh mir einen Eimer voll Linien. O bitte nenn mich Kraut, Verbrenn mir die Haut, Und such mir ein Grab unter den Pinien.« Jason und Ludo konnten sich keinen Reim auf die Worte machen und fragten das Trommodil, was sie zu bedeuten hätten, aber das Tier tat so, als
ob es nicht hören würde, und ging wieder zu seinem wortlosen Gesumme über. »Ich glaube, daß es froh ist, von diesen Klimperern wegzukommen«, sagte Ludo. »Ich bin mir ziemlich sicher, daß sie es schlecht behandelt haben. Nach all diesen Kämpfen und Haßausbrüchen muß es hier draußen ja alles sehr friedlich und harmonisch finden.« »Schrei nicht zu früh«, sagte Jason. »Ich glaube, dort vorne bekommen wir Schwierigkeiten.« Ludo lehnte sich zur Seite, so daß sie an Jasons Arm vorbei den Ort sehen konnte, in den sie gelangten. Es war eine kleinere Ansammlung von Häusern, deren Mauern aus Stein waren. Sie waren umgeben von hohen, baumähnlichen Pflanzen. Dahinter ragte ein großer Berg auf, dessen Spitze gelbe und orangefarbene Streifen aufwies. Als sie sich dem Dorf näherten, konnten sie sehen, daß dort ein Aufruhr im Gange war. Kreaturen verschiedenartigster Gestalt, Größe und Farbe rannten, hüpften oder glitten wild durcheinander und zischten, murmelten oder kläfften dabei feindselig. Ludo und Jason ließen das Trommodil neben einem umgefallenen Baumstamm stehen, wo es friedlich begann, an der stachligen Baumrinde herumzuknabbern. Keiner nahm Notiz von den beiden in der allgemeinen Aufregung, und so konnten sie, ohne daß irgendwelche nennenswerten Bemerkungen über sie fielen, in die Hauptstraße gelangen. Ludo versuchte aufzuschnappen, was die Dorfbewohner sagten. Sie machte einen überraschten Eindruck, als sie sich Jason zuwandte: »Sie sagen, daß ein Schneehahn kommt, aber das sollte eigentlich nicht diesen Wirbel verursachen. Gewöhnlich ist das die Zeit für ein Fest. Aber hier scheint etwas Seltsames vor sich zu gehen. Ich werde herumschnüffeln und herausfinden, was es ist. Du bleibst dort drüben an der Wand und rührst dich nicht vom Fleck!« Sie ging weg, indem sie sich mit den Ellbogen ihren Weg durch die aufgeregte Menge bahnte. Minuten vergingen, und Jason wurde schon ganz unruhig, als ihm plötzlich etwas auf den Kopf fiel. Er schaute hinauf und sah ein langes Seil, das zu ihm herabhing. »Schnell! Klettre herauf. Keine Fragen. Schnell!« Es war Ludo, die auf der wuchtigen Mauer saß. Jason zog sich hinauf. Oben angekommen, warf er sich keuchend auf die glatten Steine, hoch über der Dorfstraße. »Tut mir leid«, sagte Ludo, »aber ich hatte keine andere Wahl. Es hätte jeden Moment losgehen können.« »Was denn?« keuchte Jason.
»Es soll ein Kampf stattfinden, wie du sicher noch keinen erlebt hast. Etwas Unglaubliches ist passiert. Ich habe zwar auch schon davon gehört, aber ich hätte nie geglaubt, daß ich es jemals mit eigenen Augen sehen würde. Es ist schon sehr lange her, daß es das letzte Mal passiert ist...« »Wovon sprichst du eigentlich? Was geht hier vor? Als wir glücklich den Klimperem entkommen sind, habe ich gedacht, daß es mit dem Kämpfen zu Ende sei.« »Nein, dieses Mal handelt es sich nicht um die Klimperer. Es ist etwas ganz anderes. Dies wird ein richtiger Kampf sein, ein ordentlicher Kampf, ein schöner Kampf. Lustig anzusehen ... von hier oben wenigstens.« »Aber Ludo, Kampf ist Kampf, es gibt keine guten und bösen Kämpfe. Wenn jemand dabei getötet wird, ist es schrecklich, um welche Art Kampf es sich dabei auch handeln mag.« »Aber hier handelt es sich eben um Schneehähne, und mit ihnen verhält es sich anders. Es sind nämlich ganz vorzügliche Kämpfer. Wenigstens sagen das die anderen. Aber ich will dir erklären, was passiert ist. Es sieht so aus, daß nicht nur einer, sondern daß zwei Schneehähne auf dem Weg ins Dorf sind, einer kommt vom Berg und der andere vom Wald her. Sie sollen sich hier im Dorf treffen. Wenn sie sich treffen, bedeutet das ein Duell, bei dem es um Leben oder Tod geht. Verstehst du, Schneehähne sind sehr selten. Auf jeden Schneehahn kommen ungefähr zehntausend Schneehennen...« »Meinst du damit etwa, daß jeder männliche Schneehahn zehntausend Weibchen hat? Das ist ja phantastisch!« »Nun, ich würde sie nicht gerade Weibchen nennen. Es sind Bräute, aber es bleibt keine Zeit zur richtigen Beziehung. Der Schneehahn besteht aus einer Unzahl von prall gefüllten Klößen. Er wird von seinen Dienern in einem großen Netz von Ort zu Ort getragen und macht täglich gerade nur für die Dauer einer Trauung halt. Jeden Tag heiratet er eine andere Schneehenne. Sie reist eine Nacht lang in seinem Netz mit und wird dann am nächsten Morgen von den Dienern herausgenommen und dort begraben, wo sie gerade sind.« »Begraben?« »Ja, sie befindet sich dann in einer Art Trance, einem Tiefschlaf, so daß es ihr gar nicht weh tut. Sie bleibt in der Erde, solange sich die Eier bilden. Wenn die Küken ausschlüpfen, fressen sie die Henne, aber sie spürt es nicht, weil sie immer noch schläft. Danach krabbeln sie an die Oberfläche
und zerstreuen sich. Die meisten davon sind natürlich wieder Weibchen, die nur darauf warten, daß ein Schneehahn vorbeikommt und sie heiratet.« »Hört sich ja ziemlich verrückt an!« »Warum? Es handelt sich um ein tadellos funktionierendes System. Überall gibt es Schneeklöße. Sie vermehren sich wie die Kaninchen. Die Kräfte der alten Schneehähne sind am Ende ziemlich aufgezehrt durch all diese Trauungszeremonien und dem Umstand, daß diese Geschöpfe ein Leben lang in einem Netz herumgeschleppt werden. Aber gewöhnlich schaffen sie fünftausend Trauungen, bevor sie explodieren. Wenn das passiert, kann man es meilenweit im Umkreis hören. Die Fetzen fliegen nach allen Seiten. Puff!« Bei diesen Worten reckte Ludo die Arme so hoch, daß sie beinahe das Gleichgewicht verloren hätte und über die Mauer gestürzt wäre. »Nun verstehe ich endlich, warum die so aufgeregt sind«, sagte Jason. »Wenn es so wenig Männchen gibt, heißt das, daß kaum jemals die Chance besteht, daß zwei aufeinandertreffen.« »Stimmt genau. Und das soll hier passieren. Aber wenn einmal zwei aufeinandertreffen, dann ist dies ein Schauspiel, das man sich lieber aus einer sicheren Entfernung anschauen sollte.« »Werden sie beide explodieren?« »Ich hoffe nicht. Wenn das nämlich passiert, dann fliegen wir dabei auch weit weg. Nein, nach der Überlieferung wird der größte Teil des Kampfes von den Dienern besorgt. Erst im letzten Moment, wenn beinahe alle Diener gefallen sind, greifen sich die Schneehähne gegenseitig an. Sie sind aber eigentlich nicht dafür gebaut. Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, wie sie das anstellen wollen mit all diesen Beulen und Fleischwülsten. Ich nehme an, daß sie sich gegenseitig rammen. Zuletzt, so heißt es wenigstens, verschlingt der Gewinner den Verlierer und saugt ihn auf.« »Das bedeutet aber auch, daß ziemlich viele Schneehennen nie Bräute werden? Denn der Gewinner wird sich ja wohl kaum mit zwanzigtausend Hennen paaren können. Was geschieht mit den zehntausend, die dem Verlierer gehören?« »Eine gute Frage. Das ist, glaube ich, der schwache Punkt im System. Aber jedes System hat seine schwachen Punkte. Das muß ja wohl so sein, sonst wäre es ja das optimale System, und die anderen müßten ihm weichen. Außerdem gäbe es dann nur eine Art zu leben, und das wäre ja furchtbar langweilig.«
»Aber der schwache Punkt im Schneekloßsystem scheint ziemlich gravierend und vor allem auch sehr unwirtschaftlich zu sein.« »Nicht unbedingt, denn du mußt dabei ja bedenken, daß zwei Schneehähne kaum jemals aufeinandertreffen. Das ist ein ganz seltenes Ereignis, das wir jetzt miterleben werden.« Jason war dabei, Ludo nach der Trauungszeremonie der Schneeklöße zu fragen, als sie ein tiefes Rumpeln hörten, das vom Ortsanfang kam. »Jetzt geht's los!« schrie sie. »Halt dich fest. Der erste Schneehahn kommt soeben an.« Sie hörten das Stampfen von Füßen, und die Vorhut der Dienerschaft des Riesenschneehahns kam in Sicht. Es handelte sich dabei um dünne, spindelförmige Geschöpfe, die in einer glänzenden Rüstung steckten. Ihre Vorderseite bestand aus einem Teppich von spitzen Stacheln, die nach vorn gerichtet waren. Wenn sie auf jemand zugestürzt wären, hätten sie ihn unzweifelhaft durchbohrt und auf der Stelle getötet. Die langen, spitz zulaufenden Beine marschierten entschlossen drauflos. An den Schultern fehlten die Arme. »Sie haben keine Arme«, flüsterte Jason. »Sie brauchen auch keine«, zischte Ludo. »Sie können die Stacheln bewegen und damit in verschiedene Richtungen stoßen. Sie spießen damit ihre Nahrung auf und töten ihre Feinde. Wenn sie dann essen oder kämpfen, werden die Stacheln von der Erregung, in die sie dabei geraten, immer länger, so daß sie zum Schluß wie Speere sind.« »Es müssen ja an die hundert sein.« »Mindestens. Der Schneehahn wird von einer Spezialtruppe von Vierbeinern getragen. Die Nachhut zählt etwas mehr als die Vorhut, so daß es im ganzen 150 sind. Sieh nur! Sieh...!« Vom anderen Ende der langgezogenen Ortschaft kam ebenfalls ein tiefes Rumpeln, als nämlich die Vorhut des zweiten Schneehahns um die Ecke bog. Als sich die beiden feindlichen Truppen erblickten, entstand ein lautes Gerassel. Die Rüstungen begannen zu knistern, und die Stacheln, die aus ihrer Rüstung herausragten, wurden immer länger. Sie zuckten und bogen sich, als die beiden gegnerischen Heere aufeinander losgingen. Sie trafen mit voller Wucht auf dem Marktplatz zusammen, und zwar mit einer solchen Geschwindigkeit, daß die Zuschauer nur ein wirres Durcheinander von schimmernden, stürzenden Körpern sahen. Das Aufeinanderprallen der Speere und der Rüstungen zerriß die Luft, und im Nu war der ganze Dorfplatz mit durchbohrten und
durcheinandertaumelnden Gestalten bedeckt. Sie brachen alle stöhnend im Staub zusammen, bis zum Schluß alles still war. Da sie zahlenmäßig genau aufeinander abgestimmt waren, waren sie auch alle tot. Keiner blieb übrig. »Nun sind die Schneehähne dran«, flüsterte Ludo mit einer Stimme, die zugleich Ehrfurcht und Entsetzen ausdrückte. Jason sah sie von der Seite an. Aufgeregt fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. Das offensichtliche Vergnügen, das sie bei dem brutalen Schauspiel empfand, das sich vor ihren Augen abspielte, erfüllte ihn jedoch mit tiefem Ekel. Sie war so froh gewesen, als sie der haßerfüllten Welt der Klimperer entkommen waren, und doch geilte sie sich hier an einem Schauspiel auf, das in dieser Beziehung noch viel schlimmer war. Welch ein merkwürdiger Widerspruch! Er wollte sie gerade nach den Gefühlen fragen, die sie bewegten, als auf beiden Seiten der Straße Trompetenstöße ertönten und zwei riesige, weiße Gestalten erschienen, die in silbernen Hängematten herbeigetragen wurden, die sie prall ausfüllten. Die Hängematten wurden von jeweils einer Schar Träger getragen, die ihr Tempo beschleunigten, achtlos über die umhergestreuten Körper der Vorhut trampelten und dann aufeinander losstürzten, wobei sie ihre riesigen Herren dabei auf den Schultern trugen. Sie trafen ebenfalls in der Mitte des Platzes aufeinander und rammten sich mit einer solchen Kraft, daß sowohl die Träger als auch die Krieger der Nachhut zerschmettert und gegen die Häuser und Mauern geschleudert wurden. Die beiden sagenhaften Fleischklumpenhaufen, von denen Jason mit Recht annahm, daß sie die Schneehähne seien, sanken ineinander und schienen eine einzige, klumpige, zuckende, rollende und zischende Masse zu werden. Wie eine fettige, weiße Geleemasse, in der Wildkatzen miteinander kämpfen, rollte der Riesenkloß einher und vollführte die unmöglichsten Luftsprünge, prallte gegen Türen und Wände, fiel über Karren her und riß die gestreiften Markisen herunter, unter denen sich die erschreckten Dorfbewohner drängten. Plötzlich erfolgte eine ungeheure Explosion, bei der Jason und Ludo von der Mauer gefegt wurden und auf einen Haufen von Dörrobst im Garten dahinter fielen. Die Luft füllte sich mit Millionen und Abermillionen von Schneeflocken, eine dichte Schneewolke, die plötzlich alles bedeckte, ja das ganz Dorf wurde unter einer dichten Decke von Schneeflocken begraben. Immer mehr Schnee fiel herab, bis am Schluß alles ganz still war.
Unter der schimmernden weißen Oberfläche krochen zwei mit zerquetschten Früchten beschmierte Gestalten hervor und richteten sich verwirrt auf. »Hui!« rief Ludo. »Sie müssen wohl beide in die Luft gegangen sein. Das war vielleicht ein Kampf! Tolles Spektakel! War das nicht ganz phantastisch?« Jason sagte kein Wort. Sein Schweigen tarnte er damit, daß er sich von den klebrigen Früchten säuberte. Als sie über die Mauer zurückkletterten und sich am Seil in die schneebedeckte Straße herabließen, hörten sie in der Ferne ein Geräusch, das wie das Getrappel von Tausenden winziger Pfoten klang. Als es lauter wurde, schnüffelte Ludo aufgeregt in die Luft. »Schneehennen!« rief sie. »Ganze Schwärme davon sind durch den Geruch angelockt worden. Schau nur, dort kommen sie!« Eine unübersehbare Masse von kleinen weißen Klößen strebte von allen Seiten auf die Ortschaft zu. Die weißen Klumpen füllten die Straßen und rollten ekstatisch im schnell dahinschmelzenden Schnee. »Es ist eine Massenhochzeit«, schrie Ludo.« Sie saugen die Schneeflocken auf. Ich wußte nicht, daß sie dies tun können. Wo, meinst du nun, ist die Schwäche in ihrem System?« »Dort drüben«, sagte Jason. Er deutete auf die schreienden Dorfbewohner, die aus ihren schneebedeckten Häusern strömten und mit Knüppeln und Stöcken jede Schneehenne totschlugen, die sie fangen konnten, und dabei gellende Schreie und Triumphgeheul ausstießen. »Warum?« schrie Jason, »warum tun sie das?« »Es ist ihr Lieblingsgericht«, rief Ludo zurück. »Normalerweise sind Schneehennen sehr schwer zu fangen, denn sie sind sehr scheu, aber die Schneeflocken haben sie verwegen gemacht, und damit sind sie für die Jäger zu einer leichten Beute geworden. Das Dorf wird tagelang davon leben können.« »Also scheint der Fehler des Systems darin zu liegen, daß sie gut schmecken.« Ludo lachte. »Ich glaube, ja. Komm, wir schauen es uns dort drüben von der Treppe aus an. Von dort haben wir eine bessere Aussicht.« »Nein, wir gehen jetzt.« »Gehen? Aber es ist doch noch nicht vorbei!« »Wir haben genug gesehen. Laß uns weiterziehen.« Damit kehrte Jason dem Massaker der Schneehennen den Rücken zu und stapfte durch den
Schneematsch auf dem Weg zurück, auf dem sie gekommen waren. Ludo holte ihn ein und ging widerstrebend neben ihm her. Noch ein paarmal sah sie sehnsuchtsvoll zurück. »Aber das waren doch nur Untergumpfe«, sagte Ludo, als sie sah, daß Jason über das Massaker bestürzt war. »Sie spüren keinen Schmerz.« »Kannst du dich noch daran erinnern, wer das zum letzten Mal gesagt hat?« fragte Jason. »Nein«, antwortete Ludo. »Es war der Mha-kee.« »O ja, jetzt kann ich mich wieder daran erinnern.« »Und er hat mich damit gemeint«, sagte Jason ruhig. »Ja, aber ... nun, wahrscheinlich, weil er nichts über deine Herkunft wußte. Und er sollte ja auch nichts darüber erfahren, nicht wahr?« »Aber ich nehme doch an, daß du über die Schneehennen auch wirklich Bescheid weißt.« »Ja, natürlich. Aber du machst jetzt ein Theater um nichts. Die Dorfbewohner müssen ja schließlich was essen.« Jason überlegte sich noch immer eine Antwort darauf, als sie an dem umgefallenen Baumstamm ankamen, wo das Trommodil geduldig wartete und immer noch an der stachligen Rinde herumkaute, als ob nichts passiert wäre. Ludo und Jason bestiegen das Trommodil und ritten auf den blauen Berg zu. Sie umgingen das Dorf und kamen bald zu einem ausgetretenen Weg, der sie über einen Paß an der Seite des Bergs führte, wo sich ihnen eine aufregende, neue Welt aus Gipfeln und Schluchten darbot, die sich endlos vor ihrem Blick erstreckte. Sie kletterten einen steilen Abhang hinauf zu einer zerklüfteten Felsnase und suchten den Horizont ab, aber nirgendwo konnten sie das Hochplateau sehen, zu dem sie wollten. Sie übernachteten in einer kleinen Höhle, und Jason verspürte den heftigen Drang, mit Ludo noch einmal über ihre Reaktionen während des schrecklichen Duells zu sprechen. »Aber es war doch sehr aufregend«, beharrte sie. »Das kannst du doch nicht leugnen!« »Und doch hast du die Klimperer gehaßt!« »Sie waren ganz anders. Sie waren gemein und böse. Dagegen waren die Schneehähne glorreich und großartig. Warum siehst du denn das nicht ein?«
»Weil ein Kampf nur dann eine Berechtigung hat, wenn du dich verteidigen mußt.« »Das war es doch genau. Die Klimperer waren deswegen so unangenehm, weil sie nach Streit suchten. Sie hatten überhaupt nichts zu verteidigen. Und sie waren auch grausam. Aber die Schneehähne haben nur getan, was sie tun mußten. Nichts mehr und nichts weniger. Jeder hat sich gegenüber dem anderen verteidigt. Es war ein fairer und sinnvoller Kampf.« »Aber warum konnten sie denn nicht einfach aneinander vorübergehen, es dabei bewenden lassen und friedlich ihrer Wege gehen?« »Weil sie nicht wußten, wie. Ich habe dir doch gesagt, daß sich zwei Schneehähne kaum jemals begegnen. Wie sollten sie dann wissen, wie sie sich in einer solchen Situation zu verhalten haben? Im Grunde genommen wollen sie keine Konfrontation miteinander, sie suchen keinen Streit, sondern was wir gesehen haben, war ein unglücklicher Zufall. Und ich finde, daß sie sich beide sehr mutig gehalten haben.« »Dann ersetzt deiner Meinung nach Mut also die Selbstbeherrschung?« »Du verdrehst nur meine Worte!« Sie stritten sich darüber bis tief in die Nacht hinein, aber konnten keine Einigung erzielen. Jason kam dann zu dem Schluß, daß es unfair sei, von diesem seltsamen, pelzbedeckten Mädchen mit Hörnern zu erwarten, daß es seine moralischen Ansichten teilte. Sie stammten aus ganz verschiedenen Welten, und er sah ein, daß er, statt zuviel Zeit auf ihre Meinungsverschiedenheiten zu verschwenden, sich lieber darüber freuen sollte, wie gut sie die meiste Zeit miteinander auskamen. Ohne sie hätte er all die Gefahren bis jetzt nicht lebend überstanden. Verglichen mit den anderen Bewohnern des Innengesteins, denen er bis jetzt begegnet war, war Ludo fast eine Heilige. Über diesem Gedanken fiel er zuletzt in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
17. Die Felsarena Jason wurde durch ein seltsames Geräusch geweckt, das so klang, als ob jemand über trockenen Kies schlurfte. Er blieb still liegen und versuchte sich wieder zu erinnern, wo er war. Dann fiel ihm wieder die Höhle ein, die ihm und Ludo Zuflucht bot. Sie hatten eine kleine Seitennische in den
Felsen gefunden, eine kleine Höhle, deren Boden weiche, trockene Erde bedeckte, die ein bequemes Bett abgab. Sie war auch groß genug gewesen, damit die beiden sich gemütlich aneinanderkuscheln konnten nach ihrem langen Gespräch in der vergangenen Nacht. Als Jason vorsichtig den Kopf drehte, sah er einen schmalen, hellen Lichtstrahl, der durch eine Öffnung über ihm auf die rohen Wände der Höhle fiel. Das Schlurfen dauerte an, und als er wacher wurde, kam eine gewisse Angst in ihm auf. Als er sich vorsichtig umdrehte, um zu sehen, ob Ludo auch schon wach war, fühlte er sich umso beunruhigter, als er feststellte, daß er ganz allein in der kleinen Felshöhle war. Neben sich sah er die Vertiefung, die eindeutig von Ludos Körper herrührte, aber sie selbst war verschwunden. Jason setzte sich vorsichtig auf, indem er jede unkontrollierte Bewegung vermied, und sah über den Rand der Seitenhöhle in den Hauptgang. Dort erblickte er zu seiner großen Überraschung eine lange Reihe von Wesen verschiedensten Aussehens die langsam und geduldig im Gänsemarsch in die Höhle hineinzogen. Sie waren von verschiedener Gestalt und Farbe, aber hatten eines gemeinsam: Jeder von ihnen trug einen großen Knochen von irgendeinem Lebewesen. Jason mußte sich zusammennehmen, um einen Schauer des Abscheus angesichts dieser düsteren Prozession zu unterdrücken. Vorsichtig reckte er den Hals nach vorn, um ein bißchen mehr zu sehen. Als er seinen Blick nach links wendete, konnte er über die Öffnung der Seitenwände hinaussehen. Dort erstreckte sich der längste Zug von Kreaturen, den Jason jemals erblickt hatte. Hunderte von Gestalten waren dort dicht hintereinander aufgereiht, und jede schien einen großen, weißen Knochen dabei zu haben. Ungefähr eine Stunde lang beobachtete sie Jason, wie sie in die Höhle hineinverschwanden, und er wartete ungeduldig auf das Ende des Zuges, damit er selber aus der Höhle heraus und das Weite suchen könnte. Aber der Zug nahm kein Ende. Jason erkannte, daß es abzusehen war, bis eines der Geschöpfe heraufsehen und ihn entdecken würde, also glitt er in die Vertiefung zurück und dachte über seine Lage nach. Was in des Teufels Namen taten sie? Die einzige Antwort, die ihm einfiel war, daß es sich um irgendwelche Begräbnisfeierlichkeiten handelte. Vielleicht war irgendein riesiges Tier gestorben, und sie hatten seine gebleichten Gebeine an einem abgelegenen Ort gefunden. Diese Überreste wurden aber nun in den abgelegenen Winkeln einer heiligen Höhle zur letzten Ruhe gebettet. Wenn er sich doch
auch nur einen Knochen beschaffen könnte, dann hätte er sich ebenfalls dem Trauerzug anschließen können. Aber wie er das bewerkstelligen sollte, wußte er nicht. In diesem Augenblick drang Lärm vom Haupttunnel herüber. Jason lehnte seinen Kopf gerade noch rechtzeitig über den Rand, um Zeuge eines scheußlichen kleinen Zwischenfalls zu werden. Eine schwere, gepanzerte Kreatur mit scharfen Stacheln, die aus seiner Stirn herausragten, mußte gestolpert und nach vorn gefallen sein, wobei sie ihren Kopf mit den Stacheln wohl in den weichen, runden Hintern der birnenförmigen Gestalt vor sich gebohrt hatte. Große, gelbliche Schaumblasen traten nun aus dem verletzten Hintern, und das bedauernswerte Geschöpf schlug um sich, bellte vor Schmerz und versuchte, sich in dem engen Höhlengang umzudrehen und seinen Peiniger anzugreifen. Das gepanzerte Tier, das die Gefahr witterte, versuchte auszuweichen und stieß dabei mit der Gestalt, die hinter ihm ging, zusammen. Jason beobachtete, wie der Zug von Panik ergriffen wurde. Das zuvor so friedliche Verhalten der Geschöpfe schlug plötzlich in Wut und Ingrimm um. Sie schlugen mit den Beinen um sich, warfen unruhig die Köpfe hin und her und stießen mit den Körpern aneinander. Mit Interesse beobachtete Jason, wie sie die Knochen, die sie sorgsam getragen hatten, fallen ließen. Als das Durcheinander sich seinem Höhepunkt näherte, nahm Jason seine Chance wahr. Ein langer, gebogener Knochen war aus Versehen zu ihm heraufgekickt worden und lag nun kaum mehr als einen Meter von seinem Kopf entfernt. Er ließ sich leise von oben herunterfallen, nahm den Knochen und kroch auf den Boden der Haupthöhle. Sie schlugen immer noch mit Füßen, Hufen und Klauen nach allen Seiten um sich. Wie ein vom Pferd gefallener Jockey kugelte sich Jason in einen Ball zusammen und schützte sein Gesicht mit den Armen. Ein paarmal wurde er sehr heftig gestoßen und spürte dann, daß die heftige Bewegung um ihn herum abebbte. Von einer Stelle im tiefsten Innern der Höhle ertönte eine Trompete, deren Echo gespenstisch von den Wänden widerhallte. Jemand im Zug rief nach Ordnung. Als Jason aufstand und sich schnell in den wieder geordneten Zug zwängte, fühlte er, daß man sich nun beeilte. Die schwerbepackten Gestalten schlugen ein schnelleres Tempo an. Als Jason in der langen Reihe den Gang entlangschlurfte, kam er sich wie ein Strafgefangener in Ketten vor und hielt verbissen seinen kostbaren Knochen fest und den Kopf gesenkt. Die Reihe schwenkte zuerst nach
links, dann nach rechts und folgte so dem gekrümmten Verlauf des Haupttunnels. Zu seiner großen Erleichterung stellte ihm niemand wegen seiner Anwesenheit irgendwelche Fragen. Das Chaos war einfach zu groß gewesen, als daß ihn seine Nachbarn als einen erkannten, der sich unrechtmäßig hineingedrängt hatte. So marschierten sie weiter, und Jason kam es wie eine Ewigkeit vor, bis endlich die Höhle in eine Felsschlucht einmündete. Der Schlitz in den Felsen war immer noch so hoch über ihnen, aber mit jedem Schritt fiel nun mehr Licht durch. Den Knochen hielt Jason immer noch krampfhaft in seinen kreuzweise verschränkten Armen fest. Nun öffnete sich die Schlucht in ein hohes, enges Felstal, und das Tempo nahm mit jeder Biegung im Weg zu. Alle schwatzten nun aufgeregt miteinander. Die geduldig-traurige Stimmung machte eifriger Erwartung Platz. Vielleicht, dachte Jason, ist dies gar kein Bestattungsritual. Aber wenn nicht dies, was hatte es dann zu bedeuten? Die Antwort darauf erwartete ihn nach der nächsten Wegbiegung. Der Pfad weitete sich dort plötzlich zu einem großen, flachen Platz aus, an dessen Ende eine steile Felswand aufragte. Am Fuße dieser Wand waren fünf große Öffnungen, die jeweils von zwei mit Fangarmen ausgestatteten Beamten bewacht wurden. Der Zug teilte sich in fünf Reihen, die durch die Öffnungen zogen, die Geschöpfe in jeder Reihe wußten offensichtlich, welchen Durchgang sie wählen mußten. Jason wußte nicht, welchen Weg er nehmen sollte. Dann hörte er einen der Wächter rufen: »Langbeine auf den Balkon, ganz links. Fingerknochen nur Stehplätze, halb links. Rippen und Wirbel geradeaus auf die Tribüne. Schädel und Becken halbrechts, Königliche Loge, Stoß- und Fangzähne rechts außen, bitte zum oberen Balkon hinaufklettern. Macht schnell! In zwanzig Minuten Maulkorb ab! Haltet die Reihen in Bewegung. Beeilt euch!« Jason untersuchte den Knochen, den er im Arm hielt und kam zu dem Schluß, daß es ein Langbein war. Also bog er nach links außen ab. Jason war schon beinahe an der Öffnung, als die Kreatur vor ihm plötzlich in ein Angstgeschrei ausbrach: »Mein Knochen! Ich hab' meinen Knochen verloren!« »Tut mir leid, dann mußt du eben zurückgehen und ihn suchen«, sagte der Beamte vor ihm am Eingang und rollte seine vier Augen mit einer spöttischen Geste nach oben.
»Du glaubst mir wohl nicht, wie?« kreischte das Wesen ohne Knochen. »Aber ich hab' einen gehabt, ich versichere dir's, ganz bestimmt. Laß mich durch!« Die Antwort des Beamten war, daß er das unglückliche Wesen lediglich zwischen seine knorpligen Vorderbeine stieß. Es ächzte und bäumte sich vor Schmerz auf, dann fiel es auf die Seite und wand sich stöhnend auf dem staubigen Boden. Der Beamte betrachtete dies grinsend und setzte seinen Fuß auf die Vorderläufe des verwundeten Tieres. »Tut mir ja so leid«, sagte er grinsend. »Jetzt reicht's aber!« schrie Jason. »Ist das hier dein Knochen?« »Ja, ja das ist er. Vielen Dank. Der Herr möge deine Knochen beschützen! Nun laßt mich aber durch, sonst versäume ich noch das Knochen-ab.« »Los, der nächste«, kläffte der verwirrte Beamte, den man eines seiner Vergnügen beraubt hatte. Jason ging nach vorn, aber er wurde von einem kräftigen Fangarm, der sich ihm quer über die Brust legte, aufgehalten. »Knochen? Knochen herzeigen!« »Ich... Ich habe meinen ...« »Deinen?« »Ja, du hast doch diesen...« »Das war nicht dein Knochen. Du hast es selbst gesagt!« »Ich habe es nur gesagt, damit du aufhörst. Nun laß mich bitte hinein!« »Kein Knochen, kein Zutritt!« »Muß denn jeder einen Knochen haben?« fragte Jason, der es nun andersrum versuchen wollte. Er deutete auf den Beamten: »Du hast doch schließlich auch keinen!« »Alle außer dem Personal und den Teilnehmern. Hau jetzt endlich ab!« »Warum hast du das nicht gleich gesagt? Ich bin doch ein Teilnehmer!« Alle Kreaturen in Reichweite fingen wie auf Kommando an zu zischen und schraken vor Jason zurück. »Ein Teilnehmer? Du hättest vor drei Stunden mit den anderen hier sein sollen, zum Knochen-Faulenzen.« »Ich bin aufgehalten worden. War ein Kampf in der Höhle. Konnte nicht durch.« Der Beamte winkte seine Kollegen mit je einem Fühler herbei und sie berieten sich eilig.
»Wird schon stimmen«, sagte er schließlich. »Hinein und dann scharf nach links, die Treppe hinunter und über den Hof. Die Tür vor dir führt zu den Umkleideräumen. Auf geht's!« Jason dankte ihm und rannte hinein. Hinter sich hörte er lautes Gelächter, dem albernes Gekicher folgte. Das beunruhigte ihn, aber er wagte nicht umzukehren. Als er die Treppe hinunterlief, vermutete er, daß vielleicht nur ein Idiot zugeben würde, daß er ein Teilnehmer ohne Knochen war. Warum hätten sie sonst so laut lachen sollen? Vorsichtshalber änderte er die Richtung und trat nicht durch die Tür vor ihm ein, sondern bog nach rechts ab und rannte einen langen, gebogenen Gang entlang, an dessen Ende eine kleine Öffnung war, durch die er sich hindurchquetschte. Bei dem Anblick, der sich ihm von dort darbot, blieb ihm beinahe das Herz stehen. Er blickte in eine große Felsarena, die die Form eines Ovals hatte. Die große offene Fläche in ihrer Mitte war mit hellgelbem Sand bestreut. Sie war eben und weich und glänzte in dem hellen Licht. Auf den Rängen, die terrassenförmig angeordnet waren, drängten sich Tausende von Zuschauern. Plötzlich sah Jason, der fasziniert alles betrachtete, eine Gruppe von dürren Bannerträgern aus einem Tunnel hervortreten. Sie verteilten sich über das Halbrund der Sandfläche. Mit zum Zentrum gerichtetem Blick standen sie in Bereitschaft und warteten, während ihre Banner starr in die Höhe standen. Auf jedem Banner war ein Wappen mit drei hohen Bäumen. Die Ankunft der Bannerträger löste unter der Menge einen gewaltigen Begeisterungssturm aus. Ihre gebleichten Knochen in der Luft hin und her schwenkend, begannen sie einen rhythmischen Singsang, der immer lauter wurde, je mehr Stimmen einfielen, bis der Lärm zuletzt ohrenbetäubend war. »Knochenwerfer, Knochenwerfer, Knochenwerfer«, schrien sie, und der Stimmenorkan wurde von den Wänden des Riesenbeckens aus Fels zurückgeworfen. Jason wollte gerade in der dichtgedrängten Menge untertauchen, als er fühlte, wie sich ein langer Fangarm um seinen Hals legte. »Haben wir uns vielleicht verirrt?« flüsterte ihm eine sarkastische Stimme ins Ohr. »Das können wir aber jetzt nicht brauchen, nicht wahr?« Der Beamte begleitete Jason zum Umkleideraum, öffnete ihn mit einer ausladenden Bewegung seiner Fangarme und schubste Jason hinein. Als die Tür hinter ihm zuschlug, bekam es Jason mit der Angst zu tun, weil er
nicht wußte, was es bedeutete, ein »Teilnehmer« zu sein. Das Gelächter, das er dadurch hervorgerufen hatte, als er behauptete, daß er einer wäre, und der Massengesang der »Knochenwerfer« deuteten darauf hin, daß es bald Schwierigkeiten geben würde. Vielleicht waren die Teilnehmer hier zum Tode verurteilte Gefangene und keine berühmten Athleten? Im dunklen Gang, der vor ihm lag, hörte er herzzerreißende Seufzer und Kettengerassel. War er in einen mittelalterlichen Kerker geraten, aus dem er und die anderen Opfer mit Gewalt in die Arena getrieben würden, um niedergemetzelt zu werden? Jason tastete sich den trübe beleuchteten Gang entlang und bog um die Ecke. Dort wurde er von einer Gestalt niedergeworfen, die sich von hinten auf ihn gestürzt hatte. Sie rappelten sich wieder hoch und starrten sich an. Es war Ludo. »Das darf doch nicht wahr sein!« stöhnte sie. »Sie haben dich auch erwischt! Ich hoffte, daß du dort bleiben würdest, wo du warst. Ich wollte mich verstecken und warten, bis die Spiele vorüber wären, dich dann holen und dann ...« »Beruhige dich doch! Sage mir, wo wir sind und was hier vor sich geht?« Aber dazu war keine Zeit mehr. Fangarme tauchten aus dem Nichts auf und umschlangen sie mehrmals wie die Windungen eines Seils. Halb trug man sie, und halb wurden sie durch den düsteren Gang geschleift, bis sie zu einem großen Raum kamen, wo man sie auf den Boden warf. Um sie herum lagen beklagenswerte Geschöpfe, die von schweren Ketten niedergehalten wurden. »Hier sind noch zwei«, dröhnte die Stimme eines Wächters. »Gut, legt sie in Ketten. Wir fangen nun an«, bellte ein anderer in dem halbdunklen Raum. »Es ist höchste Zeit für das Eröffnungszeremoniell. Zieht ihnen ihre Rüstungen an, schnell!« Ein großes Tor öffnete sich. Ludos und Jasons unglückselige Kameraden rafften sich mit großer Mühe auf und gingen langsam auf das grelle Licht zu, das ihnen nun entgegenströmte. »Halt! Warten!« kläffte eine Stimme. »Diese beiden dort drüben haben ihre Kopfbeutel, beziehungsweise ihre Rotbeeren nicht auf. Los, zieht sie ihnen über!« »Kopfbeutel? Rotbeeren?« keuchte Jason, der sich unter seiner Rüstung kaum bewegen konnte. »Ist denn das hier ein Alptraum? Was sind ...« Aber bevor er weitersprechen konnte, bewegten sich Fangarme auf seinen
Kopf zu, und er fühlte, wie ihm ein weicher, haariger Beutel über den Kopf gezogen wurde. Er sah zu Ludo hinüber und stellte fest, daß sie auf die gleiche Weise behandelt wurde, nur war es bei ihr komplizierter wegen der Hörner. Als er sich umschaute, sah er, daß auch die anderen Gestalten dieselbe Kopfbedeckung trugen. Weil die Kopfbedeckungen eng anlagen und mit Haaren verwachsen waren, sah es aus, als ob sie ballonartige Perücken trügen, als ob sie einen großen, zotteligen Kopf hätten, von dem die langen, lockigen Haare herunterhingen. Jason und Ludo hatten aber nun solche Angst, daß sie sich nur noch entgeistert anstarren konnten. Völlig sprachlos wurden sie in die Arena hinausgetrieben, die in gleißendem Licht lag. Dann wurde das verlorene Häuflein der fünfzig klirrenden, schwankenden Gestalten in der Mitte des offenen Platzes zusammengetrieben, während die johlende und tobende Zuschauermenge auf den Rängen ihrer Vergnügungssucht freien Lauf ließ. Dann wurde es plötzlich ganz still in der Arena, und alle Augen wandten sich nach der Königlichen Loge. Fanfarenstöße ertönten, und eine rhombusförmige, große Gestalt erschien auf der einen Seite der Loge und verkündete: »Willkommen am Hof Seiner Majestät Rasimondos, des Superbrutalen, Schnauzkönig aller Hundearten, Oberaufseher über die Skelettspiele und Oberster Richter über die Knochenbrandrennen. Euer Großer Herr heißt euch willkommen. Erhebt eure Knochen und entbietet ihm euren Willkommensgruß. Seine Majestät, der Schnauzkönig!« Als sie ihr allmählich anschwellendes Jubelgeschrei anstimmten, teilte sich ein schimmernder Vorhang im hinteren Teil der Loge, und eine finster dreinblickende Gestalt mit einem königlichen Umhang schwankte majestätisch nach vorn. Schnauzkönigs satanisches Gesicht blickte auf die überfüllten Ränge herab. Seine faltige Schnauze sog genüßlich die Luft in der Arena ein. Speichel tropfte aus seinem schlaff herabhängenden Maul. Der lange, purpurrote Mantel bedeckte seinen Körper beinahe vollständig. Auf dem Umhang prangte des Königs Wappen mit den drei großen Bäumen. Es war schwierig, auf die Form seines Körpers und seiner Beine zu schließen. Auf seinem Kopf erhob sich eine seltsame Lederkrone aus Riemen und Schnallen. Als er die Brüstung der Loge erreichte, schaute er nach allen Seiten und nahm die Hochrufe seines ihm treu ergebenen Volkes huldvoll entgegen. Nach einer kurzen Pause ergriff er von einem purpurroten Kissen, das vor ihm lag, einen einzigen, dünnen und polierten Knochen und hielt ihn so
lange im Maul, bis sich die Menge beruhigt hatte. Dann schleuderte er den Knochen mit einer einzigen, majestätisch-verächtlichen Kopfbewegung in die Luft. Er landete mit einem dumpfen Aufschlag auf dem gelben Sandboden der Arena. Auf dieses Signal hin erhob sich ein ohrenbetäubendes Geschrei auf den Rängen, und damit hatten die Spiele begonnen. »Nun sind wir dran«, murmelte die Gestalt, die sich links von Jason niedergekauert hatte. »Nun müssen wir mit dem Knochenweh bezahlen.« »Ich verstehe das nicht. Wie können wir mit diesen Ketten und in diesen Rüstungen an irgendwelchen Spielen teilnehmen? Wie sollen wir überhaupt rennen?« »Rennen? Rennen? Du kleiner, holzköpfiger Idiot! Was meinst du, was das hier ist? Meinst du etwa, deine Flitterwochen hier zu verbringen ? Hast du denn wirklich keine Ahnung von Tuten und Blasen?« »Nein, ich habe den Auftrag verpaßt.« »Du hast das Knochen-Faulenzen verpaßt? Du armes Schwein! Dann erwischt's dich wohl am ärgsten. Herrjeh!« »Wozu soll denn das KnochenFaulenzen gut sein?« »Es besteht aus ganz speziellen Übungen: Entspannen, Trance, Bewußtseinsbewegungen und so weiter, so daß man die Knochen nicht spürt, wenn sie auf einen niederprasseln. Du wirst schon sehen. Herrjeh!« »Die Knochen? Aber ich dachte, sie wären so eine Art Eintrittskarte für hier!« »Ach, du liebes Bißchen! Warum glaubst du, trägst du eine Rüstung und die Kopfbeutel voller Rotbeeren?« »Rotbeeren, was sind eigentlich diese Rotbeeren?« »Sag mal, gehörst du wirklich zu uns? Wann bist du zu uns gekommen?« Jason fühlte, daß hier etwas Merkwürdiges vor sich ging und antwortete vorsichtig. »Ich bin eine neues Mitglied. Sie hatten keine Zeit, mir alles zu erklären.« »Das ist ja lächerlich! Sie müssen vollkommen durchgedreht haben. Jetzt hör mal zu, weil es jeden Augenblick losgehen kann: Wenn die Knochen geflogen kommen, mußt du deinen Kopf so weit wie möglich in deine Rüstung zurückziehen. Dein Kopfbeutel wird dich schützen, und die Knochen, die ihn treffen, zerquetschen die Rotbeeren. Der Fruchtsaft wird dir übers Gesicht rinnen und auch die übrigen Körperteile bespritzen. Sie
wollen Blut sehen. Das sollen sie auch haben. Hoffentlich hast du's nun begriffen.!« »Ich glaube, ja«, sagte Jason. Langsam begann ihm zu dämmern, was hier stattfand. Es war eine makabre Scharade. Aber warum nur? Was steckte dahinter? Während sie miteinander gesprochen hatten, wirbelten die johlenden Zuschauer mit hoch erhobenenen Knochen im Kreis, sie stießen, schoben und drehten ihre dichtgedrängten Leiber. Dann, nach einem schrillen Flötenton, der von einer seltsamen Knochenflöte in der Königlichen Loge ausging, zielten sie mit den Knochen nach den Gefangenen. »Jason, Jason!« schrie Ludo entsetzt, »wir werden zerquetscht. Es ist ein öffentliches Knochen-Lynchen. Ich habe auch schon davon gehört. Sie haben es früher öfters praktiziert, aber es ist schon seit Jahren verboten. Ich hatte keine Ahnung, daß sie wieder damit angefangen haben. Sie werden uns töten!« »Nein, es ist in Ordnung. Glaub mir, ich werde es dir später erklären. Zieh den Kopf ein in deinen Panzer wie eine Schildkröte!« »Wie eine was?« »Schon gut, tu, was ich sage. Da ist ein Trick dabei: In deinem Kopfbeutel sind Rotbeeren, die zerquetscht werden. Tu so, als ob du tot wärst...« Das war alles, was er noch sagen konnte, denn der Knochenhagel war nun schon sehr dicht. Pfeifend und kreisend und sich überschlagend prasselten die Knochen nun aus allen Richtungen auf das kleine Häuflein von Leibern nieder, das ein tragisches Schicksal aneinanderkettete. Es sah so aus, als ob in der Mitte der Arena riesige Hagelsteine niederfielen. Sie schlugen und prallten an die Panzerplatten, die den zitternden Opfern umgeschnallt worden waren. Jason und Ludo zogen ihren Kopf so weit ein, wie sie konnten, und warteten auf das Ende des Knochenhagels. Allmählich wurden die Aufschläge seltener, und sie hörten, wie das Publikum wieder anfing zu toben. Sie reckten den Kopf wieder ein bißchen vor, bis sie über den Rand ihres Panzers blinzeln konnten. Sie sahen, wie der Schnauzkönig einen Thron bestieg, der aus Steinplatten bestand. »Das öffentliche Knochen-Lynchen ist vorüber. Schafft die Leichen der verurteilten Gefangenen hinweg! Sammelt die Knochen und errichtet den Knochenhaufen für das Heilige Knochenfeuer auf den Felsgipfeln!« sagte der Schnauzkönig in feierlichem Ton. Dabei setzte er sich auf seinem
königlichen Stein majestätisch in Positur. »Bereitet die Arena für die Skelettspiele vor!« befahl er dann. Bei dieser Anordnung schrie sich die Menge beinahe heiser, aber Jason hörte es kaum, weil seine Aufmerksamkeit von den Gestalten gefangen war, die um ihn herumlagen. Sie boten einen entsetzlichen Anblick, als sie so dalagen, scheinbar totgedrückt durch den Knochenhagel und im eigenen Blut badend. Aber bei näherem Betrachten seines Nachbarn entdeckte er, daß dieser die Augen offen hatte. Mit dem einen Auge zwinkerte er Jason zu. Dann schloß er es wieder. Sonst war keine Bewegung festzustellen, außer der Zungenspitze, die ab und zu herausfuhr und den roten Saft abschleckte, der über die fleischigen Lippen herabtropfte und dabei so unheimlich aussah. Jason streckte ebenfalls die Zunge heraus und probierte den Rotbeerensaft. Er schmeckte köstlich, und Jason mußte sich bezähmen, um nicht noch mehr davon wegzuschlecken. Mehrere große Tiere mit klobigen Beinen und breiten, schaufelartigen Mäulern zogen nun in die Arena ein und begannen, die Leiber aufzuschaufeln, die den Eindruck erweckten, als ob sie ohne Leben seien. Sie trugen sie zu einem der Ausgänge. Große Kreaturen mit vielen Fangarmen, die wie überdimensionale Versionen der Arenawächter aussahen, begannen die überall verstreuten Knochen aufzulesen und in große Abfallbehälter aus Haut zu laden. Diese wurden dann durch einen der dunklen Ausgänge weggeschleppt. Jason, der zusammen mit den anderen Opfern aufgeschaufelt worden war, fand sich plötzlich auf einem klirrenden Haufen in einem der dunklen Ausgangstunnel wieder. Trotz der leichten Quetschungen fühlte er sich erstaunlich gut in Form, in Anbetracht dessen, was er eben mitgemacht hatte. Er hoffte sehr, daß Ludo ebenfalls mit dem Leben davongekommen war und nicht unglücklicherweise von einem Knochen erwischt wurde. Als die Tore zur Arena zugeschlagen wurden, herrschte einen Augenblick lang absolute Finsternis. Dann leuchteten verborgene Lichter auf, und zu Jasons Erstaunen verwandelte sich die ganze Szene. Wo zuerst nur ein Schlachtfeld gewesen war, auf dem sich nichts mehr regte, brach nun ein munteres Stimmengewirr aus mit Anweisungen, Seufzern der Erleichterung und fröhlichem Gelächter. Obgleich Jason ein Vortäuschen vermutet hatte, war die Verwandlung schwer zu begreifen. »Gut gemacht, Schnauzen, aber beeilt euch jetzt«. Der Sprecher, dem die drängelnde Stimme gehörte, war nicht zu sehen. »Das war ein großartiges Schauspiel - wirklich phantastisch! Noch besser als das letzte
Mal. Nehmt jetzt die Beutel von eurem Kopf und beeilt euch. Schichtet die Rüstungen an der Wand auf. Kommt jetzt! In die Bäder! Macht so schnell ihr könnt. Ringer und Knochenspringer zuerst. Ihr seid als nächste dran. Teilnehmer am Knochenbrandrennen so schnell wie möglich auf den Felsen antreten.« »Jason, Jason, hier bin ich!« Es war Ludos Stimme, und Jason kroch frohen Muts durch die Masse herumkriechender Gestalten zu ihr hinüber. Ihr Gesicht bedeckte eingetrockneter Rotbeerensaft. »Das war vielleicht ein toller Trick, was?« keuchte sie, als sie sich gemeinsam zu einer stillen Ecke durchgekämpft hatten und sich beim Ausziehen halfen. »Die Menge dachte, daß sie uns getötet hätte, dabei war alles nur Mache!« »Ich wünschte, jemand hätte uns das gesagt, bevor wir dort hinausgetrieben wurden«, murmelte Jason. »Das war einer der schlimmsten Augenblicke in meinem Leben, als wir die Arena betraten.« »So ist es mir auch ergangen, aber jetzt habe ich ein herrliches Gefühl. Die Erleichterung, die ich jetzt empfinde, war die Angst fast wert.« »Was kommt als nächstes?« »Komm, wir gehen mit ihnen zu den Bädern und versuchen, am Rennen auf den Felsen teilzunehmen, weil wir von dort vielleicht eher fliehen können. Ich hoffe nur, daß keiner herausfindet, daß wir nicht dazugehören. Denn dann würden sie vielleicht aufhören, mit uns zu spielen und uns dann wirklich etwas zufügen.« »Wieso glaubst du, daß sie uns überhaupt mitmachen lassen? Wir haben ihr Geheimnis entdeckt und könnten gefährlich für sie werden.« »Ich glaube nicht, daß die Wachen - die mit den Fangarmen - Bescheid wissen«, erwiderte Ludo. »Sie müssen gedacht haben, daß wir zwei zusätzliche Opfer sind, die den Glanz des Spektakels nur noch erhöhen. Und die anderen waren zu der Zeit sowieso zu sehr beschäftigt.« »Ich sagte, daß ich neu eingestellt worden wäre.« »Gut, dann berufen wir uns darauf und hoffen, daß uns keiner von den höheren Chargen hinter unsere Schliche kommt.« Sie entfernten die letzten Teile ihrer Rüstung und fanden heraus, daß die Ketten an ihren Füßen sehr leicht zu öffnen waren. Als sie schließlich frei waren, folgten sie den anderen, die auf ein rundes Loch in der gegenüberliegenden Wand zugingen. Kaum hindurchgeschlüpft, befanden sie sich in einem großen, aus Felsen gehauenen Gemeinschaftsbad mit
warmem Quellwasser. Sie sprangen ebenfalls hinein, planschten darin herum und schnappten auf, was die anderen sagten. »Knochen, Knochen, wu-underschöne Knochen. Wie ich mich auf das Knochenfest freue!« »Größer als das letzte Mal. All dieses wunderschöne Mark! Ich kann's kaum erwarten, mich darauf zu stürzen.« »Du mußt aber zuerst an dem Marathon teilnehmen.« »Tunkt ihn, seine Witze sind genauso übel wie meine blauen Male vom Knochen-Lynchen!« »Dieses Mal war es ja ziemlich heftig. Die Kopfbeutel sind nicht dick genug. Ein harter Schlag - und der Schutz ist beim Teufel, sage ich euch!« »Wer weiß, vielleicht würde es euch sogar ein bißchen zur Vernunft bringen. Weg da!« Allgemeines Chaos brach nun aus, und Ludo und Jason wären beinahe in den Fluten ertrunken, die die Raufbolde um sich herum aufwühlten. Bald darauf verließen aber die Wettkämpfer nach und nach das Bad und verschwanden in einem nahe gelegenen Umkleideraum. »Ist dir auch aufgefallen«, fragte Jason Ludo, als sie sich allein in einer ruhigen Ecke des Bads treiben ließen, »daß sie alle etwas Hundeartiges an sich haben, große Schnauzen, spitze Ohren, ein zottiges Fell und Schwänze, obwohl sie ganz verschiedenartig und verschieden groß sind?« »Da sie offenbar in dieses Possenspiel hier eingeweiht sind, müssen sie in irgendeiner Weise zu Schnauzkönigs Hofstaat dazugehören, denn der hat ja eine beachtliche Schnauze, nicht wahr? Aber wen kümmert's schon? Wenn wir nur einen Weg finden, um hier rauszukommen. Schließen wir uns aber erst einmal den Teilnehmern im Knochenbrand-Wettkampf an, damit wir dort zu den Felsen raufkommen.« Es gelang ihnen besser, als sie gedacht hatten, denn als sie das Bad verließen, waren die meisten schon gegangen, und von draußen konnte man wieder das Geschrei der Menge hören. Sie feuerten die Wettkampfteilnehmer an, die schon in der Arena angetreten waren. Mit der kleinen Gruppe, die im Umkleideraum geblieben war, kleideten sie sich in blau-weiße Wettkampftrikots und gingen dann ganz gehorsam einen Korridor entlang, der zu einer langen, spiralförmigen Treppe im Fels führte, die sie nun hinaufgingen. Nach einem ermüdenden Aufstieg, der ewig zu dauern schien, gelangten sie zur Spitze, wo sie sich in der Nähe eines großen Haufens von Zweigen und Ästchen in Reih und Glied aufstellten. Ein fangarmiger Wächter hantierte mit Fackeln und Lumpen
herum. Tief drunten war die Arena mit ihren überfüllten Rängen und ihren springenden Athleten. »Das verstehe ich nicht«, flüsterte Jason Ludo zu. »Die haben ja gar keine Knochen zum Feueranzünden benutzt, nur alte Holzstückchen.« »Das muß wohl ein weiterer Trick sein«, sagte Ludo. »Sieht ganz so aus, denn diese Wächter hier oben müßten es ja wissen...« »Vielleicht sind sie bestochen worden. Wer weiß? Nichts erweist sich hier als das, was es zu sein scheint. Dieses ganze Schauspiel hier ist ein schlechter Witz, ein Witz auf Kosten der Zuschauer dort unten. Es ist absurd!« »Ich persönlich finde, daß die Zuschauer abscheulich sind. Schließlich haben sie ja gedacht, daß sie uns mit den Knochen töten würden. Sie haben das Blutbad - oder was sie dafür hielten - voll genossen. Die Zuschauer dort unten sind Ungeheuer. Geschieht ihnen recht, wenn sie ausgetrickst werden!« »Und doch ist es Betrug. Was soll denn schließlich das Ganze, wenn es nicht ernst gemeint ist? Warum die Mühe?« »Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Das Geheimnis muß in den Knochen liegen. Vielleicht haben sie magische Kräfte.« »Ach Unsinn! Es sind ganz gewöhnliche alte Knochen, die sie in der Wüste oder sonstwo aufgelesen haben.« »Ja, aber es würde eine Ewigkeit dauern, bis man alle beisammen hätte, besonders wenn man's allein versuchte.« »Ja, aber wem würde auch schon der Sinn nach Tausenden von Knochen stehen? Mir kommt das alles ziemlich sinnlos vor«, murmelte Ludo und starrte in die Arena hinunter, wo gerade der letzte der athletischen Wettkämpfe unter lautem Beifallsgeschrei zu Ende ging. In Jasons Vorstellung begann sich eine Idee zu formen, und er wollte sie gerade noch weiter ausspinnen, als eine Fanfare herauftönte und darauf ihr Wächter oben rief: »Schnell, schnell! Befestigt eure Fackeln und haltet euch in Bereitschaft!« Jeder von ihnen hatte eine brennende Fackel auf dem Kopf, und sie stellten sich damit am äußersten Rand des Felsens auf. Ein lauter Schlag ertönte aus der Richtung der weit entfernten Königlichen Loge. »Los jetzt!« schrie der schlaksige Wächter und fuchtelte mit seinen Fangarmen wild in der Luft herum, wobei sich diese vor Erregung verfärbten. »Los, los, los!«
18. Das Knochenbrandrennen Das Knochenbrandrennen hatte begonnen. Jason und Ludo beobachteten die anderen Läufer und sahen, daß sie sich in einem stetigen Trab um das große Oval der Felsoberfläche herum bewegten und dabei dem Rand gefährlich nahe blieben. Ein falscher Schritt, und sie wären die Felswand hinuntergekugelt und einige der Zuschauer dort unten auf den Kopf gefallen, die nun alle ihre Hälse reckten, um das Rennen, das sich hoch über ihren Köpfen abspielte, besser zu sehen. »Wenn dies ein Rennen sein soll«, stieß Jason hervor, »wer wird dann Gewinner, und was machen wir mit diesen Fackeln? Um die Klippen herum sind überall Holzstöße errichtet worden. Zwei davon haben wir bereits passiert. Warum zünden wir sie denn nicht einfach mit den Fackeln auf unseren Köpfen an?« »Die anderen wissen, was zu tun ist. Folge ihrem Beispiel. Tu nichts außer der Reihe, aber halte die Augen offen nach einem guten Fluchtweg«, rief ihm Ludo zu. Die Flucht war nicht so einfach, wie sie gedacht hatten. Überall waren Fangarmige in regelmäßigen Abständen wie wachsame Gefängniswärter aufgestellt. Wenn Jason doch nur gewußt hätte, wie das Rennen enden würde! Es hätte ihm geholfen, etwas zu planen. Nach einer vollen Umkreisung des Felsenrandes überkam ihn die Neugier, und er beschleunigte sein Tempo, bis er neben einem der großschnauzigen Wettkampfteilnehmer ging. »Wo ist eigentlich der Zielposten?« keuchte Jason. Großschnauze sah ihn mißtrauisch von der Seite an, sagte aber nichts. »Wer gewinnt denn?« fragte Jason. »Derjenige, der bis zum Schluß steht«, fuhr ihn Großschnauze bärbeißig an. »Natürlich«, sagte Jason, »ich wollte dich ja nur testen. Geh nur weiter!« Großschnauzes Antwort bestand darin, Jason vor die Füße hinzuspucken. Dies veranlaßte Jason, einen Augenblick lang stehenzubleiben. Plötzlich hörte er Ludos angstvolles Keuchen hinter sich. »Tut mir leid, wärst du beinahe gestolpert?« fragte er und sah sich nach ihr um.
»Nein, es war nicht das«, platzte Ludo heraus und kam an Jasons Seite. »Es - es ist viel schlimmer. Ich habe das Geheimnis dieses Rennens entdeckt, und da sieht's gar nicht gut für uns aus. Sehr schlimm sogar!« »Spuck's nur aus!« »Ja, genau das war's. Als er vor dir ausgespuckt hat, hättest du beinahe einen Moment lang angehalten.« »Ja und?« »Nun, die Flamme deiner Fackel flackerte dabei in die verkehrte Richtung: Sie hat sich in Richtung auf deinen Kopf zu bewegt. Um den ganzen Rand der Felsarena herum muß ein sehr starker Luftzug nach unten herrschen mit dem Effekt, daß, je langsamer du gehst, desto näher die Flammen an deinen Kopf herankommen. Wenn du ganz stehen bleibst, fangen deine Haare Feuer und verbrennen deinen Kopf.« »Ich könnte ja vielleicht die Flamme mit den Händen ausmachen«, rief Jason. »Versuch's ja nicht! Ich wollte sie anfassen, aber sie war glühendheiß. Ich konnte nicht mal in die Nähe kommen.« »Je länger wir uns also schnell bewegen, desto länger überleben wir. Das hat also Großschnauze gemeint, daß derjenige gewinnt, der am Ende noch steht. Und ich nehme an, daß dann der Gewinner in einer letzten Ehrenrunde alle Feuerstöße anzünden wird.« »Hervorragend!« rief Ludo. »Welch ein Rennen! Welch ein Schauspiel! Welch ein... jetzt hab' ich den Faden verloren.« »Warum bist du so fröhlich?« »Ich bin die beste Läuferin, die ich kenne. Ich werde mit Leichtigkeit gewinnen. Kein Problem. Aber ich habe vergessen, daß du dann...« »Danke! Ich schlage vor, daß wir versuchen, ein gleichmäßiges Tempo einzuhalten und uns überlegen, wie wir hier herauskommen.« Als Jason das sagte, senkte einer der anderen Läufer den Kopf und begann einen verzweifelten Endspurt, indem er versuchte, seine Flamme auszulöschen. Die Zuschauer feuerten ihn dazu an, sie zeigten mit den Fingern auf ihn und lachten und johlten. Es gelang dem Läufer jedoch nicht, die Fackel auszulöschen, und er brach schwer atmend und keuchend zusammen. Als die anderen an ihm vorbeirannten, sahen sie, wie die Flammen seiner Fackel sich nach unten fraßen. Gerade als sie drohten, sein Fell zu versengen, sprang er auf und rannte wie ein Wilder im Kreis herum, zum größten Vergnügen der Menge.
Jason wandte den Kopf und sah, wie sich das unglückliche Wesen zum letzten Mal hinter einem der Wächter im Kreis drehte. Als er auf der anderen Seite des Fangarmigen wieder auftauchte, war er nur noch ein Feuerball, der knisterte und sprühte, bis er schließlich am Rand des Felsens verglühte. Die Menge wurde ganz rasend und spendete stürmischen Applaus. Von seinem Steinthron herab nickte Schnauzkönig gnädig mit dem Haupt. Jason erschrak zu Tode und sann verzweifelt auf einen Ausweg. Als sie weiterrannten, sah er eine Gestalt nach der anderen sich im Kreis drehen und am Ende in einem Flammenmeer am Felsrand verglühen. Aber es war seltsam, auf welche Weise dies geschah, denn jedesmal führte der letzte Kreis des Flammentanzes den Läufer hinter einen der Wächter mit den Fangarmen. Vielleicht war das wieder einmal nicht das, was es zu sein schien. Jason änderte seine Richtung geringfügig und näherte sich dem nächststehenden Wächter, und als er dort vorüberraste, konnte er gerade noch die Gestalt eines vermeintlich toten Wettkampfteilnehmers erkennen, der sich im Schatten des Fangarmigen zusammenkauerte, ihn kurz ansah und grinste. Also war das auch nur ein Trick. Wie Ludo behauptet hatte, war die ganze Horrorshow ein Betrug. Wie zuvor, waren alle Opfer Schauspieler, die die Zuschauer auf den Rängen täuschten. Er wollte gerade Ludo einholen, um ihr alles zu erklären, als er spürte, daß die Flammen seiner Fackel so nahe an seinen ' Kopf herankamen, daß es schmerzte. Nach dem Beispiel der anderen drehte er sich wild im Kreis herum und warf sich hinter dem nächststehenden Wächter auf den Boden. Dort war auch wirklich ein Ballen von trockenen Zweigen, der durch den Schatten verdeckt war. Jason drückte den Kopf hinein und zündete den Ballen an, der nach einem Stoß mit dem Fuß zum Felsrand rollte. Als er in Flammen ausbrach und die Menge wieder brüllte, fühlte er, wie ein großer, nasser Fangarm die Flamme auf seinem Kopf auslöschte, und er lag ganz still und zusammengekauert auf der harten, felsigen Oberfläche. Ein paar Minuten später war von den Läufern nur noch Ludo übrig. Ein lautes Trompetengeschmetter, das aus der Arena herauftönte, verkündete ihr, daß nun der Augenblick für den Höhepunkt des Rennens gekommen war. »Knochenfeuer, Knochenfeuer, Knochenfeuer«, sang die Menge, und Ludo, die verzweifelt hoffte, das Richtige zu tun, zündete mit ihrer Fackel
den erstbesten Haufen mit Ästen an und rannte dann von einem zum anderen, bis alle hell loderten, ein großer Ring von Leuchtfeuern, der den Felsrand wie ein feuriges Halsband zierte. Es geschah genau zur rechten Zeit, denn es war inzwischen dunkel geworden, und die Spiele kamen an ein Ende. Der Schnauzkönig war aufgestanden, hatte sich vor seinen Anhängern gravitätisch verbeugt und sich dann hinter seinen königlichen, purpurroten Vorhang zurückgezogen. Auf den Rängen bildeten die Gruppen feiernder Gestalten, die sich über die Arena ergossen und wie verrückt in alle Richtungen liefen. Wenn sie nicht aufpaßten, stießen sie zusammen und die Kleineren wurden niedergetrampelt. Während in der Arena die Hölle los war, schlichen sich die kauernden Gestalten auf den Felsen heimlich davon und gingen auf eine Gestalt zu, die neben einer Öffnung im Felsen stand und ihnen zuwinkte; Jason eilte zu Ludo hinüber, die verloren in der Nähe des Felsrandes saß und deren Fackel immer noch brannte. Aber die Flamme kam ihrem Fell schon bedenklich nahe. »Mir ist nichts passiert«, sagte Jason. »Geh jetzt ganz schnell zu einem der Wächter, damit er die Flammen löscht!« »Jason? Wie hast du es fertiggebracht zu...« »Dazu ist jetzt keine Zeit. Mach schnell!« Sie stolperten zu dem nächsten Wächter hinüber, der Ludos Fackel im Nu löschte und mit allen sechzehn Fangarmen in Richtung des Ausgangs wies. Sie waren die letzten, die den langen, kurvenreichen Abhang voller Schwung hinabrannten. Nach einer Weile verringerten sie ihr Tempo, und Jason erklärte ihr, wie es dazu gekommen war, daß er den Betrug mitgemacht hatte. »Das hättest du mir ja auch sagen können. Ich war... ich war...« Ludo zögerte und starrte auf den abschüssigen Boden des Felstunnels. »Ich konnte ja nicht. Du bist so schnell gerannt.« »Ja, ich habe mich gut gehalten, was? Ich bin die Gewinnerin des Knochenbrandrennens. Ich bin gespannt, worin meine Belohnung besteht.« Als sie auf einmal um die Ecke bogen, standen sie plötzlich auf einer Art Balkon, von dem aus sie auf eine Szene hinabblickten, die sich an einem mittelalterlichen Hof hätte abspielen können. Überall lümmelten Gestalten herum, die die Heiterkeit trunken gemacht hatte. Sie brachen in Jubelgeschrei aus, als Ludo auf dem Balkon erschien. »Ruhe, Schnauzen, seid ruhig!« rief eine tiefe Stimme. Ludo drehte sich nach ihr um und sah
Schnauzkönigs majestätische Gestalt, die träge auf einer erhöhten Steinplatte herumlungerte. »Zuerst möchte ich die Gewinnerin des Knochenbrandrennens willkommen heißen. Zur Belohnung wird sie gemäß der alten Tradition bis zum nächsten Rennen meine Schnauzbraut. Komm hierher und setz dich neben mich, mein Schatz, und bring auch deinen Diener mit.« Als sie von dem Balkon herabstiegen, tauschten Ludo und Jason besorgte Blicke. »Das ist ja verrückt«, flüsterte Jason, »was wäre denn passiert, wenn ich das Rennen gewonnen hätte? Ich hätte doch wohl kaum seine Braut werden können! Und die anderen Wettläufer waren doch wohl auch nicht alle weiblich.« »Hast du sie denn nicht gerochen?« »Gerochen?« »Ja, sie waren alle weiblich. Meine Nase hat sie gewittert.« »Dann tu doch einfach so, als ob du die Regeln durchbrochen hättest und als ob die wirkliche Gewinnerin diejenige gewesen wäre, die vor dir ausgeschieden ist. Ich bin sicher, daß sie alle ganz verrückt danach sind, seine Braut zu werden. Sieh nur, wie neidisch sie dich anschauen.« Aber als Ludo beim Schnauzkönig angelangt war, gebot dieser Schweigen, bevor sie den Mund aufmachen konnte. »Nun, meine lieben Schnauzen«, dröhnte er, »ich bin sicher, daß ihr über unseren heutigen Fang Bescheid wissen wollt. Er war besser, als wir zu hoffen gewagt haben: 2348 Knochen; Knorpeln, Splitter und kleine Zähne nicht mitgerechnet.« Diese Neuigkeiten wurden mit begeistertem Gekläff, aufgeregtem Gesabbere und Nägelkauen honoriert. »Ihr habt alle ganz phantastische Arbeit geleistet. Kein einziger Schnitzer. Ihr werdet euch freuen zu erfahren, daß die Knochen bereits zu unseren privaten Vergnügungsparks jenseits der Felswanne verstaut worden sind, und ab morgen früh werden wir in aller Ruhe daran herumnagen können. Ich sollte vielleicht noch hinzufügen, daß dreiundvierzig Zuschauer im Gedränge und bei den Feierlichkeiten getötet wurden. Wir haben sie unter unseren fangarmigen Freunden aufgeteilt, so daß diese wieder eine Weile zufrieden sind. Habt ihr noch Fragen? Nein? Dann bedanke ich mich noch einmal bei euch. Schnauzen, ihr wart großartig! Nun wünsche ich euch noch viel Vergnügen!« Nach seiner Rede streckte sich der König genüßlich unter seinen purpurroten Mantel und fuhr mit der Zunge über seine Schnauze.
Nach ein paar Sekunden stand er auf und hustete. Sofort trat Schweigen ein. »Ich werde mich nun zurückziehen, um meine Hochzeitsnacht gebührend zu feiern. Und nun komm, meine Liebe, und bring deinen Lakai mit, damit er an unserem Lager wacht.« Der Schnauzkönig rauschte hinaus, und zögernd folgten Ludo und Jason ihm. Am Ende des Felsenganges mußten sie wieder durch eine Tür hindurch, vor der ein schwerer, purpurroter Vorhang hing. Sie gelangten in ein rundes Schlafgemach, auf dessen Boden die größten Knochen herumlagen, die Jason jemals gesehen hatte. »Riesenausführung«, brachte der Schnauzkönig schleppend hervor, als er Jasons Blick folgte. »Mein ganz besonderes Vergnügen. Ach, bin ich aber müde! Großartiger Tag, großartige Scharade! Ach, wie ich das nur durchhalte!« Jason besah sich die Wände auf eventuelle Fluchtmöglichkeiten, konnte aber keine entdecken. Er war nicht einmal sicher, ob er mit Ludo zusammen den Schnauzkönig überwältigen konnte, ohne daß dieser Alarm schlüge. Er dachte in aller Stille über ihre Lage nach und erschrak, als er plötzlich dröhnendes Gelächter hörte, das von der königlich gekleideten Figur auf dem runden Bett kam. »Krieche vor mir im Staub, du flachgesichtiger Sklave, du lächerlicher, nackter Hautbeutel, du schwanzloser Schwächling!« Zu Jasons Befremden fing der Schnauzkönig wieder mit diesem unmäßigen Gelächter an, wobei er sich von einer Seite zur anderen rollte und dabei mit dem Schwanz wedelte. »Ach du meine Güte, Jason!« keuchte der Schnauzkönig. »Es hat keinen Wert, ich halt's einfach nicht mehr aus. Tut mir leid, daß ich dich gehänselt habe. Wer ist sie übrigens? Wirklich sehr nett, aber ich nehme an, daß sie dir gehört.« »Ja, ich meine... Was? Ich verstehe plötzlich gar nichts mehr!« Jason setzte sich, schaute hilfesuchend zu Ludo hinüber und zuckte mit den Achseln. Nichts war in Wirklichkeit, was es zu sein schien. Dies galt ebenso für den Schnauzkönig. »Natürlich nicht, das kannst du auch nicht verstehen, du armer Kerl. Die Spiele haben dich zu sehr mitgenommen. Aber mach dir nichts daraus. Vielleicht hilft das ...« Der Schnauzkönig packte seine Robe mit den Zähnen und riß sie mit einer schwungvollen Bewegung herunter. Unter der
Maske befand sich dieses Mal zu Jasons Verwunderung kein fremdes Geschöpf, sondern ein ganz gewöhnlicher, großer, freundlicher Hund. »Satan?« fragte Jason zärtlich. »Auf Anhieb richtig, alter Junge. Zum ersten Mal richtig geraten. Aber nun mal sachte! Satan, das war ein alter Spitzname. Mein eigentlicher Titel war Rex, wie du dich vielleicht erinnern kannst, oder König, wie sie hier unten sagen.« »Aber du kannst jetzt sprechen, und dein Kopf hat sich ebenfalls verändert. Ich habe dich überhaupt nicht mehr erkannt.« »Ja, sprechen. Das ist großartig, nicht wahr? Und die Schnauzkrone ist doch auch ganz entzückend, meinst du nicht auch? Aber ich erzähle dir alles besser von Anfang an. Setz dich doch. Fühl dich ganz wie zu Hause!« Und Satan begann seine Abenteuer zu erzählen, von dem Tag an, als das verrückte Großmaul in Avebury aufgetaucht war. Es schien, daß an dem betreffenden Tag die Hunde im Dorf durch ein seltsames Vibrieren in der Luft beinahe zum Wahnsinn getrieben worden waren. Offenbar hatten sie alle zu jaulen begonnen und jagten in einer wilden Meute durch das Dorf. Die Dorfbewohner waren darüber so erschrocken, daß sie sich in ihren Häusern einschlössen und nicht einmal mehr hervorzukommen wagten, wenn jemand an die Tür klopfte. Das Vibrieren wurde dann immer stärker, als auch noch ein großer Meteor über das Dorf hinwegflog. Die ganze Hundemeute floh in panischer Angst aus dem Dorf und aufs freie Land. Die meisten davon waren zu erschrocken, um zurückzukehren, und zogen es daher vor, im nahe gelegenen Hügelland Hasen zu jagen. Rex, genannt Satan, der wegen seines Maulkorbs nicht mitmachen konnte, faßte sich ein Herz und wollte zu seiner abendlichen Mahlzeit ins Pfarrhaus zurückkehren. Als er am Kreis mit den Steinen vorbeikam, fiel ihm auf, daß der größte Teil davon glühte und vibrierte, und er trottete darauf zu, um der Sache nachzugehen. »Das«, erzählte Rex, der Jason auf seine Geschichte vorbereiten wollte, »war der eigentliche Beginn meines Abenteuers. Der Stein hatte einen merkwürdigen Geruch an sich, also bin ich hinübergegangen, um dies auszukundschaften. Es war ein ungewohnter Geruch, eine Mischung aus Igel und Backstube. Um mich vor bösen Geistern zu beschützen, habe ich meine Pfote draufgelegt, und dann ist es eben passiert. Die Erde unter meinen Pfoten begann zu beben und wärmer zu werden, und ich stellte fest, daß in der Mitte des Steins ein großes, klaffendes Loch war, das ich vorher noch nie gesehen hatte. Also schnüffelte ich ein
bißchen tiefer. Du kannst dir nicht vorstellen, was das für meine arme Nase bedeutet hat. Es stank gen Himmel und hat mich ganz verrückt gemacht. Ich fing an, tiefer zu graben, um herauszufinden, woher der Gestank kam. Dann fühlte ich plötzlich, wie die Erde unter meinen Pfoten nachgab. Sie sanken so schnell ein, daß ich sie nicht mehr rechtzeitig herausziehen konnte.« »So wie wenn man die Finger ins Marmeladenglas steckt?« rief Jason dazwischen. »Wenn du meinst. Jedenfalls, da war ich nun und fiel, mich mehrmals überschlagend, in eine An Höhle hinab. Ich war so übel zugerichtet, daß ich mich nur noch in eine dunkle Ecke verziehen konnte, um mich zu erholen. Dann hörte ich noch ein Krachen, und das warst dann du. Aber als ich versuchte aufzustehen, gaben meine Beine einfach nach, und ich konnte dir nicht folgen. Ich versuchte zu bellen, aber mein Maul war voll Erde. Als ich wieder gehen konnte, sah ich dich vor mir und du wurdest von einem merkwürdigen Tier angegriffen, das ich nicht kannte. Ich versteckte mich also und sah zu, als sie dich abtransportierten. Nachdem ich eine Zeitlang gewartet hatte, schlich ich mich aus der Höhle und rannte weg. Ich zog tagelang in der Gegend herum und war am Verhungern. Ich sah manch schmackhaftes Mahl um mich herumhüpfen und -kriechen, aber mein Maulkorb hinderte mich am Fressen. Schließlich wurde ich ohnmächtig vor Hunger, und ich weiß nicht mehr, was dann passiert ist. Jedenfalls merkte ich, als ich wieder zu mir kam, daß man mir den Maulkorb abgenommen hatte und daß man mir etwas zum Fressen und Wasser hingestellt hatte. Ich war in einem riesengroßen Zwinger und fraß und trank, bis ich wieder zu Kräften gekommen war. Dann kam ich zu der Überzeugung, daß es Zeit sei, weiterzugehen und grub einen Tunnel unter der Wand und schlüpfte durch. Aber ich war nur in einen anderen Raum des Zwingers geraten, wo mich ein grelles Licht blendete und jemand sagte: >Der Bildhauer ist für dich bereit.< Ich wurde auf eine kreisförmige Bahre gehoben. Glocken ertönten und Lichtpunkte blinkten in meinen Augen auf. Ich fühlte mich benommen und schlief sofort wieder ein. Als ich wieder erwachte, fühlte ich mich zuerst sehr durstig. Ich ging zu einem großen Trog mit Wasser und trank. Als ich mein Spiegelbild im Wasser sah, traute ich meinen Augen kaum. Der Bildhauer, wer auch immer das sein sollte, hatte meinen Maulkorb so angebracht, daß er aus meinem Kopf wuchs. Nicht festgeschnallt, verstehst du, sondern so
festgemacht, daß er tatsächlich aus meinem Kopf herausragte. >Er sieht wie eine Krone aus<, sagte ich. Erschrocken stellte ich fest, daß ich laut gesprochen hatte und heulte deswegen vor Freude auf. Ich schlürfte das Wasser und jaulte und bellte dabei so, daß die Wärter aus den anderen Räumen angerannt kamen. >Ich kann sprechen !< rief ich. >Ich kann sprechen<. Sie waren verblüfft und flüsterten miteinander. Ich merkte, daß etwas nicht stimmte, und hielt mich zurück. Später entdeckte ich, daß hier im Innengestein jeder sprechen kann und daß ich von dem Augenblick an, in dem ich zufällig durchgestoßen war, sprechen konnte. Es hatte nichts mit der Operation zu tun, die der Bildhauer an mir vorgenommen hatte. Er hatte lediglich meinen Maulkorb auf meinen Kopf verpflanzt und als festen Bestandteil in meinen Körper integriert. Ich glaube, sie dachten, daß es eine Verbesserung sei. Vielleicht haben sie aber auch gedacht, daß der Maulkorb aus Versehen über mein Maul gerutscht war und schoben ihn dorthin zurück, wo er ihrer Meinung nach hingehörte. Die Wärter wurden mir gegenüber ziemlich mißtrauisch, nachdem ich am Wassertrog so einfach losgesungen und -geschrien hatte, daß ich beschloß, bei der ersten Gelegenheit durchzubrennen. Drei Tage später konnte ich entkommen. Ich rannte ohne anzuhalten, bis ich an diesen Ort gelangt bin, wo ich mich niedergelassen habe.« »Ich glaube, ich habe dich das eine oder andere Mal ganz flüchtig gesehen«, meinte Jason, »aber du warst so weit weg und bist so schnell gerannt.« »Schade, daß wir uns nicht schon früher getroffen haben«, sagte Rex gähnend, »wir hätten ein gutes Team abgegeben. Aber ich kann mich nicht beklagen. Ich bin hier gut vorangekommen. Keine zehn Pferde könnten mich wieder nach draußen bringen. Ich müßte ja darauf vollkommen verzichten!« Bei diesen Worten wies er mit seiner reichberingten Hand in die Richtung seines festlichen Hofstaates. »Aber wie kommst du denn mit dem blutgierigen Mob auf den Rängen zurecht? Und die Show, die du für ihn inszenieren läßt, macht ihn nur noch blutrünstiger!« ereiferte sich Jason. »Nun, du kennst doch meine Vorliebe für Knochen. In unserem Dorf war ich ja deswegen immer in Schwierigkeiten. Erinnerst du dich an den Friedhofsskandal? Und ich habe hier eine Ewigkeit gebraucht, bis ich nur ein paar zusammenhatte. Aber dann habe ich diese Schnauzen hier getroffen, die hinter der gleichen Sache her waren. Ich habe sie organisiert und dabei meine Erfahrung von draußen spielen lassen. Wir haben uns hier
niedergelassen und die ortsansässige Bevölkerung davon überzeugt, daß wir eine alte Tradition auffrischten, und los ging's. Wer behauptet, daß man einem alten Hund nichts mehr beibringen kann? Es wurde ein voller Erfolg. Wir haben immer so viele Knochen, daß wir uns dumm und dämlich nagen können. Es ist ein Schlaraffenland. Ein Schlaraffenland aus Hundeknochen. Und für jede Gelegenheit denken wir uns etwas Neues aus. Je größer die Furcht, desto besser. Wir wissen so langsam, was sie brauchen.« »Hast du nicht Angst davor, daß dir der Mob einmal auf die Schliche kommt und sich gegen dich wendet?« »Dazu wird es kaum kommen, mein lieber Junge. Ich will dir eines sagen: Meine Schnauze mag zwar etwas schief im Gesicht sitzen, aber mein Denken ist geradlinig. Alles, was du im Leben brauchst, ist eine klare Vorstellung von dem, was du willst. Dann ist alles andere einfach. Ich will Knochen, Berge von Knochen, und mir ist es gleich, wie ich sie bekomme. Frisch vom Fleisch, wenn's sein muß, aber so ist es natürlich bedeutend einfacher. Und wenn der Mob eines Tages böse wird, dann wird er's an den Vollzugsbeamten auslassen, an den armen, fangarmigen Saugern. Aber nicht an uns.« »Wie habt ihr's fertiggebracht, daß sie für euch arbeiten?« »Sie haben hier gelebt, bevor wir kamen. Es ist ihre Heimat. Also haben wir einen Pakt mit ihnen geschlossen. Wir können die Felsarena benutzen, und sie räumen den ganzen Schlamassel nach den Spielen auf.« »Und sie waren damit einverstanden?« »Klar. Es handelt sich bei ihnen doch um Sauberkeitsfetischisten, die alles fressen, was übrig bleibt. Bevor wir kamen, war der Ort so sauber, daß sie deswegen beinahe ausgestorben wären. Nun garantieren wir ihnen in regelmäßigen Abständen eine Schweinerei, und seitdem fühlen sie sich wie im Paradies. Also sind alle glücklich: sowohl die Knochenbande als auch die fangarmigen Burschen und vor allem diese brüllenden Idioten auf den Rängen. Wie du gesehen hast, tun sich ja unsere Schnauzen auch nicht wirklich weh. Was soll also daran fehlschlagen? Alles ist so harmlos, daß sogar ein Tierschützer damit zufrieden wäre.« »Ein was?« fragte Ludo. »Ach nichts - nur ein Hundewitz, den ich noch von draußen kenne. Vergiß es. Nun, was sollen wir denn mit euch beiden machen?« »Nun, ich muß so schnell wie möglich wieder nach draußen ...«
»Bist du denn ganz verrückt! Das kann doch unmöglich dein Ernst sein, alter Junge. Diese ganze Gängelei dort draußen. Nein, danke.« »Doch, es ist mein Ernst. Aber zuerst muß ich nur ein paar Goldene Würmer besorgen für einen Freund, und - das hier ist Ludo - sie hilft mir dabei. Wir versuchen, zu einem Ort zu gelangen, der als Schule des Verlernens bezeichnet wird. Hast du schon davon gehört?« »Ja, natürlich habe ich schon davon gehört. Dort sind lauter Idioten, die nach draußen wollen. Wenn ihr durch die Schlucht zur Höhle zurückgeht und euch am Höhleneingang nach links wendet, seid ihr auf dem richtigen Weg. Aber Näheres kann ich euch auch nicht darüber sagen.« »Danke. Das reicht für den Anfang.« »Aber es ist nun zu spät zum Weggehen, und ich würde euch vorschlagen, über Nacht hierzubleiben. Ruht euch aus, trinkt und jault ein bißchen mit uns. Jeder hat seinen großen Tag, und heute bin ich dran. Also feiert mit mir... Einverstanden?« »In Ordnung. Und vielen Dank dafür, daß du uns überhaupt gehen läßt«, sagte Jason. »Aber hör mal - das ist doch selbstverständlich. Dort draußen im Außengestein hast du mir die Brust gekrault, nun revanchiere ich mich dafür. Wir wissen doch schließlich, was Fairness ist.« »Ja, das stimmt«, erwiderte Jason lächelnd. »Aber rede nicht über das, was du hier erlebt hast. Das gehört zu unserer Vereinbarung.« »Natürlich, aber ich wünschte, du würdest alles aufgeben und mitkommen. Ich bin sicher, daß man dich eines Tages erwischt, auch wenn du anderer Meinung bist.« »Nun haben wir aber genug übers Außengestein gequatscht«, sagte der Schnauzkönig mit tiefer Stimme, erhob sich und schlüpfte dabei wieder in seine königliche Rolle zurück. »Ich denke, wir sollten jetzt wieder zu den Schnauzen zurückkehren. Dies ist die Zeit zum Feiern.« Und sie feierten so ausgiebig, daß sie schließlich erschöpft auf dem großen, runden Bett des Königs niedersanken. Am nächsten Morgen, als die beiden wieder munter waren, verabschiedeten sie sich von Rex und gingen zum Eingang der Höhle zurück, an der Felsarena vorbei, die nun ganz verlassen dalag, bis auf die Vollzugsbeamten mit den Fangarmen, die die letzten Überreste der Spiele gierig aufsaugten. Als sie aus der Höhle draußen waren, seufzten sie erleichtert auf und schauten nach ihrem Trommodil. Es hatte offenbar auf sie gewartet und döste friedlich im Schatten eines überhängenden Felsens vor sich hin. Sie weckten es, nahmen auf seinem Rücken Platz und ritten
unverzüglich weg, um sich auf die Suche nach dem Berg mit dem Hochplateau und der Schule des Verlernens zu machen, wo sie mit ein bißchen Glück mehr über den sagenhaften Bildhauer und die zauberhaften Goldenen Würmer erfahren würden. Das Trommodil trabte beschwingt in der Richtung weiter, die ihnen der Schnauzkönig gewiesen hatte, und Jason war erstaunt, als er es vor sich hin murmeln hörte: »Großartige Spiele, ganz toll. Am Ende des Tages stellt sich immer heraus, was es eigentlich ist.« »Was hast du gesagt?« fragte Jason. »Nichts«, antwortete Ludo, »ich habe nur im Wachen geträumt.« »Nein, ich meine nicht dich, sondern das Trommodil. Es hat etwas gesagt.« »Ich habe gesagt«, sagte das Trommodil in schleppendem Ton, »daß es ein tolles Spektakel war. Dieser wunderschöne Lärm. Hat mich an den Trommeln gekribbelt. Wirklich!« »Wie bist du denn hineingekommen? Du hast doch keinen Knochen gehabt!« »Jodl, jodl, jodl«, gurgelte das Trommodil, das sein Maul voller Höhlenkies hatte. Es war ein Geräusch, das nur noch entfernt an ein Lachen erinnerte. »Ich sagte eben, daß ich zur Kapelle gehöre. Ich hatte eine ganz tolle Sicht! Jodl, jodl.« »Bist du nicht überrascht, daß du mich hier wieder siehst?« fragte Jason. »Denn du hast doch sicher auch mitgekriegt, daß ich beim Knochenbrandrennen in Flammen aufgegangen bin.« »Jodl, jodl. Doch nicht mit mir! Du hast doch mich nicht hinters Licht führen können! Du hast dich hinter diesem Typen mit dem Saugnapf versteckt. Ich hab' dich sehr wohl gesehen!« »Aber trotzdem hast du gefunden, daß es ein großartiges Spektakel war?« »Klar. Vorgetäuschtes Feuer und vorgetäuschtes Blut macht mir doch nichts aus. Ich will nur nicht, daß jemand wirklich verletzt wird. Ich hab' halt ein gutes Herz.« »Siehst du«, sagte Ludo nach einer Weile, »wir sind doch keine so furchtbaren Barbaren hier unten, wie du annimmst. Innengestein und Außengestein sind doch nicht vollkommen verschiedene Welten.«
»Willst du damit sagen, daß auch die übrigen Zuschauer in der Arena wußten, daß alles nur Mache war? Daß sie es genossen haben, weil sie wußten, daß alles nur Schau war? Das nehme ich dir aber nicht ab.« »Nein, so war es wahrscheinlich nicht ganz. Die einen haben's vermutlich gewußt und der Rest nicht. Ich bin ziemlich sicher, daß es alle Jüngeren für echt gehalten haben. Aber die Jüngeren sind auch wirklich ziemlich bösartig. Sie brauchen eben ihre Zeit, bis sie sanfter werden.« »Das ist doch Quatsch!« rief Jason. »Es ist gerade umgekehrt. Die Jüngeren hassen Gewalt. Es sind die Älteren, die...« ... Und damit waren Jason und Ludo wieder einmal bei einem ihrer endlosen Streitgespräche angelangt, die sie beinahe genauso liebten wie die Unterhaltungen, bei denen sie sich einig waren. Immerhin halfen sie ja den beiden, sich die Zeit auf ihren ausgedehnten Reisen zu vertreiben.
9. Die Schule des Verlernens Tagelang durchstreiften Jason und Ludo Täler und Gebirgsschluchten. Sie gingen durch Tiefen, über schmale Gebirgspässe und Berggipfel an rauschenden Bächen vorbei, bis sie in der Ferne endlich die große, schwarze Form eines Hochplateaus erblickten, das von steilen, zerklüfteten Felsgipfeln umgeben war. »Das muß es sein«, rief Ludo. »Erinnerst du dich, daß ich dir gesagt habe, daß die Schule des Verlernens auf einem abgeflachten Berg liegt? Bald sind wir dort.« Als sie sich dem Fuß des Berges näherten, konnten sie gerade noch ein Gebäude sehen, das hoch über ihnen emporragte, aber dessen Einzelheiten ihnen unklar blieben, weil es zu weit entfernt war. Als sie dann zu dem steilen, felsigen Abhang kamen, hieß es Abschied nehmen von dem treuen Trommodil, das unter Absingen von vollkommen unsinnigen Knochenliedern von dannen trabte und dabei seine Trommelovale schwenkte. Ludo und Jason wandten sich dann dem Berg zu und machten sich mit Feuereifer an ihren beschwerlichen Aufstieg. Als sie auf halber Höhe waren, kamen sie zu einem Felsvorsprung, auf dem sie sich ausruhten. Die Luft war dünn und frisch, und sie atmeten tief durch, als sie sich an der felsigen Wand zurücklehnten, ihre schmerzenden Glieder ausstreckten und das Meer von Gipfeln unter sich bestaunten.
Jason hatte seine Schuhe ausgezogen und rieb sich die Füße, als er plötzlich ein Schwirren hörte, das durch Mark und Bein ging. »Enk, enk, enk.« »Was bedeutet der Lärm?« »Eink, EEink, EEEink, EEEEink!« »Was ist das nur?« »Ach, du meine Güte! Ein Grantler-Paar. Paß auf deine Zehennägel auf!« »Meine was?« »Deine Zehennägel. Sie lieben Zehennägel. An sich sind zahme Grantier ziemlich nützliche Tiere. Sie werden zum Stutzen verwendet.« »Und was stutzen sie genau?« »Zehennägel, was denn sonst? Klauen natürlich. Aber in dieser Gegend hier wird es kaum zahme geben. Dies müssen also wilde Grantier sein, die hier in den Felsspalten leben. Sie stürzen sich direkt aus ihrem Versteck auf deine Füße und klammern sich daran fest.« »Warum fressen sie denn ausgerechnet Zehennägel?« »Weil diese Nahrung ihren Panzer festigt.« Das Schwirren wurde immer durchdringender. »Hört sich wie Streit an. Die Paare bleiben ein Leben lang zusammen, aber sie hassen sich. Ziemlich erbärmliche Geschöpfe. Keiner mag sie.« »Wenn sie sich so sehr hassen, warum bleiben sie dann zusammen?« »Nur weil sie das Alleinsein noch mehr hassen. Aber manchmal wird es sogar für sie zuviel, und sie trennen sich. Dann sind sie wirklich elend dran. >Entgrantelt sein< heißt nämlich soviel wie ständigen Depressionen unterworfen zu sein. Das ist auch der Zustand, von dem wir das Wort >entgrantelt< abgeleitet haben.« Jason griff nach seinen Schuhen und zog sie hastig wieder an. Das Grunzen wurde schwächer, aber verschwand nicht völlig. »Sie sind immer noch dort. Ich glaube, wir sollten um den Felsvorsprung herumgehen. Es wird dort sehr schmal, aber ich glaube, wir könnten's schaffen.« Als sie sich um die scharfe Biegung herumgezwängt hatten, indem sie den Körper fest gegen die Felsoberfläche preßten, entdeckten sie ein kleines schwarzes Loch in der Felswand, das beinahe unmittelbar über ihren Köpfen war. »Eine Grantlerhöhle?« fragte Jason. »Nein, sie ist zu groß für sie. Sie ziehen enge Felsritzen vor. Laß mich mal auf deinen Rücken klettern und hineinschauen.«
Jason stützte sich mit Händen und Füßen auf, damit Ludo über seinen Rücken in die Höhle klettern konnte. Drinnen drehte sie sich um, ergriff Jasons Arm und half ihm in den Tunnel. Zuerst war es eng, aber bald wurde der Gang weiter, so daß sie sich zuerst halb und dann ganz aufrichten konnten. Jason machte eine Probe mit Pfeifen: Das Echo gab ihm Aufschluß darüber, wo sie sich in der riesigen Höhle befanden, aber noch konnten sie mit den Augen keine Details erkennen. »Habt ihr euch eingetragen?« fragte eine gelangweilte Stimme. »Nein, wir sind Kletterer«, antwortete Jason. »Ich weiß, aber seid ihr eingetragene Kletterer?« Sie starrten in die Finsternis, aber konnten niemanden sehen. »Hier oben«, sagte die Stimme wieder. »Über euch. Ich bin der Registratur.« Sie reckten die Hälse und konnten unscharf die Umrisse des Sprechers erkennen, der vom Dach hing. »Was tun Sie dort oben?« fragte Jason, der versuchte, das Thema zu wechseln. »Malen. Welches sind eure Nummern?« »Äh ... 53«, sagte Jason spontan. »47«, fügte Ludo hinzu, Jasons Beispiel folgend. »Einen Moment, ich werde das nachprüfen«, sagte die gelangweilte Stimme wieder. Sie konnten ihn kratzen hören. »Woher habt ihr diese Nummern?« fragte er nach einer Weile. »Sie sind hier nirgends eingetragen.« »Der Bildhauer hat sie uns gegeben.« »Und wer noch, wer noch? Wollt ihr mich etwa zum Narren halten? Ich habe nicht gefragt >wer<, sondern >wo
trödelt einfach herum. Das ist einfach grotesk! Euch geht's vielleicht noch ein bißchen zu gut, wie?« »Habe ich >Testgebiet< gehört?« fragte Ludo scheinheilig. »Ja, natürlich. Wenn du erfolgreich verlernt hast und deinen Kurs in allen Fächern beendet hast, bist du berechtigt, zum Tor des Zensors zu gehen. Wenn du an dem vorbeikommst, kannst du ins Testgebiet.« »Und das Außengestein«, sagte Ludo kaum hörbar. »Wie war das? Was? Was? Sprich lauter! Eh?« »Ich sagte, und zum Außengestein.« »Ja, ja. Wenn sie dich einmal getestet haben und du Glück hast, bekommst du auch einen Passagierschein zum Außengestein. Aber heutzutage ist es nicht leicht, heißt es. Es gibt schon viel zu viele dort draußen. Für einen Neuankömmling wird es mit der Zeit immer schwerer, noch ein freies Plätzchen zu finden. Aber wenn du erst einmal am Zensor vorbei bist, ist noch Hoffnung. Nun kann ich aber nicht den ganzen Tag hier herumhängen und eure bescheuerten Fragen beantworten. Ihr hättet wenigstens von den Assistenten des Bildhauers über die grundlegenden Dinge instruiert werden sollen. Aber vielleicht sind das auch schon dieselben Trödler, eh? Es ist doch überall dasselbe, bei meiner Ehre! Nun, die Nummern, örtlich, habt ihr gesagt?« »Ja, örtlich.« »Hmm. Nun, in diesem Fall müßten sie aber vorne eine Null haben. Warum habt ihr das nicht gleich gesagt? Hätte mir all die Mühe erspart, eh? Eh? Was? Was? Lauter!« »Ach ja, wir haben das als ganz selbstverständlich angesehen. Ich bin 053 und sie ist 047.« »Wartet hier. Hetzt nicht so! Ich muß das zuerst überprüfen. Immer in Eile, alle haben es eilig. Ich habe keine Zeit zur Hast. Nicht wie ihr Verlerner! Ihr trödelt dort draußen herum und habt dann die Stirn, euch hier vorzudrängeln, ohne >mit Ihrer Erlaubnis< zu sagen. Ja, hier sind sie, 053 und 047. Das scheint in Ordnung zu gehen. Ich habe eure Vormerkungen hier. Aber ihr wärt erst nächste Woche fällig gewesen. Ich weiß nicht, ob eure Zimmer schon fertig sind. Einen Augenblick noch habt ihr nicht gesagt, daß euch diese Nummern vor langer Zeit gegeben worden sind? Es sind aber neue Nummern, nagelneue sogar, von der letzten Ladung. Hier kann was nicht stimmen!« Weil Jason ganz spontan gehandelt hatte, konnte er sich kaum mehr an das erinnern, was er genau gesagt hatte, aber offensichtlich hatte er jetzt einen Fehler gemacht.
»Habe ich das wirklich gesagt? Das kommt natürlich immer darauf an, wie man die Zeit erlebt. Ich selbst lebe von Augenblick zu Augenblick, so daß es mir eben sehr lange vorgekommen ist, aber für andere war es erst gestern.« »Gestern?« »Ja, gestern.« »Hmm, das sieht dann schon anders aus. Das paßt. Sehr gut. Ihr könnt dann durchgehen. Jedenfalls glaube ich nicht, daß du, 053, viel verlernen mußt, was die Zeit anbetrifft, eh, eh? Ihr könnt nun die Treppe hinaufgehen.« Jason und Ludo konnten den Sprecher immer noch nicht deutlich sehen, als sie die Felsentreppe hinaufstiegen und anfingen zu klettern. Für sie war er nur ein Bündel, das aus Lappen und Falten bestand. Der Registrator aber sah sie vorbeigehen und widmete sich dann wieder eifrig seinem Gemälde. Die Felsentreppe schien kein Ende zu nehmen, sie drehte und wand sich, sie schraubte sich hoch und wurde steiler, dann wurde sie gerade und flach, nur um sogleich wieder anzusteigen. Als sie am Rande ihrer Kräfte waren, um noch einen Schritt weiter zu gehen, wurden sie durch ein Licht aufgeschreckt, das über ihnen aufleuchtete. »Nummern?« »053.« »047.« »Hat euch der Registrator durchgelassen?« »Ja.« »Er ist verrückt. Dieses Höhlengemälde, an dem er arbeitet, ist schuld daran. Warum kann er sich nicht auf seine Aufgabe konzentrieren! Ihr seid noch nicht dran. Hat er euch denn nicht gesagt, daß eure Zimmer noch nicht fertig sind?« »Ja, schon. Aber das macht uns nichts aus. Wir wollen eben möglichst schnell anfangen. Wir müssen sehr viel vergessen.« »Ja, das kann ich verstehen. Dann folgt mir mal nach. Hier sind eure Abzeichen und eure Schlüssel. Es verstößt zwar gegen die Regeln, aber ich kann's nicht zulassen, daß ihr die Treppe blockiert. Andere wollen sie ja bekanntlich auch benutzen. Folgt mir nach, und ich werde euch den Weg zeigen.« Eilig schlurften sie hinter dem Licht her, denn sie wollten nach Möglichkeit ihre Glückssträhne nützen. Wegen des blendenden Lichtscheins in ihren Augen konnten sie wenig von ihrem neuen Führer sehen, bis er dann mit lautem Geklapper eine Tür aufstieß. Sie gelangten in einen geschmackvoll ausgestatteten und hell erleuchteten Saal, in dem Tausende von Büchern an den Wänden standen. Ihr Führer führte sie zu einem riesigen Schreibtisch, der mit Papieren und Akten bedeckt war, und nahm mit gewichtiger Miene dahinter Platz.
»Mein Name ist Mulu-Mulu, genannt Mali-Mali. Ich bin der Buchhalter. Leert eure Taschen, Beutel, Lappen und Fransen!« »Aber wir haben keine Bücher.« »Papiere? Tagebücher? Schmierzettel mit irgendwelchen Listen drauf? Nichts dergleichen?« »Nein, nichts dergleichen.« »Seltsam. Ich habe nämlich herausgefunden, daß beinahe alle Verlerner an einem letzten bißchen Information hängen. Seid ihr ganz sicher?« »Ja.« »Nun, dann könnt ihr auf eure Zimmer gehen. Sie sind noch nicht geputzt, aber dafür könnt ihr mich ja wohl kaum verantwortlich machen. Es ist ja schließlich eure eigene Schuld, wenn ihr früher kommt. Euer Kurs beginnt erst in vier Tagen, also müßt ihr euch bis dahin selber beschäftigen. Ihr müßt jetzt dort hinausgehen und zuerst nach rechts, dann nach links und noch einmal nach links abbiegen. Die Nummern stehen an der Tür. Wenn ihr Hunger habt, müßt ihr nach dem Zimmerkellner klingeln. Es wird euch noch mitgeteilt, wo ihr euch später melden müßt.« Statt nach ihren Zimmern zu suchen, begannen Ludo und Jason das Labyrinth der Korridore systematisch auszukundschaften. Fast alle Türen waren verschlossen und die, die offen waren, führten nur in große, leere Säle. »Der Ort ist verlassen«, sagte Ludo. »Irgendwo müssen doch noch ein paar andere Verlerner sein, aber wo nur? Wir müssen sie finden und ausfragen, bevor die wahren 053 und 047 auftauchen, weil sie dann herausfinden, daß wir sie belogen haben. Dazu bleiben uns aber nur ein paar Tage.« »Das sollte eigentlich ausreichen. Wir müßten hier doch bald jemand begegnen. Wenn wir es nicht« »Was?« »... fertigbringen, daß sie zu uns kommen. Etwa so ...« Und er rief in die hohlen Hände so laut er konnte: »Feuer!« und noch einmal: »Feuer!« Ludo und Jason hörten ein Scharren hinter einer der Türen nahebei, die fest verschlossen war, als sie sie eben zu öffnen versucht hatten. Ketten rasselten und Riegel klapperten, und sie hörten, wie ein Schlüssel rumgedreht wurde. Die Tür öffnete sich langsam, und eine lange, pickelige Hand tauchte auf, mit einem dünnen Handgelenk voller Warzen und einem dünnen, fleckigen Arm, mit einem knorpeligen, gesprenkelten Ellbogen. Ein dünner, schorfiger Zeigefinger krümmte sich und bedeutete ihnen einzutreten.
Im Zimmer führte sie der noch fleckigere Besitzer des fleckigen Armes zu zwei leeren Stühlen und ließ seinen gebeugten, feisten Körper in einen durchhängenden Korb fallen und seufzte. Seine dürren Extremitäten baumelten zu beiden Seiten herab. Er räusperte sich und begann mit einiger Anstrengung zu sprechen: »Seid mir gegrüßt. Sie müssen die Feuerinspektoren sein? Gut, daß Sie gekommen sind. Wollen Sie hier beginnen, oder haben Sie einen anderen Plan. Mir ist es gleich.« »Was beginnen?« fragte Jason. »Das Feuer.« »Aber Feuerinspektoren"' zünden doch gerade kein Feuer an.« »Natürlich tun sie das. Wie könnten sie denn sonst die Brände überwachen? Sind Sie sich auch sicher, daß Sie wirklich Feuerinspektoren sind? Sie haben doch gerade vor der Tür gerufen, oder nicht?« »Ja, wir wollten die Aufmerksamkeit auf uns lenken.« »Nun, Sie haben jetzt meine, voll und ganz. Was wollen Sie damit tun?« »Wir wollen Ihnen ein paar Fragen stellen.« »Fragen, aha? Davon verstehe ich nichts. Ich bin hier nur ein Unlehrer. Ich beantworte keine Fragen, sondern entferne sie einfach aus den Köpfen meiner Schüler. Aber wir könnten es vielleicht mal versuchen. Mein Kurs fängt erst in ein paar Tagen an, so daß ich im Augenblick nichts anderes zu tun habe, als zu warten. Vielleicht helfen mir Ihre Fragen, die Zeit zu vertreiben. Welche Art wollen Sie mir denn stellen? Mein Name ist übrigens Snix, B. Snix. Babbeling Snix. Gewöhnlich nennen mich die Verlerner Babbel. Freche Schnösel!« »Wir würden gerne einige der Verlerner befragen, um herauszufinden ... herauszufinden, was sie tun, um die Feuergefahr in der Schule zu verringern.« »Das ist keine Frage.« »Nein. Die Frage ist, wo sind sie denn? Die Schule macht einen vollkommen verlassenen Eindruck.« »Nicht vollkommen. Schließlich bin ich ja hier, oder? Und die anderen Unlehrer sind ebenfalls hier. Wir haben nichts anderes zu tun, als zu warten. Ich bin mir nicht sicher, was langweiliger ist, das Warten oder das Verlernen lehren. Das ist eigentlich kein Leben. Als wir hierherkamen, wurde jedem von uns eine Forschungsstelle im Studio des Bildhauers versprochen. Und seht uns nun an! Es ist alles ein Betrug, ein ganz abscheulicher Betrug! Mir würde es ehrlich nichts ausmachen, wenn Sie hier ein Feuer anzünden und die ganze Schule in Grund und Asche legen
würden. Es wäre mir sogar recht, außer... Nun, ich glaube nicht, daß ich rechtzeitig herauskommen würde. Meine Beine scheinen verkrüppelt zu sein. Das Herumsitzen in den Klassenzimmern und das Verlernen lehren sind daran schuld. Wie hat also Ihre Frage gelautet?« »Wo sind die anderen Verlerner?« fragte Ludo geduldig. »Hmm. Nun, einige der Fortgeschrittenen sind im oberen Stockwerk. Vielleicht wollen Sie's mal mit denen versuchen?« »Wie kommen wir zu ihnen? Es scheint keine Treppe zu geben.« »Treppe? Es gibt keine Treppe dort hinauf. Meine Klasse ist zum Beispiel unmathematisch und höheres Unmathe ist unmittelbar über uns. Wenn der Kurs hier zu Ende ist, ist ihr Kopf so leicht, daß sie einfach zur Decke hinauf und durch diesen Trichter schweben. Sehen Sie ihn in der Mitte der Decke? Ich würde Ihnen ja gerne Hilfestellung geben, aber ich glaube, daß meine Beine die Belastung nicht aushalten würden. Tut mir leid, aber so ist es nun einmal.« »Keine Sorge, wir werden es schon allein schaffen«, sagte Jason, und er und Ludo begannen eilig Schultische und Stühle in der Mitte des Raums aufeinanderzutürmen. »Auf Wiedersehen - und vergessen Sie nicht, wenn sich Ihnen eine Möglichkeit bietet, die Schule niederzubrennen, daß Sie's auch ja tun! Aber warnen Sie mich bitte ein halbes Semester vorher, damit ich diese alten, verkrüppelten Glieder wieder ins Granitlicht hinausschleppen kann. Ach, was für ein Gefühl muß es sein, wieder einmal in die wirkliche Welt zu gelangen, wo es keine Klassen, keine Verachtung, keine Tintenflecke, keine unbotmäßigen Beschimpfungen und keine Zeugnisse gibt. Ach... das muß das wahre, das vollkommene Glück sein!«
20. Die Höhle des Bildhauers Die Stimme des verlorenen Unlehrers verhallte allmählich, als Ludo und Jason sich durch den runden Trichter hindurchkämpften und sich auf den Boden des darüberliegenden Zimmers hochstemmten. Sie waren wieder in ein Klassenzimmer gelangt, das mit dem darunterliegenden identisch war, nur daß es auch Fenster hatte, die den Blick auf das Schulgelände freigaben. Jenseits davon konnten sie den scharfen Rand des Bergplateaus sehen und den steilen Abgrund.
»Wenn ich mich nicht irre, hatte Snix doch gesagt, daß wir hier oben fortgeschrittene Verlerner finden würden, aber der Raum ist genauso leer wie der unten«, beschwerte sich Ludo. »Still«, flüsterte Jason, »ich höre jemand kommen.« »Bum-di-dum, bum-di-di, bum-di-bum-di-dum.« Die Tür ging auf und ein großer, dünner Unlehrer streckte seinen Kopf herein. Er hatte volle, gerötete Wangen, die über seine Kiefer herabhingen, einen langen, borstigen, nikotingelben Schnurrbart und kleine, blitzende Augen mit schmutzigweißen Tupfern in den Ecken. Seine Haut sah aus wie die Oberfläche von reifen Erdbeeren, sie war glänzend rot und pockennarbig. Sie erweckte den Anschein, als ob die Blutgefäße übergelaufen wären. »Ach, da seid ihr ja!« krächzte er mit einer kehligen, jovialen Stimme. »Ich habe euren Feuerruf gehört. Was steht auf dem Programm?« »Feueralarm.« »Das lob' ich mir! Aber hoffentlich macht ihr dieses Mal alles kaputt, und es ist nicht wieder einer dieser gespenstischen Scherze mit Eimern und Sand - und Schlammaiden, die sich mit ihren Unterhosen in den Fallschirmen verfangen! Haben wir schon alles gehabt, es muß - laßt mich mal überlegen - na ja, ungefähr sieben Jahre her sein. Ganz schön lange, nicht wahr, alter Junge? Sagt mal, wollt ihr nicht lieber die fortgeschrittenen Verlerner ausquetschen? Sie sind ein ziemlich unstudierter Haufen. Ich bin sicher, ihr werdet euch davon überzeugen können, daß diese Verlerner praktisch alles vergessen haben. Das wäre dann doch sehr beruhigend für euch, was? Ganz faire Sache, nicht wahr?« »Nun gut, wir wollen sie jetzt kennenlernen.« »Sehr gut, sag' ich. Sehr gut. Ich reiche euch dann weiter an den alten Einpeitsch, wenn ihr nichts dagegen habt. Zufällig ist er gerade dabei, sie noch einmal zu examinieren, und zu diesem Zweck hat er sie alle an einem Ort beisammen, was gar nicht so einfach ist.« »Natürlich. Einpeitsch genügt. Wo ist er?« »Hier durch, alter Junge, hier durch«, antwortete er und stieß dabei eine Tür mit Scheiben aus Milchglas mit solcher Wucht auf, daß eine der Scheiben zerbrach und die Scherben auf das gestreifte Haupt der schlafenden Figur auf der anderen Seite niederfiel. »Hallo da, Entschuldigung!« gluckste der Eindringling, indem er zuerst das linke Ende seines nikotinfarbenen Schnurrbarts zwischen den Fingern zwirbelte und dann das rechte. »Peitschi, mein guter Junge, hier sind zwei Inspektoren für dich. Geht nur zu! Tschüüs!« Nach diesen Worten marschierte er fröhlich über den
Korridor von dannen und pfiff dabei das Leitmotiv aus dem Spatzelmacher-Parademarsch. »Jetzt hat dieser verdammte Potzblitz doch einen meiner besten Verlerner aufgeweckt, und zwar ausgerechnet in dem Moment, wo der Junge unmittelbar vor seiner endgültigen Befreiung gestanden hat. Wenn meine Diagnose stimmt, hätten sich in diesem Augenblick die letzten Fragmente seines Wissens in dem Traum, den er hatte, auflösen müssen. Und nun seht ihn euch an: ein ruheloser, traumloser, schlafloser, unglücklicher Umhergetriebener. Und all das wegen dieses gemeinen roten Potzblitzes. Was für ein grober Tölpel das doch ist! Inspektoren? Ach ja, kommen Sie nur herein. Was kann ich für Sie tun? Für welches Ressort sind Sie zuständig: Feuer, Überschwemmung, Diebstahl oder allgemeines?« »Allgemeines«, erklärte Jason schnell, denn er dachte, daß es ihnen bei ihrer Suche nach dem Bildhauer am ehesten nützen würde. Ludo sah ihn stirnrunzelnd an. Offensichtlich hatte sie an dem Gedanken Gefallen gefunden, ein Feuer zu legen, und war nun traurig, kein Feuerinspektor mehr zu sein. Aber Jason schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf und wandte sich dem Unlehrer zu. Einpeitsch sann nach, wie nur er es fertigbrachte. Einer seiner Gedankengänge drehte sich darum, wie er sein Gewicht von einem gestreiften Wasserbeutel zum nächsten verlagern sollte. Die Hauptbeutel hingen schlaff an seinem Körper herunter und schrumpften, wenn er sein Gewicht verlagerte. Einpeitschs Körpermassen wurden von einer lockeren Haut zusammengehalten. Im Ganzen betrachtet hatte er die Form einer überdimensionalen Weintraube, aber jede einzelne Traube konnte sich zu einem langen, herabhängenden, wabbeligen Blasenfinger ausstrecken oder nur zu einer Beule auf der Hautoberfläche zusammenziehen. Sein Gesicht war so ausdruckslos, wie es gerade noch sein konnte, bevor es aufhörte, ein Gesicht zu sein. Wahrscheinlich um diese Tatsache so gut wie nur möglich zu verbergen, trug er einen hellgrünen Augenschild. »Allgemeines, wie? Sie haben's ja gut getroffen. Sogar außerordentlich gut. Als ihr kamt, war ich gerade dabei, den fortgeschrittenen Verlernern ihre letzten Sätze abzuhören. Wenn Sie sich bitte dort drüben hinsetzen wollen, könnten wir beginnen.« »Danke, Einpeitsch. Das ist ja sehr zufriedenstellend«, sagte Jason so großspurig wie möglich und, um das Image eines allgemeinen Inspektors
zu wahren. »Vielleicht könnten wir uns ein bißchen mehr Information darüber anhören?« »Natürlich. Diese Klasse steht gerade vor dem Abschluß ihres dreijährigen Verlernkurses. Sie haben sehr sorgfältig und genau alles aufgeschrieben, was sie wußten, sie haben es sich von der Seele geschrieben und ihr Gehirn total entleert. Mit ein bißchen Glück sollten sie ihr Wissen auf einen einzigen Satz reduziert haben - eine einzige Idee, mit der sie am Zensor vorbei und ins Testgebiet kommen. Ich werde jetzt die Namen aufrufen, und dann hören wir uns ihre Sätze an.« »Wir sind bereit.« »Gut, gut. Alle aufwachen und mal herhören! Klages?« »Hier!« »Grunz?« »Hier!« »Schlucker, Ursitzer, Lutsch?« »Hier.« »Hier.« »Hier.« »Krakel, Sputz, Fitzer und Flumpitz?« »Hier.« »Hier.« »Hier.« »Flumpitz, wo ist Flumpitz?« »Hier.« »Was ist los mit dir? Du hast doch gehört, daß ich deinen Namen aufgerufen habe?« »Ja, aber... aber... aber... Ich habe nachgedacht.« »Was??« »Ich habe nachgedacht.« Der Unlehrer bebte vor Wut. Er schrie wie ein Verrückter zur Tür hinaus, und nach kurzer Zeit kam Mulu-Mulu, der Buchhalter, hereingerannt. »Flumpitz, dort drüben, steh auf! Vielleicht kann uns der Buchhalter sagen, ob es eine Erklärung für dein Nachdenken gibt. Nun?« »Ich fürchte ja. Leider. Ich habe alles mögliche versucht, um ihn von der Bücherei fernzuhalten, aber er schleicht sich dort hinein, wenn ich Neuankömmlinge begrüße. Wirklich, ich habe mein Bestes versucht, aber...«
»Schaffe ihn fort! Er ist ungeeignet für diesen Kurs! Er wird nie gut genug verlernen, um am Zensor vorbeizukommen. Wir verschwenden unsere Zeit mit ihm. Nimm ihn mit und laß ihn nochmals von vorne anfangen, und dann kann er wieder zurückkommen. Meinetwegen soll er sich unter die Untergumpfe mischen und sich im Innengestein weitervermehren!« Mulu-Mulu führte den zitternden Flumpitz ab und schloß die Tür. Einpeitsch entspannte sich und grinste seine Klasse an. »Nun sind wir also nur noch eins, zwei, drei... acht. Gar nicht übel. Kann mich nicht beklagen. Gut, fangen wir an. Klages, du zuerst, tritt vor und sag deinen Satz.« Klages kam nach vorn, räupserte sich nervös und sagte mit hoher, piepsender Stimme: »Der beredte Dummkopf ist zweifach gesegnet.« »Gut, der nächste. Grunz!« »Die kleinen Reichen müssen die großen Armen dafür bezahlen, daß sie auf die Knie gehen.« »Ganz vorzüglich. Der nächste. Schlucker!« »Jedes Jahr ist wichtiger als das nächste.« »Sehr subtil, Schlucker, wirklich sehr subtil. Der nächste, Ursitzer!« »Derjenige, der stillsteht, hat Zeit, daß es ihn juckt.« »Gut. Der nächste. Lutsch!« »Arbeit ist fehlgeschlagenes Spiel.« »Gut. Der nächste. Krakel!« »Es ist das Dunkle in meinem Kopf.« »Hmm. Nein. Ich glaube nicht. Krakel, ich fürchte, daß wir bei dir zu weit gegangen sind. Nichts für ungut. Du hast dein Bestes gegeben, aber es war einfach ein bißchen zuviel. Wir sprechen uns noch. Der nächste. Sputz!« »Das Verschwinden des Lächelns sagt mehr als das Lächeln selber.« »Darüber muß ich erst noch nachdenken. Du bleibst noch mit Krakel hier, Sputz. Der nächste. Fitzer!« »Die Tatsache des Todes ist wichtiger als die des Lebens.« »Gut. Der nächste, Flumpitz! Ach nein, der ist ja gar nicht mehr bei uns. Wie schade. Ich überlege mir immer noch, wie sein Satz wohl gelautet hätte.« »Dort drüben liegt ein Zettel«, sagte Jason. »Ich glaube, Flumpitz hat ihn hiergelassen. Vielleicht hat er seinen Leitsatz draufgeschrieben?«
»Aha! Vielen Dank, Inspektor. Lies ihn vor, Fitzer.« »Es steht drauf: >Möge uns der Himmel vor Träumen vom Himmel bewahren!«* »Amüsant. Eigentlich sehr amüsant. Aber ich glaube, es war trotzdem das beste, daß er gegangen ist. Er hat nie so richtig den Geist des Ganzen erfaßt. Nun, Inspektoren, was meinen Sie? Eine gute Gruppe, was? Der Zensor wird seine Freude daran haben, nicht wahr?« »Ja, wirklich, Einpeitsch, Sie haben gute Arbeit geleistet, was eigentlich im Widerspruch zu den Grundsätzen der Schule steht. Könnten wir sie vielleicht bis zum Zensor begleiten, um zu sehen, wie wohlwollend sie dort empfangen werden? Dann könnten wir Ihnen ja über die Ergebnisse berichten. Ich kann zwar verstehen, daß dies unüblich ist, aber...« »Überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil. Ich bin wirklich sehr erfreut darüber, daß Sie ein so großes Interesse an meiner Arbeit haben. Die meisten Inspektoren heutzutage scheinen ihre Zeit lediglich damit zu verbringen, das Wasser in den Duschräumen zu untersuchen. Ich weiß zwar auch nicht warum, aber es ist nun mal so. Ja, wenn sie es so einrichten könnten, daß Sie in zwei Tagen an den Barthaaren des Zensors sind, werde ich das Notwendige vereinbaren, daß Sie sich dieser Gruppe anschließen und sie hinausbegleiten können. Wie finden Sie das?« »In zwei Tagen, haben Sie gesagt?« »Ja, für diesen Zeitpunkt sind Sie vorgemerkt. In der Zwischenzeit können Sie sich ja noch hier umsehen. Haben Sie die verschiedenen Abteilungen schon alle gesehen? Wir haben eine sehr bedeutende AntiSoziologie-Abteilung, die Unathleten sind des alten Potzblitz' Zöglinge. Dann gibt es auch noch die unökonomische, die irreligiöse und die allgemeine unlogische Abteilung, nicht zu vergessen den Unbergbau, das Entforstwesen und vor allem die Rauhen Künste. Ich glaube, daß die Geheimnisabteilung geschlossen ist, aber es gibt genügend, womit Sie sich beschäftigen können.« »Ich würde mir lieber den Wiederholungskurs ansehen, zu dem Flumpitz abkommandiert wurde. Glauben Sie, daß dies möglich ist?« »Ich denke schon. Eine merkwürdige Bitte, aber ich glaube, daß wir's Ihnen ermöglichen können. Ich werde Mulu-Mulu rufen. Muuu! Ah, da ist er ja schon. Nimm die Inspektoren mit zum Wiederholungskurs. Danke. Dann also bis in zwei Tagen an den Barthaaren des Zensors, auf der Felsspitze. Seien Sie bitte pünktlich, ich kann den Zensor nicht warten lassen. Tschüüs und gute Ausbeute!«
Jason und Ludo folgten Mulu-Mulu, der sie durch endlose Gänge und Höfe führte, treppauf, treppab und durch unzählige Passagen mit ihnen ging, bis sie endlich zu einem baufälligen Verschlag in einem abgelegenen Winkel der Schule kamen. »Hier herein«, sagte der Buchhalter, »entschuldigen Sie mich, aber ich muß mich nun beeilen, die neue Gruppe wird jetzt so langsam eintrudeln«, und damit verschwand er um die nächste Ecke. »Die Neuen! Das hätte ich beinahe vergessen«, rief Jason. »Was machen wir, wenn unsere Nummern dabei sind? Dann sind wir aber aufgeflogen!« »Aber sie meinen doch jetzt, daß wir Inspektoren sind.« »Zum Glück können sie nicht klar denken, wenigstens trifft das auf den Buchhalter zu. Er hat uns zuerst als Neueingänge registriert und dann später als Inspektoren akzeptiert. Er ist so vergeßlich wie die übrigen.« »Ich glaube, so hat er sein Amt hier bekommen.« »Ja, aber wenn die wirklichen 053 und 047 ankommen, wird sogar er Mutmaßungen über uns anstellen. Wenn wir uns hier umgesehen und Flumpitz über den Bildhauer ausgefragt haben, schlage ich vor, daß wir uns so lange verstecken, bis es Zeit ist, zu den Barthaaren des Zensors zu gehen, was auch immer das sein mag.« »Gut, aber glaubst du nicht, daß es Zeitverschwendung ist, wenn wir uns mit diesem Flumpitz unterhalten? Sollten wir uns nicht gleich verstecken?« »Nein, denn er war einer, der nicht so leicht vergessen konnte. Er kann immer noch denken und könnte etwas über den Bildhauer wissen. Wir können uns das doch nicht entgehen lassen. Komm schon!« Sie betraten den Schuppen und gelangten in ein unordentliches Zimmer, das voller Gerumpel stand. Der arme Flumpitz saß betrübt auf einem Haufen verstaubten Trödels. Ein kleiner, verwahrloster, gurkenförmiger Wiederdenker stand vor ihm und schrie ihn giftig an. »Du bist zweifellos der vermaledeideste, infamigste, hundsdrumföttigste Kalocephalitiker, mit dem ich je das Vergnügen hatte, Worte zu wechseln«, keifte der Wiederdenker. »Idiot!« spuckte Flumpitz aus. »Saprophytischer, blaseromeratischer Idioblablator!« »Depp!« »Pappoflagotolischer, schlampulitischer Anti-Fiscatomaphiler!« »Blödmann!« »Es hat keinen Wert. Ich kann mich nicht mit dir unterhalten. Das ist, als ob man zu leeren Wänden predigte!«
»Entschuldigen Sie«, unterbrach ihn Jason, der sich nicht mehr länger beherrschen konnte, »aber vielleicht könnte er Sie besser verstehen, wenn Sie kürzere Wörter verwenden würden?« »Wer seid denn ihr, und was tut ihr hier? Ihr steht ja überhaupt nicht auf meiner Liste!« fuhr ihn der Wiederdenker an. »Wir sind Inspektoren, die der Schule im Namen des Bildhauers einen Besuch abstatten«, antwortete Jason mit großer Würde. »So, Inspektoren! Hier gibt's nichts zu inspizieren. Sie können gleich wieder verduften! Ich benutze lange Wörter, wann ich will. Ich führe hier die Aufsicht und tue, was ich will. Übrigens, wenn ich kürzere Wörter verwenden würde, wüßte dieser Schwachkopf hier, wovon ich rede, und das wäre unerträglich.« »Warum sprechen Sie dann überhaupt mit ihm?« »Natürlich, weil ich ihn wiedererziehen will!« »Aber wenn Sie Erfolg haben wollen, müssen Sie doch auf jeden Fall mit ihm sprechen.« »Das ist ja gerade der Grund, warum ich ihn so schlecht wiedererziehe. Sonst könnte er vielleicht versuchen, den Stiel umzudrehen. Für was für einen Idioten halten Sie mich eigentlich?« »Könnten wir uns vielleicht auch noch allein mit ihm unterhalten«, fragte Jason, der langsam die Geduld verlor. »Meinetwegen, aber ermutigen Sie ihn nicht zu sehr«, fuhr ihn der Wiederdenker an und schritt zur Tür hinüber, die er mit aller Wucht hinter sich zuschlug. »Nun, Flumpitz, vielleicht kannst du uns weiterhelfen«, sagte Jason und ließ sich mitten unter dem Gerumpel auf den Boden nieder. »Was weißt du noch über den Bildhauer?« »Den Bildhauer? Diesen doofen alten Goldsack?« »Ja«, sagte Ludo. »Weißt du noch, wann er dich zum letztenmal ummodelliert hat, bevor du zur Schule des Verlernens gekommen bist? Der Bildhauer mußte ja sehr zufrieden gewesen sein mit der neuen Version von dir, sonst hätte er dich nicht hierher geschickt und dich auf den Zensor und das Testgebiet vorbereiten lassen. Erzähl uns bitte, was geschehen ist!« »Nun, sie kamen eben in unser Dorf und haben mich ausgewählt. Sie haben mich in ihr fahrbares Studio gesteckt, und der Bildhauer hat an mir herumgearbeitet. Er hat mir eben ein paar zusätzliche Glieder verpaßt und ein Paar Flossen. Dann sagte er, daß ich nun den Ansprüchen genügte. Es hat nicht besonders weh getan wegen des Sprays, mit dem sie einen besprühen. Daraufhin wird es einem schwindlig, und dann wacht man
verändert wieder auf. Es war wirklich nicht schlimm, nach dem vielen Theater, das sie darum gemacht haben.« »Was ist dann passiert? Wohin ist der Bildhauer dann gegangen?« »Er ist, glaube ich, hierher zurückgekehrt.« »Hierher!« »Ja, denn sie versicherten mir, daß ich der letzte auf dieser Reise sei und daß sie hierher zurückkehrten, um ein bißchen auszuruhen. Er hat mir eine Nummer gegeben und gesagt, daß ich mich später hier melden soll. Und das habe ich dann auch getan, aber ich bereue es nun schon wieder. Wenn Sie mich fragen, dann ist dies hier hirnverbrannter Blödsinn. Ich bin froh, wenn ich wieder zurück bin.« »Die Höhle des Bildhauers, hast du sie gesehen?« »Natürlich nicht, keiner hat sie gesehen. Sie soll ganz oben in der Schule sein. Man kann nur durch den Turm in der Mitte dorthin gelangen, und er ist von unten bis oben streng bewacht. Aber mich reizt dieser vertrottelte alte Goldsack ohnehin nicht.« »Wir danken dir, du hast uns sehr geholfen. Wie kommen wir von hier aus zum Turm?« »Das weiß ich nicht, aber wenn ihr auf dem Dach seid, seht ihr ihn. Man kann ihn eigentlich nicht verfehlen, er stellt den Mittelpunkt der Schule dar.« Jason und Ludo eilten nach draußen und ließen den mürrischen Flumpitz zurück, der wütend an das staubige alte Gerumpel kickte und dabei geräuschvoll nieste. Nach zehn Minuten und fünfzehn Korridoren hatten sie endlich den Weg nach oben auf das flache Dach der Schule des Verlernens gefunden, der sie über eine Feuerleiter führte, von der die Aussicht atemberaubend war. Sie sahen den scharfen Rand des Bergplateaus um sich herum und die schroffen Felsen, die dahinter aufragten. An einer Stelle konnten sie eine Menge von Drähten sehen, die am Ende gewunden und an einer Reihe von starken Pfosten befestigt waren. »Das müssen die Barthaare des Zensors sein«, sagte Ludo. »Wir müssen uns merken, wo sie sind, weil sie auf unserem Fluchtweg zu liegen scheinen.« »Dort ist der Turm des Bildhauers«, rief Jason und zeigte dabei auf die hohe Felssäule, die sich über der Dachmitte erhob. Sie ließen den Blick darüber gleiten, immer höher, bis es nicht mehr ging und sie sich beinahe den Hals verrenkten. Sie schauten beinahe senkrecht nach oben und
konnten gerade noch eine Wölbung an der andersfarbigen Turmspitze erkennen. »Das muß die Höhle des Bildhauers sein«, sagte Ludo. »Sie ist mit Gold überzogen, eine große goldene Kugel, die das ganze Innengestein überragt. Sie berührt beinahe die Granits.« »Großartig!« sagte Jason. »Das wär's also. Endlich sind wir am Ziel.« »Nun müssen wir nur noch dort hinauf«, schnaubte Ludo. »Das wird kein Kinderspiel werden.« Sie begaben sich also zur Basis der großen Festsäule und gingen darum herum, konnten aber keinen Eingang finden. Die Außenwand war glatt und ganz einheitlich, keine Türen, keine Fenster und keine Risse. Absolut nichts. »Es muß aber doch einen Eingang geben, vielleicht kommen wir von unten hinein«, schlug Jason vor. Sie kletterten wieder über das Dach zurück, gingen eine Treppe hinunter und gelangten über weitere Gänge und Türen schließlich zu einem Korridor, der im Kreis verlief und sich - wie sie vermuteten -unmittelbar unter dem Turm befinden mußte. »Das ist der erste kreisförmige Gang, durch den wir gekommen sind«, stellte Jason aufgeregt fest. »Es muß an der Basis des Turmes sein. Komm, wir machen mal die Runde. Irgendwo muß ja schließlich eine Tür sein.« Als sie ungefähr halb herum waren, wurden sie durch eine helle, goldene Trennwand am Weitergehen gehindert, die weder Türgriffe noch Haken oder irgendwelche andere Vorrichtungen hatte, um sie aufzumachen. Sie spannte sich über den ganzen Durchgang, von oben bis unten und von der einen Seite zur anderen. Ludo schnüffelte daran herum, und Jason betastete sie. Bei der Berührung fing die Wand wie eine Membran an zu vibrieren. »Ich glaube nicht, daß sie sehr dick ist«, sagte Jason. »Wir durchbrechen sie einfach.« Sie gingen ein paar Schritte zurück und rannten mit voller Wucht dagegen. Unter einem Regen von Goldstaub gelangten sie auf die andere Seite und landeten auf einem Haufen vor einer Reihe Wächter in goldenen Rüstungen. Die Wächter umringten sie und trieben sie in eine hohle goldene Kugel, die mit rasender Geschwindigkeit in der Mitte des riesigen Turmes aufstieg. Wegen des Druckunterschieds hätte es ihnen beinahe das Trommelfell zerrissen, ihnen wurde schwindlig und schwach im Magen, es prickelte ihnen in den Fingern, und ihre Augen taten weh, als sie aus der Kugel heraustaumelten und über einen goldenen Teppich gegen eine
goldene Couch rollten, auf der eine goldene Gestalt saß. Es funkelte und glitzerte, als sie sich aufrichtete, eine goldene Hand erhob und mit hallender, goldener Stimme sprach: »Seid mir willkommen. Dies ist ein unerwartetes Vergnügen.«
21. Die Barthaare des Zensors Jason und Ludo richteten sich auf und blinzelten. Der große runde Raum erglänzte in purem Gold. Alles war aus Gold, sogar das Besteck. Sie selber waren mit einer Goldschicht überzogen gewesen von dem Augenblick an, da sie im Gang am Fuße des Turms die Trennwand durchbrochen hatten. Durch die Fenster, die das Zimmer ringsum säumten, konnten sie die fernen Berggipfel und Felsen des Innengesteins sehen, die ihnen wie Maulwurfshügel auf einem Rasen vorkamen. Der Gedanke an Maulwurfshügel regte Jasons dröhnendes Gehirn wieder zur Tätigkeit an. Großmaul und die Goldenen Würmer! Das war nun seine Chance. Hier saß er endlich dem Bildhauer gegenüber: Und was für ein Gesicht dies war! Er mußte noch einmal genauer hinsehen: Der Bildhauer war gar kein Mann, wie er immer gedacht hatte, sondern eine wunderschöne Frau, mit goldenen Haaren, goldenen Augen und goldenen Lippen. In einem wallenden und gleißenden Gewand saß ihm diese Frau nun gegenüber, die groß und schlank war und über einen makellosen Körper verfügte. Sie lächelte von ihrem erhöhten Sitzplatz auf sie herab und bedeutete ihnen, aufzustehen und ihr zu einem goldenen Tisch auf der anderen Seite des Raumes zu folgen. Sie ließen sich auf goldenen Stühlen nieder und aßen ein goldenes Mahl. Keiner sprach dabei ein Wort. Die Luft war durchdrungen von den Klängen goldener Musik, die von goldenen Saiten herrührte. Goldene Tröpfchen erfüllten die sanfte Brise, die durch die offenen Fenster hereinwehte, die goldenen Vorhänge aufbauschte und sie in einem sanften, fließenden Rhythmus bewegte. Jason fühlte sich benommen, er konnte sich einfach nicht mehr auf das konzentrieren, was er fragen wollte. Etwas... etwas Wichtiges, aber -nein, es war weg. Vielleicht würde er sich später wieder daran erinnern... oder ein anderes Mal... es hatte Zeit. Ludo machte ihm mit ihren goldenen Hörnern Zeichen, aber Jason lächelte nur sanft und wurde langsam, aber sicher von einem tiefen Schlaf überwältigt. Als er wieder erwachte, lag er in einem goldenen Bett
neben Ludo. Der Bildhauer sah auf ihn herab und lächelte immer noch. Jason richtete sich auf. »Ich dachte, Sie wären ein Mann«, sagte er. »Warum?« hallte es durch die Luft, und die goldenen Klänge brachen sich an den Wänden. »Warum hast du dies gedacht?« »Weil..., wenn Sie wirklich eine Frau wären, würde man Sie nicht als Bildhauer, sondern als... na ja, Bildhauerin bezeichnen.« »So wie eine Malerin?« lachte das goldene Wesen und winkte ihre Wachen heran. Sie wankten mit einem riesigen runden Spiegel, der in einem goldenen Rahmen gefaßt war, heran. »Hier, sieh dich in diesem Spiegel an«, fuhr das goldene Wesen fort, »schau dir mal an, wie ich dein Aussehen verbessert habe.« Jason setzte sich aufrecht hin und starrte entgeistert in den Spiegel. Ludo stützte sich neben ihm auf, rieb sich die Augen und gähnte. Dann sah sie ebenfalls in den Spiegel und riß erstaunt die Augen auf. »Sie haben... sie haben mich verändert!« keuchte Jason. »Ich bin ja über und über mit einem goldenen Fell bedeckt und... und... Sie haben mir auch Hörner wachsen lassen, goldene Hörner!« »Du siehst genauso aus wie ich!« schrie Ludo entzückt. »Ganz genauso. Wir sind nun ein Paar!« »Ja, ihr seid nun ein Paar«, sagte die goldene Stimme. »Ich weiß, daß ich euch eigentlich hätte bestrafen müssen, weil ihr die Trennwand durchbrochen habt, aber ich habe heute meinen gnädigen Tag. Es war ein guter Tag gewesen, und ich habe mich gut ausruhen können von meiner Arbeit. Deswegen habe ich euch verziehen, und ihr könnt gehen. Aber ich fürchte, daß ihr eure Reise zum Testgebiet nicht fortsetzen könnt. Ihr wißt ja besser als ich, wie störend eure Anwesenheit in der Schule des Verlernens war. Man wird euch daher ohne Umschweife zum Innengestein zurückbringen. Leider werdet ihr dort auch den Rest eurer Tage zubringen müssen. Deswegen habe ich euch zu einem Paar gemacht, so daß ihr zusammenleben, euch vermehren und ein erfülltes Innengesteinleben führen könnt.« »Aber das bedeutet, daß wir Untergumpfe sind! Das bedeutet, daß wir von dem Gumpfen gejagt und verfolgt werden und daß uns der Wunsch abhanden kommt, ins Außengestein zu wollen«, jammerte Ludo. »Ich fürchte, ja.« »Wir sind damit einverstanden«, sagte Jason plötzlich. »Was?« schrie Ludo.
»Wir sind damit unter einer Bedingung einverstanden«, fügte Jason hinzu, »und die wäre, daß Sie uns ein paar Goldene Würmer geben.« »Du hast hier keine Bedingungen zu stellen. Außerdem brauchst du auch keine Würmer, wenn du ins Innengestein zurückkehrst. Wenn du sie dort essen würdest, würdest du zu einem Nichts zusammenschrumpfen. Sie sollen diejenigen, die ins Außengestein gehen, vor unmäßigem Wachstum bewahren. Es wäre eine Katastrophe, wenn du sie hier essen würdest. Ich will das auf keinen Fall!« »Aber sie sind ja gar nicht für uns.« »Ich sage, nein. Du hast gehört, was ich dir zuletzt gesagt habe. Geht und gründet eine Kolonie in einer schönen Ecke des Innengesteins. Und vor allem: Gebt eure wilden Phantasien bezüglich des Außengesteins und der Goldenen Würmer auf. Nun geht schon!« Die goldenen Wächter ergriffen sie und schoben sie in die goldene Kugel. Als sie mit einer schwindelerregenden Geschwindigkeit zur Basis des hohen Turms sank, fragte Ludo Jason, warum er sich - wenn auch mit der Einschränkung -damit einverstanden erklärt hatte zu bleiben. »Weil es zwecklos gewesen wäre zu widersprechen. Wir waren absolut machtlos. Es war die letzte Chance, an die Goldenen Würmer heranzukommen. Ich habe noch nie die Absicht gehegt, hierzubleiben und werde sie auch in Zukunft nicht hegen. Ob mit oder ohne Goldene Würmer - wir werden mit der nächsten Gruppe von Verlernern ins Testgebiet vorstoßen. Irgendwie müssen wir, wenn wir unten sind, unsere Wachen abschütteln und uns zu den Barthaaren des Zensors begeben. Wir wissen nicht, wie lange wir dort oben geschlafen haben. Es könnten inzwischen Tage vergangen sein. Möglicherweise sind wir sogar schon zu spät dran und unsere Gruppe ist bereits weg.« »Und vielleicht können wir nicht einmal die Wachen abschütteln«, murmelte Ludo leise. Als sie aus der hohlen Kugel heraustraten, rief Jason ganz unerwartet »Jetzt!« und rannte gegen die goldene Trennwand. Sie war in der Zwischenzeit wieder perfekt instandgesetzt worden, oder man hatte eine neue Wand eingezogen, während Jason und Ludo beim Bildhauer waren. Jedenfalls zerbrach sie auch dieses Mal wieder, als sich die beiden dagegenstürzten. Es war genau wie beim ersten Mal. Wieder wurden sie in eine Wolke von Goldstaub gehüllt. Als sie sich aufrappelten, sahen sie, daß sie den Goldglanz verloren hatten, in dem sie noch kurz zuvor erstrahlt waren.
»Ich habe meine alte Farbe wieder!« schrie Ludo, die ziemlich schnell davonrannte. »Ich habe auch meine alte Farbe wieder«, stöhnte Jason. »Was? Ich habe dich nicht verstanden.« »Ach nichts. - Schau mal hinter dich!« Die goldenen Wächter kamen in Scharen durch die beschädigte Trennwand, aber dabei verloren sie alle ihren Goldglanz und begannen dahinzuschmelzen und sich schließlich in Nichts aufzulösen. »Sie müssen aus purem Gold gewesen sein«, rief Jason. »Sie sind verschwunden - vollkommen verschwunden. Wir sind in Sicherheit. Jetzt müssen wir uns beeilen und sofort zu den Barthaaren auf der Felsspitze gehen.« Draußen war die Luft dünn, kalt und leicht. Jason und Ludo genossen die frische, reine Bergluft und sogen sie in tiefen Zügen ein. Sie lachten erleichtert auf, als sie davonrannten. Wild gestikulierend versuchten sie, die Aufmerksamkeit der Gruppe auf sich zu lenken, die sich bereits bei den Masten versammelt hatte. Beim Näherkommen erkannten sie bekannte Gesichter. Ohne Zweifel handelte es sich um Einpeitsch und seine erfolgreiche Schule von Verlernern. »Wartet auf uns! Wartet doch bitte auf uns! Wir sind gleich da!« »Es sind diese beiden Inspektoren«, murmelte Einpeitsch und kratzte sich dabei an einem seiner vielen Hautsäcke. »Jemand hat mir doch etwas über sie erzählt. Daß etwas nicht stimmt oder sogar ganz gewaltig faul ist mit den beiden. Was war es doch nur? Ach, du meine Güte, ich habe es vergessen. Aber das ist ja eigentlich auch mein Job. Nun gut. Kommt nur her, ihr beiden! Die Gruppe wird gerade mit den Fallschirmen ausgerüstet.« Einpeitsch überwachte die letzten Vorbereitungen für die Reise zum Tor des Zensors mit großem Eifer. Jason und Ludo gesellten sich zu den anderen. Jeder bekam ein wirres Knäuel von gelben Gurten und einen hellgelben Rucksack. In großer Eile schnallten sie sich in dem Gewirr von Riemen fest, dabei half einer dem anderen mit den sperrigen Verschlüssen. Da die Zeit drängte, ging es mehr schlecht als recht voran. »Alle Gurte fest? Gut. Sehr gut. Nun, in unserer letzten Auswahl haben wir noch Klages, Grunz, Schlucker, Ursitzer, Lutsch und Fitzer - und natürlich die beiden Inspektoren, die euch begleiten werden, damit sie eure Fortschritte sehen. Wie ihr sehen könnt, haben wir hier sechs Masten eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs - und an jedem von ihnen ist eines der
beachtenswerten Barthaare des Zensors befestigt. Dies sind, wie ihr gleich selbst herausfinden werdet, ganz ungewöhnliche Anhängsel. Wenn ihr über den Rand des Felsens seht, werdet ihr feststellen, daß diese sich, wie die Kabel einer Seilbahn, bis zum Horizont erstrecken, in Wirklichkeit natürlich sehr viel weiter, denn die Barthaare des Zensors sind wohlgemerkt nicht weniger als einige hundert Kilometer lang. Bei eurer Talfahrt werdet ihr eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 100 Stundenkilometern erreichen. Die ganze Reise wird also ungefähr fünf Stunden dauern. Während der Reise werden euch kleine Erfrischungen gereicht, und die Flugstewards werden von Zeit zu Zeit neben euch herschweben, um euren Wünschen nachzukommen. Habt ihr noch irgendwelche Fragen. Ja, Klages?« »Diese Verpackungssäcke auf unserem Rücken. Wann... ?« »Ach ja, die Verpackungssäcke. Diesbezüglich muß ich euch eine Warnung auf den Weg geben. Berührt sie nie, was auch immer ihr tut. Sie sind nur für Notfälle. Jeder enthält eine Sicherheitsblase aus getrockneter Gallonhaut. Sie bläst sich von selbst auf, und wenn ihr je die Fühlung mit eurem Barthaar verlieren solltet, dann bläht sie sich zu einer Art Fallschirm auf. Der Verpackungssack kann aber auch als Schwimmweste dienen, wenn der Zensor Durst verspürt und sein Torweg deswegen überschwemmt ist. Die Schwimmweste öffnet sich automatisch, wenn ihr untergeht, also habt ihr nichts zu befürchten. Ja, Grunz? Was willst du?« »Wie geht das Ganze konkret vor sich, wenn wir an den Barthaaren entlangrutschen? Fünf Stunden ist eine ziemlich lange Zeit, um sich an einem Kabel festzuhalten...« »Ach du meine Güte, nein. Ihr müßt euch doch nicht festhalten! Seht ihr diese große Klammer, die von eurem Gurtwerk herabhängt? Ja, genau die. - Gleich werdet ihr unter dem Barthaar stehen, dem ihr zugeteilt seid, und die Klammer am Kabel festhaken. Dann werdet ihr euch fallen lassen und den ganzen Weg hinabgleiten, während ihr bequem in euren Gurten hängt und die Ringe daran reibungslos den Barthaaren oberhalb von euch entlanggleiten. Es ist alles äußerst einfach. Keine Anstrengung ist dazu nötig. Die längste Lustfahrt auf der ganzen Erde! Ja, Schlucker?« »Wie machen wir uns los, wenn wir an das Tor des Zensors kommen?« »Mein guter Schlucker, es geht automatisch. Also kein Grund, sich zu sorgen. Die Barthaare des Zensors werden in der Nähe des Tors dicker, und dadurch öffnen sich die Klammern. Dadurch werdet ihr langsamer und zum Schluß, wenn sich die Ringe öffnen, vom Kabel befreit. Ja, Ursitzer?«
»Wie kommen wir durch das Tor des Zensors?« »Ihr werdet bei einer Geschwindigkeit, die nicht mehr 100 km beträgt, aber immer noch beachtlich ist, durchgeschleudert. Wie ich euch gesagt habe, wird die Geschwindigkeit durch die Verbreiterung der Kabel am Ende gedrosselt. Ja, Lutsch?« »Wohin kommen wir, wenn uns der Zensor nicht durchläßt?« »Es kann vorkommen, daß ihr euch für ihn beim Herabgleiten unangenehm anfühlt, das heißt, daß ihr negative Schwingungen aussendet. Dann schnippt er einfach mit dem Barthaar und schleudert euch von sich. Darauf öffnet sich euer Fallschirm, und ihr landet auf den Felsen darunter. Ihr seid vollkommen auf euch selbst angewiesen, und es heißt dann für euch Abschied nehmen von allen Wunschträumen, ins Außengestein zu kommen. Wenn er aber nur euren Anblick nicht mag, wird er, erst wenn er euch erblickt, ganz schnell sein Tor zuwerfen, und ihr könnt dann nur noch im letzten Augenblick abspringen und das Beste hoffen. Das kann sehr übel ausgehen, und ich möchte lieber nicht darüber reden. Nun, Fitzer, beeil dich, die Zeit schreitet voran, und ich muß noch meine Abschiedsrede halten.« »Wie sieht das Tor des Zensors aus?« »Sein Tor ist gleichzeitig sein Maul, Fitzer, und. ich kann dir versichern, daß du genügend Platz drin hast. Es befindet sich im großen Felsvorhang in der Mitte des Innengesteins. Wenn ihr Glück habt und in sein Maul gelangt, rutscht ihr anschließend durch sein Maul, seinen Hals, seinen Magen, sein sich windendes Gedärm, bis ihr im Testgebiet auftaucht. Dort wird man euch eine Aufgabe stellen, die ihr ausführen müßt, und wenn euch das gelingt, wird man eine Kopie von euch machen, damit ihr euch vermehren könnt, und ihr bekommt euren Passierschein durch den Fels zum Außengestein. Nun, haben vielleicht die beiden Inspektoren auch noch Fragen?« Ludo schüttelte den Kopf, aber Jason erhob die Hand: »Was ist mit den Goldenen Würmern? Die brauchen wir doch, damit wir im Außengestein nicht mehr wachsen. Könnten wir...?« »Ja, ja. Alles zu seiner Zeit. Aber da heute der Tag zum Redenhalten ist, werde ich zuerst meine Abschiedsrede halten. Danach wird jeder von euch sein Kästchen mit Goldenen Würmern bekommen. Ihr müßt es festhalten und immer gut darauf aufpassen, bis ihr ins Außengestein kommt. Sobald ihr dort seid, müßt ihr das Siegel aufbrechen, das Kästchen öffnen und den Inhalt essen. Wenn euch das nicht gelingt, wird euch das Essen im Außengestein aufblähen. Ihr werdet dann wachsen, bis ihr platzt. Wenn es sonst keine Fragen mehr gibt, halte
ich jetzt meine Rede und verabschiede mich dann von euch.« Einpeitsch begab sich zu einem kleinen Podium und holte mit großspuriger Geste die Notizen aus der Tasche, die er sich für seine Rede gemacht hatte, und begann zu lesen: »Dies ist ein großer Tag für die Schule des Verlernens. Hochmut kommt vor dem Fall, heißt es im Sprichwort, und euer Fall, meine Vergessenden, wird wahrhaftig ein großer sein, nämlich ein Fall von einigen hundert Kilometern. Mit einem Gehirn, das frei von Ballast ist, wird euer Körper durch die Lüfte des Innengesteins getragen werden, hinab und immer weiter hinab, bis ihr zum Zensor kommt. Wenn ich mir eure unwissenden Gesichter ansehe, muß ich an die vielen anderen denken, die vor euch diesen Abhang hinuntergeglitten sind, und muß eine Träne vergießen wegen all dieser Freunde, mit Gehirnen, die so wundervoll rein und einfach gewesen sind und gänzlich von dem Ballast der Tatsachen und dem Schutt der Erinnerung befreit waren, der so lange in ihren überfüllten Schädeln vor sich hin gefault hatte. Wir, in der Schule des Verlernens, sind stolz auf unseren Sieg über die Jahrhunderte und unsere Fähigkeit, in die Welt dort drüben Geschöpfe mit Gehirnen zu senden, die so gedankenlos und so... und...« »Er schläft ein«, flüsterte Ludo. »Ich habe das gehört!« schrie Einpeitsch mit wütender Stimme. »Für euch mag das ja noch einigermaßen interessant sein, weil es neu ist. Aber ich habe diesen schwülstigen Unsinn schon tausendmal gehört. Also, wo war ich stehengeblieben?« »Sie haben uns gerade die Goldenen Würmer überreichen wollen«, sagte Jason hoffnungsvoll. »Nein, das stimmt nicht, oder doch? Nein, natürlich stimmt das nicht. Ich wollte euch gerade noch ein paar goldene Ratschläge geben. Worte, nicht Würmer. Bitte, tragt dafür Sorge, daß euch, wenn ihr ins Außengestein kommt, nur drei Dinge wichtig sind, nämlich: Liebe, Freundschaft und Erfolg. Nur darauf kommt es an, und deswegen solltet ihr euch meine Worte auch sehr zu Herzen nehmen. Liebe braucht man immer dann am wenigsten, wenn man überhaupt nicht liebenswert ist. Ferner sind die besten Freunde immer diejenigen, die den anderen schön, sich selber aber häßlich erscheinen. Und was den Erfolg angeht, so ist er wie eine Wüste, du kannst in jede beliebige Richtung gehen, denn es gibt keine Wegweiser. So, dies waren meine goldenen Worte... und sie haben auch wirklich sehr hübsch geklungen, nicht wahr?« Als er dies sagte,
vergoß er ein paar Tränen schlecht verhohlener Selbstbewunderung. Dann riß er sich zusammen, sah die kleine Gruppe, die vor ihm stand, stirnrunzelnd an und sagte: »Und jeder, der behauptet, daß ich diese goldenen Gedanken meinen Schülern abgekupfert hätte, ist ein schmieriger, mieser Lügner.« Seine Stimme wuchs zum Orkan an, und er zitterte vor Wut, während seine Zuhörer nur unruhig mit den Füßen scharrten, langsam zapplig wurden und seinen Blick zu vermeiden suchten. »Nun ist es aber Zeit für unsere Schulhymne. Wo ist eigentlich Babbeling Snix. Ah Babbel, da bist du ja! Stell diesen Korb neben mich aufs Podium. Gut so. Ihr erinnert euch doch hoffentlich noch an Babbel aus eurer ersten Zeit der Schule? Er ist der einzige, der sich noch an die Schulhymne erinnern kann, also wird er uns führen. So, sind wir bereit?« Und Babbeling Snix begann die Wörter des trüben, inhaltslosen, holprigen Lieds vor sich hin zu stöhnen: »Mit Schnuckelkatzen wollen sie uns das Genick brechen, Aber wir trotzen ihrer Wut. Mit Tatzelmaxen wollen sie uns bestechen, Aber wir zahlen den Tribut. Soweit, so gut. Grottenschnapper wollen uns zerfetzen, Aber wir zerreißen sie wie Seile. Nickelflapper wollen uns retzen, Aber wir sagen ihre Zeile. Wir haben keine Eile. Spatzelpacker wollen uns brutzeln, Aber wir vermauern ihren Schrein. Tatzelracker wollen uns zutzeln, Aber wir vergiften ihren Wein. Wir sind nicht mehr klein. Bandelsapper sollen uns färben, Aber wir tönen sie grau. Buddeltrapper sollen uns gerben, Aber wir fönen die Frau. Wir sind nie blau... Au!«
Die Anstrengung war für Babbeling Snix zu groß gewesen, und er sackte in seinem knarrenden Korb in sich zusammen. Auf der Stelle schlief er ein. Einpeitsch räusperte sich: »Folgt nun diesen melodischen Anweisungen«, rief er, »dann werdet ihr nie vom rechten Weg abkommen. Wenn ihr mir nun folgt, gebe ich jedem von euch seine eigene, echte, rechte, doppelt gemoppelte, dreifach garantierte, handgeschnitzte Schatulle mit den originalen, zauberhaften, höchst unentbehrlichen Goldenen Würmern. Hier Klages, du hast dich im Überholen und Entsalben hervorgetan. Sehr schön. Die Schule kann stolz auf dich sein. Nimm deine Schatulle und verstecke sie gut. Mach deine Klammer am Barthaar fest und warte auf mein Signal. Grunz, du hast deine große Begabung auf dem Gebiet der Kriminierung und Repraviertheit bewiesen. Geh getrost weiter auf dem Weg der bösen Tat. Hier ist deine Schatulle. Befestige die Klammer an dem Barthaar. Schlucker, ach mein feinsinniger Schlucker, wie ich dich missen werde! Folietik und Entschmälern waren deine Stärke. Nun nimm deine Schatulle und gehe dahin. Mach die Klammer am Barthaar fest. Ursitzer, soweit ich weiß, der Spezialist für Mortifaktion und Denudismus. Ein bewundernswürdiges Fehlen von Konzentration. Wirklich, eine ganz vorzügliche Leistung. Nimm deine Schatulle und klammere dich fest! Lutsch, mein lieber Lutsch, deine Errungenschaften auf dem Gebiet der Verunschaulichung und der unkommerziellen Kunst werden lange vergessen sein. Tapferer Junge, gut gemacht. Nimm deine Schatulle und klammere dich am Barthaar fest. Los! Und dann schließlich der bemerkenswerte Fitzer! Du hast dich wacker geschlagen als großer Tausendsassa, du warst in der Entstörung so stark wie im Volt, im Sudeln wie in der Subministration. Nimm dein Schatulle und klammere dich fest. Hier wären wir also - ein großer Augenblick ist gekommen. Jedermann in Bereitschaft, während wir in einer letzten gemeinsamen Anstrengung den Wahlspruch der Schule vergessen wollen.« »Ich bitte vielmals um Entschuldigung«, sagte Jason, »aber Sie scheinen uns übersehen zu haben!« »Ach, du mein Schreck, ja. Die Inspektoren. Du meine Güte, ja. Ich fürchte, daß weder Schatullen noch Barthaare übrig sind. Ich bin mir nun doch nicht mehr sicher, ob ich Ihnen helfen kann. Ach du meine Güte, das ist ja äußerst vertrackt!«
»Dann müssen wir leider die Sache dem Bildhauer melden«, sagte Jason ernst und zwinkerte Ludo zu, so daß sie zustimmend nickte. »Ach was, das ist doch wirklich nicht nötig! Laßt mich mal überlegen. Es ist zwar noch nie ausprobiert worden, aber, na ja - Schlucker, nimm die Klammer ab, du wirst zusammen mit Ursitzer, und Lutsch wird mit Fitzer reisen. Befestigt die Klammern wieder und haltet euch in Bereitschaft. Nun, das hätten wir geschafft, zwei Barthaare sind nun frei für die Inspektoren. Befestigen Sie Ihre Klammern, und dann kann's losgehen!« »Und die Schatullen?« fragte Jason. »Tut mir leid, damit kann ich nicht dienen. Aber Sie werden sie ja auch wirklich nicht brauchen. Schließlich wollen Sie ja nicht im Außengestein bleiben, denn Sie werden ja hier irgendwann einmal Bericht erstatten müssen.« »Ja, natürlich«, stimmte Jason besorgt zu. »Aber...«, wollte Ludo gerade loslegen. Jason unterbrach sie jedoch: »Alles in Ordnung. Wir sind bereit.« Zu Ludo gewandt, flüsterte er: »Wir werden es schon irgendwie schaffen, eine der anderen Schatullen zu bekommen, brech jetzt keinen Streit vom Zaun! Wir können es uns nicht leisten, das Ganze noch weiter hinauszuzögern!« Die Umstände gaben ihm recht, denn als sie sich zum Absprung aufgestellt hatten, hörten sie eine Alarmglocke im Hauptgebäude der Schule. »Hallo, hallo, was mag das nur sein?« murmelte Einpeitsch, als er plötzlich mehrere Gestalten aus den Eingängen kommen sah, die es sehr eilig hatten. Sie winkten zu ihnen herüber. Einpeitsch rief: »Halt! Alles stehenbleiben!« »Alles fertig zum Absprung!« schrie Jason, der versuchte, Einpeitschs Stimme zu übertönen. »Los!« Bei diesem Kommando schwangen sich alle über den Abgrund. Hinter ihnen schrumpfte Einpeitschs gestikulierende Gestalt zusammen, als sie rasch an Tempo gewannen und immer schneller die kabelartigen Barthaare hinabglitten, die sich bis weit in die Ferne erstreckten. Der Wind pfiff durch ihr Fell und tat ihnen in den Augen weh. Keuchend holten sie Atem - denn sie wurden immer schneller: 50, 60, 80 und 100 Kilometer pro Stunde. Sie schrien vor Angst, wie sie so hilflos in ihrem gelben Gurtwerk in der Luft baumelten, die Klammern über ihnen quietschten und summten. Immer weiter abwärts ging's auf das große, klaffende Maul am Tor des Zensors zu, hinter dem das heißersehnte Testgebiet lag.
22. Die Reise zum Tor des Zensors Jason und Ludo waren schon eine lange Weile auf den Barthaaren des Zensors unterwegs gewesen, ohne einen Zwischenfall gehabt zu haben, als sie plötzlich ein schwaches Zupfgeräusch vernahmen. Zuerst war es nur ein leichtes Murmeln gewesen, das sie durch das Rauschen des Windes hörten, aber dann wuchs es allmählich an und wurde so intensiv, daß es ihnen durch Mark und Bein ging. »Sieh mal!« rief Ludo. »Sieh dir mal das Kabel zu deiner Linken an, an dem Schlucker und Ursitzer hängen - es beginnt, sich zu biegen. Offenbar weist sie der Zensor zurück.« »Hilfe! Hilfe« schrien die beiden Verlerner in Todesangst. Weil sie den beiden »Inspektoren« Platz gemacht hatten, sandten sie nun negative Schwingungen aus, die am Tor des Zensors noch registriert wurden. Bevor ihnen noch jemand helfen konnte, zuckte das Barthaar der beiden Verlerner zum letztenmal, die Klammern brachen einfach entzwei, und die beiden Gestalten wirbelten und zappelten durch die Luft, wo sich ihre ballonartigen Fallschirme über ihren Köpfen öffneten. »Das ist sicher nur deswegen passiert, weil sie zu schwer waren«, rief Jason. »Horch«, schrie Ludo, »das Zupfen fängt wieder an. Was geschieht mit Fitzer und Lutsch? Sie sind auch zu zweit an einem Kabel.« »Ja, ihr Barthaar beginnt nun zu zucken. Schnell, Lutsch und Fitzer, werft Ballast ab, oder euch passiert das gleiche wie den beiden anderen.« Die beiden starrten sich gegenseitig an, als das Zupfen und Zucken immer heftiger wurde. »Eure Schatullen«, rief Ludo, »werft sie zu uns herüber, wir bewahren sie für euch auf.« Zögernd folgten sie Ludos Rat, aber Lutsch warf so ungeschickt, daß seine kostbare Schachtel mit den Goldenen Würmern wie ein Stein in die Tiefe fiel. Bald war sie nur noch ein kleiner goldener Tupfer, und dann war nichts mehr von ihr zu sehen. Jason konzentrierte sich nun auf Fitzers Wurf und fing die Schachtel - wie durch ein Wunder - auch auf. Er befestigte sie unter einem der gelben Gurte. Wenn er doch nur einen Wurm entwenden könnte, bevor er die Schachtel Fitzer wieder gab. Er mußte es tun, bevor
sie durchs Tor wären, überlegte sich Jason; das würde dann sicher genügen, um Großmaul zu retten, und für Fitzer wäre es wahrscheinlich nicht tragisch... »Fitzer! Lutsch!« schrie Ludo, als auch ihr Barthaar ein letztes Mal unwillig und wild zuckte und die beiden Verlerner in die Luft schleuderte. Langsam segelten die beiden den Felsen entgegen, die unter ihnen aufragten. Nun blieben außer Jason und Ludo nur noch Klages und Grunz übrig. Die vier Überlebenden horchten ängstlich auf weitere Geräusche, aber es war kein Zupfen mehr zu hören. Schließlich brachten sie es sogar fertig, sich etwas zu entspannen. Nicht mehr so verkrampft und beinahe dankbar hingen sie nun in ihren Gurten, als sie an Tempo gewannen. Jason sagte Klages oder Grunz nichts davon, daß er Fitzers Schatulle mit den Goldenen Würmern behalten hatte. Sie ließen auch keine Bemerkung darüber fallen, offenbar genossen sie es in vollen Zügen, daß sich an ihren Barthaaren kein bedrohliches Zupfen und Zucken einstellte. Nun hatte er also, wonach er so lange gesucht hatte, dachte Jason: die echten Goldenen Würmer. Und - was noch viel besser war - er befand sich auf dem Weg zum Testgebiet und damit auf dem Weg nach Hause. Nachdem er so lange nach den Würmern gesucht und auf die Heimfahrt gewartet hatte, konnte er es nun kaum fassen. Er mußte auch an den Preis denken, den er dafür bezahlt hatte, das verrückte Großmaul zu retten, eine Kreatur, die er kaum kannte. Eine Reihe von schrecklichen Erlebnissen hatte Jason durchgestanden, angefangen von der Begegnung mit Rotwarze im Schaugefängnis bis zur Tragödie der vier Verlerner. War es das überhaupt wert gewesen? Hätte er nicht schon viel früher aufgeben sollen? Oder wäre es unverzeihlich gewesen, einen Freund im Stich zu lassen, auch wenn er ihn noch nicht lange kannte? Wenn ,er einen doch darum gebeten und man dann schon eingewilligt hatte, durfte man auch keine Mühe scheuen, das einmal gemachte Versprechen einzulösen. Jason wälzte dieses Problem immer noch hin und her, als er neben sich ein vollkommen ungewohntes Gekrächze hörte. Er wandte sich um und sah die Umrisse einer langbeinigen, vogelartigen Kreatur, die neben ihm in der Luft glitt. Die Spitzen ihrer Schwingen waren ziemlich ausgefranst, die Knie schorfig und das große Maul war voll abgebrochener, gelber Zähne. »Ich bin euer Kochsteward. Meine Aufgabe ist es, euch ein Lächeln, billiges Parfüm, schwere und leichte Erfrischungen und Barthaartüten zu servieren, falls ihr zu streng zensiert werdet. Ferner mache ich auch
dumme, seichte und vollkommen unverständliche Bemerkungen über die Landschaft unter uns, wie zum Beispiel: Wir überfliegen gerade die Große Ebene der Perlen. Zu eurer Rechten seht ihr die Wildnis der Brennenden Eiswürfel, zu eurer Linken solltet ihr jetzt die Küste der Gefrorenen Flammen sehen können und jenseits davon das Riff der Gestohlenen Sündenböcke. Ich brauche euch wohl kaum zu erklären, daß sich die Sündenböcke dorthin zurückziehen, wenn man ihnen sagt, daß sie einem gestohlen bleiben können. Jenseits des Riffs ist die Keks-Bucht. Vielleicht habt ihr Glück und seht einen Umweltverschmutzungsfleck auf dem Wasser schwimmen, der von weggeworfenem Schiffszwieback herrührt. Nicht zu vergessen die berühmten Braueninseln, die bekannt sind für ihre Lider und Gerstenkörner. Wenn wir erst um das Kap des Bösen Omens herum sind und den Golf des Verstehens erreicht haben, werdet ihr den großen Felsvorhang, der das Ende unserer Reise markiert, deutlich erkennen können. Dort befindet sich auch das Ziel eurer Reise, um das euch viele beneiden, das aufgerissene Maul-Tor des berühmten Zensors.« »Ich gebe es ja nur ungern zu«, entschuldigte sich Jason, »aber nach einer Weile geht mir die ewige Landschaft ganz gewaltig auf den Geist.« »Wie wär's dann mit ein paar Erfrischungen? Ich kann euch volkstümliche Geschichten, Legenden, Märchen, Mythen und Listen von Präsidentenadressen anbieten ...« »Das sind doch keine Erfrischungen!« »Ich finde sie aber erfrischend. Jedenfalls erfrischen sie mich! Also muß es sich doch um Erfrischungen handeln!« »Woher bekommst du sie?« »Ich braue sie mir zusammen, um meine Freunde damit zu unterhalten.« »Also gut, dann versuchen wir eben mal eine.« »Was wäre dir am liebsten?« »Äh... ich glaube, eine mythische Geschichte.« »Gewiß. Dann laß mich mal überlegen. Ja, wie wär's denn damit: Es war einmal ein dreibeiniger König, der fuhr sein vierrädriges Dreirad mit fünf Gängen auf einem sechsspurigen Fußweg um sieben Uhr nachmittags. Er war mit seiner fetten Tochter, der häßlichen Prinzessin Pummela, die auf der Lenkstange hockte, zum Sklavenmarkt unterwegs, als er plötzlich den Geheimagenten einer fremden Macht erspähte, der im Gebüsch lauerte. Er läutete also seine königliche Glocke und machte den Agenten mit einem einzigen schrillen Triller taub. Der arme Ganove, dessen Kind und drei Frauen nie etwas über sein trauriges Schicksal erfahren haben, wand sich vor Schmerzen und geriet, ohne etwas gehört zu haben, unter die silbernen Speichen des von Seiner Königlichen Majestät Fuß angetriebenen Fahrzeugs.
Als die häßliche Prinzessin Pummela den Stoß unter ihrem Podex spürte, öffnete sie ihre in Fett eingebetteten Augen und zog einen doppelten Flunsch. Diese Geste, die bei einem schlankeren Wesen ohne bedeutende Folgen gewesen wäre, genügte bei ihr, um das königliche Fahrzeug aus dem Gleichgewicht zu bringen und seine hoheitlichen Insassen in eine Stellung zu bringen, an die sie dank ihrer aristokratischen Herkunft nicht gewöhnt waren. Die unhübsche Prinzessin fühlte sich durch das Eindringen dieser Person ohne Adelstitel in ihre abgeschirmte Welt so verletzt, daß sie dem Geheimagenten die Ohrläppchen wundboxte. Besagte Ohrläppchen waren allerdings ungewöhnlich groß, und als solche die einzigen ungewöhnlichen Züge an dem im übrigen vollkommen gewöhnlichen Rowdy. Das rechte Ohrläppchen, das erst vor kurzem von einem welschen Ohrenstecher mit unbegrenzter praktischer Erfahrung durchstochen worden war, war bereits dick angeschwollen, bevor die königlichen Fäuste sich in sein zartes Fleisch senkten. Es stand in einem derart besorgniserregenden Winkel vom Kopf ab, daß es den Eindruck erweckte, als ob der Besitzer nachdrücklich anzeigen wollte, daß er jetzt dann gleich eine Biegung scharf rechts machen werde. Das Vorstehen dieses außergewöhnlichen, wenn auch beschädigten Organs hob auch den Ohrring hervor, der nun den schlagkräftigen Finger der wütenden und unhübschen Ohrfeigenden berührte, und zwar dergestalt, daß sie, als ihr Zorn wieder verraucht war, nur noch feststellen konnte, daß sie mit diesem unbekannten, gewöhnlichen Sterblichen verlobt war, denn der Ring hatte sich losgerissen und steckte nun so fest am Ringfinger ihrer rechten Hand, daß alle Versuche, ihn wieder herunterzuziehen, fehlschlugen. Nur eine königliche Amputation hätte das Problem noch auf andere Weise lösen können. Der Fremde mit den schlechten Manieren, der so unverschämt gewesen war, seine Vermählung ohne die Einhaltung der geltenden Anstandsregeln zu vollziehen, stürzte den König in arge Verlegenheit. Er wußte nämlich nicht, wie er vorgehen sollte, weil es für solche Fälle noch kein Hofprotokoll gab. Aber da er ein weiser König war, dessen untere Extremitäten aus einem Glied mehr bestanden als sonst, versprach der König, die Verbindung anzuerkennen, wenn der ertaubte Schurke für seine häßliche Braut nur ein Mittel fände, das sie so schlank machte, daß sie durch die Tür der Hofkapelle paßte, denn die Ehe sollte in den Augen der Kirche feierlich vollzogen werden und vor allem in den Augen des schielenden Erzbischofs Nog. In dieser Zeit, von der ich spreche, bekam
Nog ohnehin wenig zu sehen, was seinem verqueren Blick heilig genug gewesen wäre. - »Hörst du mir eigentlich noch zu?« fragte der Flugsteward. »Ja, aber ich kann nur sehr schwer folgen«, antwortete Jason. »Was passierte dann? Wurde die Prinzessin durch das Zutun des Geheimagenten auch wirklich dünner?« »Du meine Güte, ja. Das ist doch immer so, aber in einer Sage, die von den oberen handelt, führt das nur noch zu mehr Komplikationen.« »Inwiefern?« »Der Geheimagent beschäftigte sich zeitweise mit dilettantischen Versuchen in der Schwarzen Magie. So konnte er den Speck der Prinzessin durch einen Zauber auf ein schlankes Sklavenmädchen übertragen, das an diesem Tag unter der Nummer 27 auf dem Sklavenmarkt feilgeboten wurde. Das Sklavenmädchen war froh darüber, denn der Speck machte sie so häßlich, daß nicht einmal mehr der Mindestpreis für sie geboten wurde. Also mußte sie vom Staat übernommen werden. Statt in einem schmutzigen Harem zu landen, arbeitete sie nun als Sozialarbeiterin für wohltätige Zwecke und machte sich um die Nächstenliebe verdient. Als ein angesehenes Mitglied dieser Gesellschaft konnte sie ihren Kopf nun wieder höher tragen. Dagegen hatte es die Prinzessin, die nun hübsch geworden war, nicht so gut getroffen. Ihrer Fettschichten entledigt, wurde sie auf einmal so dünn, daß der Goldring von ihrem Ringfinger glitt und einer Kröte ins Maul fiel, die gerade in der Nähe war, um sich einen Maikäfer zu schnappen, denn wie es der Zufall wollte, war die Jahreszeit gerade richtig dafür. Nun war die Prinzessin zwar schlank genug, um durch die Türen der Hofkapelle zu kommen, aber der Verlobungsring war verloren, und die Hochzeit mußte so lange verschoben werden, bis die Kröte zur Kooperation überredet werden konnte. Um der Sache nachzuhelfen, verwandelte sich der Geheimagent in eine Kröte des entgegengesetzten Geschlechts und verhandelte mit der Amphibie in ihrer eigenen Sprache. Durch eine glückliche Fügung erwies sich die Kröte gegenüber einem Flirt mit dem Geheimagenten als sehr willig, und schon bald hatte sie ihren Liebhaber dazu überredet, mit ihr zum nächsten Laichgrund durchzubrennen, wo sie traurigerweise von dem ersten großen Fisch verspeist wurde, dem sie begegnete. Der Fisch wurde bald danach gefangen und für die Tafel des Königs zubereitet. Die hübsche Prinzessin, die so dünn geworden war, daß sie wieder einen wahren Heißhunger hatte,
verschlang den Fisch so schnell, daß der Goldring durch die königliche Speiseröhre hinabglitt, ohne auch nur die leiseste Spur eines Schluckaufs aufkommen zu lassen. - Habt ihr schon einmal bemerkt, daß es immer die pingeligen Esser sind, die die Gräten bekommen? Nein? Wie dem auch sei, bald wurde die Prinzessin wieder fett, und eines Tages ritt sie auch wieder auf der Lenkstange von ihres Vaters Dreirad zur festgesetzten Versteigerung auf dem Sklavenmarkt. - Wollt ihr, daß ich weitererzähle?« fragte der Steward. »Gibt es noch viel mehr zu erzählen?« fragte Ludo zurück. »Ja, natürlich, soviel ihr wollt. Das ist der große Vorteil von mythischen Erzählungen, daß sie endlos weitergehen.« »Ich glaube, es hilft wenigstens, die Zeit zu vertreiben«, sagte Jason. »Genau. Als das königliche Dreirad sich nun wieder dem Gebüsch näherte, in dem sich der Geheimagent bei ihrer letzten Fahrt versteckt hatte, stieß das Fahrzeug an eine Unebenheit in der Straße, und die Prinzessin wurde wieder auf den Boden geschleudert. Sie traf dort mit solcher Kraft auf, daß sie den goldenen Ring heraushustete. Der Ring flog durch die Luft und einem gutaussehenden Prinzen vor die Füße, der gerade zu einem Minnesängerfest trampte, wo er hoffte, mit seiner Laute fette Beute zu machen. Er nahm den Ring und gab ihn unter huldvollen Verbeugungen der Prinzessin zurück, die auch prompt in seinen männlichen jungen Armen ohnmächtig wurde, weil sie dachte, daß dies ihr Verlobter sein müßte, der zu ihr zurückgekehrt war. Sie kam so schnell wieder zu sich, als es gerade noch schicklich war, und beglückwünschte ihn dazu, daß er den Ring gefunden hatte, und lobte sein Aussehen und Benehmen, das sich gebessert habe. Der Prinz, der das Versehen der Prinzessin nicht verstehen konnte, zog den voreiligen, wenn auch verständlichen Schluß, daß sie dringend den Schutz einer Pflegeperson brauchte, und übergab sie daher der schon erwähnten Sozialhelferin, die froh darüber war, daß sie Arbeit bekam, denn sie hatte wieder an Gewicht verloren und ihre frühere Anmut wiedergewonnen, und sie wußte, daß sie damit nur wieder die Aufmerksamkeit der ortsansässigen Sklavenhändler auf sich lenken würde. Sie wurde im Königspalast angestellt, um die Prinzessin zu bewachen. Eines Morgens geschah es, daß diese sich in der Nähe der Fischteiche erging, die Privateigentum des Königs waren. Dort traf sie ihren alten Freund, den Geheimagenten. Er suchte immer noch verzweifelt nach der Kröte, die den Ring verschluckt hatte, denn er wußte ja nicht, welch
tragisches Ende sie genommen hatte. Als die Prinzessin ihm erzählte, was passiert war, machte er schnell erneut von seinen magischen Kräften Gebrauch und verwandelte sich wieder in ein menschliches Wesen zurück. Unglücklicherweise war er aber zu lange eine Kröte gewesen, so daß er den Trick nicht mehr so richtig wußte und sich aus Versehen in eine schöne stattliche Frau zurückverwandelte. Der König sah diesen Ausbund von Schönheit in seinen privaten Fischteichen herumplanschen und verlor unverzüglich sein Herz an sie, denn er hatte erst vor kurzem seine Königin zu Grabe getragen, die, mit dem gebührenden Respekt für Staatsangelegenheiten, kurz vor ihrem Begräbnis verschieden war, und nicht, wie es auch manchmal unglücklicherweise der Fall ist, kurz nachher. Sobald die neue Liebe des Königs die erforderliche Weihnachtsrede gehalten und die Tests fürs Balkonwinken bestanden hatte, heiratete er sie mit gebührendem Prunk in der Hofkapelle. Es gab nur einen ungewöhnlichen Zwischenfall an der im übrigen höchst konventionellen Zeremonie: nämlich, daß der Vermählungsring, den sich das königliche Paar für diesen Anlaß von der widerspenstigen Prinzessin ausgeliehen hatte, nicht an den Finger der neuen Königin gesteckt wurde, sondern auf ihren besonderen Wunsch hin, durch ein Loch in ihrem rechten Ohrläppchen. Die Prinzessin dachte, daß um diese seltsame Abweichung vom üblichen Ritual etwas äußerst , Unheilvolles war, aber in diesem besonderen Fall konnte sie nicht sagen, was es wirklich war. Ihre Stiefmutter vereinbarte mit dem Palastkoch, daß sie auf eine besondere Diät gesetzt werden sollte, die ihr bald wieder ein liebliches Aussehen verlieh. Dann ließ die Königin die Prinzessin auf den Sklavenmarkt bringen, wo sie von einem Typen aufgegabelt wurde, der Prinzessinnen aus zweiter Hand sammelte. Mit diesem Sammler lebte die Prinzessin glücklich bis an ihr Lebensende. Ist euch das auch so richtig unter die Haut gegangen?« fragte der schnellredende, mythenmachende und fliegende Steward. »Was ist aus der Dame geworden, die für die Wohlfahrt gearbeitet hat? Ich meine die ehemalige Sklavin, die man der Prinzessin als Pflegerin gab?« fragte Ludo. »Ich nehme an, daß sie ihren Job verloren hat und aus dem Palast hinausgeworfen wurde?« »Aber nicht doch! Ein so schönes Mädchen? Niemals. Nun, wenigstens nicht in einer Sage. Nein, sie wurde von der neuen Königin als Ohrläppchen-Masseuse eingestellt. Und manchmal - so erzählte man sich -, wenn der König auf seiner königlichen Jagd war, verwandelte sich Ihre
Königliche Majestät wieder für ein paar Stunden in den Geheimagenten zurück und übermittelte dem Feind geheime Botschaften über den Miniatursender, der in seinem goldenen Ring verborgen war. Auch soll er dann angeblich mit der schönen Masseuse im Dampfbad des Palastes getändelt haben. Aber ich persönlich glaube nicht an diesen Teil der Geschichte. Nur ein Gag, um einen Spionagethriller daraus zu machen!« »Aber wenn du dir die Geschichten erst während des Flugs ausdenkst, wie kannst du dann dran zweifeln?« »Das ist eben mein Problem. Ich bin voller Selbstzweifel. Deswegen bin ich auch immer noch ein Steward.« »Hat die Geschichte auch eine Moral?« fragte Ludo. »Natürlich nicht. Mythen haben keine Moral.« »Was haben sie dann?« »Genug doppeldeutiges Gewäsch, damit sich die vielen eingebildeten Mythologieprofessoren deswegen herumstreiten können, bis sie dann altersschwach genug sind, um ihre Memoiren zu schreiben.« »Ich muß gestehen«, sagte Jason, »daß mir deine Erzählung eher wie ein Märchen vorgekommen ist.« »Ach, ihr Kabelgleiter seid doch alle gleich! Ich rede mir den Schnabel fransig, und was bekomme ich dafür? Nichts als Haarspaltereien, miese kleinkarierte Haarspaltereien. Aber ich bin's ja gewöhnt. Ihr werdet mir mein Berufslächeln schon nicht abgewöhnen!« »Ach, das tut mir jetzt aber leid. Es war eine ganz vorzügliche Geschichte. Kann ich dich etwas fragen?« »Natürlich. Nur zu! Ich bin ja schließlich dein Steward. Kerfenfliege ist mein Name. Wie schon der Name sagt, eine Fliegernatur. »Kerfenfliege? Ich wollte dich gerade fragen, ob du eine Art Storch wärst?« »Storch! Storch! Bitte jetzt nicht wieder diese olle Kamelle von den Störchen, die die Babies in den Schornstein fallen lassen. "Wir müssen die immer wieder über uns ergehen lassen. Nein, ich bin gewiß kein Storch!« »Für mich siehst du aber sehr storchenhaft aus.« »Ich weiß zwar nicht, wer du bist, aber ich habe dir eine überraschende Mitteilung zu machen: Du kannst wahrscheinlich nicht einmal einen Storch von einem Fischreiher unterscheiden!« »Dann bist du also ein Fischreiher?« »Ach, du meine Güte, nein! Ich habe dir doch gesagt, daß ich eine Kerfenfliege bin. Ach, du meine Güte, ich glaube, ich muß das erklären.
Merk dir eben, ich sehe wie ein Storch aus, weil das meine Tarnung ist. Hast du nicht gemerkt, wie ich einen Geheimagenten in diese Mythen von mir hineinkonstruiert habe?« »Doch.« »Nun, das war natürlich nur deswegen, weil ich selber ein Geheimagent bin und in einer Geschichte eine Gestalt haben möchte, mit der ich mich identifizieren kann. Es hilft mir, meine Interessen zu wahren.« »Deswegen bist du am Ende so gut weggekommen?« »Na klar - du begreifst wenigstens schnell.« »Und ich wette, daß du wirklich mit der Ohrläppchen-Masseuse am Ende der Geschichte geflirtet und auch diese Geheimbotschaft weitergegeben hast, stimmt's?« »Na, Kumpel, was fällt dir eigentlich ein? Das war doch meine mythische Geschichte. Merk dir das gefälligst!« »Welche Art von Spionagetätigkeit übst du eigentlich aus, ich meine natürlich, im wirklichen Leben?« »Nun, wenn ich nicht die Flugsicherheit auf dieser Barthaar-Linie überwache, bringe ich Babies mit eingebauten Abhörgeräten ins Außengestein. Ein ziemlich gewagtes Unterfangen: Nehmen wir einmal an, sie schießen mich ab. Wie sollten sie dann im Norden von Wiltshire erklären, was eine tote Kerfenfliege ist, wenn es mich dort überhaupt noch nicht gibt? Habt ihr begriffen, worauf ich hinauswill? Also fliege ich gewohnheitsmäßig bei Nacht und benutze diese Storchenmaske als Tarnung. Das wirkt Wunder! Diese armen, dummen Störche dort oben mit ihren Vogelgehirnen müssen ja so viele grobe Witze über sich ergehen lassen, aber das ist schließlich ihr Bier!« »Wer stattet die Babies mit den Abhörgeräten aus?« »Das ist Geheiminformation. Tut mir leid, aber das ist streng geheim.« »Gut, aber warum bringt ihr sie dorthin? Es gibt dort schon viel zu viele Babies, die auf die normale Art zur Welt kommen, schreckliche, nasse, übelriechende Geschöpfe.« »Nun, ich glaube, es ist in Ordnung, wenn ich das wenigstens verrate: Verstehst du, wir brauchen hier ein Feedback vom Außengestein, um zu sehen, wie sich unsere neuesten Modelle machen. Also nimmt der Bildhauer wieder den magischen alten Meißel zur Hand und klopft ein Baby heraus, wir versehen es dann mit einem Abhörgerät, und ich lasse mir einen speziellen Zwölf-Stunden-Paß geben, um es nach oben zu bringen - dazu kann ich euch aber leider keine Details geben -, dann tausche ich die Babies aus und komme möglichst schnell wieder hierher zurück. Manchmal erwischen sie mich, und dann beginnt wieder der
Quatsch mit den Störchen, die Babies bringen. Aber meistens sieht mich niemand.« »Ich will dich lieber nicht fragen, was mit den wirklichen Babies passiert, die du wegnimmst...« »Ist schon besser so. Ich würd's dir auch gar nicht sagen -du weißt schon, die Sicherheitsvorschriften. Ich muß auf unser öffentliches Image achten. Harter Job, das... Kann keine Tränen vergießen über ein bißchen verschüttete Milch, wenn die Freiheit des Innengesteins auf dem Spiel steht.« »Wie bekommst du die Babies mit den Abhörgeräten zurück? Darfst du mir das zumindest sagen?« »Ja, warum auch nicht. Die Babies, die wir machen, sind große Krabbler, und sie fallen am Ende immer in stillgelegte Bergwerksschächte oder alte Brunnen, und wir bringen sie dann zum Hauptquartier, wo wir die Abhörgeräte ausbauen, die Information überprüfen und sie dem Bildhauer weitergeben. Schlau, was? So bleiben wir über alles auf dem laufenden, was dort oben vor sich geht, denn wer nimmt sich schon vor einem Baby ein Blatt vor den Mund. Mit unseren >Wanzen< kriegen wir also alles mit. - Na, so was, ich rede mir den Schnabel fusslig, und dabei nähern wir uns schon dem Tor des Zensors. Ich sehe, daß der Zensor langsam die Augen öffnet. Jetzt könnt ihr jeden Augenblick in seine Sichtweite kommen. Viel Glück! Ich hoffe nur, daß er auch mag, was er sieht. Also, tschüs!« Mit diesen Worten entschwebte die seltsame Kerfenfliege in den GranitHimmel, zweifellos war sie wieder in einer wichtigen politischen Mission unterwegs. Die Barthaare wurden etwas dicker, und die vier Überlebenden stellten entsetzt fest, daß sie langsamer wurden. Das große Gesicht in der Felswand, das sie wie ein riesiger Barsch mit offenem Maul anstarrte, war leicht zu erkennen, als sie nun am Ende ihrer langen Reise ins Ziel einliefen. Der Zensor klapperte mehrmals mit den schweren Augendeckeln, bevor er die beiden Augen, die jeweils mindestens einen Meter breit waren, vollends öffnete. Die riesigen schwarzen Pupillen weiteten und verengten sich dann auf Nadelkopfgröße. Die Kiefer schienen sich unmerklich zu schließen, oder bildeten sie sich das nur ein? Nein, sie schlössen sich wirklich! Die Durchfahrt würde gleich blockiert sein. »Er mag unseren Anblick nicht!« schrie Ludo verzweifelt. »Bremst uns doch, um Himmels willen!« rief der wild um sich schlagende Grunz.
»Nein! Schneller, wir müssen Tempo zulegen!« entgegnete Jason. »Nur so können wir's noch schaffen!« »Nein, nein! Langsamer«, widersprach Klages mit gellender Stimme. »Wir sind zu spät da. Wir müssen langsamer werden, sonst zerreißt es uns, und wir werden in Form von Brei übers Gesicht des Zensors verspritzt.« Er und Grunz wanden sich verzweifelt in ihrem Gurtwerk. Sie brachten es fertig, die Klammern leicht zu verdrehen, zuerst nach der einen und dann nach der anderen Seite, und erzielten so eine Bremswirkung, was bedeutete, daß sich ihre Geschwindigkeit um einige km/h verringerte. Sie blieben hinter Jason und Ludo zurück, die mit voller Geschwindigkeit auf das sich schließende Tor zurasten und sich in ihrem Gurtwerk kauerten, um den Reibungswiderstand zu verringern. Am Ende wurden die Barthaare dicker, wie man es ihnen vorausgesagt hatte, und die Klammern sprangen von selbst auf, zuerst an Jasons Gurtwerk und wenig später an Ludos. Sie wurden beide mit großer Geschwindigkeit durchs Maul geschleudert, das sich nun beinahe geschlossen hatte, nur wenige Augenblicke bevor seine Lippen mit einem ohrenbetäubenden Krach zuschlugen. Als sie in das langgezogene, tiefe Maul taumelten, konnten sich Jason und Ludo nur zu lebhaft ausmalen, was den beiden anderen zugestoßen war - ebenso wie die Freunde vor ihnen waren sie auf tragische Weise Opfer der unberechenbaren und gewalttätigen Launen des Zensors geworden. Nun waren nur noch Jason und Ludo übrig, die durch eine lange, schlüpfrige Röhre hinabtorkelten und -glitten. Es mußte die Kehle des Zensors sein. Sie wären beinahe steckengeblieben, als sich die gelben Verpackungssäcke auf ihrem Rücken automatisch öffneten und aufblähten, weil sie auf die Feuchtigkeit reagierten. Aber in kürzester Zeit hatten sie sich wieder losgerissen und glitten weiter. Unten plumpsten sie in den Teich im Magen des Zensors. Lichter blinkten sie an, als sie dort umherschwammen, und in der Dunkelheit hörten sie Stimmen, die ganz in der Nähe sein mußten: »Hierher, ihr beide! Schwimmt schon weiter. Hierher! Hört auf herumzurudern, sonst bekommt der Zensor Verdauungsstörungen. Wir wollen, daß ihr dort herauskommt. Verstanden?«
23. Zooborus' Sammlung
Nachdem Jason und Ludo aus den aufgewühlten Fluten im Magen des Zensors gefischt worden waren, wurden sie von ein paar Gestalten mit Kapuzen auf dem Kopf durch einen langen, gewundenen, orangefarbenen Tunnel getrieben. Der Widerschein von ihren Fackeln flackerte gespenstisch auf der unebenen Wand. Sie gelangten in ein langgezogenes Gewölbe, wo Tausende von ausrangierten Gurtwerken und gelben Verpackungssäcken aufeinandergetürmt waren. Einer ihrer Führer befahl ihnen dort, ihre Ausrüstung abzulegen, sich zu säubern und zu warten. Dann gingen sie weg und ließen Jason und Ludo allein. »Wenn nur Klages und Grunz nicht gebremst hätten. Sie wären beinahe durchgekommen«, sagte Ludo. Sie schüttelte sich trocken und wischte ihre Hörner ab. »Ich frage mich nur, warum uns der Zensor nicht durchlassen wollte?« murmelte Jason. »Mit uns scheint irgend etwas nicht zu stimmen.« Er wurde von einer lauten, geisterhaften Stimme unterbrochen, die die Wände erzittern ließ: »Ihr seid beim Zensor durchgefallen. Man hätte euch nicht durchlassen sollen. Ihr werdet sofort wieder zurückgeschickt.« »Aber warum denn? Sagt uns doch nur, warum?« rief Jason, wobei er sich nach allen Seiten wendete, weil er nicht wußte, woher die Stimme kam. »Weil ihr bereits kopiert worden seid. Ihr seid schon ein Paar. Das ist euch aber erst gestattet, wenn ihr die Abschlußtests bestanden habt. Das war ein Fehler, ihr hättet erst gar nicht losgeschickt werden sollen. Deswegen müßt ihr zurückgeschickt werden.« »Klar«, flüsterte Jason Ludo ins Ohr, »das war es also, was ihn geärgert hat, als wir in Sichtweite kamen!« »Halt!« rief Ludo. »Ich möchte einen Vorschlag machen. Wenn wir uns so verändern, daß wir uns deutlich voneinander unterscheiden, könnt ihr uns dann durchlassen?« Es entstand eine lange Pause. »Das ist eine Möglichkeit«, dröhnte die Stimme wieder. »Ihr könnt es versuchen, aber wir dürfen uns nicht verspäten. Ihr bekommt dafür fünfhundert Herzschläge, nicht mehr. Ihr müßt euch nun entscheiden!« »Fünfhundert Herzschläge!« rief Jason, »aber das sind ja nur ein paar Minuten! Was können wir in ein paar Minuten schon tun?« »Gib mir die Schatulle mit den Würmern«, sagte Ludo und streckte die Hand danach aus.
»Warum, wozu soll denn das gut sein?« »Kann auch sein, daß es nicht klappt. Aber erinnerst du dich an das, was der Bildhauer gesagt hat? Daß wir die Goldenen Würmer im Innengestein nicht essen sollen, weil sie uns kleiner machen? Vielleicht funktioniert es bei dir nicht, weil du von draußen kommst. Aber vielleicht genügt es, wenn ich nur einen ganz kleinen Bissen zu mir nehme und so sehr schrumpfe, daß wir aufhören, ein Paar zu sein. Wir wären dann so voneinander verschieden, daß sie uns einfach durchlassen müßten.« »Es ist viel zu gefährlich!« »Wir können nicht mehr zurück. Überleg dir doch, was sie mit uns machen würden, besonders, was der Bildhauer mit uns machen würde! Er würde uns vierteilen! Gib mir jetzt die Schachtel! Wenn es nicht geht, sind wir auch nicht schlimmer dran als vorher, und wenn es mehr als gut geht und ich zu nichts zusammenschrumpfe, kommst du wenigstens durch.« »Ich gehe nicht ohne dich!« »Natürlich tust du das. Du mußt einfach mit den restlichen Würmern zurückkehren, sonst wäre ja alles umsonst gewesen, was wir zusammen unternommen haben. Alles wäre vertan. Das können wir nicht zulassen. Nun, gib sie schon her!« »Noch einhundert Herzschläge«, dröhnte die gewaltige Stimme. »Nur noch einhundert Herzschläge. Ich gebe euch keinen Schlag mehr!« Jason zögerte. Es blieb ihnen etwas weniger als eine Minute. Er und Ludo sahen sich tief in die Augen. Dann gab ihr Jason schweren Herzens die Schachtel, die Ludo aufriß und den Deckel abhob. Ein gleißender gelber Lichtschein erfüllte das Gemach. Im Innern der Schatulle befand sich ein Haufen mit winzigen Goldenen Würmern, die sich unablässig wanden. Bei jeder Bewegung glitzerten und funkelten sie. Jason war ganz gebannt von ihrer unglaublichen Schönheit, aber Ludo brach den Zauber schnell, indem sie einen davon packte, ihn einen Moment lang in ihrer pelzigen Hand hielt und dann ein winziges Stück davon abbiß. Sie warf das restliche Stück des Wurms wieder in die Schachtel, die sie unverzüglich Jason zurückgab. Sie lächelte ihn an, als sie den goldenen Bissen hinunterschluckte. Sie warteten. Die Herzschläge dehnten sich, und nichts passierte. Jason runzelte sorgenvoll die Stirn, als er sah, daß Ludos Körper immer kleiner wurde. Sie wurde immer kleiner, bis sie ihm nur noch bis zur Taille ging. »Ludo«, rief er, »Ludo hör auf!«
»Es ist zu spät«, rief Ludo, und ihre ohnehin schon leise Stimme wurde immer schwächer. »Ich... Ich... viel Glück, Jason. Du wirst's schon schaffen. Du wirst...« Aber dann konnte er sie nicht mehr verstehen. Sie sank immer tiefer, bis sie nur noch wie eine kleine Kugel aussah. Als Jason sich vor sie hinkniete, sah er, wie sie sich langsam in ein kleines Ei verwandelte. Auch das Ei begann zu schrumpfen. Zuletzt war es nur noch eine kleine, braune Bohne, die nicht mehr schrumpfte. Vorsichtig und liebevoll hob sie Jason auf und legte sie auf seine verschwitzte Handfläche. Er konnte gerade noch zwei winzige Beulen erkennen, wo die Hörner gewesen waren, aber das war auch alles, was von Ludo, die noch vor ein paar Augenblicken leibhaftig vor ihm gestanden hatte, übriggeblieben war. »Die Zeit ist um!« dröhnte die Stimme, und die Wachen mit den Kapuzen kamen zurück. Sie sahen sofort, was passiert war, und flüsterten untereinander. Dann gingen sie, ohne Jason etwas zu sagen, wieder hinaus. Nach einer Weile hörte Jason wieder die Stimme: »Nun ist alles in Ordnung. Der Zensor ist mit dir zufrieden. Du kannst weitergehen. Geh durch das Tor, und man wird dir sagen, wie die Prüfung aussehen wird, die du noch bestehen mußt, bevor du durch den Fels kommst. Geh jetzt, die Kommission wartet schon auf dich.« Sorgfältig steckte Jason die braune Bohne in seine Gürteltasche. Er fühlte sich sehr traurig, als sich das Tor öffnete und er das Gemach verlassen konnte, denn er war nun ohne seine beste Freundin, die treue Kameradin, die seinetwegen ihr Heimatdorf verlassen und so oft ihr Leben für ihn aufs Spiel gesetzt hatte. Sie hatte sich nur für ihn aufgeopfert, damit er ins Außengestein zurückkehren und sein Versprechen einlösen könnte. Und er würde keine Möglichkeit mehr haben, es ihr zurückzuzahlen. Er konnte gar nichts mehr für sie tun. Es würde ihm schwerfallen, einfach weiterzuleben und wieder zu lachen, ohne diese schwere Schuld abgetragen zu haben. Wegen der trüben Stimmung, in der er sich befand, nahm er kaum Notiz von seiner Umgebung. Er ging über eine Art riesigen Friedhof, der sich nach allen Richtungen erstreckte, soweit das Auge reichte. Zwei Wächter gingen vor ihm her und zwei folgten ihm, als er den schmalen, gelben Weg entlangmarschierte, der sich in schnurgerader Linie bis zum Horizont hinzog. Als sie ungefähr eine Stunde lang ohne Rast gegangen waren, versuchte Jason das Tempo zu verringern, aber wurde dabei beinahe von seinen Begleitern niedergetrampelt. Waren es überhaupt lebendige Wesen? Ihr
Tempo schien festgelegt und unveränderbar zu sein. Weil sie so schnell gingen, konnte Jason die Namen auf den Grabsteinen nicht entziffern, aber die Inschriften verrieten ihr hohes Alter, denn einige davon waren sehr alt und beinahe unleserlich, andere dagegen schienen ziemlich neu zu sein. »Wer ist hier begraben?« fragte er die Wachen, die vor ihm hergingen, aber sie gaben ihm keine Antwort und taten so, als ob sie nichts gehört hätten. Sie setzten ihren Fußmarsch schweigend fort. Jason kam es wie eine weitere Stunde vor. Er vertrieb sich die Zeit damit zu überlegen, wie viele Herzschläge eine Stunde zählte. Er stand kurz vor einer Lösung, als die beiden Wächter vor ihm ganz plötzlich stehenblieben und unvermittelt nach links abbogen. Sie verließen den Weg, der immer noch endlos weiterging, und bewegten sich auf die Mitte des Friedhofs zu. Plötzlich blieben sie vor einem seltsamen Grabmal aus rosafarbenem Marmor stehen, das wie ein riesiges Schneckenhaus aussah. Oben war ein schwankender Mast, an dessen Spitze sich ein großer Kreis aus Bronze befand, der durch eine dicke, senkrechte Stange in zwei Hälften geteilt war. Die vier Wächter blieben am Eingang stehen. Aus ihrer abwartenden Haltung konnte Jason ersehen, daß er unverzüglich hineingehen sollte. Er holte tief Luft, trat über die Schwelle und wartete darauf, daß sie ihm folgten. Statt dessen stellten sie sich vor dem Eingang auf, um ihm den Fluchtweg zu versperren. Er sah sie einen Augenblick lang herausfordernd an, aber als sie keine Anstalten machten, wegzugehen oder mit ihm zu sprechen, zuckte er mit den Achseln und beachtete sie nicht weiter. Als Jason ins Innere vordrang, beschrieb er eine Spirale, immer wieder ging er im Kreis, der allmählich nach unten abfiel. Zuletzt gelangte Jason in das weitläufige Kellergeschoß. Dort befanden sich etliche Marmorplatten, auf denen jeweils ein Körper lag, der sich nicht mehr bewegte. Es handelte sich um die verschiedensten Arten von Geschöpfen, aber sie schienen alle eines gemeinsam zu haben, daß sie nämlich tot waren, und zwar mausetot. Jede Marmorplatte hatte an den vier Ecken jeweils einen kleinen Sockel, der wie ein niedriger Eierbecher aussah, und in jedem befand sich ein bemaltes Ei. Das eine war braun, das nächste grau, ein drittes war schwarz und ein viertes weiß. Jason wollte gerade eines davon berühren, als er unmittelbar hinter sich ein Geräusch hörte.
»Name?« fragte eine Stimme in der Höhe seines Ellbogens. Jason drehte sich blitzschnell um und erblickte eine schlanke Gestalt, die wie ein großer Holzsplitter auf vier spindeldürren Beinen aussah. »Jason.« »Folge mir nach. Die Kommission wartet schon.« Als er an der Reihe von Marmorplatten vorbeigeführt wurde, konnte er seine Neugierde nicht mehr bezähmen. »Wer sind denn die?« fragte er und beschrieb dabei mit dem Arm einen weiten Kreis. Er hoffte, daß sein neuer Begleiter leutseliger war als die Kerle mit den Kapuzen, die ihn an diesen düsteren Ort gebracht hatten. »Die? Ach, die gehören zur Sammlung von Zooborus. Er sammelt nur Irrläufer.« »Irrläufer? Du meinst wohl Typen, die abgelehnt wurden?« »Nein, die gelangen niemals ins Außengestein. Aber die hier waren draußen, haben versagt und sind mit der Zeit ausgestorben. Die letzten Exemplare von jeder Spezies werden zur Aufbewahrung hierhergebracht.« »Also eine Art Museum?« »Nein, es ist mehr wie ein Zoo. Schließlich sind sie ja tot, nicht wahr?« »Ja, aber...« »Nun, dann ist es doch mehr wie ein Zoo, oder?« »Wenn du meinst.« »Aber sicher.« »Ich nehme an«, fuhr Jason fort, der zu der niedrigen Decke hochblinzelte, »daß jeder der Grabsteine dort oben zu einer Marmorplatte hier unten gehört. Es müssen ja Tausende sein!« »Millionen. Es ist eine ganz vorzügliche Sammlung.« »Aber was haben die großen Eier an jeder Platte zu bedeuten?« »Das sind die mystischen Eier von Porus. Sie enthalten die wichtigsten statistischen Details über die Arten auf den Marmorplatten. Alles das, was wir über sie wissen müssen. Mit dem Inhalt der mystischen Eier wäre es möglich, jeweils bis in die kleinsten Einzelheiten hinein wieder das Leben zu rekonstruieren, das sie im Außengestein geführt haben. Zum Beispiel gibt das braune Ei Auskunft über den Ort der Art. Es enthält etwas Schmutz von unter des Wesens Fingernägeln, mit dem Siegel des Orts. Eine sorgfältige Analyse dieses Schmutzes gibt uns Aufschluß darüber, wo die betreffende Kreatur herumgescharrt hat, als sie am Aussterben war. Das weiße Ei ist das Verdauungsei, das schalldichte Gedärme enthält - die Innereien, die von der letzten Mahlzeit im Außengestein übriggeblieben sind.«
»Warum sind sie denn schalldicht?« fragte Jason, der sich trotz seiner großen Trauer für die merkwürdigen Rituale an diesem bizarren, dem Tod geweihten Ort zu interessieren begann. »Damit sie nicht zu rumpeln anfangen, denn gewöhnlich sind die Gedärme ja ziemlich leer. - Das graue Ei gibt über die Tätigkeit Aufschluß. Es enthält Hautkarten mit den Gesichtslinien, grobe Hautkarten, denen wir die Linien des Gesichts und aus diesen wiederum den Gesichtsausdruck des Geschöpfes zum Zeitpunkt seines Todes rekonstruieren können. Dies gibt uns Aufschluß über seine Funktion, die Arbeit, die es verrichtet hat, und so weiter. Stell dir zum Beispiel vor, daß so ein Geschöpf von Beruf ein Märtyrer der Mittelklasse war, dann würde man die ausdruckslosen Gesichtslinien eines weichlichen Opfers vorfinden. Eben Dinge wie diese.« »Und das schwarze Ei?« »Ach so, das ist das wichtigste von allen. Es handelt sich um das Generationenei, das die auf Stärke reduzierten Paarungskapseln enthält.« »Paarungskapseln?« »Ja, die Fruchtkapseln von zusammengeschrumpften Paarungsbohnen. Wenn sie im Blut von Männchen ausgesetzt werden, wachsen sie zu normal großen Weibchen heran. Die Geschöpfe, die auf den Marmorplatten aufgebahrt sind, sind natürlich alles Männchen, weil sie farbenprächtiger sind. Und sie brauchen ein paar Weibchen, die in Bereitschaft sind, falls wir eine bestimmte Art weiterzüchten wollen.« »Aber hier handelt es sich doch um Arten, die sich im Außengestein als Fehlschläge erwiesen haben. Warum solltet ihr ausgerechnet diese weiterzüchten wollen?« »Der Bildhauer fragt eben manchmal bei uns an, weil er dieses und jenes Experiment machen will. Meistens will er nur herausbekommen, warum es sich um Irrläufer handelt. Alle Jubeljahre einmal, also sehr selten, nimmt der Bildhauer eine leichte Änderung vor, und die Art geht dann zu einem zweiten Versuch noch einmal ins Außengestein zurück. Aber dies kommt, wie gesagt, nur sehr selten vor. Soweit ich mich entsinnen kann, hat es sich beim letzten Mal um so eine häßliche Fischart gehandelt. Ich kann mich nicht mehr an die Bezeichnung erinnern, aber der Bildhauer hatte diese verrückte Idee, daß er die Flossen des Fischs auf irgendeine Art von Beinen aufmontierte. Meiner Meinung nach war es nicht den Versuch wert, aber Paarungsbohnen sind ...«
»Bohnen! Hast du von Bohnen gesprochen?« rief Jason. Er unterbrach seinen spindeldürren Begleiter, der erschreckt zurücksprang und vor Angst zitterte. »Ja. Wir lassen die ausgewachsenen Weibchen mit ein bißchen Staub von zermahlenen Goldenen Würmern zusammenschrumpfen. Es ist sehr lustig.« »Lustig!« »Ja, so wie wenn man auf einer Party Luftballons aufsticht. Wirklich sehr lustig. Das genießen wir so richtig! Denn... aber eigentlich dürfte ich das ja gar nicht verraten, weil es hier unten manchmal ziemlich langweilig wird. Dann können einem sogar solche Albernheiten wie WeibchenSchrumpfen-Lassen helfen, die Zeit zu vertreiben. Und du mußt zugeben, daß es ein ziemlich harmloses Vergnügen ist.« Jason schoß es durch den Kopf: Vielleicht gab es doch noch eine Möglichkeit, Ludo zurückzugewinnen. Aber er mußte vorsichtig vorgehen. Die Zeit war noch nicht reif dafür. Sosehr er es haßte, etwas aufzuschieben, jetzt mußte er warten, bis er irgendwo allein war. »Und ihr verwendet das Blut der Männchen dafür?« fragte er beiläufig. »Ja, nur ein paar Tropfen, das ist alles, was wir brauchen. Es ist erstaunlich, wie frisch es sich hier hält. Zooborus ist ein Experte auf diesem Gebiet.« »Erzähl mir mehr über Zooborus«, sagte Jason, der das Thema wechseln wollte. »Sein voller Name ist Spiral Zooborus vom Geteilten Kreis. Ich nehme an, daß du sein Abzeichen dort oben gesehen hast. Ich finde es ja ein wenig protzig. Aber nein, ich darf das eigentlich nicht sagen, denn es ist schon sehr eindrucksvoll. Seine Konkurrenten nennen ihn den verdrehten Zooborus, was ihn natürlich ganz wild macht. Ganz unter uns kann ich dir auch sagen, daß einige dieser Geschöpfe auf den Marmorplatten überhaupt keine Irrläufer waren. Der gute alte Zoobi kann manchmal sehr bösartig werden, wenn man ihn reizt. Wenn ihm einer mal wieder steckt, daß man ihn den Verdrehten genannt hat, aktiviert er seine Kapuzenboys und wums! -schon haben wir wieder eine neue Marmorplatte, wo eigentlich keine sein sollte. Aber du brauchst keine Angst zu haben, wenn du ihn kennenlernst, wird er die Fairness und Würde in Person sein. Wenn er den Vorsitz in der Kommission führt, muß er sich vor seinen Kollegen aufspielen. Er ist der Präsident der Prüfungskommission und einer der wenigen Großgümpfe im Innengestein. Die anderen Kommissionsmitglieder sind nur Übergümpfe,
und Zoobi muß ihnen zeigen, wie würdig und erhaben er eigentlich ist. Ein großer Schaumschläger. Aber das sollte ich eigentlich nicht sagen. Du kennst ja das alte Sprichwort: Wände haben Ohren und Kartoffeln Augen; Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Ich glaube, ich habe schon ein bißchen zuviel gesagt!« »Wer ist sonst noch in der Kommission?« »Weiß ich nicht genau, gewöhnlich wechseln sie sich ab. Aber du hast Glück. Zufällig weiß ich, daß heute nicht viel los ist. Das Geschäft geht sehr schleppend - und du bist offenbar der einzige Kandidat. Wie ich erfahren habe, scheinen sie im Bereich der Barthaare Schwierigkeiten zu haben.« Jason wollte seinen splintrigen Begleiter gerade fragen, was er vor der Kommission tun müßte, als sie zu einer geschwungenen, rosafarbenen Marmortür kamen. »So, da wären wir«, sagte das dürre Geschöpf. »Hier mußt du rein«, sagte es zu Jason und schlenderte fröhlich vor sich hin pfeifend zwischen den Reihen von Marmorplatten von dannen. Jason betrat den Raum. Hinter einem niederen Tisch waren drei Stühle. Der mittlere war leer, aber zu seinem Erstaunen saßen auf den anderen bekannte Gestalten. Vom linken Stuhl hingen die schlaffen Körpermassen von Lord Zehnkinn herunter und auf dem rechten thronte zu Jasons unbeschreiblichem Entsetzen die riesige, schuppige Gestalt Mha-kees vom Wurzelwald. Es verwirrte Jason, daß Zehnkinns aufgedunsenes Gesicht einen finsteren, verärgerten Blick hatte, während ihn Mha-kee im Gegensatz dazu äußerst freundlich anlächelte. »Ach setz dich doch bitte«, zischte der Mha-kee mit liebenswürdiger Stimme. »Fühl dich wie zu Hause, mach dir's nur recht bequem. Der Präsident wird gleich hier sein.« Mit einigem Unbehagen ließ sich Jason auf einem Sitzplatz nieder, der dem Tisch zugekehrt war. Nach kurzer Zeit hörte er schlurfende Schritte. Zehnkinn und Mha-kee erhoben sich ehrfurchtsvoll. Ein gelber Vorhang hinter dem Tisch wurde zur Seite gezogen, und eine winzige, mißgebildete Gestalt trat ein und kletterte mühselig auf den Stuhl in der Mitte. Zooborus war wirklich ein verdrehtes Geschöpf, mit einem weichen, spiralenförmigen Körper, der in einer gelblichen Haut steckte, die mit runden, braunen Flecken übersät war. Sein Gesicht konnte man überhaupt nicht sehen, die Augen hatte er im Hinterkopf, und er mußte durch ein Uförmiges Megaphon sprechen, das er vor seinem unsichtbaren Mund befestigt hatte und das drohend in Jasons Richtung zeigte. »Ein gewisser Jason?« rief er mit metallischer Stimme.
»Ja, ich bin Jason.« »Ich habe hier ein amtliches Protokoll. Ich werde es dir vorlesen und dich bitten, uns zu bestätigen, daß es eine wahrheitsgemäße und gerechte Beschreibung deiner Aktivitäten ist. Es besagt: 1) Daß du weder die notwendigen Namenspapiere noch Liebespapiere vorweisen konntest, als du von einem Polizisti routinemäßig dazu aufgefordert wurdest. 2) Daß du bei einem gewissen Rotwarze den Tod verursacht hast, weil du ihm durch einen schweren Schock einen Stich versetzt hast und er vor Schreck die Luft abgelassen hat. Rotwarze war zu jener Zeit im Schaugefängnis Seiner Lordschaft. 3) Daß du dich vor Seiner Lordschaft fälschlicherweise als einen engen Mitarbeiter des Bildhauers ausgegeben hast. 4) Daß du für eine vermißte Person eingesprungen bist, nämlich ein gewisses Großmaul, das zuweilen auch als das verrückte Großmaul bezeichnet wurde. Das war während des Flaggenappells. 5) Daß du den Tod eines Nachtschlapper-Jungen verursacht hast, indem du ihm den Platz im Rückenbeutel seiner Mutter weggenommen und ihn umherstreunenden Sabeniten preisgegeben hast. 6) Daß du dich an dem zarten Riechorgan des großen Mha-kee vom Wurzelwald vergriffen und sein geheiligtes Hautgrab verwüstet hast, dich für seine ehrwürdige Person ausgegeben und unter seinen getreuen Handdienern eine Rebellion angezettelt hast. 7) Daß du einem gefiederten Zwerg eine goldene Halskette gestohlen, den Präsidenten des Kopflandes in seinem eigenen Kerker eingeschlossen und dich mit dem Gallon des Präsiden ten aus dem Staub gemacht hast. 8) Daß du einen schnurrhaarigen Wischfresser auf eine ganz brutale Art und Weise angegriffen und dadurch seinen Tod verursacht hast. Daß du einen Klimperer verstümmelt und einen angesehen Klimperer-Dirigenten zu Fall gebracht und seinen Ruf besudelt hast. 9) Daß du dir unrechtmäßigerweise Zugang zur Schule des Verlernens verschafftest, indem du unpassenderweise die Rolle eines Amtsinspektors spieltest. 10) Daß du dir gewaltsam Zutritt zu den Privatgemächern des großen Bildhauers verschafftest, daß du anschließend den ausdrücklichen Befehl mißachtet hast, dorthin zurückzukehren, woher du gekommen bist, daß du
statt dessen über die Barthaare des Zensors geflohen bist zum Nachteil von sechs legitimen Verlernern. Besagter Jason soll uns nun sagen, ob dies eine wahrheitsgemäße und genaue Beschreibung seiner Umtriebe im Innengestein ist.« Erschöpft durch seine lange Rede, ließ sich Zooborus in seinen Stuhl zurückfallen und wartete auf Jasons Antwort. Zehnkinn schaute finster drein, Mha-kee nickte ihm aufmunternd zu und lächelte ihn dabei sogar noch freundlicher an als zuvor. »Ja«, sagte Jason schließlich. »Ich fürchte, der Bericht ist wahr.« »Wundervoll, ganz wundervoll!« kreischte Zooborus. »Deine Einfallskraft verbunden mit deiner offensichtlich gewalttätigen Natur prädestiniert dich geradezu zu einem Leben im Außengestein. Du mußt hier im Testgebiet eine Aufgabe lösen. Wenn dir das gelingt, wird man dir den Austritt nach draußen gestatten. Nun kannst du dir die Aufgabe aussuchen. Mha-kee, wollen Sie vielleicht etwas vorschlagen?« »Ja, ich schlage etwas ganz Einfaches vor. Dieses Geschöpf dort hat mir einen großen Dienst erwiesen.« »Wirklich?« fuhr es Jason heraus. »Ist das denn überhaupt möglich?« »Natürlich. Du hast doch diese Rebellion im Wurzelwald angezettelt, und ich werde dir ewig dankbar dafür sein.« »Aber warum denn?« »Warum? Warum? Weil es mir die Möglichkeit gab, so brutal Rache zu nehmen, wie du dir's wahrscheinlich kaum vorstellen kannst. Ich habe die abscheulichsten Vergeltungsmaßnahmen ergriffen. Es war köstlich, einfach ganz köstlich!« Zooborus unterbrach ihn. »Gut. Dann etwas ganz Einfaches«, sagte er. »Nun, was meinen Sie dazu, mein guter Zehnkinn?« »Ich stimme dem nicht zu«, knurrte Zehnkinn wütend. »Als mich diese Kreatur dort anlog und mir sagte, daß sie ein Spion des Bildhauers sei, habe ich ihr geglaubt und mich vor meinem ganzen Hof lächerlich gemacht. Ich schlage eine ganz schwere Aufgabe vor. Etwas ganz Besonderes!« »Haben Sie irgendwelche Vorschläge, meine Herren?« fragte Zooborus, der so unparteiisch wie möglich erscheinen wollte. »Ja«, grollte Zehnkinn. »Ich denke an eine Herde von wilden Dreihörnern. Das sind bösartige Biester. Die ursprünglichen Dreihörner wurden von der Kommission durchgelassen. Sie hatten die Tests bestanden, und es waren gerade Duplikate von ihnen angefertigt worden,
damit sie sich im Außengestein vermehren könnten, als die ganze Horde losbrach und in Richtung Untersee verschwand. Als Aufgabe für diesen Jason schlage ich nun vor, daß er die Herde einkreisen und ins Außengestein mitnehmen soll, wo sie eigentlich hingehört. Keine Dreihörner - kein Durchlaß. Haben Sie nicht gerade von Einfachheit gesprochen, mein lieber Mha-kee? Was könnte einfacher sein?« »Aber Dreihörner sind doch Einhörner der Type III. Sie sind ebenso schnell wie bösartig. Die Aufgabe kann also nicht gelöst werden«, gab der Mha-kee zu bedenken. »Das ist ja das Gute daran!« rief Zehnkinn und lächelte zum ersten Mal, seit Jason den Raum betreten hatte. »Ich stimme dem zu«, sagte Zooborus. »Wir sind in letzter Zeit ein bißchen zu milde geworden. Ich bin der Meinung, daß dies eine angemessene Aufgabe ist, denn wie ich sehe, hat diese Kreatur, Jason genannt, sogar Hörner. Es ist in Ordnung. Ich gebe meine Zustimmung.« »Sie sind beide viel zu streng«, zischte Mha-kee zwischen den Zähnen hervor, »aber da hier zwei gegen einen sind, muß ich passen. Dann eben Dreihörner. - Dir, mein lieber Jason, wünsche ich alles Gute, denn du kannst es sicherlich brauchen. Übrigens hat mich ein alter Freund von dir, der Bürgermeister von La-Se-Ha gebeten, dir seine innigsten Wünsche zu überbringen, wenn ich dir jemals wieder begegnen sollte.« »Der Bürgermeister von La-Se-Ha?« »Ja, natürlich erinnerst du dich noch an ihn - ein großes, braunes Tier mit zwei Köpfen.« »Di-Di?« »Ja, ich glaube, so heißt er.« »Aber er hat doch alles drangesetzt, damit die Stadt überschwemmt wurde. Sie waren wütend auf ihn. Sie können ihn doch nicht einfach zum Bürgermeister gewählt haben!« »Doch, das können sie und sie haben es auch getan. Er hat mir von dieser kleinen Störung berichtet. Es sieht so aus, als ob er ihnen am Ende doch einen guten Dienst damit erwiesen hat. Sie haben nämlich unter einer schrecklichen Krankheit gelitten, den Punisls, das sind kleine, schmutzige Schmarotzer, die sich in den Hauswänden festsetzen. Sie erhöhen die Luftfeuchtigkeit, so daß alle am Galoppierenden Punisl-Fieber erkranken. Als der Bürgermeister - ich meine Di-Di - den Dammbruch verursachte, durch den die Stadt überflutet wurde, sahen die Punisls diese Unmengen von Feuchtigkeit und meinten, daß sie es mit einem überlegenen Rivalen
zu tun hätten. Folglich flohen sie Hals über Kopf aus der Stadt, und zwar noch in derselben Nacht. Seit der Zeit, da die Flut zurückgegangen ist, sind die Hauswände immer knochentrocken gewesen, und als Di-Di nach LaSe-Ha zurückkehrte, durfte er den großen Augenblick erleben, daß man ihn dort als Helden feierte. Sie übertrugen ihm das Amt des Bürgermeisters, und ich glaube, er ist jetzt in den Ruhestand getreten und lebt glücklich und zufrieden, führt den Vorsitz bei Banketten, kümmert sich um seine geliebten Wasserknoten und segelt auf dem Langen See herum. Er sagte mir, daß du dir vielleicht seinetwegen Sorgen machen würdest und ich dir alles erzählen soll.« »Ja, ich habe mir leider Sorgen gemacht, obwohl dies offenbar ein bißchen voreilig war!« »Wenn ihr beide ausgequatscht habt, könnten wir vielleicht mal mit der Prüfung beginnen«, dröhnte Lord Zehnkinn. »Na klar«, zischte Mha-kee zurück. »Leb wohl, mein lieber Jason, und wieder einmal könnte ich...« »Nein, Sie können nicht!« rief Zehnkinn, dessen Farbe sich besorgniserregend veränderte. »Raus jetzt, Jason, und an die Arbeit. Zooborus, lassen Sie doch bitte Ihre Kapuzenboys kommen, damit sie ihn in die andere Richtung schubsen.« »Geduld, mein lieber Zehnkinn. Im Testgebiet gibt es keine unnötige Hast, das wissen Sie ganz genau! Jason, du gehst von hier zum Raum darunter, und von dort in der von dir gewünschten Geschwindigkeit weiter, bis du zur Untersee kommst. Diese ist ein riesiges Gebiet im Innengestein, denn es umfaßt das ganze Land unter den Ozeanen. Dort wirst du auf eine Herde von geflüchteten Tieren stoßen, die wir Dreihörner nennen. Du wirst sie ■wieder einfangen und sie zur Brücke zum Außengestein bringen. Dann wirst du zum Schalterbeamten gehen und dir deinen offiziellen Paß nach draußen geben lassen. So, das wär's eigentlich. Ich...« »Könnte ich vielleicht...» »Mehr kann ich dir nicht sagen. Los, geh jetzt und mögen dir die Granits auf deinem Weg leuchten. Leb wohl!« Bei diesen Worten erhoben sich Spiralen-Zooborus, Lord Zehnkinn und der Mha-kee vom Wurzelwald von ihren Sitzen, verbeugten sich dreimal feierlich und zogen sich zurück.
24. Das Tal der Starkherzigen
Für Jason war der Augenblick seiner schwersten Prüfung gekommen. Als er das Gerichtszimmer verließ, wurde er von den Wachen mit den Kapuzenmänteln über eine lange, spiralenförmige Treppe hinab geführt. Als Jason am Ende der Treppe ins Freie hinaustrat, erblickte er eine phantastische Welt mit Bäumen, die wie vielfarbige Säulen aus Fleisch aussahen. Sie waren rosa und blau, mauve und scharlachrot, tiefblau und chromgrün, erdfarben und zinnoberrot. Die Säulen verzweigten sich über seinem Kopf und ragten weit hinein in den leuchtenden Granithimmel. Seine Wächter verschwanden vollkommen geräuschlos, als Jason fasziniert auf die Landschaft hinausstarrte. Als er sich umdrehte, stand er wieder allein da. Es war gespenstisch. Einen Augenblick lang überlegte er sich, ob er sich nun in den Arm stechen sollte und die Bohne, die in seiner Gürteltasche steckte, mit seinem Blut tränken sollte, damit Ludo wieder ins Leben zurückgerufen würde, aber dann hatte er doch das Gefühl, daß es sicherer wäre, zuerst aus dem Umkreis des Zensors zu verschwinden. Also machte er sich auf den Weg zwischen den sich neigenden Säulen hindurch auf eine freie Stelle zu, die er gerade noch in der Ferne sehen konnte. Als er mehrere Stunden gegangen war, wurde das Licht allmählich schwächer. Die Nacht brach an, und Jason suchte Zuflucht am geschwungenen Fuß einer tiefroten Säule. Vollkommen erschöpft, sank er sofort in einen unruhigen, aber tiefen Schlaf. Die weiche Säule seufzte und atmete schwer, so wie das eben Fleischsäulen zu tun pflegen, die sich über etwas freuen, aber da sie ja kein Gesicht hatte, konnte sie nicht herablächeln, wie sie es gerne getan hätte, herablächeln auf die winzige, schlummernde Gestalt, die sich an ihre sanften Rundungen schmiegte. Aber sie war es zufrieden, daß sie einen müden Wanderer ein sicheres und bequemes Nachtlager bieten konnte. Fleischsäulen sind nun einmal so, obwohl das kaum einer wahrhaben will. Bedauerlicherweise können die Normalverbraucher mit einem schönen Körper und schönen Gliedern nur sehr wenig anfangen, wenn kein Kopf dabei ist. Andererseits kann aber ein Gesicht allein oder ein Gesicht mit einem abstoßenden Körper, der dürr und schorfig oder aufgedunsen und fleckig ist, die Welt regieren. Es ist ziemlich ungerecht gegenüber den Fleischsäulen, aber sie können sehr wenig dagegen tun, weil sie ja keine Stimme haben, mit denen sie protestieren könnten. Jason, der von den Problemen, die die Fleischsäule bewegten, nichts ahnte, schlief ziemlich fest bis zum nächsten Morgen. Als er erwachte, war
es schon heller Tag. Er richtete sich auf, rieb sich die Augen und hatte das unbestimmte Gefühl, daß er nicht allein war, aber er sah niemanden. Der einzige Gegenstand, den er vorher noch nicht bemerkt hatte, war eine große, gewellte Muschel, die ungefähr drei Meter von ihm entfernt im Boden stak. Aber die Muschel bewegte sich nicht und gab kein Lebenszeichen von sich. »Wirst du mich auch immer lieben?« fragte eine leise, klingende Stimme. »Werde ich was?« »Wirst du mich auch immer liebhaben?« wiederholte die Stimme. »Wer bist du?« fragte Jason verschlafen. Weit und breit s; er nur die Landschaft mit den vielfarbigen Säulen, kein Lebewesen war in Sicht. »Ich bin nur ein einfacher Zottelkopf, aber sag bitte, daß du mich liebst!« »Aber ich kenne dich ja nicht einmal!« »Wenn das der Fall wäre, würdest du mich verachten. Deswegen sollst du jetzt sagen, daß du mich liebst, bevor es zu spät ist. Bitte, bitte...« »Wer bist denn du? Ich kann dich ja gar nicht sehen!« »Versprich mir, daß du nicht lachst, dann komme ich heraus.« »Natürlich nicht.« »Versprich es!« »Ich verspreche es.« Jason hörte ein schwaches Knacken hinter sich. Kaum drehte er sich um, sah er, wie sich von der zerbrechlichen rosafarbenen, kegelförmigen Muschel der Deckel hob. Also war der Gegenstand, den er kurz zuvor bemerkt hatte, doch ein Lebewesen. Es sah wie eine überwachsene Eistüte aus, nur daß dort, wo die Eiskugeln zu sein pflegten, jetzt ein trauriges Gesichtchen auftauchte. Je weiter der Deckel aufklappte, desto mehr wurde nach und nach auch ein schlanker Hals und ein Paar spindeldürre Ärmchen sichtbar. Die Gestalt zuckte hilflos mit den Achseln, während sich das Gesichtchen zu einem traurigen, müden Lächeln verzog. »Ich bin ein Versager, ein mißgebildeter Versager. Sie haben mir eine ganz leichte Prüfungsaufgabe gestellt, aber ich bin trotzdem durchgefallen. Und nun stecke ich hier auf immer und ewig. Wirst du mir helfen?« »Worin bestand denn deine Prüfung?« »Das ist es ja - ich kann mich nicht mehr erinnern. Ich bin ziemlich langsam und komme nur etwa 10 Zentimeter im Jahr voran. Als ich hier anlangte, hatte ich meine
Prüfungsaufgabe dann schließlich vergessen. Ich bin ein hoffnungsloser Fall. Sag, daß du mich liebst, dann können wir hier zusammenleben und uns gegenseitig verletzen.« »Verletzen? Ich dachte, daß man zu denen, die einen lieben, freundlich sein sollte?« »Ach nein, die Leute, zu denen du freundlich sein mußt, damit sie dich überhaupt beachten, scheren sich überhaupt nicht um dich. Du kannst es dir wirklich nur leisten, die zu verletzen, die dich wirklich lieben. Es sind die einzigen, die sich das gefallen lassen und trotzdem bei dir bleiben.« »Also lohnt es sich, viele Feinde zu haben?« fragte Jason sarkastisch. »Nur, wenn man immer einen höflichen Umgang mit den anderen Kreaturen pflegen will. Aber ein ausgesucht höflicher Umgang wird mit der Zeit sehr langweilig.« »Tut mir furchtbar leid, du mußt schon entschuldigen, aber ich muß jetzt gehen, ich habe noch eine Aufgabe ...« »Siehst du, und schon verachtest du mich. Habe ich es nicht gleich gesagt?« »Ich verstehe dich nicht. Obwohl du eine komische Einstellung zur Liebe hast, verachte ich dich trotzdem nicht.« »Und du hast es mir doch so hoch und heilig versprochen«, wimmerte der Zottelkopf und raufte sich dabei seine langen, zotteligen Haare. »Ich habe dir versprochen, dich nicht auszulachen, und ich habe mein Versprechen gehalten.« »Nein, das hast du eben nicht! Du hast behauptet, daß meine Ansichten komisch seien. Das ist verbales Auslachen, und das weißt du auch ganz genau!« »So langsam verwirrst du mich völlig«, sagte Jason erschöpft. Er stand auf und streckte sich. »Mir macht es nichts aus, wenn du mich verwirrst«, flüsterte der verzweifelte Zottelkopf, »und wenn du mir eben nur sagen würdest, daß du mich liebst, kannst du mich auch gerne verletzen.« »Aber ich will dich doch gar nicht verletzen! Es verstößt gegen meine Prinzipien, jemanden zu verletzen. Nur wenn ich mich selbst verteidigen muß, greife ich zu diesem Mittel. Und auch dann genieße ich es nicht.« »Prinzipien? Sag mir bloß nicht, daß du etwa Prinzipien hast! Das ist ja furchtbar!« »Natürlich habe ich Prinzipien. Wir müssen doch ein paar allgemeine Grundsätze haben, nach denen wir uns richten können.«
»Nein, das ist völlig falsch. Mein alter Muschelmacher hat mir immer gesagt, daß ich keine allgemeinen Grundsätze haben sollte: >Sie verderben dich nur und machen dich unbesonnen und rücksichtslose Siehst du, wenn du sie erst einmal hast, mußt du sie auch anwenden, auch wenn sie dir gar nicht passen. Die Prinzipien ermöglichen es, daß die Intelligenten einen leicht verblödeten und die Dummen einen halbwegs intelligenten Eindruck machen. Die Prinzipien ebnen alle Gegensätze ein, was natürlich den Dummköpfen zugute kommt, die ja ohnehin in der Mehrzahl sind und das Sagen haben. Jeder ist in seinen Prinzipien gefangen und behandelt die Probleme nicht mehr gesondert, wie es eigentlich erforderlich wäre.« »Wenn du so schlau bist«, fuhr ihn Jason an, dem dieses lächerliche Geschöpf mit dem rosafarbenen Schneckenhaus allmählich ziemlich auf den Geist ging, »warum siehst du dich dann als einen solchen Versager an?« »Nur ein Versager hat den richtigen Blick für diese Dinge. Nur er versteht, warum etwas schiefgeht. Was wissen schon die Erfolgreichen vom Leben? Sie leben eben nur so vor sich hin. Sie machen keine Pause, um nachzudenken, sie sind zu sehr beschäftigt mit ihrem Erfolg. Man kann die Dinge nur klar sehen, wenn man am Boden zerstört ist, wie das zum Beispiel bei mir im Moment der Fall ist.« »Langsam werde ich auch trübsinnig«, gab ihm Jason zu verstehen. »Ach wirklich? Wie schön. Vielleicht verliebst du dich dann doch noch in mich. Dann könnten wir uns nach Herzenslust in unserer kleinen Liebesmuschel verletzen.« »Nein danke. Ich muß jetzt gehen.« »Ich bring' mich um, wenn du weggehst!« »Reine Erpressung!« »Lecker, was? Tut es schon ein bißchen weh?« »Wenn du jetzt nicht gleich mit diesem Quatsch aufhörst, mache ich dir persönlich den Garaus!« »Oh, wie wunderbar! Nun willst du mir also wirklich weh tun. Nur weiter so! Ich hebe das!« »Du bist abscheulich!« »O wie wunderbar, ganz toll! Mein Haus ist erfüllt von einer Agonie der Lust!« Als Jason einsah, daß er am Ende seiner Beherrschung war, ging er auf das unselige Geschöpf zu und packte den Deckel des Schneckenhauses. Mit der einen Hand drückte er Zottels Kopf hinein und stülpte mit der
anderen die harte, runde Scheibe darüber. Aus dem Inneren des Kegels drangen gedämpfte Lustschreie nach draußen, die sogar noch intensiver wurden, als Jason dem Deckel einen letzten Schlag mit der Faust versetzte. Als er wütend davoneilte, hörte er, wie ihm die schwache, hell klingende Stimme nachrief: »Ich danke dir! Vielen Dank, das war wunderschön! Du hast mich entsetzlich verletzt. Nun weiß ich, daß du mich wirklich liebst! Gibt es irgendetwas, womit ich es dir vergelten kann?« Jason blieb stehen und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Der elende Zottelkopf hatte ihn so aggressiv gemacht, daß er darüber beinahe seine Prüfung vergessen hätte. »Ja«, sagte er und wandte sich dabei zögernd um, »du könntest mir sagen, wo die Untersee ist. Wie komm' ich dorthin?« »Immer geradeaus weiter auf dem Weg, den du bereits eingeschlagen hast. Du kannst sie eigentlich nicht verfehlen. Du mußt das Tal der Starkherzigen durchqueren und durch Eupollois Tunnel hindurch. Aber willst du nicht lieber hierbleiben: Als zwei Versager könnten wir uns gegenseitig stützen! Wir Versager haben sehr viel mehr Spaß am Leben als die Erfolgreichen. Wir können Mitleid miteinander haben, uns gegenseitig unsere Sorgen anvertrauen und unser Unglück teilen. Es ist wirklich sehr schön, wenn man sich an den Gedanken gewöhnt hat, ein Versager zu sein. Wenn man erfolgreich ist, wird man sehr einsam. Außerdem ist es sehr gefährlich. Wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich es sein lassen. Bleib lieber hier und sag mir, daß du mich immer lieben wirst.« »Von hier bin ich gekommen«, stellte Jason fest. »Lebwohl und vielen Dank auch für die erschöpfende Auskunft.« »Ach, nun versuchst du nur wieder, höflich zu sein. Ich wußte es ja, daß unsere Liebe nicht lange dauern würde. Ich bin eben ein hoffnungsloser Fall. Hilflos und hoffnungslos. Ich glaube, daß ich mir eine schreckliche Krankheit zulegen muß. Vielleicht kommt dann jemand vorbei, der mich pflegt. Gepflegt werden ist beinahe genauso gut wie geliebt zu werden, wenn man sich erst einmal an die Vorstellung gewöhnt hat. Ich kann mich ziemlich gut an etwas gewöhnen. He - wo bist du denn? Wohin bist du denn verschwunden? Komm zurück, ich bin noch nicht fertig! Ich muß mich noch bei dir beschweren. Willst du dir nicht anhören, was ich gegen dich vorzubringen habe?«
Aber Jason war bereits außer Hörweite, und der elende Zottelkopf versank wieder stöhnend in seiner zerbrechlichen, rosafarbenen Muschel und wartete auf sein nächstes Opfer. Die Landschaft veränderte sich zusehends, als Jason zwischen den schwungvoll sich wölbenden Fleischsäulen durchging. Vor ihm begann sich das Land immer mehr zu senken, bis sich schließlich eine jähe Felsschlucht vor ihm auftat. Er rutschte aus und rollte wie ein angestoßener Ball den Abhang hinunter, wobei er sich ständig überschlug und immer schneller wurde. Er landete in einem tiefen Tal zu Füßen einer Gruppe von überraschten Gestalten, die gerade dabei waren, mit großem Kraftaufwand einen großen, glatten Felsblock abzuwaschen. »Hallo, hallo«, begrüßte ihn der Größte in der Gruppe. »Was ham wir denn do? Gehörst etwa a zurrt Klub?« Bei den Gestalten, die Jason erblickte, handelte es sich um vierschrötige Geschöpfe ohne Hals. Ihre Haut hatte die Farbe einer Speckschwarte, und ihre Beine waren gerade und stämmig. Als Jason sah, daß ihnen die Herzen auf kurzen Stielen aus dem Körper wuchsen, begriff er, daß er bereits im Tal der Starkherzigen sein mußte. »Ich bin von dort heruntergefallen«, sagte er ächzend, denn beim Aufstehen hatte er starke Schmerzen. »Das tun sie doch alle«, brüllte der größte Starkherzige, und seine Kameraden begannen schallend zu lachen. Dabei schlugen sie sich gegenseitig auf den breiten Rücken und boxten sich spielerisch an die Stirn. »Ist dir dein Herz ind' Hosentaschen g'rutscht?« »Nein, ich bin nur außer Atem«, sagte Jason. »Wo ist dann dein Herz? Ich hab' den Eindruck, daß es heruntergerutscht ist«, fauchte der große Starkherzige, der auf einmal ganz ernst wurde und nicht mehr in seiner seltsamen Mundart sprach. »Heruntergerutscht? Aber wohin denn? Mein Herz ist in meinem Brustkorb, wo es auch hingehört. Es ist eben nicht am Körper außen wie eure Herzen.« »Ho-ho-ho, wir haben es hier offenbar mit einem Witzbold zu tun. Nein, der ist wirklich kein Klubmitglied und herzlos obendrein!« Bei diesen Worten fingen sie wieder an, wie die Blöden zu lachen. »Bitte, bin ich hier auf dem richtigen Weg zur Untersee?« fragte Jason so höflich wie möglich.
»Ja, mein alter Seebär. Aber bleib doch noch ein Weilchen, dann montieren wir dir ein Herz auf die Brust - das haben wir im Handumdrehen gemacht - dann fühlst du dich nicht mehr so fremd hier. Was meinst du dazu?« »Ich ... ich ... Warum wascht ihr eigentlich den Felsen dort?« erwiderte Jason, der die Art und Weise nicht mochte, wie sie sich um ihn herumscharten, die Ellbogen dabei auf die Schultern der anderen aufstützten, sich die Lippen leckten und ihn dabei erwartungsvoll angrinsten. »Wir müssen ihn eben blitzblank halten, wir wollen hier alles ganz sauber haben. Sieh dir mal das Gras an, kein Halm über einen Zentimeter lang - kein einziger Halm im ganzen Tal! Ist das Ordnung oder ist das etwa keine Ordnung? Wir gönnen uns hier keine Ruhe. Stehen jeden Morgen mit den Granits auf. Schnipp, schnipp, schnipp. Ein herrliches Leben. Du wirst dich hier gewiß wohl fühlen. - Aber um nochmals auf dein Herz zurückzukommen: Wir ziehen's dir raus, damit wir's alle sehen können. Ihr beide dort, haltet ihn dabei fest!« »Hört doch auf damit!« schrie Jason. »Ja, was soll denn das!« brüllte der große Starkherzige. »Was soll denn das bedeuten? Du willst dich wohl drücken? Willst nicht einer von den Unsrigen sein. Das wollen wir doch gleich mal sehen!« Er spuckte sich in seine haarigen Hände, rieb sie mit Nachdruck und blinzelte dabei seinen grinsenden Kameraden zu. Sie hielten Jason an den Armen fest, so daß jede Gegenwehr zwecklos war. Aber als der Vierschrötige mit ausgestreckten Armen und klobigen Händen auf ihn zuging, holte Jason mit beiden Beinen aus und stieß den großen Starkherzigen gegen die Brust. Der Starkherzige heulte vor Wut auf und torkelte zurück. Grunzend und schnaubend ließ er sich auf dem ordentlich geschnittenen Gras nieder. Sein entblößtes Herz begann wild zu schlagen und verfärbte sich tiefrot. Die Herzen der anderen begannen sich gleichfalls zu verfärben, und das Grinsen verschwand sehr schnell von den amboßartigen Gesichtern. »Dieser kleine Mistkerl«, knurrte der große Starkherzige. »Ich habe gute Lust, ihm die Hörner auszureißen, ihn zu skalpieren und bei lebendigem Leib zu häuten. Packt ihn, ihr Kerle, und bringt ihn in den Klubraum. Wir besorgen's ihm!« Unter Absingen eines herzhaften Liedes trugen sie den sich windenden Jason auf ihren Schultern zu einer kleinen Hütte am anderen Ende des
tadellos geschnittenen Rasens. Als sie drinnen angekommen waren, warfen sie Jason in eine Ecke und berieten sich dann in aller Eile, in einem engen Kreis zusammensitzend, wobei sich ihre amboßförmigen Köpfe beinahe berührten. Der große Starkherzige richtete sich plötzlich auf und schwankte zu Jason hinüber. Verächtlich spuckte er vor ihm aus. »Wir wollen hier keine Unruhestifter, sonst kommt der Klub in Verruf. Wie sollen wir eigentlich rauskriegen, was du denkst und fühlst, wenn du nicht dein Herz auf der Brust trägst wie wir anderen auch? Wie können wir überhaupt sehen, daß du zu uns gehörst, die gleichen Außenseiter haßt und die gleichen Ideen verhöhnst? Beantworte mir meine Fragen, wenn du kannst! Vielleicht bist du auch ein Schurke mit einem schwarzen Herzen, und wir wissen's nur nicht!« »Ich bin«, schrie Jason, der krampfhaft nach etwas suchte, das ihm helfen würde, diesen abscheulichen Kreaturen zu entfliehen. »Ja, das ist genau das, was ich habe: ein schwarzes Herz. Also hört mal, ihr wollt doch nicht den ganzen Tag lang ein schwarzes Herz sehen, das vor euren Augen klopft, oder? Und mein Herz ist zu allem Übel hin auch noch groß - ein großes, schwarzes, klopfendes Herz. Huh! Ihr müßtet ja eure Herzen verhüllen, weil ihr euch schämen würdet, wenn ihr sie neben meinem Herzen zur Schau stellen müßtet. Aber nun laßt ihr mich besser wieder gehen, sonst reiße ich euch eure Herzen vom Leib - diese lächerlichen, kleinen Gelatinebeutel. So, das wollte ich euch noch sagen! Und nun, Pfoten weg von mir, ich bin nämlich gefährlich!« »Hast du auch wirklich ein schwarzes Herz?« keuchte der große Starkherzige. »Ich kann es nicht glauben!« Daraufhin berieten sie sich wieder in aller Eile. »Wenn du wirklich das bist, als was du dich ausgibst, wollen wir dich nicht in diesem Klub haben. Je eher du das Tal wieder verläßt, desto besser. Aber bevor du gehst, haben wir noch eine kleine Überraschung für dich. Los, meine Freunde, packt ihn!« Sie stürzten sich auf Jason, der im Nu unter einem wilden Haufen von schweren Körpern begraben war. »Die Schere!« schrie jemand. »Bringt die Schere!« Jason fühlte, wie die Luft aus ihm herausgepreßt wurde, als sie ihn immer fester nach unten drückten. Es war ihm zumute wie einem, den man in einen Koffer packen wollte, dessen Deckel nicht zuging. Er bog den Kopf zurück und hörte einen Schrei, als sich seine Hörner in ein
Muskelpaket bohrten. Jason spürte noch, wie ihn eine Faust mitten ins Gesicht traf, ehe er in Ohnmacht fiel. Als er wieder zu sich kam, tat ihm alles weh. Er versuchte, sich auf seinen Ellbogen aufzustützen und sank dabei in etwas Weiches. Es bedeckte sein Gesicht, und er rollte wieder vorsichtig auf seinen Rücken, um nach Luft schnappen zu können. Als er sich dann langsam und vorsichtig aufsetzte, stellte er fest, daß er auf einem Abfallhaufen lag, der zum größten Teil aus abgeschnittenen Grasspitzen und alten Lumpen bestand, die vom vielen Felsenwaschen fadenscheinig geworden waren und die man am Ende des Tales aufgehäuft hatte. Jason blickte an seinem schmerzenden Körper herab und stellte fest, daß das Pelzkleid, das ihm der Bildhauer gegeben hatte, verschwunden war. Die Starkherzigen hatten ihn einfach kahlgeschoren. Abgesehen von den Hörnern, die er offenbar immer noch hatte, war nun Jason wieder sein altes, unbehaartes Ich. Er konnte sein Glück kaum fassen. Zwar litt er unter großen Schmerzen und fühlte sich steif und zerschunden, aber abgesehen davon und außerdem einem Schädelbrummen, war er besser dran als zuvor. In ihrer dummen, brutalen Art waren die Starkherzigen sogar noch größere Versager als der alberne Zottelkopf. Er hätte beinahe laut herausgelacht, als er merkte, daß etwas nicht stimmte: Sein Gürtel und die Gürteltasche mit ihrem kostbaren Inhalt waren nicht mehr da! Jason zog sich einen großen, zerknitterten Fetzen heraus und wickelte sich darin ein. Dann erhob er sich unsicher. In der Ferne konnte er die Starkherzigen sehen, wie sie auf dem frisch gemähten Rasen Gymnastik machten und wieder eifrig einen der großen Felsblöcke schrubbten, der im Talesgrund herumlag. »Mein Gürtel«, keuchte Jason, »sie haben meinen Gürtel mitgenommen.« Verzweifelt begann er im Abfallhaufen herumzusuchen. Schließlich fand er seinen Gürtel, der achtlos dort hingeworfen worden war. Aber als er die Gürtelschnalle öffnete, war er völlig entgeistert: Die Kristalle, die er in der rosafarbenen Wüste aufgelesen hatte, und das goldene Halsband mit den nachgemachten Goldenen Würmern waren verschwunden. Der große Kieselstein, den er sich von Di-Di eingehandelt hatte, als sie auf dem Fluß nach La-Se-Ha fuhren, war immer noch dort, da offenbar die Starkherzigen ihn als wertlos betrachtet hatten. Als er ihn herausnahm, kam darunter auch zu seiner großen Erleichterung der winzige Gegenstand zum Vorschein, nach dem er gesucht hatte: die kleine
braune Bohne, die Ludo war. Er steckte sie vorsichtig wieder in die Tasche zurück, ließ sie zuschnappen und legte den Gürtel um. Er hielt noch den Kiesel in der Hand und wollte ihn schon wegwerfen, als ihm die Schatulle einfiel - die Schatulle mit den echten Goldenen Würmern. Sie war ebenfalls verschwunden. • Er hatte sie immer ganz sorgsam hinter seinen Gürtel geklemmt, und nun hatten diese grotesken und dummen Starkherzigen sie ihm gestohlen! Er kochte vor Wut und umklamerte Di-Dis Stein, den er in der Hand hielt, umso fester. Er ging auf die Gruppen von Starkherzigen zu, die auf dem Rasen mit ihren gymnastischen Übungen beschäftigt waren, und schrie sie zornig an: »Ihr ungehobelten, behaarten Idioten, gebt mir die Schachtel oder ich jage euch jetzt dann gleich in die Luft!« Sie hielten inne und sahen ihn an. Sie fingen über die armselige nackte Gestalt an zu lachen, die auf sie zukam, mit dem Lendenschurz aus Fetzen, der notdürftig durch den Gürtel zusammengehalten wurde. Jason hatte den rechten Arm schon erhoben, als ob er jetzt dann gleich zum Wurf ausholen würde. »Ho, ho, ho, du willst uns also in die Luft jagen? Und mit was denn, wenn ich fragen darf?« Der große Starkherzige grinste Jason verächtlich an und sprang auf. »Mit diesem magischen Kieselstein«, rief Jason. »Ihr Idioten, habt ihr denn gar nicht gemerkt, daß dies eine Bombe ist? Nein, ihr seid ja zu blöd, ihr habt ihn einfach weggeworfen. Gebt mir nun die Schatulle zurück, oder ich zerstöre das ganze Tal und brenne ein großes Loch in euren albernen, nutzlosen Rasen. Danach wird er dann nicht mehr so ordentlich aussehen, das verspreche ich euch!« »Hier ist dein Schächtelchen, du armer kleiner, schwarzhaariger Nackedei«, neckte ihn der große Starkherzige. »Komm und hol's dir, du kleines gerupftes Hühnchen. Gluck, gluck, gluck.« Der Starkherzige, der inzwischen zur Hütte gegangen war, warf die Schachtel durchs offene Fenster. Jasons Trick hatte sich als Fehlschlag erwiesen. Die Gegenseite reagierte völlig ungerührt auf seinen Bluff. Er konnte sich glücklich wähnen, wenn er dieses Mal mit dem Leben davonkam. Aber wenn er jetzt gleich davonrannte, gelangte er vielleicht noch ans Ende des Tales, bevor sie ihn einholten. Die Goldenen Würmer würden für immer verloren sein, es gab nichts, was er dafür noch tun konnte. Aber wenigstens blieb ihm Ludo. Jason zielte mit dem Stein direkt auf den großen Starkherzigen.
»Nun gut, ihr habt es ja so gewollt!« rief Jason und warf den Stein, so weit er konnte. Sobald der Stein durch die Luft flog, machte Jason kehrt und rannte davon. Hinter sich hörte er noch das Gelächter der Starkherzigen und dann - zu seiner großen Überraschung - den Knall einer gewaltigen Explosion, die ihn durch die Luft wirbelte, so daß er schließlich wieder auf dem Abfallhaufen am Ende des Tals landete. Als Jason sich mühsam wieder aufrichtete, war er immer noch halb benommen. Mit Erstaunen sah er, daß sich seine Prophezeiung erfüllt hatte. Di-Dis Stein war seinem Ruf gerecht geworden. Es war wirklich ein ganz besonderer Stein gewesen - eben einer von der Art, mit dem man Dämme zum Bersten brachte. Jason sah nun auch den augenfälligen Beweis vor sich: ein riesiges, gähnendes Loch, wo noch vor kurzem ein ordentlich gemähter Rasen gewesen war. Überall lagen die gebrochenen Starkherzigen herum. Jason ging zwischen ihnen hindurch und betrat die kleine Hütte durch ihre ehemalige Seitenwand, die nun offen war. Vom Gebäude war kaum mehr übrig als ein Gerüst von geborstenen Balken, und auf dem Boden, der mit Kies bestreut war, konnte Jason den goldenen Schimmer sehen, der seine Aufmerksamkeit schon draußen erregt hatte. Er rührte von der Schachtel her, aber als Jason die zerbrochenen Balken weggeräumt hatte, die noch aufeinanderlagen, mußte er zu seinem großen Entsetzen feststellen, daß die Schachtel durch die Explosion aufgerissen worden und nun leer war. Mit dem Fuß schob Jason die Trümmer beiseite, die auf dem unebenen Boden herumlagen, um nach den Würmern zu suchen, die die Explosion vielleicht überlebt hatten. In einer dunklen Ecke, zwischen ein paar verstreuten Stangen, fand er einen. Mit zitternden Fingern steckte er ihn vorsichtig in seine Tasche. Er suchte noch lange weiter, wobei er beinahe jedes Holzstückchen nach allen Seiten wendete, aber es war vergebens. Die anderen Würmer blieben verschwunden, ohne eine Spur zu hinterlassen. Zuletzt gab er seine Suche blutenden Herzens auf. Als Jason wieder draußen war, sah er, wie die benommenen Starkherzigen versuchten, sich aufzurichten und sich dann gegenseitig trösteten. Ihre Stielherzen klopften dabei heftig. Jason ging ungerührt an ihnen vorbei, ihr Stöhnen ließ ihn völlig kalt. Auf dem Weg zum Ende des Tals pfiff er vor sich hin, um sich bei guter Laune zu halten. Aber eigentlich machte ihn das Chaos, das der Stein verursacht hatte, ziemlich krank. Es war nur ein schwacher Trost, daß Di-Di sagen würde, es sei das
Beste für die Starkherzigen gewesen, weil ihnen diese Störung für Wochen Gesprächsstoff und Ausbesserungsarbeiten an ihrem Rasen geben würde. Jason hingegen konnte dieser Gedanke kaum trösten. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie zurückzulassen und sich auf den Weg zu Eupollois Tunnel zu machen. Trotz allem gab er die Hoffnung nicht auf, daß ein einziger Goldener Wurm genügen würde, um das verrückte Großmaul vor dem Untergang zu bewahren.
25. Der Tunnel von Eupolloi Da es offenbar nur einen Weg gab, der aus dem Tal herausführte, mußte sich Jason nicht lange überlegen, welche Richtung er einzuschlagen hatte. Der Weg wurde immer abschüssiger und die Abhänge auf beiden Seiten immer steiler, bis es schließlich nur noch senkrechte Wände waren, die ihn einkeilten. Allmählich begannen sich dann die Wände zu wölben. Unversehens gelangte Jason in einen hohen, schlitzförmigen Tunnel. Um ihn herum wurde es immer dunkler, so daß er jeden Schritt vorsichtig abwägen mußte. Als es schließlich stockfinster wurde, mußte er sich seinen Weg Zentimeter um Zentimeter an den Wänden ertasten, die er zu beiden Seiten mit den ausgestreckten Händen berührte. Nach ungefähr zehn Minuten, in denen er nur mit äußerster Mühe vorangekommen war, wollte er schon aufgeben, als er mit einem Schlag gegen etwas stieß, das den Tunnel vor ihm blockierte. Er tastete es vorsichtig ab und stellte fest, daß es sich um einen flachen, harten Gegenstand handelte, der sich kalt anfühlte. Jason kam zu dem Schluß, daß es eine Tür sein mußte. Aber er konnte weder ein Schloß noch eine Türklinke ausfindig machen. Also trommelte er mit seinen Fäusten dagegen. Die Schläge hallten gespenstisch im Tunnel wider, der hinter ihm lag. Vor seinen Augen wurde geräuschlos ein Riegel zur Seite geschoben, so daß er einen schmalen Schlitz freigab, und dann ebenso leise wieder vorgeschoben. Nur kurze Zeit später wurde die Tür nach innen geöffnet. Jason ging vorsichtig hinein. »Wer hat dich hierhergeschickt?« krächzte eine tiefe, keuchende Stimme.
»Zooborus«, antwortete Jason, der nicht so recht wußte, ob er das Richtige gesagt hatte. »Hör mal, Haut-Baby, dieser schalenlose Halsabschneider kann doch unmöglich seinen eigenen Schatten hierher schicken. Du mußt's also mit der anderen Version versuchen. Also, wer hat dir von diesem Ort erzählt?« »O ja, äh ... ja... es ... äh... ein gewisser Zottelkopf, ja, so hieß er. Dort drüben, auf der anderen Seite des Tals.« »Gut, das klingt schon glaubhafter. Nun könnt ihr sie ihm öffnen.« Bei diesen Worten stieß eine unsichtbare Hand eine Tür im Inneren auf. Jason wurde von dem grellen Licht, das ihm entgegenflutete, geblendet. Weil er die Hand schützend vor die Augen hielt, stolperte er beim Betreten des nächsten Raums und fiel hin. Es blieb ihm gerade noch Zeit zu der Beobachtung, daß er auf einer weichen, pelzigen Rutschbahn nach unten sauste. Wilde Musik erfüllte den Raum. Überall leuchteten und blitzten Lichter auf. Als er sich an das Licht gewöhnt hatte, erblickte er eine langgezogene, hellerleuchtete Höhle, die bunt ausgeschmückt und mit rosafarbenen und gelben Rauchwolken erfüllt war. Überall waren Löcher und Tunnel, die sich nach allen Richtungen verzweigten. Gruppen von tanzenden, hüpfenden und sich wiegenden Figuren glitten an den merkwürdigen Gängen aus und ein wie Hasen in einem riesigen unterirdischen Bau. Bevor er überhaupt wußte, wie ihm geschah, wurde Jason in die Menge hineingezogen und im Kreis herumgewirbelt. Er wurde vom einen zum anderen gereicht und wiegte und drehte sich im Rhythmus der ohrenbetäubenden Musik. Als er schließlich am anderen Ende der Höhle anlangte, war er ziemlich erschöpft. Dort wurde er mit dem Kopf voran in eine Röhre gesteckt, in deren Innern Jason feststellte, daß die weichen, gummiartigen Wände im gleichen Rhythmus vibrierten und daß er langsam weitergeschoben wurde. Als Jason weiterglitt und dabei gegen die pochenden Läppchen der Röhre stieß, bemerkte er auch, daß sich die Beschaffenheit der Wände ständig veränderte. Der Gummi wechselte zu rissigem Leder, zu glatter Seide, zu daunenartigen Federn und schließlich zu fließendem Haar. Im wohligen Gefühl, daß ihm diese ganz besondere Form des Reisens nicht weh tat, begann er sich zu entspannen und die wechselnden Sinneseindrücke zu genießen, bis er plötzlich in eine Grube hinabgestoßen wurde und in einem runden Nest aus weicher, cremiger Wolle landete. Das Nest begann sich zu drehen, zuerst langsam und dann immer schneller.
Schließlich wurde er aus der lockeren Wollmasse herausgeschleudert und auf ein riesiges Bett mit Samtpolstern geworfen. »Wie gefällt dir das Herumwirbeln, Haut-Baby?« krächzte eine tiefe Stimme, die der an der Eingangstür ähnelte. Als Jason aufblickte, sah er, daß der Sprecher gut einen Meter über ihm in der Luft schwebte. »Es war... es war ganz angenehm - was es auch immer sein mochte - es war wirklich sehr angenehm«, gab Jason zu und atmete schwer, »aber wie... wie bringst du es eigentlich fertig, dort oben frei herumzuschweben? Und wer bist du denn überhaupt - doch nicht etwa Eupolloi?« »Doch - und ich bin ein Drifter.« »Aber ich kann mir nicht denken, wie...« »Bitte nicht denken, Haut-Baby. Wir pflegen das hier nicht zu tun. Nie, nie, nie. Es ist schlecht für die Haut - davon bekommt man nur Pickel. Nein, wir fühlen hier nur, verstehst du, fühlen, Haut-Baby, das ist unser Lebensstil, berühren und fühlen. Das ist die richtige Art zu leben.« »Aber wie kannst du denn überhaupt etwas spüren, wenn du darüber schwebst? Du berührst ja nur Luft.« »Ich bezwecke damit, die Nervenspitzen in frischem und freiem Zustand zu erhalten, und wenn ich dann wirklich etwas berühre -das ist dann echt geil!« »Können das eigentlich alle? Kann ich auch dort oben herumschweben?« »Es ist kinderleicht. Du mußt nur tun, was ich dir sage. Fertig? Also: Halte dir die Nase zu, schließe den Mund und die Augen, wackle mit den Ohren und zieh deinen Bauch ein. Wichtig ist, daß du alles gleichzeitig tust. Also, los! Fester, fester - du mußt die Augen wirklich ganz fest schließen. Gut so. Und nun mußt du blasen, versuche deine Nase aufzublasen, aber du mußt sie dabei ganz fest halten, zuhalten, du mußt fester blasen, viel fester, und noch viel fester! Fühlst du jetzt, wie deine Ohren zerplatzen, du fängst jetzt an zu steigen, aber mach die Augen ja nicht auf, kneife die Lider zusammen, bis dir die Tränen kommen. Ja, so ist's richtig. Laß deinen Kopf herumrollen, immer weiter im Kreis, er muß wie ein Ball auf deinem Hals herumrollen, zieh deinen Bauch ein, mach ihn flacher, blasen, Haut-Baby, blasen! In Ordnung. Du kannst dich nun entspannen. Ja, so ist's recht. Entspannen! Nun kannst du einen ganz kurzen Blick wagen.« »Ich schwebe ja!« rief Jason. »Ich schwebe - ich kann es kaum fassen!«
»Einfach, was?« fragte ihn Eupolloi grinsend und wälzte sich dabei genüßlich in der Luft herum. Jason versuchte es ihm gleichzutun. Das ungewohnte, wohlige Gefühl, das er dabei empfand, ließ ihn vor Lust auflachen. »Wie wär's mit einer Reise?« fragte Eupolloi. »Ich brauche dringend einen Druckausgleich. Wo willst du hin? Vielleicht etwas zum Schweben?« »Ja. Wie wär's mit der Untersee?« »Na so was!« entfuhr es Eupolloi, seine glatte, weiche Haut fing bei dem Gedanken zu glühen an. »Eine riskante Sache. Willst du nicht lieber durch die Ölrohre gleiten oder in den Reishaufen herumwühlen?« »Ach - nein - ich glaube, daß mir die Untersee genügt. Ich möchte einmal mit einer Herde von wilden Dreihörnern in Berührung kommen.« »Du willst dich mit einer Herde von daherdonnernden Dreihörnern herumbalgen? Ich glaube, deine Birne ist ein bißchen weich geworden, Haut-Baby! Hast du vielleicht einen Unfall gehabt und dabei ein bißchen von deinem Gehirn verspritzt?« »Nun, ich muß zugeben, daß ich draußen im Tal eine Auseinandersetzung mit ein paar Starkherzigen hatte, aber...« »Ach, mit diesen rasenmähenden Flegeln und aufschneiderischen Frühaufstehern. Sag mal, warum fliegen wir eigentlich nicht dorthin und wälzen uns auf ihrem Rasen?« »Ich glaube nicht, daß davon noch sehr viel übrig ist, ich habe ihn nämlich in die Luft gejagt.« »Ach, du meine Güte, du redest ja wie im Fieber!« Nach dieser Feststellung wirbelte Eupolloi wieder in der Luft herum, wobei er seinen weichen und rundlichen Körper elegant drehte und wendete. »Entschuldige die Frage, aber du scheinst ja weder Arme noch Beine zu haben, nur irgendwelche Fleischlappen. War das schon immer so, oder veränderst du dich, wenn du auf dem Boden bist?« »Aber natürlich! Wofür hältst du mich eigentlich? Klar kann ich wie die anderen aussehen, wenn ich will. Aber ich lasse mich derzeit kaum einmal nieder, nur ab und zu, wenn mir nach einer Hautorgie ist. Meistens treibe ich mich hier oben rum. Es ist die einzig wahre Fortbewegungsart, aber du wirst es ja noch selbst sehen.« Und damit schwebte er durch eine ovalförmige Öffnung in der weichen Decke davon. Jason folgte ihm mit einer Leichtigkeit, die ihn selbst verwunderte.
»Du, sag mal, ich hab' eine großartige Idee«, sagte Eupolloi plötzlich. Er schwebte jetzt in einer geräumigen Höhle, die vor ihnen klaffte. »Laß uns diese Dreihorn-Geschichte vergessen und dafür lieber einen Spukausflug machen.« »Wo sollen wir denn herumspuken?« »In den Häusern natürlich. Jetzt hör mal gut zu. Wir schweben hier raus und besteigen das große Dach. Es ist zwar streng verboten, aber wen juckt's schon? Dort oben stoßen Innengestein und Außengestein zusammen, dort gibt es Tausende von alten Steinhäusern, durch deren Wände wir gleiten können. Du wirst sehen, es wird dir Spaß machen. Und wenn wir so ein Nervenbündel im Außengestein ausfindig machen, heulen und stöhnen wir und sehen zu, wie die arme Kreatur vor Schreck aufspringt. Es ist wirklich eine ganz tolle Sache. Also, wie wär's damit?« »Willst du etwa damit sagen, daß wir wie Gespenster durch die Wände der Häuser und in die Zimmer gleiten können?« »Genau! Du hast es begriffen. Es ist das Geisterspiel. Nur dringen wir dabei nicht ins Außengestein, weil wir dort zerplatzen würden. Das ist auch gar nicht nötig. Wir brauchen nur in den Wänden herumzuschweben und zu stöhnen. Das macht sie ganz verrückt, so sehr, daß sie manchmal glauben, daß sie uns wirklich sehen können. Mit den Steinen verhält es sich wie mit den Felsen: durch sie hindurch können wir sie sehen, aber sie können uns nicht sehen, sie bilden es sich nur ein. Allerdings wird manchmal die Schranke von außen nach innen durchstoßen, ich kann mir nur nicht vorstellen, wie dies möglich sein soll. Jedenfalls, was auch immer passiert, wir sind absolut sicher, und ich verspreche dir, es wird wirklich sehr lustig werden.« »Das glaube ich dir ja, aber...« »Natürlich müssen wir uns alte Häuser aussuchen. Die neuen sind so schlecht gebaut. Nur bei den alten Hausen sind die Wände dick genug, daß wir bequem dort herumgeistern können. Sie reißen zwar zur Zeit ziemlich viele ein, aber es sind immer noch genügend übrig. Dann also nichts wie los!« »Halt, Eupolloi! Ich glaub' dir ja, daß es ein Riesenspaß wäre, aber ich habe keine Zeit dafür. Ich muß unter allen Umständen zu diesen Dreihörnern. Wenn du mir nicht helfen willst, dann sag mir doch wenigstens, wie ich zur Untersee komme. Ich werde dann allein dorthin schwimmen.«
»Ach, mein liebes Haut-Baby, du würdest es nie im Leben finden. Also gut, wenn du wirklich so versessen darauf bist, führe ich dich zur Untersee. Aber so wirst du nie erfahren, was du versäumt hast. Jeder sollte wenigstens einen Spukausflug im Leben machen. Gut, folge mir also nach. Hier geht's zur Untersee.« Dabei schwamm er mit anmutigen Bewegungen nach rechts. Bald schwebten sie durch die Luft, durch hohle grüne Trichter, tauchten aus runden, spiralenförmigen Röhren auf, die rosa und lila aussahen, glitten an schwebenden, sternförmigen Tupfern in Schwarz und Karminrot vorbei. Bevor sie sich's versahen, stürzten sie in eine Höhle hinab, die sich plötzlich vor ihnen auftat und mit schimmernden weißen Tafeln bestückt war. Dann tauchten sie in eine prachtvolle blaue Arena ein, die in einem fahlen, sanften blauen Licht schwamm. »Das ist sie!« rief Eupolloi. »Laß uns ein bißchen herumpaddeln!« Als Jason auf dem Rücken lag und sich gemächlich durch die Luft gleiten ließ, erschloß sich seinen Blicken eine Landschaft von unglaublicher Schönheit. Über ihm dehnte sich der Ozean aus, wogte die unendliche See mit ihrer Unzahl von Fischarten und ihrer Unterwasserfauna und -flora. »Wir sind unter dem Meer!« rief Jason entzückt. »Ist das aber schön!« »Das ist es doch, was du wolltest?« fragte ihn Eupolloi, der seinen geschwungenen Körper wie ein Kind in der Wiege hin und her bewegte. »Ja, natürlich, die Untersee. Aber sie ist um so vieles schöner, als ich sie mir vorgestellt hatte. Wie kommt es, daß wir so klar sehen können?« »Du bist nun im Testgebiet, Haut-Baby. Hier gibt es nur Felsen, die sich nach einer Seite hin öffnen. Deswegen gibt es in diesen Breiten so wenig Granits. Wenn hier natürlich ein Einbruch vom Außengestein erfolgte, wären wir im Nu von Granitschwärmen umgeben. Wir würden dann in ernsthafte Schwierigkeiten geraten, denn unversehens würden uns die Granits versteinern. Aber das passiert kaum einmal, so daß wir unbesorgt sein können.« »Also dringt genug Licht vom Außengestein zu uns durch? Wir schwimmen eigentlich im Tageslicht, im wirklichen Tageslicht! Ich kann es kaum glauben! Ich bekomme allmählich Heimweh.« »Könntest du das noch einmal ganz langsam wiederholen?« »Nun - weißt du - ich war schon einmal für eine kurze Zeit im Außengestein gewesen. Es hat sich dabei um einen ganz besonderen
Auftrag gehandelt - und - na ja, ich kann dir eben nicht mehr darüber erzählen - er - na ja - er war eben streng geheim.« »Na so was! Ach du meine Güte! Du armes irregeleitetes Haut-Baby, was haben dir nur diese bösen Starkherzigen angetan! Zuerst willst du Dreihörner jagen und nun willst du gar in geheimer Mission im Außengestein gewesen sein! Ach Baby, ich glaube du fängst an, immer tiefer zu fallen!« »Mal bloß nicht den Teufel an die Wand!« rief Jason, der nervös wurde, wenn er an die Tiefe unter sich dachte. »War ja nur bildlich gesprochen. Reg dich nicht auf! Nun, wo war ich stehengeblieben? Ach ja, ich hab' dir von den Felsen hier erzählt. Es verhält sich damit wie mit den Steinen in den alten Häusern. Wir hier wissen, daß die Felsen, die von außen massiv erscheinen, in Wirklichkeit hohl sind. Im Außengestein kann man nicht durch sie hindurchsehen, aber hier im Testgebiet kann man sich einfach treiben lassen und durch sie hindurchsehen wie ... wie durch eine Glasscheibe. Hat dir noch nie jemand etwas darüber erzählt, Haut-Baby? Wo hast du dich denn nur die ganze Zeit herumgetrieben?« »Ja, du hast recht«, antwortete Jason, »das Abenteuer mit den Starkherzigen muß ein ziemlicher Schock für mich gewesen sein.« Im Grunde konnte er sich natürlich noch ganz genau an den Augenblick erinnern, als er durch den wachsenden Stein beim Dorf Avebury ins Innengestein gelangt war. Sobald sich der Stein wieder geschlossen hatte und er sich allein im Innern des riesigen Felsblocks befunden hatte, war er für ihn durchsichtig geworden: Er hatte das Dorf und seine Umgebung wie durch ein Schaufenster angeschaut. Nun konnte er die Unterseite des Ozeans auf die gleiche Weise ansehen. Zum ersten Mal seit Beginn seiner Suche hatte er das Gefühl, daß es heimwärts ging. Zwar wußte er noch nicht genau, wie er dorthin gelangen sollte, aber daß es ihm gelingen würde, dessen war er nun sicher, und das gab ihm ein gutes Gefühl. Sein schwebender Freund riß Jason wieder aus seinen Gedanken: »Hast du wieder von oben geträumt?« fragte Eupolloi, der nun halb neben Jason dahinglitt. »Ja, das stimmt«, sagte Jason. »Vergiß es. Ist doch nicht der Mühe wert. Bleib hier und entspanne dich! Schwebe ein bißchen, reise ein bißchen und laß dich ein bißchen gehen - es ist ein Leben wie im Paradies. Ich habe es vor langer Zeit aufgegeben, mir übers Außengestein den Kopf zu zerbrechen.«
»Bist du denn bei deiner Prüfung durchgefallen?« »Na klar. Wir alle hier sind Versager, aber wir haben gelernt, damit zu leben. Der arme alte Zottelkopf, die entsetzlichen Starkherzigen, diese armseligen Grantier bei mir in der Höhle sind durchweg Versager. Aber wer will heutzutage überhaupt noch durch den Felsen brechen? Eine Mühe, die sich nicht lohnt, deswegen vergiß es, Haut-Baby! Schwimm dich frei und laß das Außengestein sausen! Das ist doch alles überflüssig! Gib das Rennen auf, entspanne dich, dreh dich um und gleite mit mir dahin. Sieh dir die Szenerie an, ist die vielleicht nichts?« »Sie ist bestimmt wunderschön, aber ich muß einfach diese Dreihörner ausfindig machen. Tut mir leid, ich würde ja gerne hierbleiben, aber ich muß jetzt nach den Dreihörnern suchen. Weißt du etwas von ihnen, das mir weiterhelfen könnte?« »Nun, wenn du unbedingt deinen Willen durchsetzen mußt, dann ist das dein Bier. Du willst etwas über Dreihörner herausbekommen? Sie sind groß, weiß und bösartig. Es gibt ungefähr sechs oder sieben davon. Sie leben in einer Herde zusammen, und die Granits beschützen jeden, der ihnen auf den Leib rücken will. Sie können dich aus einer Entfernung von über einem Kilometer wittern und gehen dann direkt zum Angriff über.« »Mir wurde gesagt, daß es sich dabei um Einhörner der Type III handelt. Stimmt das?« »Ja. Die Type-I-Einhörner waren unbrauchbar, sie konnten jungen Mädchen nicht widerstehen. Sie legten den Mädchen den Kopf in den Schoß. Zum Dank dafür wurden ihnen die Hörner abgehauen. Dann mußten sie auch noch Sklavendienste verrichten. Sie wurden vor Triumphwagen gespannt oder zu Ritten auf dem Sand mißbraucht. So jedenfalls steht es in den Annalen. Es war eine hoffnungslose Art, die bald eliminiert wurde. Das Type-II-Einhorn kam nicht einmal über das Reißbrett hinaus. Bevor die Arbeiten daran begannen, kam der Bildhauer schon mit der dritten Version daher. Er hatte sich ein wilderes Tier ausgedacht, das drei Hörner hatte, die hintereinander aus seiner Stirn herauswuchsen. Im Außengestein wäre es ein absoluter Renner gewesen mit den beiden zusätzlichen Hörnern, aber es war so wild, daß es beinahe den Duplikator getötet hätte, nachdem er Kopien davon für eine Herde gemacht hatte, die fürs Außengestein gedacht war. Die ganze Bande machte sich auf und davon und gelangte schließlich in die Untersee. Keiner konnte sie fangen, und keiner konnte ihnen nahe genug kommen, um ihnen die guten Nachrichten zu überbringen.«
»Welche guten Nachrichten?« fragte Jason. »Daß sie nach draußen dürfen. Daß die ganze Herde ins Außengestein durchgelassen würde, wann immer sie Lust dazu verspürte. Das wurde ihnen auch gesagt, als die Kopien von ihnen gemacht wurden, aber sie haben es einfach nicht geglaubt und dachten, daß man sie wieder zurückschicken wollte, damit ihnen der Bildhauer noch ein weiteres Hörn verpaßte. Da sie ohnehin schon die Nase voll davon hatten, machten sie kehrt und galoppierten hierher. Seitdem hat es niemand mehr fertiggebracht, sich in ihre Nähe zu schleichen.« »Es war die Schuld des Duplikators. Er hat eine dumme Bemerkung gemacht, etwa wie: >Mit einem zusätzlichen Hörn haben wir's geschafft !< Er meinte damit aber nur das Hörn, das ihnen der Bildhauer bereits aufgezwungen hatte. Sie dachten, daß er auf ein viertes Hörn anspiele. Deswegen brach Panik aus, und sie suchten das Weite. Wenn sie nur jemand von dem Mißverständnis in Kenntnis setzen könnte, vielleicht würden sie dann doch nach oben gehen und aufhören, die Gegend hier unsicher zu machen.« »Ich danke dir«, sagte Jason, »du hast mir meine Prüfung sehr vereinfacht. Nun muß ich also nur noch nahe genug an sie herankommen, um ihnen die Wahrheit zu sagen. Wie schnell können wir voranfliegen, wenn wir uns wirklich anstrengen?« »Wenn wir uns ganz flach machen, können wir ungefähr... aber halt mal! Eines muß ich noch richtigstellen: Ich jage nicht hinter diesen Biestern her. Für was für einen Spinner hältst du mich eigentlich? Hör mal gut zu, Baby, ich fliege zu meinem Vergnügen und denke nicht daran, mich dabei abzurackern. Das mach mal schön allein, Haut-Baby! Wenn du's wirklich so eilig hast, kannst du nicht auf mich zählen. Ich werde neben dir herfliegen, um mich ein bißchen umzuschauen, aber sobald wir diese Killer mit den Hörnern sehen, kehre ich zu meinen heißen, pelzigen Röhren zurück, so wahr ich ein Luftschwimmer bin!« Mit einer eleganten Drehung seiner Hautläppchen setzte Eupolloi zum Sprung an, der ihn in die offene Ebene brachte, die sich unter ihnen ausdehnte. Jason hechtete ihm nach. Es war selbstverständlich, daß Eupolloi, sobald sie die Dreihörner gesichtet hatten, wieder umkehren würde und Jason die Gefahr allein zu bestehen hatte. Schon der Gedanke daran jagte ihm Angst ein; trotzdem war er Eupolloi dankbar dafür, daß er ihm wenigstens bis jetzt geholfen hatte. Nun kam es allein auf ihn selbst an.
Nachdem sie mehrere Stunden lang kreuz und quer durchs Gelände geglitten waren und jedes kleinste Fleckchen mit den Augen abgesucht hatten, entdeckten sie eine kleine orangefarbene Wolke in der Ferne. »Dort sind sie!« rief Eupolloi. »Nun ist es für mich an der Zeit umzukehren. Mach's gut, Haut-Baby, schwimm dich frei!« Und schon war er auf und davon. Er entschwebte nach oben und ließ sich gemächlich in die Richtung treiben, aus der sie gekommen waren. »Leb wohl!« rief Jason. »Und auch vielen Dank noch!« Aber Eupolloi war schon außer Hörweite. Jason bemerkte, daß die orangefarbene Wolke sich in der Ferne verlor. Es war keine Zeit zu verlieren. Jason glitt auf diesen Punkt zu. So schnell er konnte, jagte er hinter der fliehenden Herde her. Der Wind pfiff durch seine Hörner und zerrte an seiner Haut. Allmählich begann er die Herde einzuholen. Die orangefarbene Wolke wurde nun immer größer. Schon konnte er das wütende Donnern der Hufe hören. Sehr bald würde er über ihnen schweben und dann die wirkliche Prüfung beginnen. Die Prüfung, die ihn schließlich wieder ins Außengestein zurückbrachte. Das heißt, wenn er Erfolg hatte... Aber es mußte ihm einfach gelingen, es mußte, es mußte...
26. Die Herde der Dreihörner Sieben Tage verfolgte Jason die Herde der galoppierenden, wilden Dreihörner. Erbarmungslos schwebte er über ihnen wie ein Jockey auf dem Weg gen Himmel. Die Wolke aus orangefarbenem Staub, die von den stampfenden Hufen der Tiere aufgewirbelt wurde, stieg ihm in die Nase und füllte seinen Mund mit Sand. Jason würgte und hustete, aber er gab nicht auf. Mehrmals brüllte er zu ihnen hinunter, aber entweder wollten sie ihm nicht zuhören oder sie konnten ihn wegen des Lärms ihrer Hufe nicht hören. Auch am achten Tag konnten die Tiere ihr Tempo halten. Jason wunderte sich über ihr erstaunliches Durchhaltevermögen. Er fand die weißen Tiere großartig. Abgesehen von den drei spitzen Hörnern auf ihrem Kopf, sahen sie aus wie geschmeidige, starke Rennpferde, aber kein Pferd, selbst ein Turfsieger vom Außengestein, hätte mit diesen Zaubertieren Schritt halten können. Der Bildhauer hatte hier wirklich eine wundersame neuartige Kreatur erschaffen. Aber wie in aller Welt sollte Jason sie jemals
einfangen? Der Mha-kee hatte recht gehabt, es war eine unlösbare Aufgabe. Dann, als er sich seinen zermarterten Kopf immer noch weiter zerbrach, um zu einer Lösung zu kommen, mußte er zu seinem Entsetzen feststellen, daß der Boden unter ihm mit einemmal leer war. Die Herde war verschwunden! Er drosselte seine Geschwindigkeit, um allmählich zum Stillstand zu kommen und blickte in die Richtung, aus der er gekommen war. Zu seinem Erstaunen sah er die Dreihörner dort friedlich in einem Kreis auf der Erde sitzen. Sie mußten in dem Moment stehengeblieben sein, als Jason seine ganze Aufmerksamkeit auf die Lösung des Problems gelenkt hatte. Langsam und sachte glitt er zu ihnen zurück, bis er in der Mitte des Kreises, nicht weit entfernt von ihren gefährlich aussehenden Häuptern, in der Luft schwebte. Sie starrten ihn mit hochmütigen und vollkommen ausdruckslosen Mienen an. Sie zeigten nicht das leiseste Anzeichen von Erschöpfung oder Ermüdung. Jason war tief beeeindruckt, aber versuchte, trotzdem, es sich nicht anmerken zu lassen. Er holte tief Atem und sprach dann mit ganz leiser Stimme, weil er befürchtete, daß sie ihm sonst wieder davonrennen würden und er ihnen weitere sieben Tage und Nächte nachjagen mußte. »Ich heiße Jason, und ich habe gute Nachrichten für euch.« Das größte Dreihorn, das die längsten und schönsten spiralenförmigen Hörner hatte, seufzte auf. In einem hochmütigen und gelangweilten Ton erwiderte es: »Wenn du die Unverschämtheit besitzt und uns nur darüber informieren willst, daß wir diesen bibbernden, unfähigen Duplikator falsch verstanden haben und daß wir wirklich - ehrlich, wahrhaftig, gewiß, bestimmt - und ohne Aufschub ins Außengestein können; wenn du also nur das gleiche von dir geben willst wie diese neun schwächlichen Schwätzer, die vor dir hier waren, dann werden wir aus dir mit unseren Hörnern und den besten Empfehlungen ein Gabelfrühstück machen.« Jason erschrak so sehr, daß er nur noch fassungslos auf das hochmütige Gesicht des Dreihorns starren konnte. Das große Dreihorn wartete einen Augenblick lang auf eine Antwort, dann rümpfte es verächtlich die Nase und ergriff wieder das Wort: »Dein Gesichtsausdruck verrät dich. Jedes weitere Wort ist überflüssig. Im Namen der Herde lade ich dich hiermit ein, unser Gabelfrühstück zu werden. Natürlich ist auch der Schwanz dabei zu tragen.« »Ich glaube, daß ich untauglich dafür bin. Ich habe keinen Schwanz.«
»Mach bloß keine Mätzchen! Augustus, spieß den Typen von hinten auf!« »Halt!« rief Jason, »bevor ihr eure edlen Mäuler mit mir füllt, beantwortet mir noch diese letzte Frage: Warum seid ihr eigentlich getürmt, wenn euch die Worte des Duplikators, wie ihr sagt, überhaupt nicht erschreckt haben? Dafür mußte es doch wirklich einen triftigen Grund gegeben haben, irgend etwas Furchteinflößendes, denn so leicht läßt sich eine so vornehme und überlegene Rasse, wir ihr es seid, nicht einschüchtern! Sagt mir, was es war, dann werde ich befriedigt in euren aristokratischen Mäulern verenden!« »Wenn du meine Redeweise noch weiter nachahmst, kleiner Naseweis, dann werde ich dich mit den Beinen zuerst verzehren statt mit dem Kopf, ein sehr viel schmerzvolleres, allmähliches Dahinsterben.« »Ich habe nur in einer Art gesprochen, die eurer ehrwürdigen Gesellschaft angemessen ist. Aber vielleicht schämt ihr euch nur, die Information weiterzugeben, nach der ich untertänigst suche?« Das große Dreihorn unterhielt sich daraufhin leise wiehernd mit seinen Kameraden, schüttelte kurz seine Mähne und ergriff dann wieder das Wort: »Die Erklärung ist höchst einfach. Als wir beim Duplikator waren, haben wir so einen kleinen Opportunisten getroffen, einen von der geschwätzigen Sorte, eine kleine, dreieckige, zitronenfarbige, stinkende, rhombenförmige Kreatur mit unordentlichem Haar. Die Kreatur war von niederer Herkunft und noch viel niedereren Eßgewohnheiten und entstammte einer Rasse, mit der wir unter normalen Umständen überhaupt nicht gesprochen hätten. Aber mit diesem... Ding hatte es eine seltsame Bewandtnis auf sich: Das schmierige Wesen deutete unablässig auf unsere Hörner und brach dabei in ein hämisches Gelächter aus. Als wir den Schmierfinken endlich dazu zwangen, sein Verhalten zu erklären, gab er zu, daß er ein Gerücht gehört habe, ein Gerücht, das wahrscheinlich vom Außengestein stammte...« »Erzähl nur weiter«, sagte Jason, »ich höre schon zu.« »Nach dem Gerücht werden Hörner, wie wir sie auch unser eigen nennen, auf den Märkten des Außengesteins zu einem Wert von fünf Goldbarren für ein nur wenige Zentimeter großes Stück gehandelt... lächerliche Zentimeter, nicht einmal Dezimeter! Natürlich wollten wir ihm diesen Unsinn zuerst nicht abnehmen, aber er war so hartnäckig, daß wir uns schließlich an den Schalterbeamten an der Durchgangsbrücke zum Außengestein wandten und ihn fragten, ob vielleicht doch etwas Wahres an
diesem merkwürdigen Gerücht sei. Aus seinem Gesichtsausdruck konnten wir ablesen, daß es so war. Also berieten wir uns ganz schnell, und als die Herde den Beschluß gefaßt hatte, sind wir getürmt - wie du es gerade so grob ausgedrückt hast. Wir haben unseren Entschluß seither nie bedauert. Nach der Aussage des Schleimis wären wir schon wenige Tage nach unserer Ankunft getötet worden. Die Hörner hätte man dann von unseren Kadavern abgehackt und sie an Medizinmänner weiterverkauft, die sie zu Pulver zermahlen hätten. Dieses Pulver wäre dann zu einem horrenden Preis an alternde Politiker verschachert worden, damit sie vermutlich ihren Anhängern mit einem kräftigeren Körper imponieren könnten. Daß dies aber für uns ein unerträgliches Schicksal gewesen wäre, braucht man wohl kaum noch zu sagen, und wir haben keinen anderen Ausweg gesehen, als davonzulaufen. Vielleicht verstehst du uns nun besser, und wir können mit dem Aufspießen beginnen. Augustus!« »Halt!« rief Jason noch einmal. »Wenn's nur das ist — das haben wir gleich gelöst!« Die Dreihörner murmelten unter sich, als sie diese gewagte Behauptung hörten. »Erkläre uns sofort deine wagemutige Behauptung, oder...«, schnaubte der große Anführer der Herde. Jason mußte sich schnell etwas einfallen lassen: »Wie ihr seht, habe ich ebenfalls Hörner und ...« »Du willst uns wohl für dumm verkaufen. Du hast ein Paar von Hörnern. Diese Art von Hörnern sind wertlos. Gar kein Vergleich mit unseren!« »Laß mich bitte ausreden. Meine Hörner mögen nicht so wertvoll sein wie eure, aber trotzdem beabsichtige ich nicht, mit ihnen das Außengestein zu betreten. Die Gründe kann ich euch jetzt nicht erklären. Ich werde also ohne die Hörner dort oben anlangen, und wenn ihr meine Anweisungen befolgt, wird es euch genauso ergehen.« »Hornlos! Aber das ist ja undenkbar! Sogar unser Vorgänger, das Einhorn, hatte ein Hörn.« »Aber ihr seid doch viel stärker und edler. Wenn ihr als große weiße Pferde auftreten würdet, könntet ihr die ganze Welt der Pferde und Pferdeartigen beherrschen. Könige und Königinnen würden euch zuschauen, wenn ihr eure Rennen im Außengestein gewinnt. Ihr wäret gefeierte Turfsieger. Ihr hättet nichts zu befürchten. Ich kenne mich dort aus, und ihr könnt mir schon glauben.«
»Vielleicht stimmt das, was du sagst. Wir sind wirklich eine starke, schnelle Herde. Der Bildhauer war stolz auf unseren Körper. Aber wie in aller Welt willst du denn unsere ehrwürdigen Hörner auflösen?« »Das dürfte nicht so schwierig sein. Wir reisen zusammen bis zur Durchgangsbrücke und legen uns auf die Lauer. Sobald die Reisenden beim Schalterbeamten eintreffen, um ihre Passierscheine abzuholen, werde ich sie ausfragen. Früher oder später wird auch einer drunter sein, der unsere Hörner entfernen kann, ohne uns etwas zuleide zu tun.« »Aber warum sollte überhaupt jemand anhalten, um so eine zeitraubende Arbeit zu verrichten? Sie sind immer in großer Eile an der Brücke. Wir haben es ja schon selbst gesehen, wie es ihnen gar nicht schnell genug gehen kann, daß sie über die Brücke kommen, um auf der anderen Seite den Posten zu treffen, der sie ins Außengestein führt. Ohne langes Zögern werden sie dich zur Seite schieben.« »Aber nicht, wenn ich ihnen sage, welche Reichtümer sie davontragen werden und ihnen erzähle, wieviel Gold sie für eure Hörner bekommen!« »Aber sicher werden sie mißtrauisch, wenn sie sich überlegen, warum wir diesen Schatz nicht selber vermarkten?« »Nein, ich werde ihnen ganz einfach sagen, was du mir auch schon erzählt hast, daß wir im Außengestein wegen unseres Kopfschmucks gejagt und erlegt würden, bevor wir unsere Hörner freiwillig anbieten können. Aber wenn sie in aufgelöstem oder pulverisiertem Zustand abgepackt mit nach oben genommen werden, würde uns dies erspart bleiben, und die neuen Besitzer können damit steinreich werden. Findet ihr nicht auch, daß mein Plan eigentlich nicht schiefgehen kann?« »Das müssen wir zuerst beraten. Laß uns für eine Weile allein, damit wir die Sache überdenken können.« Jason blieb in der Nähe und beobachtete die Herde von Dreihörnern, die das Problem diskutierten und dabei schnaubten, wieherten und ihre langen weißen Mähnen schüttelten. Er war voller Hoffnung. Seine einzige Sorge war, einen Durchreisenden zu finden, der die Hörner abnehmen konnte. Zwar hatte er es als einfach hingestellt, aber insgeheim hegte er doch seine Zweifel. Wenn die Dreihörner damit einverstanden waren, mit ihm zur Durchgangsbrücke zu gehen, war schon die erste Schlacht gewonnen. Dann würden sie ihn nämlich nicht mehr länger als Feind betrachten. Es wäre ein Anfang für etwas, das ihm zuerst wie eine unlösbare Aufgabe vorgekommen war.
Die Beratung war zu Ende, und der große Führer der Dreihörner näherte sich Jason. »Wir, das heißt meine Herde und ich, haben deinen genialen Plan ziemlich ausführlich besprochen. Trotz unserer schweren Bedenken, werden wir dich zur Durchgangsbrücke begleiten. Wir werden unser Lager in dem Wald aufschlagen, der in der Nähe ist, während du versuchen wirst, den geeigneten Reisenden zu finden, der uns die Hörner abnimmt. Wir werden uns nicht am Brückeneingang zeigen, sondern bis zu deiner Rückkehr verstecken. Du wirst den Reisenden mitbringen, und wenn er versagt, werdet ihr beide aufgespießt und ohne weiteren Kommentar verspeist. Wenn es ihm gelingt, die Hörner zu entfernen, reisen wir alle zusammen ins Außengestein. Ist das klar?« »Jawohl, ich bin damit einverstanden.« »Gut, dann brechen wir also zur Brücke auf. Und noch was: Du wirst aufhören, in der Luft zu schweben, und statt dessen auf meinem Rücken reiten, damit ich dich abwerfen und niedertrampeln kann, wenn du versuchst, uns zu verraten.« »Damit bin ich ebenfalls einverstanden«, erwiderte Jason. »Ich bin bereit zur Abreise. Gemeinsam werden wir unsere Probleme lösen.« Die herrliche Herde bäumte sich wild auf und brach in einem zügigen Galopp unter lautem Schnauben und Wiehern zur Brücke auf. Jason hielt sich tapfer auf dem breiten, starken Rücken des Anführers. Sie kamen durch viele fremde Landstriche, deren Szenerie um sie herum ständig wechselte. Ab und zu kamen sie an einer Gruppe von Versagern vorbei, die vor sich hin murmelten und schreiend zur Seite sprangen, als sie ihrer ansichtig wurden. Jason fühlte sich wie ein großer Eroberer, der durch ein Land zog, das er besiegt hatte, aber seine Hochstimmung wurde getrübt durch seine Zweifel, daß er an der Brücke nicht den geeigneten Durchreisenden finden würde, nach dem er suchte. Bei Einbruch der Nacht hielt die Herde an. Sie stillten ihren Hunger und ruhten sich aus, aber in der Morgendämmerung setzten sie ihren Weg zur Brücke fort. Am Nachmittag des folgenden Tages gelangten sie in ihre Nähe. Jason stieg ab, und die Dreihörner trennten sich von ihm und begaben sich zu einem kleinen Wäldchen in der Nähe, wo sie sich niederließen und warteten. Jason ging direkt auf den Schalter an der einen Seite des Brückeneingangs zu. Er hatte nichts zu verbergen. Ein durchdringender Trompetenschall ertönte im Innern, und eine trompetenförmige Kreatur mit sechs langen, dünnen Beinchen stürzte aus einer Seitentür hervor und versperrte Jason den Weg. Dabei gab sie laute,
hupenartige Geräusche von sich. »Entschuldige bitte«, sagte Jason höflich, »aber kannst du mir vielleicht sagen, ob du heute Durchreisende erwartest?« »Reisende? Durchreisende?« trompetete der Schalterbeamte. »Natürlich kommen heute welche hier durch. Immer diese Reisenden, nichts als Reisende. Und was wird aus meinen Ferien, wie? Daran denken sie überhaupt nicht! Nie! Wann hatte ich zum letzten Mal einen freien Tag, vielleicht kannst du mir das sagen? Es ist schon so lange her, daß ich selbst mich nicht mehr erinnern kann. Auch hätte ich gerne gewußt, wo meine Ablösung bleibt. Wo ist er, he? Beantworte mir das, wenn du kannst. Und nun kommst du des Wegs und fragst mich, ob hier irgendwelche Reisende durchkommen. Das darf ja doch nicht wahr sein! Was hast du hier überhaupt verloren? Du bist ja noch gar nicht kopiert worden. Geh sofort zum Duplikator zurück. Ich hab' keine Lust, deinetwegen meine Zeit zu vergeuden! Soviel ich weiß, hast du ja noch nicht einmal deine Prüfung bestanden! Wie sollte ich das auch beurteilen können? Geh zurück zum Duplikator und beweise ihm, daß du deinen Test bestanden hast, und er wird sofort eine Kopie von dir machen. Dann kannst du wieder zurückkommen und dich um deinen Passierschein kümmern, aber nicht vorher. Hast du mich verstanden, nicht vorher! Und nun, hau ab und laß mich in Frieden!« Nachdem er dies gesagt hatte, begann er wieder, Jason die Ohren voll zu hupen und zu trompeten und steigerte sich förmlich in eine Hysterie aus Trillern und Piepstönen hinein. »Wenn du mal einen Moment aufhören könntest«, rief Jason, »ich habe dir nämlich etwas Wichtiges mitzuteilen.« »Dann nur zu! Ich weiß zwar wirklich nicht, was du mir noch sagen könntest - vielleicht, wo mein Ablösungsposten bleibt -, denn das ist alles, was ich noch wissen will.« »Genau das wollte ich dir ja sagen. Ich bin nämlich deine Ablösung«, sagte Jason. »Was, du sollst das sein? Ausgerechnet du? Nein, das glaube ich nicht! Es ist einfach zu schön, um wahr zu sein! Warte, nein komm hier herein, ach du meine Güte! Endlich ist meine Ablösung hier!« Der Schalterbeamte wußte nicht mehr aus noch ein vor Freude und benahm sich wie ein Verrückter. Schließlich ließ er noch einen lauten Trompetenstoß ertönen und schlenderte frohgemut davon. Nun war niemand mehr am Schalter. Jason nahm am Schreibtisch Platz und guckte neugierig durch das kleine Fenster, wo die Passierscheine ausgehändigt wurden. Er sah die Papiere
durch, die auf dem Schreibtisch herumlagen, sortierte sie und legte sie ordentlich auf verschiedene Stöße. Dann tat er nichts mehr und wartete. Es dauerte nicht lange, bis er Schritte hörte, die sich dem Schalter näherten. Als er durchs Fenster guckte, sah er ein Paar von Reisenden, die sich dem Schalter näherten. Sie trippelten froh daher und gingen Hand in Hand, was nicht leicht war, weil sie jeweils sechzehn Hände hatten. Ihre Körper sahen wie Stundengläser aus und waren von einer Art grünen Flaum bedeckt. »Die Papiere?« sagte Jason, der annahm, daß diese Frage von ihm erwartet wurde. »Hier sind sie«, kicherten die beiden und gaben Jason die Urkunden, die vom Duplikator ausgestellt worden waren und besagten, daß sie die Prüfung bestanden hatten. Jason setzte seinen Stempel drunter und heftete an jede einen Passierschein. Dann hielt er die Papiere vor sich. »Einen Augenblick noch«, sagte er in ernsthaftem Ton. »Ja, was gibt's?« fragte sie in ängstlichem Ton. »Welche Erfahrung habt ihr im Ent-Hornen?« »Im was?« »Ent-Hornen?« Sie sahen sich verständnislos an, und ihre Hände begannen zu zittern. Offenbar war es sinnlos, und Jason erbarmte sich ihrer. »Vergeßt es«, sagte er gnädig. »Hier sind eure Papiere. Sie sind in Ordnung. Jetzt könnt ihr über die Brücke gehen und euch beim Beamten melden, der euch ins Außengestein bringt.« »Oh, vielen Dank auch, vielen Dank«, brabbelten sie und trippelten so schnell wie möglich davon. »Das wird gar nicht so leicht werden«, murmelte Jason vor sich hin. Er begann sich zu fragen, ob die Dreihörner geduldig genug waren oder ob sie kurz oder lang wieder zur Untersee entfliehen würden. In den Stunden und Tagen, die folgten, stellte Jason immer wieder die gleiche Frage und bekam immer wieder nur denselben verständnislosen Gesichtsausdruck zu sehen, der sich aus Erstaunen und Furcht zusammensetzte. Unter den Reisenden befanden sich Klopschnapper und Hupluds, Nuckelpieps und Bongotongs, kleine haarige Flopsies und große glänzende Turmkleber, aber von all diesen hatte keiner die geringste Ahnung, was Jason eigentlich wollte. Ein Trio von Sargbohrern zeigte ein bißchen Interesse, aber es stellte sich heraus, daß sie sich, nur aufspielen
wollten. Wie die anderen Durchreisenden mußte Jason sie schließlich ziehen lassen. Langsam begann er zu verzweifeln, als am Nachmittag des fünften Tages ein Paar buckliger Dibbelpimpfe vor seinem Schalter aufkreuzte. Sie warteten geduldig, als Jason noch eine Familie von stechenden Sternhörnern abfertigte, bösartige, giftige Geschöpfe, die er lieber abgewiesen hätte. Aber er befürchtete, daß sie sich auf ihrem Rückweg beim Duplikator beschwert hätten und daß dann Fragen gestellt worden wären, die sich zu seinem Nachteil hätten auswirken können. Das Außengestein mußte leider mit ihnen fertig werden, daran konnte nun nichts mehr geändert werden. »Die nächsten!« rief er, als die stechenden Sternhörner über die Brücke davonglitten. »Huuh, bei denen stehen mir die Schuppen zu Berg!« sagte das Geschöpf, das nun vor dem Schalter stand. »Geht's Ihnen nicht genauso? Ich würde denen gern ihre Hörner in den Kopf hineindibbeln, Sie auch?« Jason wurde ganz starr, als er das hörte. Vielleicht war das nur eine Redensart, die er nicht kannte, trotzdem konnte er kaum seine Erregung verbergen. »Nun wollen wir mal sehen«, sagte er ganz beiläufig, »ihr seid also ein Paar Dibbelpimpfe. Ja, gut, alles scheint in Ordnung zu sein. Nur noch eine neugierige Frage, worauf habt ihr euch spezialisiert? Wie dibbelt ihr? Wenn ihr mir das noch erklären würdet, wäre ich euch sehr dankbar. Hier ist noch kein Dibbler vorbeigekommen, wenigstens nicht solange ich hier bin.« »Ach du meine Güte, tut mir ja schrecklich leid, aber wir haben's eilig«, sprudelte der erste Dibbelpimpf hervor. »Wir haben keine Zeit zum Quatschen, wir müssen hinüber. Bitte geben Sie uns unsere Papiere wieder!« »Nehmt meinen Rat zu Herzen«, flüsterte Jason in einem vertraulichen Ton, »und wartet ein bißchen. Laßt diesen schmierigen Sternhörnern ein bißchen Vorsprung, sonst steckt euch der Überführungsbeamte möglicherweise in dieselbe Gruppe, was sehr gefährlich werden könnte. Man kann nie wissen ... Habt ihr verstanden, was ich damit sagen will?« »Ach du meine Güte, wir müssen also in Gruppen gehen. Das habe ich gar nicht gewußt. Ja, vielen Dank, ich glaube, dann warten wir noch ein bißchen. Soll ich Ihnen vielleicht jetzt was übers Dibbeln erzählen? Wir dibbeln zum Beispiel die Fußsohlen. Heutzutage bekommen sehr viele
Leute Hornhaut an den Füßen, wenigstens hat uns das der Bildhauer versichert, und sie würden viel darum geben, um sie weggedibbelt zu bekommen. Wir hoffen, sehr nützliche Haustiere zu werden. Wahrscheinlich werden uns die Leute im Außengestein in ihren Schlafzimmern halten, damit wir nachts hervorkommen, wenn sie schlafen und ihnen ihre Hühneraugen wegdibbeln. Ich nehme an, daß man das Dibbeln auch als zartes Herumnagen bezeichnen könnte. Ein Nagen, das so vorsichtig ist, daß man es nicht einmal spürt. Weder wacht man dabei auf noch wird man im Schlaf gestört, und am nächsten Morgen sind dann die lästigen Hühneraugen und die ganze Hornhaut verschwunden, wie durch einen Zauber. Der Bildhauer meint, daß wir dort oben sehr beliebt werden.« »Das glaube ich auch, und ich finde, daß dies eine großartige Idee ist. Da ist nur noch ein kleines Problem. Einen Augenblick, ich muß noch etwas überprüfen.« Jason war im Laufe des Gesprächs zu der Überzeugung gekommen, daß diese Dibbelpimpfe viel zu bescheiden waren, um ins große Geschäft mit den wertvollen Hörnern einzusteigen, doch war ihm plötzlich etwas anderes eingefallen. Er blätterte in den Papieren auf seinem Schreibtisch herum und tat so, als ob er ein bestimmtes Blatt besonders gründlich durchlesen würde. »Hmmm«, sagte er mit sorgenvoll gerunzelter Stirn. »Was ist los? Stimmt etwas nicht?« »Ich muß euch gestehen, daß meine Frage nach dem Dibbeln nicht nur auf meine Neugier zurückzuführen ist. Ich hatte nämlich einen ganz konkreten Anlaß dafür. Seht ihr, ungefähr eine Woche, bevor ich meinen Dienst hier antrat, tauchte ein Paar von Reisenden hier auf, die sich als Dippelpimpfe ausgaben. Ihnen wurden auch Passierscheine ausgehändigt, und sie sind nun bereits im Außengestein.« »Das waren Betrüger!« riefen die beiden buckligen Gestalten wie aus einem Mund. »Wir sind die echten Dibbelpimpfe und ersuchen darum, durchgelassen zu werden.« »Ich muß zugeben, daß hier etwas ziemlich faul ist«, sagte Jason bedächtig und rieb sich dabei am Kinn, »aber welches sind die Schuldigen? Seht ihr, was ich dabei meine?« »Natürlich sie! Sie sind die Schuldigen!« schrien die beiden Dibbelpimpfe zugleich. »Aber könnt ihr es beweisen?« fragte Jason. »Beweisen? Weshalb denn? Wir sind doch schließlich Dibbelpimpfe. Wie sollen wir es Ihnen
beweisen? Sie können es uns ruhig sagen, wir haben nichts zu befürchten.« »Vielleicht könntet ihr eine Demonstration geben?« »Ja, ja, alles, was Sie wollen! Wie und wo?« »Wenn ihr mir folgen würdet, könnten wir diese leidige Geschichte vielleicht im Handumdrehen aus der Welt schaffen«, sagte Jason in einem freundlicheren Ton, verließ seinen Platz am Schalter und machte sich auf den Weg zu dem Wäldchen, wo sich die Dreihörner versteckt hatten. Die Dibbelpimpfe mit ihren verkrüppelten Gliedmaßen versuchten Jason in aller Eile zu folgen, als er auf das kleine Wäldchen zuschritt. Unterwegs erklärte Jason den beiden unglückseligen Kreaturen, daß es im Wäldchen eine Herde von großen weißen Tieren gäbe, denen die drei Hörner, die ihnen aus dem Kopf wüchsen, große Sorgen machten. Die armen Tiere, teilte er ihnen mit, seien so beschämt wegen dieser Mißbildungen, daß sie es nicht einmal über sich bringen würden, am Schalter zu erscheinen und ihre Passierscheine abzuholen. Wenn die Dibbelpimpfe diesen armen Geschöpfen helfen könnten, würden sie Jason nicht nur von ihrer Identität überzeugen, sonden würden sich auch die immerwährende Dankbarkeit dieser gequälten, aber großartigen Tiere erwerben. Die Dibbelpimpfe schienen sich ziemlich wenig aus der Dankbarkeit der Dreihörner zu machen, aber sie waren fest entschlossen zu beweisen, wer sie waren, und gingen mit großem Eifer an die Sache. Die Dreihörner, deren Geduld nahezu erschöpft war, wie Jason befürchtet hatten, freuten sich über sein Kommen. Sie verloren beinahe ihre natürliche Würde und Zurückhaltung, als die beiden Dibbepimpfe ihre Arbeit so behutsam verrichteten, daß sie es kaum spürten, als ihre Hörner spurlos abbröckelten und verschwanden. Ihre hochmütigen Gesichter fingen förmlich an zu strahlen. »Nun«, sagten die Dibbelpimpfe mit Stolz in der Stimme, »vielleicht glauben Sie uns nun, daß wir keine Betrüger sind!« »Hmmm«, meinte Jason, »aber die Hörner der weißen Tiere waren weich, jedenfalls weicher als meine. Ich weiß nicht, ob ...« Aber bevor er ausreden konnte, machten sich die Dibbelpimpfe schon an seinem Kopf zu schaffen. Im Handumdrehen hatten sie auch seine Hörner weggedibbelt, ohne eine Spur zu hinterlassen. »Wirklich erstaunlich!« rief Jason, der unwillkürlich lächeln mußte. »Es hat überhaupt nicht weh getan!« »Natürlich tut es nicht weh! Sind Sie nun endlich zufrieden?« »Ja, vollkommen. Hier sind eure Papiere. Ihr könnt nun die Brücke passieren. Offensichtlich hat uns das andere Paar betrogen. Ich danke euch
für...« Aber die beiden Dibbelpimpfe waren schon eilends in Richtung Brücke abgezogen. »Das hast du gut gemacht«, ertönte nun der Anführer der Dreihörner. »Du kannst dich nun wieder auf meinen Rücken setzen, und dann werden auch wir die Brücke durch den Felsen überqueren.« In dem Augenblick, als die Dreihörner aus dem Wäldchen herauskamen und auf das Schalterhäuschen zugingen, hörten sie einen lauten Trompetenton. Eine wütende, aufgeregte Gruppe von schnatternden Beamten rannte zum Brückenaufgang und versperrte ihnen den Weg. Als die Herde anhielt, entdeckte Jason unter der Menge den empörter Schalterbeamten, den er abgelöst hatte und der nun seine Trompete blies, als ob er zerplatzen wollte. Neben ihm war eine hochaufgeschossene, hagere Gestalt mit sieben Nasen und zwei Kinnen zu sehen, von denen das eine auf der linken und das andere auf der rechten Seite seines hageren, zerknitterten Gesichts herabhing. Die Gestalt hatte keinen Körper, seine langen, spitz zulaufenden Beine mündeten in seinen ausgetrockneten Hals ein. »Anhalten!« schrie die hagere Gestalt. »Ich bin der Duplikator. Ergebt euch! Das Schalterbüro ist überfallen worden, und ihr seid unter Arrest. Für dieses Verbrechen wird man euch umbringen! Polizisti, bewacht die Brücke! Niemand darf sie überqueren! Habt ihr verstanden, n-i-e-m-a-nd!« Jason war froh, als er die Gestalten der hilfreichen Dibbelpimpfe auf der anderen Seite verschwinden sah. Das hieß, daß sie in Sicherheit waren. Er freute sich, daß es wenigstens ihnen gelungen war zu entkommen. Aber was sollte er und die Dreihörner tun? Es wäre sinnlos gewesen, die Barrikade der Polizisti durchbrechen zu wollen. Dann würde man sie nur aufspießen, betäuben, verschleppen und ihnen den Garaus machen. Es gab nur noch eine Möglichkeit: Sie mußten auf dem Weg zurückkehren, über den Jason ins Innengestein gestiegen war. Irgendwie mußten sie sich zu dem Seitengang durchschlagen, der vom Hauptversammlungsgebiet im Innengestein weg und zu diesem riesigen wachsenden Stein bei Avebury hinaufführte. Die Chance war zwar gering, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig. Er flüsterte dem Anführer der Dreihörner etwas ins Ohr. Wiehernd und schnaubend bäumte sich das große Tier auf und schlug mit seinen Vorderhufen aus. Die anderen folgten seinem Beispiel, dann machten sie alle kehrt und galoppierten donnernd davon, fort von der
Brücke durch den Felsen, dem hageren Duplikator, dem trompetenden Schalterbeamten und den aufgebracht zuckenden Polizisti. Eine Staubwolke stieg von den donnernden Hufen auf. Die edle und herrliche Herde bewegte sich mit großer Geschwindigkeit, weil sie noch eine weite und gefährliche Reise vor sich hatte. Auch wenn sie ihr Ziel erreichen würden, so hatten sie doch noch einen beschwerlichen Aufstieg zum wachsenden Zauberstein in Avebury vor sich. Ihre Aussicht auf Erfolg war zwar gering, aber ihr Wille war stark, und sogar der zerknitterte alte Duplikator konnte nicht umhin, seinen Kopf vor Bewunderung zu schütteln, als er sie davongaloppieren und in der Ferne zu einem Punkt zusammenschrumpfen sah.
27. Schnauzkönigs Opfergang Nachdem sie schon mehrere Monate unterwegs gewesen und in unzählige Abenteuer geraten waren, hatten Jason und die edlen Dreihörner immer noch nicht den Seitengang gefunden, nach dem sie suchten und der sie ins Außengestein führen würde. Sie wollten schon beinahe die Hoffnung aufgeben, als sie eines Abends ein gespenstisches Bellen hörten, das von dem Berggipfel am Ende der Mulde kam, in der sie rasteten. Die Dreihörner spitzten die Ohren und wurden ganz still. Jason legte den Finger an die Lippen und schlich sich vorsichtig zum Rand der Mulde. Hoch oben sah er eine kleine schemenhafte Gestalt, die ihren Kopf zurückwarf, als er sie ansah und noch einmal ein Klagegeheul anstimmte. Als diese die Dreihörner hörten, sprangen sie auf, schüttelten nervös ihre Mähnen und blähten ihre Nüstern. Sie waren drauf und dran zu türmen, aber Jason rief zu ihnen hinunter: »Ist schon in Ordnung! Ich weiß, wer das ist. Es ist ein guter Freund von mir. Er wird uns nichts zuleide tun. Dann rief er, indem er die Hände vor den Mund hielt: »Satan! Rex! Satan! Ich bin's -Jason. Los, komm hierher!« Das Geheul hörte auf und die Gestalt verschwand. »Ich habe ihn verjagt. Schnell, wir wollen ihm nachfolgen, denn er kann uns weiterhelfen. Er kennt den Geheimgang. Auch er kam durch ihn ins Innengestein. Vielleicht kann er sich noch erinnern, wohin wir gehen müssen.«
Aber der alte Hund rannte nicht davon, wie Jason vermutet hatte. Als er die vertraute Stimme seines Freundes in der Ferne gehört hatte, jaulte er vor Erleichterung leise auf und begann hinunter zu klettern. Halb rutschte er, halb rollte er und mußte natürlich furchtbar fluchen, bis er unten war. Dann aber rannte er mit großen Sätzen auf die Mulde zu. Er erreichte sie gerade, als die Herde herausgaloppierte, und da er nicht mehr abbremsen konnte, stieß er frontal mit dem Anführer zusammen. Der alte Boxer rollte zu Boden, wo er hechelnd und keuchend liegenblieb. Er versuchte, sich aufzurichten, was ihm aber nicht gelang. Erschöpft sank er wieder auf die Erde nieder. Jason eilte ihm zu Hilfe. »Satan, Satan, bist du verletzt?« Als er seinen alten Freund in die Arme schloß, bemerkte er, daß sich nur noch der Schwanz des Tieres bewegte. Das Tier tat dies, um Jason für das Wedeln zu entschädigen, für das er zu erschöpft war. Jason sah ihn aus der Nähe an und runzelte die Stirn. »Was ist passiert? Wo ist dein Maulkorb? Was haben sie mit dir gemacht?« Der alte Boxer bedeckte sein Gesicht mit seinen Pfoten. »Sie hätten mich beinahe getötet«, schluchzte er. »Diese grausamen Bestien. Mörderische Ungeheuer. Sie haben gesagt, daß die Spiele langweilig würden, weil sie nicht brutal genug wären und nicht genügend Blut flösse. Und dabei haben wir alles getan, was wir konnten! Wir haben unserer Gruselshow eine Nummer hinzugefügt, aber sie konnten einfach nicht genug davon kriegen. Bis dann eines Tages ein Zuschauer auch noch die Wahrheit entdeckte. Er versteckte sich im Umkleideraum und fand einen Beutel mit Rotbeeren. Zufällig hörte er die Anweisungen des Spielleiters und berichtete seinen Freunden, daß alles nur vorgetäuscht sei. Sie waren außer sich vor Wut und schlugen alles kurz und klein. Meine MaulkorbKrone rissen sie mit den Wurzeln aus.« Bei der Erinnerung zuckte er vor Schmerz zusammen. »Sie fesselten mich für eine Zeremonie, die sie selber vorbereiteten. Nur sollte sie dieses Mal echt sein. Soviel ich weiß, bin ich der einzige, der entkommen ist. Ich habe meine Fesseln durchgenagt und mir einen Gang nach draußen gegraben, als sie über die grausamste Weise beraten haben, auf die sie uns umbringen könnten. Es war entsetzlich, wirklich ganz entsetzlich! Und sie sind immer noch hinter mir her. Ich bin schon seit Tagen auf der Flucht.« »Aber warum hast du denn so laut geheult, wenn du dich vor ihnen verstecken willst? Es könnte sie doch auf deine Fährte gebracht haben!«
»Ach ja, ich weiß. Das ist etwas, was ich dir im Außengestein, wo Hunde nicht sprechen können, nie klarmachen konnte. Siehst du, das nächtliche Hundegeheul entspricht ungefähr dem Abendgebet der Menschen. Wir rufen den Großen Mondhund an, daß er uns beschützen möge. Wir bitten Hund, den Vater, den Hundesohn und den Heiligen Werwolf um Gnade. Einige Rassen beten sogar die große Hündin-Mutter an, wenn die Zeiten wirklich schlecht stehen. Die Leute begreifen überhaupt nicht, wie fromm Hunde eigentlich sind. Sie sehen, wie wir dem Heiligen Baumgebiet unsere täglichen Gaben darbringen, aber sie begreifen überhaupt nichts. Die Menschen sind eben sehr egozentrisch.« Nachdem er dies gesagt hatte, sank der alte Boxer wieder nieder und bettete sein Haupt in anklagender Pose auf den Boden. »Davon hatte ich ja nicht die geringste Ahnung«, gestand ihm Jason. »Ich verspreche dir, daß ich dich nie wieder Satan nennen werde. Das muß dich ja furchtbar verletzt haben. Von nun an werde ich dich immer Rex nennen. Komm, laß den Kopf nicht hängen. Wir helfen dir. Die Dreihörner werden dich beschützen. Und dafür kannst du uns dann auch nützlich sein und uns zu der Stelle führen, wo wir beide das Innengestein betreten haben. Erinnerst du dich an den Seitengang, wo wir...« »Aber natürlich, das ist ja ganz einfach. Hunde verlieren doch ihre Fährte nicht, oder?« Die Dreihörner sahen sich voller Ungeduld an, schnaubten und stampften die Erde erwartungsvoll mit ihren Hufen. »Aber vorher muß ich mich ein bißchen ausruhen. Ich bin so ziemlich am Ende. Hat einer von euch zufällig einen saftigen Knochen, den er entbehren kann? Ich habe Millionen davon besessen, und nun muß ich um einen einzigen betteln. Ihr habt keinen? Gut, dann möchte ich wenigstens schlafen, nur ein kurzes Schläfchen. Es wäre schön, wenn ihr für mich Wache halten würdet.« Einen Augenblick später schnarchte der alte Hund schon geräuschvoll, und sein zerknittertes Gesicht erzitterte bei jedem tiefen Atemzug. Die Dreihörner stellten sich im Kreis um den schlafenden Hund auf und blickten in die Ferne. Sie suchten die Landschaft nach gefährlichen Anzeichen ab. Jason ließ sich neben dem Hund nieder und wartete geduldig, bis ihr zukünftiger Führer wieder zu Kräften gekommen sein würde. Am nächsten Morgen setzten sie ihre Suche fort. Dabei waren sie jetzt so zuversichtlich wie schon seit Wochen nicht mehr. Rex rannte vor den
trabenden Dreihörnern her, mit der Nase schnupperte er am Boden, immer wieder verharrte er und wechselte die Richtung. Schließlich kläffte er laut auf und rannte davon, während die aufgeregte, wiehernde Herde ihm auf den Fersen folgte. »Dort ist er!« rief Rex. In der Ferne entdeckten sie einen kleinen dunklen Fleck. Es war der langersehnte Eingang zu dem verborgenen Tunnel. Jason erkannte ihn sofort wieder, als sie näher kamen. Zu Jasons großem Unglück erkannte ihn auch der Polizisti gleich wieder, der den Eingang bewachte. Außer Jason hatte er noch nie jemand aufspießen können. Es war dieser Augenblick der Macht, der in der Erinnerung des giftigen Beamten fortlebte, der Augenblick, als er diesen seltsamen glatthäutigen Fremden aufspießte und ihn voller Stolz dem Interviewer vorführen konnte. Er hatte so manche Anekdote über den Vorfall mit den entsprechenden Ausschmückungen beim jährlichen Polizistiball erzählt. Und hier tauchte dieses seltsame Geschöpf nun wieder auf und steuerte zielbewußt auf seinen Tunnel zu. Es ritt auf dem Rücken eines riesigen weißen Tieres und mehr noch: Es hatte eine ganze Herde von potentiellen Opfern im Gefolge. Es war zu schön, um wahr zu sein! Er stürzte aus seinem Loch in der Wand hervor und drohte ihnen mutig mit seinem Stachel, als sie ihm entgegendonnerten. Sobald sie den zuckenden Stachel vor sich sahen, hielten die zitternden Dreihörner an und bäumten sich vor Furcht auf. »Weicht keinen Schritt!« rief Jason. »Ich werde versuchen, ihn herumzukriegen. Bewegt euch nicht! Steht still!« »Es hat keinen Wert, mit einem von der Sorte vernünftig reden zu wollen«, knurrte Rex. Dabei sträubte sich sein Fell, und er bleckte drohend seine Zähne. »Überlaßt das mir!« Mit diesen Worten näherte er sich langsam und drohend der Gestalt, die mit gezücktem Stachel den Tunnel versperrte. »Jetzt hör mal gut zu«, knurrte er böse, »ich bin der große, der allmächtige, dreifach brutale Rasimondo, Schnauzkönig aller Hundearten, Schirmherr der Skelettspiele und höchster Richter über die Knochenbrandzeremonie. Du wirst vor mir knien und deinen dreckigen Stachel wieder zurückstecken, du stieläugiger Schlappschwanz, oder...!« Der Polizisti erstarrte und warf sich in die Brust. Seine Augen fingen auf ihren langen Stielen an zu tanzen, und sein unheilverheißender Stachel funkelte vor Wut.
»Ich weiß alles über dich«, zischte er, »ich habe Informationsmaterial über dich. Du falscher Knochenanbeter, du Hundskopf, du Rotbeerenbetrüger, du erbärmlicher Säufer, du mampfender Scharlatan, du... du räudiger Köter. Ich werde dich aufspießen und die Erinnerung an dich ausradieren. Für dich gibt es keine Möglichkeit mehr zur Bewährung, du hast den Tod verdient!« Rex antwortete auf diese verbalen Angriffe mit einem drohenden Knurren und begann sich dem aufsässigen Polizisti in Kampfhaltung zu nähern. »Paß nur auf!« rief Jason und sprang von seinem Dreihorn herab. Er eilte dem Hund zu Hilfe. »Bitte, Rex«, flüsterte er ihm ins Ohr, »laß mich zuerst mit ihm reden. Ich werde versuchen, ihn zu bestechen. Laß dich nicht auf einen Kampf mit ihm ein, er wird dich mit einem Stoß seines Stachels töten oder zumindest bewußtlos machen. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Mit mir hat er das auch gemacht! Du hast wirklich überhaupt keine Chance!« Ohne seinen haßerfüllten Blick vom Polizisti abzuwenden, antwortete Rex: »Es ist schön von dir, daß du dich um mich sorgst, aber er wird dich nicht anhören. Ich muß das tun. Während er sich mit mir herumschlägt, könnt ihr alle an uns vorbeistürzen und durch den Tunnel entkommen. Wenn ich es überlebe, werde ich euch folgen. Nun kannst du wieder aufsitzen, ich bin fest entschlossen.« »Rex, du bist mein Freund, ich ...« »Laß doch das Gejammer! In diesen vergangenen Monaten habe ich wie ein König gelebt. Es war ein herrliches Leben mit ungezählten Freuden. Man behauptet zwar, daß jeder Hund seine Glanzzeit hat, aber das ist leider nicht wahr. Auf viele Hunde trifft das nicht zu. Aber ich hatte meine Glanzzeit, und die hat sehr lange angedauert. Während dieser Zeit habe ich viele Leute an der Nase herumgeführt, aber nun ist es Zeit, dafür zu büßen. Bring mich jetzt nicht um diesen Augenblick, oder ich müßte dich verachten. Geh jetzt! Das ist Schnauzkönigs letzter Befehl!« Jason wußte nicht, was er darauf noch erwidern sollte. Er umarmte den alten Hund, tätschelte seinen gespannten Rücken, auf dem sich die Haare sträubten, ehe er wieder zu seinem Dreihorn zurückkehrte, um es zu besteigen. Es entstand eine Pause, dann kauerte sich Rex zusammen und sprang die Gestalt, die vor ihm stand, an und bleckte knurrend die Zähne.
Rex hielt direkt auf den Stachel zu und schnappte mit seinen kräftigen Kiefern danach. Der Polizisti gab einen angsterfüllten Schrei von sich und wechselte mehrmals in schneller Folge die Farbe. Der Hund, der sich an dem Stachel festklammerte, wurde in der Luft hin und her geschleudert, als der Polizisti sich seines Griffs erwehren wollte. Dann sahen die Dreihörner plötzlich zu ihrem Entsetzen, wie Rex zu Boden ging und sein Körper ganz schlaff wurde. »Getroffen! Getroffen! Ich habe ihn mit meinem Stachel erwischt!« schrie der Polizisti. »Dieser dreimal dumme Köter! Ich habe ihn totgestochen!« Aber dann sank sein Triumphgeschrei zu einem kläglichen Wimmern herab: »Oh, mein Stachel, mein schmerzender Stachel! Er läßt ihn nicht los. Er ist tot, aber er läßt mich nicht los! Fort mit dir, du Drecksack! Oooh! Aua!« »Seht nur«, rief Jason, »er hat den Stachel zwischen seinen Kiefern eingeklemmt. Der Polizisti ist hilflos; zwar hat er den armen Rex getötet, aber Rex hat ihn dafür gefangen. Nun könnt ihr ja gemeinsam auf den Tunnel losstürmen!« Kaum hatte er ausgeredet, als auch schon die ganze Herde vorwärtsstürmte. Der letzte Anblick, der sich den Augen des wild um sich schlagenden Polizisti bot, war eine Unmenge riesiger weißer Hufe, die über ihn hinwegtrampelten, als die Herde ihren Ritt durch den langen, kurvenreichen Tunnel begann. Als der Tunnel schmaler wurde, wieherten die verwirrten Dreihörner vor Angst, ihre Flanken rieben sich an den rauhen Wänden. »Nicht stehenbleiben!« rief Jason. »Zieht nur weiter, ihr dürft nicht stehenbleiben!« Und sie stürmten hintereinander den zickzackförmigen Pfad entlang. Sie rutschten und glitten auf dem unebenen Boden aus, kamen aber voran. Jason wußte nicht genau, wo sich der wachsende Stein befand, nur daß er irgendwo über ihnen sein mußte. Trotzdem trieb er die Herde unter Zurufen an, daß sie immer höher kletterte. So gerieten sie schließlich in eine Sackgasse und sahen sich einer Wand gegenüber, die aus weicher, krümeliger Erde bestand. Es blieb ihnen keine andere Wahl, als sich dagegen zu werfen und zu hoffen, daß sie auf der anderen Seite wieder herauskämen. »Vorwärts!« feuerte sie Jason an. »Nur zu!« Und die tapferen Dreihörner warfen sich mit fliehenden Hufen gegen die Erdmauer. Sie
kickten und bäumten sich auf, als sie in die Mauer einbrachen; sie schwitzten, wieherten und schlugen mit ihren langen muskulösen Beinen wild um sich. Die Wand begann um sie herum einzustürzen, Kaskaden von gelben und braunen Erdkörnchen prasselten auf sie nieder. Dann nahmen sie noch einmal einen Anlauf und waren auf der anderen Seite. So weit das Auge reichte, dehnte sich die Landschaft des Außengesteins aus, die Jason so gut kannte. Endlich war er wieder zu Hause! In der Ferne erblickte er das Dorf Avebury, das so still und verträumt wie eh und je dalag. Statt durch den wachsenden Stein zu kommen, waren sie am steilen Abhang eines Berges in der Nähe an die Erdoberfläche gelangt. Die Dreihörner schüttelten sich ungeduldig die Erde aus ihrem Fell und zogen mit gesenktem Kopf über den grasbewachsenen Abhang, um die frischen Kräuter zu probieren, die dort im Überfluß wuchsen. Jason stieg ab, tätschelte den Hals des Anführers und dankte ihm. Aber die Antwort bestand nur aus einem wortlosen Schnüffeln. »Wohin wirst du nun gehen?« fragte Jason, als das große Tier seinen Kopf senkte und wie seine Kameraden Gras zu mampfen begann. »Bleibst du hier oder reist du noch weiter?« Wieder bestand die Antwort nur aus einem Schnauben, und es dämmerte ihm, daß die Dreihörner hier im Außengestein wahrscheinlich auch wieder ihre Fähigkeit zum Sprechen verloren, eine Einsicht, die ihn traurig stimmte. Aber er mußte sich nun um andere Dinge kümmern. Hier in der Nähe wartete das verrückte Großmaul auf seine Goldenen Würmer, und einer davon war unterwegs, den hatte Jason ja schließlich gerettet. Jason rannte unverzüglich den Berg hinab, bremste dann scharf ab, um die Richtung zu ändern und den tapferen Dreihörnern noch einmal zum Abschied zuzuwinken. Als er seinen Arm hob, sah er zu seinem Entsetzen, daß sie sich vor seinen Augen ganz schnell verwandelten. Sie schwollen alle an und wuchsen ins Unermeßliche. Dann segelten sie über die Bergspitze hinaus und durch die Luft. Sie wieherten kläglich und schlugen mit den Beinen um sich. Sie verteilten sich über die ganze Landschaft wie große weiße Ballons. Sie wuchsen immer noch. Dann begann eines nach dem anderen herabzusinken. Sie stürzten auf den Bergen in der Umgebung ab, die einen in der Nähe und die anderen meilenweit weg. Der Herdenführer stürzte unweit von Jason auf die Erde, und Jason stürmte durch das lange Gras, um ihm zu helfen. Stolpernd und keuchend kam er an die Stelle, wo er gelandet war. Er konnte zusehen, wie das Dreihorn zusammenbrach und sich am Bergabhang in eine riesige flache Form auflöste. Jason war
entsetzt und ging mit unsicheren Schritten darauf zu. Er konnte es einfach nicht fassen, beugte sich nieder und berührte seine Haut. Es war nicht mehr viel mehr als ein kalkiger weißer Fleck, der in den grasbewachsenen Abhang des Berges eingraviert war. Vom Kopf bis zum Schwanz maß das Dreihorn nun mehr als dreißig Meter. »Natürlich!« keuchte Jason. »Die Goldenen Würmer. Sie haben Gras gefressen und sind deswegen explodiert, weil sie nämlich keine Goldenen Würmer hatten. Was haben sie mit ihnen gemacht? Warum haben sie es mir nicht erzählt? Sie mußten wissen, daß dies passieren würde, oder hatten sie es ganz vergessen? Aber nun werde ich es nie mehr erfahren!« Traurig ging er den Hügel hinab und bog in die Straße ein. Es war die Hauptstraße, die von London nach Bristol führt und sein Dorf streift. Als er auf ihr entlangging und über das schreckliche Schicksal nachdachte, das die Dreihörner ereilt hatte, ging ihm ein anderer schrecklicher Gedanke durch den Sinn: >Wenn sie so schnell anschwollen, dann gab es auch für das verrückte Großmaul keine Hoffnung mehr. Es mußte schon kurz nachdem er zum Innengestein aufgebrochen war, explodiert sein. Also komme ich Wochen, Monate, oder vielleicht sogar Jahre zu spät. Das Großmaul wird sich schon vor langer Zeit in die Erde gestürzt und vergebens nach Riesenwürmern gesucht haben, um seinen Magen zu füllen. Auch wird er sich den größten Maulwurfshügel in der Welt aufgeworfen haben.< Als ihm diese Gedanken durch den Kopf schössen, blieb er plötzlich stehen und hielt vor Verwunderung den Atem an. Am Wegesrand, zwischen ihm und dem Dorf ragte ein großer Maulwurfshügel auf, der früher noch nicht dort gewesen war. Er sah wie ein überdimensionaler Schokoladenpudding aus, aber es war das Mausoleum für das jüngst verblichene Großmaul. »Armes altes Großmaul!« murmelte Jason vor sich hin, als er den großen Hügel anstarrte. »Verzeih mir. Ich habe alles getan, was in meiner Macht stand, aber ich bin zu spät gekommen.« Jason kletterte den steilen Abhang des Berges zum flachen Gipfel hinauf. Der Wind blies durch Jasons Haar und durch das zerfetzte Tuch, das er vor so langer Zeit auf dem Abfallhaufen im Tal der Starkherzigen aufgelesen hatte. Wie seltsam und fern dies nun alles war, und vor allem, wie unwirklich! Er wollte gerade wieder umkehren und nach Hause gehen — sein Haus, das auf der anderen Seite des Dorfes lag, konnte er nun schon beinahe
sehen — als ihm der Goldene Wurm in seiner Gürteltasche wieder einfiel. Wenn er nur rechtzeitig daran gedacht hätte, dann hätte er ihn dem Anführer der Dreihornherde geben können. Möglicherweise hätte er ihn gerettet. Aber nun war es zu spät dazu. Aber vielleicht wartete im Innern dieses Hügels immer noch das Großmaul, das sich durch einen Berg von Millionen von Würmern pro Tag fressen mußte, um sich am Leben zu erhalten. Eigentlich war ja der Goldene Wurm für ihn bestimmt gewesen, und er sollte ihn nun auch haben. »Hier hast du ihn, verrücktes Großmaul«, rief Jason und stellte sich in die Mitte des Hügels. Dann öffnete er den Beutel an seinem Gürtel und zog das heraus, was er für den Goldenen Wurm hielt. Er hielt ihn in die Höhe, um seinen Goldglanz noch ein letztes Mal zu sehen, bevor er den Wurm ins Gras fallen ließ. Aber was Jason statt dessen in der Hand hatte, war eine kleine braune Bohne. »Ludo!« schrie er, »da ist ja Ludo! Dich hätte ich ja beinahe vergessen; wenigstens bist du mir noch geblieben!« Als er die Bohne vorsichtig in den Beutel zurücksteckte, sah er, daß der Goldene Wurm immer noch in seiner Ecke glitzerte. Er verschloß die Tasche sehr schnell wieder, weil er dieses Mal kein Risiko eingehen wollte. Wenn er Ludo wieder auf ihre richtige Größe brachte, indem er sich selber in den Finger stach und die Bohne in seinem Blut einweichte, würde sie vielleicht wie das Großmaul und die Dreihörner anschwellen und zerplatzen, wenn sie vor ihrer ersten Mahlzeit im Außengestein nicht einen Goldenen Wurm zu sich nahm. Mit dem Wurm, der Bohne und dem Tropfen seines Blutes müßte es ihm aber gelingen, Ludo wieder ins Leben zurückzurufen und sie in der Gestalt zu bewahren, die für sie vorgesehen war. Endlich würde einmal etwas gut ausgehen. Jason stieß einen Freudenschrei aus, rannte mit großer Geschwindigkeit den Berg hinunter, durchquerte das Dorf und eilte den Pfad zum Hof hinauf. Er ging ums Haus herum und direkt auf die alte Scheune zu. Dort nahm er ein scharfes Messer von der Bank und kletterte aufgeregt über die wacklige Leiter auf den Heuboden. Nun war der große Augenblick gekommen, in dem Ludo wieder vor ihm auftauchen würde, wenn er sein heißes Blut auf die winzige braune Bohne tröpfeln ließe, zu der sie zusammengeschrumpft war, um ihm das Leben zu retten. Natürlich wußte er noch nicht so recht, wie er den Dorfbewohnern ihr braunes Fell und ihre Hörner verständlich machen sollte, wenn sie ihr zum erstenmal begegneten. Aber dieses Problem würde ja erst morgen früh
spruchreif. Jetzt war nur eines wichtig: Daß er sie aus dieser Bohne in die richtige Ludo zurückverwandeln würde. »Das war ja wirklich eine seltsame Reise«, sagte Jason zu sich selber, als er das Messer nahm und die Haut seines Armes damit ritzte, »aber für das, was ich jetzt tue, hat sie sich gelohnt«, und so schnitt er sich mit der Messerspitze bis ins Fleisch. Als das Blut auf die kleine braune Bohne tropfte, die Jason neben sich auf das weiche Lager aus Heu gelegt hatte, fing sie an, sich zu bewegen. Jason sah fasziniert zu und lächelte, als aus der Bohne zuerst ein Ei wurde, das langsam zu wachsen begann... und dann immer größer wurde.
Nachwort Niemand weiß, was aus Jason geworden ist, denn am nächsten Tag war er aus dem Dorf verschwunden, und keiner hat ihn jemals dort wieder gesehen. Ich hatte das Glück, ihn kennenzulernen, kurz bevor er wegging. Spät in der Nacht hörte ich ein Geräusch im Kuhstall und ging, um nachzusehen. Ich entdeckte ihn, wie er eine der Kühe molk und gierig die Milch aus dem Eimer trank. Zuerst war er ziemlich verwirrt, weil er mich noch nie zuvor gesehen hatte - er war ja sehr lange weg gewesen — und er versuchte sich zu verstecken, aber als ich ihm anbot, etwas zum Essen zu bringen, beruhigte er sich wieder. Wir verbrachten beinahe die ganze Nacht im Kuhstall. Wir hockten auf den Melkschemeln, Jason stillte seinen Hunger und erzählte mir seine seltsame Geschichte. Ich habe versucht, sie genauso wiederzugeben, wie er sie mir geschildert hat, befürchte aber, daß viele sie mir nicht glauben werden. Einige Tatsachen sprechen jedoch für sich selber. Zum Beispiel gibt es immer noch den wachsenden Stein in der Nähe des Wegs, der von Avebury nach Swindon führt. Auf der Oberfläche des Steins kann man immer noch bei bestimmter Beleuchtung die feine Linie sehen, wo der Riß war, durch den das Großmaul ins Außengestein gelangt war, und auch an den Abhängen der umliegenden Hügel kann man bis zum heutigen Tag die Überreste der Dreihörner sehen, obwohl sie gewöhnlich nur als »weiße Pferde« bezeichnet werden. Natürlich hat bis heute noch niemand ihr Zustandekommen erklären können. Das gleiche gilt für den riesigen Maulwurfshügel, den fünfzig Meter hohen Erdrücken; der von dem verzweifelten Großmaul in seinen letzten Stunden aufgeworfen worden war. Wenn du jemals auf dem Weg von London nach
Bristol an Avebury vorbeikommen solltest, kannst du dich ja selbst davon überzeugen. Die Leute nennen ihn »Silbury Hill«, nach einem König mit Namen »SU«, der vor langer Zeit lebte und dort mit einem sagenhaften goldenen Schatz begraben sein soll. Sie haben schon mehrmals kreuz und quer Stollen durch sein Inneres gegraben, aber natürlich weder den König noch seinen Schatz gefunden. Vielleicht werden sie eines Tages tief unter »Silbury Hill« die Überreste eines riesigen, maulwurfsartigen Geschöpfes entdecken und sich über seine anatomischen Besonderheiten wundern. Vielleicht aber auch nicht, denn das Großmaul mußte schon sehr tief gegraben haben, um einen so großen Hügel auf zuwerfen. Ich frage mich, ob es vielleicht doch ins Innengestein zurückgekehrt ist und nun behaglich in der Schlafhöhle seines Turmhauses in Ludos Heimatdorf liegt? Es wäre zwar möglich, aber irgendwie bezweifle ich es doch, denn die Zeit war gegen das Großmaul. Wahrscheinlich werden wir nie erfahren, was aus ihm geworden ist. Auch das Geheimnis um Ludos Rettung wird bis zu Jasons Rückkehr ungelöst bleiben. In der besagten Nacht lehnte er auch meinen mehrfach geäußerten Wunsch ab, gemeinsam zur Scheune zu gehen. Als ich aber am nächsten Morgen allein dort hinging und die Leiter hinaufkletterte, waren beide spurlos verschwunden. Nur ein scharfes Messer lag noch auf dem Heu herum, und ich entdeckte auch einen kleinen, eingetrockneten Blutfleck. Aber das beweist gar nichts. Hier geht meine Geschichte zu Ende. Ob ihr nun Jasons Erzählung glaubt oder nicht, liegt an euch. Ich für mein Teil weiß, daß sie wahr ist, weil ich den Glanz in seinen Augen gesehen habe, als er die Reise beschrieb. Wir wissen alle, daß ein Gesichtsausdruck mehr vermag als Worte, aber ihr habt diese Erfahrung in bezug auf Jason nicht gemacht, und so verzeihe ich euch auch, wenn ihr nach der Lektüre des Buches zu dem Schluß kommt, daß ich nur ein leichtgläubiger Dummkopf war.