Peter Temple
Kalter August
Roman
Deutsch
von Hans M. Herzog
GOLDMANN
C
ashin ging um den Hügel herum, in d...
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Peter Temple
Kalter August
Roman
Deutsch
von Hans M. Herzog
GOLDMANN
C
ashin ging um den Hügel herum, in den Wind, der vom Meer her wehte. Es war kalt, Ende August, und noch klam merten sich letzte leuchtend bunte Blätter an die Amber- und Ahornbäume, die der Bruder seines Urgroßvaters gepflanzt hatte. Er mochte diese Zeit sehr, die Ruhe am Morgen, mochte sie mehr als den Frühling. Die Hunde wurden allmählich müde, schnupperten aber immer noch am Boden herum, die Schnauzen gesenkt, weniger zuversichtlich. Dann nahm einer von ihnen Witterung auf, sie wurden wieder munterer in den Beinen, sprangen hintereinan der in den Wald und waren verschwunden. Als er in die Nähe des Hauses kam, tauchten die Hunde, schwarz wie Lakritz, zwischen den Bäumen auf, blieben mit erhobenen Köpfen stehen und sahen sich um, als sähen sie die ses Land zum ersten Mal. Entdecker. Eine Weile musterten sie ihn, dann liefen sie den Hang hinunter. Das letzte Stück ging Cashin möglichst zügig, und als er die Hand nach dem Tor ausstreckte, hatten die beiden ihn einge holt. Sie versuchten, ihn mit ihren lockigen schwarzen Köpfen wegzudrängen, wollten unbedingt zuerst hinein, schoben mit kräftigen Hinterbeinen. Als er das Tor entriegelt hatte, stießen sie es so weit auf, dass sie hindurchschlüpfen konnten, und trotteten im Gänsemarsch den Weg entlang bis zur Tür. Wie der wollte jeder der Erste sein, die erhobenen Schwänze w i r k ten wie pelzige Krummschwerter, die Schnauzen berührten den Türknauf.
Im Haus liefen die großen Pudel vor ihm her zur Küche. Dort standen ihre Wassernäpfe, und sie steckten die Schnauzen hinein und schlabberten geräuschvoll. Cashin bereitete ihr Fressen vor: für jeden zwei Scheiben von der dicken Hunde wurst, die der Metzger in Kenmare herstellte, und drei Hand voll Trockenfutter. Er lenkte die Aufmerksamkeit der Hunde auf sich, trug die Näpfe nach draußen und stellte sie im A b stand von einem Meter auf den Boden. Die Hunde kamen raus. Er befahl ihnen, sich zu setzen. Das taten sie langsam, mit vom Wasser vollen Bäuchen und offen bar widerwillig, scheinbar arthritisch. Als sie fressen durften, musterten sie das Fressen gleichgültig, musterten einander und dann ihn. Waren sie etwa ins Freie gelockt worden, damit sie diesen ungenießbaren Fraß sahen? Cashin ging wieder ins Haus. In seiner Gesäßtasche klin gelte das Handy. »Ja.« »Joe?« Kendall Rogers vom Revier. »Eine Frau hat angerufen«, sagte sie. »Aus der Nähe von Beckett. Eine Mrs. Haig. Sie glaubt, jemand sei in ihrem Schup pen.« »Und macht was?« »Tja, gar nichts. Ihr Hund bellt. Ich kläre das.« Cashin betastete seine Bartstoppeln. »Wie ist die Adresse?« »Ich fahre hin.« »Überflüssig. Liegt ganz in meiner Nähe. Adresse?« Er ging zum Küchentisch und notierte auf einem Block Datum, Uhrzeit, Begebenheit, Adresse. »Sag ihr fünfzehn Uhr zwanzig. Gib ihr meine Nummer für den Fall, dass vor mei nem Eintreffen irgendwas passiert.« Den Hunden gefiel seine Eile, sie sprangen herum und rann ten zum Wagen, als er aus dem Haus kam. Unterwegs hielten sie Wache, steckten die Schnauzen aus den hinteren Fenstern.
1
Cashin parkte auf der Zufahrt, hundert Meter vor dem Farm tor. Als er näher kam, lugte seitlich der Hecke ein Kopf her vor. »Polizist?«, fragte die Frau. Ihre schmutzig grauen Haare umrahmten das Gesicht, mit einem derben Werkzeug aus Hartholz geschnitzt. Cashin nickte. »Uniform und so was?« »Kripobeamter in Zivil«, sagte er und hielt ihr die Dienst marke der Polizei von Victoria hin, deren Emblem wie ein Fuchs aussah. Die Frau nahm ihre verschmierte Brille ab und betrachtete die Marke. »Sind das Polizeihunde?«, fragte sie dann. Er sah sich um. Zwei wollige schwarze Köpfe im selben Fenster. »Sie arbeiten mit der Polizei zusammen«, sagte er. »Wo ist diese Person?« »Kommen Sie«, sagte sie. »Der Hund ist im Haus, völlig übergeschnappt, der kleine Spinner.« »Ein Jack Russell«, sagte Cashin. »Woher wissen Sie das?« »Geraten.« Sie gingen um das Haus herum. Er spürte die Angst in sich aufsteigen wie ein Brechreiz. »Da drin«, sagte sie. Der Schuppen stand ein ganzes Stück vom Haus entfernt, man musste eine offene, von Unkraut überwucherte Garten fläche überqueren, bis zu einer Lücke in einem Zaun, der unter wild wuchernden Costa-Rica-Nachtschatten verschwand. Sie gingen zum Tor. Dahinter wuchs kniehohes Gras, aus dem ros tige Eisenteile ragten. »Was ist drin?«, fragte Cashin und betrachtete einen verros teten Schuppen aus Wellblech, ein paar Meter von der Straße entfernt; eine Tür stand halb offen. Er spürte den Schweiß an
seinen Schlüsselbeinen und wünschte, er hätte das Kendali überlassen. Mrs. Haig berührte ihr Kinn, schwarze Stoppeln wie bei einer abgenutzten Haarbürste. »Krempel«, sagte sie. »Ramsch. Der alte Pick-up. War schon Jahre lang nicht mehr drin. Geh da nicht rein.« »Lassen Sie den Hund raus«, sagte er. Ihr Kopf fuhr herum, beunruhigt. »Der Scheißkerl tut ihm vielleicht weh«, sagte sie. »Nein«, widersprach er. »Wie heißt der Hund?« »Monty, ich nenn sie alle Monty, nach Lord Monty von Ala mein. Sie sind zu jung, das sagt Ihnen nichts.« »Stimmt«, sagte er. »Lassen Sie Monty raus.« »Und die Polizeihunde? Wozu sind die denn gut, ver dammt?« »Die werden nur eingesetzt, wenn es um Leben und Tod geht«, sagte Cashin und achtete darauf, dass seine Stimme nicht zitterte. »Wenn ich an der Tür bin, lassen Sie Lord Monty raus.« Er hatte einen trockenen Mund, die Kopfhaut juckte, vor Rai Sarris wäre das undenkbar gewesen. Er ging über die Wiese, näherte sich von links der Tür. Man lernte früh, poten ziell gefährliche Personen auf Distanz zu halten, und das be inhaltete, ihnen nicht in düsteren Schuppen zu begegnen. Mrs. Haig stand an der Nachtschattenhecke. M i t klopfen dem Herzen hielt Cashin den Daumen hoch. Der kleine Hund schoss durch das Gras, ein kläffendes Bün del angespannter Muskeln, kam zu dem Schuppen, bremste, steckte den Kopf in die Tür und knurrte, das Körperchen starr vor Erregung. Cashin hieb mit der linken Hand gegen die Wellblechwand. »Polizei«, sagte er laut, froh darüber, irgendwas zu unterneh men. »Kommen Sie da raus. Sofort!« Er musste nicht lange warten.
Der Hund wich hysterisch jaulend zurück, befand sich vor wiegend in der Luft. Ein Mann tauchte in der Tür auf, zögerte, kam dann mit einem Seesack ins Freie. Den Hund beachtete er nicht. »Bin schon unterwegs«, sagte er. »Hab nur 'ne Runde ge schlafen.« Er war vielleicht Mitte fünfzig, hatte kurze graue Haare, breite Schultern, Bartstoppeln. »Rufen Sie den Hund, Mrs. Haig«, sagte Cashin über die Schulter. Als die Frau rief, zog der Hund sich zurück, widerwillig, aber gehorsam. »Unerlaubtes Betreten eines Privatgeländes«, sagte Cashin, nun ruhiger. Er fühlte sich von dem Mann nicht bedroht. »Tja, also, hab nur 'ne Mütze Schlaf genommen.« »Legen Sie den Sack hin«, sagte Cashin. »Ziehen Sie den Mantel aus.« »Wer sagt das?« »Ich bin Polizist.« Cashin zeigte ihm den Fuchs. Der Mann faltete den Mantel zusammen und legte ihn auf das längliche Bündel zu seinen Füßen. Er trug Schnürstiefel mit eingedellten Spitzen, die offenbar noch nie Creme gesehen hatten. »Wie sind Sie hergekommen?«, fragte Cashin. »Gegangen. Per Anhalter.« »Von wo?« »New South.« »New South Wales?« »Stimmt.« »Ziemlich weiter Weg.« »Schon.« »Wohin soll's gehen?« »Einfach weiter. Wohin ich gehe, ist meine Sache.« »Ist ein freies Land. Können Sie sich ausweisen? Führer schein, Krankenversicherungskarte.«
»Nein.«
»Gar kein Ausweis?«
»Nein.«
»Machen Sie's mir nicht so schwer«, sagte Cashin. »Ich hab
noch nicht gefrühstückt. Ohne Ausweis kommen Sie mit aufs Revier, ich nehme Ihre Fingerabdrücke, Sie kriegen eine A n zeige wegen unbefugten Betretens, werden in eine Zelle ge sperrt. Könnte 'ne Weile dauern, bis Sie wieder das Tageslicht sehen.« Der Mann bückte sich, fand in dem Mantel eine Brieftasche, nahm ein gefaltetes Blatt Papier heraus, hielt es Cashin hin. »Stecken Sie's in die Tasche des Mantels und werfen Sie ihn rüber.« Er landete einen Meter von Cashin entfernt. »Treten Sie etwas zurück«, sagte Cashin. Er hob den Mantel auf, tastete ihn ab. Nichts. Er nahm das oft gefaltete, abge nutzte Blatt heraus und klappte es auf. Dave Rebb hat drei Jahre lang auf Boorindi Downs gear beitet und ist ein fleißiger Arbeiter, der keinen Ärger macht, kennt sich mit Maschinen aus, mit fast allen mechanischen Sachen. Auch mit Vieh. Ich würde ihn jeder Zeit wieder ein stellen. Unterschrieben war es mit Colin Blandy, Manager, und datiert auf den 11. August 1996. Da stand auch eine Telefonnummer. »Wo ist das?«, fragte Cashin. »In Queensland. In der Nähe von Winton.« »Und das ist alles? Das ist Ihr >Ausweis Zehn Jahre alt?« »Ja.« Cashin nahm sein Notizbuch heraus und schrieb Namen und Nummer auf, steckte das Blatt wieder in den Mantel. »Sie haben der Dame hier Angst gemacht«, sagte er dann. »Das ist nicht nett.«
»War kein Lebenszeichen zu sehen, als ich hier ankam«, er widerte der Mann. »Hund hat nicht gebellt.« »Schon mal Arger mit der Polizei gehabt, Dave?« »Nein. Hatte noch nie Ärger.« »Könnte ein Mörder sein«, warf Mrs. Haig von hinten ein. »Ein Killer. Ein gefährlicher Killer.« »Also, Mrs. Haig«, sagte Cashin, »ich bin hier der Polizist, ich kümmere mich darum. Dave, ich fahre Sie jetzt zur Haupt straße. Wenn Sie noch mal hier auftauchen, kriegen Sie ernste Probleme. Klar?« »Klar.« Cashin machte zwei Schritte nach vorn und gab dem Mann seinen Mantel zurück. »Gehen wir.« »Verhaften Sie ihn!«, schrie Mrs. Haig. Im Wagen hielt Dave Rebb den Hunden die Hände hin, er kannte sich mit Hunden aus. An der Kreuzung hielt Cashin an. »Wo soll's denn hingehen?«, fragte er. Ein kurzes Zögern. »Cromarty.« »Ich lasse Sie in Port Monro raus«, sagte Cashin und bog nach links ab. An der Abzweigung zur Stadt hielt er an. Sie stiegen aus, und er holte den Seesack des Mannes aus dem Kof ferraum. »Nicht vergessen, wo Sie hinwollen«, sagte Cashin. »Brau chen Sie ein paar Dollar?« »Nein«, sagte Rebb. »Sie haben mich wie einen Menschen behandelt. Das kommt nicht oft vor.« Während er wartete, dass er wenden konnte, sah Cashin Rebb nach, der seinen Seesack quer auf dem Rücken trug, so dass er seitlich vorstand. Im morgendlichen Dunst sah er aus wie ein gehendes Stummelkreuz.
N
ichts Dramatisches?«, fragte Kendali Rogers. »Bloß ein Landstreicher«, sagte Cashin. »Machst du jetzt unbezahlte Überstunden?« »Ich bin früh aufgewacht. Außerdem ist es hier wärmer.« Sie fummelte an irgendwas auf dem Tresen herum. Cashin schob die Klappe hoch, ging zu seinem Schreibtisch auf der anderen Seite des Tresens und begann seinen Bericht. »Ich überlege, ob ich mich versetzen lasse«, sagte sie. »An meiner Körperhygiene kann ich arbeiten«, sagte Ca shin. »Ich kann mich ändern.« »Ich brauche keinen Beschützer«, sagte sie. »Ich bin keine Anfängerin mehr.« Cashin schaute hoch. Das hatte er nicht erwartet. »Ich be schütze dich vor gar nichts. Ich würde niemanden beschützen. Du darfst jederzeit statt meiner sterben.« Stille. »Tja, egal«, sagte Kendall. »Hier muss noch einiges erledigt werden. Die Kneipengeschichte zum Beispiel. Du fährst um zehn Uhr nachts zurück.« »Diese Caine-Tiere rühren mich nicht an. Ich werde be stimmt nicht bei einer gerichtlichen Anhörung erklären, wa rum ich den Fall dir überlassen habe.« »Warum rühren sie dich nicht an?« »Weil meine Cousins sie sonst umbringen. U n d danach wer den sie übel mit ihnen umspringen. Ist das eine zufriedenstel lende Antwort, Euer Ehren?« Er widmete sich wieder seinem
Bericht, spürte aber, dass sie ihn immer noch ansah. »Und?«, sagte er. »Noch was?« »Ich geh rüber zu Cindy's. Eier mit Schinken?« »Ich soll zulassen, dass du allein dieser gefährlichen Schlampe gegenübertrittst? An einem Freitagmorgen? Ich gehe.« Sie lachte, ein Teil der Spannung war gewichen. Als sie an der Tür war, sagte Cashin: »Ken, diesmal mit etwas mehr Senf? Bist du mutig genug, sie darum zu bitten?« Er trat ans Fenster und sah ihr nach, wie sie die Straße ent langging. Sie war Turnerin gewesen, hatte mit sechzehn den Bundesstaat vertreten, ihre erste Goldmedaille gewonnen. I h rem Gang merkte man das nicht an. Einmal war sie nach dem Dienst mit einem Freund, einem Fotografen, in der Stadt in einem Club gewesen. Dort erkannte sie ein Jugendlicher, den sie ein paar Monate zuvor festgenommen hatte, ein Autome chanikerlehrling, ein Wochenendraver, ein gemeiner Schläger. Man folgte ihnen, der Fotograf wurde übel zusammengeschla gen und in seinen Kofferraum gesperrt, überlebte mit Glück. Kendali verschleppte man sonstwohin und behandelte sie wie eine Sexpuppe. Am frühen Morgen wurde sie von einem Mann und seinem Hund gefunden. Ihr Becken, ein A r m und sechs Rippen waren gebrochen, die Lunge war durchbohrt, Milz und Bauchspeicheldrüse waren verletzt, die Nase war zertrümmert, ein Wangenknochen zersplittert, fünf Zähne hatte man ihr ausgeschlagen, eine Schulter ausgerenkt, überall wies sie schwere Blutergüsse auf. Cashin widmete sich wieder dem Papierkram. Man kam auch ohne Ausweis zurecht, aber Rebb war fest angestellt ge wesen, vielleicht gab es irgendwelche Steuerunterlagen. Er rief die Nummer von Boorindi Downs an. Es klingelte eine Weile. »Ja?« »Polizei Victoria, Detective Cashin, Port Monro. Ich brau che Informationen über einen Mann, der mal auf Boorindi Downs beschäftigt war.«
»Ja?« »Dave Rebb.« »Wann war das?« »1994 bis 1996.« »Nein, Mann, aus der Zeit ist keiner mehr hier. Der Besitzer hat gewechselt, alle Leute von damals wurden entlassen.« »Was ist mit Colin Blandy?« »Blands, na klar. Den kenn ich noch von früher, die Grie chen haben ihn rausgeschmissen, ist nach New South Wales gezogen. Inzwischen tot.« »Danke für Ihre Zeit.« Er hatte einen Fehler gemacht, dachte Cashin, er hätte Rebbs Fingerabdrücke nehmen sollen. Dafür gab es gute Gründe, er hatte sich von Gefühlen leiten lassen. Könnte ein Mörder sein, hatte Mrs. Haig gesagt. Ein Killer. Er rief in Cromarty an, ließ sich den Kripomann geben, den er dort kannte. »Sie haben so ein Bauchgefühl, stimmt's?«, sagte Dewes. »Ich sag allen, sie sollen die Augen offen halten.« Cashin saß da, die Hände auf dem Schreibtisch. Damit hatte er Rebb gedroht, mit den Fingerabdrücken, der langen Warte zeit in der Zelle. »Sandwich«, sagte Kendali. »Extraportion Senf. Sie hat ihn mit der Kelle aufgetragen.« Eine ganz normale Schicht verging. Gegen Ende erfuhr er, bei einer ersten elektronischen Überprüfung der Verwaltun gen von Bundesstaaten und Territorien habe sich in keiner Datenbank ein David Rebb gefunden. Das wollte nicht viel heißen. Cashin kannte Fälle, wo Leute mit ellenlangen Vor strafenregistern bei Nachforschungen durchs Netz gefallen waren. Er verließ das Revier, fuhr auf den Highway und bog nach Cromarty ab. Rebb war inzwischen dreiundzwanzig Kilometer gegangen. Cashin hielt ein gutes Stück vor ihm an, stieg aus.
Er kam näher, ein geübter Wanderer mit federndem Gang, blieb stehen, die Schultern leicht geneigt, das schiefe Kreuz. »Dave, ich muss Ihre Fingerabdrücke nehmen«, sagte Ca shin. »Ich sag's Ihnen doch. Hab nichts getan.« »Ihr Wort genügt mir nicht, Dave. Ich darf mich nicht da rauf verlassen, bei niemandem. Muss Sie wegen unbefugten Betretens festnehmen«, sagte Cashin. Rebb schwieg. »Damit wir Ihre Fingerabdrücke nehmen können.« »Sperren Sie mich nicht ein«, sagte Rebb leise, tonlos. »Ich halt's in 'ner Zelle nicht aus.« Cashin hörte die Furcht in der Stimme des Mannes und wusste, dass ihm das früher ziemlich egal gewesen wäre. Er zögerte und sagte dann: »Hören Sie, haben Sie Interesse an A r beit? Milchkühe, sich um Kühe kümmern. So was schon mal gemacht?« Rebb nickte. »Is lange her.« »Suchen Sie Arbeit?« »Tja, bin für Vorschläge offen.« »Und im Garten, ein paar Bauarbeiten vielleicht?« »Klar. So was hab ich auch schon gemacht, klar.« »Tja, hier gibt's Arbeit. Mein Nachbar hat Kühe, ich bringe ein altes Grundstück auf Vordermann, mache vielleicht das Haus wieder bewohnbar, so was in der Art. Würden Sie für einen Cop arbeiten?« »Hab schon für jeden Mistkerl gearbeitet, den es gibt.« »Danke sehr. Sie können heute bei mir übernachten. Da gibt's einen Schuppen mit Betten und 'ner Dusche. Um den Job kümmern wir uns morgen.« Sie stiegen ein, Rebbs Seesack auf dem Rücksitz. »Beschafft man sich hier so die Arbeitskräfte?«, fragte Rebb. »Cops wer ben sie an?« »Gehört alles zu meinen Aufgaben.«
»Was ist mit den Fingerabdrücken?« »Ich glaube Ihnen, dass Sie sauber sind. Ziemlich dämlich von mir, oder?« Rebb sah aus dem Fenster. »Spart dem Steuerzahler Geld«, sagte er.
C
ashin wurde im Dunkeln wach, musste an Shane Diab den ken, an die Geräusche, die er beim Sterben gemacht hatte. Eine Zeit lang horchte er auf seine pochenden Schmerzen, probierte das Rückgrat aus, die Hüften, die Oberschenkel alles tat ihm weh. Er schob die herrlich warme Last der Tages decken beiseite, steckte die Füße in die eiskalten wartenden Stiefel und ging aus dem Zimmer, durch den Korridor, durch Tommy Cashins tristes Wohnzimmer, in den Flur, durch die Haustür ins Freie. Draußen war es nicht kälter als drinnen, heute hatte ein starker Seewind den Dunst weggeweht. Er pisste von der Veranda ins Unkraut. Dem war es egal. Dann ging er wieder rein und machte seine Dehnübungen, wusch sich das Gesicht, spülte den Mund aus, zog einen Ove rall, Strümpfe und Stiefel an. Die Hunde kannten seine Geräusche, sie knurrten und w i n selten vor Ungeduld an der Seitentür. Er ließ sie rein, und die großen Tiere umschnüffelten ihn schwanzwedelnd. Durstig ging er zum Kühlschrank, und bei dem Anblick der eisigen Bierflaschen kam ihm der Gedanke, er könne ein Bier trinken. Er nahm die Zweiliterflasche Saft heraus, der laut Eti kett acht Obstsorten enthielt. So was glaubte nur ein Volltrot tel. Er hielt die Plastikflasche mit beiden Händen, trank lange und ausgiebig, wenigstens ein großes Glas. Dann nahm er die alte Ölzeugjacke von dem Haken hinter der Tür, griff sich die Waffe. Als er die Verandatür öffnete, zwängten die Hunde sich
hindurch, sprangen die Treppe hinunter und liefen zum hinte ren Tor. Drängelnd beobachteten sie, wie er den Weg entlang kam und sich beim Gehen die Jacke überstreifte. Kaum war das Tor offen, rannten sie Seite an Seite den Weg hinunter, gelang ten aufs offene Feld und strebten eilig zum Wald, sprangen ausgelassen über die hohen Grasbüschel, mit großen Sätzen und flatternden Ohren. Cashin klappte die kleine Bockdoppelflinte beim Gehen auf, kramte in seinen Seitentaschen und fand eine 22er Kugel und eine 410er Patronenhülse, lud beide Läufe. Oft bot sich die Ge legenheit, einen Schuss auf einen Hasen abzugeben, und er be trachtete durch das Prismen-Zielfernrohr das herrliche grau braune Tier, die nervösen Ohren. Er dachte nicht mal ans Schießen, er mochte Hasen, ihre Intelligenz, ihre Verspieltheit. Gelegentlich schoss er auf ein flüchtendes Kaninchen. Das war nur eine Jahrmarktübung, eine Herausforderung. Er traf nie seine Reaktionszeit war zu lang, die Schrotkörner waren zu klein, sie zerfielen zu rasch und waren dann wirkungslos. Cashin ging weiter, mit der aufgeklappten Flinte über dem A r m , sah zum Wald hinüber, in dem es dunkel war, wartete da rauf, dass die Hunde bei den Vögeln ankamen und sie wie Leuchtspurgeschosse in den Himmel hinaufjagten. Ein letzter Sprung und die Hunde waren im Wald, lösten die Vogelexplosion aus, schwarze Schrapnelle, die kreischend gen Himmel stoben. Er ging über den Hügel und den Hang hinunter, den H u n den nach, die, tiefschwarz und Licht schluckend, die Köpfe gesenkt, mit flinken Beinen hin und her liefen und die Laub schicht aufwühlten. Wo der Boden ebener wurde, am Rande der Lichtung, suchte ein Hase das Weite. Cashin sah den dreien hinterher, wie sie über das offene Land jagten, schwarze Hunde und Hase, der Hase mit perfekt kalkulierter Geschwindigkeit, einen Haken schlagend, wenn er die Hunde im Nacken spürte. Er schien die Hunde an einem Seil hinter sich her zu ziehen.
Die drei verschwanden zwischen den Bäumen oberhalb des Bachs. Cashin überquerte die Wiesen. Für das bloße Auge war der Boden eben, doch wenn man durch das hohe trockene Gras stapfte, spürte man holprigen Grund unter den Füßen, die breiten, vor langer Zeit von einem Pflug gezogenen Furchen. Die Lichtung war einst urbar gemacht worden, doch daran konnte sich kein Lebender mehr erinnern. Er würde nie erfah ren, ob sein Vorfahr Tommy Cashin hier etwas angebaut hatte. Es war mühsam, zwischen Pappeln und Weiden hindurch zum Bach zu gelangen, da Tausende von Wurzeln mindestens dreißig Jahre lang unkontrolliert gewuchert waren. Als er den Wasserlauf erreichte, ein Rinnsal zwischen Tümpeln, tauchten die hechelnden Hunde auf. Sie sprangen sofort in den Bach, suchten sich die tiefsten Stellen, tranken, liefen umher, tranken, liefen umher, das Wasser wirbelte schwach um ihre dünnen kräftigen Beine, sie bissen hinein, hoben die spitzen Schnau zen, aus den Barten rann Wasser. Pudel mochten Pfützen, sie mochten kein tiefes Wasser, das Meer mochten sie nicht be sonders. Sie plantschten gern. Auf der anderen Seite des Baches stürmten sie westwärts, halb um den Hügel, auf die flachere Flanke. Im graubraunen Gras sah Cashin die Ohren zweier Hasen. Er pfiff nach den Hunden und deutete auf die Hasen. Sie folgten seinem ausge streckten A r m , liefen los und scheuchten das Paar auf, das ge meinsam flüchtete und zusammen blieb, Seite an Seite zehn oder fünfzehn Meter weit rannte, jeder Hase verfolgt von einem der Hunde, eine geordnete Vierergruppe. Dann verab schiedete sich der linke Hase, lief bergab. Sein Hund rannte ihm hinterher. Das ertrug der andere Hund nicht, ließ von sei nem Hasen ab und schwenkte nach links, um seinem Freund bei der Verfolgung zu helfen. Sie verschwanden im hohen Gras. Nach einer Weile kamen sie zurück, mit lang heraushängen den rosa Zungen, sprangen gleich wieder voran.
Beim Gehen spürte Cashin, dass er beobachtet wurde. Auch die Hunde würden den Mann bald bemerken, sich nach links wenden und zu ihm hin rennen. Er ging weiter und dann hörte er das spitze und vernehmliche Bellen. Der Mann hatte den Wald verlassen, die Hunde umkreisten ihn, sprangen an ihm hoch. Cashin machte sich keine Sorgen. Er sah, wie der Mann ihnen die Hände hinhielt, die sie zu le cken versuchten, erfreut darüber, ihren Freund zu sehen. Er näherte sich Den Millane, der fast achtzig war, aber noch ge nauso aussah wie mit fünfzig. Er würde mit einem dichten Haarschopf von der Farbe eines Gewehrlaufs sterben. Sie gaben sich die Hand. Wenn sie sich eine Weile nicht ge sehen hatten, gaben sie sich die Hand. »Immer noch kein anständiger Regen«, sagte Cashin. »Verflucht ungewöhnlich«, sagte Millane. »Allmählich glaub ich an diesen Treibhausquatsch.« M i t je einer Hand knetete er den Hunden die Köpfe. »Teufel auch, hätte nie gedacht, dass ich mal einen verfluchten Pudel mögen würde. Hast du die Frauen im Corrigan-Haus gesehen?« »Nein.« Beider Grundstücke grenzten an das der Corrigans. Mrs. Corrigan war nach dem Tod ihres Mannes nach Queensland ge zogen. Seitdem hatte niemand mehr in dem Backsteinhäuschen gewohnt. Die Witterung hatte die Farbe von den Holzrahmen abblättern und den Fensterkitt austrocknen lassen, so dass hier und da Scheiben herausfielen. Die Nebengebäude aus Holz hat ten Schlagseite bekommen, waren umgestürzt und die verrotte ten Balken wurden von Gras überwuchert. Cashin wusste noch, wie er an einem heißen Sommerwochenende Anfang der Neun ziger hergekommen war - damals war er noch mit Vickie zu sammen - und ein großes Stück vom Dach war verschwunden gewesen, weggeweht. Er bat Den Millane, Mrs. Corrigan zu i n formieren, woraufhin das Dach notdürftig geflickt wurde. Von den Dächern hing es ab, ob leere Häuser zu Ruinen wurden.
»Der Elders-Knabe hat sie angeschleppt«, sagte Den ohne aufzusehen. »So ein fetter Drecksack. Die eine hat kurze Haare, wie ein Kerl. Wie Kerle früher rumgelaufen sind. Als sie gestern wiederkamen, liefen auf einmal schon drei Mädels da rum, da an dem alten Zaun entlang. Beschissene Lesbenkolo nie im Anmarsch, Mann.« »Du hast Lesben entdeckt? Gab's die denn zu deiner Zeit schon?« Millane spuckte aus. »Is immer noch meine verdammte Zeit, Mann. Hauptsächlich Lehrerinnen, diese Lessies. Früher ham se die cleveren Girls raus in die Pampa geschickt, wo's nur Dumpfbacken gab, die nicht mal 'n Comic-Buch lesen konn ten. Ich sag dir was, war ich 'n Mädchen gewesen und hätte diese Knilche kennen gelernt, ich war auch lesbisch geworden. Egal, Folgendes, hast du dir mal deinen Grundbucheintrag an gesehen?« Cashin schüttelte den Kopf. »Der Bach ist nicht die Grundstücksgrenze.« »Nicht?« »Deine Grundstücksgrenze liegt auf der anderen Seite, zwanzig, dreißig Meter hinter dem Bach.« Millane fuhr sich mit dem Daumenknöchel über die Unterlippe. »Setz deinen Anspruch auf den Scheißbach durch oder verlier ihn, Mann. Zäun die Bachschleife ein oder verabschiede dich von ihr.« »Also«, sagte Cashin, »man muss verrückt sein, um den H o f zu kaufen. Das Haus muss repariert werden, das Land ist steil.« Millane schüttelte den Kopf. »Schon mal erlebt, was heut zutage für Dreck bezahlt wird? Jeder zweite Trottel w i l l auf dem Land wohnen, wo er in Allradwagen rumfährt, die Stra ßen kaputt macht, über die Kuhscheiße und die Agrarchemie meckert.« »Hab keine Zeit, das Grundbuch zu lesen«, sagte Cashin. »Bin zu beschäftigt, das Gesetz zu hüten. Brauchst du noch wen, der die Rinder rüber nach Coghlans bringt?«
»Klar. Mein Knie wird immer schlimmer.« »Hab einen gefunden.« »Ist noch 'n bisschen was anderes zu tun, vielleicht drei Tage lang. Aber ohne Unterkunft.« »Ich bring ihn vorbei.« Den sah zu, wie die Hunde eine Brombeerhecke untersuch ten. »Wann lässt du denn diese edlen Hunde mal wieder bei mir?« »Wollte nicht fragen«, sagte Cashin. »Ist schlimmer als 'n Sack Flöhe hüten.« »Ich komm mit den Scheißviechern klar. Bring sie rüber. Mager sehen sie aus, ich geb ihnen ordentlich Karnickel zu fressen.« Sie verabschiedeten sich voneinander. Als Cashin fünf Meter weg war, rief Den: »Du behältst gefälligst, was dir gehört. Haste mich verstanden?«
D
er Anruf kam um acht Uhr zehn, weitergeleitet aus Cro marty. Cashin war schon kurz vor der Abzweigung nach Port Monro. Als er die Küstenstraße entlangfuhr, kam der Krankenwagen ihm entgegen. Er fuhr langsamer, damit sie zu erst an die Kreuzung gelangten, folgte dann der Ambulanz den Hügel hinauf, um die Kurven und durch das Tor von »The Heights«, parkte auf dem Vorhof. Auf dem Kies stand eine Frau, ein gutes Stück von dem Haupthaus entfernt, und rauchte eine Zigarette. Sie warf sie weg und führte die Sanitäter die Treppe hoch ins Haus. Cashin folgte ihnen durch eine Eingangshalle und in einen großen Raum mit hoher Decke. In der Luft hing ein schwach säuer licher Geruch. Der alte Mann lag vor dem gewaltigen Kamin auf dem Bauch, den Kopf auf der steinernen Feuerstelle. Er war nur mit einer Pyjamahose bekleidet, sein schmaler nackter Rücken war von getrocknetem Blut und dunklen horizontalen Linien überzogen. Das Blut hatte auf den Steinen kleine Pfützen ge bildet und war in den Teppich gesickert. Im Licht, das durch ein hohes, vorhangloses Fenster fiel, sah es dunkel aus. Die beiden Sanitäter gingen zu ihm, knieten sich hin. Die Frau legte ihm die behandschuhte Hand an den Kopf, hob ihn sanft an. »Schwere offene Kopfwunde, mögliche Gehirnher niation«, sagte sie zu ihrem Begleiter und zugleich in ein Kehl kopfmikrofon. Sie prüfte die Atmung des Mannes, prüfte ein Auge, hielt
den einen Unterarm hoch. »Mutmaßliche Herniation«, sagte sie. »Vier Ampullen Kochsalz, hundert Prozent Hyperventila tion, Intubation angezeigt, hundert M i l l i Lidocain.« Ihr Kollege bereitete den Sauerstoff vor. Er versperrte die Sicht, so dass Cashin das Geschehen nicht mehr verfolgen konnte. Nach einer Weile sagte die Sanitäterin: »Drei auf der Koma skala. Den Helikopter, Dave.« Der Mann holte ein Mobiltelefon hervor. »Die Tür war offen«, sagte die Frau, die auf der Treppe ge wartet hatte. Sie stand hinter Cashin. »Ich bin nur einen Schritt weit reingegangen und rückwärts wieder raus, weil ich dachte, er wäre tot, ich wollte nur weg, in den Wagen steigen und nichts wie weg von hier. Dann dachte ich, vedammter Mist, vielleicht lebt er ja noch, und dann kam ich zurück und sah, dass er noch atmete.« Cashin schaute sich in dem Raum um. Auf den gebohnerten Dielen vor einer Tür in der linken Ecke war ein Läufer ver schoben worden. »Wohin kommt man da?«, fragte er und wies auf die Tür. »Durchgang zum Südflügel.« Ein großes Gemälde dominierte die Westwand, eine von einer Anhöhe aus betrachtete, düstere Landschaft. Der untere Teil war aufgeschlitzt worden, ein Fetzen Leinwand hing he rab. »Er muss wohl früh ins Bett gegangen sein, hat nicht mal die Hälfte von dem Holz verbraucht, das Starkeys Junge gebracht hat«, sagte sie. »Fällt Ihnen sonst noch was auf?« »Seine Armbanduhr liegt nicht auf dem Tisch. Da lag sie immer, bei dem Whiskyglas auf dem Tisch neben dem Leder sessel. Er trank jeden Abend ein paar Whisky.« »Die Uhr nahm er ab?« »Ja. Hat sie abends immer auf den Tisch gelegt.«
»Reden wir woanders weiter«, schlug Cashin vor. »Die Leute hier sind beschäftigt.« Er folgte ihr durch ein Foyer mit Marmorboden zu einem Gang, der um einen kiesbestreuten Innenhof herum und in eine Küche führte, die für ein Hotel groß genug gewesen wäre. »Was haben Sie gesehen, als Sie hier eintrafen?«, fragte er. »Ich hab bloß meine Tasche abgestellt und bin dann weiter gegangen. So wie jeden Tag.« »Ich muss einen Blick in Ihre Tasche werfen. Sie heißen ... ?« »Carol Gehrig.« Sie war Mitte vierzig, hübsch, hatte blon dierte Haare, Falten um den Mund. In der Gegend gab es jede Menge Gehrigs. Sie holte eine große gelbe Stofftasche von einem Tisch am an deren Ende des Raums, zog den Reißverschluss auf. »Möchten Sie drin rumkramen?« »Nein.« Sie kippte den Inhalt auf den Tisch: ein Portemonnaie, zwei Schlüsselbunde, ein Brillenetui, Schminke, Tempos, andere un schuldige Dinge. »Danke«, sagte Cashin. »Haben Sie hier etwas berührt?« »Nein. Ich habe nur die Tasche abgestellt und bin dann ins Wohnzimmer gegangen, um das Whiskyglas zu holen. Dann hab ich telefoniert. Draußen.« Sie gingen nach draußen. Cashins Handy klingelte. »Hopgood. Was ist los?« Er war der Chef der Kriminalpo lizei von Cromarty. »Charles Bourgoyne ist zusammengeschlagen worden«, antwortete Cashin. »Schlimm. Die Sanitäter kümmern sich um ihn.« »Ich bin in ein paar Minuten da. Keiner fasst etwas an, kei ner verlässt den Tatort, klar?« »Tja«, sagte Cashin. »Eigentlich wollte ich gerade alle nach Hause schicken und alles für die Spurensicherung hübsch säu bern.«
»Verschonen Sie mich mit Ihrer Klugscheißerei«, sagte Hopgood. »Das ist überhaupt nicht zum Lachen.« Carol Gehrig saß auf der zweiten von vier breiten, steinernen Stufen, die zur Haustür führten. Cashin nahm das Klemmbrett und setzte sich neben sie. Jenseits der Kiesfläche schwankten hinter gestutzten Hecken große Schuppenfichten im Wind, wiegten sich wie eine Reihe dickbäuchiger Revuetänzer. Er war schon Hunderte von Malen an diesem Haus vorbeigefah ren, ohne je mehr als die hohen, prunkvoll verzierten Schorn steine und einen Teil des roten Ziegeldachs zu sehen. Auf dem Messingschild an einem der Torpfosten stand »The Heights«, doch die Einheimischen nannten das Haus »Bourgoyne's«. »Ich bin Joe Cashin«, sagte er. »Sie sind bestimmt mit Barry Gehrig verwandt.« »Mein Cousin.« Cashin dachte an seine Prügelei mit Barry Gehrig in der Grundschule. Damals war er neun oder zehn. Diesen Kampf hatte Barry gewonnen, aber später hatte er sich revanchiert. Er hatte auf seinen Schultern gesessen und Barrys blasses Gesicht in den Spielplatzdreck gedrückt. »Was ist aus ihm geworden?« »Hat sich totgefahren«, sagte sie. »Ist mit seinem Pick-up bei Benalla von so 'ner A r t Brücke gestürzt. Von 'ner Uber führung.« »Tut mir leid. Das wusste ich nicht.« »Er war eine Dumpfbacke, ständig unter Drogen. M i r tun die Leute in dem Auto leid, auf dem er gelandet ist und die er zerquetscht hat.« Sie fand ihre Zigaretten, hielt ihm die Packung hin. Er hätte gern eine genommen, lehnte aber ab. »Schon lange hier gearbeitet?« »Sechsundzwanzig Jahre. Kann es selber nicht glauben. Hab hier mit siebzehn angefangen.« »Irgendeine Ahnung, was hier passiert ist?«
»Keinen blassen Dunst, nein.« »Wer ihn überfallen haben könnte.« »Wie gesagt, keine Ahnung. Mr. B. hatte keine Feinde.« »Wie alt ist Mr. Bourgoyne?« »Über siebzig. Vielleicht fünfundsiebzig.« »Wer wohnt hier? Außer ihm?« »Niemand. Vorgestern war die Stieftochter hier. Zum ersten Mal seit langem. Seit Jahren.« »Wie heißt sie?« »Erica.« »Wie erreiche ich sie?« »Keine Ahnung. Fragen Sie Mrs. Addison in Port Monro, die Anwältin. Sie kümmert sich um Mr. Bourgoynes geschäft liche Angelegenheiten.« »Arbeitet sonst noch jemand hier?« »Bruce Starkey.« Den Namen kannte Cashin. »Der Footballspieler?« »Genau der. Er ist für draußen zuständig.« Sie wies auf den geharkten Kies, die gestutzten Hecken. »Na ja, jetzt macht das sein Sohn Tay. Schlichtes Gemüt, dieser Tay, sagt nie ein Wort. Bruce sitzt meistens auf dem Hintern und raucht. Sie kommen montags, mittwochs und freitags. Und wenn er Mr. B. fährt. Sue Dance macht Essen. Kommt so gegen zwölf vorbei, kocht Mittagessen, kocht Abendessen und lässt's ihm stehen, damit er's aufwärmt. Tony Crosby könnte auch gleich einen festen Lohn kriegen, hier sind dauernd irgendwelche Klempnerar beiten fällig.« Der Sanitäter kam raus. »Ein Hubschrauber ist unterwegs«, sagte er. »Wo ist der beste Landeplatz?« »Die Weide bei den Ställen«, sagte Carol. »Hinterm Haus.« »Wie geht's ihm?«, fragte Cashin. Der Mann zuckte mit den Schultern. »Mehr tot als leben dig.« Er ging wieder ins Haus.
»Bourgoynes Uhr«, sagte Cashin. »Was ist das für eine?« »Breitling«, antwortete Carol. »Schicke Uhr. M i t 'nem Kro kodillederarmband.« »Wie schreibt man das?« »B-R-E-I-T-L-I-N-G.« Cashin ging zum Streifenwagen, ließ sich noch mal Hop good geben. »Sie bringen ihn nach Melbourne. Vielleicht soll ten Sie mal mit Bruce Starkey und seinem Jungen plaudern.« »Weswegen?« »Sie arbeiten hier beide Teilzeit.« »Und?« »Das wollte ich Ihnen nicht vorenthalten. U n d Bourgoynes Uhr wurde wahrscheinlich gestohlen.« Er berichtete, was Carol gesagt hatte. »Okay. Bin in ein paar Minuten da. Drei Wagen sind unter wegs. Die Spurensicherung kriegt erst gegen zehn Uhr dreißig einen Helikopter.« »Die Stieftochter muss informiert werden«, sagte Cashin. »Sie war vorgestern hier. Wahrscheinlich kriegen Sie ihre Adresse von Cecily Addison in Port Monro, das ist die Kanz lei Woodward, Addison & Cameron.« »Ich weiß, wer Cecily Addison ist.« »Natürlich.« Cashin ging zurück zu Carol. »Jede Menge Cops im A n marsch«, sagte er. »Das wird ein langer Vormittag.« »Ich werde für vier Stunden bezahlt.« »Müsste reichen. Was war er für ein Mensch?« »In Ordnung. Guter Chef. Ich wusste, was er wollte, hab meine Arbeit gemacht. Weihnachten gab's 'ne Prämie. Einen Monatslohn.« »Keine Probleme?« Die Augen auf ihn gerichtet, gelbe Kleckse im Braunen. »Hier ist es so sauber wie im Krankenhaus, darauf achte ich«, sagte sie. »Absolut keine Probleme.«
»Sie wollen ihn nicht zufällig aus irgendeinem Grund am liebsten umbringen, oder?« Carol machte ein Geräusch, nicht ganz ein Lachen. »Ich? Wieso sollte ich meinen Job killen? Ich bin ein Spätstarter, hab noch zwei Kids an der Titte, Mann. Hier in der Gegend gibt's null Arbeit.« Sie saßen auf der Treppe des friedlichen Anwesens, früh an einem Wintermorgen, es war still, man hörte nur Vogellärm, die Wagen auf dem Highway und irgendwo einen heiseren Traktor. »O Gott«, sagte Carol, »ich fühl mich so komisch, mir w i r d jetzt erst klar... ich könnte uns einen Kaffee machen.« Cashin hätte am liebsten zugestimmt. »Besser nicht«, sagte er. »Darf nichts anfassen. Sonst würden sie über mich herfallen wie ein Rudel Hyänen. Aber ich lasse mich zu einer Zigarette überreden.« Eine Schwäche, Rauchen. Das Leben war Schwäche, Stärke war die Ausnahme. Der Rauch hing in Schwaden in der Luft, von der Sonne golden gefärbt. Ein Geräusch, zuerst kaum hörbar. Diese Dumpfbacken, dachte Cashin. Sie kamen mit eingeschalteten Sirenen. »Die Polizei von Cromarty w i r d eine umfassende Aussage aufnehmen, Carol«, sagte er. »Die sind zuständig, aber rufen Sie mich an, wenn Ihnen noch was einfällt, in Ordnung?« »In Ordnung.« Sie setzten sich wieder. »Falls er überlebt«, sagte Cashin, »dann nur, weil Sie recht zeitig zur Arbeit erschienen sind.« Carol sagte eine Weile nichts. »Ob ich wohl weiter bezahlt werde?« »Bis alles geregelt ist, klar.« Sie lauschten auf die Sirenen, die den Hügel hochkamen, in die Auffahrt einbogen, lauter wurden. Drei Streifenwagen, viel zu dicht hintereinander, fuhren auf den H o f und bremsten, dass der Kies spritzte.
Die Beifahrertür des ersten Wagens ging auf und ein Mann mittleren Alters stieg aus. Er war groß, hatte dunkle, nach hin ten gekämmte Haare. Senior Detective Rick Hopgood. Cashin war ihm zweimal begegnet, sie hatten die üblichen Höflichkei ten ausgetauscht. Er kam auf sie zu. Cashin erhob sich. Die Rotorengeräusche eines Hubschraubers, der sich aus Richtung Osten näherte. »Schichtende«, sagte Hopgood. »Sie können zurück nach Port fahren.« Hitze hinter Cashins Augen, irrationale Wut. Am liebsten hätte er Hopgood geschlagen. Er sagte kein Wort, hielt nach dem Helikopter Ausschau, ging um das Haus herum zu der hinteren Hecke und beobachtete, wie er auf der Koppel lan dete, eine harte Oberfläche, ein trockener Herbst in einem tro ckenen Jahr. Der bereits anwesende Sanitäter wartete. Drei Männer stiegen aus und klappten eine Trage auf. Sie gingen um die Stallungen herum und betraten das Haus durch eine Sei tentür. »Beleidigt?« Hopgood, hinter ihm. »Weswegen?«, sagte Cashin. »Ich wollte nicht so kurz angebunden sein«, sagte H o p good. Cashin sah ihn an. Hopgood lächelte ihm zu, gelbliche Zähne, große Schneidezähne. »Ich fühle mich nicht beleidigt«, sagte Cashin. »Gut für Sie«, sagte Hopgood. »Kann ich mit Ihrer Fach kenntnis rechnen, falls erforderlich?« »Wir gehören alle zur Polizei«, stellte Cashin fest. »Das ist die richtige Einstellung«, sagte Hopgood. »Sie hö ren von mir.« Die Sanitäter verließen das Haus mit der Trage, in Bour goyne steckten Schläuche. Sie hatten es nicht eilig. Was getan werden konnte, war getan worden. Als die Trage eingeladen
war, sagte die Sanitäterin ein paar Worte zu einem aus dem Helikopterteam, beide unbeteiligt. Das war wohl der Arzt. Der Arzt stieg ein. Die Maschine erhob sich vom Boden und drehte mit blinkenden Lichtern ab in Richtung Metropole. Cashin verabschiedete sich von Carol Gehrig und fuhr die von Schwarzpappeln bestandene kurvige Allee hinunter.
H
at man ihn schon gefasst?« »Nicht dass ich wüsste, Mrs. Addison«, sagte Cashin. »Wie haben Sie davon erfahren?« »Aus dem Radio, mein Lieber. Was ist nur los mit Austra lien? Ein Mann wird mitten auf dem friedlichen Land in sei nem eigenen Bett angegriffen. Hat's früher nicht gegeben.« Cecily Addison hatte ihre nachmittägliche Position vor dem Kamin in ihrem Büro eingenommen, mit der linken Hand schwenkte sie eine Zigarette, die Rechte berührte ihre lange Nase, die nach hinten gekämmten weißen Haare. In Port Monro erhielt Cecily von ihrer Firma mit Hauptsitz in Cro marty eine A r t Gnadenbrot. Sie kam um neun Uhr dreißig ins Büro, las die Zeitungen, trank die erste von vielen Tassen Tee, empfing ein paar Mandanten, hauptsächlich wegen Testaments fragen, nervte Leute, ging zum Mittagessen und auf ein paar Gläser Wein nach Hause. Auf dem Rückweg ins Büro schaute sie bei jedem vorbei, der sich nicht schnell genug unsichtbar machte. »Setzen Sie sich«, befahl sie. »Weiß wirklich nicht, was aus der Welt noch werden soll. Heute schon die Zeitung gelesen?« Sie deutete auf ihren Schreibtisch. Cashin griff nach dem Cromarty Herald. Die Schlagzeile auf der Titelseite lautete: WUT ÜBER VERBRECHENSWELLE STEIGT Bevölkerung fordert Ausgangssperre
»Ausgangssperre, unglaublich«, sagte Cecily. »Das hat uns ge rade noch gefehlt. Man kann die Verantwortung nicht an Nach barschaftskomitees delegieren. An alte Spinner, die nichts Besseres zu tun haben als andere zu bespitzeln. Verdammte Nachbarschaftsnazis.« Cashin las den Artikel. Entrüstung auf einer öffentlichen Versammlung. Forderung nach Ausgangssperre für Jugendli che. Enormer Anstieg bei Einbrüchen und Autodiebstählen. Fünf bewaffnete Raubüberfälle in zwei Monaten. Eklatante Zunahme von Körperverletzungen. Schaufenster im Einkaufs zentrum Whalers Mall zerbrochen. Gesetzlose Elemente in der Gemeinde. An der Zeit, strikte Maßnahmen zu ergreifen. »Das geht gegen die Aborigines«, sagte Cecily. »So war's schon immer. Alle paar Jahre kommen sie damit wieder an. Man sollte meinen, der weiße Abschaum war samstags abends geschlossen bei der Chorprobe. Eins sag ich Ihnen, nach vier undvierzig Jahren in den Gerichten von Cromarty hab ich mehr Abos gesehen, denen was angehängt wurde, als ich warme Abendessen gehabt hätte.« »Doch sicher nicht von der Polizei?«, sagte Cashin. Cecily lachte, bis sie einen Hustenanfall bekam. Cashin war tete. »Ich sage das nur ungern«, sagte Cecily dann und nahm die Zeitung zur Hand. »Mein Leben lang habe ich die Liberalen gewählt. Aber seit dieses Käseblatt den Besitzer gewechselt hat, ist es sein zentrales Anliegen, die Libs in Cromarty wieder an die Macht zu bringen. U n d das bedeutet, bei jeder sich bie tenden Gelegenheit Schwarze anzuschwärzen.« »Interessant«, sagte Cashin. »Ich wollte Sie nach Charles Bourgoyne fragen. Soviel ich weiß, bezahlen Sie seine Rech nungen.« Cecily wollte das Thema nicht wechseln. »Hätte nie gedacht, dass ich mal so etwas sagen würde«, sagte sie. »Hoffentlich hört mein Dad gerade nicht zu. Wissen
Sie, dass Bob Menzies kein Haus hatte, in dem er wohnen konnte, als er Canberra verließ?« »Nein, das wusste ich nicht. Ich bin ein bisschen in Eile.« Eine Lüge. Cashin wusste, wie schwer es den früheren Pre mierminister getroffen hatte, weil Cecily ihm die Geschichte ein- oder zweimal im Monat erzählte. »Hat seine Telefongespräche selbst bezahlt, Bob Menzies. Saß oben in seinem Sommerhaus in Canberra, und wenn er seine alte M u m anrief, hat er eine Münze in eine Büchse ge steckt. Kleine Sparbüchse. Wenn sie voll war, gab er sie dem Fi nanzministerium. Das Geld floss in sonstige Einnahmen. Haben Sie die Politker von heute schon mal bei so was ertappt? Die nehmen eher 'ne Münze raus. Ausnahmslos Gauner und Betrüger. Hab ich Ihnen erzählt, dass ich zur Parlamentswahl antreten sollte? Vielen Dank auch, hab ich ihnen gesagt, man bezahlt mich bereits dafür, dass ich mit Gaunern zu tun habe.« »Charles Bourgoyne«, sagte Cashin. »Wegen ihm bin ich hier. Sie bezahlen seine Rechnungen.« Cecily blinzelte. »Allerdings. Kenne Charles schon sehr lange. Waren Klienten der Kanzlei, Dick und Charles, Bour goyne 8c Cromie, wir haben sie komplett betreut.« »Bourgoyne & Cromie war ein wenig vor meiner Zeit. Wer ist Dick?« »Charles' Dad. Hatte was von einem Playboy, Dick, aber er leitete die Firma wie einen Tante-Emma-Laden, stritt sich end los wegen ein paar Kröten. Nicht dass er es nötig gehabt hätte. Egal, wo man in diesem Land hingeht, überall im Pazifik, im ganzen verdammten Neuseeland, alles voll von B&C-Aggre gaten. Die haben überall im Outback das Licht angeknipst. Haben die Schafschurstationen mit Strom versorgt, sich nach dem Krieg dumm und dämlich verdient, das können Sie mir glauben. Die ganze Welt hat damals händeringend nach Gene ratoren verlangt.« »Was geschah dann?«
»Dick hat ins Gras gebissen, und Charles hat das Geschäft an diese Scheiß-Tommys verkauft. Die nie vorhatten, die Pro duktion fortzusetzen. Die wollten bloß einen Konkurrenten ausschalten.« Cecily schaute aus dem Fenster, zwischen ihren Fingern kringelte sich Rauch, »'ne Tragödie«, sagte sie. »Ich kann mich an den Tag erinnern, als sie es allen gesagt haben. M i t einem Fe derstrich war halb Cromarty arbeitslos. Die meisten haben nie wieder Arbeit gefunden.« Sie kratzte sich dort, wo einmal eine Augenbraue gewesen war. »Man kann aber Charles keinen Vorwurf machen. Sie haben ihm Garantien gegeben. Keiner hat ihm Vorwürfe ge macht.« »Die Rechnungen.« »Rechnungen, stimmt. Seit den alten Percy Crake der Schlag getroffen hat. Seitdem kümmere ich mich um seine Belange. Nicht dass Charles das nicht selbst erledigen könnte. Er tut nur lieber so, als hätte er was Besseres vor.« Cecily zog ein letztes Mal stürmisch an ihrer Zigarette und steckte dann die Kippe ohne hinzusehen in die Blumenvase auf dem Kaminsims. Ein Zischen, das Geräusch von Seide, die Seide streifte. Mrs. McKendrick, ihre steinalte Sekretärin, stellte zweimal die Woche frische Blumen in die beiden Zimmer, nachdem sie die Gefäße mit übelriechendem, bierfarbenem Wasser und Cecilys aufgequollenen Zigarettenstummeln ge leert hatte. »Wer wollte ihn umbringen?«, fragte Cashin. »Vermutlich irgendein kleiner Gangster, der zufällig vorbei kam. Das Land w i r d immer mehr zu Amerika. Wegen ein paar Dollar werden Menschen umgebracht, sie werden für gar nichts umgebracht. Für den Kick.« In ihren Wangenhöhlen bewegte sich ein Knubbel, als wolle etwas entkommen. »Drogen«, sagte sie. »Für mich sind die Drogen Schuld daran.« »Jemand aus der näheren Umgebung? Der ihn kannte?«
»Aus der Gegend? Falls Charles Bourgoyne von uns geht, gibt es die größte Beerdigung, seit Dora Campbell ins Gras gebissen hat, und da war der Bär los. Ein zauberhafter Mann, Charles Bourgoyne, ganz zauberhaft. Ein Gentleman von al tem Schrot und Korn. Er war ein guter Fang, glauben Sie mir. Doch die Mädels hatten die Hoffnung praktisch aufgegeben, als er schließlich Susan Kingsley heiratete. Es hieß, der alte Dick habe ihm gesagt, er solle heiraten oder er könne sich von dem Vermögen verabschieden. Das bekäme sonst das Alters heim von Cromarty.« »Was ist aus Ericas Vater geworden?« »Ericas und Jamies Vater. Bobby Kingsley. Autounfall. Lei der hatte er eine andere Frau dabei.« »Hat Charles Feinde?« »Tja, wer weiß? Bourgoynes Treuhandfond hat mehreren Hundert jungen Leuten das Studium finanziert. Außerdem verteilt Charles Geld an jeden, der bei ihm vorspricht. Schulen, Kunstgalerien, die Heilsarmee, die Veteranenorganisation was Sie wollen. Hat dem Football-Club unzählige Male aus der Patsche geholfen.« »Wie läuft das ab, wenn man sich um Bourgoynes Angele genheiten kümmert?« »Wie das abläuft?« »Rein technisch betrachtet.« »Ach so. N u n , man schickt uns sämtliche Rechnungen, Zah lungsbelege von Kreditkarten, alles. Jeden Monat schicken w i r Charles eine Liste, er hakt sie ab, schickt sie zurück, wir zah len alles von einem treuhänderisch verwalteten Konto. Die Löhne zahlen wir auch.« »Sie haben also Unterlagen über seine sämtlichen Finanzen?« »Nur über die Rechnungen.« »Die wie lange zurückreichen?« »Nicht lange. Sieben, acht Jahre schätze ich. Seit Crakes Schlaganfall.«
»Dürfte ich Ihre Unterlagen sehen?« »Vertraulich«, sagte sie. »Eine Sache zwischen Anwalt und Mandant.« »Der Mandant wurde zusammengeschlagen und wie tot zu rückgelassen«, sagte Cashin. Cecily blinzelte ein paarmal. »Deswegen krieg ich doch wohl keinen Ärger mit der Anwaltskammer, oder? Ich w i l l nicht den verdammten Rees um Rat fragen müssen.« »Mrs. Addison, Sie müssen meiner Bitte nachkommen. Wenn nicht, beschaffen wir uns heute noch einen Gerichtsbe schluss.« »Tja«, sagte sie, »das ändert die Situation wohl ein wenig. Ich werde Mrs. McKendrick bitten, Kopien anzufertigen. Auch wenn ich nicht weiß, wie Ihnen das helfen sollte. Sie sollten da draußen nach verfluchten Drogensüchtigen suchen. Was wurde denn aus dem Haus gestohlen?« »Die Leute, die bei Bourgoyne arbeiten«, sagte Cashin, »was ist mit ihrem Lohn?« Cecily hob die nachgezogenen Augenbrauen. »Wissen Sie, noch ist er nicht tot. Die Leute werden bezahlt, bis mir jemand die Anweisung erteilt, damit aufzuhören. Was haben Sie denn erwartet?« Cashin stand auf. »Das Schlimmste. Wie das Leben als Poli zist einen lehrt.« »Sie Zyniker, Joe. Meiner Erfahrung nach, und das sage ich mit...« »Danke sehr, Mrs. Addison. Ich lasse die Kopien abholen. Wo ist Jamie Bourgoyne?« »Auf Tasmanien ertrunken. Vorjahren.« »Also keine glückliche Familie.« »Nein. M i t Geld kann man kein Glück kaufen. U n d mit Charles' Tod ist es zu Ende. Dann ist die Linie unterbrochen. Dann gibt es keine Bourgoynes mehr.« Auf der Straße war es ruhig, die fahlen Steinwände der Bib
liothek wurden von der Sonne beschienen. Als sie 1864 - die gemeißelte Jahreszahl stand über dem Eingang - eröffnet wurde, war sie ein Maschinenbauinstitut gewesen. Drei ältere Frauen gingen hintereinander die Treppe hinauf, jeweils die linke Hand auf dem Eisengeländer. Er konnte ihre zarten Knöchel sehen. Alte Leute waren wie Rennpferde - zu viel hing von sehr wenig ab, die Blutlinie war der kritische Faktor. Über die Blutlinie der Bourgoynes dachte man besser nicht nach.
I
ch kann so was nicht für dich regeln, Bern«, sagte Cashin. »Ich kann gar nichts regeln. Sam hat Ärger, weil er ein schlimmer Finger ist, und jetzt ist er dran.« Sie standen in einem Schuppen, der wie ein Flughafenhangar aussah, auf dem Grundstück seines Cousins Bern Doogue außerhalb von Kenmare, einem zwanzig Kilometer von Port Monro entfernt gelegenen O r t , in dessen Hauptstraße es ver rammelte Läden, zwei hartnäckige Pubs, einen Fleischer, eine Milchbar und einen Videoverleih gab. Früher war das Dorf Kenmare von Farmland umgeben ge wesen wie von einem grünen Meer. Lange Gärten hatten sich bis zu Koppeln erstreckt, auf denen Kühe Dung absonderten, bis zu Kartoffelfeldern, auf denen sich die bleichen Granaten häuften. Dann wurden die Farmen unterteilt. Häuser mit Holz imitierender Faserzementschalung wurden auf Parzellen von einem Hektar errichtet, an der Rückseite große Blechschup pen. Jetzt brachte das Land nur noch Müll und Kinder hervor, viele davon rothaarig. Die Parzellen dienten an Wochenenden als Parkplätze für die großen Trucks, die samstags aus allen Himmelsrichtungen heranrumpelten - Macks, Kenworths, MANs, Volvos, Achtzehn-Gang-Schaltungen, 1800 Liter fas sende Tanks, die Namen der Besitzer in verschnörkelter Schrift auf den Türen; die unrasierten unausgeschlafenen Fahrer hockten zwei Meter über dem Boden, waren fix und fertig und lauschten Liedern über verlorene Liebe und Einsamkeit. Die Trucker hatten ihre Parzellen gekauft, als das Land und
der Treibstoff billig, die Frachttarife hoch und sie selber noch jung waren und keine Wampen hatten. Jetzt sahen sie ohne Spiegel ihre Pimmel nicht mehr, die Trucks schluckten Fünf zig-Dollar-Scheine und die Frachtfirmen machten Druck, bis sie sechs, manchmal sieben Tage die Woche fahren mussten, um ihre Schulden abzuzahlen. Cashin stand in der T ü r des Schuppens und sah Bern zu, der auf seiner neuen Maschine Holz spaltete, einem roten Gerät, das wie eine Mondlandefähre auf gespreizten Beinen stand. Er hob den Abschnitt eines Baumstamms auf, wuchtete ihn hochkant auf den Tisch unter eine keilförmige Stahlklinge und trat mit dem Stiefel gegen den Hebel. Eine hydraulische Ramme trieb den Stahlkeil in den Stamm und spaltete ihn in zwei Teile. »Meine Güte«, sagte Bern, »was hat man denn davon, dass man einen Scheiß-Bullen in der Familie hat, frag ich dich.« » M a n hat überhaupt nichts davon«, sagte Cashin. » A u ß e r d e m war es gar nicht mal Sams Idee. Er treibt sich mit zwei Burschen aus Melbourne rum, zwei Stadtjungen, und der eine zerschmettert das beschissene Autofenster mit 'ner Flasche.« »Bern, Sam hat null Chance. Ich ruf eine A n w ä l t i n an, eine gute, die dafür sorgt, dass er nicht ins Gefängnis muss.« »Was soll das kosten? Ein Schweinegeld?« »Es kostet, was es kostet. Sonst sag ihm halt, er soll sich 'n Pflichtverteidiger nehmen. Wo hast du das Holz her?« Bern schob die Finger unter seine dreckige grüne M ü t z e , so dass man seinen spärlichen schwarzen Haaransatz sah, und kratzte sich an der Kopfhaut. Er hatte die typische dooguesche Nase - groß und krumm. In der Jugend fiel sie nicht weiter auf, dominierte aber im Alter die männlichen Gesichter der Sippe. »Joe«, sagte er, »ist das 'ne A r t Bullenfrage?« »Solche kleinen Vergehen sind mir ziemlich egal. Das Zeug sieht super aus.«
»Das is i-A-Rindfleisch, Alter. Rindfleischholz. Nicht das übliche Drecksholz vom Mount Gambier.« »Wie viel?« »Siebzig. »Such dir selber einen A n w a l t . « » D a s ist schon ein verdammter Familiensonderpreis. Mann, das Zeug läuft praktisch von allein zur Scheißtür raus.« »Lass es laufen«, sagte Cashin. »Ich muss weg.« Er ging. » H e y , hey, meine Güte, Joe, sei nicht so verdammt stör risch.« » G r ü ß Leeane von mir«, sagte Cashin. »Weiß der Himmel, was sie verbrochen hat, um dich zu verdienen. Bestimmt irgendwas in einem anderen Leben.« »Joe. Alter. Kumpel.«
Cashin stand an der Tür. »Was ist?«
»Geben und nehmen, Mann.«
» D u hast nicht zufällig mit meiner M u m geredet, oder?«
» N ö . Deine M u m ist zu gut für uns. Wie war's mit sech
zig, und du legst bei dem Anwalt ein gutes Wort für uns ein? Gespalten, frei Haus geliefert, das ist der verdammte Selbst kostenpreis, Arbeitskosten nicht mitgerechnet, dabei zahl ich drauf.« »Vier für zweihundert«, sagte Cashin, »sauber gestapelt.« »Scheiße, du nimmst deiner eigenen Familie die Butter vom Brot. Seine Verhandlung ist nächste Woche.« »Ich rufe dich an, wenn ich einen Termin hab.« Bern wuchtete noch einen Holzklotz auf das Gerät, trat ge gen den Hebel. Es gab einen Knall, Holzteile flogen überall hin. »Kacke«, sagte er. In Brusthöhe zog er einen großen Holz splitter aus seinem schmierigen Armeepullover. »Dieser Schuppen ist ein Muster an Arbeitsplatzsicherheit«, stellte Cashin fest. »Bin ja schon w e g . « Er ging hinaus in den grauen Tag, auf das knapp einen Hek tar große Grundstück hinter Berns Haus - ein Friedhof für
Pkw, Pickups, Lkw, Maschinen, Fenster, Türen, Spülen, K l o becken, Waschbecken, altes Schuppenholz, Backsteine. Bern folgte ihm zu seinem Wagen, den er in einer L ü c k e zwischen dem Gerumpel abgestellt hatte. » H ö r zu, Joe, da ist noch was«, sagte er. »Debbie sagt, dieser Piggot-Knabe, hab den Namen vergessen, es gibt Hunderte von denen, jedenfalls sagt sie, er verkauft in der Schule Stoff.« Cashin stieg ein, kurbelte die Scheibe runter. »Seit wann hast du was gegen Drogen, Bern?« Bern verdrehte die Augen, kratzte sich mit schwarz gerän derten Fingernägeln durch die M ü t z e hindurch am Kopf. »Das ist verdammt noch mal was anderes, hier geht's um harte Sa chen, die an Kinder verkauft werden.« »Warum hat sie's dir erzählt?« » N a ja, nicht direkt mir. Ihrer M u m . « »Warum?« Bern räusperte sich und spuckte aus, die Lippen gespitzt, ein Geräusch wie von einer Erbsenpistole. »Leeane hat irgendwel chen Stoff gefunden. Nicht von Debbie, sie hat ihn bloß für ein anderes M ä d c h e n aufbewahrt, das ihn von einem Piggot ge kauft hat.« Cashin ließ den Motor an. »Bern«, sagte er, » d u willst gar nicht, dass dein Cousin der Cop einen Kreuzzug gegen den Drogengebrauch unter Teenagern in Kenmare anleiert. Denk drüber nach. Denk nur mal an die Piggots. Von denen gibt's ein ganzes Heer.« Bern dachte drüber nach. »Tja, das w ä r e vielleicht so 'ne Sache. Die w ü r d e n mich sofort für'n Spitzel halten, die Scheiß kerle. Bimbospitzel. Aber eins ist klar, bei 'nem Kampf Doo gues gegen Piggots hätten die gegen uns null Chance.« »Darauf lassen wir's lieber nicht ankommen. Ich ruf dich an.« »Halt, halt. Du kannst mir noch einen anderen Gefallen tun.« »Nämlich?«
» R e d Debbie ins Gewissen. A u f ihre M u m hört sie nicht, und auf mich schon mal gar nicht.« »Ich dachte, sie w ü r d e den Stoff nur aufbewahren?« Bern zuckte die Schultern, sah weg. » N u r um sicher zu ge hen«, sagte er dann. »Kann nichts schaden, oder?« Dem konnte er sich nicht entziehen, das war Cashin klar. Als Nächstes w ü r d e er daran erinnert werden, wie Bern unter Lebensgefahr auf den monströsen Kretin namens Terry Luntz losgesprungen war, sich wie ein Schimpanse an einen Gorilla geklammert und den größten Schläger der Schule mit seinen mageren Ä r m c h e n so lange g e w ü r g t hatte, bis der seinen töd lichen Klammergriff lockerte. » W a n n kommt sie aus der Schule?«, fragte Cashin. »Gegen vier.« »Ich komm die Tage mal vorbei, weise sie auf die Gefahren hin.« » D u bist ein guter Kerl, Joe.« » N e i n , bin ich nicht. Ich w i l l mir bloß nicht wieder die alte Leier über den beschissenen Terry Luntz anhören müssen. Er hätte mich sowieso losgelassen.« Bern lächelte sein durchtriebenes, gefährliches D o o g u e - L ä cheln. » N i e im Leben. Du warst schon ganz blau im Gesicht, die Zunge hing dir aus dem Mund. Scheiße, dir blieben nur noch Sekunden.« » W a r u m hast du dir dann so viel Zeit gelassen?« »Ich hab um Hilfe gebetet, Mann. Welche Ausrede habt ihr Scheißkerle eigentlich, dass es so lange dauert, bis ihr endlich den M ö r d e r unseres geliebten Mr. Charles Bourgoyne fasst?« » D a s Opfer wird nicht von einem dicken Jungen gequetscht. Es eilt also nicht. Was hast du gegen B o u r g o y n e ? « » G a r nichts. Der Ortsheilige. Alle mögen Charlie. Reich und müßig. Weißt du, dass mein Daddy früher da gearbeitet hat, bei Bourgoyne & Cromie? Charlie hat die Firma unter ihrem Arsch weg verkauft. Hat das Scheißpferd erschossen.«
Auf dem Heimweg überholte Cashin drei Autos, kannte sie alle. An der letzten Kreuzung pickten zwei Raben in zinnober rotem Matsch und musterten ihn mit den abschätzigen Blicken alter M ä n n e r in einer heruntergekommenen Spelunke.
A
ls Cashin zu Hause ankam, wurde es dunkel, der Wind zer i zauste die Bäume auf dem H ü g e l und klimperte auf dem Wellblechdach. Cashin brachte das Feuer in Gang, holte sich ein Sechserpack Carlsberg, legte L'elisir d'amore von Donizetti auf, ließ sich in den alten Sessel fallen, stopfte sich ein Kissen hinters Kreuz. Sein Körper war wie zerschlagen, das Becken schmerzte, die Beine taten weh, und mit dem ersten Schluck Bier nahm er zwei Aspirin. Das Leben ist kurz, mein Junge, trink nicht jede miese Plörre. Ein Rat von Singo. Singo trank immer nur Carlsberg oder Heineken. Cashin saß da und trank, stierte vor sich hin, hörte Domingo, dachte über Vickie, über den Jungen nach. Warum hatte sie ihn Stephen genannt? Stephen musste jetzt neun sein, Cashin konnte es sich ausrechnen, er kannte den Tag, die Nacht, den Augenblick. Und er hatte nie mit ihm geredet, ihn nie berührt, war ihm nie näher als bis auf zwanzig Meter gekommen. Vickie brachte ihn nicht mit ins Krankenhaus, als Cashin sie darum bat. »Er hat einen Vater, und das bist nicht d u « , sagte sie. Sie ließ sich nicht umstimmen. Dabei wollte er ihn doch nur sehen, mit ihm reden. Ohne zu wissen warum. Aber er wusste, dass der Gedanke an den Jun gen in seinem Innern schmerzte wie seine kaputten Knochen. Um sieben Uhr abends, beim zweiten Bier, machte er den Fernseher an. Bei einem, wie befürchtet, weiteren Drogenmord wurde
heute Morgen Andrew Gabor aus Kew, ein 50-jähriger Buch halter, vor den Augen seiner /j Jahre alten Tochter auf dem Gelände des exklusiven Mädcheninternats St. Theresa in Mel bourne erschossen. Filmaufnahmen von einem grünen BMW vor der Schule, da neben Männer in grünen Mänteln. Cashin erkannte Villani, Birkerts, Finucane. Zwei Schützen flohen vom Tatort in einem Ford Transit, der später in Elwood gefunden wurde. Ein Transporter wurde mit einer Winde auf den Abschlepp wagen der Polizei gehievt, der ihn zum Kriminallabor bringen würde. Die Polizei bittet alle, die zwei dunkel gekleidete Männer mit Baseballmützen gegen sieben Uhr dreißig in dem Trans porter oder in der Nähe des Tatorts gesehen haben, sich bei einer Polizeidienststelle zu melden. Man nimmt an, dass die Polizei heute Mr. Gabors Neffen vernommen hat, Damian Gabor, einen Veranstalter von RavePartys und Rockkonzerten. 2002 wurde Mr. Gabor vom Vor wurf freigesprochen, Anthony Metealf angegriffen zu haben, einen Drogendealer, der später tot auf einer Müllkippe in Car negie gefunden wurde. Er war mit sieben Schüssen nieder gestreckt worden. A u f dem Bildschirm hinter dem Nachrichtensprecher sah Cashin The Heights, aus dem Fernsehhelikopter aufgenom men, auf dem H o f wimmelte es von Fahrzeugen, die Durchsu chung des Anwesens war in vollem Gange. Als Folge eines weiteren Gewaltverbrechens kämpft das Oberhaupt einer der bekanntesten Familien des Bundesstaates heute Abend auf einer Intensivstation um sein Leben, nachdem er in seinem Haus bei Cromarty brutal überfallen wurde. Man fand Charles Bourgoyne an diesem Morgen dem Tode nahe im Wohnzimmer des Familiensitzes. Er wurde mit dem Hubschrauber in das King George's Hospital geflogen.
Der als Philantrop bekannte Mr. Bourgoyne ist der Sohn von Richard Bourgoyne, einem der Gründer von Bourgoyne & Cromie, den legendären Maschinenbauern. Charles Bourgoyne verkaufte das Familienunternehmen 1976 an britische Investo ren. Seine älteren Brüder, Zwillinge, starben beide im 2. Welt krieg, einer wurde von den Japanern hingerichtet. Ermittler des Morddezernats sind der Ansicht, dass Mr. Bourgoyne, der allein im Haus war, Opfer eines gewalttätigen Einbruchs wurde. Aus dem Haus wurden Wertgegenstände entwendet. Hopgood trat vor die Kamera, außerhalb des Hauses, der Wind zerzauste seine glatten Haare. » Wir haben es hier mit einem barbarischen Angriff auf einen sehr beliebten und schutzlosen Mann zu tun. Wir werden mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln die für dieses schreckliche Verbrechen Verantwortlichen jagen und fordern alle auf, die etwas darüber wissen, sich zu melden.« Wie aus dem King George's Hospital heute Abend verlau tete, ist Mr. Bourgoynes Zustand kritisch. Cashin griff nach dem Briefumschlag mit den Geschäfts unterlagen, die er von Cecily Addison erhalten hatte. Das geht mich überhaupt nichts an, dachte er. Ich bin der Leiter der Dienststelle in Port Monro, Personalstärke vier Beamte. Alte Gewohnheiten, Neugier. Er fing mit dem letzten K o n toauszug an. Dann hörte er den Namen. Australiens neueste politische Partei, United Australia, wählte heute den Anwalt und Aborigine-Aktivisten Bobby Walshe zu ihrem Spitzenkandidaten für die nächsten Wahlen auf Bundesebene. Cashin schaute auf den Fernseher. Die neue Partei, ein Zusammenschluss aus Grünen, Demo kraten und Unabhängigen, die von enttäuschten Anhängern der Labor Party und der Liberalen unterstützt wird, will in allen Wahlkreisen Kandidaten aufstellen.
Bobby Walshe tauchte auf dem Bildschirm auf. Gut ausse hend, bleich, Adlernase, nur ganz leicht gekräuselte schwarze Haare. »Es ist eine große Ehre für mich, dass mich so viele engagierte und talentierte Menschen dazu ausersehen haben, United Aus tralia anzuführen. Das ist ein historischer Tag. Von nun an haben Australier politisch wirklich die Wahl. Die Zeit ist vor bei, in der viele Australier glaubten, eine der kleinen Parteien zu wählen sei Stimmenverschwendung. Wir sind nicht klein. Wir haben nicht nur ein einziges Anliegen. Wir bieten eine echte Alternative zu den altmodischen, unoriginellen Rezepten der beiden politischen Apparate, die unser politisches Leben so lange beherrscht haben.« A u f der Grundschule war Bobby Walshe der intelligenteste Schüler in Cashins Klasse gewesen, was aber nicht verhindert hatte, dass man ihn Bimbo, Affe und Nigger nannte. Bourgoynes Bankauszüge gaben nicht viel her. Cashins Aufmerksamkeit ließ nach, er steckte sie wieder in den U m schlag, machte noch ein Bier auf und überlegte, was er essen sollte.
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er H ü g e l lag im Morgennebel verborgen, eine diesige Stille ü b e r dem Land. Cashin schlug die Richtung zur Grenze des C o r r i g a n - G r u n d s t ü c k s ein, Sichtweite gerade mal dreißig Meter, die Hunde tauchten auf und verschwanden wieder, springende dunkle Flecken in der blassgrauen Welt. Am Zaun gab es einen überwucherten Pfad, auf dem er als Junge häufig gegangen war, es war der direkte Weg zum Bach. In seiner Kindheitserinnerung war der Bach eher wie ein Fluss breiter, tiefer, bei Hochwasser aufregend gefährlich. Als er sich einen Weg durch das Gestrüpp bahnte und über die Pfützen stieg, waren die Hunde hinter ihm. Auf der anderen Seite des Bachs pfiff er; sie eilten herbei und sprangen voraus, den Hang hinauf zu dem alten Haus der Corrigans. Unbefugtes Betreten, dachte Cashin. Die Hunde hatten die Köpfe gesenkt, ein neues Gelände, neue Gerüche, interessiert-verdutztes Schwanzwedeln. Er umrundete das Haus, sah durch die Fenster. Türen, Scheuer leisten, Dielenbretter, Kaminsimse, Fliesen - alles schien unbe schädigt. Dieses Gebäude war nicht geplündert worden wie Tommy Cashins kaputtes Haus. Falls es neue Eigentümer gab, w ü r d e n sie nicht allzu viel Geld ausgeben müssen, um es wie der bewohnbar zu machen. Sie gingen durch das gelbliche Gras bis zu Den Millanes Zaun, dann den Hang hinunter. Oberhalb des Bachs fand Cashin Zaunreste, verrosteten Draht, ein paar graue und ge spaltene Pfosten lagen am Boden, vielleicht die von Den er
w ä h n t e Grenze. Sie war etwa zweihundert Meter, vielleicht etwas mehr, vom Bach entfernt. Wollte er seinen Anspruch geltend machen? Du behältst gefälligst, was dir gehört. Ja, er wollte ihn geltend machen. Er überquerte den Bach, ging den schmalen, sich zwischen Pappeln schlängelnden Pfad hinunter bis zur Kaninchenwiese, wandte sich h e i m w ä r t s . Es war zwar taghell, als sie sich dem Haus näherten, w ü r d e aber noch eine Stunde dauern, ehe die Sonne den Dunst wegbrannte. Er musste an Kendall denken. Wie veränderte es einen, wenn man vergewaltigt worden war? Ein männlicher Cop war, außerhalb des Dienstes, in den west lichen Vororten Sydneys von drei M ä n n e r n angegriffen und zu einem alten Autokino gebracht worden. D o r t fesselten sie ihn an einen Leinwandpfeiler, schnitten ihm die Hose mit einem Messer vom Leib und schnitzten ihm Hakenkreuze in Gesäß und Rücken. Dann vergewaltigten sie ihn. Ein Cop namens Gerard hatte Cashin diese Geschichte eines Abends im Einsatzwagen erzählt. Sie parkten am Straßenrand und aßen Kebabs. Der Typ ist nie wieder im Dienst erschienen. Ist rauf nach Darwin gezogen. Angeblich hat er sich da umgebracht. Gerard hatte ein dunkles Gesicht, sah gut aus, pechschwarze Haare, einen Leberfleck am Kinn. Aber sie haben die Schweine gefasst. Und zwar wegen 'nem Ring, 'nem dicken, blöden Bleiring, selbst gemacht. Aus einge schmolzenen Senkbleien. Der Cop konnte ihn zeichnen. Was haben sie bekommen? Todesstrafe. Einer ist im Fluss ertrunken. Bei Homebush Bay. Die anderen beiden ... Mord-Selbstmord. Ausgesprochen ekli ger Tatort. Gerard hatte gelächelt. Beim Lächeln sah man etwas von der Innenseite der Lippe, eine intime Farbe, wie eine Vagina.
Noch vor Cashin sahen die Hunde Rebb auf der alten Gar tenbank, sitzen. Sie rannten los. Rebb rauchte eine selbstgedrehte Zigarette, flach, genauso viel Papier wie Tabak. Er war rasiert, hatte noch nasse Haare. Die Hunde wanden sich schwanzwedelnd, sie mochten Rebb, aber sie mochten die meisten Menschen. » H a b was in die Waschmaschine getan«, sagte Rebb, Ziga rette im Mundwinkel, mit jeder Hand einen H u n d bearbei tend. »In O r d n u n g ? « »Jederzeit«, sagte Cashin. »Früh auf?« »Nein.« »Sobald ich geduscht habe, mach ich Frühstück.« »Ich hab Essen«, sagte Rebb. Er sah Cashin nicht an, war vollauf mit den Hunden beschäftigt. Dasselbe hatte er am Abend zuvor gesagt. » R ü h r e i « , sagte Cashin. »Ist egal, ob man's für einen oder für zehn macht.« Als er sauber und frisch angezogen war, packte er Besteck, Brot und Butter, Vegemite-Hefeaufstrich und Marmelade auf den Tisch, bereitete die Eier zu und fand Rebb draußen bei den Hunden. Rebb aß nicht wie ein Landstreicher. Er hielt die E l l bogen seitlich vom Körper, kaute langsam und mit geschlosse nem Mund, aß jeden Happen. » G u t « , sagte er. »Danke.« » N e h m e n Sie sich noch Brot.« Rebb schnitt eine dicke Scheibe ab. Er bestrich sie mit But ter und einer dunklen Schicht Vegemite. »Wenn Sie wollen, können Sie hier bleiben«, sagte Cashin. »Kostet Sie nichts. Zu Fuß zehn Minuten zu dem Kuh-Job.« Rebb sah ihn an, ausdruckslos, schwarze Augen. Er nickte. »Dann mach ich das.« Sie fuhren zu Den Millane rüber, schweigend. Den hörte sie kommen, stand am Tor. Er gab Rebb die Hand. »Der Lohn ist nicht berühmt«, sagte er. » W ü r d e es selber
machen, wenn das Scheißknie nicht kaputt war. Kennen Sie sich mit Kühen aus?« »Ein bisschen, ja.« Cashin ließ sie allein, fuhr zum Haus seiner Mutter, zwan zig Minuten. Die Straßen waren schmale Asphaltstreifen vol ler Schlaglöcher, an den Rändern ausgefranst, kein Platz für entgegenkommende Fahrzeuge, einer musste ausweichen, mit zwei Rädern auf dem holprigen Seitenstreifen fahren. Doch meist taten das beide Wagen, und einheimische Fahrer hoben die Hand zum Gruß. Er kam an Kartoffelfeldern und Milch farmen vorbei, wo ihm die Tiere mit ihren mahlenden Kiefern aus sanften Augen nachsahen. Hinter Beacon H i l l fiel das Land seicht zum Meer hin ab; hier gab es torfigen, nach dem Pflügen schokoladenbraunen Boden, der ungeschützt dem Südwest wind und den heftigen Winterstürmen ausgesetzt war, die vom Südpolarmeer herüberwehten. Frühe Siedler hatten als Wind schutz Zypressen und Hecken um ihre H ä u s e r gepflanzt. Das funktionierte auch bis zu einem gewissen Grad, doch der ver drängte Wind rächte sich. Bäume, Gehölze, Schuppen, Tanks, Windmühlen, Klohäuschen, Hundezwinger, Hühnerställe, alte Autokarosserien - alles neigte sich leewärts. Cashin parkte in der Auffahrt, ging zur Rückseite des Hau ses und sah seine Mutter durch das Küchenfenster. Als er die Hintertür öffnete, sagte Sybil: »Ich musste öfter an dich den ken, wie du in dieser Ruine wohnst. Nach allem, was wir wegen euch Kindern auf uns genommen haben, dein Dad und ich.« Sie arrangierte Blumen in einem großen, viereckigen, braun lila Tontopf. »Die Vase«, sagte Cashin, »könnte das ein abge lehnter Prototyp zur Aufbewahrung von A t o m m ü l l sein?« Seine Mutter ignorierte die Frage. Draußen kam sein Stief vater gerade aus dem Schuppen, in einem w e i ß e n Overall, mit Handschuhen, einer Gesichtsmaske und einem Kanister auf dem Rücken. Er fing an, die Rosenlaube zu besprühen. Aero sole verteilten sich.
» H a b e n die Rosen es gern, wenn Harry sie mit Agent Orange bombardiert?«, sagte Cashin. Sie machte einen Schritt zurück, um ihr Werk zu bewundern, eine kleine, schlanke Person mit dichten, nach hinten g e k ä m m ten Haaren. Hinsichtlich der Körpergröße hatten Cashin und sein Bruder Michael alle Gene von ihrem Vater Mick geerbt. »Charles B o u r g o y n e « , sagte sie. »Was unternehmt ihr in der Sache?« »Was man nur unternehmen kann.« »Ich werde die Menschen nie begreifen. Warum haben sie sich nicht einfach nur genommen, was sie haben wollten? Wa rum mussten sie einen alten Mann zusammenschlagen? Wie hätte er sich gegen sie wehren k ö n n e n ? « »Ich versuche gar nicht mehr, das zu begreifen«, sagte Cashin. » M a n w i l l nicht mehr wissen warum, sondern wer.« Seine Mutter schüttelte den Kopf. » N u n zu einer anderen Sache«, sagte sie, den Blick auf das Blumenarrangement ge richtet, die Finger in Bewegung. » M i c h a e l hat in Melbourne eine Eigentumswohnung gekauft. In den Docklands. Am Was ser. Zwei Schlafzimmer, anderthalb Bäder.« »Ein reinlicher Mensch, unser Michael«, sagte Cashin. »Sehr reinlich. Was macht man in dem halben B a d ? « »Gieß den Tee ein«, sagte sie. »Frisch gemacht.« Er goss Tee in handgefertigte Becher, die wackelten, wenn man sie hinstellte. Seine Mutter kaufte allerhand auf Wochen märkten - schauderhafte Aquarelle, Salz- und Pfefferstreuer in Pilzform, aus Plastiktüten gewebte Platzdeckchen, aus verfilz ten Hundehaaren gefertigte M ü t z e n . »Michael sagt, er sei so oft in Melbourne, da könne er genau so gut ein Plätzchen haben, wo er seine Kleidung unterbringt«, sagte sie. » A l s o eine Ersatzgarnitur Klamotten.« Seine Mutter seufzte. » M a n muss auch gönnen können, das hast du nie begriffen, Joseph.«
»Ich gönn mir was, wenn sich die Gelegenheit bietet, so viel hab ich begriffen. Warum muss Harry die Rosen mit dieser Chemiescheiße einsprühen?« » F r ü h e r hast du nie geflucht. Michael hat schon an seinem ersten Schultag was aufgeschnappt, kam nach Hause und sagte ein Schimpfwort. Darauf bin ich hin und hab diesem Killeen gründlich die Meinung gesagt. Hab ihm nie getraut und hatte Recht damit. Mutterinstinkt.« »Ich hätte frühzeitig lernen sollen, wie man flucht«, sagte Cashin. » D a n n hätte ich inzwischen vielleicht 'n halbes Bade zimmer in den Docklands. Ich werde das Haus auf Vorder mann bringen.« »Bist du verrückt? Wieso?« » U m drin zu wohnen. Ist besser, als in 'ner Ruine zu woh nen.« » D a spukt es.« Sie schüttelte sich theatralisch. »Von einem Wahnsinnigen erbaut. Lass die Finger davon. Du solltest es verkaufen.« »Ich mag das Haus. Den Garten lasse ich aufräumen.« »Ich dachte, das w ä r e vorübergehend? Bis es dir wieder bes ser geht.« Cashin trank seinen Tee aus. »Das Leben ist ziemlich vor übergehend. Was macht die U n i ? « »Wechsel nicht das Thema. Ich hätte das früher machen sollen. Vertane Zeit.« »In welcher Hinsicht vertan?« Sie kam zum Küchentisch und tätschelte ihm zweimal die Wange, gefolgt von einem festen Klaps. »Ich w i l l doch nur dein Bestes«, sagte sie. » D u setzt dir so minimale Ziele. Der Poli zeidienst, also wirklich. Wenn du hier nur einen Moment län ger bleibst, als du musst, sitzt du ewig hier fest. Game over.« » W o hast du das denn her?« »Was?« »Game over?«
» D u bist vorzeitig gealtert«, sagte sie. »Warum schreibst du dich nicht für ein Uniseminar ein? Das hält dich frisch.« »Eher bringe ich mich u m « , sagte Cashin. Sybil legte die Finger an den Mund. »Sag so was nicht. Bor niertheit. Angeblich ein Kennzeichen der älteren Generation.« »Ich muss los«, sagte er. » M i c h unter junge Leute mischen. Sie festnehmen.« »Zieh nur alles ins Lächerliche, das hast du von deinem Vater, typisch Cashin. Sogar eine Tragödie ist nur fünf M i n u ten lang eine Tragödie, dann wird sie zum Witz.« Sie gingen nach draußen. Harry besprühte noch immer die Rosenlaube, hinter ihm stand der H ü t e h u n d , sah hoch und at mete treu und brav den Dunst ein. »Der Hund ist also entbehrlich?«, sagte Cashin. »Kollateral schaden.« A m Tor sagte seine Mutter: »Wirklich schade, dass du keine Kinder hast, Joseph. Kinder lassen einen zur Ruhe k o m m e n . « Cashin blieb abrupt stehen, verblüfft von ihren Sätzen. Wie konnte ausgerechnet sie so etwas sagen? »Woher weißt du, dass ich keine Kinder habe?«, fragte er. » A c h , du.« Sie packte seine Arme, und er beugte sich vor, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. Viele Jahre lang hatte er sie nicht küssen können. » H a b ich dir je gesagt, dass ich früher dachte, du wirst mal der Klügere?«, fragte sie. »Ich bin der Klügere«, sagte er. » D u verwechselst mich mit dem Reicheren. Einer von Berns Jungs hat Ärger in Mel bourne.« »Das wird ja wohl dieser Sam sein, stimmt's?« »Stimmt.« »Was für Ärger?« »Diebstahl aus einem geparkten Auto. Er und zwei andere.« »Was kannst du da machen?« »Wahrscheinlich gar nichts.«
»Die Doogues. Ich danke ständig meinem Schöpfer, dass ich keinerlei Verbindungen zu ihnen habe.« »Du bist eine Doogue. Bern ist dein Neffe, der Sohn deines Bruders. Wie kannst du keine Verbindungen zu ihnen haben?« »Verbindungen, Schatz, Verbindungen. Ich habe keine Ver bindungen zu ihnen.« »Game over«, sagte Cashin. »Tschüs, Syb.« »Tschüs, Liebling.« Harry winkte ihm mit einer behandschuhten Flosse zu, langsam, wie ein Polarforscher bei einem letzten traurigen A b schiedsgruß.
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uf der Fahrt nach Port Monro an einem kalten, bewölkten i Tag dachte Cashin an seine Mutter im Wohnwagen, sah sie an einem Klapptisch mit grüner Resopalplatte und A l u m i niumkante sitzen. In der einen Hand hielt sie einen Plastik becher, gefüllt mit gelbem Wein, in der anderen eine Filterzi garette, zwischen Fingern mit rosa lackierten, abgebrochenen Nägeln. Ihre sonnenverbrannte Nase schälte sich. Von der Sonne hatte sie blonde Strähnen im Haar, und es war schwer, voller Salz vom Schwimmen; an manchen Stellen fiel es ausei nander, so dass er die Kopfhaut sah. Als sie aus dem Becher trank, rann ihr Flüssigkeit aus dem Mund, über das Kinn, tropfte auf ihr T-Shirt. Sie wischte sich mit der Zigarette in der Hand über den Oberkörper, wobei die Zigarette ihr Gesicht streifte, die glühende Spitze abfiel und am Hemd haften blieb. Sie musterte den Brandfleck, der sich öffnete wie eine Blume. Sie schien ewig lange zu warten, ehe sie bedächtig den Becher neigte und Wein über die Stelle goss. Er dachte daran, wie der Geruch von verbrannter Baumwolle, verbrannter Haut und Wein den kleinen Wohnwagen füllte, wie ihm übel wurde und er in die subtropische Nacht hinausging.
Einige Zeit nach dem Tod von Cashins Vater, wie lange wusste er nicht, hatte seine Mutter zwei Koffer gepackt, und sie hatten die Farm bei Kenmare verlassen. Damals war er zwölf. Sein Bruder hatte ein Stipendium und war auf der U n i versität. Als sie zum ersten Mal hielten, um zu tanken, hatte seine Mutter ihn aufgefordert, er solle Sybil zu ihr sagen. Er
war sprachlos. Man redete seine Mutter nicht mit Vornamen an. Die nächsten drei Jahre waren sie unterwegs gewesen. Als Cashin später über diese Zeit nachdachte, wurde ihm klar, dass Sybil in diesem ersten Jahr Geld gehabt haben musste - sie wohnten in Hotels und Motels, ein paar Monate lang in einer Ferienhütte am Strand. Dann nahm sie Jobs in Kneipen, Rast häusern und allen möglichen anderen Etablissements an; sie wohnten in möblierten Zimmern, Einliegerwohnungen, Wohn wagen. In seiner Erinnerung schien sie ständig zu trinken, stän dig zu lachen oder zu weinen. Manchmal vergaß sie, Lebens mittel zu kaufen, und an manchen Abenden kam sie erst lange nach Mitternacht heim. Er wusste noch, wie er wach lag, drau ßen Geräusche hörte und krampfhaft versuchte, keine Angst zu haben. Der Abzweig nach Port Monro. Es nieselte. Cashins Schicht begann um zwölf Uhr mittags, es blieb noch Zeit für einen Kaffee. Er kaufte an der Tankstelle die Zeitung, parkte vor dem Dublin, war schon lange nicht mehr dort ge wesen. Man durfte nicht zu oft in denselben Laden gehen, das fiel den Leuten auf. Der schmale Raum war leer, Sommer war vorbei, der lange kalte Friede hatte die Stadt erfasst. »Mittelschwarz für den Cop, der bezahlt«, stellte der hinter dem Tresen sitzende Mann fest. »Mein Kunde des Tages.« Er hieß Leon Gadney, ein Zahnarzt aus Adelaide, dessen Liebhaber man in einem Park am Fluss erstochen aufgefunden hatte, vielleicht von einem der Sexfreaks ermordet, für die Adelaide berüchtigt war, vielleicht von Polizisten getötet, die glaubten, die Freaks leisteten der Öffentlichkeit einen Dienst, wenn sie Homosexuelle umbrachten. »Sie könnten im Winter schließen«, sagte Cashin. »Strom sparen.« »Was sollte ich stattdessen machen?«, sagte Leon.
»Nach Noosa fahren, mit anderen reichen Zahnärzten im Ruhestand plaudern. Ist warm da oben.« »Scheiß auf warm. Und ich möchte ein für allemal festhal ten, dass ich kein Zahnarzt im Ruhestand bin. Ex-Zahnarzt, ehemaliger Zahnarzt, jetzt Kneipier und Schnellimbisskoch.« Er brachte den Kaffee. »Möchten Sie einen leckeren Man delkeks?« »Nein danke. Muss auf mein Gewicht achten.« Leon kehrte auf seinen Platz zurück, zündete sich eine Ziga rette an. »Im Grunde genommen sehen Sie gar nicht übel aus«, sagte er. »Und da hocken wir nun, zwei virile alleinstehende Männer, gestrandet auf einer Insel voller alter Frauen in San dalen.« Cashin schaute nicht auf. Er las gerade einen Artikel über Korruption bei der großstädtischen Polizei, im Rauschgift dezernat. Die Beamten hatten konfiszierte Drogen verkauft. Zuvor hatten sie die Chemikalien zur Herstellung der Drogen geliefert. »Sie sind eine echt gute Partie, Leon«, sagte er, »aber ich hab zu viel um die Ohren, konnte mich gerade nicht kon zentrieren.« »Tja, denken Sie drüber nach«, sagte Leon. »Ich habe ausge zeichnete Zähne.« Cashin ging zur Arbeit, befasste sich mit der Beschwerde eines Mannes wegen des Baums seines Nachbarn, einer Mel dung über eine zerstörte Sitzbank im Feuchtgebiet. Eine Frau mit einem blauen Auge kam aufs Revier - sie wollte, dass Cashin ihren Mann verwarnte. Um vierzehn Uhr fünfzehn rief die Grundschule an und meldete, eine Mutter habe je manden gesehen, der auf dem Grundstück gegenüber herum lungere. Cashin parkte ein Stück von der Schule entfernt, ging in eine Einfahrt und sah über den Zaun. Hohes gelbes Gras. Jemand hatte angefangen, ein Fundament aus Betonplatten zu legen, war aber nicht weit gekommen; mittlerweile überwucherte
Unkraut den Bausand. Es gab einen kleinen Schuppen, dahin ter stand ein Transporter. Cashin ging durch die Auffahrt zurück, betrat das Baugrund stück und näherte sich dem Fahrzeug. Das Fensterglas war be schlagen, im Fahrerhaus war niemand zu sehen. Er pochte mit den Fingerknöcheln auf das Dach. Nichts. Er nahm die Faust. »Verpiss dich!« Eine Männerstimme. »Polizei«, sagte Cashin. Das Fahrzeug ruckelte. Cashin trat einen Schritt zurück und sah eine Gestalt über die Rückenlehne der Sitzbank steigen. Die Scheibe auf der Fahrerseite wurde ein paar Zentimeter runter gekurbelt - Augen, dunkle Augenbrauen, schwarze Haarsträh nen. »Ich halte nur ein Nickerchen.« »Ist das Ihr Grundstück, Sir?« Cashin zeigte seine Dienst marke. »Ich bin der Bauunternehmer.« »Wird nicht viel gebaut.« »Geht los, sobald die Finanzierung steht.« »Sind Sie von hier, Sir?« »Cromarty.« »Bitte verlassen Sie das Fahrzeug, Sir, und weisen Sie sich aus.« »Hören Sie, wo ist das Verbrechen, wenn man auf einem Scheiß-Baugrundstück ein Nickerchen hält?« »Bitte raus aus dem Fahrzeug, Sir. M i t Ihrem Ausweis.« Der Mann drehte sich um, griff nach hinten. Cashin sah Haut, der Mann war halb nackt und suchte seine Hose. Cashin ging mehrere Schritte zurück, eine Hand in der Jacke, die Waffe griffbereit. Der Mann bewegte sich, zappelte, bekam die Hose nicht an. »Hören Sie«, sagte er durch den Fensterspalt. »Is 'ne ganz p r i vate Angelegenheit hier. Lassen Sie uns einfach laufen, ja?«
»Steigen Sie aus und ziehen Sie die Hose an«, sagte Cashin. »Sir.« Die Tür ging auf. Ein hagerer Mann, Ende zwanzig. Er streckte die Beine ins Freie - offenes Flanellhemd über einem T-Shirt, keine Schuhe, rote Socke mit Loch drin, ein Bein in der Jeans -, stellte sich aufs Unkraut und zog die Hose hoch, dann den Reißverschluss. An einem Oberschenkel hatte er einen Pickel. Er griff in die Hosentasche, fand ein Portemonnaie, hielt es Cashin hin. »Führerschein, Kreditkarte, der ganze Scheiß halt.« »Legen Sie es aufs Dach«, sagte Cashin, »und stellen Sie sich an den Schuppen.« »Gott, Mann, ich schwing doch bloß die Maurerkelle.« Er gehorchte. Cashin nahm das Portemonnaie, betrachtete ein paar Karten. Allan James Morris, eine Adresse in Cromarty. Er notierte sie sich. »Telefonnummer?« Er nannte Cashin eine Handynummer. »Wenn Sie nun der Person in Ihrer Begleitung beim Aus steigen behilflich wären, sie muss sich ebenfalls ausweisen«, sagte Cashin. Morris ging zu dem Wagen zurück, öffnete die Hecktür, ein paar Worte wurden gewechselt. Ein Mädchen in Jeans und einem kurzen rosa, plissierten Jäckchen stieg aus. Sie war höchstens fünfzehn, dunkle Haare, hübsch, aber nicht auf Dauer. Sie hatte einen Schmollmund, der Lippenstift war ver schmiert. »Ausweis, bitte«, sagte Cashin. Sie klappte ein Portemonnaie auf, hielt ihm eine Karte hin. Cashin warf einen Blick drauf. »Das bist du nicht«, sagte er, schnippte die Karte über die Motorhaube zurück. »Hast du einen richtigen Ausweis? Wir können das auch auf der Dienststelle machen, deine Eltern hin zuziehen Sie zog eine Schnute, Seitenblick auf Morris, kramte noch
eine Karte heraus, einen Schülerausweis mit Foto: Stacey-Ann Gettigan. »Vierzehn, Stacey«, sagte Cashin. »Hinten in einem Trans porter mit einem erwachsenen Mann.« »Hab nur die Schule geschwänzt«, sagte Stacey. Sie ver schränkte die Arme unter den Brüsten. »Is doch kein Verbre chen.« »Was meinen Sie, Allan?«, sagte Cashin. »Ist es ein Verbre chen, in Ihrem Transporter eine Vierzehnjährige zu besprin gen?« »Nur geküsst und so was«, sagte Morris. »Sie ziehen sich zum Küssen die Hose aus? Küssen Sie mit dem Hintern? Sind Sie verheiratet, Allan?« Morris kratzte sich am Kopf. Er stand in der Sonne und Cashin sah, wie in der stillen Luft Schuppenflocken aufwirbel ten. Das Mädchen blickte zu Boden, kaute auf einem lackier ten Fingernagel herum. »Hören Sie«, sagte Morris, »nichts passiert, ich schwör's.« »Verheiratet, Allan?« »Ja. Mehr oder weniger.« »Mehr oder weniger? So was gibt's inzwischen? Eine Mehr oder-weniger-Trauung in der Kirche?« Morris wollte Cashin nicht ansehen. Cashin bedeutete dem Mädchen, ihm zu folgen. Sie gingen auf die andere Seite des Schuppens. Er sagte: »Möchtest du eine Beschwerde gegen die sen Mann vorbringen, Stacey? Hat er dich bewogen, etwas ge gen deinen Willen zu tun? Dich bedroht? Dann tu's jetzt.« Sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf. »Nein. Nichts.« »Bestimmt? Ich werde alles aufschreiben, was ich dich ge fragt habe. Willst du mit jemand Anderem reden, allein? M i t einer Polizistin?« »Nein«, sagte sie. Cashin ging zurück und winkte Morris heran, machte ein paar Schritte auf das Grundstück. Der Mann kam näher, fühlte
sich sichtlich unwohl in seiner Haut, wirkte verdruckst. Sie standen im Unkraut. Weiße Wolken spiegelten sich in den Re genpfützen auf der Betonplatte. »In welcher Beziehung stehen Sie denn zu ihr?«, sagte Cashin. »Ist so 'ne A r t Cousine, weiß nicht genau.« »Ach ja?« »Sie lässt mir keine Ruhe, kommt sogar zu mir auf die Arbeit. Ich hab gar nichts getan. Heute ist das erste M a l . . . , jedenfalls ist nichts passiert. Ich schwör's.« »Sie ist nicht zufällig Deke Gattigans Enkelin, oder?« Morris kratzte sich beidhändig am Kopf, als wäre er plötz lich von Läusen angegriffen worden. »O Mann, Scheiße, die bringen mich um«, jammerte er. »Bitte, Mann.« »Bringen Sie keine Kinder mehr her für irgendwelche Spiel chen, Allan«, sagte Cashin. »Auch nicht in die Nähe. Von jetzt an werden wir Ihren Transporter im Auge behalten. U n d Sie sind hier nicht der Bauunternehmer, stimmt's?« »Mein Kumpel, mehr oder weniger, er ist der...« »Wenn Sie hierherkommen, um Bauarbeiten durchzufüh ren, und damit meine ich Bauarbeiten, nicht das Ficken min derjähriger Mädchen, dann lassen Sie es mich wissen, Allan. Dann sag ich der Schule Bescheid, dass sie keine Angst haben brauchen, weil da ein Mann den Schwanz raushängen lässt, der müsse nur mal pissen. In Ordnung?« »Klar, 'türlich. Danke.« Cashin sah sich um, als er wegging. Das Mädchen erwiderte seinen Blick. Sie wusste, dass sie aus dem Schneider war, er würde die beiden nicht verpfeifen, und sie lächelte ihn an, kess, sexuell, uralte Weisheit.
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arl Wexler kam aus dem Haupteingang des Reviers und machte die Dehnübungen eines Bodybuilders. Er war vor einem Jahr von der Akademie gekommen, nicht dumm, Dritt bester in seinem Kurs, aber ein Stadtjunge und sauer darüber, dort stationiert zu sein, wo nichts los war. Cashin kurbelte das Fenster runter. »Cromarty hat angerufen, Chef«, sagte Wexler. »Senior Hopgood w i l l Sie sprechen.« Cashin ging rein und rief zurück. »Liebesgrüße von Ihrem Kumpel Inspector Villani«, sagte Hopgood. »Wieso haben eigentlich die Spaghettifresser die Polizei übernommen?« »Natürliche Auslese«, sagte Cashin. »Überleben der am besten Gekleideten.« »Tja, also, er hat mich freundlicherweise an seinen Spaghetti fresseransichten teilhaben lassen. Sie sollen ihn anrufen, hat er gesagt.« Cashin schwieg. Hopgood legte auf. Die städtische Telefonzentrale stellte Cashin direkt durch. »Was macht der Ruhestand?«, sagte Villani. »Ich war ein Mal da unten. Sehr nett. Es heißt, die Surfies nennen die Ge gend >Blaue-Eier-Küste<.« »Waschlappen«, sagte Cashin. »Was gibt'Ä?« »Joe, dieser Bourgoyne sagte mir nichts, aber die Medien haben das korrigiert. Dann hat mir Commissioner Wicken ges tern erklärt, welche Beziehungen die Stieftochter hat, Senior
Partnerin bei Rothacker Julian, der Rechtsabteilung der Labor Partei.« »So was hat heutzutage in einem Mordfall Gewicht?« »Ich finde immer mehr raus. Heute gibt mir Mr. Tommy Commissioner Wicken Tips, wie ich in der Öffentlichkeit auf zutreten hätte. Mode inbegriffen. Welchen Anzug, welches Hemd, welche Schuhe. Das hat mir ausnehmend gut gefallen.« »Und?« »Ich will, dass du in der Sache ermittelst.« »Ich bin jetzt der Krüppel, der Port Monro leitet. Schick doch diesen Arsch Allen.« »Joe, unsere Personaldecke ist dünner als der Fromms extra sensitiv. Jantz, Campbell und Maguire - alle binnen eines M o nats aufs Altenteil. DePiero hat gekündigt, Tozer nimmt eine stressbedingte Auszeit, und dein Kumpel Allen - seine Frau ist mit 'nem Metzger vom Vic Market durchgebrannt, hat die Kids mitgenommen. Jetzt ist er auf irgend so 'nem mystischen Tripp, lebt für den beschissenen Augenblick. Den würd ich nicht mal zu 'nem buddhistischen Ehestreit schicken.« Stille. »Hinzu kommt«, fuhr Villani fort, »wenn die Zeitungen in ein paar Tagen bei euch ausgeliefert werden, wirst du sehen, dass die einst kriminellen Kollegen im Drogendezernat sich wieder gegenseitig umbringen. Angeblich hat die große Chefin die ganzen Ferkel rausgeschmissen und die Saubermänner be fördert, aber dumdideldei, schon geht's wieder los. Deshalb hab ich etliche Leute mit der völlig sinnlosen Aufgabe betraut herauszufinden, welches spezielle Arschloch irgendein anderes Arschloch eliminiert hat, für dessen Tod wir dankbar sein soll ten. Als Stadt. Als Bundesland. Als Staat. Als Scheiß-Welt.« »Ich glaube, du regst dich viel zu sehr auf«, sagte Cashin. »Zu Bourgoyne, was haben die Genies von der Spurensiche rung rausgefunden, die ihr hingeschickt habt?« »Alles Kacke. Die Alarmanlage war ausgeschaltet. Kein Ein
bruch, keine Fingerabdrücke, keine Waffe. Keine Fremd-DNA. Wir wissen nicht, was weg ist, von der Uhr abgesehen. Im Ar beitszimmer und in seinem Schlafzimmer sind verschlossene Schubladen aufgebrochen worden.« »Und er?« »Wahrscheinlich Mord. Falls er's überlebt, ist er nur noch Gemüse.« »Hast du dich schon mal gefragt, warum immer von Gemüse die Rede ist? Warum sagt man nicht Obst oder Getreide?« »Die philosophischen Fragen überlassen wir dem Stamm tisch, Gentlemen.« Der Spruch stammte von Singo, aus der Zeit vor Rai Sarris. »Also, was soll ich machen?«, fragte Cashin. »Wegen dieser Verbindung zu Rothacker Julian brauchen wir einen erfahrenen Kripobeamten vor O r t . Wehe, da wird Bockmist gebaut. Ich bin neu im Kontrollturm, Joe, ich spür den Wind. Am Ende wird da so 'ne blöde Geschichte wie in Kaltblütig draus, das sagt mir mein Schwanz, wir müssen nur den ganzen Mist dazwischen auf die Reihe kriegen.« »Was ist mit Cromarty?« »Die können mich mal. Ich rede im Namen des Commis sioners.« »Und wenn ich ablehne?« »Hör zu, mein Junge, du gehörst immer noch dem Mordde zernat an. Du bist ein beurlaubtes Mitglied. Schon mal was von Pflichtgefühl gehört?« »Das eine oder andere, ja.« »Ich bin froh, dass ich nicht mehr dazu sagen muss.« »Du Arschloch.« »Komm du mal in meinem Büro vorbei und wiederhol das gegenüber einem Vorgesetzten«, sagte Villani. »Also, zuerst plauderst du mit Ms. Bourgoyne, der Stieftochter. Man hat sie gebeten, sich in dem Haus umzusehen, müsste in etwa einer Stunde da sein. Cromarty öffnet das Anwesen.«
»Ist sie schon befragt worden?« »Eigentlich nicht. Wir wollen, dass du dabei bist, wenn sie das Haus sieht. Finde heraus, was in den Schubladen war, ob ihr auffällt, dass noch irgendwas fehlt, ob während ihres Auf enthalts dort irgendwas Ungewöhnliches vorgefallen ist, ob sie uns irgendwelche Hinweise geben kann.« »Braucht ihr dafür wirklich einen erfahrenen Kripobeam ten? Warum gibst du deine großartig detaillierten Anweisun gen nicht irgendeinem dämlichen Verkehrscop?« »Sony, sorry, sorry, meine Güte, sei nicht so empfindlich.« »Was ist mit anderen Angehörigen?« »Keine nahen. Es gab mal einen Stiefsohn, Ericas Bruder. Sie sagt, er sei vor geraumer Zeit auf Tassie ertrunken.« »Sie sagt das?« »Wird noch verifiziert. Alles klar? Wir lassen das von ir gendeinem dämlichen Verkehrscop überprüfen. Der kriegt de taillierte Anweisungen.« »Hab ja nur gefragt.«
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ashin fuhr zu Bourgoynes Anwesen hinaus, vom Highway ab und die steile Straße hoch, durch das Tor, die kurven reiche, von Pappeln gesäumte Auffahrt hinunter, hielt an der gleichen Stelle wie zuvor. A u f dem Kies sah man die Spuren zahlreicher Fahrzeuge. Er parkte und wartete, hörte Radio, dachte an damals, als er mit seiner Mutter unterwegs war, an die anderen Kinder, die er kennengelernt hatte, einige halb verwilderte Kids, die nicht zur Schule gingen, am Strand lebten, die weißhäutigen dunkel braun gebrannt oder sommersprossig, und bei allen schälte sich die Haut in papiernen Fetzen. Er dachte an den Jungen, der ihm das Surfen beigebracht hatte, in New South Wales, vielleicht in Ballina. Gavin hieß der Junge. Er ließ Cashin ein Surfbrett benutzen, dem ein großes Stück fehlte. »Ein Hai, Alter«, sagte Gavin. »Hat den Typ halb durch gebissen. Er braucht's nich mehr, du kannst es dir ausbor gen.« Als sie weiterfuhren, schenkte ihm Gavin das Brett. Wo mochte Gavin jetzt sein? Wo war das Brett? Cashin hatte es wirklich gern gehabt, hatte die kaputte Stelle mit Klebeband kaschiert. Ich langweile mich hier, Liebling. Wir brechen auf. Das hatte seine Mutter jedes Mal gesagt, bevor sie weiter nach Norden zogen. Cashin stieg aus, um sich zu strecken, lief im Kreis. Ein Wa gen kam. Ein schwarzer Saab bog um die Kurve und parkte neben
dem Streifenwagen. Der Fahrer hievte sich vom Sitz, ein mas siger Mann, kurz geschorene Haare, Jeans und Lederjacke, letztere offen. »Hi«, sagte er. »John Jacobs, Orton Private Security Group. Ich war bei der SOG. Dürfte ich Ihren Ausweis sehen?« Die frühere Mitgliedschaft bei der Special Operations Group der Polizei sollte ihm eine A r t göttliche Aura verleihen, die vergessen machte, dass man ihn vermutlich rausgeschmis sen hatte, wegen Feigheit oder weil er sich als gewalttätiger Psychopath entpuppte. Cashin betrachtete den Streifenwagen. »Das ist mein Fahr zeug. Wollen Sie damit andeuten, ich könnte eine gefährliche Person sein, die einen Polizeiwagen gestohlen hat?« »Nie etwas stillschweigend voraussetzen«, sagte Jacobs. »Das war mal die übliche Vorgehensweise bei der Polizei.« »Ist es immer noch«, sagte Cashin. »Und ich bin derjenige, der sich den Ausweis zeigen lässt. Also her damit.« Jacobs lächelte schmallippig, dann blitzte ein linker Eck zahn auf, als er eine Plastikkarte mit Foto zückte. Cashin ließ sich beim Betrachten Zeit, musterte die Karte, dann Jacobs. »Sie lassen die Dame warten«, sagte Jacobs. »Brauchen Sie besseres Licht? Wollen Sie doch lieber Verstärkung?« »Was genau ist Ihr Job?«, sagte Cashin. »Ich kümmere mich um Ms. Bourgoyne. Was dachten Sie denn?« Cashin gab ihm den Ausweis zurück. Jacobs ging um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür. Eine Frau stieg aus, eine Blondine, groß, schlank; der Wind fuhr durch ihr langes Haar. Sie hob eine Hand, um es zu bändigen. Anfang vierzig, nahm Cashin an. »Ms. Bourgoyne?« »Ja.« Sie sah gut aus, ausgeprägte Gesichtszüge, graue Augen. »Detective Cashin. Meines Wissens hat Inspector Villani mit Ihnen gesprochen.«
»Ja.« »Hätten Sie etwas dagegen, wenn wir uns umsehen? Ohne Mr. Jacobs, wenn Sie einverstanden sind?« »Ich weiß nicht, was mich erwartet«, sagte sie. »So was ist immer schwierig«, sagte Cashin. »Aber wir machen einen Rundgang durchs Haus. Sie sehen sich gründlich um und sagen mir, ob Ihnen irgendetwas auffällt.« »Danke. N u n , dann nehmen wir die Seitentür.« Sie führte ihn um die Veranda. Auf der Ostseite befand sich eine größere, mit akkurat geharktem Kies bedeckte Fläche, auf der glatte Felsbrocken herumlagen, dahinter eine beschnittene Hecke. Erica öffnete eine Glastür, und sie betraten einen mit Natursteinplatten gefliesten Raum, eine A r t Wintergarten, in dem Korbsessel um niedrige Glastische standen. Die Sonne schien nicht herein, doch in dem Raum war es warm. »Ich würde das gern so rasch wie möglich hinter mich brin gen«, sagte Erica. »Natürlich. Hat Mr. Bourgoyne Geld im Haus aufbewahrt?« »Ich habe keine Ahnung. Warum sollte er?« »Leute tun so was. Was ist hinter dieser Tür?« »Ein Flur.« Sie ging voran in einen breiten Flur. »Dies sind Schlafräume und ein Wohnzimmer«, sagte sie und öffnete eine Tür. Cashin trat ein und machte die Deckenlampe an. Es war ein großes Zimmer, die Vorhänge waren zugezogen, an den Wänden hin gen vier schwarz gerahmte Tuschzeichnungen. Alle stammten von derselben Hand, angedeutete Straßenszenen, strenge ver tikale Striche, unsigniert. Das Bett war breit, weiße Bezüge, große Kissen. »Hier gibt es nichts zu stehlen«, stellte Erica fest. Die nächsten beiden Zimmer waren nahezu identisch. Es folgten ein Bad und ein kleines Wohnzimmer. Sie betraten eine große, zwei Stockwerke hohe, von einem Oberlicht erhellte Diele. Eine gewaltige Treppe dominierte
den Raum. »Da sind das große und das kleine Speisezimmer«, sagte Erica. »Was ist oben?«, fragte Cashin. »Schlafzimmer.« Cashin warf einen Blick in die Esszimmer. Offenbar hatte sich hier niemand zu schaffen gemacht. An der Tür zum gro ßen Speisezimmer blieb Erica stehen und drehte sich zu Cashin um. »Ich gehe vor«, sagte er. In dem Zimmer roch es leicht nach Lavendel und nach etwas anderem. Das durch das hohe Fenster fallende Licht schien auf den Teppich, dort, wo an der Wand das aufgeschlitzte Gemälde gehangen hatte. Der Blutfleck war unter einer mit Klebeband befestigten schwarzen Plastikplane verborgen. Cashin ging zu einem Zedernholzschrank an der linken Wand und öffnete ihn: Whisky, Brandy, Gin, Wodka, Pimms, Cinzano, Sherrys, diverse Liköre, Weingläser, Whisky- und Cognacgläser aus Kristall, Martinigläser. In einem kleinen Kühlschrank befanden sich Soda, Tonic, Mineralwasser. Kein Bier. »Wissen Sie, was in dem Schreibtisch aufbewahrt wurde?« Der kleine Tisch mit den schlanken Beinen und einer leder nen Platte stand an der Wand. Erica zuckte die Achseln. Cashin zog die linke Schublade auf. Schreibblöcke, Brief umschläge,, zwei Füllfederhalter, zwei Tintenfässer. Cashin nahm den obersten Schreibblock heraus, klappte ihn auf, hielt ihn gegen das Licht. Keine Abdrücke. Die andere Schublade enthielt einen silbernen Brieföffner, einen Tacker, Schachteln mit Heftklammern, einen Locher, Büroklammern. »Warum haben sie die Stereoanlage nicht mitgenommen?«, sagte sie. Cashin sah sich die schwedische Anlage an. Sie war mal die teuerste auf dem Markt gewesen.
»Zu groß«, sagte er. »Gab es einen Fernseher?« »In dem anderen Wohnzimmer. Mein Stiefvater sah nicht besonders gern fern.« Cashin betrachtete die Regale mit Dutzenden von CDs neben dem CD-Player. Klassische Musik. Orchesterwerke. Opern. Er nahm eine CD heraus, legte sie in den Schlitz, drückte auf die Tasten. Maria Callas. Das Zimmer hatte eine perfekte Akustik. Er schloss die Augen. »Muss das sein?«, sagte Erica. »Verzeihung«, sagte Cashin. Er drückte die AUS-Taste. Die Stimme der Callas schien noch in den hohen dunklen Ecken des Raums zu verweilen. Sie verließen das Zimmer, der nächste Flur. »Das ist das Arbeitszimmer«, sagte Erica. Er trat ein. Ein großes Zimmer, an drei Wänden dunkel ge rahmte Fotografien, einige wenige Zeichnungen, an der vierten ein Bücherregal bis zur Decke. Der Schreibtisch war eine ge schwungene Tischplatte aus hellem Holz auf eckigen dunklen Säulen, die oben nadelspitz zuliefen. Auch der Sessel war mo dern, Leder und Chrom. Eine bequemer aussehende Variante stand vor dem Fenster. Die Vorhängeschlösser zweier schwerer, großer Holzvitri nen, jede mit sechs Schubladen, waren aufgebrochen worden, vermutlich mit einem Stemmeisen. Man hatte sie belassen wie an jenem Morgen vorgefunden. »Irgendeine Ahnung, was da drin war?«, fragte Cashin. »Uberhaupt keine Ahnung.« Cashin sah nach: Briefe, Unterlagen. Er ging die Wände ent lang, betrachtete die Fotos. Offenbar waren sie chronologisch angeordnet und umfassten, wenn er das richtig sah, einen Zeit raum von mindestens siebzig oder achtzig Jahren - Familien grüppchen, junge Männer in Uniformen, Hochzeiten, Feste,
Picknicks, Strandszenen, zwei Männer in Anzügen vor einer Gruppe Männer in Overalls, eine Plakette an einem Gebäude, die von einer Frau mit H u t enthüllt wurde. »Wer davon ist Ihr Stiefvater?«, sagte er. Erica nahm ihn mit auf eine Führung, zeigte auf einen lächelnden kleinen Knaben, einen Jugendlichen in Schuluni form, in weißen Crickethosen, in einer Fußballmannschaft, einen schmalgesichtigen jungen Mann im Smoking, einen Mann mittleren Alters, der einem Älteren die Hand gibt. Charles Bourgoyne war langsam und gut aussehend gealtert, ohne auch nur ein einziges gebürstetes Haar zu verlieren. »Dann sind da noch die Pferde«, sagte sie und zeigte mit dem Finger. »In seinem Leben wahrscheinlich wichtiger als die Menschen.« Eine Wand voller Fotos von Pferden oder Menschen mit Pferden. Dutzende von Fotos auf der Zielgeraden, manche se piabraun, manche koloriert, ein paar Farbfotos. Charles Bour goyne, wie er Pferde ritt, führte, streichelte, küsste. »Ihre Mutter«, sagte Cashin, »lebt sie noch?« »Nein. Sie starb, als ich klein war.« Cashin betrachtete die Bücherregale: Romane, Geschichte, iografien, reihenweise Bücher über Japan und China, die dor tige Kunst und Kultur. Darüber standen Bücher über den Zwei ten Weltkrieg, den Krieg gegen Japan, über australische Kriegs gefangene der Japaner. Es gab drei Regale mit Büchern über Töpferei, den Titeln nach technische Fachbücher. Sie gingen weiter. »Das ist sein Schlafzimmer«, sagte Erica Bourgoyne. »Ich war noch nie da drin, und dabei möchte ich es auch belassen.« Cashin betrat eine weiße Kammer - Bett, Tisch, schlichte Nachttischlampe, kleiner Schreibtisch, vier Schubladen geöff net. Die unteren waren aufgebrochen worden. Durch eine Tür betrat man ein Ankleidezimmer. Er betrachtete Bourgoy
nes Kleidungsstücke: Jacken, Anzüge, Hemden auf Bügeln, Strümpfe und Unterwäsche in Schubläden, Schuhe in einem Regal. Alles sah teuer, nichts sah neu aus. Es gab einen roten Lackschrank. Er öffnete ihn und saube rer Zederngeruch stieg ihm in die Nase. Seidene Kleidungs stücke auf Kleiderbügeln, ein Regal voller zusammengerollter Schärpen. Er dachte daran, Erica hereinzubitten. Nein. An das Ankleidezimmer schloss sich ein Bad an, Schiefer an den Wänden und am Boden, eine Badewanne aus Holz, Metallbänder wie bei einem Fass, eine Toilette, eine Dusche, die nur aus zwei perforierten Scheiben aus rostfreiem Stahl be stand - aus der einen kam das Wasser, auf der anderen stand man. Es gab blassgelbe Seifenstücke, Einwegrasierer, Sham poo. Cashin öffnete einen schlichten Holzschrank: drei große Handtuchstapel, reihenweise Seifenstücke, Packungen von Ein wegrasierern, Toilettenpapier, Papiertaschentücher. Er ging zu Erica zurück. Sie sahen sich ein weiteres Schlaf zimmer an, das aussah wie ein Zimmer in einem komfortablen Hotel. Dazu gehörte ein kleines Wohnzimmer mit zwei Ses seln und einem Kamin. Es gab noch ein Bad, ein altmodisches, das nichts verriet. Am Ende des Flurs war ein Wirtschaftsraum mit Waschmaschine und Trockner, beides neu aussehend. Dahinter befand sich ein Lagerraum, Regale mit schwerer weißer Bettwäsche und Tischtüchern, Servietten, weißen Hand tüchern, Putz- und Reinigungsgerätschaften. Sie gingen denselben Weg zurück, den sie gekommen waren. »Hier ist noch ein Wohnzimmer«, sagte Erica. »Das mit dem Fernseher.« Vier Ledersessel um einen Kamin, links ein Fernsehgerät in einem Regal, rechts noch eine schwedische Musikanlage. Ein gemütliches Zimmer, dachte Cashin, zumindest gemessen an den übrigen.
»Tja«, sagte er. »Das war's. Nach oben müssen wir nicht, da wurde meines Wissens nichts durchwühlt.« Einen Moment lang sah sie ihn an, seltsam unbestimmt, eine gewisse Unsicherheit im Blick. »Ich würde gern nach oben gehen«, sagte sie. »Begleiten Sie mich?« »Natürlich.« Sie durchquerten das Haus bis zur Eingangshalle, gingen nebeneinander eine breite Marmortreppe hinauf bis zu einem Absatz, dann noch eine Treppe. Die ganze Zeit über ließ er sich die Schmerzen nicht anmerken, verzog keine Miene. Oben verlief eine Galerie um das Treppenhaus, von der sechs dunkle Türen aus Zedernholz abgingen, die allesamt geschlossen waren. Sie standen auf einem persischen Läufer in einem brei ten Schaft aus Licht, das von oben hereinschien. »Ich möchte einige Dinge aus dem Zimmer meiner Mutter holen, falls sie noch da sind«, sagte Erica. »Bisher hatte ich nie den Mut.« »Wie lange haben Sie gewartet?« »Fast dreißig Jahre.« »Ich bin hier«, sagte Cashin. »Es sei denn...« »Nein, es geht schon.« Sie ging zur zweiten Tür auf der linken Seite. Er sah, wie sie zögerte, die Tür mit den sechs Holzpaneelen öffnete, die Hand nach einem Messinglichtschalter ausstreckte, eintrat. Cashin öffnete die nächstgelegene Tür und machte das Licht an. Es war ein riesiges Schlafzimmer, Doppelbett mit weißen Bezügen, zwei Kleiderschränke, eine Frisierkommode, ein Schreibtisch vor dem zugezogenen Fenster. Er ging über einen blassrosa Teppich, gemustert wie eine Steppdecke, schob den Vorhang ein wenig beiseite. Der Blick ging hinaus auf Stallun gen aus Backstein, dahinter fast blattlose Baumwipfel, deren Aste sich im Wind bewegten, und weiter auf einen flachen Hü gel, bedeckt von rotgelbem Herbstlaub.
Er ging zurück auf die Galerie, trat an die Balustrade, schaute durch das Treppenhaus hinunter auf die Eingangshalle und verspürte ein kurzes Schwindelgefühl, den Drang, sich über das Geländer zu stürzen. »Fertig«, sagte Erica hinter ihm. »Haben Sie gefunden, wonach Sie gesucht haben?« »Nein«, antwortete sie. »Es ist nichts da. Es war dumm zu glauben, da könnte noch was sein.« Sie gingen zurück in den Wintergarten, setzten sich, zwi schen ihnen stand ein niedriger Glastisch. »Ist Ihnen irgendetwas Erwähnenswertes aufgefallen?«, fragte Cashin. »Nein. Tut mir leid, ich bin keine große Hilfe. Ich bin in die sem Haus ziemlich fremd.« »Wie kommt das?« Sie sah ihn scharf an. »So ist es nun mal, Detective.« »Wird nachts alles abgeschlossen, die Alarmanlage einge schaltet?«, fragte er. »Das weiß ich nicht. Nachts war ich schon sehr lange nicht mehr hier.« Zeit, das Thema zu wechseln. »Zu Ihrem Bruder, Ms. Bour goyne.« »Er ist tot.« »Ertrunken, wie man mir sagte.« »Auf Tasmanien. 1989.« »War er schwimmen?« Erica rutschte auf ihrem Sitz herum, schlug die in Cord hosen steckenden Beine übereinander, wippte mit einem glän zenden schwarzen Stiefel. »Anscheinend. Seine Sachen lagen am Strand. Die Leiche wurde nie gefunden.« »Verstehe. Sie waren also Dienstagmorgen hier.« »Ja.« »Besuchen Sie Ihren Stiefvater oft?« Sie rieb die Handflächen aneinander. »Oft? Nein.«
»Verstehen Sie sich nicht besonders?« Erica verzog das Gesicht, sah dabei viel älter aus, faltig. »Wir haben kein enges Verhältnis. Das liegt an unserer Familienge schichte, daran, wie ich aufgewachsen bin.« »Und der Grund Ihres Besuches?« »Charles wollte mich sprechen.« »Können Sie das präzisieren?« »Das ist indiskret«, sagte sie. »Warum müssen Sie das wis sen?« »Ms. Bourgoyne«, sagte Cashin, »ich weiß nicht, was wir wissen müssen. Aber wenn ich in meinem Bericht vermerken soll, Sie hätten es vorgezogen, diese Frage nicht zu beantwor ten, mach ich das gern.« Sie zuckte die Schultern, war nicht zufrieden. »Er wollte über seine Angelegenheiten reden.« Cashin wartete, bis klar war, dass sie nichts weiter sagen würde. »Zu einem anderen Thema. Wer erbt?« Große Augen. »Keine Ahnung. Was wollen Sie damit an deuten?« »Es ist nur eine Frage«, sagte Cashin. »Sie haben nicht über sein Testament gesprochen?« Ein Lachen. »Mein Stiefvater gehört nicht zu den Menschen, die über ihr Testament reden. Ich bezweifle, dass er je ans Ster ben gedacht hat. Das ist was für niedere Wesen.« »Angenommen, er kannte seinen Angreifer...« »Weshalb sollten Sie das annehmen?« »Eine mögliche Ermittlungsrichtung. Wer könnte ihm etwas antun wollen?« »Soweit ich weiß«, sagte sie, »ist er hier in der Gegend ein sehr angesehener Mensch. Aber ich wohne nicht hier, nicht mehr, seit... seit ich klein war. Ich war nur zu Besuch hier.« Sie sah weg. Cashin folgte ihrem Blick, schaute hinaus auf den gebändigten Kies, der bis zur Hecke reichte. Nichts auf dem Gelände von The Heights heiterte einen auf - Hecken,
Rasenflächen, Pflastersteine, Kies, alles nur Grün- und Grau schattierungen. Cashin bemerkte, dass es hier keine Blumen gab. »Er hat alle Blumenbeete rausreißen lassen«, sagte sie, seine Gedanken erratend. »Sie waren herrlich.« »Noch eine letzte Frage: Fällt Ihnen irgendetwas aus dem Leben Ihres Stiefvaters oder aus Ihrem eigenen Leben ein, was zu dem hier geführt haben könnte?« »Und zwar?« »Dies könnte zu einer Morduntersuchung werden.« »Was heißt das?« »Nichts im Leben der Menschen aus dem Umfeld Ihres Stiefvaters wird privat bleiben.« Sie richtete sich auf, musterte ihn alles andere als einge schüchtert. »Wollen Sie damit andeuten, ich wäre dann eine Verdächtige?« »Wir ermitteln in alle Richtungen.« »Was ist mit völlig Fremden?«, sagte sie. »Besteht die Chance, dass Sie sich für völlig fremde Menschen interessieren könnten, die in das Haus eingedrungen sind und ihn angegriffen haben?« Er wollte ihr in Sachen Sarkasmus nicht nachstehen. »Die Chance besteht durchaus«, sagte er. »Aber da es kein Anzei chen dafür gibt, dass jemand sich gewaltsam Zutritt verschafft hat, müssen wir andere Möglichkeiten in Betracht ziehen.« »Nun«, sagte sie mit einem Blick auf ihre Uhr, ein schmales silbernes Band, »ich würde gern aufbrechen. Sind Sie ein orts ansässiger Polizist?« »Ich bin hier so lange wie nötig.« Da war etwas Wahres dran. An fast allem, was die Leute so sagten, war etwas Wahres dran. »Darf ich fragen, warum Sie den Leibwächter mitgebracht haben?«, sagte Cashin. »Berufsbedingt. N u r eine Vorsichtsmaßnahme.« Erica stand auf.
Cashin erhob sich. »Wurden Sie bedroht?« Erica streckte die rechte Hand aus. »Es ist berufsbedingt, Detective. In meinem Beruf w i r d es dadurch vertraulich. Adieu.« Sie gaben sich die Hand. Jacobs, der ehemalige SOG-Mann, kam auf den Vorhof, um ihn abfahren zu sehen. Im Rückspie gel sah Cashin, wie der Mann ihm spöttisch nachwinkte, die Finger gespreizt, die rechte Hand in Höhe seines Harter Mann-Lächelns. Cashin trat das Gaspedal durch, Kies spritzte in hohem Bo gen auf und Jacobs versuchte, sein Gesicht zu schützen.
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ashin nahm die Straße hinter Open Beach, wendete an der Abzweigung zum Highway, fuhr durch Port Monro zu rück, holte sich einen Kaffee. Er parkte oberhalb von Lucan Rocks, sah unten ein halbes Dutzend Surfer. Einige nahmen es bedenkenlos mit den großen Brechern auf, andere überlegten es sich erstmal gründlich. Es hatte etwas Beruhigendes: in einem warmen Auto zu sit zen und zu beobachten, wie der Wind Gischt von den Wellen abhob, wie eine aufsteigende Wasserwand plötzlich durchsich tig wurde, eine schwarze Gestalt über das schmelzende Glas glitt; der poetische Abgang in die Luft, der Fall. Gavins von einem Hai angebissenes Surfbrett fiel ihm ein, auf dem er hinauspaddelte, das Wasser so warm wie in einer Badewanne. Das Wasser, das er gerade betrachtete, war eiskalt. Er dachte an seine schrumpfenden Hoden beim Schwimmen, als Junge, als die Familie eine Hütte oberhalb von Open Beach hatte und die Hütte der Doogues hinter der nächsten Düne lag, klobige Konstruktionen aus Wellblech, Fiberglas und Treibholz. Damals gab es im O r t zwei Milchbars, zwei Metz gereien, den Fish-und-Chips-Imbiss, den Eisenwarenladen, einen Gemischtwarenladen, eine Apotheke, einen Arzt. Reiche Leute, hauptsächlich Schafzüchter, besaßen Ferienhäuser auf der Landzunge zwischen Meer und Fluss. Gewöhnliche Men schen aus dem Binnenland hatten Hütten oberhalb von Open Beach, in South Port oder in den Straßen hinter dem Wohn wagenpark.
Cashin wusste noch, wie sie einmal über die Holzbrücke ge fahren waren und sein Vater den Falcon anhielt, um die unten an beiden Flussufern ankernden Yachten zu betrachten. »Die Gegend w i r d zu 'ner verdammten Riviera«, sagte sein Vater. »Was ist eine Riviera?«, fragte Joe. »Caen liegt an der Riviera«, sagte Michael. Mick Cashin sah Michael an. »Woher weißt du das?« »Hab's gelesen«, sagte Michael. »Da gibt's die Filmfest spiele.« »Meinst du Cannes?«, fragte Mick Cashin. »Bist du dir si cher? Kann das nicht auch Nizza gewesen sein?« »Lass die Witzeleien, Mick«, sagte Cashins Mutter und tät schelte die Wange seines Vaters. »Der Junge hat doch Recht. Woher soll er wissen, wie man das ausspricht.« Jedes Jahr waren mehr Stadtkinder am Strand gewesen. Stadtkinder erkannte man an ihren Frisuren, an den Klamotten und daran, dass die Älteren, Jungs wie Mädchen, Halsketten trugen und rauchten, egal, ob jemand sie dabei sah. Cashin dachte an den Samstagmorgen im Winter, als sie zu ihrer Hütte fuhren und Maccas Schuppen nebenan weg war, verschwunden, nichts mehr zu sehen bis auf den zerwühlten Sand, der erkennen ließ, wo der flache, ausgebleichte Unter schlupf gestanden hatte, sanft nach hinten geneigt. Er war herumgestapft und hatte über das Fehlen der Hütte gestaunt. Im Boden steckten Markierungspflöcke, und als sie das nächste Mal kamen, stand ein halb fertig gebautes Haus auf einem Betonfundament. Dieser Sommer war der letzte in ihrer Hütte, der letzte Som mer vor dem Tod seines Vaters. Jahre später fragte er seine Mutter, was aus der Hütte geworden sei. »Ich musste verkaufen«, sagte sie. »Es war kein Geld da.« Inzwischen müsste man mehr als nur reich sein, um eine Bleibe im Teebaum-Busch auf der Landzunge zu haben, und
oberhalb von Open Beach lugten keine Hütten in den H i m mel; auf den einst wertlosen Dünen stand eine Reihe massiver Häuser und Wohnanlagen mit Sonnendecks und Flachglasfen stern. Nichts unter sechshundert Riesen. Ein Fischerboot näherte sich, strebte der Einfahrt zu. Cashin kannte das Boot. Es gehörte einem Freund von Bern, der einen zwielichtigen Bruder hatte, einen Wilderer auf der Jagd nach Meerohrschnecken. N u r sechs Boote aus Port Monro fuhren noch zum Fischen hinaus, brachten Krebse und ein paar Kisten Fisch an Land, doch außer der Kaseinfabrik war es das einzige Gewerbe der Stadt. Ihr einziges Gewerbe, wenn man sechs Restaurants, fünf Cafes, drei Boutiquen, zwei Antiquitätenläden, eine Buchhandlung, vier Masseure, eine Aromatherapeutin, drei Friseure, Dutzende Frühstücks pensionen, den Irrgarten und das Puppenmuseum nicht mit zählte. Er trank seinen Kaffee aus und machte sich auf den langen Weg zur Arbeit, durch Muttonbird Rocks und menschenleere Straßen, gesäumt von zumeist unbewohnten Ferienhäusern. Er fuhr an zwei Seiten des Geschäftskarees entlang, vorbei an den beiden Supermärkten, den drei Immobilienmaklern, drei Ärzten, zwei Anwaltskanzleien, dem Zeitungskiosk, dem Sportgeschäft und dem Hotel Shannon an der Ecke Liffey und Lucas Street. Ende der 1990er Jahre hatten ein Drogendealer und ein Grundstücksmakler die verrammelte, von Möwenmist ver dreckte Shannon Street gekauft. Die Leute erzählten immer noch von einer Kneipenschlägerei im Jahr 1969, als man zwei Krankenwagen aus Cromarty rufen musste, um alle Verletzten ins Krankenhaus zu befördern. Der neue Besitzer investierte über zwei Millionen Dollar in die Shannon. Händler stellten Lehrlinge ein, kauften neue Transporter, schenkten ihren Frauen neue Küchen - die Geräte aus Deutschland, die Arbeitsplatten aus Granit.
Zwei Männer mit Wollmützen verließen soeben das Orion, Port Monros letzten existierenden Puff, der immer noch auf seinen Investor wartete. In Cashins erster Woche als Revierlei ter hatten sich dort drei englische Rucksacktouristen, die um die Mittagszeit etwas tranken, mit ein paar einheimischen Rü peln angelegt. Der eine bekam einen K.-o.-Schlag verpasst, ging zu Boden und blieb am Boden, kassierte noch ein paar Fußtritte. Die anderen beiden, hagere Burschen aus Leeds, er fahrene Headbutter und Treter, verschanzten sich in einer Ecke und setzten mehrere Einheimische außer Gefecht, bevor Cashin und sein Partner eintrafen. Der größere der beiden Männer mit Wollmützen musterte Cashin durchdringend. Ronnie Bartlett war schon mehrmals verurteilt worden - Körperverletzung, Alkohol am Steuer, Fahren ohne Führerschein. Zur Zeit bezog er Stütze, arbeitete ein bisschen schwarz für irgendeinen Autoverschrotter in Cromarty. Seine Ex hatte per gerichtlicher Anordnung er wirkt, dass er sich ihr nicht nähern durfte, nachdem er seine Verschrottungsaktivitäten auf das einstige eheliche Heim aus gedehnt hatte. Cashin parkte vor der Polizeistation, blieb eine Weile im Wagen sitzen und beobachtete, wie der Wind die Biegsamkeit der Pinien testete. Es wurde Winter. Er dachte an den Sommer, der O r t voll von völlig verzogenen Stadtkindern, blonden Müttern und feisten Vätern in Segelschuhen. Cruiser und Benz und BMW belegten sämtliche Parkplätze an der Hauptstraße. Die Männer saßen in den Cafés und davor, standen in den Läden, blafften in ihre Handys und zogen Grimassen. Doch das Jahr war ins Land gegangen, der Mai war gekom men, der Eiswasserregen, die Winde, die auf der Haut scheu erten, und nur der harte Kern war noch da - die Arbeitslosen, die Unterbeschäftigten, die nicht Vermittelbaren, die Betrun kenen und Drogensüchtigen, die Rentner, die Menschen, die alle möglichen Beihilfen bezogen, die Schwachen, die Lahmen.
Jetzt sah er die Stadt, wie man einen O r t nach einem Brand sah, wenn alles Weiche verschwunden war: das nackte Gestein, die dunklen Furchen, den feuerfesten Müll aus braunen Bierfla schen und Autowracks. Ronnie Bartlett, das war Port im Winter. Man sollte ihn zu Werbezwecken auf ein Plakat setzen: LERNEN SIE DAS WAHRE PORT M O N R O KENNEN. Cashin ging rein, sprach mit Kendall. Ihre Arbeitszeiten überschnitten sich, ein paar Stunden lang hatten sie gemeinsam Dienst. Er schrieb den Bericht über seinen Besuch in The Heights, schickte ihn Villani, gab zwei Ausdrucke zu den A k ten. Dann rief er das Morddezernat an und sprach mit Tracy Wallace, der Chefanalytikerin. »Hast wieder die Rüstung angelegt, stimmt's?«, sagte sie. »Wie ich höre, frieren einem da unten die Titten ab.« Cashin sah die Flagge, steif wie ein Brett im arktischen Wind. »Blödsinn. So was behaupten nur Leute mit überemp findlichen Körperteilen. Was gibt's Neues über Bourgoyne?« »Unverändert. Komm bitte nach Hause, wenn du dich er holt hast. Hier unten wimmelt es nur so von jungen Hohlköp pen.« »Wart's ab. Die werden schon noch zu älteren Hohlköp pen.«
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ie Schicht verging. Cashin fuhr über die Landstraßen nach Hause. Frisch gemolkene Kühe, vorübergehend von ihren baumelnden Las ten befreit, drehten sich um und musterten ihn, segneten ihn mit dunklen, glänzenden Augen. Von Dave Rebb weit und breit nichts zu sehen. Er ging mit den Hunden, machte sich etwas zu essen, sah fern, und ständig wurden die Schmerzen schlimmer. Sie räch ten sich für die Stunden, in denen er sich aufrecht hielt. Nach dem er das Krankenhaus verlassen hatte, kam er lange Zeit nicht ohne das Schmerzmittel Pethidine über die Runden. Von Peth, dem herrlichen Peth, loszukommen, war das schwierigste Unterfangen seines Lebens. Heute griff er zu den Drogen As pirin und Alkohol, und die waren nur ein schwacher Ersatz. Cashin stand auf, goss sich einen großen Whisky ein, spülte drei Aspirin runter. Die Callas, Bergonzi und Gobbi halfen immer. Er ging zu seinem kostspieligsten Besitzstück, einer zweitausend Dollar teuren Stereoanlage, und legte eine CD auf. Puccini, Tosca. Die Musik füllte den riesigen Raum. Opern und Lesen verdankte er Raimond Sarris, diesem mordlustigen kleinen Drecksack. Opern waren einfach nur Müll gewesen, den kunstbeflissene Leute zu mögen vorgaben. Dicke Männer und Frauen, die in fremden Sprachen sangen. Bücher waren ganz in Ordnung, aber ein Buch zu lesen, dau erte zu lange, es gab zu viel anderes zu tun. In der Zeit vor Vickie war in Cashins Tagen wenig Platz, und dann, danach,
brach er früh zu Hause auf, kam im Dunkeln wieder zurück, aß an seinem Schreibtisch, saß in Autos, auf der Straße. Seine Freizeit verschlief er oder jemand, ein Cop, hupte draußen, und sie gingen zum Pferderennen, zum Football, zum Angeln, standen im Garten irgendeines anderen Polizisten und aßen angekokeltes Fleisch, tranken Bier, redeten über die Arbeit. Dann kam Rai Sarris. Nach Rai gab es tags und nachts viele Stunden, in denen er nichts anderes tun konnte als lesen oder fernsehen. In den Nächten, als sie versuchten, ihm die Schmerzmittel abzuge wöhnen, ließen ihm die Schmerzen in seinem Rücken, dem Becken, den Schenkeln immer einen Augenblick, in dem er einschlafen konnte. Dann konnte er sich selbst eine Zeit lang entkommen, an einen tiefen, traumlosen O r t . Der Schmerz weckte ihn langsam wieder auf, ein Schmerz wie ein Geräusch, weit weg, aber eindringlich, wie bei einem weinenden Baby, Teil eines Traums, in dem man etwas Unwillkommenes hört. Er bewegte sich, war noch nicht ganz wach, veränderte seine Lage auf der Suche nach einer Haltung, die den Schmerz ein dämmte. Dann gab er es auf, lag auf dem Rücken - verschwitzt, der Schmerz jetzt scharf und spürbar vom Hals bis zu den Knien -, machte schließlich das Licht an, setzte sich und ver suchte zu lesen. Das passierte in einer Nacht so oft, dass alles ineinander verschwamm. Eines Tages brachte ihm eine Krankenschwester namens Vincentia Lewis einen CD-Player, zwei Minilautsprecher und eine Kiste mit zwanzig oder dreißig CDs. »Von meinem Vater«, sagte sie, »er braucht sie nicht mehr.« Sie standen lange unbeachtet auf dem Nachttisch, bis Cashin eines Morgens, als der Schmerz brodelte und er auf die Dämmerung wartete, Licht machte, eine CD nahm, irgendeine, ohne hinzusehen, die CD einlegte, den Kopfhörer aufsetzte, das Licht ausschaltete. Es war Jussi Björling. Das wusste Cashin nicht. Er ertrug es eine Weile, gab der
Musik eine Minute, dann noch eine. Irgendwann sickerte der Tag unter der cremefarbenen Jalousie hindurch; die Schwester von der Morgenschicht zog sie hoch. »Heute sehen Sie ein bisschen friedlicher aus«, sagte sie. »War die Nacht besser?« Wie sich Rai Sarris jetzt wohl nannte? Monatelang hatten sie alle abgehört, die Rai kannte. Er rief nie jemanden an. Cashin stand unter Mühen auf und goss sich den zweiten Whisky ein. Noch ein paar mehr, und er würde schlafen.
S
ie gingen um die Westseite des Hauses herum, durch das
hohe Gras, vor ihnen die Hunde, die hochsprangen, steif
beinig in der dunstigen Luft hingen und hofften, ein Kanin
chen zu entdecken.
»Wo sind Sie aufgewachsen?«, fragte Cashin.
»Uberall«, sagte Rebb.
»Und wo zuerst?«
»Weiß nicht mehr. War noch ein Baby.«
»Klar, verstehe. Mal auf der Schule gewesen?«
»Wieso?«
»Die meisten Menschen wissen, wo sie zur Schule gegangen
sind.«
»Was soll das? Ich kann lesen und schreiben.«
Cashin sah Rebb an, der weiter, geradeaus sah. »Sie quat
schen für Ihr Leben gern, stimmt's? 'ne echte Plaudertasche.«
»Ich schwatze echt gern. Wieso gehen Sie, als ob Sie Angst
hätten durchzubrechen?«
Cashin schwieg.
»Sie vertrauen sich jedem an, der zufällig vorbeikommt,
stimmt's? Warum ist das Haus in diesem Zustand?«
Die Hunde waren im Gebüsch verschwunden. Cashin ging
voran auf dem schmalen Pfad, den er mit einer Heckenschere
geschnitten hatte. Sie kamen zu der Ruine. »Der Bruder mei
nes Urgroßvaters hat es gebaut, dann hat er diesen Teil mit
Dynamit in die Luft gejagt. Eigentlich wollte er das ganze Ding
sprengen, aber das Dach kam auf ihn runter.«
Rebb nickte, als sei die Sprengung eines Hauses nichts Be sonderes. Er sah sich um. »Und was haben Sie damit vor?« »Zuerst w i l l ich den Garten auf Vordermann bringen. Dann wollte ich eventuell das Haus wieder aufbauen.« Rebb hob ein Stück rostiges Eisen auf. »Das hier wieder aufbauen? Das wäre, als wollte man die Kathedrale von Char tres bauen. Die Arbeit müssten Ihre Kinder zu Ende brin gen.« »Sie kennen sich mit Kathedralen aus?« »Nein.« Rebb sah durch eine Öffnung, wo früher einmal ein Fenster gewesen war. »Ich dachte, wir könnten das nach und nach angehen«, sagte Cashin eher lustlos. Allmählich betrachtete er das Projekt durch Rebbs Augen. »Ein neues Haus zu bauen wäre leichter.« »Das w i l l ich aber nicht.« »Wäre aber vernünftig.« »Tja, vielleicht galten Kathedralen damals auch nicht als ver nünftig.« Rebb ging an der Mauer entlang, stieß mit dem Stiefel gegen irgendwas, bückte sich, um es genauer anzusehen. »Das war 'ne religiöse Sache«, sagte er dann. »Die armen Trottel hatten damals keine Wahl.« Cashin folgte ihm, sie bahnten sich ihren Weg um das Haus herum, Rebb schlurfte, stieß Dinge mit dem Fuß beiseite. Er legte eine Mosaikarbeit frei, kleine achteckige Fliesen, rot und weiß. »Hübsch«, sagte er. »Haben Sie Fotos von dem Haus?« »Angeblich gibt es ein paar in einem Buch in der Stadtbü cherei von Cromarty.« »Ach ja?« »Ich besorge Kopien.« »Ich brauche ein Maßband, eins von den richtig langen Bies tern.« Rebb tat, als rolle er etwas auf. »Ich besorge eins.«
»Und Millimeterpapier. Mal sehn, ob wir 'ne Zeichnung hinkriegen.« Sie gingen die ganze Strecke zurück, die Wolken verzogen sich, am Himmel waren blassblaue Inseln zu sehen, die Hunde tobten wie Minensucher vorneweg. »Hat hier vor Ihnen mal jemand gewohnt?«, fragte Rebb. »Eigentlich nicht. Ein Typ hat's gepachtet, Schafe gezüchtet. Er hat hier ab und zu gewohnt.« »Es dauert 'ne Weile, den Garten auf Vordermann zu brin gen«, sagte Rebb. »Ehe Sie mit der Hauptarbeit anfangen.« Er kramte in der Hosentasche, drehte sich im Gehen eine Kippe und wandte beim Anzünden den Rücken zum Wind, ging rückwärts. »Wie lange haben Sie dafür veranschlagt?« »Wussten sie damals, wie lange sie für eine Kathedrale brau chen würden?« »Katholisch?« »Nein«, sagte Cashin. »Und Sie?« »Nein.« Die Hunde kamen angerannt, liefen zu Cashin, als wollten sie sich mit ihrem Anführer treffen, von dem sie Befehle, A n regungen, Ideen erwarteten. »Hab mal 'n Priester kennengelernt, der wegen Mädchen im Knast saß«, sagte Rebb. »Er hielt Religion für 'ne Geistes krankheit, wie Schizophrenie.« »Wo denn kennengelernt?« Rebb gab ein Geräusch von sich, eine A r t Lachen. »Auf Rei sen lernt man so viele Priester kennen, die wegen Schweinkram mit Kindern gesessen haben, da vergisst man den Ort.« Sie waren am Vordereingang. »Nehmen Sie sich Proviant mit«, sagte Cashin. »Ich hol mir in der Stadt was.« Rebb wandte sich ab und sagte über die Schulter: »Wollen Sie die Hunde hier lassen? Ich nehm sie mit zu Millane, sie blei ben im Hof. Er mag sie. Hat er mir gesagt.«
»Dann haben Sie zwei Freunde fürs Leben gewonnen. Bei Den gefällt's ihnen garantiert besser als im Revier.« Cashin fuhr auf Straßen nach Port Monro, die von überfah renen Tieren gespickt waren - Vögel, Füchse, Kaninchen, Kat zen, Ratten, ein junges Känguru mit ausgestreckten Vorder beinen -, vorbei an löchrigen Abzweigungen, wo ein oder zwei windschiefe Häuser standen und Schilder auf andere elende Kreuzungen verwiesen. In Port machte ihm Leon ein Sandwich mit Schinkenspeck, Salat und Avocado zum Mitnehmen. »Wir riskieren wohl, den Zorn von Ms. Fettarsch auf uns zu ziehen, oder?«, sagte Leon. »Ich spiele mit dem Gedanken, ein Schild malen zu lassen, o f fizieller Viktualienlieferant der Gendarmerie von Port Monro<.« »Was sind Viktus?« »Viktualien. Lebensmittel. Generell.« »Wie buchstabiert man das?« »V-I-K-T-U-A-L-I-E-N.« »Kaum zu glauben.« Cashin frühstückte in Open Beach, parkte neben einer Le bensrettungsstation und sah zu, wie zwei Windsurfer die Wo gen hinaufglitten, auf dem Kamm hüpften, abhoben, seltsame Vogelmenschen, die vor dem fahlen Himmel hingen. Er nahm den Deckel von seinem Kaffeebecher. Kein Grund zur Hektik. So lange im Fall Bourgoyne ermittelt wurde, war Kendali am tierende Dienststellenleiterin. Was Carl Wexler ganz und gar nicht passte, doch zum Ausgleich konnte er den Ersatzmann aus Cromarty herumkommandieren, einen jungen Burschen, der sogar noch ungehobelter war als er. Bourgoyne. Bourgoynes Bruder hatten die Japse hingerichtet. Wie konnte man sich für die japanische Kultur interessieren, wenn der eigene Bruder von den Japsen hingerichtet worden war? Hieß »hingerichtet«, dass der Kopf abgeschlagen wurde? Hatte ein japanischer Soldat ihn mit einem Schwert geköpft,
mit einem blitzenden Schlag Hals und Rückgrat voneinander getrennt? So 'ne Scheißgeschichte wie in Kaltblütig. Woher kannte Villani Truman Capote? Den Film hatte er bestimmt nicht ge sehen. Villani ging nicht ins Kino. Villani las auch keine Bü cher, dachte Cashin. Er ist wie ich vor Rai Sarris. Ihm fehlt die Ruhe, um Bücher zu lesen. Vor Rai Sarris. Vor Rai hätte er auch nicht gewusst, was Kaltblütig bedeu tete. Vincentia hatte ihm das Buch gegeben. Sie machte neben beruflich einen Abschluss in Literatur. Er las es in einem Tag und einer Nacht durch. Dann gab sie ihm Norman Mailers Gnadenlos: Das Lied vom Henker. Dafür brauchte er ungefähr genauso lange. Als er sie bat, ihm noch ein Buch von Mailer zu besorgen, brachte sie ihm statt dessen The Dead, the Dying, and the Damned von D J . Hollands, gebraucht gekauft. »Alle übers Sterben?«, sagte er. »Ich kann doch auch mal was anderes lesen.« »Versuchs«, sagte sie, »hier geht's um eine andere Sorte sinnlosen Tötens.« Shane Diab hätte nicht da sein dürfen. Nichts konnte das än dern. Er war nur ein eifriger Junge, voller Scheu, so begeistert darüber, im Morddezernat zu arbeiten, dass er alles gemacht hätte, überall hingefahren wäre, dreiundzwanzig Stunden am Tag gearbeitet hätte und dann früh aufgestanden wäre. Es hatte keinen Zweck, an Shane zu denken. Es war sinnlos, Polizisten wurden auf alle möglichen Arten getötet, genauso gut hätte ihn irgendein hirntotes Arschloch, abgefüllt mit Jack Daniels und Speed, erschießen können. Das gehörte halt zum Job. Cashins Handy klingelte. »Joseph?« Seine Mutter. »Ja.« »Michael hat angerufen. Ich mache mir Sorgen.«
»Warum?« »Es liegt daran, wie er klingt.« »Wie denn?« »Seltsam. Anders.« »Von wo hat er angerufen?« »Aus Melbourne.« »Den anderthalb Badezimmern?« »Keine Ahnung, warum willst du das wissen?« Irritiert. »Wie klingt er denn?« »Er klingt bedrückt. Sonst klingt er nie bedrückt.« »Jeder hat mal so eine Phase. Das Leben ist eine Wippe. Hoch, runter, dazwischen mal kurz ausgeglichen, wenn man Glück hat.« »Blödsinn, Joseph. Ich kenne ihn. Rufst du ihn an, plauderst ein wenig?« »Was soll ich sagen? Deine Mutter hat mich gebeten, dich anzurufen? Wir plaudern nicht. Wir haben noch nie geplau dert.« Schweigen. Ein Windsurfer war in der Luft, hing unter sei nem Brett, verlor den Halt. Mann und Brett verschwanden unter der Welle, als fielen sie in einen Schlitz. »Joe.« »Ja.« »Das heißt M u m , nicht >deine Mutter<. Ich habe euch beide zur Welt gebracht. Tust du es mir zuliebe? Rufst du ihn an?« »Gib mir die Nummer.« »Bleib dran, ich such sie. Hast du was zu schreiben?« Er schrieb die Nummer in sein Notizbuch, verabschiedete sich. Der Windsurfer war wieder aufgetaucht. Ich rufe Michael später an, sagte er sich im Stillen. Nach ein paar Drinks, mir fällt schon ein Grund ein. Dann plaudern wir, scheißegal, wo rüber. Auf der Hauptstraße kaufte Cashin ein, Milch, Zwiebeln und Möhren, einen halben Kürbis sowie vier Orangen und ein
paar Bananen. Er verstaute die Tüten im Wagen und ging dann zum Zeitungsladen. Der leer war bis auf Cecily Addison, die in einer Zeitschrift blätterte. Als sie ihn sah, legte sie das Ma gazin zurück. »Und, was ist los?«, sagte sie. »Warum braucht ihr so lange?« »Die Ermittlungen machen Fortschritte.« Cashin nahm sich einen Cromarty Herald. Auf der Titelseite stand die Schlag zeile: FERIENANLAGE KÖNNTE 200 NEUE ARBEITSPLÄTZE BRINGEN »Sie nennen den Mann Bauunternehmer«, sagte Cecily. »Genauso gut könnten sie Hyänen Bauunternehmer nennen. Hitler, auch so ein Bauunternehmer. Wollte Europa, England, die ganze verdammte Welt erschließen.« Cashin wusste aus Erfahrung, wenn Cecily einmal in Fahrt geriet, musste man nichts mehr sagen. Nicht mal auf Fragen antworten. »Ich gehe schon seit Ewigkeiten zur Mündung«, fuhr Cecily fort. »Mein guter alter Dad hat uns aus Rohr kleine Ruten ge macht, als wir gerade mal zwei Backsteine und ein Brötchen hoch waren. Da ist ein kleines Fleckchen Sand, ideal, um eine Angelschnur auszuwerfen. Klar musste man ein Stück laufen. Wir haben den Dodge am Companions Camp abgestellt und sind dann fast zwanzig Minuten über die Dünen. Kam uns wie ein ganzer Tagesmarsch vor. Das war's aber wert, das können Sie mir glauben.« Sie hielt inne, um Atem zu holen. »Womit schmiert Ihrer Meinung nach dieser Schakal Fyfe die Roten?« »Ich verstehe nicht ganz, Mrs. Addison.« Cecily wies auf die Zeitung. »Lesen Sie's, es ist zum Heulen. Die Sozialisten erwägen, Adrian Fyfe eine Baugenehmigung für das Mündungsgebiet des Stone's Creek zu erteilen. Hotel, Golfplatz, Wohnhäuser,
Bordell, alles dabei. Als war das noch nicht genug, erfahre ich heute Morgen, dass meine Kanzlei, meine Kanzlei für diese Kreatur arbeitet. Kein Wunder, dass die Leute glauben, wir wä ren der letzte Abschaum.« »Wozu braucht er Anwälte?« »Alle brauchen Anwälte. Er muss von Charles Bourgoyne das Companions Camp kaufen. Tja, inzwischen vielleicht von Charles Bourgoynes Nachlassverwalter. Allerdings verschweigt dieses Käseblatt, dass es nur Zweck hat, die Mündung des Stone's Creek zu kaufen, wenn man auch hinkommt. U n d hin kommt man nur durch das Naturschutzgebiet oder durch das Camp.« »Das Camp gehört Bourgoyne?« »Sein Dad hat es den Companions für vierzig Jahre ver pachtet. Für 'n Appel und 'n Ei. Das ist Geschichte, seit dem Brand lief da gar nichts mehr. Die Companions sind auch Ge schichte.« Cashins Handy klingelte. Er ging ins Freie. Villani. »Joe, Bourgoyne. Zwei junge Burschen haben gestern in Sydney versucht, eine Breitling-Uhr zu verkaufen.«
C
ashin setzte sich an einen Tisch am Straßenrand. »Wann hast du das erfahren?«, fragte er. »Vor fünf Minuten«, sagte Villani. »In 'ner A r t Pfandleihe. Der Geschäftsführer hat das Richtige getan, hat seinen Mitar beiter hinter ihnen hergeschickt und von dem das Kennzeichen gekriegt, hat es gemeldet. U n d das lag bis jetzt bei irgendeinem Penner auf dem Schreibtisch.« »Und?« »Toyota-Pick-up, großes Fahrerhaus. Martin Frazer Getti gan, H o l t Street 14, Cromarty.« »O Gott«, sagte Cashin, »nicht noch ein Gettigan.« »Ich höre?« »Eine Sippe. Haufenweise Gettigans.« »Womit haben wir's hier zu tun? Aborigines?« »Einige ja, andere nicht.« »Wie Italiener. Findest du was über den Pick-up raus, ohne schlafende Hunde zu wecken? Den Hohlköppen von Cro marty kann man nicht trauen. Hohlköppe und Gauner.« Cashin dachte an das Baugrundstück, an den ruckelnden Transporter. »Ich werd's versuchen.« »Aber unauffällig, klar?« »Nicht capisce? Ist wohl unmodern geworden?« Villani sagte: »Lass dir damit nicht zu lange Zeit. Das heißt Minuten.« »So lange, wie nötig«, sagte Cashin. Er rief im Revier an, Kendall nahm ab. »Hör zu, es gibt einen
Bericht über Allan James Morris, von mir, Beschwerde der Grundschule. Da steht seine Handynummer drin.« Es dauerte über eine Minute, bis Morris ranging. Musste wahrscheinlich auf irgendeiner Baustelle die Hose hochziehen, dachte Cashin. »Ja.« »Allan?« »Ja.« »Detective Sergeant Cashin aus Port Monro. Sie erinnern sich?« »Jaaah?« »Sie können mir helfen. Okay?« »Wobei?« »Martin Frazer Gettigan, H o l t Street 14. Kennen Sie ihn?« »Warum?« »Ich hab's eilig, Junge. Kennen Sie ihn?« »Ja, ich kenn ihn.« »Ist er gerade im Ort?« »Weiß nich. Ich seh ihn kaum.« Cashin sagte: »Allan, ich möchte Sie um einen Gefallen bit ten.« »Scheiße, Mann, ich arbeite doch nicht für die Bullen ...« »Allan, dazu nur eins: Jemand hat eine Enkelin.« Cashin hörte die typischen Geräusche einer Baustelle - eine knatternde Nagelpistole, Hammerschläge, einen gerufenen Wortwechsel. »Was?«, sagte Morris. »Ich w i l l wissen, wer Martins Toyota-Pick-up fährt.« »Wie verdammt noch mal soll ich rauskriegen ...« »Tun Sie's. Sie haben fünf Minuten.« Cashin fuhr zu Callahans Tankstelle an der Kreuzung nach Kenmare und tankte voll. Derry Callahan kam aus dem Tank stellenhäuschen, Mütze runtergezogen bis auf die Augenbrauen, unrasiert. Cashin kannte ihn noch aus der Grundschule.
»Habt ihr Typen nix anderes zu tun als durch die Gegend zu fahren?«, sagte er. Er wischte sich mit einem Finger über die Oberlippe, machte die Ölspur dort noch dunkler. »Was pas siert in der Bourgoyne-Sache?« »Die Ermittlungen kommen voran.« »Voran? Überprüft ihr denn die Bimbos? Über die ganze verfluchte Daunt-Siedlung 'ne Ausgangssperre verhängen, das is meine Meinung. M i t Stacheldraht einzäunen, das war 'n A n fang. Kontrollieren, wann sie kommen und gehen.« »Ein echter Querdenker«, sagte Cashin. »Warum schreibst du nicht einen Brief an den Premierminister? Tja, könnte an der Rechtschreibung scheitern. Ruf ihn doch einfach an.« Derrys Augenbrauen verschwanden unter der Mütze. »Das geht heutzutage?«, sagte er. »Telefonische Bürgerbeteiligung?« Das Handy klingelte, während Cashin bei Derrys Schwes ter bezahlte, der fetten Robyn, Schlitzaugen, Mund dauerhaft zu einem hämischen Grinsen verzogen. Er ließ es klingeln, nahm sein Wechselgeld und ging raus in die Kälte, blieb am Wagen stehen, im Wind, schaute über die Straße hinweg auf die flache Landschaft, die geduckten Gräser, drückte auf die Taste am Telefon. »Er ist hier«, sagte Allan Morris. »Arbeitet drüben bei sei nem Alten.« »Der Pick-up?« »Musste mir 'ne saublöde Geschichte ausdenken.« »Und?« »Er sagt, er hat ihn Barry Coulter geborgt, und Barrys Junge hat sich damit verpisst. Darüber ist er nicht gerade glücklich, das könn' Sie mir glauben.« Ein stechender Schmerz schoss aus seinem linken Ober schenkel in die Hüfte. Er kannte das Gefühl gut, ein alter Freund. Cashin verlagerte sein Gewicht. »Wie heißt der Knabe?« »Donny.«
»Also Donny Coulter?« »Wie sonst?« »Wohin hat er sich verpisst?« »Nach Sydney. Er hat angerufen. War noch 'n anderer Junge dabei, Luke Ericsen. Der saß am Steuer. Sie sind Cousins, mehr oder weniger. Donny ist nicht der Hellste.« »Hatten sie schon mal Ärger, diese Kids?« »Schwarze Jugendliche? In dieser Stadt? Rufen Sie vom Mars an?« »Ja oder nein?« »Weiß nich.« »Dieses Gespräch hat nie stattgefunden«, sagte Cashin. »Mist. Dabei bin ich wild entschlossen, überall rumzulaufen und allen davon zu erzählen.« Cashin rief das Revier in Cromarty an, ließ sich Hopgood geben, nannte die Namen. »Danny Coulter, Luke Ericsen«, wiederholte Hopgood. »Ich rede mit dem für Bimbo-Angelegenheiten zuständigen Beamten. Rufe Sie zurück.« Cashin fuhr von den Zapfsäulen weg, parkte am Straßen rand, wartete im Wagen und überlegte, ob er eine rauchen sollte, ob er noch mal versuchen sollte, Vickie zu bewegen, ihn den Jungen sehen zu lassen. Hatte sie Zweifel, ob er wirklich der Vater war? Sie weigerte sich, über das Thema zu sprechen. Er hat einen Vater, mehr sagte sie dazu nicht. Als sie ihren letz ten, unerwarteten One-Night-Stand hatten, traf sie sich bereits mit Don, den sie später heiratete. Sie traf ihn, vögelte ihn, in der Wäsche waren Männerklamotten, draußen vor der Hintertür standen schlammige Stiefel. Im Lehm hatte jemand ein Gemü sebeet ausgehoben, Samentütchen auf Stöcke gespießt - und zwar verdammt noch mal nicht Vickie. Man musste blind sein, um nicht zu wissen, wer der Vater war. Dem Jungen stand Cashin auf die Stirn geschrieben. Sein Handy.
»Schwarzer Abschaum aus der Daunt«, sagte Hopgood. »Sie haben ein paar Kleinigkeiten auf dem Kerbholz. Stehen im Verdacht, gemeinsam Brüche begangen zu haben. Sie waren's also. Luke ist älter, hält sich für einen Kämpfer. Donny ist ein Kretin, der trottet mit. Luke ist Bobby Walshes Neffe.« »Wie alt?« »Donny siebzehn, Luke neunzehn. Es heißt, sie seien viel leicht Brüder. Lukes Alter hat alles gefickt, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Wie das bei Bimbos halt üblich ist. Wes halb interessiert Sie das?« »Offenbar hat einer von ihnen versucht, in Sydney eine Uhr zu verkaufen, die wie die von Bourgoyne aussieht.« Stille, ein Pfiff. »Scheiße, hätt ich mir denken können.« »New South hat einen auf Martin Gettigan, H o l t Street 14, zugelassenen Toyota-Pick-up zur Fahndung ausgeschrieben. Den fahren die Jungs.« »Na so was. Vielleicht fahr ich mal rüber und besuche Mar tin«, sagte Hopgood. »Das wäre absolut scheißdämlich.« »Sie wollen mir erzählen, was dämlich ist?« »Ich teile Ihnen nur meine Meinung mit.« »Von einem verdammt hohen Ross. Wie Sie wollen.« »Ich unterrichte Sie«, sagte Cashin. »Hey, danke schön«, sagte Hopgood. »Scheiße, bin ich dank bar, wenn man mich auf dem Laufenden hält.« Cashin rief Villani an. »Herrje«, sagte der. »Du hast da unten ja unglaubliche Be ziehungen, stimmt's? Ich hab Neuigkeiten. In Goulburn wurde das Fahrzeug mit drei Insassen gesichtet. Anscheinend kommen eure Jungs nach Hause.« »Drei?« »Haben vielleicht einen Tramper mitgenommen, wer weiß.« »Du solltest wissen, dass Luke Ericsen Bobby Walshes Neffe ist.«
»Ja? Na und?« »Ich sag's dir nur. Lässt du sie festnehmen?« »Ich w i l l keine wüste Verfolgungsjagd«, sagte Villani. »Sonst brettern sie noch mit hundertachtzig den Hume High way hoch und löschen eine Familie in 'nem CommodoreCombi aus. N u r der Hund überlebt. Und nachher war's meine Schuld.« »Also?« »Wir behalten sie unterwegs im Auge, falls ich es schaffe, dass diese Landeier den Suchauftrag wirklich ernst nehmen und nicht die ganze Schicht damit verbringen, irgendwelche Röcke anzuhalten.« »Wenn sie hierher zurückkommen«, sagte Cashin, »ist Hopgood zuständig.« »Nein«, sagte Villani. »Du führst das Kommando. Du hast lange genug den Kranken gespielt. Ich will vermeiden, dass es zu einem Einsatz ä la Waco kommt, durchgeführt von Leuten, die zu viel ferngesehen haben. Verstanden?« »Capisce«, sagte Cashin. »Was immer das heißen mag.« »Frag mich nicht. Ich bin ein Junge aus Shepparton.«
U
m fünfzehn Uhr rief Hopgood an. Cashin war in Port Monro und beobachtete die Möwen, die sich im Hinterhof balgten, wo keine Hunde sie wegjagten. »Diese Daunt-Affen sind unterwegs«, sagte Hopgood. »Wenn sie nicht irgendwo anhalten und 'ne Runde kiffen, müssten sie gegen Mitternacht hier sein.« Er hielt inne. »An scheinend sind Sie der Boss.« »Theoretisch«, sagte Cashin. »Ich bin in etwa einer Stunde da.« Er fuhr nach Hause, fütterte die Hunde. Denen gefiel die Änderung in der Routine gar nicht, Fressen kam nach dem Spaziergang, in dieser Reihenfolge. Von Rebb war weit und breit nichts zu sehen. Cashin ließ wegen der Hunde eine Notiz zurück und fuhr nach Cromarty. Hopgood war in seinem Büro, ein aufgeräumtes Zimmer, Akten in Regalen, ordentliche Ablagen für Ein- und Ausgänge. Er hatte ein weißes, an den Manschetten zugeknöpftes Hemd an, kein Jackett. »Setzen«, sagte er. Cashin setzte sich. »Also, wie wollen Sie vorgehen?« Hopgood gab sich ge langweilt. »Ich werde mir Vorschläge anhören.« »Sie sind der Scheißboss, sagen Sie's mir.« Cashins Handy klingelte. Er ging in den Flur. »Bobby Walshes Neffe«, sagte Villani. »Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Wir gehen das streng nach Vorschrift an. Da
kommt ein Typ zu euch, ist schon unterwegs. Paul Dove, Detective Sergeant. Von der Bundespolizei versetzt, war mit leichten Sachen betraut, keiner wollte ihn haben, aber intelli gent ist er, darum hab ich ihn genommen. Er lernt, kann aller hand einstecken.« Allerhand einstecken. Das war einer von Singos Sprüchen. Sie waren beide Singos Zöglinge, benutzten ohne nachzuden ken seine Worte. »Er übernimmt die Leitung?«, fragte Cashin. »Nein, nein, du bist der Boss.« »Und?« »Und was?« »Raus damit«, sagte Cashin. »Er ist Aborigine. Der Commissioner w i l l ihn dabeihaben.« »Ich steh hier auf verlorenem Posten. Draußen ist schon Nacht.« »Mach mir bloß keinen auf naiv, Jungchen«, sagte Villani. »Du hast mir von Bobby Walshe erzählt. Außerdem hat Cro marty eine unterirdische Bilanz. Zwei Tote in Zellen, haufen weise andere verdächtige Sachen.« »Erzähl weiter.« »Also. Wenn diese Jungs nach Hause kommen, werden sie fix und alle sein. Lasst sie heimfahren. Am besten warten, bis sie schlafen. Zwei Stunden, nachdem sie in der Falle liegen, nehmt ihr sie fest. Schonend. Ich kann das gar nicht genug be tonen.« Das Gespräch war zu Ende. Cashin ging wieder in H o p goods Büro. »Villani«, sagte er. »Er will, dass die Jungs zu Hause festge nommen werden.« »Was?« »Zu Hause. Nachdem sie zu Bett gegangen sind.« »Herrgott noch mal«, sagte Hopgood und fuhr sich mit bei den Händen über die Haare. »Jetzt kann mich nichts mehr er
schüttern. Man geht nicht nachts in die Scheiß-Daunt-Sied lung und verhaftet irgendwelche Leute. Das ist Indianergebiet. Da besteht eine hervorragende Chance, dass w i r von der gan zen Scheißstraße, von der ganzen beschissenen Daunt ange griffen werden, Hunderten von durchgeknallten Bimbos.« Hopgood stand auf und ging zum Fenster, die Hände in den Hosentaschen. »Sagen Sie Ihrem Spaghettifresserfreund, ich will bestätigt haben, dass er für diese Vorgehensweise die ge samte Verantwortung übernimmt. Sie alle beide.« »Was raten Sie?«, fragte Cashin. »Die Schweine auf dem Weg in die Stadt schnappen, das ist risikolos, problemlos.« Cashin verließ den Raum und rief Villani an. »Der einhei mische Fachmann behauptet«, sagte er, »wegen so etwas in der Daunt aufzutauchen, würde eine A r t kleines Black Hawk D o w n heraufbeschwören. Hopgood hält es dagegen für ein fach, sie sich auf der Fahrt hierher zu greifen. Ich schlage vor, er soll das machen.« Villani seufzte, es klang traurig. »Bist du dir sicher?« »Wie kann ich mir sicher sein? Die Daunt ist nicht mehr so wie früher, als ich klein war.« »Joe, der Commissioner sitzt mir im Nacken.« Cashin dachte, er wäre jetzt am liebsten woanders. »Viel leicht übertreibst du da ein wenig«, sagte er. »Es sind bloß drei junge Burschen in einem Pick-up. Das kann doch nicht so schwierig sein.« »Dann bist du derjenige, der im Fernsehen erklärt, was Bobby Walshes Verwandtem zugestoßen ist?« »Nein«, sagte Cashin. »Ich bin derjenige, der sich in einem Schrank versteckt und die Erklärungen deinem Kollegen Dove überlässt.« »Leck mich«, sagte Villani. »Das ist natürlich nett gemeint. Dann macht es so.« Cashin gab das an Hopgood weiter.
»Immerhin lernfähig«, sagte Hopgood, das Gesicht halb ab gewandt. »Öfter mal was Neues.« »Sie schicken jemanden her. Der Commissioner will, dass ein Aborigine-Beamter anwesend ist.« »Scheiße, als hätten wir nicht schon genug Bimbos hier«, sagte Hopgood. »Jetzt müssen wir noch so 'm schwarzen Dreckskerl importieren.« »Kann ich mich irgendwo hinsetzen?«, fragte Cashin. Hopgood grinste, zeigte dabei die obere Zahnreihe, eine kleine Lücke in der Mitte. »Wir sind wohl müde? Sie hätten die Pension nehmen sollen, so 'n ausgebrannter Kerl wie Sie. Ir gendwo hinziehen, wo's warm ist.« Cashin zwang seine Gesichtsmuskeln zur Ruhe, schaute in Richtung Fenster, sah aber nichts, zählte leise bis zwanzig. Der Tag würde kommen, die Stunde würde kommen, die Minute. Der richtige Augenblick würde kommen.
E
s war das übliche Chaos - zusammengeschobene Schreib tische, überall Akten, ein Abtropfbrett voller dreckiger Be cher. In einer Ecke hatte jemand eine Golftasche stehen lassen, sieben Schläger, nicht alle von derselben Firma. Cashin aß gerade eine Pastete, Fleischpampe, als Hopgood mit Dove hereinkam. »Der Aufpasser ist eingetroffen«, sagte er und ging. Dove war Anfang dreißig, groß, schlank, auf dem hellbrau nen Kopf ein Igelschnitt wie im Morddezernat üblich, runde randlose Brille. Er legte seine Aktentasche auf einen Schreib tisch. Sie gaben einander die Hand. »Ich bin hier, weil sie wollen, dass ein Bimbo anwesend ist, wenn Sie Bobby Walshes Neffen festnehmen«, sagte Dove. Er hatte eine heisere Stimme, als hätte er einen Schlag gegen den Kehlkopf bekommen. »Klar und deutlich formuliert«, sagte Cashin. Dove musterte Cashin eine Weile, sah sich im Zimmer um. »Hab von Ihnen gehört«, sagte er. »Wo sitze ich?« »Egal. Schon gegessen?« »Unterwegs, ja.« Dove zog seinen schwarzen Mantel aus, unter dem er eine schwarze Lederjacke trug. »Muss noch ein paar Sachen erledigen«, sagte er und öffnete seine Aktentasche. Cashin hatte nichts dagegen. Er packte die Reste der Paste te ein, warf sie in den Papierkorb und widmete sich wieder Joseph Conrads Nostromo. Er versuchte, sämtliche Bücher von Conrad zu lesen, ohne zu wissen, warum. Vielleicht lag es
daran, dass Vincentia ihm erzählt hatte, Conrad sei ein Pole ge wesen, der erst lernen musste, auf Englisch zu schreiben. Cashin dachte, genau so ein Buch brauchte er - Autor und Le ser befanden sich auf fremdem Gebiet. Cashins Handy klingelte. »Michael hat wieder angerufen«, sagte seine Mutter. »Ist hier grad 'n bisschen hektisch, Syb. Ich mach's, sobald ich dazu komme. Ehrlich.« »Ich mache mir Sorgen, Joe. Und du weißt, dass ich mir nor malerweise nie Sorgen mache.« Am liebsten hätte Cashin gesagt, das wisse er nur allzu gut. »Du könntest jetzt sofort anrufen, Joe. Dauert keine M i nute. Ruf ihn bloß mal kurz an.« »Sobald wie möglich. Ich rufe ihn möglichst bald an. Ver sprochen.« »Guter Junge. Danke, Joseph.« Michael anrufen. Michael hatte ihn im Krankenhaus be sucht, einmal, war am Fenster stehen geblieben, und von dort hatte er auch geredet. Er setzte sich nicht, nahm drei Telefon anrufe entgegen und machte selbst einen. »Tja«, sagte er beim Gehen, »du hast dir wirklich einen gefährlichen Beruf ausge sucht.« Er hatte ein schmales Lächeln, ein typisches Cheflä cheln. Es hieß: Ich darf dir nicht zu nahe kommen. Eines Tages muss ich dich vielleicht entlassen. Hopgood steckte den Kopf ins Zimmer. »Cobham. Die BPTanke. Drei in dem Pick-up.« Die Jungs waren 140 Kilometer weit entfernt. Cashin ging spazieren, kaufte Zigaretten, noch eine Kapitu lation. Ein kalter Abend, der Westwind brachte Regen mit, im Licht der Straßenlaternen schäkerten die letzten Blätter mit Papierfetzen. Er zündete sich eine an, ging durch die Straße mit Häusern aus blaugrauem Stein, vorbei an dem nüchternen Ge richtsgebäude, dem O r t , wo junge Männer endlich den stren gen Vater fanden, den sie gesucht hatten. Um die Ecke, berg
auf, vorbei an dunklen Läden zur alten Commonwealth Bank an der nächsten Ecke, heute ein Blumengeschäft, ein Geschen keladen und ein Reisebüro. Hier in den höheren Lagen Cromartys bauten die Reichen, im neunzehnten Jahrhundert und danach - die Wolle- und Getreidehändler, diverse Kaufleute, die Besitzer der Mühle, der Brauereien, der Gießereien, der Jutebeutelfabrik, der Eis fabrik, der Abfüllanlage für Mineralwasserflaschen, die Land barone aus dem Binnenland und die Ärzte und Anwälte - stei nerne und backsteinerne Häuser. Als Cashin ein Junge war, war eine Fahrt in die Stadt eine große Sache. Sie alle vier an einem Sonntagmorgen in dem Kingswood, sein Vater mit ein paar Schnitten vom Rasieren im Gesicht, das schwarze Haar gekämmt und glänzend, seine Mutter in den schicken Klamotten, die sie nur in der Stadt trug. Cashin dachte daran, wie sie seinen Vater am Hinterkopf be rührte, an den zungenrosa Lack ihrer Fingernägel. Er bog um die Ecke, am Regent-Pub, hinter dessen gelben Fenstern ein Lärm herrschte, als bräche sich eine Welle am Ufer. Nach dem Einkaufen traf Mick Cashin im Regent ge wöhnlich vor der Heimfahrt seinen Bruder Len auf einen Drink. Er setzte Sybil und die beiden Jungs am Strand ab und fuhr in den Pub. Sie kauften in dem Lädchen Pommes und gingen hinaus auf den langen Pier, betrachteten die Boote und die Angler. Dann gingen sie durch die Stadt, genau die Straße hinauf, die er jetzt hinunterging. Cashin wusste noch, dass Michael sich immer von ihnen distanzierte, zurückblieb, Schau fenster betrachtete. Das Auto zu finden war leicht, es stand immer in der Nähe des Pubs. Sie stiegen ein und warteten auf Mick Cashin. Michael hatte seinen Schulranzen dabei und machte Hausaufgaben, wahrscheinlich Mathe. Seine Mutter las aus einem Rätselbuch vor. Joe mochte diese Rätsel, kannte sie irgendwann alle auswendig. Michael beteiligte sich nicht. Mick Cashin überquerte mit Onkel Len die Straße, lachend,
eine Hand auf Lens Schulter. Len war auch tot, Asthma anfall. Cashin spürte den Wind in seinem Gesicht, den Salzgeruch in der Nase. Er war wieder ein Junge, das Kind lebte in ihm fort. Er bog um die letzte Ecke, kehrte zurück in die schale Luft des Reviers, zwei ältere Personen standen am Tresen, der diensthabende Cop wirkte gequält, kratzte sich am Kopf. In einer der Zellen gab jemand ein trauriges Geräusch von sich, eine Mischung aus Singen und Stöhnen. Im Büro waren Hopgood und vier Cops in Zivil. Der eine, ein hagerer Mann mit Halbglatze, aß einen Hamburger und tunkte Pommes in einen Behälter mit Tomatensoße, was zum Mief beitrug. Dove stand am Thermoskanister und ließ ko chendes Wasser in einen Styroporbecher laufen. »Willkommen, Fremder«, sagte Hopgood. »Der Typ von Hoskisson's hat gerade den Pick-up gemeldet. Uns bleiben noch etwa fünfzig Minuten.« Hopgood stellte niemanden vor, sondern trat an die Weiß wandtafel mit den geisterhaften Spuren zahlloser Einsatzbe sprechungen und zeichnete eine Straßenkarte. »Ich schätze, diese Ärsche fahren zu Donnys oder Lukes Haus«, sagte er. »Ist völlig egal, nur einen Block voneinander entfernt. Sie kommen die Stockyard Road runter. Wir haben da draußen ein liegengebliebenes Fahrzeug, von denen erfahre ich, wenn sie vorbeikommen. An der Anderson Road, das ist hier, bei der zweiten Ampel, können sie entweder rechts ab biegen oder bis hierhin fahren, weiter zur Cardigan Street und dann rechts abbiegen.« Hopgoods Stift verlängerte die Straße über Cromarty h i naus. »Das wird zu schwierig. Wir müssen sie also hier schnap pen, wo die Straße noch einspurig ist.« Er wies auf eine Kreu zung. »Lambing Street Ecke Stockyard Road.« Weiter unten auf der Straße zeichnete er ein Kreuz ein. »Goldings Unfallwerkstatt. Preston und K D , ihr wartet hier, in
Fahrtrichtung zur Stadt. Ihr seid Gruppe drei. Ich lass euch wissen, wann ihr losfahren sollt, damit ihr euch vor den Pickup setzt. Wenn ihr an die Lambing-Ampel kommt, w i r d sie rot sein. Sie bleibt rot, bis wir fertig sind. Alles klar soweit?« Alle nickten. Der Hamburger-Esser rülpste. »Und wenn der Pick-up hinter euch auftaucht«, fuhr er fort, »rührt ihr Jungs euch nicht. Wartet, klar? Lloyd und Steggie und ich, das ist Gruppe eins, wir tauchen im Cruiser hinter ihnen auf und sind in null Komma nichts draußen.« Hopgood rieb sich mit dem Finger unter der Nase. »Übri gens, Lloyd und Steggie«, sagte er, »ich informiere euch und alle anderen hiermit davon, dass ich Anweisung von oben be kommen habe und dass diesen ... diesen Dumpfbacken nichts, absolut gar nichts zustoßen darf.« Er sah einem nach dem anderen ins Gesicht, nur Cashin und Dove nicht. »In Ordnung«, sagte er. »Falls irgendwas Blödes passiert, verschwinden wir und warten ab. Wir hungern die Scheißkerle aus. Wir sind kein Sondereinsatzkommando oder so was. Detective Senior Sergeant Cashin, möchten Sie dazu etwas sagen?« Cashin wartete einen Moment. »Ich habe Inspector Villani und dem Commissioner zugesichert, dass sieben erfahrene Be amte ohne Probleme drei Jugendliche zur Befragung festneh men können.« Hopgood nickte. »Detectives Cashin und Dove, Sie werden die Gruppe zwei in dem zweiten Fahrzeug hinter dem Pick-up sein. Eher unwahrscheinlich, dass Ihre Dienste in Anspruch genommen werden. Noch Fragen? Nein? Dann brechen wir auf. Ich melde mich bei Ihnen allen. Das Codewort ist Sand wich. Sandwich. Klar?« »Und wenn sie einen Scanner haben?«, sagte Preston. Er hatte eine große Nase und einen kleinen, schütteren Schnurr bart, sah aus wie ein Nagetier.
»Mach mal 'n Punkt«, sagte Hopgood. »Das sind doch Dummbeutel aus der Daunt.« Ein uniformierter Polizist trat ein. »Der Dritte in dem Pick-up«, sagte er, »könnte ein anderer Cousin sein, Corey Pascoe. Er war eine Zeit lang in Sydney.« Sie zogen ihre Westen an und begaben sich auf den Parkplatz hinter der Station, ein kleiner, asphaltierter, aus dem Steinhü gel gehauener Hof. »Nehmen Sie den Falcon«, sagte Hopgood zu Cashin. »Ist in einem besseren Zustand als er aussieht.« Sie fuhren im Konvoi los, Hopgoods Landcruiser vorne weg, gefolgt von Cashin und Dove, hinter ihnen die Cops na mens Preston und KD in einem weißen Commodore. Mittler weile regnete es stark, auf den Straßen vermischten sich die Lichter von Autos mit den Leuchtreklamen von Läden, Schlie ren und Lachen in Rot und Weiß, Blau, Grün und Gelb. Sie überquerten den Highway und fuhren durch die Vororte land einwärts, vorbei an der Rennbahn und dem Festplatz, bogen an der alten Fleischfabrik ab. Jetzt waren sie auf der Stockyard Road. Die Jungs waren da draußen, kamen auf sie zu. »Weiß der Typ, was er tut?«, fragte Dove. Das Kinn steckte im Kragen seines Mantels. »Wollen wir's hoffen«, sagte Cashin. Der Wagen roch nach Zigarettenqualm und in altem Ol gebackenen Pommes. »Sandwich«, sagte Hopgood über das Funkgerät. »Gruppe drei, Einsatzort voraus, Sie sollten innerhalb von fünfund zwanzig Minuten von mir hören.« »Gruppe drei, verstanden«, sagte eine Stimme, wahrschein lich KD. Rechter Hand tauchte Goldings Unfallwerkstatt auf, großes Blechgebäude, grellrote Leuchtreklame. Im Rückspiegel sah Cashin den weißen Commodore abbiegen. Der Regen war noch stärker geworden. Cashin stellte die Scheibenwischer auf höhere Geschwindigkeit.
»Sandwich Gruppe eins«, sagte Hopgood. »Biegen links ab.« »Gruppe zwei, haben verstanden«, sagte Cashin. Er folgte dem Cruiser auf eine unbefestigte, matschige Seitenstraße. Der hielt an, er hielt an. Der Cruiser wendete, also wendete er auch. Der andere hielt wieder. Er parkte hinter ihm und schaltete die Scheinwerfer aus. Ein Klopfen an seinem Fenster. Er kurbelte es runter. »Sie lassen den Motor laufen und folgen uns, sobald wir los fahren«, sagte Hopgood. »Ab jetzt herrscht Funkstille.« »Klar.« »Dieser Scheißregen gefällt mir überhaupt nicht«, sagte Hopgood und verschwand im Dunkeln. Scheibe rauf. Sie saßen schweigend da. Cashins Becken schmerzte. Er machte seine Atemübungen, musste aber alle ein, zwei Minuten die Sitzposition ändern, um das Gewicht des Oberkörpers auf weniger empfindliche Nerven zu verlagern. »Okay, wenn ich rauche?«, fragte Dove. »Ich schließ mich an.« Er schob den Zigarettenanzünder rein, nahm einen von Doves Glimmstängeln und öffnete sein Fenster einen Spalt. Dove zündete mit der glühenden Wendel ihre Zigaretten an. Eine Weile rauchten sie stumm, doch N i k o t i n löst die Zunge. »Tun Sie so was oft?«, sagte Cashin. Dove wandte den Kopf. Cashin sah das Weiße in seinen Augen. »Was?« »Der Vorzeige-Aborigine sein.« »Ich tue Villani einen Gefallen. Er sagt, er habe wegen der Verbindung zu Bobby Walshe Druck bekommen. Ich hab bei der Bundespolizei aufgehört, weil ich kein Alibi-Bimbocop sein wollte.« »Ich war mit Bobby Walshe auf der Grundschule«, sagte Cashin und bereute es sofort. »Ich dachte, er sei in der Daunt-Siedlung aufgewachsen.«
»Damals gab's da keine Schule. Die Kinder kamen nach Kenmare.« »Sie kennen ihn also?« »An mich würde er sich nicht erinnern. Vielleicht eher an meinen Cousin Bern. Sie haben sich gegen Kids zusammenge tan, von denen sie beschimpft wurden.« Wieso hab ich bloß damit angefangen, dachte Cashin. Um mich bei diesem Mann einzuschleimen? Ein langes Schweigen, der Motor war nicht zu hören. Die Maschine brummte leise, als Cashin das Gaspedal berührte. »Wie denn beschimpft?«, fragte Dove. »Bimbo. Affe. Solche Sachen.« Wieder Schweigen. Doves Zigarette glomm. »Warum hat man das zu Ihrem Cousin gesagt?« »Seine M u m ist Aborigine. Meine Tante Stella. Sie ist aus der Daunt.« »Wie, dann sind Sie ja ein Schwiegerbimbo.« »Stimmt. So was in der Art.« Im Krankenhaus hatte er zum ersten Mal darüber nach gedacht, dass er nie zu seinen Doogue-Cousins, zu Bobby Walshe und den anderen Kids aus der Daunt-Siedlung gehal ten hatte, wenn sie von den Weißen Bimbo, Affe, Nigger ge nannt wurden. Er war weggegangen. Niemand rief ihm solche Schimpfnamen nach, das ging ihn nichts an. Er wusste noch, wie er seinem Dad von den Schlägereien erzählt hatte. Mick Cashin arbeitete gerade am Traktor, dem alten Massey Fergu son, seine großen Finger drehten Zündkerzen raus. »Du musst gar nichts machen, so lange sie nicht verlieren«, sagte er. »Dann greifst du besser ein, drischst auf ein paar Köpfe. Lass sie nicht hängen. Es ist die Familie deiner Mum.« Als seine Tante Stella ihn zu sich nahm, wurde keins der Doogue-Kinder mehr beschimpft. Sie mussten sich von nie mandem helfen lassen. Sie waren groß und stark, und man be kam es nicht nur mit einem zu tun: Sie traten als Team auf.
Cashin behielt die Hauptstraße im Auge. Ein Fahrzeug überquerte sie. Der Cruiser rührte sich nicht. Das waren sie nicht. Er stellte den Scheibenwischer an. Der Regen wurde immer schlimmer. Es war an der Zeit, das Ganze abzublasen, so was lief nicht in einem Wolkenbruch. Ein anderes Fahrzeug huschte vorbei.
Rücklichter leuchteten auf. Hopgood fuhr los.
»Auf geht's«, sagte Cashin.
E
s regnete heftig, die Scheibenwischer des Falcon waren überfordert. Hopgood zögerte an der Kreuzung nicht, bog rechts ab.
Cashin folgte, sah nicht viel.
Sie fuhren fünfzig, achtzig, neunzig, hundert, dann machte
der Falcon schlapp, mehr war einfach nicht drin, irgendwas stimmte nicht. Er spürte, wie ein Vorderrad schlackerte, befürchtete, die Kontrolle zu verlieren, fuhr langsamer. Hopgoods Rücklichter waren in der nassen Nacht ver schwunden. Das war nicht klug, so machte man das nicht. »Holen Sie Hopgood ans Gerät«, sagte Cashin. »Das ist Mist.« Dove nahm die Muschel. »Sandwich zwei an Sandwich eins, verstehen Sie mich? Over.« Keine Antwort. Goldings Unfallwerkstatt zur Linken, die Leuchtreklame ein roter Fleck in der nassen Nacht. Wagen eins, Gruppe drei, Preston und KD, waren inzwischen losgefahren, sie waren jetzt bestimmt vor dem Pick-up, näherten sich der Ampel. »Abbrechen«, sagte Cashin. »Sagen Sie ihm das.« »Sandwich eins, Operation abbrechen, abbrechen, verstan den, Sandwich eins? Bitte bestätigen.« Vier Fahrzeuge rasten im Regen durch eine pechschwarze Nacht.
Die Ampel würde rot sein. Preston würde anhalten. Der Pick-up würde hinter ihnen halten. Drei Kids in der Fah rerkabine. Müde nach einer langen Fahrt. Sie gähnen. Denken an zu Hause und ans Bett. Waren sie es, die Bourgoyne überfallen hatten? Wenigstens einer von ihnen würde wissen, wer dem alten Mann die Uhr vom Handgelenk genommen hatte. »Ich wiederhole: abbrechen, abbrechen«, sagte Dove. »Be stätigen Sie, bestätigen Sie das.« »Wiederholen Sie, Sandwich zwei, kann Sie nicht hören.« Sie kamen zur letzten Kurve, Sturzregen, näherten sich der Kreuzung Lambing Street. Cashin sah nichts bis auf den gel ben Schein von Straßenlaternen im Hintergrund. »Sandwich eins, abbrechen, abbrechen, verstanden? Bitte bestätigen Sie.« Cashin fuhr langsamer, war jetzt in der Kurve. Rotes Leuchten. Die Rücklichter des Cruiser. Der angehalten hatte. Cashin bremste, das Heck des Falcon wollte ausbrechen, er musste nachgeben, sanft gegenlenken. »Verdammte Axt«, sagte Dove. »Sandwich eins, abbrechen, abbrechen, ich wiederhole noch einmal, abbrechen. Bestätigen Sie, bestätigen.« Cashin hielt hinter dem Cruiser, sah so gut wie nichts. Drei Türen standen offen. »Gehn wir«, sagte er, irgendwas stimmte hier ganz und gar nicht. Dove war als Erster um den Wagen gelaufen, Cashin stieß mit ihm zusammen, sie fielen fast hin, waren im strömenden Regen wie blind. Ein Fahrzeug war auf der falschen Straßenseite in die A m pelanlage gerast. Ein Pick-up. Er sah drei oder vier umherlau fende Gestalten. Schüsse. Jemand schrie: »NIMM DIE VERDAMMTE K N A R R E . . . ! «
Ein Gewehrschuss ertönte, das Mündungsfeuer des Ge wehrs spiegelte sich auf dem nassen Asphalt. »FALLEN LASSEN, LASS DIE SCHEISSWAFFE FAL LEN!« »ZURÜCK, ZURÜCK!« Noch zwei Schüsse, Handfeuerwaffe, winzige Flammen zungen, blitzschnell, KLACK-KLACK. Stille. »Scheiße«, sagte Dove. »Ach du dicke Scheiße.« Jemand stöhnte. Hopgood rief: »KD, H O L D E N SCHEISS-SUCHSCHEIN WERFER!« Nach ein paar Sekunden ging das Licht an, die Welt wurde in ein grelles Weiß getaucht, Cashin sah den zerstörten Pick-up, auf der Fahrbahn glitzerten Tausende von Glassplittern. Drei Männer standen da. Hinter dem Pickup lag ein Körper, neben ihm ein Gewehr. Cashin ging hinüber, wischte sich Regen aus dem Gesicht. Lloyd und Steggie, die Waffen gezogen, bleiche Gesichter. Steggies Mund bewegte sich, er brachte aber kein Wort heraus. Dann übergab er sich, eine Säule aus Flüssigem. Er kniete nie der, auf allen vieren. »Holt 'n Krankenwagen!«, schrie Cashin. »Und zwar im Eiltempo!« Er ging zu der am Boden liegenden Person, einem schlanken Jugendlichen, dessen Mund offen stand. Er hatte einen Schuss in den Hals bekommen. Cashin sah Zähne, hörte ein Gurgeln. Der junge Mann hustete, Blut strömte aus ihm heraus, floss auf die Straße, dicker als Regen. Cashin nahm mit beiden Händen die Schultern des Jungen, hob ihn an, wusste, dass er sterben würde, spürte es in den dün nen Armen, an dem leisen Zittern, hörte es an dem rasselnden Laut. »Der beschissene Vollidiot«, sagte Hopgood hinter ihm.
Cashin ließ den Jungen los. Er konnte ihm nicht helfen. Er stand auf und ging zu dem Pick-up. Der Fahrer war zwischen Lenkrad und Armaturenbrett eingequetscht, sein Gesicht vol ler Blut, überall Blut. Cashin hielt ihm einen Finger an den Hals, fühlte einen ganz leichten Puls. Er versuchte vergeblich, die Tür zu öffnen, ging zur anderen Seite. Dort war Dove. Der Beifahrer war auch ein junger Kerl, aus seinem Mund floss Blut, doch er hatte die Augen geöffnet. »O Scheiße«, sagte er leise. Das sagte er immer und immer wieder. Sie holten ihn raus, legten ihn hin. Er würde überleben. Der Krankenwagen traf ein, dann noch einer, der zweite hatte eine Ärztin an Bord. Sie hatte noch nie Schussver letzungen behandelt, aber das machte nichts, es war immer zu spät. Als sie den Jungen hochhoben, sah Cashin in einer schwar zen Pfütze neben ihm ein Gewehr liegen, einläufige Pumpgun, abgesägter Lauf. Der Fahrer lebte noch, als man ihn in den Krankenwagen hob. Die Cops standen herum. »Keiner fasst hier irgendwas an«, sagte Cashin. »Nicht das Geringste. Sperrt die Straße ab.« »Für wen halten Sie sich eigentlich, verdammt?«, sagte H o p good. »Wir sind hier in Cromarty, Mann.«
V
illani steckte die Kassette in das Videogerät und gab H o p good die Fernbedienung. »Das ist die Pressekonferenz vor zwei Stunden«, sagte Villani. »Die wird mittags im Fernsehen übertragen.« A u f dem Bildschirm erschien das rosa Babyface des stell vertretenden Kripo-Commissioners. Er war vorzeitig kahl ge worden. »Es ist meine traurige Pflicht zu berichten, dass zwei der drei an dem Zwischenfall bei Cromarty beteiligten Perso nen spät am gestrigen Tag ihren Verletzungen erlegen sind«, sagte er. »Die dritte Person hat geringfügige Verletzungen und ist außer Gefahr. Die Vorkommnisse werden einer gründlichen Untersuchung unterzogen.« Ein Journalist fragte: »Können Sie bestätigen, dass Polizis ten an einer Straßensperre auf drei junge männliche Aborigines geschossen haben?« Die Miene des Commissioners blieb ausdruckslos. »Es war keine Straßensperre, nein. Unseres Wissens wurden Polizeibe amte beschossen und haben das Feuer erwidert.« »Wenn es keine Straßensperre war, was war es dann?« »Die beteiligten Personen sind Verdächtige in einem Er mittlungsfall, und es wurde der Versuch unternommen, sie festzunehmen.« »Sie meinen den Angriff auf Charles Bourgoyne.« »Das trifft zu.« »Starben beide Opfer an Schusswunden?« »Der eine. Unglücklicherweise.«
Der Journalist sagte: »Und ist das Luke Ericsen, der Neffe von Bobby Walshe?« »Das kann ich Ihnen gegenwärtig noch nicht beantworten«, sagte der Commissioner. »Und der andere junge Mann? Woran starb er?« »An Verletzungen, die er sich bei einem Autounfall zuzog.« Ein anderer Journalist sagte: »Commissioner, waren die be teiligten Beamten uniformert?« »Es waren uniformierte Polizisten vor Ort.« »Wenn es denn keine Straßensperre war, war es eine verun glückte Verfolgungsjagd?« »Es war keine Verfolgungsjagd. Die Operation war darauf angelegt, jede Gefahr für alle Beteiligten zu vermeiden und ...« »Können Sie bestätigen, dass zwei Polizeiwagen hinter dem Fahrzeug herfuhren, das dann verunglückte? Können Sie das bestätigen?« »Das trifft zu, allerdings ...« »Verzeihen Sie, Commissioner, inwiefern ist das keine Ver folgungsjagd?« »Sie haben das Fahrzeug nicht verfolgt.« »Es war weder eine Straßensperre noch eine Verfolgungs jagd, aber Sie haben zwei tote jugendliche Aborigines?« Der Commissioner kratzte sich an der Wange. »Ich wieder hole«, sagte er. »Es war ein Abfangeinsatz, konzipiert in dem Bestreben, die Verletzungsgefahren so gering wie möglich zu halten. Das ist immer unser Ziel. Wenn aber Polizeibeamte in Gefahr geraten, sind sie eindeutig berechtigt, sich und ihre Kollegen zu verteidigen.« »Commissioner, Cromarty hat einen schlechten Ruf, was solche Dinge angeht, nicht wahr? Seit 1987 starben vier männ liche Aborigines bei Zwischenfällen, an denen die Polizei be teiligt war. Es gab zwei Tote im Polizeigewahrsam.« »Dazu kann ich mich nicht äußern. Meines Wissens haben sich alle an diesem Einsatz beteiligten Polizeibeamten, darunter
ein hoch angesehener Aborigine-Beamter, streng an die ent sprechenden Vorschriften gehalten. Darüber hinaus wollen w i r auf das Urteil des Untersuchungsrichters warten.« Villani bedeutete Hopgood, das Videogerät auszuschalten. Cashin stand am Fenster und betrachtete das Mittagslicht auf dem Steingebäude gegenüber, hatte Mühe, sich zu konzentrie ren. Er dachte an den zerquetschten Jugendlichen in dem Pickup. So hatte Shane Diab ausgesehen, nachdem das Leben aus ihm herausgepresst worden war. Tauben und Möwen stolzierten umher, einige schläfrig, offenbar in einträchtigem Miteinander. Dann ging auf der Brüstung das Hauen und Stechen los - Flügel, Schnäbel, Kral len. Der Friede war ein trügerischer gewesen. »Es sieht so aus«, sagte Villani und rieb sich mit beiden Hän den das Gesicht, was ihn älter erscheinen ließ, »dass dank dieser Operation auf mich, auf Sie, auf dieses Revier, auf die ge samte verdammte Polizei eine Lawine von Scheiße niederge gangen ist. Wir alle sind unter Scheiße begraben, die Schuldi gen wie die Unschuldigen.« »Bei allem Respekt«, sagte Hopgood, »wie kann man wis sen, dass ein Fahrer so dämlich ist? Was für ein bescheuerter Dreckskerl weicht einem an 'ner roten Ampel haltenden Wa gen aus und verliert die Kontrolle?« »Das kann man nicht«, sagte Villani. »Aber das wäre auch nicht nötig gewesen, wenn Sie auf mich gehört und die drei zu Hause festgenommen hätten. Jetzt sollten Sie alle besser beten, dass diese Kids diejenigen sind, die Bourgoyne überfallen ha ben.« »Ericsen hat völlig grundlos auf uns geschossen«, sagte Hopgood. »Er ist ein gewalttätiges kleines Arschloch, wahr scheinlich hätte er genauso reagiert, wenn wir gewartet hätten, bis sie zu Hause in der Daunt gewesen wären.« »So wie ich das sehe«, sagte Villani, »ist Ericsen an einem U n fall beteiligt, steigt aus und sieht, wie zwei Männer aus einem
neutralen Fahrzeug springen und auf ihn zukommen. Könnten geisteskranke Gauner sein. Vor drei Jahren haben vier solche Tiere genau das gemacht, zwei schwarze Jugendliche zu Brei geschlagen; der eine sitzt für den Rest seines Lebens im Roll stuhl. Auch in dieser Stadt wurde ein junger Schwarzer, der nach Hause ging, von einem Auto gejagt. Er wollte weglaufen, und das Auto nahm mit Vollgas den Gehsteig und hat ihn über rollt. War bei Einlieferung im Krankenhaus tot.« Villani hatte sich im Raum umgesehen. Jetzt musterte er Hopgood. »Sind Sie mit diesen Ereignissen vertraut, Detec tive?« »Das bin ich, Chef. Aber...« »Sparen Sie sich die Abers, Detective. Für die Anhörung und die Verhandlung. Da werden Sie alle Abers brauchen, die Sie finden können.« Villani seufzte. »Zwei schwarze Jugendli che tot«, sagte er dann. »Bobby Walshes Neffe. Mist.« »Walshe war nie auch nur in der Nähe seines Neffen«, warf Hopgood ein. »Er ist zu gut für seine anderen Daunt...« Er sparte sich das Wort. Alle wussten, welches Wort er meinte. »Ich wünschte, ich wäre ganz woanders«, sagte Villani. »Der Mars wäre nicht schlecht. Vielleicht nicht weit genug.« Cashin hustete, was einen beißenden Schmerz auslöste. »Ich bin nur ein Dorfpolizist«, sagte Hopgood, »aber ich verstehe nicht, dass die Unschuldsvermutung auch für Ärsche gelten soll, die rote Ampeln überfahren, gegen einen Mast ra sen, mit einer abgesägten Pumpgun aussteigen, für die sie kei nen Waffenschein haben, und auf Polizeibeamte schießen.« Er rieb sich mit einem großen Finger über die Bartstoppeln auf seiner Oberlippe. »Oder ist es etwas anderes, wenn sie mit dem verdammten Bobby Walshe verwandt sind?« »Das haben Sie hübsch formuliert«, sagte Villani. »Die U n schuldsvermutung. Sie sollten eine neue Laufbahn in der Juris terei in Betracht ziehen. Irgendwo anders jedenfalls.«
Er nahm eine Schachtel Zigaretten heraus, klappte sie auf, steckte eine zwischen die Lippen, zündete sie an. Ein Schild besagte >Rauchen verboten<. Sein Qualm stand in der stillen Luft. »Die Vorgehensweise hier wird als Vorbild für jeden künfti gen Bockmist dienen«, sagte Villani. »Zwei Bundespolizisten plus Beamte der Ethikkommission plus Mitarbeiter des O m budsmanns. Die sind jetzt hier. Alle beteiligten Polizisten sind beurlaubt. Sollte es irgendwelche Kontakte untereinander ge ben, ob ein Telefonat, einen kleinen Plausch oder ein verdamm tes Blinzeln über die Bananen weg im Supermarkt, können die Beteiligten sich ihre Papiere holen. Verstanden? Die Familie, die Bruderschaft, dieser ganze Scheiß, das funktioniert hier nicht. Verstanden?« Cashin sagte: »Könnten Sie das noch mal wiederholen?« Villani sagte: »Das war's, Sie können gehen. Cashin bleibt.« Hopgood und Dove gingen. »Joe«, sagte Villani, »ich kann auf solche Klugscheißereien verzichten.« Er rauchte, tippte Asche in seinen Plastikbecher. Cashin schaute weg, beobachtete die Vögel auf der anderen Straßen seite. Schlafen, trippeln, scheißen, kämpfen. »Als Verantwortlicher für dieses Debakel bin ich gebrand markt«, sagte Villani. »Der Rat kam von mir. Was hättest du tun sollen?« »Du hast Hopgoods begründete Meinung weitergegeben. Das hast du gemacht. Sie weitergegeben. Ich habe entschie den.« Villani schloss die Augen. Cashin sah, wie müde er war und dass in einem Augenlid ein winziges Äderchen pochte. »Ich hätte dich nicht damit betrauen sollen«, sagte Villani. »Tut mir leid.« »Blödsinn. Von Bourgoynes Uhr weit und breit nichts zu sehen?«
»Nein. Die haben sie wahrscheinlich woanders vertickt. Man sucht noch. Man hat Pascoes Bleibe in Sydney noch nicht gefunden.« »Sydneys Polizei in Hochform«, sagte Cashin. »Ich würde nicht mit dem Finger drauf zeigen«, sagte V i l lani. »Ich nicht.« Stille. Villani ging zum Fenster, riss es auf, schnippte seine Kippe in Richtung Tauben, stieß das Fenster zu. »Ich habe einen kleinen Auftritt vor den Medien«, sagte er. »Wie sehe ich aus?« »Hinreißend«, sagte Cashin. »Schicker Anzug, Gleiches gilt für Hemd und Schlips.« »Von Experten beraten.« An der Tür sagte Villani: »An mei ner Stelle würde ich möglichst wenig sagen. Belanglose Dinge kommen zurück und suchen dich heim. Und was diesen Scheiß kerl Hopgood angeht, Joe. Tu ihm nie einen Gefallen, der würde dich ohne mit der Wimper zu zucken verkaufen.«
A
ls Cashin an die Reihe kam, war der Nachmittag schon halb vorbei. In einem überheizten Verhörraum, Ton- und Bildaufzeich nung liefen, setzte er sich auf einen glatten Vinylstuhl vor zwei Bundespolizisten, einen dicken Sergeant von der Ethikkom mission namens Pitt und dessen verdutzt dreinblickenden As sistenten Miller, sowie einen Mitarbeiter des Polizeiombuds manns. Bei der ersten Gelegenheit sagte Cashin, er habe Villani empfohlen, die Operation zu genehmigen. »Nun, das ist ein anderes Thema«, sagte Pitt. »Damit befas sen wir uns heute nicht.« Die Bundespolizisten, ein Mann und eine Frau, beide sehnig wie Marathonläufer, gingen mit Cashin zweimal seine Aussage durch. Dann nahmen sie sie auseinander. »Und ich nehme an«, sagte der Mann, »dass Sie das im Nachhinein als Fehleinschätzung betrachten?« »Im Nachhinein«, sagte Cashin, »betrachte ich den größten Teil meines Lebens als Fehleinschätzung.« »Machen Sie sich über die Frage lustig, Detective?«, sagte die Frau. Am liebsten hätte Cashin gesagt, sie könne ihn mal. Statt dessen sagte er: »Unter denselben Umständen würde ich die selbe Entscheidung wieder treffen.« »Die zum Tode zweier junger Männer führte«, sagte die Frau.
»Zwei Menschen sind tot«, sagte Cashin. »Wessen Schuld das ist, werden die Gerichte entscheiden.« Schweigen. Die Befrager sahen einander an. »Wie standen Sie ursprünglich dazu, eine derartige Opera tion bei starkem Regen durchzuführen?«, fragte die Frau. »Das Wetter kann man sich nicht aussuchen. Man nimmt, was man kriegt.« »Aber wie klug war das? Welche Auffassung vertraten Sie?« »Ich hatte keine klare Auffassung, bis es zu spät war.« Es war zu spät gewesen. Er hatte zu lange gewartet. »Und Sie sagen, dann hätten Sie Dove angewiesen, H o p good anzurufen und die Operation abzubrechen?« »So ist es.« »Ihrer Ansicht nach hatten Sie die Befugnis, den Abbruch der Operation anzuordnen?«, sagte der Mitarbeiter des O m budsmanns. »So ist es.« »Glauben Sie das immer noch?« »Ich dachte, ich hätte den Oberbefehl, ja.« »Das dachten Sie? Es war nicht vorab geklärt worden, wer das Kommando hatte?« »Ich bin für die Ermittlungen im Falle Bourgoyne zustän dig. Diese Operation stand im Zusammenhang damit.« Sie sahen einander an. »Nächstes Thema«, sagte die Frau. »Sie sagten, Sie hätten drei Versuche unternommen, die Ope ration abzubrechen?« »Das stimmt.« »Die aber nicht bestätigt wurden?« »Nein.« »Dove bat um eine Bestätigung der Funkrufe?« Cashin schaute weg. Er hatte Schmerzen, dachte an zu Hause, Whisky, sein Bett. »Ja. Mehrfach. Nach der ersten Mel dung bat Hopgood um Wiederholung und sagte, er könne uns nicht hören.«
»Hat Sie das überrascht?« »Das kommt vor. Technische Störungen.« »Zurück zu dem Augenblick, als Sie bei dem Fahrzeug ein trafen«, sagte der Bundespolizist. »Sie sagten, Sie hätten Schüsse gehört.« »Das stimmt.« »Und Sie sahen neben dem Pick-up Mündungsfeuer?« »Ja.« »Sie hörten einen Schuss oder Schüsse, und dann sahen Sie das Mündungsfeuer?« Cashin dachte: Er w i l l wissen, ob Luke Ericsen beschossen wurde und zurückgeschossen hat. »In einem kurzen Augenblick während des Platzregens«, sagte er, »hörte ich Schüsse und sah bei dem Pick-up Mün dungsfeuer. In welcher Reihenfolge, nun ...« »Könnte das Mündungsfeuer möglicherweise von Ericsen gewesen sein, der die anderen Schüsse erwiderte?«, fragte Pitt. »Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Cashin. »Aber möglich ist es?« »Es ist möglich. Der erste Schuss könnte aus dem Gewehr stammen.« »Verzeihung, ändern Sie Ihre Aussage?« Die Frau. »Nein. Ich stelle klar.« »Jemand mit Ihrer Erfahrung«, sagte der Bundespolizist. »Da hätten w i r ein wenig mehr Präzision erwartet.« »Wir?«, wiederholte Cashin und sah ihm in die Augen. »Heißt >wir< Sie? Scheiße, Sie haben doch überhaupt keine Ahnung!« Das war kontraproduktiv. Erst nach einer weiteren Stunde ließen sie ihn gehen. Er fuhr vorsichtig, er war müde, mit den Nerven fix und fertig. An der Kreuzung nach Kenmare fielen ihm Milch, Brot und Hundefutter ein; es war nur noch ein Rest Hundewurst übrig. Er hielt an Callahans Tankstelle mit Laden.
Der Laden war nicht beheizt, roch nach saurer Milch und alten Pasteten, niemand stand hinter dem Tresen. Er nahm sich Milch, die letzte Packung, und ging zu dem Wandregal, um Hundefutter zu holen. Eine kleine Dose war übrig. »Wieder da.« Derry Callahan, Ölflecken im Gesicht, stand dicht hinter ihm. Er trug eine Nylon-Strickjacke mit zugezogenem Reiß verschluss, die sich über seinem Wanst spannte. »Schön, dass ihr Typen zur Abwechslung mal euer Scheiß geld verdient«, sagte er. Cashin sah sich um, roch Alkohol und üblen Atem, sah Cal lahans rot geränderten Augen, die sorgfältig über die bleiche, fleckige Kopfhaut gekämmten fettigen Haarsträhnen. »Wieso das denn?«, sagte er. »Weil ihr die beiden Bimbo-Gangster umgelegt habt. Schade, dass es nicht 'ne ganze beschissene Busladung war.« Er überlegte nicht, es passierte einfach. Cashin hatte die Dose Frisky Dog in der rechten Hand, saftige Fleischbrocken in Marksoße. Er drehte die Hüften, schwang den A r m dicht am Körper herum und traf Derry mitten im Gesicht; keine große Entfernung, sie standen dicht beisammen. Der Schmerz ließ ihn glauben, er habe sich die Finger gebrochen. Callahan ging rückwärts, zwei kurze Schritte, sank langsam auf die Knie, hob die Hände zum Gesicht, das Blut war eher da, dunkelrot, fast schwarz, was an der Neonbeleuchtung lag. Am liebsten hätte Cashin noch mal zugeschlagen, stattdes sen warf er die Milchpackung nach Callahan. Sie prallte von seinem Kopf ab. Er ging rüber, um Callahan zu treten, doch irgendwas hielt ihn zurück. Am Wagen merkte Cashin, dass er immer noch die Dose Hundefutter umklammerte. Er öffnete die Hand. Die Dose war eingedellt. Er warf sie auf den Rücksitz. Rebb hörte ihn kommen, ein Lichtstrahl, die Hunde spran gen hoch, mit flatternden Ohren, rannten zu ihm hin. Er strei
chelte mit der schmerzenden Hand ihre Ohren. Die Hunde lie fen ihm zwischen den Beinen herum, drängelten, wollten mehr. »Dachte, Sie hätten sich abgesetzt«, sagte Rebb. »Und mich mit Ihren verrückten Hunden und Ihren Schulden allein gelas sen.«
D
ie Hunde weckten Cashin eine ganze Weile vor Sonnen aufgang, und er durchquerte blind den Raum, ließ sie in das kalte, dunkle Zimmer und ging wieder zu Bett. Sie schnüf felten in der Küche nach Essensresten am Boden, gaben auf, sprangen aufs Bett, völlig verzogen. Cashin war es egal. Sie drängten sich an ihn, von beiden Sei ten, legten ihre leichten Köpfe auf seine Beine. Er schlief wie der ein, wurde mit einem Schrecken wach, ein Geräusch in der Erinnerung, ein Reiben, Metall gegen Metall. Er lauschte, den Kopf erhoben, den Nacken angespannt. N u r ein Geräusch in einem Traum. Die Hunde würden lange vor ihm alles Ungewöhnliche hören. Doch an Schlaf war nicht mehr zu denken. Er lag auf dem Rücken, die Finger der rechten Hand schmerzten, und hörte das traurige Winseln des vormorgendlichen Windes. Die Jungs im Pick-up. Unter denselben Umständen würde ich dieselbe Entschei dung wieder treffen. Die zum Tode zweier junger Männer führte. Bis zu diesem Augenblick in dem miefigen Zimmer war ihm nicht ganz klar gewesen, dass eine direkte Verbindung zwi schen den blutenden, sterbenden jungen Männern und den Sätzen bestand, die er selbst am Telefon zu Villani gesagt hatte. Vielleicht übertreibst du da ein wenig. Es sind bloß drei junge Burschen in einem Pick-up. Das kann doch nicht so schwierig sein.
Wäre es anders gekommen, wenn Hopgood mit Villani ge sprochen hätte? Hätte Villani den Vorschlag abgelehnt, wenn er direkt von Hopgood gekommen wäre? Ganz gleich, wie sehr die Razzien in den Elternhäusern der Jungs verbockt worden wären, es hätte keine zwei Toten gege ben. Er versuchte, an etwas anderes zu denken. Tommy Cashins in die Luft gejagtes Haus wieder aufzu bauen, das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg zur Ruine ge worden war. Selten dämlich. Daraus würde nie etwas, er würde eine Weile lang seine Freizeit damit vergeuden und es dann weggeben. Noch nie hatte er etwas mit den Händen geschaf fen, etwas gebaut. Wie war er eigentlich auf diese Schnapsidee verfallen? Sie war irgendwie auf seinen Spaziergängen mit den Hunden entstanden, wenn sie zu dem von wilder Natur umwucherten Haus zurückgekommen waren. U n d dann, eines Morgens auf dem Weg zur Arbeit, traf er Bern. Auf der Ladefläche seines Dodge lag ein Haufen nicht gereinigter alter roter Backsteine. Neben Bern saß ein uralter Einheimischer namens Collo, der seine Backsteine sauber klopfte, bei Wind und Wetter draußen hockte, von einer grauen Schicht Zementstaub überzogen, durch seine Zahnlücken pfiff und völlig darin aufging, den Mörtel abzuschlagen. Sie hielten am Rand, stiegen aus. Bern kam über die Straße, den Mund voll Rauch. »Ziemlich früh für dich«, sagte Cashin. »Hast du im D u n keln ein Haus abgerissen?« »Was wisst ihr Scheißer von ehrlicher Arbeit?«, sagte Bern. »Ihr habt doch alle fette Flachärsche.« »Du studierst wohl Ärsche, was?«, sagte Cashin. U n d dann folgten die verhängnisvollen Worte: »Wie viele Backsteine habt ihr da?« »Dreitausend und 'n paar Zerquetschte.«
»Wie viel?« »Was sind sie dir wert?« »Wie viel?« »Für einen geschätzten Kunden, vierzig für hundert, gesäu bert.« »Sagen wir fünfundzwanzig.« »Warum sollte ich dir die Steine für fünfundzwanzig ver kaufen, wenn ich vierzig kriegen kann? Weißt du, wie gesucht alte Backsteine sind? Antiquitäten, Kumpel.« Er spuckte sau ber aus. »Nö, weißt du nicht. Einen Scheißdreck weißt du.« »Sagen wir dreißig.« »Was willste mit Backsteinen anfangen?« »Ich baue Tommy Cashins Haus wieder auf«, sagte Cashin. Die Wörter kamen ganz von selbst. Bern schüttelte den Kopf. »Du bist auch so ein beschissener Cashin-Irrer, ist dir das klar? Dreißig und verkauft. Lieferung kostet extra.« Jetzt stapelten sich die Backsteine neben der Ruine. Cashin stand auf, zog sich etwas an, machte Tee. Als der Morgen dämmerte, brach er mit den Hunden zum Strand auf, eine Fahrt von fünfzehn Minuten, die letzten paar auf einem Feldweg. Unter einem marmorierten Himmel ging er barfuß auf hartem, geriffeltem Sand, gegen einen eiskalten Wind an kämpfend. Sein Vater hatte die Auffassung vertreten, am Strand trage man keine Schuhe, ganz gleich, was man dort machte. Keine Flipflops, gar nichts. Falls der Sand heiß war, tja, beiß die Zähne zusammen oder geh nach Hause. Cashin dachte daran, wie er sich im Sommer die Fußsohlen verbrannt, an Glas scherben und scharfen Steinen geschnitten hatte. Er war wohl sieben oder acht, als er auf einen Angelhaken trat. Er machte einen Satz und setzte sich hart hin, Tränen des Schmerzes flös sen. Sein Vater kam zurück, hob den Fuß hoch. Der Haken
steckte im weichen Fleisch hinter dem Polster der großen Zehe. »Haken kann man nicht zurückschieben«, sagte Mick Cashin und stieß den Haken durch. Cashin wusste noch, wie der Widerhaken aus seiner Haut stak. Riesig sah er aus, sein Vater nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und zog das ganze Ding durch. Die Haut wölbte sich, bevor das Öhr auftauchte. Er dachte an das Gefühl, als eine lange Nylonschnur durch sein Fleisch gezogen wurde. Die Hunde mochten den Strand, das Meer war ihnen ziem lich schnuppe. Sie jagten Möwen, jagten einander, schnappten nach kleinen Wellen, liefen vor ihnen davon, rannten die Dü nen hoch, um den Strandhafer und das Gestrüpp nach Kanin chen zu durchstöbern. Cashin betrachtete beim Gehen das Meer, das Gesicht von dem körnigen Flugsand abgewandt, der von den Dünen herangeweht wurde. Eine starke Strömung verlief parallel zum Strand, gleich hin ter den großen Brechern. Sie alle rollten bis zur Mündung des Stone's Creek. Die Ebbe hatte zwischen den Untiefen des Flüsschens fünf oder sechs Sandbänke freigelegt, perfekte, un terschiedlich breite Löffelbiskuits. Hier wollte Adrian Fyfe laut Cecily Addison seine Ferienanlage bauen. Hotel, Golfplatz, Häuser, weiß Gott, was noch alles. Bor dell, Kasino, die ganze verdammte Chose. An einem derart eisigen Tag wie heute war die Vorstellung der reinste Irrsinn. Die Hunde liefen zu dem ersten Rinnsal, machten sich die Füße nass und überlegten, ob sie zum ersten Biskuit laufen sollten. Als Cashin pfiff, sahen sie sich um und machten kehrt, bereit für die Heimfahrt und das Frühstück. Als er sie gefüttert und selbst geduscht und ein sauberes Hemd gefunden hatte, fuhr er nach Port Monro, um seinen Schreibtisch zu leeren. Man konnte unmöglich wissen, wie lange die Suspendierung dauern würde. Ewig, dachte er.
Vor dem Polizeirevier saß eine Frau in einem alten VolvoKombi, zwei kleine Kinder auf dem Rücksitz eingebuchtet. Er parkte hinter dem Gebäude, und als er schließlich die Hinter tür aufgeschlossen hatte, klingelte sie schon Sturm. Er sah durch die Jalousie, ehe er sie hochzog: Mitte dreißig, mehrere Kleidungsschichten übereinander, dünne und schmut zige Haare, rot-grün gestreift, eine wunde Stelle am Mundwin kel. Cashin schloss auf. »Scheiße, ihr überarbeitet euch auch nicht gerade hier«, sagte sie. »Ist das 'n Bullenrevier oder was?« »Wir öffnen erst in einer halben Stunde. Steht auf dem Schild.« »Meine Güte, wie beschissene Arzte, die Leute dürfen nur während der Praxisstunden krank werden, zwischen neun und fünf, verdammt.« »Da haben wir wohl einen Notfall verpasst, wie?« Er trat hinter den Tresen. »Diese Scheißstadt steht mir bis hier«, sagte sie. »Gestern Abend war ich im Supermarkt; die glauben, sie hätten gesehen, wie ich am Auto Tiefkühlkram aus dem Jogginganzug genom men habe. Ich lauf also mit beschissenen Tiefkühlerbsen im Jogginganzug durch die Gegend oder was? Oder?« »Wer hat das gesagt?« »Diese Colley-Schlampe, die ist Geschichte, das Miststück.« »Was hat sie gemacht?« »Sieht mich reinkommen und behauptet, ich hätte Hausver bot. Die halbe Scheißstadt war da und hat's gehört.« »Um welchen Supermarkt dreht es sich?« »Supa Valu, der an der Ecke.« »Tja«, sagte Cashin, »da bleibt immer noch Maxwell's.« Sie streckte ihm das Kinn entgegen. »Das ist also Ihre Scheiß-Einstellung? Ich bin schuldig, ohne Prozess? N u r weil die so'n Scheiß behaupten?«
Cashin spürte, wie es hinter seinen Augen ein wenig heiß wurde. »Was verlangen Sie von mir, Ms. ... ? »Reed, Jadeen Reed. Na, sagen Sie dieser Colley-Zicke, dass sie kein Recht hat, mir Hausverbot zu erteilen. Sagen Sie ihr, sie soll mich in Ruhe lassen.« »Der Laden hat das Recht, jedem den Zutritt zu verweh ren«, sagte Cashin. »Auch wenn sie dem Pemierminister sagen, sie wollen i h n als Kunden nicht haben.« Jadeen machte große Augen. »Echt?«, sagte sie, böse lächelnd. »Verdammt, echt? Verschonen Sie mich mit so 'm Scheiß. Wol len Sie mir erzählen, wenn ich mit 'm Mercedes-Kombi vor die sem Kack-Supermarkt parke, würde das Miststück so mit mir umspringen? Das glauben Sie wohl selber nich, Mister.« Jetzt hatte er heiße Augen. »Ich werde eine Aktennotiz über Ihre Beschwerde anfertigen, Ms. Reed«, sagte er. »Vielleicht möchten Sie I h r Problem auch dem Verbraucherministerium mitteilen. Die Nummer steht im Telefonbuch.« »Das war's?« »Das war's.« Sie machte kehrt und ging. An der Tür drehte sie sich wie der um. »Ihr Wichser«, sagte sie. »Ihr seid bloß für die Reichen da, das ist euer Kack-Job, stimmt's?« »Sind Sie vorbestraft, Jadeen?«, sagte Cashin. »Gibt's da eine Akte? Schon mal Ärger gehabt? Warum nehmen Sie nicht Platz, ich seh mal im Computer nach?« »Du Arschloch«, sagte sie, »du absolut beschissenes Arsch loch.« Sie ging, versuchte, die Tür zuzuschlagen, doch bei der Tür ging das nicht. Cashin ging zum Schreibtisch und arbeitete die Papiere in seinem Eingangskorb durch, suchte nach Vorfällen, mit denen er sich befassen musste. Die Hunde gingen in der Umzäunung herum wie Häftlinge in einem Gefängnishof, sie gingen, weil das weniger langweilig war als die Alternative.
Ich bin für diese Arbeit nicht geeignet, dachte Cashin. U n d wenn ich dieses Revier nicht leiten kann, bin ich für Polizei arbeit überhaupt ungeeignet. Was hat mir Rai Sarris sonst noch angetan? Es war nicht nur der Körper. Welches neurale Netz hatte der verdammte Irre kurz geschlossen? Früher war ich ge duldig, ich bekam keine heißen Augen, ich habe Leute nicht zusammengeschlagen, sondern nachgedacht, bevor ich etwas tat. Constable Cashin kann gut mit Menschen umgehen, be sonders in Fällen, wo Aggression im Spiel ist. Das hatte Sergeant Willis in Cashins erster Beurteilung ge schrieben und ihm gezeigt, ehe er es wegschickte. »Lass dir das bloß nicht zu Kopf steigen, Jungchen«, sagte er. »Das schreib ich über alle Mädels.« Er drehte sich in seiner Büronische um. »Natürlich hätten sie zu meiner Zeit bei so 'm Bericht gesagt, Scheiße, lass die Memme den Verkehr regeln.« Kendall kam zum Dienst. Sie machte Tee und drehte ihm den Rücken zu, als sie sagte: »Die Sache in Cromarty.« »Ja. Ein gigantischer Schnitzer. Ich bin jetzt beurlaubt. Du hast das Sagen. Der junge Ersatzmann bleibt.« »Wie lange?« »Wer weiß? Bis die Ethikkommission rausfindet, wer Schuld hat. Könnte auf Dauer sein.« »Haben sie auch Bourgoyne auf dem Gewissen?« »Sieht so aus. Sie oder jemand, den sie kennen.« »Na dann: Gut, dass w i r die los sind«, sagte sie. Cashin schaute aus dem Fenster auf den Himmel, hasste Kendall eine Weile; wie schnell sie dumme Dinge sagte. Er sah die Funken, den zerstörten Pick-up, das Blut in den Pfützen. Die verletzten jungen Burschen, deren Leben wegsickerte. Er dachte an seinen Sohn. Er hatte einen Sohn. »Es sieht nur so aus, Ken«, sagte er. »Niemand sollte sterben
müssen, weil wir glauben, er habe vielleicht etwas verbrochen. Diese Macht hat uns keiner verliehen.« Du verdammter Heuchler, dachte er. Kendall ging an ihren Schreibtisch. Er war fertig, nahm die Akten und seine Notizen, ging rü ber und legte alles in ihren Eingangskorb. »So ziemlich auf dem neuesten Stand«, sagte er. Sie sah ihn nicht an. »Tut mir leid, dass ich das gesagt habe, Joe«, sagte sie. »Es ist mir, verdammt, es ist mir einfach so raus gerutscht, eigentlich wollte ich sagen ...« »Ich weiß. Solidarität. Ist ein guter Instinkt. Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst.« Er war schon an der Hintertür, als sie sagte: »Joe, wenn dir nach Gesellschaft ist. Also, wann immer du willst. Ja.« »Ich komme drauf zurück«, sagte er und ging. Er ging rüber ins Dublin. Ein neuer Geländewagen stand vor der Tür, und Leon hatte zwei Gäste, ein Paar in mittleren Jahren beim Frühstück. Über den Rückenlehnen ihrer Stühle hingen weich aussehende Lederjacken. »Schwarz zum Mitnehmen«, sagte Cashin. »Die Überdo sis.« »Entweder setzen Sie sich, oder Sie kriegen einen von diesen Vakuumbechern«, sagte Leon. »Styropor bekommt teurem Kaffee überhaupt nicht.« Cashin hatte kein Interesse. »Ich werd dran denken«, sagte er. Leon ging zur Maschine. »Ihr Muskelmann war gestern da. Sehr attraktiv, aber nicht scharf darauf zu bezahlen. Machte eine lange und vielsagende Pause, ehe er berappt hat.« Cashin sah zur anderen Straßenseite, wo Cecily Addison mit der Frau vom Aromatherapieladen sprach. »Er ist ein Stadt mensch«, sagte er. »Da behandelt man Gesetzeshüter anders. Wie Könige.« »Nachricht erhalten. Roger. Sagt man das bei euch? Roger?«
»Wir sagen Roger, wir sagen Bruce, wir sagen Leon, je nach dem. Von Fall zu Fall.« Leon brachte den Behälter zum Tresen, machte den Deckel drauf. »Bringt ihr Verstärkung mit zur Demo?« »Zur Demo?« »Könnte hässlich werden. Militante Grüne, reiche alte Fürze klappen die Zugbrücke hoch.« »Vielleicht hab ich da was nicht mitgekriegt«, sagte Cashin. Er hatte keine Ahnung, was Leon meinte. »Die Demo gegen Adrian Fyfes Ferienanlage? Wir waren wohl abwesend, oder?« »Ich kann bei den Ereignissen in diesem O r t nicht auf dem Laufenden bleiben. Ständig heißt es los, los, los. Außerdem bin ich im Urlaub.« »Warum probieren Sie's nicht in Noosa, plaudern mit rei chen pensionierten Drogenfahndern? Da oben ist es warm.« »Hab mit den Viktualien in Noosa nichts am Hut«, sagte Cashin. Als er das Wort sagte, sah er die seltsame Schreibweise vor sich. »Hören Sie, wie wär's mit 'nem ganz gewöhnlichen alten gegrillten Sandwich mit Käse und Tomaten?« Leon hob den rechten A r m theatralisch in die Höhe und fuhr sich mit den Fingern über die Stirn, als wische er Schweiß weg. »Vermutlich muss es nicht Feta aus Schafsmilch mit halb getrockneten Bio-Tomaten auf selbst gebackenem Sauerteig brot sein?« »Nein.« »Mal sehen, ob sich ein paar künstlich unter Gas gereifte To maten, ein wenig Käse aus der Mausefalle und ein paar Schei ben papiernes Weißbrot auftreiben lassen.« Cashin kaufte die örtliche Tageszeitung und fuhr nach Open Beach. Ein Surfer allein auf dem weiten, unruhigen Meer. Die Schlagzeile auf Seite drei lautete: ZWEI TOTE BEI VERFOLGUNGSJAGD, ZUSAMMENSTOSS, SCHIESSEREI
Es war zu spät passiert, um es noch in die vorherige Morgen ausgabe zu schaffen. Die drei Jugendlichen waren auf den Fotos viel jünger. Was die Bildunterschriften nicht erwähnten. Und der Reporter kaufte der Polizei nicht ab, dass sie die drei abfan gen wollte. Es sei eine fehlgeschlagene Verfolgungsjagd gewe sen... Luke Ericsen, so schrieb er, »starb offenbar im Kugelha gel«. Das Verhalten von sieben Beamten werde untersucht. Ein anderer Artikel trug die Schlagzeile: CHEF V O N UNITED AUSTRALIA KRITISIERT POLIZEI Bobby Walshe wurde mit den Worten zitiert: Schock und Trauer, das sind meine Gefühle. Luke Ericsen ist der Sohn meiner Schwester, ein intelligenter Junge, alle haben große Hoffnungen in ihn gesetzt. Ich weiß nicht, was genau geschehen ist, doch das ist eigentlich auch nicht wichtig. Zwei Jugendliche sind tot. Das ist eine Tragödie. Und solche Tragö dien hat es viel zu viele gegeben. Das ist ein Problem der Ein stellung unserer Polizei im ganzen Land. Eingeborene Aus tralier sind von vornherein schuldig. Wer braucht schon Gerichte, wenn man die Strafe selbst verhängen kann? Und dass es in Cromarty geschehen ist, überrascht mich gar nicht. Der jetzige Bundesfinanzminister hat die dortige Kultur ver giftet, als er Polizeiminister des Bundesstaats war. Er hat der örtlichen Polizei geholfen zu vertuschen, dass zwei Aborigines in ihren Zellen starben. Ich werde ihn im Wahlkampf an diese skandalöse Begebenheit erinnern. Häufig. Das verspreche ich. Das gegrillte Sandwich war nicht übel. Flach und braun ge brannt, Käse troff heraus, jedenfalls irgendwas Gelbes. Würde Derry Callahan ihn anzeigen? Bin mit 'ner Dose Hundefutter geschlagen worden. Cashin dachte, dass es ihm egal war. Ihn zu schlagen war es allemal wert, sich an den Fin gern zu verletzen. Er hätte ihn auch noch treten sollen, das wäre ein gutes Gefühl gewesen.
Sein Handy klingelte. Es dauerte eine Weile, bis er es fand. »Entspannst du dich?«, sagte Villani. »Bestimmt liegst du in Thermoklamotten am Strand. In gestreiften langen Unter hosen.« »Ich lese Zeitung. Jede Menge gute Nachrichten.« »Ich geb dir gute Nachrichten. Der Typ aus der Pfandleihe hat Pascoe und Donny erkannt.« Der Surfer paddelte auf einer hohen Wasserwand, die offen bar nicht brechen wollte. Dann kräuselte sie sich; er stand auf, ein Aufwallen vor einer Sandbank bewirkte, dass sie in sich zusammenfiel. Er schoss hinten herunter, wurde von seinem Brett mitgezogen. »Ich habe eben mit dem Commissioner gesprochen«, fuhr Villani fort. »Eigentlich er mit mir. Pausenlos. Die Strippen zieher sagen, wir spielen unseren Feinden in die Hände. Damit sind wohl Bobby Walshe und die Medien gemeint. Es werden also nur Lloyd und Steggles suspendiert. Dein Urlaub ist hier mit beendet. U n d Dove kommt wieder zurück, als dein Part ner.« »Und die anderen?« »Preston geht nach Shepparton, Kelly nach Bairnsdale.« »Und Hopgood?« »Behält seine Stelle.« »Man w i l l es also den niederen Diensträngen anhängen?« »Die Entscheidung des Commissioners, Joe. Er hat einen Rat befolgt.« »Das nenne ich Führung. In Sydney, in der Pfandleihe, waren da nur Pascoe und Donny?« »Ericsen hat vermutlich draußen gewartet.« »Was geschieht nun mit Donny?« »Er ist noch im Krankenhaus, zur Beobachtung, ihm fehlt aber nichts, ein paar Abschürfungen, Schnittwunden. Die A n klage wird auf Mordversuch lauten, Vernehmung um zehn, Anwalt anwesend.«
»Wegen der Sache? Tja, tut mir verdammt leid, aber der Fall steht auf tönernen Füßen.« »Wenn wir Glück haben, bekennt er sich schuldig«, sagte Villani. »Wenn nicht, sehen wir weiter. Du wirst schon sehen.« »Ist das die Haltung heute, nach Singo? Man wurstelt sich halt irgendwie durch?« »Das muss so sein, Joe«, sagte Villani mit ausdrucksloser Stimme.
S
ie saßen im Vernehmungsraum und warteten. Seit Cashin nach Port Monro gekommen war, hatte er keinen Anzug mehr getragen. »Es ist mir in ganz kurzer Zeit gelungen, diese Stadt zu has sen«, sagte Dove. Seine Unterarme lagen auf dem Tisch, man sah die Manschetten, silberne Manschettenknöpfe, kleine Bal ken. Er betrachtete seine Hände, die langen Finger hatte er aus gestreckt. »Das Wetter ist nicht toll«, stellte Cashin fest. »Liegt nicht am Wetter. Wetter ist Wetter. Irgendwas stimmt mit dem O r t nicht.« »Großes Kaff auf dem Lande, mehr nicht.« »Nein, es ist kein großes Kaff auf dem Lande. Es ist eine ge schrumpfte Stadt, geschrumpft auf den ganzen Mist, den gan zen Mist ohne die Vorteile. Warum dauert das hier so lange? Seit wann hockt man rum und wartet auf den Gefangenen?« Es klopfte, ein Cop trat ein, gefolgt von dem Jugendlichen, den Cashin auf dem Beifahrersitz des Pick-ups an der Todes kreuzung gesehen hatte; dann kam noch ein Cop. Donny Coulter hatte ein schmales, trauriges Gesicht, eine Stupsnase, die bis zur Oberlippe reichte. Es war das verängstigte Gesicht eines Kindes. Er hatte gerötete Augen, war nervös, leckte sich die Lippen. »Setz dich, Donny.« Es klopfte wieder, die Tür war hinter Cashin. »Kommen Sie rein«, sagte er.
»Helen Castleman, für die Aboriginel-Rechtshilfe. Ich ver trete Donny.« Cashin drehte sich um. Sie wirkte jung, war schlank, die dunklen Haare hatte sie nach hinten gebunden. Sie sahen ei nander an. »Hallo auch«, sagte er. »Lange nicht gesehen.« Sie runzelte die Stirn. »Joe Cashin«, sagte er. »Aus der Schule.« »Aber natürlich«, sagte sie, ohne ein Lächeln. »Na, wenn das keine Überraschung ist.« Sie gaben sich linkisch die Hand. »Das ist Detective Sergeant Dove«, sagte Cashin. Sie nickte Dove zu. »Ich wusste gar nicht, dass Sie hier wohnen«, sagte Cashin. »Ich bin noch nicht lange wieder zurück. U n d Sie?« »Ich bin in Port Monro.« »Verstehe. Also, wer hat hier das Sagen?« »Ich. Sie hatten Gelegenheit, sich mit Ihrem Mandanten unter vier Augen zu besprechen.« »Das stimmt.« »Wollen wir dann anfangen?« »Gern.« Cashin saß Donny gegenüber. Dove schaltete das Aufnah megerät ein und nannte Datum, Uhrzeit, Anwesende. »Du bist Donald Charles Coulter, wohnhaft in der Fräser Street 27, Daunt-Siedlung, Cromarty?« »Ja.« »Donny«, fuhr Cashin fort, »ich werde dir jetzt erzählen, welche Rechte du bei dieser Befragung hast. Ich muss dir mit teilen, dass du nicht verpflichtet bist, irgendetwas zu tun oder zu sagen, dass aber alles, was du sagst oder tust, vor Gericht verwendet werden kann. Verstehst du, was ich gesagt habe?« Donnys Blick war auf den Tisch gerichtet. »Ich wiederhole es«, sagte Cashin. »Du musst meine Fragen nicht beantworten und mir gar nichts sagen. Aber falls du es
tust, dürfen wir dem Gericht erzählen, was du gesagt hast. Ver standen, Donny?« Er sah nicht auf, sondern leckte sich die Lippen. »Ms. Castleman«, sagte Cashin. »Donny«, sagte sie. »Verstehst du, was der Polizist gesagt hat? Weißt du noch, was ich dir gesagt habe? Dass du ihm nichts sagen musst?« Donny sah sie an, nickte. »Würdest du bitte sagen, dass du es verstehst, Donny«, sagte Cashin. »Verstehe.« Er pochte mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. »Ich muss dir außerdem sagen, dass du folgende Rechte hast«, sagte Cashin. »Du darfst mit einem Freund oder mit Verwandten Kontakt aufnehmen oder versuchen, Kontakt aufzunehmen, um der Person deinen Aufenthaltsort mitzutei len. Du darfst mit einem Rechtsbeistand Kontakt aufnehmen oder versuchen, Kontakt aufzunehmen.« »An dieser Stelle«, sagte Helen Castleman, »möchte ich fest stellen, dass mein Mandant diese Rechte in Anspruch genom men hat und bei dieser Befragung keine Fragen mehr beant worten wird.« »Befragung um neun Uhr siebenundvierzig beendet«, sagte Cashin. Dove schaltete das Gerät aus. »Kurz und knackig«, sagte Cashin. »Wären Sie einverstan den, mich mal eben nach draußen zu begleiten, Ms. Castleman?« Sie gingen auf den Flur. »Kautionsverhandlung um zwölf Uhr fünfzehn«, sagte Cashin. »Falls Donny seine Geschichte erzählen würde, gäbe es vielleicht keine Einwände gegen eine Kaution.« Sie hatte verschiedenfarbige Augen, eins war grau, das an dere blau. Dadurch wirkte sie kämpferisch und distanziert zu gleich. Cashin erinnerte sich, dass er noch lange nach seinem
Schulabschluss ihr Gesicht auf dem Foto von der zwölften Klasse betrachtet hatte. »Das kann ich nicht allein entscheiden«, sagte sie. Dove und Cashin gingen die Straße hinunter und holten sich Kaffee in einem Laden, der Aunty Jemimah's hieß. Die Tisch tücher waren kariert, und an den Wänden hingen Peter-HaseBilder. »Alte Schulfreunde«, sagte Dove. »Sie Glückspilz.« »Sie war zu gut für mich«, sagte Cashin. »Alter Geldadel aus Cromarty. Ihr Vater war Arzt. Der Familie hat früher die Zei tung gehört. U n d die Eisfabrik. Sie ist nur deshalb nicht auf ein Internat gegangen, weil sie ihre Pferde nicht allein lassen wollte.« Auf dem Rückweg nahm Dove den Deckel von seinem Be cher und trank einen Schluck. »Meine Güte, was ist das für ein Zeug?«, sagte er. »Etwas von dem ganzen Mist, ohne die Vorteile.« Helen Castleman stand vor dem Revier und sprach in ihr Handy. Sie sah die beiden kommen und ließ sie nicht aus den Augen. Sie waren fast bei der Treppe, als sie sagte: »Detective Cashin.« »Ms. Castleman.« »Donnys Mutter sagt, er sei in der Nacht des Überfalls auf Bourgoyne zu Hause gewesen. Wir sehen uns vor Gericht.« »Ich freue mich drauf,« Cashin ging ins Haus und rief die Vertreterin der Anklage an. »Wir sind strikt gegen Kaution«, sagte er. »Ermittlungen unvollständig. Es besteht eindeutig Gefahr, dass der Beschuldigte Einfluss auf Zeugen nimmt oder das Weite sucht.« Um elf Uhr fünfzehn begaben sich Dove und Cashin zum Eingang des Reviers. »Anruf für Sie«, sagte der Cop bei der Anzeigenaufnahme. »Inspector Villani.« »Funktioniert dein Handy nicht?«, fragte Villani.
»Tut mir leid. Hab's ausgeschaltet.« »Hör zu, der Junge darf auf Kaution raus.« »Warum?« »Weil das der Minister dem Chief Commissioner gesagt hat, der hat's dem Kripo-Commissioner gesagt, und der hat's mir gesagt. Ist 'ne politische Entscheidung. Sie wollen nicht riskie ren, dass sich Donny im Knast auch nur ein Nasenbluten holt.« »Wie es den hohen Herrschaften beliebt.« »Gegen Donnys Antrag auf Kaution wird kein Widerspruch eingelegt«, sagte Cashin zu Dove. »Erbärmlich«, sagte der. »Das ist Kapitulation, so was von erbärmlich.« Der Cop am Eingang wies zur Tür. »Es gibt ein Empfangs komitee. Das Fernsehen.« Cashin erstarrte. Irgendwie hatte er daran nicht gedacht. »Reden Sie mit denen«, sagte er zu Dove. »Sie sind aus der Stadt.« Dove schüttelte den Kopf. »Hat nicht lange gedauert, und schon haben Sie sich in ein Flanellhemd verwandelt, stimmt's?« Sie traten nach draußen, in ein Blitzlichtgewitter und vor die glänzenden schwarzen Augen der Fernsehkameras, wo man ihnen puschlige Mikros an Galgen entgegenstreckte. Wenigs tens ein Dutzend Leute kamen auf sie zu, drängelnd und rem pelnd. »Wie lautet die Anklage gegen Donny Coulter?«, sagte eine schwarz gekleidete Frau, die blonden Haare starr von Spray. »Kein Kommentar«, sagte Dove. »Die Öffentlichkeit wird bald informiert.« Sie schoben sich die Treppe hinunter, und die Kamerateams liefen voran und filmten, wie sie unter einem grauen, dräuen den Himmel die winterliche Straße entlanggingen. Als sie um die Ecke bogen, sahen sie die Menschenmenge vor dem Ge richtsgebäude. »Ms. Castleman hat die Neuigkeit verbreitet«, sagte Dove.
Die Menge teilte sich, räumte ihnen einen schmalen K o r r i dor ein. Seite an Seite gingen sie zwischen den unfreundlichen Gesichtern hindurch, es blieb still, bis sie am oberen Ende der Treppe ankamen. »Ihr Mörder«, sagte ein Mann mit einer umgekrempelten Wollmütze auf dem Kopf, links von Cashin. »Was anderes könnt ihr Wichser nich, nur Kinder umbringen.« »Scheißkerle«, rief eine Frau auf Doves Seite. »Mischlinge.« In der Eingangshalle herrschte Gedränge, der kleine Ge richtssaal war voll. Sie bahnten sich einen Weg zur Anklägerin, einer erfahrenen Beamtin. »Sinneswandel«, sagte Cashin. »Wir erheben keine Einwände gegen Kaution für Coulter.« Sie nickte. »Hab schon gehört.« Sie nahmen ihre Plätze bei der Staatsanwaltschaft ein. Dove sah sich um. »Nur wir beide vertreten die Kräfte von Recht und Gesetz«, stellte er fest. »Wo ist Hopgood, das freundliche Antlitz bürgernaher Polizeiarbeit?« »Wahrscheinlich auf dem Schießplatz, wo er die Ersatzleute für KD und Preston drillt«, sagte Cashin. Dove musterte ihn kurz, die runden Brillengläser blitzten. Helen Castleman traf mit einer älteren Frau ein. Cashin glaubte, eine Ähnlichkeit mit Donny zu erkennen. Um genau zwölf Uhr fünfzehn brachte man Donny aus dem Zellentrakt, der von den Zuschauern wie ein Held empfangen wurde. Außer der Frau neben Helen Castleman sah er nie manden an. Sie lächelte ihm zu, blinzelte, gab sich tapfer. Man forderte das Publikum zunächst auf, ruhig zu sein, dann, sich zu erheben. Der Richter trat ein und nahm Platz. Er hatte ein rundliches, rosa Gesicht, und dank der über seine kahle Kopfhaut gekämmten grauen Haarsträhnen sah er aus wie ein Kind, das an einer Krankheit litt, die es vorzeitig altern ließ. Die Anklägerin identifizierte Donny und sagte, die Anklage laute auf versuchten Mord. Wieder musste man das Publikum zum Schweigen bringen.
»Hier ist offensichtlich eine Vorverhandlung angebracht, Euer Ehren«, sagte sie, »dennoch haben wir keine Einwände gegen die Festsetzung einer Kaution.« Der Richter sah Helen Castleman an und nickte. Sie stand auf. »Helen Castleman, Euer Ehren. Ich vertrete Mr. Coulter und möchte um Festsetzung einer Kaution ersu chen. Mein Mandant hat keine Vorstrafen, Euer Ehren. Er wurde unter den tragischsten Umständen festgenommen, die man sich nur vorstellen kann. Vor wenigen Tagen musste er miterleben, wie sein Cousin und ein guter Freund bei einem Zwischenfall starben, an dem die Polizei beteiligt war...« Beifall aus der Galerie, ein paar Rufe. Wieder musste der Ge richtsdiener für Ruhe sorgen. »Vor diesem Gericht, Ms. Castleman«, sagte der Richter, ein Baby mit schroffer Stimme, »empfiehlt es sich nicht, auf billige Stimmungsmache zu setzen.« Helen Castleman senkte den Kopf. »Das war nicht meine Absicht, Euer Ehren. Mein Mandant ist nur ein unschuldiger junger Mann, ein Opfer der Umstände. Er ist durch die Ereig nisse traumatisiert und sollte unbedingt zu Hause bei seiner Familie sein. Er wird allen Anordnungen Folge leisten, die das Gericht ihm auferlegt. Danke sehr, Euer Ehren.« Der Richter runzelte die Stirn. »Kaution w i r d gewährt«, sagte er. »Der Beschuldigte darf seinen Wohnsitz zwischen neun Uhr abends und sechs Uhr morgens nicht verlassen und muss sich täglich bei der Polizei in Cromarty melden.« Erneut Beifall, Rufe, noch einmal wurde das Publikum zum Schweigen gebracht. Cashin sah Helen Castleman an. Sie hielt den Kopf schräg, schenkte ihm ein angedeutetes Lächeln, die Lippen leicht ge öffnet. Cashin kam sich vor wie der pubertierende Junge von damals, voller Lust und voller Verwunderung darüber, dass ein so schönes und kluges, reiches Mädchen ihn geküsst hatte.
S
ie gingen an Helen Castleman vorbei, die auf der Treppe des Gerichts interviewt wurde, und die Fernsehteams hol ten sie ein, ehe sie das Revier erreichten. Dove weigerte sich, Fragen zu beantworten. »Es w i r d ein Raum zur Verfügung gestellt, Chef«, sagte der Cop an der Anzeigenaufnahme zu Cashin. »Treppe rauf, links, letzte Tür rechter Hand.« Als sie dort ankamen, sah Dove sich kopfschüttelnd um. »Zur Verfügung gestellt?«, sagte er. »Sie schließen die ScheißRumpelkammer auf, und das nennen sie >einen Raum zur Ver fügung stellen« Zusammengeschobene Tische, zwei Computer, vier alters schwache Stühle, stapelweise alte Zeitungen, Papierreste, alte Pizzakartons, Hamburgerpackungen, Styroporbecher, Plas tiklöffel, Filzschreiber ohne Kappe, zerdrückte Getränkedo sen. »Sieht aus wie ein richtig mieses Wohnzimmer in 'ner Kunst studenten-WG«, sagte Dove. »Ekelhaft.« Er ging zu einem Fenster, entriegelte es, versuchte vergeblich, die untere Hälfte hochzuschieben, schlug mit beiden Fäusten gegen die Seiten des Rahmens, versuchte es erneut. An seinem Hals traten Seh nenstränge hervor. Das Fenster rührte sich nicht. »Scheiße«, sagte er. »Ich krieg hier keine Luft.« »Brauchen Sie Asthmaspray?« Das war provokativ, funktionierte aber. »Verdammt, ich hab kein Scheiß-Asthma«, sagte Dove. »Ich habe ein Problem mit
Atemluft, die schon zehntausendmal durch Leute mit schlech ten Zähnen, kaputten Mandeln und Verstopfung zirkuliert ist.« »War nicht böse gemeint. Manche Leute haben halt Asthma.« Cashin setzte sich. Er musste mit Dove leben. Dove zog einen Stuhl vor, setzte sich, die blank geputzten schwarzen Schuhe auf dem Schreibtisch. Die Sohlen kaum ab getreten, der Spann leuchtend gelb und makellos. »Tja, nun«, sagte er, »ich habe aber kein Asthma.« »Gut zu wissen. Vermutlich w i l l die Verteidigung erreichen, dass die Bourgoyne-Geschichte in erster Linie Luke Ericsen angehängt wird. Luke ist tot, ihn stört das nicht mehr.« »Falls Donny dabei war, ist er mitschuldig.« »Der Beweis, dass Donny in Bourgoynes Haus war«, sagte Cashin. »Eine echte Herausforderung. Und falls wir den fin den, heißt es dann, sein älterer Cousin habe ihn mitgeschleppt, er sei gar nicht beteiligt gewesen, so was in der Art.« Ein Knall, Cashin schreckte auf. Die mit maroden Halteschnüren bestückte obere Hälfte des von Dove entriegelten Schiebefensters hatte gewartet, war dann gefallen. Die großen Scheiben vibrierten, brachten die Welt da draußen zum Wa ckeln. Kalte Luft kam herein, das Meer - salzig, sexuell. »Schon besser«, sagte Dove. »Viel besser. Zeitversetzte Re aktion. Zigarette?« »Nein danke. Ich kämpfe ständig dagegen an.« Dove zündete sich eine an, rutschte mit dem Stuhl hin und her. »Ich bin zwar neu im Geschäft, aber wenn man nicht nachweisen kann, dass Donny im Haus war, hat man nichts in der Hand, außer dass er mit Luke in Sydney war, wo sie ver sucht haben, Bourgoynes Uhr zu verkaufen. Eine halbwegs stichhaltige Geschichte, die besagt, wo er in dieser Nacht war, beispielsweise zugedeckt in seinem Bettchen, und er kommt frei.« »Das w i r d er wohl auch. So funktioniert das System.«
Dove musterte ihn kurz aus schmalen Augen. »Diese Klug scheißer, die freikommen. Man sieht, wie sie ihre Kumpels an gucken, ein kurzes hämisches Grinsen. Draußen klatschen sie sich ab. War das leicht oder was? Dämliche Scheiß-Cops, wir machen's wieder.« Pause. »Was sagt Villani, Ihr Kumpel?« Cashin verspürte den intensiven Drang, Dove einen zu ver passen. Er wartete. »Inspector Villani sagt gar nichts«, antwor tete er. »Die Anwältin sagt, Donnys A l i b i stammt von dessen M u m . Vielleicht w i r d es von anderen bestätigt.« Dove legte den Kopf in den Nacken. »Manche Frauen sind mir unbegreiflich. Ihr ganzes Leben lang schwindeln sie für Männer - den Vater, den Mann, die Söhne. Als wäre das die ge heiligte Pflicht einer Frau. Ganz gleich, was die Dreckskerle ausgefressen haben. Mein Dad schlägt meine M u m - und wenn schon, mein Manne hat die Babysitterin gevögelt - und wenn schon, mein Sohn vergewaltigt Halbwüchsige - und wenn schon, er ist schließlich immer noch mein...« »Wir habe keinerlei Beweis dafür, dass Donny an jenem Abend da war«, sagte Cashin. »Egal, ist auch rein akademisch«, sagte Dove. »Hopgood hat Recht. Bobby Walshe hat dafür gesorgt, dass sie in dieser A n gelegenheit den Schwanz einziehen. Erst kommt die Kaution, als Nächstes lassen sie die Anklage fallen.« »Am besten erzählen Sie das Hopgood. Er w i r d Sie in sei nem Team in Cromarty haben wollen. Sie würden einen prima Pressesprecher abgeben.« Dove rauchte schweigend weiter, den Blick immer noch auf die Decke gerichtet. Dann sagte er: »Ich als Schwarzer sollte mit diesen Burschen aus der Daunt-Siedlung Mitgefühl haben. Wollen Sie das damit andeuten?« A u f dem Fensterbrett saß eine Möwe - die kalten Augen, der Kopf in der Mauser, das erinnerte Cashin an jemanden. »Man sollte unvoreingenommen bleiben, bis überzeugende Beweise vorliegen.«
»Klar, Chef. Ich bleibe unvoreingenommen. Und in der Zwischenzeit muss ich im Whaleboners' Motel wohnen.« »Im Whalers' Inn.« »Oder so.« Dove sah Cashin an, Zigarette im Mund. »Sagen Sie's mir einfach«, bat er. »Ich finde mich mit der Realität ab. Ich lese halt ein Buch, bis es Zeit wird, nach Hause zu fahren.« »Der Auftrag lautet, gegen Donny und Luke Beweismate rial zusammenzutragen«, sagte Cashin. »Andere Anweisungen habe ich nicht.« »Ich rede nicht von Anweisungen.« Der durchgesessene Stuhl war Gift für Cashins schmerzen den Rücken, seine Laune. Er stand auf, zog seine Jacke aus, breitete eine alte Zeitung auf dem Boden aus, legte sich hin, die Beine auf einen Stuhl, versuchte, eine Z-Haltung einzuneh men. »Was soll das?«, fragte Dove beunruhigt. »Warum machen Sie das?« Cashin konnte ihn nicht sehen. »Ich bin Bodenbrüter. Wir müssen herausfinden, was wir bei Donnys M u m erreichen können.« Dove tauchte in seinem Blickfeld auf. »Wieso das denn?« »Wenn sie dem Jungen zuliebe lügt, macht sie sich Sorgen. Sie wissen nicht, was wir in der Hand haben. Wenn wir Donny dazu brächten, sich für irgendwas schuldig zu bekennen, wäre das ein gutes Ergebnis.« Cashin hörte, wie die Tür aufging. »Nur Sie, Sonnenschein?«, sagte Hopgood. »Wo ist Cashin?« Dove sah nach unten. Hopgood kam um den Tisch und musterte Cashin, als wäre der ein überfahrenes Tier. »Was soll die Scheiße?«, sagte er. »Sie haben uns im Gericht gefehlt«, sagte Cashin. Hopgoods Kinn reckte sich nach oben. Cashin sah die Na senhaare. »Is nicht meine Sache, verdammt.« »Wir müssen mit Donnys M u m reden.«
»Sie wollen wohl rüber in die Daunt?« Cashin war von der Vorstellung nicht gerade begeistert. »Wenn es sein muss. Kann mir nicht denken, dass sie hier auf taucht.« »Na, das ist Ihre Sache«, sagte Hopgood. »Verschonen Sie uns damit.« »Ich muss mit dem Verbindungsmann für Aborigine-Ange legenheiten sprechen.« »Fragen Sie beim Dienst habenden Sergeant, wo der sich zur Zeit rumtreibt.« Ein Telefon klingelte. Dove nahm einen Hörer ab, den fal schen, probierte es mit einem anderen. »Dove«, sagte er. »Gut, Chef, ja. Lief alles gut, ja. Ich geb Sie weiter.« Er hielt Cashin den Hörer hin. »Inspector Villani«, sagte er teilnahmslos. Cashin streckte die Hand hoch. »Oberfehlshaber«, sagte er. »Joe, wir legen eine Abkühlungsphase ein«, sagte Villani. »Das heißt?« »Wir warten, bis die Lage sich beruhigt. Ich habe gestern die Menschenmenge vor eurem Gericht gesehen, unsere Freunde vom Fernsehen haben uns die Bilder in den Abendnachrichten gezeigt. Die Devise lautet, dass keine derartigen Turbulenzen mehr erwünscht sind.« »Wer hat das gesagt?« »Ich kann dir verraten, dass ich nicht den Typ von der Tank stelle zitiere.« »Der Junge wurde unter Anklage gestellt, obwohl man fast nichts in der Hand hat. U n d jetzt sagst du, wir sollen weder versuchen, stichhaltige Beweise zu finden, noch, ihm ein Ge ständnis zu entlocken?« »Es darf nichts unternommen werden, was die Lage aufhei zen könnte.« »Das ist ein politischer Befehl, stimmt's?«
Villani atmete aus, es klang wie ein Pfeifen. »Joe, begreifst du nicht, dass es die Sicht der Vernunft ist?«, sagte er dann. Cashin spürte, dass Dove und Hopgood ihn ansahen, einen Mann, der auf dem Boden lag und telefonierte, die Waden auf einem Stuhl. »Ich möchte dazu eins sagen, Chef«, sagte er, »nämlich dass wir hier eine kurze Zeitspanne haben, in der wir womöglich etwas losbrechen können. Wenn wir die verstreichen lassen, brauchen wir später 'n Presslufthammer.« Schweigen. Cashin konzentrierte sich auf die Zimmerdecke, gelb, un eben und fleckig wie der Handrücken eines alten Menschen. »Das ist meine Sicht der Vernunft«, sagte er. »Mach daraus, was du willst.« Schweigen. »Daraus mache ich, Joe«, sagte Villani, »dass es in deinen Augen damals der Vernunft entsprach, Shane Diab im Wagen vor Rai Sarris' Haus warten zu lassen.« Cashin spürte, wie das eisige Messer sich in sein Inneres bohrte. »Um fortzufahren«, sagte er, »wie lange dauert so eine Abkühlungsphase? N u r ein Beispiel.« »Keine Ahnung, Joe, eine Woche, zehn Tage, noch länger.« Villani sprach langsam, wie mit einem begriffsstutzigen Kind. »Da müssen wir uns auf unser Urteilsvermögen verlassen.« »Verstehe. Manche von uns werden sich auf ihr Urteilsver mögen verlassen.« Cashin sah Dove an. »Wo wir gerade dabei sind, was macht Paul Dove?« »Ich brauche ihn eine Zeit lang wieder hier. Ich möchte, dass du dir eine Weile frei nimmst. Kriegst du das hin?« »Ist das wieder eine Suspendierung, Chef?« »Sei kein Arsch, Joe. Ich ruf dich später wieder an. Gib mir Dove.« Cashin reichte Dove den Hörer. »Was sagt er?«, wollte Hopgood wissen.
»Er sagt, wir legen bei Donny eine Abkühlungsphase ein.« »Ach ja?«, sagte Hopgood, etwas wie ein hämisches Grinsen in der Stimme, auf den Lippen. »Dann brauchen Sie ja dieses gemütliche Büro hier nicht.« Bei Nieselregen gingen Dove und Cashin ins Regent, holten sich an der Bar ein Bier und setzten sich in das schummerig be leuchtete, nach Bratfett riechende Bistro, die einzigen Gäste. Dove las die eingeschweißte Speisekarte, fuhr mit dem Fin ger über die Liste. »Zwölf Hauptgerichte«, sagte er. »Dafür braucht man min destens drei Personen als Küchenpersonal.« »In der Stadt«, sagte Cashin. »Drei Faulenzer. Hier reicht uns eine fachkundige junge Frau.« »Ein Steak-Sandwich«, sagte Dove. »Was können sie da schon kaputt machen? Wie übel können sie das zurichten?« »Sie stellen sich jeder Herausforderung.« Aus einer Hintertür kam eine verhärmte Frau in einem grü nen Overall, stand mit einem Notizblock vor ihnen und saugte an den Zähnen, was klang, als flösse das letzte Spülwasser durch einen verstopften Abfluss. »Zwei Steak-Sandwiches, bitte«, sagte Cashin. »Nur in der Bar«, sagte sie und stierte die Wand an. »Hier keine belegten Brote. Hier die Bistro-Speisekarte.« »Cops«, sagte Cashin. »Brauchen ein wenig Privatsphäre.« Sie sah nach unten und lächelte ihn an, mit schiefen Zähnen. »Tja, also, das geht dann in Ordnung. Kenne hier alle Cops. Sind Sie denn wegen der Bourgoyne-Sache hier?« »Wir dürfen nicht darüber reden. Dienstgeheimnis.« »Schwarze Mistkerle«, sagte sie. »Zwei weniger, warum bombardiert ihr sie nicht alle? Bombardiert die Siedlung. Wie Bagdad.« »Könnten Sie das Fett abschneiden?«, sagte Dove. »Das wäre wirklich nett.« »Sie mögen kein Fett? Geht klar.«
»Und ein paar Tomatenscheiben?« »Auf 'nem Steak-Sandwich?« »Bimbos mögen das«, sagte Dove. An der Küchentür drehte sie sich um und warf einen Blick auf Dove. Cashin bemerkte die Unsicherheit in ihren Augen. Er sah sie trotz des schummrigen Lichts. »Eine attraktive Frau«, sagte Dove. »Hier in der Gegend leben so viele attraktive Menschen, was bestimmt mit dem wei ßen Genpool zusammenhängt.« Er sah sich um. »So was wie neulich nachts, belastet Sie das? Belastet es Sie immer noch? Hat es Sie je belastet?« »Was glauben Sie?« »Na ja, man wird aus Ihnen nicht so recht schlau. Außer als Sie sich auf den Boden gelegt haben, durch so was bekommt man einen tiefen Einblick in die Seele.« Cashin überlegte, ob er ihm von den Träumen erzählen sollte. »Es macht mir zu schaffen.« »Dass der Junge erschossen wurde.« »Was soll man machen, wenn man beschossen wird?« »Ich wüsste gern«, sagte Dove, »ob der Junge zuerst ge schossen hat. Haben Sie ihnen das erzählt?« Cashin wollte nicht darauf antworten, wollte über diese Frage nicht nachdenken. »Sie werden erfahren, was ich ihnen erzählt habe, wenn wir vor dem Untersuchungsrichter ste hen.« »Ist Ihnen schon mal der Gedanke gekommen, dass man uns reingelegt hat? Hopgood steckt uns zusammen in einen maro den Wagen und behauptet, unsere Funksprüche nicht gehört zu haben.« »Warum sollte er das tun?« »Damit man mit ihm und seinen Jungs ein wenig nachsich tiger ist, falls etwas schiefgehen sollte.« »Ist vielleicht ein wenig zu weitblickend für Hopgood. Fehlt Ihnen die Bundespolizei?«
Dove schüttelte mitleidig den Kopf. Sie machten noch etwas Smalltalk, die Sandwiches wurden gebracht, die Frau küm merte sich besonders um Cashin. »Könnte das ein Walsteak sein?«, sagte Dove nach intensi vem Kaueinsatz. »Vermutlich w i r d das Walfangverbot hier nicht eingehalten.« Auf dem Rückweg bei Nieselregen und Wind sagte Dove: »Abkühlungsphase - am Arsch. Die Sache ist in der Kühltruhe gelandet, und da bleibt sie auch. Immerhin komme ich jetzt aus der verfluchten Whaleboners' Tavern raus.« »Whalers' Inn«, sagte Cashin. »Aus dem auch.« A u f der Treppe zum Polizeirevier hielt Dove ihm die Hand hin. »Hab das starke Gefühl, dass ich nicht wiederkomme. Der Ort wird mir furchtbar fehlen.« »Das Walsteak war ja so gut, und Miss Piggys Kaffee erst.« »Aunty Jemimahs Kaffee.« »Ihr Bundesbullen seid doch bestens ausgebildete Beobach ter«, sagte Cashin. »Bis bald.«
D
ebbie Doogue saß am Küchentisch, von Schulbüchern um
geben, vor sich einen Becher Tee mit Milch, Kekse, im
Fernsehen lief eine Zeichentrickserie. Im Zimmer war es
warm, in der Ecke glühte ein Holzofen.
»Hier lässt sich's aushalten«, sagte Cashin.
»Willste Tee?«, sagte sie.
Sie war eine blasse Rotblonde, angedeutete Sommerspros
sen, die Haare zurückgekämmt. Sie sah älter aus als vierzehn.
»Nein danke«, sagte Cashin. »Bin mit Tee abgefüllt. Was
macht die Schule?« Eine absurde Frage für einen Teenager.
»Okay. Ganz gut. Zu viel Hausaufgaben.« Sie rutschte auf
dem Stuhl herum. »Dad ist im Schuppen.«
Cashin ging zur Spüle, wischte ein Guckloch in die beschla
gene Fensterscheibe. Er sah, wie der Regen die Pfützen im zer
furchten Schlamm zwischen Haus und Schuppen mit klei
nen Spritzern überzog. Bern lud irgendwas auf den Pick-up,
stieß es mit beiden Händen hinein. Er hatte eine Zigarette im
Mund.
»Er macht sich Sorgen wegen des Zeugs, das deine M u m ge
funden hat«, sagte Cashin und drehte sich um, lehnte sich ge
gen die Spüle.
Debbie hielt den Kopf gesenkt, gab vor zu lesen. »Tja, er
musste mich also verpetzen, stimmt's?«
»Was gab's da zu verpetzen? Ich dachte, es war nicht deins?«
Sie sah auf, mit ihren blassblauen doogueschen Augen.
»Hab nicht mal gewusst, was es war. Sie hat mir einfach 'ne
Schachtel gegeben und gesagt, heb das mal für mich auf. Das ist alles.« »Was dachtest du denn, was es war?« »Hab nicht drüber nachgedacht.« »Mach mal 'n Punkt, Debbie. So alt bin ich nun auch wieder nicht.« Sie zuckte die Schultern. »Ich steh nich auf Drogen, w i l l ich nichts mit zu tun haben.« »Aber deine Freundinnen schon? Hab ich Recht?« »Ich soll meine Freundinnen verpetzen? Kommt nicht in Frage.« Cashin ging rüber, zog einen Stuhl hervor und setzte sich an den Tisch. »Debbie, mir ist scheißegal, ob deine Freundinnen Drogen nehmen, ich würd nicht mal die Straße überqueren, um sie zu schnappen. Aber dich w i l l ich nicht in irgendeiner Gasse in der Stadt tot rumliegen sehen.« Ihre Wangen bekamen ein wenig Farbe, sie sah nach unten auf ihren Notizblock. »Na ja, also, ich bin nicht...« »Debbie, kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?« Unsicheres Kopfwackeln. »Ich würde es dir nicht verraten, wenn wir nicht verwandt wären.« »Ah, na klar, ja.« »Behältst du es für dich?« »Klar.« »Versprochen?« »Klar.« Die Tür zum Wohnzimmer flog auf, und zwei kleine Jungs erschienen, schubsten sich gegenseitig und kämpften darum, wer es als Erster in die Küche schaffte. Debbie drehte den Kopf. »Rausmiteuch, ihr Maden!« Die Augen in den runden Jungengesichtern aufgesperrt, die Münder weit offen, man sah die Zähnchen. »Wir haben H u n ger«, sagte der Linke.
»Raus! Raus! Raus!« Die Jungs gingen wie an einer Schnur gezogen rückwärts, machten die Tür vor den eigenen Nasen zu. Debbie sagte: »Ich versprech's.« Cashin beugte sich über den Tisch und sagte leise: »Einige der Leute, die deinen Freundinnen Stoff verkaufen, sind ver deckte Ermittler.« »Ja?« »Verstehst du, was das heißt?« »So was wie Geheimagenten.« »Genau. Die Rauschgiftcops kennen also alle Namen. Wenn deine Freundin Stoff gekauft hat, steht ihr Name auf der Liste.« »Meine Freundin nicht, ihr Freund. Ich kenn nicht mal sei nen Namen.« »Das ist gut. Besser, wenn du ihn nicht kennst.« »Was machen sie denn mit den Namen?« »Die könnten sie der Schule oder den Eltern nennen. Sie könnten Hausdurchsuchungen vornehmen. Wenn du auf der Liste wärst, könnten sie jederzeit bei euch anklopfen.« Cashin erhob sich. »Tja, ich muss los. Ich wollte es dir er zählen, weil du zur Familie gehörst und ich nicht will, dass dir etwas Schlimmes zustößt. Oder deiner M u m und deinem Dad.« An der Tür hörte er, wie ihr Stuhl über den Boden schramm te. »Joe.« Er sah sich um. Debbie stand da, die Arme um den Oberkörper geschlun gen, und sah aus wie eine Sechsjährige. »Hab Angst, Joe.« »Wieso das denn?« »Ich hab den Stoff gekauft. Für meinen Freund.« »Also keine Freundin?« Widerwillig. »Nein. Einen Jungen.«
»Von einem Piggott?« »Ja.« »Welchem?« »Muss ich das sagen?« »Ich tu ihm nichts. Ist nicht mein Arbeitsgebiet.« »Billy.« »Nimmst du das Zeug?« »Nein. Na ja, hab's das eine Mal probiert, gefiel mir nicht.« Er sah nach unten, schaute ihr in die Augen, wartete. »Rauchst du?« »Nein. Mag ich auch nicht.« Draußen wurde eine Motorsäge angeworfen, dröhnte los, traf auf etwas Hartes, ein wüstes Aufjaulen. »Das werden sie doch nicht tun, oder?«, sagte sie. »Mich verpetzen? Hierherkommen?« »Liegt außerhalb meiner Kontrolle«, sagte Cashin. »Ver mutlich kann ich mit ihnen reden. Was könnte ich ihnen deiner Meinung nach erzählen?« Sie nannte ihm ein paar Dinge, die er erzählen könnte. Cashin ging raus in den Schuppen, der Matsch heftete sich an seine Fersen. Im hinteren Bereich, im Halbdunkel, hockte Bern und bearbeitete eine alte Anrichte mit einem Lötbrenner. Farbschichten wurden unter der blauen Flamme schwarz und warfen Blasen. Es roch nach verkohlendem Holz und irgend was Metallischem. »Ich rieche Blei«, sagte Cashin. »Du verbrennst gerade Blei farbe.« Bern drehte den Brenner ab, stand auf. An seinen Bartstop peln klebten Farbflocken. »Und?«, sagte er. »Das Zeug ist giftig. Kann einen umbringen.« Bern legte den Brenner auf den Schrank. »Na klar, alles kann einen umbringen. Wie habt ihr Penner es geschafft, die jungen Burschen umzubringen?« »Unfall«, sagte Cashin. »War nicht beabsichtigt.«
»Dieser Corey Pascoe. Der war mal in Sams Klasse. Von A n fang an auf Scheiße gepolt.« »Also ein wenig wie Sam.« »Sam ist kein übler Kerl. Ist vom rechten Weg abgebracht worden. Hast du mit Debbie gesprochen?« »Hab ihr 'ne Botschaft zukommen lassen, ja.« »Was hat sie gesagt?« »Offenbar hat sie's begriffen.« Bern nickte. »Na, Scheiße, man kann's nur hoffen. Ich würde mich ja bedanken, hab dir aber das Holz gegeben. Heute vorbeigebracht. Da ist ein Typ, hilfsbereit.« »Dave Rebb. Er w i r d mir beim Haus helfen.« »Ach ja? Wo hast du ihn gefunden?« »In 'nem Schuppen drüben in Beckett. Bei Mrs. Haig. Ein Landstreicher.« Bern schüttelte den Kopf, strich sich über die Stoppeln am Kinn, fand die Farbflocken und betrachtete sie. »Das Problem mit Landstreichern ist«, sagte er, »dass sie keine besonders guten Arbeiter sind.« »Wir werden sehen. Er hat Den Millane geholfen, gab bisher keine Klagen.« »Hab ihn irgendwo mal gesehen, schätz ich. Ist lange her.« Sie gingen zum Wagen. Cashin stieg ein, ließ die Scheibe runter. Bern legte die dreckigen Hände auf den Fensterrahmen, sah ihn vielsagend an. »Hab gehört, jemand hätte diesen Wichser Derry Callahan vermöbelt«, sagte er. »Und noch 'ne Dose Hundefutter ge klaut. Ermittelt ihr in der Sache?« Cashin runzelte die Stirn. »Tatsächlich? Meines Wissens ist keine Anzeige eingegangen. Doch falls das passiert, ziehen wir alle Register. Großfahndung. Häuser durchkämmen.« »Zeig mir deine Hand.« »Zeig mir deinen Pimmel.« »Mach schon. Hast du was zu verbergen?«
»Leck mich.« Bern lachte zufrieden, boxte Cashin auf den Oberarm. »Du scheiß-brutaler Drecksack.« Auf der Heimfahrt, das letzte Licht eine Scheibe Zitronen torte, befand Cashin, seine Lügen gegenüber Debbie würden dafür sorgen, dass sie etwa ein halbes Jahr lang sauber blieb, höchstens. Dennoch, ein halbes Jahr war eine lange Zeit. Meist war die Wirkung seiner Lügen viel kurzlebiger.
A
us für Cashin unverständlichen Gründen wollte Kendall i Rogers, dass er sich an der Beaufsichtigung der Demo be teiligte. »Ich bin außer Dienst«, sagte er. »Nur für etwa eine Stunde.« »Es passiert schon nichts. Wir sind in Port Monro.« Das hätte er nicht sagen sollen. »Es wäre wirklich sehr nett von dir«, sagte sie, ohne ihn da bei richtig anzusehen. »Du würdest mir damit einen Gefallen tun.« »Einen Gefallen, sag's doch gleich. Eine Hand wäscht die andere.« Die Demonstranten versammelten sich vor dem Postamt an der Hauptstraße. Kendall hielt sich an Cashins Ende auf, in Höhe der Moorhouse Street. Carl Wexler regelte den Verkehr an der Kreuzung Wallace Street, keine sehr anstrengende Auf gabe um elf Uhr vormittags, im Winter, in Port Monro. Er machte eine richtige Show daraus, mit den eingeübten Armbe wegungen einer Flugbegleiterin, die auf die Notausgänge hin wies. Cashin fiel es leicht, die Zugezogenen zu entdecken, die zu hohen Preisen Grund und Boden in Port erworben hatten und jetzt wollten, dass man die Zugbrücke hochklappte. Sie hatten gepflegte Frisuren und trugen teure Outdoor-Kleidung und Lederschuhe. Zum angekündigten Beginn des Demonstrationszugs mus terte der dicke Fotograf des Cromarty Herald mit trauriger
Miene die Menge, etwa dreißig Leute, die Hälfte davon Frauen. Die Grundschule bog um die Ecke, allesamt in Regen klamotten, ein buntes Krokodil, angeführt von dem Direktor, einem mageren Mann mit Halbglatze, einen Jungen und ein Mädchen an den Händen. Die Kinder trugen beschriftete und an Latten geheftete weiße Pappschilder, zweifellos das Ergeb nis eines ganzen Vormittags im Kunstunterricht: FINGER WEG V O N UNSERER M Ü N D U N G
VERSCHANDELT UNSERE STRÄNDE N I C H T
NATUR IST FÜR ALLE DA, N I C H T NUR FÜR REICHE
Drei Cashin bekannte Mitglieder des Gemeinderats trafen ein. Der Reporter des Herald stieg aus seinem Wagen und gab dem Fotografen ein Zeichen, woraufhin der gemächlich aktiv wurde. Dann stauten sich zwei Kleinbusse an Carls Ende der Straße. M i t großen Gesten dirigierte er sie um. Ein oder zwei Minuten später kamen die Businsassen zu Fuß zurück, in einer Gruppe - etwa dreißig Personen jedes Alters, von fünfzehn Jahren aufwärts. Auf der einen Seite ging Helen Castleman und sprach in ein Handy. Sie steckte es weg, kam an Cashin vorbei und nickte ihm zu. »Guten Tag, Detective Cashin.« »Guten Tag, Ms. Castleman.« Cashin beobachtete, wie sie sich mit Sue Kinnock unterhielt, der Organisatorin dieser Demo, einer Arztfrau. Sie war auf der Wache erschienen, um die Genehmigung des Bezirks für die Demo vorzuzeigen. »Wir sammeln uns am Postamt, marschie ren die Moorhouse Street hinunter, überqueren Wallace, bie gen rechts in die Enright ab, dann links in den Park«, hatte sie gesagt. Im Sonnenschein sah man den blassgelben Flaum auf ihren Wangen. Sie hatte große Zähne und redete kurz und knapp. Für Cashin war sie die Tommy-Krankenschwester, die sich
den Aussie-Doktor gekrallt hatte, zum Neid ihrer besser aus sehenden Kolleginnen. Sie kam mit Helen Castleman zu ihm. »Meines Wissens kennen Sie sich, Detective. Helen ist die Vorsitzende von W i l d Coast Australia für Cromarty.« »Ms. Castleman ist ein Mensch mit mannigfaltigen Interes sen«, sagte Cashin. »Genau wie Sie, Detective. Eben noch sind Sie beim M o r d dezernat, im nächsten Moment überwachen Sie eine Men schenansammlung. « »Multiskilling. Heutzutage beschäftigen wir uns mit allem. Wie geht's Donny?« »Nicht gut. Seine M u m macht sich Sorgen um ihn. Wie läuft Ihre Ermittlungsarbeit?« »Sie schreitet voran. Was diese Demo auch tun sollte.« »Der Helikopter von Kanal 9 ist unterwegs, sie bringen Bobby Walshe mit. Wenn Sie einverstanden sind, warten wir noch auf sie.« »Ich habe nichts gegen eine angemessene Wartezeit«, sagte Cashin. »Was ist angemessen?« »Eine Viertelstunde? Sie landen im Naturschutzgebiet.« »Das lässt sich einrichten.« Helen Castleman ging hinüber und half einem jungen Mann in einer WildCoast-Windjacke, die Demonstranten aufzustel len: Kinder vorneweg, die anderen in Fünferreihen. Sie trat ein paar Schritte zurück, sah sich das Ganze an und ging dann zu dem Schuldirektor. Sie unterhielten sich. Er wirkte nicht besonders glücklich, war aber mit irgendwas einverstanden. Helen wählte sechs Kinder und acht der ältesten Einheimi schen aus. Sie wurden in zwei Reihen aufgestellt, jeweils vier Erwachsene und drei Kinder, und hielten sich an den Händen. Dann kamen das Schulkrokodil und die anderen Demonstran ten. Als alles fertig war, ging Helen zu Sue Kinnock. Sue hob ihre
Flüstertüte. »In ein paar Minuten geht's los. Habt bitte Ge duld.« Oben ratterte ein Hubschrauber, ging hinter einer Reihe Pi nien nieder. Bald darauf trafen die Insassen in einem der Klein busse ein. Carl winkte sie durch. Sie hielten vor der Bücherei. Als die Tür aufging, stieg Bobby Walshe aus, gefolgt von einem jungen Mann in einem dunklen Anzug. Cashin sah, wie eine Frau auf dem Vordersitz den Rückspiegel so drehte, dass sie noch mal die Lippen nachziehen konnte. Bobby Walshe trug Freizeitkleidung: ein hellblaues Hemd mit offenem Kragen, dunkelblaues Sakko. Er küsste Helen Castleman, kannte sie, das sah man daran, wie sie lachten, wie seine Hände eine Weile auf ihren Armen lagen. Cashin war ei fersüchtig, schüttelte das Gefühl ab. »Also, Leute«, sagte Sue Kinnock, verstärkt von ihrer Flüs tertüte. »Tut mir leid, dass ihr warten musstet. Hoch mit den Transparenten. Danke sehr. U n d auf die Plätze, fertig, los.« Cashin sah auf die andere Straßenseite. Dort hielt Cecily Addison Leon einen Vortrag. Leon begegnete Cashins Blick, nickte ihm wissend zu. Das säuerliche Paar aus dem Zeitschrif tenladen stand mit hängenden Mundwinkeln im Eingang sei nes Geschäfts. Bruce vom Videoladen mit seinem dreifachen Bypass stand neben Meryl, der Verkäuferin von gesättigten Fettsäuren, Besitzerin des Fish-und-Chips-Imbiss. Neben dem Fahrradständer am Bordstein froren drei junge Frauen in gel ben T-Shirts, die Winterbelegschaft von Sandras Café, und strit ten sich. Die Frau mit der Punkfrisur und den Nasenringen legte sich mit den zwei anderen an. Vor dem Supa-Valu-Supermarkt standen sieben oder acht Leute in Anoraks, Jogginganzügen. Ein alter Mann in einem Re genmantel hatte sich eine Wollmütze über die Ohren gezogen. Cashin ging den Bürgersteig entlang. »Wusste gar nicht, dass wir hier so viele Cops haben«, sagte Darren vom Sportge schäft. »Vollzählig angetreten.«
Es begann im selben Augenblick zu regnen, als die Demons tranten mit dünnen und unsicheren Stimmen einen Song an stimmten: »All we are saaaying, is saaave our coast.« Die Kinder waren gerade vorbeigegangen, als zwei Männer aus der Bar des Hotel Orion kamen. Ronnie Barrett und sein Kumpel, eine schmalere Gestalt mit rasiertem Schädel und in einem gelben Jogginganzug mit braunen Streifen, am Kinn ein kleines Haarbüschel. Barrett ging an den Rand des Bürgersteigs und formte mit den Händen ein Megafon: »Verpisst euch, ihr Wichser! Ar beitsplätze sind euch wohl scheißegal, was?« Der andere Mann stimmte mit ein: »Reiche Scheißer, verpisst euch aus Port!«, schrie er. Er machte einen Schritt rückwärts, dann noch einen, verlor die Balance und wäre fast gestürzt. Cashin sah, wie Barrett in Richtung eines Demonstranten eine Geste machte, den Bordstein verließ, betrunken und streitlustig. Sein Begleiter ihm nach. Ein Mann mit einer schwarzen Baskenmütze auf dem Hinterkopf trat aus der Reihe, sagte etwas zu Barrett. Cashin setzte sich in Bewegung. Carl Wexler trabte die Straße hinunter, einen Kameramann vom Fernsehen im Schlepptau. Sie waren noch ein gutes Stück entfernt, als Barrett mit der linken Hand den Demonstranten zu greifen suchte, um ihn für einen Schlag festzuhalten. Der Mann wirkte unbeeindruckt, machte einen Schritt nach vorn, ließ sich von Barrett berühren. Barrett holte mit der Rechten aus, der Mann war in Reichweite seiner Faust, wehrte sie beiläufig mit dem linken Unterarm ab, trat auf Barretts l i n ken Fuß und schlug ihm mit dem Ballen der rechten Hand unters Kinn. Es war zwar kein fester Hieb, es lag Verachtung darin, doch Barretts Kopf schlug nach hinten, und der Demonstrant ver setzte ihm mit der linken Faust eine Serie rascher professionel ler Schläge in die Rippen.
»Auseinander!«, rief Carl. Barrett lag am Boden und stöhnte, sein Freund wich zurück, hatte kein Interesse mehr an einem Kampf. Der Demonstrant drehte sich um, sah Cashin an und reihte sich wieder ein, ohne die Miene zu verziehen, rückte seine Bas kenmütze zurecht. Ein alter Mann neben ihm tätschelte seinen Arm. Der Demonstrationszug hatte angehalten. Cashin drehte der Kamera den Rücken zu, wollte nicht schon wieder im Fernsehen auftauchen. »Gehen Sie jetzt weiter«, sagte er laut. »Bitte weitergehen.« Das Krokodil setzte sich in Bewegung. »Festnehmen, Chef?«, sagte Carl. »Wen?« »Den Grünen.« Cashin beugte sich über Barrett. »Steh auf und verpiss dich«, sagte er. »Wenn ich dich heute noch mal sehe, Mann, schläfst du auf der Wache.« Zu Carl sagte er: »Ist erledigt. Zurück an die Arbeit.« Im Park stellte sich Sue Kinnock auf das Podium und hielt eine kleine Ansprache darüber, wie Menschen die Natur ihrer Schönheiten beraubten und wie sie verhindern wolle, dass Port Monro zu einem zweiten Surfers Paradise werde. Cashin betrachtete die sich im Süden auftürmenden Gewitterwolken, sah den kalten Nieselregen, der auf Schirme, auf Dutzende kleiner Mantelkapuzen tröpfelte. Wie Surfers Paradise? Lieber Gott, bitte, ließe sich wenigstens das mit dem Wetter regeln? Sue Kinnock stellte Helen Castleman vor. »Wie ihr vielleicht wisst«, sagte Helen, »hat sich WildCoast dem Erhalt dessen verschrieben, was heute noch von Austra liens intakter Küste übrig ist, und wir wollen erreichen, dass sie für alle zugänglich bleibt. Wir sind heute hier, um klar zu sagen: Wenn ihr verhindern wollt, dass Immobilienhaie alles ruinieren, was diesen O r t zu etwas Besonderem macht, dann
sind wir an eurer Seite. Wir werden dieses Projekt bekämpfen. U n d wir werden gewinnen!« Lauter Beifall. Helen wartete, bis es still wurde, nickte. »Und jetzt möchte ich jemanden vorstellen, der sich mit unserem Anliegen identifiziert und keine Mühe gescheut hat, um heute bei uns zu sein. Bitte begrüßt den Vorsitzenden der jüngsten politischen Partei Australiens, jemanden, der in die ser Gegend groß geworden ist, Bobby Walshe von United Australia.« Walshe trat auf das Podium. Die Menge war erfreut, ihn zu sehen. Sue Kinnock versuchte, einen großen Golfregenschirm über ihn zu halten. Er bedeutete ihr, sie solle weggehen, be dankte sich, hielt inne. »Die Silverwater-Mündung. Wunderbarer Name. Man sieht vor seinem inneren Auge eine Gegend, wo ein sauberer Fluss ins Meer mündet.« Walshe lächelte. »Nun, in Wirklichkeit wird sich Silverwa ter in eine Gegend verwandeln, wo eine Landschaft und ein Ökosystem im Namen des Profits vernichtet wurden.« Er hielt eine Zeitung hoch. »Der Cromarty Herald ist von dem Projekt ziemlich be geistert. Zweihundertfünzig neue Arbeitsplätze. Wie kann das schlecht sein? Also, ich muss Ihnen sagen, dass solche Leute die Lokalzeitung immer begeistern, weil sie neue Arbeitsplätze schaffen. Neue Arbeitsplätze. Das ist die Zauberformel, nicht wahr? Die alles rechtfertigt. Doch überall in Australien gibt es ehemals schöne Gegenden, die heute hässlich sind. Abscheu lich. Durch Projekte wie Silverwater zugrunde gerichtet.« Bobby Walshe hielt inne. »Und die Bauunternehmer und die Lokalzeitungen haben jedes einzelne dieser Projekte als Quelle neuer Arbeitsplätze verkauft.« Er fuhr sich mit Fingern durch die feuchten, glänzenden Haare. »Außerdem müssen w i r uns fragen: Was für Arbeits plätze haben sie wirklich geschaffen? Ich verrate es Ihnen.
Arbeitsplätze für Teilzeitkräfte, Putzfrauen, Tellerwäscher und Kellner. Arbeitsplätze, für die Mindestlöhne gezahlt wer den und die kommen und gehen, abhängig von den Jahres zeiten, von Streiks bei Fluggesellschaften und anderen Ereig nissen, die sich Tausende von Kilometern entfernt zutragen.« Beifall. »Und da ich schon mal dabei bin, reden wir doch über so genannte Lokalzeitungen. Lokal, also von hier? Nein, keines wegs. Nehmen wir mal diese Zeitung.« Er schwenkte den Cromarty Herald. »Diese Lokalzeitung gehört dem Konzern Australian Me dia. Die Zentrale von AM ist in Brisbane. Das ist gar nicht weit, oder? Der Redakteur dieser Lokalzeitung kam vor drei Mona ten aus New South Wales hierher, wo er eine andere A M Lokalzeitung betreute. Davor war er in Queensland, wo er ge nau das machte, weswegen er auch nach Cromarty geschickt wurde. Nämlich was?« Bobby wartete. »Er soll die Anzeigenerlöse steigern. Mehr Geld verdienen. Denn, genau wie für die Leute hinter dem Silverwater-Projekt kommt es nur aufs Geld an. U n d dieses für die Umwelt ge fährliche Projekt bringt der Zeitung haufenweise Geld durch Anzeigen. Was die hinter Silverwater stehende Firma betrifft, nun, diese Leute sind lediglich Strohmänner. Sobald sie die Baugenehmigung haben, w i r d das Ganze an andere verkauft.« Walshe war nass geworden, Regenwasser lief ihm das Ge sicht hinunter, sein Hemd war dunkel. »Die Regierung des Bundesstaates kann dieses Projekt im Keim ersticken«, sagte er. »Sie macht aber keine Anstalten, das zu tun. Es liege nicht im Küstenschutzgebiet, heißt es. Es sei eine Angelegenheit für den Bezirksrat, heißt es. Bedeutet das, Landschaften außerhalb des Küstenschutzgebiets sind Frei w i l d für jeden zwielichtigen Bauunternehmer, der zufällig vor beikommt? Ich bin heute hier, um zu sagen: zum Teufel mit
diesem bürokratischen Quatsch. United Australia w i r d Sie in diesem Kampf unterstützen. In allen vergleichbaren Kämpfen, die überall im Land im Gange sind. U n d das schließt die Städte mit ein.« Babby wischte sich Wasser von den Haaren und reckte beide Hände in die Luft. »Noch eine letzte Anmerkung«, sagte er. »Wissen Sie, was so ein Projekt ist? Ich werd's Ihnen verra ten. Es ist eine Verhöhnung der Zukunft.« Beifall. Bobby Walshe schüttelte den Kopf, und Regen tröpfchen stoben durch die Luft. Cashin dachte, dass Walshe genau wusste, wie das am Bild schirm wirken würde: Ein gut aussehender Politiker stand wegen eines Anliegens im Regen, das ihm wichtiger war als sein Wohlbefinden. Von lang anhaltendem Beifall begleitet, verließ Bobby das Podium. Es folgten eine miese Rede von einem Mann mit mie ser Frisur und miesem Bart, dem Bezirksabgeordneten Barry Doull. Als der Regen stärker wurde, brachte Sue den Mann zum Schweigen, dankte allen Beteiligten und verwies die Leute an den Spendentisch für den Kampffond »Rettet die Mündung«. Die Menge löste sich auf, viele Leute wollten Bobby Wal shes Hand schütteln, und er schüttelte jede Hand, die man ihm hinhielt, beugte sich vor, um mit einer alten Dame zu reden, die ihn küsste, was die Kamera festhielt. Das Schulkrokodil setzte sich neu zusammen und brach auf, nahm die Abkürzung. Cashin ging mit Kendall zurück. »Ein echter Hingucker«, sagte sie. »Meine Stimme hat er. Ich wusste gar nicht, dass er von hier ist.« »Achte drauf, dass dir seine Politik gefällt«, sagte Cashin. A u f der Hauptstraße gab Bobby Walshe der Frau, die mit ihm angekommen war, vor der Kamera ein kurzes Interview. Jetzt erkannte Cashin sie wieder, von dem Tag, als er und Dove auf dem Weg zum Gericht die Wache in Cromarty verlassen hatten. Sie hatte die Frage gestellt.
Bobby sprach mit Helen Castleman. Es war ein angeregtes Gespräch. Er sah sich um, bemerkte Cashins Blick, sagte etwas zu Helen. Die beiden kamen rüber. »Ich kenne Sie«, sagte Walshe. »Joe Cashin. Bern Doogues Cousin. Aus der Grundschule.« »Das stimmt.« Walshe streckte eine Hand aus, Cashin nahm sie. »Wie geht's Bern?«, fragte Walshe. »Prima. Gut.« »Was macht er jetzt so?« »Nun, dies und das.« »Ohne Bern hätte ich die Grundschule nicht überlebt«, sagte Walshe. »Bei 'ner Schlägerei konnte man keinen Besseren auf seiner Seite haben.« »Darin war er ziemlich begabt, stimmt«, sagte Cashin. Walshe lachte. »Sehen Sie ihn noch?« »Jede Woche.« »Luke und Corey«, sagte Walshe. »Da waren Sie dabei.« »Leider.« »Wirklich eine traurige Geschichte.« »Wenn Kids mit Gewehren herumlaufen, besteht immer die Gefahr, dass es ein trauriges Ende gibt.« Walshe zuckte die Achseln. »Nun, die Untersuchung w i r d ergeben, ob es seine Waffe war und wer zuerst geschossen hat. Grüßen Sie Bern von mir. Ich habe es nicht vergessen, sagen Sie ihm das.« »Ich werd's ausrichten.« Sie gaben sich wieder die Hand. »Und nicht vergessen, United Australia zu wählen«, sagte Walshe. »Kann man denn für eine Fußballmannschaft stimmen?« Walshe lachte. Helen schenkte Cashin ein verhaltenes Lä cheln. Die beiden gingen zurück zum Wagen, wo die Frau vom Fernsehen wieder mit Walshe sprach.
Auf dem Rückweg zum Revier sagte Kendall: »Du hast mir verschwiegen, dass du ihn kennst.« »Er kennt mich. Hör mal, Billy Piggott. Sagt dir der Name was?« »Kenne keinen Billy. Es gibt einen Ray Piggott, der ist ein schlimmer Finger.« »Was hat er verbrochen?« »Einen Vertreter beklaut, der im Motel abgestiegen war. Fünfhundert Dollar und 'n paar Zerquetschte. Der Typ kam am nächsten Morgen vorbei. Cromarty hat sich drum geküm mert.« »Wie beklaut?« »Der Vertreter hat uns eine Geschichte aufgetischt, aber wahrscheinlich war es ...« Sie wackelte mit der rechten Hand, anzüglich und vielsagend. »Wahre Stützen der Gesellschaft, diese Piggotts«, sagte Cashin. »Tja, ich verschwinde, zwei Wochen bis lebens länglich, in fünf Minuten geht's los.« »Und wir haben die volle Personalstärke. Wenn man einen muskulösen Beach Boy und einen jungen Lehrling Personal nennen will.« »Unter deiner Anleitung werden sie reifen und gedeihen«, sagte Cashin. »Sei hart, aber gerecht. Weich, aber ungerecht.« Sie boxte ihn mit der Faust leicht in den Rücken, bei seiner Position eigentlich irgendwie respeklos, im Grunde sogar I n subordination.
S
pät am Tag kam ein Mittsiebziger namens Mick aus der Gegend von Kenmare und zog eine Mähmaschine durch Tommy Cashins Wildnis, zerbrach Flaschen, zerquetschte Metall, rumpelte über massive, im Gras verborgene Hinder nisse. »Müsste eigentlich 'ne beschissene Gefahrenzulage berech nen«, sagte er, als er Traktor und Mäher auf seinen Lastwagen lud. »Kann ich aber nicht, stimmt's? Weil ich das gratis mache und Sie mir sechzig Dollar geben, die ich für einen wohltätigen Zweck meiner Wahl spende.« »Ich bin Polizist«, sagte Cashin, »und habe geschworen, die Steuergesetze unseres Landes einzuhalten.« »Sagen wir fünfzig«, sagte Mick. Cashin gab ihm einen Schein. Mick faltete ihn und steckte ihn in das Schweißband seines Huts. Den Bewohnern dieser Weltgegend war es zuwider, für die Regierung die Mehrwert steuer einzusammeln. Während die Hunde das geräumte Areal durchstöberten und von den durch das Mähen freigesetzten Gerüchen sehr angetan waren, gingen Dave Rebb und Cashin die Ruine des Hauses ab und maßen sie aus. Cashin hielt das Ende des Maß bandes, und Rebb schrieb die Abstände auf und zeichnete L i nien auf einen Block Millimeterpapier. Anschließend setzten sie sich auf einen Mauerrest, und Rebb zeigte Cashin, was er herausbekommen hatte. »Groß«, sagte Cashin. »Hätte nie gedacht, dass es so groß ist.«
»War wohl 'n reicher Sack, stimmt's?« »Hat in den Goldminen Geld gemacht und es komplett für das Haus verpulvert. Und Pferde gezüchtet, soviel ich weiß.« Ein Wind war aufgekommen und plättete das Gras in der Umgebung. Sie rochen die Landschaft, über die er hinwegge weht war, rochen das kalte Meer. »Offenbar ist er früh übergeschnappt«, befand Rebb. »Hätte es in 'ner warmen Ecke bauen können.« »Es ging darum zu protzen«, sagte Cashin. »Er musste es einfach hier bauen. Vor ihm hatten die Cashins einen Scheiß dreck. Nach ihm hatten sie auch wieder einen Scheißdreck.« Rebb drehte sich eine Zigarette, zündete sie an, spuckte Ta bakkrümel von der Unterlippe. »Sie wollen's also noch mal machen, protzen?« »So ist es. Was jetzt?« »Sie fragen mich? Was weiß denn ich?« Sie saßen eine Weile da, standen dann auf; der Wind war stärker geworden, zerrte an ihnen. Sie beobachteten die Hunde. Die Tiere spürten ihre Blicke, sahen sich um, kamen kurz vorbei und gingen wieder an die Arbeit. Cashin überlegte, wie dämlich sein Vorhaben war. Jetzt wäre der richtige Augen blick, um aufzuhören, noch war nichts Schlimmes geschehen. »Was ist mit dem Foto?«, sagte Rebb. »Ein ganzes Stück fehlt, in die Luft gejagt. Außerdem brauchen wir eine Hütte, um das Material trocken zu lagern.« Sie gingen zurück, die Dunkelheit schwappte in das Tal. Die Tage endeten jetzt rasch, von der vollen Helligkeit bis zur Nachtschwärze vergingen zwanzig Minuten. Cashins Körper schmerzte vom Bücken. Am Schuppen sagte Rebb: »Der Alte hat mir ein Karnickel gegeben. Liegt im Kühlschrank. Gesehen?« »Nein.« »Liegt seit zwei Tagen da. Müsste heute Abend auf den Herd.«
Cashin schwieg. Ihm war nicht nach Kochen zumute. »Ich kann das machen«, bot Rebb an. »Ein Karnickelstew.« Ein kurzes Zögern. Ein Cop lernt einen Landstreicher ken nen, der Landstreicher darf auf seinem Grundstück wohnen, kocht Essen. Die Einheimischen würden das mit lebhaftem Interesse registrieren. Schwuchteln, Mann. Detective Schwuch tel und sein Freund, der vagabundierende Hinterlader. Cashin war das egal. »Klingt gut«, sagte er. »Legen Sie los.« Er fütterte die Hunde, machte Feuer, holte Bier aus dem Kühlschrank und setzte sich, was die Schmerzen ein wenig l i n derte. Rebb kochte wie jemand, der das nicht zum ersten Mal machte, zerlegte das Kaninchen, hackte die welken Kräuter, briet das Fleisch an. »Den Wein da«, sagte Rebb und wies auf eine Flasche im Re gal, »heben Sie den für irgendwas auf?« »Da drüben hängt ein Korkenzieher.« Rebb öffnete den Wein, goss etwas in den Topf, kippte Wasser hinzu. »Das war's«, sagte er dann. »Komme später wie der.« Als er zur Seitentür ging, erhoben sich die Hunde und folg ten ihm ins Freie. Cashin las Zeitung, wurde schläfrig. Rebb kam zurück, die Hunde vorneweg, und sie begrüßten Cashin, als wären sie am Nordpol gewesen und hätten auf dem H i n und Rückweg ständig an ihn gedacht. Cashin fand das Stew sehr gut, mit Reis als Beilage. Er aß es vor dem Feuer und dem Fernseher. Dave saß am Tisch und las dabei Zeitung. Im Fernsehen kamen die Nachrichten. Die De monstration in Port Monro war Thema Nummer sechs: Der Vorsitzende von United Australia, Bobby Walshe, kam beute in den Küstenort Port Monro, um auf einer Kundge bung gegen eine geplante Ferienanlage zu sprechen.
Auf der Kundgebung gab es manches, was das Fernsehen mochte: Kinder, die mit älteren Leuten Händchen hielten, Gesang, die kurze Schlägerei. »Der Typ kann von Glück reden, dass er keine Anzeige wegen Körperverletzung bekommen hat«, sagte Cashin, ohne Rebb anzusehen. »Notwehr«, sagte Rebb. »Er hat ihm nicht sehr weh getan.« »Ihr Landstreicher wisst, wie man sich wehrt.« »Nur ein Betrunkener«, sagte Rebb. »Kein Problem.« Sie schauten sich die Bruchstücke von Bobby Walshes Rede an. Nass sah er gut aus, in Großaufnahme sah man die Regen tropfen über sein Gesicht rinnen. Sie sahen, wie ihn die alte Dame küsste, sein Lächeln, seine Hand an ihrem Ellbogen. Walshe gab ein kurzes Interview. Dann folgte die Kamera ihm und Helen Castleman, als sie zu Cashin, Kendall und Wexler gingen. Die Kamera zoomte heran. Cashin erschauerte. Wenn er gesehen hätte, dass die Kamera auf ihn gerichtet war, hätte er sich abgewandt. Die Frau mit der gefriergetrockneten Frisur sagte: »Bobby Walshe nahm auch die Gelegenheit wahr, sich mit Detective Joe Cashin zu unter halten. Cashin war einer der Polizisten, die am Donnerstag da bei waren, als Walshes Neffe Corey Pascoe starb, und ebenso Luke Ericsen, ein anderer junger Aborigine, beide aus der Daunt-Siedlung bei Cromarty.« Wieder Bobby Walshe, der sich mit der Hand durch die feuchten Haare fuhr. »Habe den Officer nur begrüßt. Ich war mit ihm auf der Grundschule. Ich hoffe, wir finden heraus, was an jenem Abend genau geschehen ist. Und dass den toten Jungs Gerechtigkeit widerfährt. Wie gesagt, ich hoffe. Aborigines hoffen seit über zweihundert Jahren darauf, dass ihnen Ge rechtigkeit widerfährt.« Rebb stand auf, ging zur Spüle und wusch seinen Teller, sein Messer und seine Gabel ab. »Haben Sie den Knaben erschos sen?«, fragte er mit unbeteiligter Stimme.
Cashin sah ihn an. »Nein. Aber wenn er mit dem Gewehr auf mich gezielt hätte, hätte ich es gemacht.« »Ich verschwinde dann.« »Sie haben ein echtes Händchen mit 'm toten Karnickel«, sagte Cashin. »Dürfen jederzeit wieder eins vorbeibringen.« An der Tür, wo die Hunde mit ihm nach draußen wollten, sagte Rebb: »Wann kommt die Motorsäge?« »Morgen. Bern schätzt, er w i r d sie zusammen mit dem Was sertankwagen gleich als Erstes vorbeibringen. Könnte früh, ;önnte auch Mitternacht sein.« »Noch was. Wir brauchen 'n paar Sachen - Zement, Sand, olz, so was alles. Ich hab's drüben neben der Spüle aufge chrieben.« »Wie viel Zement?« Cashin glaubte, in Rebbs Blick Mitleid zu erkennen. »Sagen wir sechs Säcke.« »Brauchen Sie einen Zementmischer?« Rebb schüttelte den Kopf. »Außer Sie möchten noch ein paar arglose Typen anschleppen, die Sie auf der Straße fin den.« »Bin immer auf der Suche«, sagte Cashin. Er rief Bern an und ging dann - müde, unter Schmerzen, traurig - früh zu Bett. Er schlief ein, ein Alptraum weckte ihn wieder auf, ein neuer. Dunkelheit und Regen und grelles Licht und Geschrei, überall Menschen, Chaos. Er war gefangen, etwas Oktopusartiges hielt ihn fest, er bekämpfte es, es zer quetschte ihn, der Raum schrumpfte, keine Luft, er erstickte, starb, Todesangst. Er lag wach in dem großen Schlafraum, schwaches grünes Licht von dem Radiowecker, spürte das Herz im Brustkorb pochen und hörte den Wind über die Furchen wehen. Er stand auf. Die Hunde hörten ihn, bellten, und er ließ sie rein. Sie liefen zum Bett, stießen einander beiseite, sprangen, kuschelten sich hin. Cashin knipste die Stehlampe an, warf
Holz in den Ofen, wickelte sich in eine Decke und setzte sich mit Joseph Conrads Nostromo in den Sessel. Dabei ging immer ein Armeekaplan mit - irgendein unra sierter, schmutziger Mensch, der einen Säbel umgegürtet und auf der linken Brust seiner Leutnantsuniform mit weißer Wolle ein kleines Kreuz eingestickt trug - die Zigarette im Mund winkel, einen Holzstuhl in der Hand, um die Beichte der Leute zu hören und ihnen Absolution zu erteilen. Denn der BürgerLandesretter (so wurde Guzman Bento amtlich genannt, in Bittschriften) war der Milde in vernünftigen Grenzen nicht abgeneigt. Man hörte die unregelmäßige Salve des Pelotons, manchmal von einem einzelnen Gnadenschuß gefolgt; eine kleine bläuliche Rauchwolke flatterte über den grünen Bü schen auf... Er schlief in dem großen, ramponierten Sessel ein, wachte bei Tagesanbruch auf, zwei Hunde stupsten ihn an, ihre Schwänze pochten wie pelzige Metronome. Als er Wasser in den Kessel füllte, klingelte das Telefon auf der Anrichte. »Constable Martin, Cromarty, Chef. Ich habe die Anwei sung, Ihnen mitzuteilen, dass vor ein paar Minuten Donny Coulters Mutter anrief und sagte, er werde vermisst. Seit wann, wusste sie nicht. Sie hat ihn um elf Uhr gestern Nacht im Bett gesehen.« Cashin hielt eine Hand vor die Muschel und räusperte sich. »Er hat nichts Unerlaubtes getan, es sei denn, er meldet sich nicht auf der Dienststelle. Sagen Sie seiner M u m , sie soll bei seinen Kumpels nachfragen, ob noch jemand weg ist. Rufen Sie mich auf dem Handy an.« Er ging nach draußen, pinkelte, betrachtete die hügelige Landschaft. Manchmal sah man die grellroten Ahornbäume durch den Dunst wie einen Brand, dann wieder nicht. Er be wegte die Schultern, um die Steifheit zu mildern. Donny würde sich nicht um zehn Uhr morgens auf dem Re vier melden. Das wusste er.
D
onny ist nicht aufgetaucht«, sagte Hopgood. »Seine M u t ter meint, der kleine Scheißkerl war weinerlich.« Cashin und Rebb hatten gerade begonnen, bei Nieselregen den Weg zu räumen, der zur ehemaligen Haustür führte, und gebrannte Keramikfliesen freigelegt, die immer noch leuch tend rot waren. »Hat sie sich umgehört?«, fragte Cashin. »Offenbar.« »Was ist mit seinen Kumpels?« »Klingt, als seien die anwesend. Haben tief und fest geschla fen, wie die anderen Bimbos auch.« »Irgendwas mitgenommen? Tasche, Klamotten?« »Das hätte ich schon erwähnt.« Cashin sah zu, wie Rebb in die tiefen Schichten aus Que cken, Unkraut, Erde hineingrub. Unermüdlich schwang er den langstieligen Spaten, schaufelte, kratzte die verborgenen Flie sen frei. Dabei kam Cashin sich schwächlich vor, seine eigenen Ausgrabungen erschienen ihm wie dürftiges Stückwerk. »Auch wenn Sie im Urlaub sind, diese Ermittlungen leiten Sie immer noch«, stellte Hopgood fest. »Wir warten auf A n weisungen.« »Verstoß gegen die Kautionsauflagen«, sagte Cashin. »Eine Angelegenheit für die Uniformierten. Der Verbindungscop kann mit Donnys M u m zusammenarbeiten, die Leute in der Daunt dazu bringen, die ganze Siedlung zu durchkämmen. Jede einzelne Garage, jeden Schuppen, jedes Scheißhaus.«
»Die Daunt-Leute sollen Donny finden? Haben Sie Ihre Arznei abgesetzt?« Cashin sah in den Himmel. »Halten Sie mich auf dem Lau fenden«, sagte er. Als er wieder auf seiner Seite des Wegs grub, verspürte er ein flaues Gefühl im Magen, als hätte er lange nichts mehr geges sen. Er hatte vier oder fünf Meter geschafft, Rebb war ihm die gleiche Strecke voraus, als der Wasserwagen eintraf, ein ver beulter Tank, der von Berns genauso verbeultem und zer schrammtem Dodge-Pickup gezogen wurde. Bern stieg aus, unrasiert, schmieriger Overall, Zigarette im Mund. Er schaute sich um, wenig begeistert von dem, was er sah. »Meine Güte, du hast 'n Rad ab«, sagte er. »Barzahlung bei Lieferung.« »Halb zwölf?«, sagte Cashin. »Ist das >gleich als Erstes« »Das Erste, was ich dir heute vorbeibringe. Hundertzwan zig Piepen für die Säge - einschließlich Zubehör -, hat mal einer alten Dame gehört, die damit Blumen geschnitten hat, zwanzig für das Wellblech, zwanzig pro Woche für den Tank wagen, vier Wochen Mindestmiete, zehn für die Lieferung. Wasser ist beim ersten Mal gratis, was großzügig ist, jede wei tere Füllung zehn. Sagen wir zweihundert, ich leg die erste Nachfüllung drauf. Geschenk an dich, weil du ein Verwandter und ein Volltrottel bist.« Cashin ging um den Tankwagen herum, den jemand dilettan tisch mit Spraylack schwarz gesprüht hatte. Doch schon vorher hatte er dort Rost angesetzt, wo Aufschriften entfernt worden waren, vermutlich mit einer Stahlbürste auf einer Schleifma schine. Unter der neuen Farbschicht warf der Rost Blasen. »Wo hast du den her?«, fragte Cashin. Bern schnippte seine Kippe weg. »Hör zu«, sagte er, »wenn du zum Drive-in-Schalter von McDonald's fährst, fragst du dann die Bedienung, wo sie das Hackfleisch her haben?« Cashin machte noch eine Runde um den Tankwagen. »Es
gibt die Anzeige einer Reserveeinheit der Armee«, sagte er. »Die waren auf der anderen Seite von Livermore, hingen in der Schlucht rum, schlugen Wurzeln unter ihren Zeltplanen, sind dann auf ein paar Bier in die Stadt gefahren. Am nächsten Tag suchten sie vergeblich nach zwei Wassertankwagen, einem großen Zelt, ein paar Planen und Gasflaschen. Im Kampf ver schollen.« »Bei den Reserveeinheiten«, sagte Bern, »braucht man drei Leute, um einen Arsch abzuwischen. Ein Typ hat das Ding vorbeigebracht und gesagt, er kommt wieder, dann reden wir übers Geld. Hab ihn vorher noch nie und seither nicht wieder gesehen.« Er spuckte aus. »Was soll ich noch dazu sagen?« »Sag nichts, was vor Gericht gegen dich verwendet werden könnte«, empfahl Cashin. Er holte sein Portemonnaie heraus, hielt ihm vier Fünfziger hin. »Wie jetzt, keine Einwände?« »Nein.« Bern nahm drei Fünfziger. »Herrje, du weckst den Christen in mir.« »Sei ein kleiner Christ. Eine A r t Gartenzwergchrist. Wir brauchen hier etliches an Bauwerkzeug. Kellen und Wasser waagen, solche Sachen.« Bern musterte den auf seinen Spaten gestützten Rebb, der in die Ferne schaute. »Hey, Dave«, rief er. »Wissen Sie ein biss chen mehr über Bauarbeien als der Typ hier?« Rebb drehte sich um, zuckte mit der Achsel. »Woher soll ich wissen, was er weiß.« »Tja, also, ich schlage vor, dass ihr beiden mal vorbei kommt«, sagte Bern. »Ich hab da ein paar Maurersachen. Aber keinen billigen Kram, seltene Spitzenprodukte. Maurer neh men ihr Werkzeug mit ins Grab.« »In der Technischen Fachhochschule Cromarty ist einge brochen worden«, sagte Cashin. »Und zwar in den Lagerraum der Bauabteilung.«
»Tja, Scheiße auch, jubel und jauchz. Auch davon hab ich noch nie gehört. Du denkst dir den ganzen Mist aus, stimmt's?« »Ich kaufe nichts, was auf der Liste gestohlener Gegen stände steht«, sagte Cashin. »Ist mir schleierhaft, wie du auf solche Ideen kommst. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Deine Kumpels haben mich heimgesucht, dieser beschissene Hopgood und lauter an dere Wichser, 'ne ganze Fußballmannschaft. Haben 'ne Stunde lang Scheiße gebaut, die ganze Bude umgekrempelt, dann sind sie mit leeren Händen abgezogen, aber nicht mal ein >Tut uns leid<, ach was.« Bern spuckte aus. »Egal, hilf uns mal bei dem Wellblech hier«, sagte er. »Haste irgendwelche guten Well blech-Geschichten auf Lager?« Sie luden das Wellblech ab. Bern stieg in den Pick-up. »Dave, was ich schon länger mal fragen wollte«, sagte er. »Kenn ich Sie nicht von irgendwo?« Rebb betrachtete die Motorsäge. »Ich kenne Sie jedenfalls nicht«, sagte er. »Aber ich erkenne 'ne stumpfe Motorsäge, wenn ich sie sehe.« Sie gingen wieder an die Arbeit. Als Rebb bis zum Haus ge kommen war, machte er kehrt und grub auf Cashins Seite wei ter, arbeitete sich auf ihn zu. Cashins Handy. »Zu Ihrer Information«, sagte Hopgood. »Kein Donny. Man hat jeden Quadratzentimeter der Gegend durchkämmt.« Cashin betrachtete die Blasen auf seiner linken Handfläche, an jedem Finger ein bleicher, praller Knubbel. »Stufe zwei«, sagte er. »Wäre wahrscheinlich schon früher angezeigt gewe sen.« »Reden Sie über sich oder uns?« »Ich rede nur.« »Seit neun Uhr morgens besteht Alarmbereitschaft. Wir haben damit nicht gewartet, bis Sie es sagen. Haben Sie gehört, dass es mit Bourgoyne zu Ende geht?«
»Nein.« »Vielleicht sind Sie inzwischen außen vor.« Als sie einander auf dem Weg näher kamen und die letzten Soden in die grüne Wildnis warfen, sagte Rebb: »Dieser Bern. Ist das Ihr Cousin?« »Stimmt.« »Über Ihren alten Herrn?« »Meine M u m . Sein Dad ist der Bruder meiner Mum.« Rebb musterte Cashin mit einem langen Blick und machte sich wieder an die Arbeit. Nach einer Weile sagte er: »Das war mal ein richtiger Garten. Haben Sie davon auch Fotos?« »Ich sehe nach, wenn ich nach Cromarty fahre«, sagte Cashin. Er dachte jetzt nicht an Gärten, sondern an Donny, an die toten Jugendlichen und an Hopgood.
H
elen Castleman sei im Gericht, sagte ihre Kanzlei. Cashin ging um den Block und hatte gerade im Gerichtssaal Platz genommen, als sie sich erhob, ganz in Schwarz, seidiges Haar. »Wie Euer Ehren wissen, nennt uns das Kautionsgesetz von 1977 keine Definition außergewöhnlicher Umstände ...« Der Richter unterbrach sie mit erhobenem Finger. »Ms. Castleman, erzählen Sie mir nicht, was ich weiß.« »Danke für den Hinweis, Euer Ehren. Der Beschuldigte hat keine Vorgeschichte im Hinblick auf Drogenvergehen. Es gab zwei Verurteilungen wegen kleinerer Vergehen im Zusammen hang mit Waren aus zweiter Hand. Er hat vier Kinder, aus nahmslos jünger als zwölf. Das einzige Einkommen der Fami lie bezieht diese aus dem Altmetallhandel des Angeklagten. Mrs. O'Halloran kann sich ohne ihren Mann nicht um die K i n der kümmern und gleichzeitig das Geschäft führen.« Der Richter schaute in Richtung der Fenster. »Euer Ehren«, fuhr Helen Castleman fort, »wie ich erfuhr, findet der Prozess meines Mandanten frühestens in drei M o naten statt. Wenn Sie gestatten, möchte ich darauf hinweisen, dass diese Faktoren sehr wohl die von dem Gesetz verlangten außergewöhnlichen Umstände darstellen, und bitte darum, dass ihm Kaution gewährt wird.« »In dieser Gemeinde«, sagte der Richter, »gilt Heroinbesitz als äußerst ernstes Vergehen.« »Versuchter Besitz, mit Verlaub, Euer Ehren.« Cashin sah, wie sich die Kiefermuskeln des Richters ver
spannten. »Besitz von Heroin gilt in dieser Gemeinde als äu ßerst ernstes Vergehen. Vielleicht war das in Sydney nicht der Fall, Ms. Castleman.« Der Richter stieß eine A r t Krächzen aus und sah sich Beifall heischend um, wobei er gelbe Hundezähne bleckte. Die A n klägerin lächelte, die Augen kalt. Der Richter widmete sich wieder Helen, immer noch mit gebleckten Zähnen. »Ich möchte darauf hinweisen, Euer Ehren«, sagte Helen, »dass mein Mandant, sollte er verurteilt werden, ein Strafmaß am unteren Ende der Skala zu erwarten hat und dass seine Le bensumstände die Gefahr eines Verstoßes gegen die Kautions auflagen gering erscheinen lassen.« Der Richter stierte sie an. »Falls Euer Ehren wünschen«, fuhr Helen fort, »kann ich zu dem Thema Näheres ausführen, beispielsweise das aktuelle Urteil von Richter Musgrove am Obersten Gerichtshof in einem Berufungsverfahren gegen den Beschluss einer unteren Instanz, keine Kaution zu gewähren.« Er holte ein Papiertaschentuch heraus und putzte sich die Nase. »Verschonen Sie mich mit Belehrungen aus den Tiefen Ihrer Unerfahrenheit, Ms. Castleman. Die Auflagen sind wie folgt.« Der Richter setzte die Kautionsauflagen fest. »Euer Ehren«, sagte Helen. »Mit Verlaub, ich weise darauf hin, dass 20000 Dollar so weit jenseits der Möglichkeiten des Angeklagten liegen, dass die Summe einer Kautionsverweige rung gleichkommt.« »Tatsächlich?« »Darf ich das Gericht auf einen Präzedenzfall hinweisen?« Er hörte sie an, ohne sie zu unterbrechen. Dann, silberne Speichelflocken ins Licht schleudernd, reduzierte er die Kau tion auf 5000 Dollar. Als Cashin den Saal verließ, lehnte ein ihm bekannter Kripo mann namens Greg Law am Geländer und rauchte eine Ziga
rette, die er in Fingern von der Farbe der Zähne des Richters hielt. »Meine Güte, die Frau hat Nerven«, sagte Law. »Von Rechts wegen sollte man ihm in den Arsch kriechen und nicht damit drohen, ihm ein Berufungsverfahren in den selbigen zu ram men.« »Wann buckeln, wann treten«, sagte Cashin. »Die zentrale Frage des Lebens in den Strafgerichten.« Laws Blick war auf die Straße gerichtet. Cashin folgte ihm zu einem rostenden orangefarbenen Datsun mit blauer Tür. Die Fahrerin war über dem Lenkrad zusammengesunken wie ein dicker Crash-Test-Dummy, ihr speckiger rechter A r m hing aus dem Fenster, eine Zigarette baumelte zwischen den Wurst fingern. Sie hob den Glimmstängel zum Mund. Cashin sah drei große Ringe, Schlagringe. »Gabby Trevena«, sagte Law. »Weiß Gott, die ist überfällig. Hat vor der Gecko Lounge einer Frau den Kiefer gebrochen, dabei ist die so schwanger wie ein Ballon. Als sie zu Boden geht, tritt Gabby zu und bricht der Frau vier Rippen. Was für ein Ekelpaket.« Ein Mann mittleren Alters und ein Jugendlicher kamen die Straße herunter, die Treppe hoch und sahen Greg Law an. Der Mann hatte ein schmales Gesicht, verblichene rotblonde Haare, und trug einen muffigen, uralten Anzug, der schlabbriger an sei nem Körper saß als damals bei seiner Hochzeit. Der junge Mann sah aus wie sein Vater, hatte längere rotblonde Haare, wirkte munterer und trug in einem Ohrläppchen einen goldenen Ring. »Geradeaus, bin gleich bei Ihnen«, sagte Law und schnippte mit den Fingern. »Die Vorgeschichte ist die, dass diese Frau die Hanfpflanzen geklaut hat, die Gabs auf dem Dach angebaut hatte. Zur Erntezeit.« »Ein Dachgarten«, sagte Cashin. »Oben auf dem EternitDach, ein paar Liegestühle, Topfpflanzen, Gabs beim Sonnen baden - ich sehe es vor mir.«
»Heute w i r d das fette Miststück freigesprochen. Die Kläge rin ist unauffindbar. Womöglich braucht man einen Bagger, um sie zu finden.« Law löste sich von dem Geländer. »Apropos buckeln und treten, wie ich höre, ist Hopgood dein Busenfreund.« »Ach ja?« Law schnipste die Zigarette auf die Straße. »Gabby Trevena ist nicht der gefährlichste Mensch in dieser Stadt. Beinahe, aber nicht ganz.« »Was soll das heißen?« »Denk mal scharf nach. Ich muss weg.« Helen Castleman näherte sich der Treppe. Cashin trat vor. »Guten Tag«, sagte er. »Können wir uns unterhalten?« »Wenn du mich begleitest. Ich komme zu spät zu einem Mandanten.« Sie gingen die Treppe runter, dann nach links. »Hast du meine Beschwerde bekommen, weil Donny schi kaniert wurde?«, fragte sie. »Nein. Ich bin im Urlaub. Wie denn schikaniert?« »Ich habe mich bei deinem Mr. Hopgood beschwert. Streifenwagen fahren an seinem Haus vorbei, leuchten mit Scheinwerfern in die Fenster. Was soll der Scheiß? Überrascht es dich, dass er sich aus dem Staub gemacht hat? Das war ja wohl beabsichtigt, oder?« »Ich weiß nichts darüber.« »Ihr habt für einen Prozess nicht genug in der Hand, da liegt euer Problem.« »Wir haben genug in der Hand«, sagte Cashin. Es war gelo gen. Zwei Skateboarder kamen ihnen entgegen, der vordere zu alt, um sich dabei zu amüsieren. Cashin trat nach links, und die beiden rollten zwischen ihnen hindurch. »Sag das den beiden toten Jungs«, sagte Helen. »Kein vernünftiger Cop w i l l Jugendliche erschießen, über
haupt irgendwen erschießen. Aber normale junge Leute stei gen auch nicht mit einem Gewehr bewaffnet aus einem Auto wrack.« »Tja, das ist eure Version, keine Tatsache. Was willst du von mir?« Cashin wollte nicht, dass sie ihn nicht mochte. »Es würde helfen, wenn wir wüssten, dass er sich aus dem Staub gemacht hat.« Helen schüttelte nachdenklich den Kopf. »Glaubst du w i r k lich, ich würd's dir verraten, wenn ich es wüsste?« »Was war so schlimm daran, wenn du es mir sagen würdest?« »Wenn ich es wüsste, wären das Kenntnisse, die ich als seine Verteidigerin erhalten hätte. Wie könnte ich dir die weiterge ben? Hier muss ich rüber.« Sie standen an der Ecke, warteten auf die Ampel und sahen einander nicht an. Cashin wollte sie ansehen, sah sie an. Jetzt sah sie ihn an. »Ich hatte dich nicht so groß und schlank in Erinnerung«, sagte sie. »Ein später Wachstumsschub. Aber wahrscheinlich denkst du an einen anderen.« Grün. Sie überquerten die Straße. »Nein«, sagte sie. »Ich erinnere mich an dich.« Cashin spürte, wie er errötete. »Zurück zur Gegenwart«, sagte er. »Du bist eine am Gericht zugelassene Anwältin. Es gibt kein moralisches Dilemma.« Keine Reaktion. Sie gingen schweigend weiter und blieben vor ihrem Bürogebäude stehen, einem Haus aus blaugrauem Stein. »Wie ich gehört habe, warst du beim Morddezernat in der Stadt«, sagte sie. »Das war mal, stimmt.« Er sah, wie sie mit dem Kopf ruckte, machte sich auf etwas gefasst.
»Du hast also die Erfahrung gemacht, dass Anwälte dir I n formationen über ihre Mandanten weitergeben?« »Normalerweise stelle ich Anwälten keine Fragen über ihre Mandanten. Aber dein Mandant hat gegen die Kautionsaufla gen verstoßen. Ich frage dich doch nur, ob du weißt, dass er die Gegend verlassen hat, damit wir ihn hier nicht suchen müssen. Das ist doch nicht zu viel verlangt.« »Ich bin bereit zu sagen, dass ich auch nicht mehr weiß als ihr.« »Danke sehr, Ms. Castleman.« »Keine Ursache, Detective Cashin. Übrigens habe ich ges tern erfahren, dass wir demnächst Nachbarn sein werden.« »Wieso das denn?« »Ich habe das Grundstück nebenan gekauft. Das mit dem alten Haus. Mrs. Corrigans Anwesen.« »Willkommen im Sprengel«, sagte Cashin. Heute setzen wir den Zaun an der Grundstücksgrenze, dachte er. Er ging auf die Wache zurück. Hopgood war nicht da, er mittelte wegen einer Leiche in der Asche eines Hauses in WestCromarty. Cashin hinterließ eine kurze Nachricht und fuhr dann wegen des Fotos in die Bibliothek. Geschlossen, die Bibliothe kare hatten ihren freien Tag. Auf dem Heimweg dachte er an den einen Abend während seines letzten Schuljahres, in den letzten Tagen. Tony Cressy kam angefahren und holte ihn in einem Benz ab, einem Auto von Cressys Prestige Motors am Highway. Tony war Verteidiger in der Schulmannschaft der Cromarty High School, er war nicht schnell, bekam seinen Körper kaum von der Stelle, aber er war groß und schwer und jagte den Gegnern Angst ein. Zu viert fuhren sie in dem Wagen zum sogenannten Kessel, zu der Dangar-Treppe, zwei junge Männer, Helen Castleman und Susan Walls; vor diesem Abend hatte er mit keinem der Mädchen mehr als ein paar Worte gewechselt.
Die Treppe war längst abgezäunt worden, man hatte Warn schilder aufgestellt, doch das reizte die Leute nur noch mehr. Er half Helen, über den Draht zu klettern, bildete mit den Hän den einen Steigbügel. Da sie Turnierreiterin war, hatte sie keine Probleme mit Steigbügeln, es hieß, sie könne an den Olympi schen Spielen teilnehmen. Sie gingen über den Fels, auf dem ab genutzten Pfad, in den Fußspuren von Mad Percy Hamilton Dangar, der zwölf Jahre lang die schmalen Stufen in den Fels ge hauen hatte, die nah am Einstieg anfingen und sich um die Fels wände schlängelten, bis hinunter zur Hochwasserlinie. Diese Geschichte kannte jeder. Es gab vielleicht noch hundert Stufen, weiter unten riskant, von Meer, Gischt und Wind angenagt. An jenem Abend stiegen sie nicht weit hinab. Sie setzten sich, den Rücken an den Steilfelsen gelehnt, die Jungs rauchten, reichten sich abwechselnd eine Flasche Jim Beam, nahmen kleine, beißende Schlucke, obgleich sie eigentlich keine harten Sachen tranken, keiner von ihnen. Es war nur zum Angeben. Man musste das machen. Cashin und Helen saßen auf der Stufe unter Tony Cressy und Susan. Dank Tony kamen sie nicht aus dem Lachen heraus; er brachte alle zum Lachen, sogar die strengen Lehrer. Cashin wusste noch, wie es sich angefühlt hatte, als Helen lachend zur Seite rückte und eine ihrer Brüste seinen nackten A r m streifte. Sie hatte keinen BH an. Er erinnerte sich, wie sich die riesigen Wellen am Felsen brachen, an das Donnern, die aufsteigende weiße Gischt, die atemberaubenden Augenblicke, wenn das Wasser in den run den Kessel unter ihnen hereinplatzte, die Kalksteinwände em porflutete. Es war überhaupt nicht sicher, dass es je damit auf hörte - es stieg hoch und immer höher und man dachte, diese Welle werde einen von seinem Sitzplatz reißen und mit sich nehmen, nach unten in das Loch, ein langer Fall immer tiefer hinein in den brodelnden Kessel.
Doch das geschah nicht. Eine Welle stieg bis auf fünf, sechs Meter unterhalb von ihrem Sitzplatz, fiel zurück, und Wasserzungen fuhren aus den Felshöhlen. Der Kessel schäumte und brodelte, dann leerte sich das große Loch, und es war still. Ihm fielen die Scherze ein, die Beim-nächsten-Mal-sind wir-dran-Scherze. Zuerst setzten sie Susan ab, hielten dann einen halben Block von Helens Haus entfernt. Joe begleitete sie zum Tor. Sie küsste ihn rasch und unerwartet, sah ihn an, gab ihm dann noch einen Kuss, einen langen, ihre Hände in seinen Haaren. »Du bist nett«, sagte sie und verschwand durch das Tor. M i t klopfendem Herzen ging er zum Wagen zurück. »Also das«, sagte Tony Cressy, »das hat Klasse. U n d du bist ein ech ter Glückspilz.«
E
s war fast dunkel und der Wind hatte aufgefrischt, als sie
schließlich das morsche Holz aus dem letzten Pfostenloch
gruben. Cashin tat alles weh, er hatte sogar Schmerzen, wenn
er aufrecht stand.
»Morgen Abend sind wir damit fertig«, sagte Rebb. »Falls
w i r das nötige Material haben.«
»Bern bringt morgen früh alles vorbei«, sagte Cashin. »In
zwischen hat er eine genauere Vorstellung davon, was >gleich
als Erstes< heißt.«
Sie schulterten die Werkzeuge und stiegen den Hügel zum
Haus hinauf. Als Cashin pfiff, tauchten am Bach schwarze
Köpfe auf, beide gleichzeitig, und schauten hoch.
Das Dach des Hauses war in Sicht, als sein Handy klingelte,
ein schwaches Geräusch in dem Pfeifen des Windes.
»Cashin.«
Atmosphärische Störungen. Keine Antwort. Er kappte die
Verbindung.
Cashin folgte Rebb den Hang hinauf, jeder Schritt eine Tor
tur. Als er oben war, klingelte das Telefon erneut.
»Cashin.«
»Joe?« Seine Mutter.
»Ja, Syb.«
»Ich versteh dich kaum, kannst du mich hören?«
»Ich kann dich hören.«
»Joe, Michael hat versucht, Selbstmord zu begehen, sie wis
sen nicht...«
»Wo?« Ein Gefühl von Kälte, von Übelkeit. »In Melbourne, in seiner Wohnung, jemand hat ihn angeru fen und gemerkt, dass...« »In welchem Krankenhaus?« »Im Alfred.« »Ich fahre sofort los. Kommst du mit?« »Ich hab Angst, Joe. Hast du ihn angerufen? Ich habe dich gebeten, ihn anzurufen.« »Syb, ich fahre jetzt los. Kommst du mit?« »Ich habe zu große Angst, Joe. Ich ertrage es nicht...« »Schon in Ordnung. Ich rufe dich an, sobald ich ihn gesehen habe.« »Joe.« »Ja.« »Du hättest mit ihm sprechen sollen. Ich habe es dir gesagt. Ich habe dich zweimal darum gebeten. Zweimal.« Cashin betrachtete Rebb und die Hunde. Sie waren fast am Haus angekommen, die Hunde liefen voran, kreuz und quer, die Nasen gesenkt. Sie wirkten wie Kundschafter im Brenn punkt einer gefährlichen Mission. Am Tor sahen sie sich um, jeder hob eine Pfote, und teilten so den Beobachtern mit, dass die Luft rein war. »Ich melde mich, Syb«, sagte er. »Ruf mich an, falls du irgendwas hörst.« Es war stockdunkel, als er zur Kreuzung bei Branxholme kam und Richtung Highway und Großstadt abbog. Die Scheinwerferkegel schwenkten über ein Haus mit abblättern der Farbe, ein Auto ohne Räder, die teufelsgrün leuchtenden Augen eines Hundes neben einem Fass, aus dem Regenwasser leckte.
C
ashin verspürte fast eine A r t Panik, als der Arzt ihn durch
den langen Raum geleitete, zwischen den durch Vorhänge
abgetrennten Nischen hindurch. Er kannte das, den Geruch
von Desinfektionsmitteln und parfümierten Reinigungsflüs
sigkeiten, alles hatte dieses fahle Computergrau, und dann das
Summen, das pausenlose elektronische Summen. Ihm kam der
Gedanke, dass es so in einem Atom-U-Boot sein müsse, das in
einem eiskalten Meeresgraben lag, gedämpfte Geräusche, alles
elektronisch geregelt.
Als sie an den Nischen vorbeikamen, sah Cashin mit Schläu
chen und Kabeln verbundene Körper. Winzige Lampen glüh
ten, manche pulsierten.
»Hier«, sagte der Arzt.
Michaels Augen waren geschlossen. Sein Gesicht - jeden
falls das, was man um die Sauerstoffmaske herum sah - war
weiß. Haarsträhnen, schwarz wie Lakritz, klebten am Kissen.
Cashin erinnerte sich, dass er die Haare kurz und gepflegt ge
tragen hatte - Handelsvertreterfrisur.
»Er wird's schaffen«, sagte der Arzt. »Der Typ, der ihn an
rief, hat dann gleich den N o t r u f gewählt. Glück gehabt. U n d
die Sanitäter waren ganz in der Nähe, kamen gerade von einem
falschen Alarm. Wir hatten also ein kleines Zeitfenster.«
Er war jung, asiatischer Abstammung, Babyhaut, hatte dem
Ton nach eine Privatschule besucht.
»Was hat er genommen?«, fragte Cashin. Er wollte weg,
nach draußen, reinigende Autoabgase einatmen.
»Schlaftabletten. Benzodiazepine. Alkohol. Jede Menge von beidem, eine tödliche Menge.« Der Arzt betastete mit einer kleinen Hand seinen Kiefer. Er war sehr müde. »Er hatte bis eben Dialyse. Wenn er aufwacht, fühlt er sich hundeelend.« »Wann wird das sein?« »Morgen.« Er sah auf seine Uhr. »Besser gesagt heute. Kom men Sie gegen Mittag, dann kann er bestimmt wieder reden.« Cashin verließ das Krankenhaus und rief seine Mutter an, machte es kurz. Dann fuhr er zu Villanis Haus nach Bruns wick, parkte auf der Straße und ging die Auffahrt hoch. Er hatte von unterwegs angerufen. »Tonys Zimmer ist offen, neben der Garage«, hatte Villani gesagt. »Ich glaube, es ist kürzlich desinfiziert worden.« Das Zimmer war mit Postern von Footballspielern, Kickbo xern und Rennwagen tapeziert, in einer Ecke stand ein N o tenständer mit Noten darauf. An der Wand lehnte ein Cello kasten. Cashin betrachtete die Fotos an der Korkpinnwand über dem Schreibtisch. Auf einem sah er sein eigenes Gesicht, lange vor Rai Sarris, ein jüngerer Cashin im Pool vor irgend einem Haus, der in die Kamera schaute und den kleinen Tony Villani hochhielt. Der Junge war eine Miniausgabe des er wachsenen Villani, so retuschiert, dass die gerunzelte Sirn ge glättet und an den Schläfen wieder etwas mehr Haar war. So alt ist mein Sohn jetzt, dachte Cashin, und Traurigkeit stieg in ihm auf, in seinem Hals. Er setzte sich auf das Bett, zog Schuhe und Socken aus, sank vornüber, Ellbogen auf den Knien, Kopf in den Händen, müde und zerschlagen. Nach einer Weile warf er einen Blick auf die Uhr: 2.25. Ein Auto in der Auffahrt. Ein paar Minuten später pochte es an der Tür. »Herein«, sagte Cashin. Villani in einem Anzug, Krawatte gelockert, Flasche in der einen, Weingläser in der anderen Hand. »Und?«
»Er kommt wieder auf die Beine. Man hat ihn rechtzeitig eingeliefert.« »Darauf trinken wir einen.« »Nur die eine Flasche?« »Du giltst als verdammt hinfällig. Ich persönlich glaube allerdings, das kommt einzig und allein vom Wichsen.« Villani setzte sich auf den Schreibtischstuhl seines Sohns, gab Cashin ein Glas, goss Rotwein ein. »Ernsthafter Ver such?«, fragte er. »Der Arzt sagt ja.« »Dann besteht Anlass zur Sorge. Kennst du die Gründe?« »Er hat meine M u m ein paarmal angerufen, weil er nieder geschlagen war. Sie bat mich, mit ihm zu reden. Ich hab's ver säumt.« »Klingt wie die Zusammenfassung einer Kurzgeschichte.« »Du weißt doch 'n Scheißdreck über Kurzgeschichten.« Villani sah sich in dem Zimmer um. »Hab ein bisschen gele sen. Kann nicht schlafen.« Er spülte den Mund mit Wein aus, den Blick auf die Poster gerichtet. »Das ist nicht irgendeine Plörre«, sagte er, »aber bei manchen Leuten Perlen vor die Säue. Zigarette?« »Ja, bitte.« »Ich höre morgen auf. Weil du aufgehört hast.« Das N i k o t i n haute Cashin fast um, wie früher nach dem Surfen - rau, tränentreibend. Er trank einen Schluck Wein. »Auf jeden Fall nicht die übliche Halb-drei-Uhr-morgensPisse aus 'nem Tetrapack«, sagte er. »Irgendwie merk ich das.« »So'n Typ hat ihn mir geschenkt, ich konnte nicht nein sa gen.« »Du musst noch dran arbeiten, ehe du hohen ethischen Ansprüchen genügst. Ist das nun früh aufstehen oder spät ins Bett?« »Erinnerst du dich an Vic Zable?« »Mein Problem heißt nicht Gedächtnisschwund.«
»Tja, also, Vic hat's heute Nacht erwischt, Parkplatz am Kunstzentrum, ist das nicht unfassbar? Der Typ kann Kunst nicht von 'nem Furz unterscheiden. In die Rippen geschossen, näher ran ging nicht, außer man steckt ihm die Knarre in den Arsch. Der Schütze saß neben ihm, in dem silbernen Mercedes Kompressor, quadrophonisches Radio an, Heizung läuft, er verpasst Vic das komplette Magazin. Ein kleiner bleierner Scheißer flippt in Vic rum, kommt hinter dem Schlüsselbein wieder raus, trifft das Dach.« Cashin trank einen Schluck. »Wie viele Freunde hat er, die Linkshänder sind?« »Du bist genau wie ein Fernsehkommissar. Bisher kennen wir zwei. Einer ist in Sydney, der andere ist nicht zu Hause. Da komme ich gerade her. Einen Moment lange dachte ich, w i r hätten Glück.« »Mord im organisierten Verbrechen. Prompte Verhaftung. Polizist belobigt.« »Davon träum ich.« »Wie geht's Laurie?« »Gut. Wie immer. Sauer auf mich. Na ja, wir sind wechsel seitig sauer aufeinander.« »Wo brennt's denn?« Villani nahm einen Zug, machte Hohlwangen, stieß drei, vier Rauchringe aus, perfekte Kreise, die durch die statische Luft rollten. »Wir haben beide ... Affären.« »Ich dachte, du hättest dich nur mal umgesehen?« »Tja, zu Hause ist alles ziemlich freudlos, wenn ich nicht fix und fertig bin, ist es Laurie. Sie muss zu diesen ganzen abendlichen Festveranstaltungen, den Rennen, Firmencate rings - manchmal sehen wir uns tagelang nicht. Wir reden nicht mehr miteinander, haben seit Jahren nicht mehr geredet. N u r Geschäftliches, Rechnungen, die Kinder. Egal. Ich hab da eine Frau kennengelernt, und am nächsten Tag wollte ich sie tat sächlich wiedersehen.«
»Und Laurie?« »Ich habe das mit ihrem kleinen Abenteuer herausgefunden. Man sollte sein Handy nicht herumliegen lassen.« »Die heben sich doch gegenseitig auf, oder? Zwei kleine Abenteuer?« »Es geht darum, wer's als Erster gemacht hat, Ursache und Wirkung. Angeblich bin ich die Ursache dafür, dass sie mit diesem Kretin von Kameramann angebändelt hat. Momen tan mit ihm unterwegs, in Cairns, und macht das Catering für irgendeinen schwachsinnigen Fernsehscheiß. Wahr scheinlich am Strand, wo sie unter einem tropischen Mond ficken.« »Du hast deine poetische Ader entdeckt«, sagte Cashin. Er wollte nichts mehr hören, er mochte Laurie, er hatte sie be gehrt. »Kommt das daher, dass man der Chef ist?« Villani goss Wein nach. »Ich gebe nur den Druck weiter. Ich habe diesen Tommy-Drecksack Wicken im Rücken, er hat Bell kaltgestellt, ich muss ihm direkt Bericht erstatten. Hab keine Ahnung, was für politische Manöver dahinterstecken, will's auch gar nicht wissen. Ich w i l l Singo zurückhaben. Damals war ich glücklich.« Er seufzte. »Damals waren wir beide glücklich«, sagte Cashin. »Glück licher. Ich besuche ihn morgen früh.« »Mist, ich muss unbedingt mal zu ihm rausfahren, nie hat man auch nur eine beschissene Minute Zeit. Also, was ist mit Donny?« »Laut Anwältin wurde er belästigt, Streifenwagen haben die Familie am Einschlafen gehindert. Warum hast du mir nicht von Hopgood erzählt?« »Dachte, du wüsstest, was in diesem Scheiß-Cromarty bis her passiert ist. Aber Donny könnte wieder auftauchen.« »Oder auch nicht«, sagte Cashin. »Und wir hatten nie ir gendwas gegen ihn in der Hand. Rein gar nichts.«
Villani zuckte die Achseln. »Tja, w i r werden sehen. Also, was willst du wegen deines Bruders unternehmen?« Cashin hatte darüber nachgedacht. »Selbstmordversuche. Einen Scheißdreck weiß ich darüber.« »Wayne lebt noch, missglückter Selbstmordversuch. Muss sich beim nächsten Mal mehr Mühe geben. Bruce ist tot. Gute Arbeit, Bruce. Dein Bruder ist der Erfolgreiche in deiner Fami lie, stimmt's?« »Nein«, sagte Cashin. »Er ist nur intelligent und gebildet. Geld hat er auch.« Villani schenkte nach. »Und ist glücklich, ohne Ende. U n verheiratet?« »Stimmt.« »Gibt's da wen?« »Keine Ahnung. Hab ihn das letzte Mal gesehen, als ich im Krankenhaus lag. Er hat sich nicht hingesetzt, ein paar Tele fonate geführt. Ich kann's ihm nicht verdenken, w i r kennen einander kaum. Tut nur seine Pflicht.« »Klingt wie Laurie über mich und die Familie. Falls er einen Seelenklempner haben w i l l , da gibt es den Typ, bei dem Ber trand war, als er schwermütig wurde, nachdem dieser ScheißKroate auf ihn eingestochen hat. Kein Polizei-Seelenklempner.« »Der Kroate hätte 'n Seelenklempner gebraucht. Bertrand brauchte einen Autoschlosser.« Sie hatten ein Leben miteinander verbracht, sie redeten, rauchten; Villani ging ins Dunkel und kam mit noch einer offenen - Flasche zurück. Er goss ein. »Denkst du über die Arbeit nach? Du hast Muße. Zeit zum Überlegen.« »Was sollte ich sonst arbeiten?« Cashin spürte die lange Fahrt, das Krankenhaus, den Alkohol. »Alles. Du hast den Grips.« »Dazu kann ich nichts sagen. Jedenfalls hab ich nie groß überlegt, ich wusste nicht, was ich tun sollte, hab rumgehan gen, gesurft, bin dann einfach Polizist geworden. Da gibt's
zwar jede Menge Dumpfbacken, aber... weiß auch nicht. Es kam mir nicht wie Arbeit vor.« Cashin trank. »Jetzt werden wir wirklich besinnlich, stimmt's?« Villani kratzte sich am Kopf. »Mir war nie klar, wie wichtig unsere Arbeit ist, bis ich im Morddezernat anfing. Bei Raub, na ja, das war Adrenalin pur, wir gegen die Gangster, so was wie ein Spiel für große Kinder. Doch das Morddezernat, das war anders. Das Gefühl hat mir Singo eingeimpft. Den Toten ihr Recht verschaffen. Hat er das zu dir gesagt?« Cashin nickte. »Singo konnte die richtigen Leute für die Truppe aussuchen. Er wusste es einfach. Birkerts war in jeder Hinsicht ein ver dammt hoffnungsloser Fall, aber Singo hat ihn genommen. Heute ist der Typ ein Star. Jetzt suche ich mir Leute wie Dove aus. Studienabschluss, ständig aggressiv und aufmüpfig. W i l l weder schwarz noch weiß sein.« »Er kommt schon klar«, sagte Cashin. »Der Mann hat Grips.« »Und jetzt«, fuhr Villani fort, »versuche ich irgendwelchen Drogendealern ihr Recht zu verschaffen, die umgelegt wurden, bevor sie irgendwelche anderen Ärsche umlegen konnten. Außerdem hält man mir Vorträge über Politik, über die be schissene Kleiderordnung und die richtigen Vorgehensweisen. Jetzt begreife ich, warum in Singos Gehirn 'ne Sicherung durchgebrannt ist.« Sie tranken die Flasche fast leer, ehe Villani sagte: »Du bist ja noch kaputter als ich. Stell den Wecker, wenn du willst. Ich an deiner Stelle würde mich mal ordentlich ausschlafen.« Ehe er schlafen ging, schob Cashin das Fenster einen Spalt auf, kroch dann unter die Decke des schmalen Betts. Der Z i garettenrauch hielt sich. Er dachte an die Zeit, als er siebzehn war und wie er und Bern im Dunkeln in dem gemeinsamen Zimmer auf dem Rücken lagen und vor dem Einschlafen eine Zigarette zwischen den Betten hin und her reichten.
Als er aufwachte, zeigte die Uhr 8.17 an. Er stand auf, dabei wurde ihm kurz schwindlig. Er hatte geschlafen, als hätte er einen Keulenschlag erhalten, und so fühlte er sich immer noch. Unter der Tür ein Umschlag.
Joe: Schlüssel Hintertür. Eier und Schinkenspeck im Kühl schrank. Cashin frühstückte in einem kleinen Restaurant an der Syd ney Road. Es war türkisch oder griechisch. Die Eier brachte ein stämmiger Mann, dessen Augen die Farbe von Milch und Dunkelbier hatten. »Ich kenne Sie«, sagte er. »Sie waren hier, nachdem Alex Katsourides von nebenan erschossen wurde. Sie und ein klei ner Kerl.« »Das ist lange her«, sagte Cashin. »Ihr habt sie nie gefasst.« »Nein. Eines Tages vielleicht.« Ein lautes Schnauben. »Eines Tages. Ihr erwischt sie nie, diese Auftragsmörder. Der Typ im Radio sagt, die Polizei is nutzlos.« Cashin fühlte, wie ihm das Blut ins Gesicht und die Hitze in die Augen stieg. »Ich esse«, sagte er. »Wenn Sie mit 'nem Cop reden wollen, gehen Sie aufs Revier. Wo ist der Pfeffer?«
M
ichael lag auf der Intensivstation, in einem Einzelzimmer im ersten Stock. Er war wach, bleich, hatte einen dunk len Dreitagebart. Cashin ging ans Bett und berührte die Schulter seines Bru ders, verlegen. »Hast uns einen Schrecken eingejagt, Alter«, sagte er. »Tut mir leid.« Raue, atemlose Stimme. »Fühlst du dich okay?« Michael sah ihn nicht direkt an. »Grässlich«, sagte er. »Ich komm mir vor wie ein echtes Ekel, weil ich die Zeit der Leute in Anspruch nehme. Hier sind kranke Menschen.« Cashin wusste nicht recht weiter. »Da hast du eine weitrei chende Entscheidung getroffen«, sagte er. »Eigentlich keine Entscheidung. Es ist halt irgendwie pas siert. Ich war ziemlich besoffen.« »Du hast nicht vorher schon an so was gedacht?« »Daran gedacht schon.« Er schloss die Augen. »Ich war ziemlich down.« Die Zeit verging. Michael schien wieder einzuschlafen. Das gab Cashin Gelegenheit, ihn gründlich zu betrachten, was er noch nie gemacht hatte. Normalerweise sah man Leute nicht genau an, man sah ihnen in die Augen. Tiere sahen einander nicht auf Nasen oder Kinne, auf Stirnen oder Haaransätze. Sie sahen das an, was etwas signalisierte - die Augen, den Mund. Er betrachtete Michael, als der mit geschlossenen Augen sagte: »Bin vor drei Wochen gefeuert worden. Ich hab eine
große Übernahme geleitet, es gab eine undichte Stelle, und die ganze Sache ging in die Hose. Man hat es mir angekreidet.« »Warum?« Die Augen geschlossen. »Fotos von mir mit jemandem von der anderen Seite. Der anderen Firma.« »Was für welche?« »Nichts Schmutziges. N u r ein Kuss. Auf der Treppe vor meinem Haus.« »Und?« Michael schlug die schwarzen Augen auf, blinzelte ein paar mal, er hatte lange Wimpern, und drehte den Kopf gerade so weit, dass er Cashin ansehen konnte. »Es war ein Er«, sagte er. Cashin wollte unbedingt eine rauchen, das Verlangen kam aus heiterem Himmel, mit voller Wucht. Er wäre nie auf die Idee gekommen, dass Michael schwul war. Michael war mal mit einer Ärztin verlobt gewesen. Sybil hatte ihm ein Foto von einer Verlobungsfeier gezeigt, eine schlanke Blondine, Stups nase. Sie hielt ein Champagnerglas in der Hand. Sie hatte kurze Fingernägel. »Ein Kuss?«, sagte Cashin. »Wir waren noch spät auf einem Meeting, auf dem Parkplatz haben w i r uns wieder getroffen, er ist auf einen D r i n k mit zu mir gekommen.« »Sex?« »Ja.« »Hast du ihm irgendwas verraten?« »Nein.« »Tja«, sagte Cashin, »ich hab schon Schlimmeres gehört.« Sein Bruder hatte die Augen wieder geschlossen, zwischen den Brauen waren tiefe Furchen. »Er hat sich umgebracht«, sagte er. »Am Tag nachdem ihn seine Frau verlassen und die drei Kinder mitgenommen hat. Sein Vater ist Richter und hat mit dem Chef meiner Firma an derselben U n i Jura studiert.«
Cashin machte auch die Augen zu, legte den Kopf in den Nacken und horchte auf die Geräusche - das leise elektroni sche Summen, den Verkehrslärm von unten, das SchrappSchrapp eines Hubschraubers in der Ferne. So blieb er lange sitzen. Als er die Augen wieder aufschlug, sah Michael ihn an. »Alles in Ordnung?«, fragte er. »Es geht«, sagte Cashin. »Das ist 'ne üble Sache.« »Stimmt. Man hat mir gesagt, dass du mitten in der Nacht hier warst. Danke, Joe.« »Dafür brauchst du mir nicht zu danken.« »Ich war als Bruder nicht der Hit.« »Damit sind wir schon zwei. Willst du jemanden anrufen? Einen Seelenklempner?« »Nein. Ich war bei Seelenklempnern, Seelenklempner haben sich an mir goldene Nasen verdient, ich habe dazu beigetragen, dass sich Seelenklempner Häuser in Byron Bay kaufen konn ten, die können mir nicht helfen. Ich bin depressiv. Schlicht und einfach. Es steckt in mir. Es ist eine, wahrscheinlich gene tisch bedingte, Fehlfunktion im Hirn.« Cashin war unbehaglich zumute. »Medikamente«, sagte er. »Angeblich haben sie die passende Medizin.« »Dadurch wird die Welt zu Haferschleim. Wenn man A n t i depressiva nimmt, kann man nicht sechzehn Stunden am Tag arbeiten, bergeweise Unterlagen durchforsten, die Probleme finden, Antworten abliefern. Bei meiner Sorte Depression, na ja, da stürzt nicht das Zelt über dir zusammen. Sie ist einfach da. Ich kann arbeiten, das hält sie im Zaum, man sollte keinen Augenblick der Muße haben. Aber es macht einem keinen Spaß. Man könnte genauso gut, weiß auch nicht, Geschirr spü len.« Michael weinte leise, Tränen liefen ihm die Wangen hinun ter, auf jeder Seite glitzernde Bäche. Cashin legte seinem Bruder eine Hand auf den Unterarm, drückte ihn aber nicht. Er hatte keine Ahnung, was er tun
sollte, ihm fehlte die Körpersprache, um einen Mann zu trös ten. Michael sagte: »Sie haben mir zur gleichen Zeit von dem Foto und von Kims Tod erzählt. Ich ging raus, stieg in ein Flugzeug, trank und schlief und trank, und als es immer schlimmer wurde, hab ich die Tabletten genommen.« Er versuchte zu lächeln. »Ich glaube, so viel habe ich in unse rem ganzen Leben noch nie bei einer Gelegenheit zu dir ge sagt.« In der Tür stand eine Krankenschwester. »Nehmen Sie auch genug Flüssigkeit zu sich?«, sagte sie streng. »Ist wichtig, wis sen Sie.« »Ich trinke«, sagte Michael. Er schluckte. »Ist es für einen Gin Tonic noch zu früh?« Über seinen Unernst konnte sie nur den Kopf schütteln. Cashin merkte, dass ihr Michaels Aussehen gefiel. Sie ging. »Wer hat das Foto gemacht?«, fragte er. Ein Achselzucken. »Ich weiß es nicht. Es gab eine ganze Se quenz, fünf oder sechs Stück. Von der anderen Straßenseite aus, glaube ich.« »Jemand hat dich oder ihn beobachtet. Wer würde so was machen?« Noch ein Achselzucken. »Wann gab es die undichte Stelle? Davor oder danach?« Michael legte eine Hand an seine Haare. »Du bist Polizist. Das hatte ich einen Moment lang vergessen. Danach. Am nächsten Tag oder so. Sie wussten, was auf einem Meeting geschehen war, das unser Team am folgenden Morgen hatte. Jedenfalls ist es jetzt auch egal. K i m ist tot. Meine Karriere ist erledigt, alles ist futsch, zwanzig Jahre Plackerei für nichts und wieder nichts.« »Du hast dir wirklich einen gefährlichen Beruf ausgesucht.« Michael erinnerte sich. Er lächelte, ein trauriges Lächeln. »Du kommst am besten runter und wohnst eine Weile bei
Sybil«, sagte Cashin. »Hilfst dem Gatten, die Rosen mit Na palm zu besprühen.« »Nein, ich komm schon zurecht. Ich bleibe bei einer Freun din, sie hat jede Menge Zimmer. Nehme wieder meine Medi zin. Verzichte auf Alkohol. Ich werd mich fit halten, Sport trei ben. Ich komme klar.« Schweigen.
»Es wird schon gehen, Joe. Echt.«
»Was kann ich tun?«, sagte Cashin.
»Gar nichts.« Michael streckte die linke Hand aus. Cashin
nahm sie; sie hielten einander unbeholfen an den Händen. »Du bist doch nicht depressiv, oder?«, sagte Michael. »Nein.« Das war gelogen. »Gut, das ist gut. Du bist dem Fluch der Cashins entgangen.« »Dem was?« »Dad, ich. Wahrscheinlich eine ganze Reihe vor uns. Tommy Cashin mit Sicherheit. M u m sagt, du baust sein Haus wieder auf. Wir sind alle gleich, er war nur ein besonders schwerer Fall. Wollte sein Haus mit sich nehmen.« »Und was ist mit Dad?«
Michael nahm die Hand weg. »Hat M u m es dir erzählt?«
»Was?«
»Sie sagte, sie würde es dir erzählen, wenn du älter bist.«
»Was?«
»Das mit Dad.«
»Was?«
»Dass er Selbstmord begangen hat.«
»Oh«, machte Cashin. »Das. Ja, darüber weiß ich Bescheid.«
»In Ordnung. Hör zu, sag M u m , mir geht es gut. Sag ihr, es
war nur ein dummer Irrtum. Eine versehentliche Überdosis. Machst du das?« »Klar.« »Richte ihr alles Liebe von mir aus. Sag ihr, ich rufe sie mor gen an. Heute kriege ich es nicht hin.«
Cashin verabschiedete sich, küsste seinen Bruder auf die Stirn, ein leicht salziger Geschmack, bestieg den Aufzug mit einer vierköpfigen Familie, die Kinder fast erwachsen, alle ge drückter Stimmung. Im Erdgeschoss fand er die Toiletten, ging in eine Kabine und hockte sich hin, vornübergebeugt, Hände zwischen den Oberschenkeln. Es war friedlich. Gelegentlich reinigte sich das Pissbecken selbst, ein Wasserschwall. Er sah sich vorn in dem Holden sitzen, ein Junge neben sei ner Mutter, unterwegs zu fremden Orten, aus unbekanntem Grund. Sein Vater. Keiner hatte es ihm gesagt. Alle wussten es, aber keiner hatte es ihm gesagt.
D
as Pflegeheim war eine Insel aus gelbem Backstein in einem Meer aus Asphalt und Beton, kein Grashalm weit und breit. Eine Pflegerin in einem dunkelblauen Rock und ge punkteter weißer Bluse brachte ihn in das Zimmer. Singo hatte einen karierten Morgenmantel an und saß in einem Rollstuhl vor einer Glastür. Der Blick ging hinaus auf einen Betonstreifen und einen Metallzaun von der Farbe ge trockneten Bluts. »Jemand möchte Sie sehen, Dave«, sagte die Frau. »Sie ha ben Besuch.« Singo reagierte nicht. »Ich lasse Sie allein«, sagte die Pflegerin. Cashin schob einen Stuhl so hin, dass er Singo im Profil sah, setzte sich, rückte näher. »Guten Tag, Chef«, sagte er. »Hier ist Joe.« Singo wandte den Kopf. Cashin fand, er sei gealtert, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte, die gelähmte Seite des Ge sichts wirkte jetzt jünger als die andere. Singo machte ein Geräusch. Es klang fast wie »Joe«, jeden falls war es ein kurzer Zischlaut. »Sie sehen viel besser aus, Chef«, sagte Cashin. »Sie sind auf dem Weg der Besserung. Villani lässt ausrichten, Sie sollen bitte zurückkommen. Er wird's Ihnen selbst sagen, er kommt Sie bald besuchen. Steckt bis über beide Ohren in Arbeit. Sie ken nen das.« Singos Lippen bewegten sich, er gab noch einen Laut von
sich, eher ein Spucken, aber auf Cashin wirkte er belustigt, etwas in seinem Blick. Er hob den linken A r m , den funktio nierenden A r m , streckte die Finger aus. Er schien ihm die Hand entgegenzustrecken, damit er sie hielt. Nicht schüttelte. Hielt. Man konnte nicht Singos Hand halten, nein. Das konnte Singo unmöglich wollen. Er hatte keinen Gehirnschaden, nicht so, er war eingeschränkt, Teile von ihm funktionierten nicht. Singo steckte in diesem Körper, der harte Mann war da drin, unter den schlaffen Muskeln, den Sehnen, die nicht gehorch ten. Cashin wusste nicht, wie er sich verhalten sollte, zum zwei ten Mal in zwei Stunden. Vielleicht gab es den harten Mann gar nicht mehr. Vielleicht gab es da nur noch einen hilf- und hoffnungslosen Mann, der die Hand ausstreckte. Cashin dachte an seinen Vater, und er streckte die rechte Hand aus und berührte Singos Hand. Singo schlug seine Hand beiseite. Er wollte nicht berührt werden. Ein Irrtum. »Verzeihung, Chef«, sagte Cashin. »Wasser? Wollen Sie einen Schluck Wasser? Irgendwas?« Singo blinzelte mehrmals mit dem linken Lid. Seine Augen sagten etwas. Er stieß noch einen feuchten Laut aus. »Wollen Sie fernsehen, Chef?« An der Wand hing ein Fern seher, von einer Fernbedienung war nichts zu sehen. Die Pfle gerinnen entschieden, was er sah und wie lange. Ein Nicken, könnte ein Nicken sein. »Villani hat alle Hände voll zu tun, das verstehen Sie doch?«, sagte Cashin. Singo hob die Hand erneut, die Finger ausgestreckt. Mist, dachte Cashin, er zeigt auf irgendwas. Er sah sich um. Auf dem Nachttisch lagen ein Notizblock und ein Stift, ein dicker Stift. Cashin nahm beides, legte den 2 I
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Block auf Singos Tablett, hielt den Stift seiner linken Hand hin. Singo nahm ihn unbeholfen, zittrig, hielt ihn in den großen Fingern. »Warum hat sie mir nicht gesagt, dass Sie schreiben können, Chef? Die Pflegerin?« Singo versuchte, auf den Block zu schreiben, er konzen trierte sich, doch der Stift gehorchte ihm nicht, der Block verrutschte, auf seiner Stirn traten Adern hervor. Cashin streckte die Hand aus und hielt den Block fest. Singo kratzte darauf herum, vielleicht ein C, vielleicht ein R, Gekrit zel. Anscheinend verließ ihn die Kraft, die Hand erschlaffte, die Augen fielen zu. Cashin wartete. Singo war eingeschlafen. Cashin stand auf, ging zur Tür. Dort drehte er sich um und sagte, nicht laut: »Ich komme wieder, Chef. Wir lassen nicht locker. Holen Sie hier raus.« Er sah Singos Spiegelbild in der Glastür und glaubte zu er kennen, wie dessen Blicke ihm folgten. Er ging zurück. Singos Augen waren geschlossen. Er zog den Block unter der großen Hand hervor, auf deren Fingern lange Haare wuchsen, und riss das erste Blatt ab. »Bis dann, Chef«, sagte er, nahm all seinen M u t zusammen und sagte: »Ich liebe Sie.« Ehe er den Motor anließ, saß er eine Zeit lang im Wagen und versuchte, aus Singos Kritzeleien schlau zu werden. Dann schob er Musik ein, wappnete sich für die bevorstehenden Stunden, fuhr los. Fast zu Hause, erschöpft, Schmerzen in bei den Beinen, klingelte das Handy. »Wir haben wen gefunden«, sagte Hopgood. »Wollen Sie dabei sein?«
Im letzten Licht des Tages ging Cashin den Pier hinunter, stellte sich hinter das halbe Dutzend Gaffer, den kalten, sal zigen Westwind im Gesicht. Der Katamaran kam krängend um den Wellenbrecher, Heck in Tieflage, Doppelmotor auf Hoch touren. Ein Mann in gelbem Ölzeug war am Steuer, hinter ihm standen zwei Gestalten in dunklen Neoprenanzügen. Hopgood, in einer schwarzen Lederjacke, drehte den Kopf um, zwängte sich durch die Umstehenden nach hinten. »Ein Typ in einem Flugzeug sah in der Nähe des Kessels eine Leiche«, sagte er. »Im Strudel.« Cashin dachte kurz, er müsse sich übergeben und sein Er brochenes würde Hopgood treffen. »Sie sehen beschissen aus«, sagte der. »Noch beschissener als sonst.« »Schlechtes Essen.« »Gibt's auch anderes?« Cashin hatte gehört, dass Leichen von starken Strömungen in die Meereshöhlen getrieben wurden. Manchmal dauerte es Tage, Wochen, ehe sie aus diesen Löchern wieder nach draußen gespült wurden, aus dem Kessel heraus in den Strudel. Als der Steuermann nahe genug war, drosselte er den Motor, das Boot verlor an Fahrt, hob und senkte sich mit dem Wasser, tuckerte zum Pier und legte mit der Breitseite am Ponton an. Zwei Männer warteten, warfen lässig ein Tau rüber, mit dem das Boot an Bug und Heck festgezurrt wurde. Sie trugen den in eine orangefarbene Nylonplane einge
schlagenen Leichnam von Bord, an jeder Ecke ein Mann, die zwei hinteren wirkten ängstlich. A u f dem Pier legten sie die Last behutsam auf die rauen Planken, traten einen Schritt zu rück und wickelten sie aus. Hopgood beugte sich vor. Cashin sah kurz ein aufgequollenes Gesicht, einen nackten Fuß, zerfetzte Jeans. Er wollte nicht mehr sehen, er hatte schon genug Tote gesehen, also ging er zu dem Geländer auf der See seite hinüber und betrachtete die Lichter oben in der Stadt, die im Düstern nicht hell leuchteten. An den beiden Verkehrs inseln am Marine Parade Boulevard huschten Autos vorbei, Menschen auf der Heimfahrt. Menschen, auf die Familien war teten. Kinder. Wenn er doch nur eine Zigarette hätte. »In seiner Tasche«, sagte hinter ihm Hopgood. »In der Jacke.« Cashin drehte sich um. Hopgood hielt ihm eine graue Nylonbrieftasche mit zugezogenem Reißverschluss hin. »Ta schenlampe hierher«, sagte er. Eine Taschenlampe wurde angeknipst, über den Pier ge reicht. Hopgood nahm sie, leuchtete damit auf Cashins Hände. Cashin öffnete die Brieftasche, fand eine Karte, in der Ecke ein Foto. Er betrachtete es angestrengt, steckte die Karte zu rück. Dann ein graues Büchlein mit einem schreitenden Einhorn auf dem Einband, in einem Plastikumschlag. Sparkasse Daunt. Es war fast trocken, hatte nur an den Rändern Wasser flecken. Etwa zwanzig Einträge auf zwei Seiten, verschmierte Ma schinenschrift, kleine Summen eingezahlt und abgehoben. Donny Coulter ertrank im Kessel, mit einem Guthaben von i i Dollar 45. Cashin steckte das Sparbuch in die Brieftasche, zog den Reißverschluss zu, gab sie Hopgood.
»Das war's dann ja wohl«, sagte er. »Ich fahre jetzt nach Hause. Angeblich bin ich beurlaubt.« »Machen Sie sich mal schick«, sagte Hopgood. »Jetzt geht's los.« Ein Fernsehteam war auf dem Pier, kam auf sie zu und filmte bereits. »Haben Sie die selbst informiert?«, sagte Cashin. »Oder haben Sie irgendeinen Speichellecker, der das für Sie über nimmt?« »Transparenz, Mann. So lautet heutzutage die Devise.« »Blödsinn. Ist Donnys Mutter informiert?« »Worüber informiert? Sie muss ihn identifizieren.« »Bevor sie das hier im Fernsehen sieht? Oder danach?« »Sind Sie für diese Untersuchung eigentlich noch zuständig? Ihr Spaghettifreund hat's mir nicht verraten.« »Das hat nichts mit der Untersuchung zu tun«, sagte Ca shin. »Es hat überhaupt nie eine beschissene Untersuchung ge geben.« Er ging direkt auf das Fernsehteam zu. Die Frau mit der ge friergetrockneten Frisur erkannte ihn und sagte etwas zu dem Tonmann. Dann stellte sie sich Cashin in den Weg. »Detective Cashin, hätten Sie bitte einen Moment Zeit?« Cashin ging weiter, antwortete nicht, machte einen Bogen um die Frau. M i t der Schulter stieß er ein puscheliges M i k r o fon beiseite, der Mann, der es hielt, sagte: »Na hören Sie mal.« »Verpiss dich«, sagte Cashin. Auf dem letzten Stück des Heimwegs hatte er die Callas voll aufgedreht, er raste durch die Dunkelheit, brauste über hol prige Straßen, während ihre herrliche Stimme das Wageninnere erfüllte. Der Kessel. Eine Leiche trieb außerhalb des Kessels. In dem großen, schäumenden, brodelnden Strudel. Zum ersten Mal fuhren sie hin, als er sechs oder sieben war, alle mussten den Kessel und die Dangar-Stufen gesehen haben. Obwohl er ein gutes Stück vom bröckelnden Trichterrand ent
fernt stand, machte die Szenerie ihm Angst, das tosende Meer, das schäumende graugrüne Wasser, das aufstieg, fiel, voller kleiner Berge und Täler, Furchen und Kämme, man spürte eine unter der Oberfläche lauernde unvorstellbare Gewalt, furcht bare Kräfte, die einen hochheben, in die Tiefe saugen und he rumwirbeln konnten, und man müsste in dem eiskalten Salz wasser atmen, es schlucken und herunterwürgen, die Gewalt der Strömung würde einen durch die Lücke zwischen den Steilfelsen schleudern und dann gegen die pockennarbigen Wände des Kessels schmettern, immer und immer wieder da gegenschmettern, bis einem die Kleider als Fetzen vom Kör per hingen und man nichts weiter wäre als weich geklopftes Fleisch. Dieser Küstenabschnitt hieß »Bröken Shore«, die Kaputte Küste. Als Cashin klein war, verstand er das als ein Wort »Brokenshore«. Irgendwann erzählte ihm jemand, die ersten Seefahrer, die diese Küste zu Gesicht bekamen, hätten sie so genannt wegen der mächtigen Brocken Kalkstein, die von der Steilküste abgebrochen und ins Meer gefallen waren. Vielleicht hatten die Seefahrer beobachtet, wie es geschah. Vielleicht wa ren sie ganz in der Nähe und sahen, wie der Rand der Erde ab brach, zu Meer wurde. Zu Hause, Gott sei Dank, das Licht der Scheinwerfer streifte Rebbs Schuppen. Er parkte in der Nähe des Hauses und blieb sitzen, Schmer zen im Körper, überall. Scheinwerfer aus. Jede Bewegung fiel ihm schwer. Es würde ihm nichts ausmachen, an O r t und Stelle zu schlafen. Ein kleines Nickerchen. Ein Klopfen, er hörte es klopfen, setzte sich aufrecht, be unruhigt. Zwei Hundeköpfe am Fenster, das Streulicht einer Taschen lampe. Er kurbelte die Scheibe runter. »Geht's gut?«, fragte Rebb. »Ja, bin bloß müde.«
»Wie geht's dem Bruder?« »Ganz okay soweit.« »Das ist gut. Hunde hatten ihr Fressen. Mache morgen den Zaun fertig.« Rebb entfernte sich. Cashin und die Hunde gingen ins Haus. Er rief seine Mutter an. Sie wollte mehr, als er ihr geben konnte. Er legte auf, spülte mit einem Bier Kodeintabletten hinunter, goss sich einen großen Whisky ein. Dann setzte er sich auf den Stuhl mit gerader Rückenlehne und wartete auf die Linderung. Sie kam. Er trank mehr Whisky. Ehe er zu Bett ging, schaute er sich die Lokalnachrichten an. Die Polizei äußert sich nicht zu Spekulationen, die im Meer bei Cromartys berüchtigtem Kessel, im Lauf der Jahre Schau platz zahlreicher Selbstmorde, gefundene Leiche sei die des achtzehnjährigen Donny Coulter, angeklagt des versuchten Mordes an dem Prominenten Charles Bourgoyne. Nachdem die Leiche an Land gebracht wurde, verließ Detective Ser geant Joe Cashin kommentarlos den Langen Pier. Er sah sich selbst, wie er über den Pier kam - Augen zu Schlit zen verengt, Schultern vorgestreckt, Haare verweht um ein versteinertes Gesicht. Als Nächstes kam Hopgood, mit from mer Miene. Sein Gesicht hatte etwas Priesterhaftes, als hätte er für diese Gelegenheit eine Maske aus Trauer und Aufrichtig keit aufgesetzt. »Es ist immer schlimm, eine Leiche zu finden«, sagte Hopgood. »Momentan geben wir keinen weiteren Kom mentar ab.« Die Reporterin sagte: »Donny Coulters Mutter, Mrs. Lor raine Coulter, sprach heute Abend über das Verhalten der Poli zei ihrem Sohn gegenüber, der seit Dienstag vermisst wurde.« Donnys Mutter stand vor einem Haus mit brauner Back steinfassade und schütterem Rasen davor, betonierte Fahrspu ren führten zu einem Carport. »Gejagt haben sie ihn. Seit er auf
Kaution draußen ist. Nacht für Nacht kommen sie an, richten den Suchscheinwerfer auf das Haus, genau auf Donnys Fens ter, und sitzen da draußen. Er hat hinten raus geschlafen, weil er's nicht mehr aushielt. Haben uns alle verrückt gemacht, und Donny hatte schon genug Sorgen, weil die Cops die Jungs ge tötet haben, das alles...« Cashin ging ohne zu essen ins Bett und schlief sofort ein, wachte erst wieder auf, als die Hunde sich beschwerten und die kalte Welt hell erleuchtet war, ein wolkenloser Himmel.
R
ebb hatte die quadratischen Eckpfosten aus Eukalyptus
holz in die Erde gebracht, verstärkt durch diagonale Stre
ben, die in die Eckpfähle eingepasst wurden. Zwischenpfosten
lagen entlang der Linie des neuen Zauns. In der Mitte befand
sich noch ein quadratischer Stützpfahl.
»Hat Bern Ihnen geholfen?«, fragte Cashin.
»Hab keine Hilfe gebraucht. Der Zaun ist nichts Besonde
res.«
»Für mich ist dieser Zaun etwas Besonderes. Was jetzt?«
»Die Pfosten rein. U n d zwar genau in Reihe.«
»Da brauchen wir Schnur.«
»Wir brauchen keine Schnur. Das Auge reicht.«
»Mein Auge?«
»Scheißegal welches Auge.«
Cashin spähte über den Eckpfosten und verschob Rebb so
lange hin und her, bis er den jeweiligen Zwischenpfosten in
einer Reihe mit den Eckpfählen und dem Stützpfahl hielt. Die
Pfosten schlug Rebb mit einem Vorschlaghammer leicht ein,
den Hammer in einer Hand, als hätte er kein Gewicht. Dann
nahm er Maß an einem der Eckpfosten, markierte die Höhe
auf einem Pfahl und schickte Cashin den entstehenden Zaun
entlang, wo er mit Kreide am unteren Teil jedes Pfostens den
entsprechenden Abstand zum Boden anzeichnete. Rebb folgte
ihm und schlug die Pfosten bis zu der Kreidemarkierung ein.
Er schwang den Hammer mit müheloser Eleganz, holte über
dem Kopf aus, wobei er kein bisschen angestrengt wirkte, und
traf das kleine Ziel punktgenau, schlug nie daneben. Dabei ertönte jedes Mal ein dumpfes Klingen, das sich im ganzen Tal ausbreitete, wieder zurückkam und irgendwie traurig klang. Danach spannten sie Draht, vier Reihen, zuerst den unters ten Strang, angefangen beim mittleren Stützpfahl, wobei sie einen Drahtspanner verwendeten, ein gefährlich aussehendes Gerät. Rebb zeigte Cashin den Knoten, mit dem man den Spanndraht am Pfosten befestigte. »Wie heißt der?« »Wer?« »Der Knoten, der Drahtknoten.« »Ist das wichtig?« »Also«, sagte Cashin, »ohne Namen ist die Welt nur Ge grunze und Zeichensprache.« Rebb warf ihm von der Seite einen langen Blick zu. »Der heißt Wickelknoten, ein Name, mit dem Sie nichts anfangen können. Haben Sie meinen Namen nachgeschlagen?« Cashin zögerte. Uber so etwas redete man nicht. »Ihren Namen? Hab nachgesehen, ja. Das ist mein Job.« »Irgendwas gefunden?« »Noch nicht. Sie haben Ihre Spuren gut verwischt.« Rebb lachte. Es war das erste Mal. Sie arbeiteten. Die Hunde kamen, interessiert, langweilten sich, gingen, es gab anderes zu tun. Als sie fertig waren, war es schon mitten am Nachmittag und sie hatten nichts gegessen. Cashin und Rebb standen an der höchsten Stelle und sahen auf den Zaun hinab. Er verlief schnurgerade, die Pfosten standen senkrecht, das Licht der tief stehenden Sonne färbte den neuen Draht silbern. »Ziemlich guter Zaun«, sagte Cashin. Er empfand Stolz, es war ihm noch nicht oft vergönnt ge wesen, auf seine Arbeit stolz zu sein. Er war müde, Becken und Rücken taten weh, doch er war glücklich, irgendwie glücklich.
»Es ist ein Zaun«, sagte Rebb. Er sah woanders hin. »Ist das die neue Nachbarin?« Cashin erkannte die Frau nicht, die den grasbewachsenen Hang herunterkam. Sie trug die Haare offen, hatte Jeans und eine Lederjacke an. Ein paarmal rutschte sie aus, wäre fast auf dem Hintern gelandet. »Ich bring die Sachen hoch«, sagte Rebb. »Zeit zum Mel ken.« Helen Castleman. Cashin ging hinunter zum Zaun, ihr entgegen. »Was ist das?«, sagte sie außer Atem. Sie sah sauber ge schrubbt aus. Dadurch wurde ihm erst bewusst, wie ver schwitzt er war. »Ich repariere nur den Zaun«, sagte Cashin. »Ersetze den Zaun. Ich verlange nicht, dass du die Hälfte bezahlst.« »Wie großzügig von dir. Meines Wissens ist der Bach die Grundstücksgrenze.« »Der Bach?« »Ja.« »Das trifft nicht zu. Wer hat dir das erzählt?« »Der Makler.« »Der Makler? Eine Anwältin verlässt sich auf die Aussage eines Maklers?« Helens Wangenknochen verfärbten sich, ein Herbstton. »Auf so viele Menschen könntest du dich verlassen«, sagte Cashin, »aber ausgerechnet der Immobilienmakler...« »Das genügt, danke. Sie fühlen sich prächtig, stimmt's, Mr. Cashin? Kommen sich mächtig clever vor. Sie treiben den ar men verängstigten Jungen in den Selbstmord, jetzt müssen Sie nicht vor Gericht gehen, das hat er Ihnen abgenommen. U n d alle sind tot, alle Verdächtigen sind tot. Weil Sie und Ihre ver fluchten Kumpel sie umgebracht haben.« Sie drehte sich um, ging den Hügel hoch, rutschte dabei aus. Den ganzen Tag über hatte er einen Jungen auf der Dangar
Treppe vor Augen gehabt, einen braunen Jungen in billigen Jeans, einem Nylonanorak, kaputten Turnschuhen, der auf einem abbröckelnden Kreidefelsen stand; die salzige Gischt stieg hoch wie ein Nebel und hüllte ihn ein, während er auf das tosende Wasser hinabsah. »Hör mal«, sagte er, »verschon mich damit, ich...« Ihr Kopf fuhr herum, mit wehenden Haaren. »Sie verdienen keine Schonung, und ich lasse ein Gutachten erstellen, wir werden ja sehen, was mit dieser Scheißgrenze ist.« Cashin sah ihr nach, wie sie den Hang hinaufstieg. Sie rutschte und stolperte ein paarmal. Auf halber Höhe drehte sie sich um und schaute auf ihn hinab. »Was glotzt du da?«, rief sie. »Warum verpisst du dich nicht einfach?« Als er unter der Dusche stand und überlegte, was er hätte sagen sollen, klingelte das Telefon. Kein Badetuch. Er ging, tropfend. »Zieh jetzt einfach einen Strich drunter«, sagte Villani. »Sie haben Bourgoyne abgeschaltet. Wir werden nie erfahren, was in jener Nacht genau passiert ist.« »Genau?«, wiederholte Cashin. Er zitterte, die Bude war ein riesiger Kühlschrank. »Scheiße, wir hatten nie auch nur die lei seste Ahnung.« »Die Uhr, Joe, die Uhr. Die hat keiner bei einer Tombola auf dem Kirchenfest ergattert. Jemand hat sie dem Alten abgenom men... egal, Scheiß drauf, es ist vorbei.« Cashin wollte noch etwas sagen, hielt aber inne, als sein Blick auf seinen schrumpligen Penis fiel, der in den nassen krausen Haaren lag wie irgendwas in einem Gezeitentümpel. »Die Schikanen«, sagte er dann, »da ist etwas dran...« »Cromarty hätte schon längst gesäubert werden müssen«, sagte Villani. »Nach den Todesfällen im Polizeigewahrsam hat ten sie die Gelegenheit dazu. Aber nein, sie versetzen den Chef und holen sich einen Saubermann, der sich im Verkehrsressort
einen Namen gemacht hat, 'ne Verkehrsampel. Und zack, nach einem halben Jahr sind Hopgood und seine beschissenen As sistenten wieder am Drücker.« »Ich bin nicht glücklich damit«, sagte Cashin. »Ich auch nicht«, sagte Villani. »Ich bin gerade zu Hause. Immer heißt es, ich sei nie hier. Das stimmt, so ist es nun mal. Also beeile ich mich heute, um mit meinen Kindern zu Abend zu essen, und es ist niemand hier. Was sagt man dazu?« »Mein Mitgefühl hast du nicht. Geh wieder Verbrecher ja gen. Ich bin jeden Abend allein zu Haus.« Nachts wachte Cashin auf, probierte es mit Selbsthypnose durch autogenes Training, die Formeln sollten die Gedanken unterdrücken. Er fiel, als er den Kessel vor sich sah, die Wol ken teilten sich, ein Vollmond ließ die Welt silbergrau leuchten, gewaltige Wellen mit Schaumkronen kamen näher, brachen durch den Spalt, pure, ungezügelte, mörderische Kraft.
C
ashin stand früh auf, seine innere Unruhe quälte ihn wie Magenschmerzen, und nahm die Hunde mit auf die lange Strecke. Sie überquerten den Bach hoch oben und gingen auf dem Pfad unterhalb des funkelnden neuen Zauns zurück, auf Cashins jetzt abgeteiltem Land. Nachdem sie alle gefrühstückt hatten, lud er die Hunde ins Auto und fuhr zum Haus seiner Mutter. In Küstennähe nahm er die Straße, die zwischen den beiden vulkanischen Hügeln verlief, auf deren Kraterseen Hunderte von Schwänen, Enten, Sumpfhühnern und zänkischen Möwen mit bösen Augen ein Zuhause fanden. Offenbar waren sie noch nie ausgetrocknet. Cashin erinnerte sich, wie er dort schwimmen gegangen war, als er bei den Doogues lebte. Sie fuhren auf Fahrrädern hin, fünf oder sechs Jungs. Dann wateten sie in das schwarze Was ser, kalter Schlamm quoll zwischen den Zehen heraus, selbst an den heißesten Tagen fröstelten sie. Sie gingen um die abgestor ben Baumstümpfe herum, wichen den Ästen aus, die fast ganz unter Wasser lagen, wie große Schlangen, grün von Moos und Schleim, überall Vogeldreck.
Auf einen Zuruf hin warfen sie sich alle ins Wasser und schwammen los. In der Mitte sammelten sie sich, traten Was ser und spürten die schwarze und bodenlose Tiefe unter sich. Geplant war, zu tauchen und mit einer Hand voll Schlamm wieder nach oben zu kommen. Doch keiner wollte der Erste sein. Schließlich tauchte der Mutigste hinab. Sie warteten, bis er wieder hochkam, ehe ein anderer seinem Beispiel folgte.
Einmal tauchte Bern und schwamm unter Wasser weiter, kam hinter einem toten Baum leise wieder nach oben. Sie warteten darauf, dass er wieder auftauchte. Sie sahen einander an. Dann gerieten sie in Panik. Cashin wusste noch, dass sie, wie auf ein geheimes Signal hin, alle zum Ufer schwammen, um ihr Leben schwammen, Bern aufgaben. Als sie im flachen Wasser standen, schrie Bern: »Feige Schweine. Wie konntet ihr wissen, dass ich nicht da unten fest stecke?« Im Fernsehen kamen die Nachrichten. Vier Personen, darunter eine Polizistin, befinden sich im Krankenhaus nach einem, wie aus polizeilicher Sicht darge stellt, gestern Abend erfolgten Angriff auf einen Streifenwa gen in der Daunt-Siedlung außerhalb von Cromarty. Laut Polizeiangaben wurde ein Wagen auf einer routinemäßigen Kontrollfahrt kurz nach zweiundzwanzig Uhr mit Steinen beworfen. Zwei andere Streifenwagen fuhren zum Tatort. Dort stießen die Beamten auf den ersten Wagen, der in Flammen stand, und eine feindselige Menschenmenge, die die Straße blockierte. Die Beamten versuchten, durch die Menge zufahren, um zu ihren Kollegen zu gelangen, wie ein Polizeisprecher erklärte. Sie wurden jedoch gezwungen, ihre Fahrzeuge zu verlassen und Warnschüsse abzugeben, ehe Ruhe und Ordnung wie derhergestellt werden konnten. Heute verteidigte Polizeiminister Kim Bourke das Vorgehen der Polizei. »Natürlich wird dieser Vorfall sorgfältig untersucht werden, fest steht jedoch, dass es sich um eine hochexplosive Situation handelte. Das Leben der Beamten war in Gefahr, und sie fürchteten um das Leben ihrer Kollegen. Sie ergriffen die notwendigen Maßnahmen.« Ein sechsundvierzigjähriger Mann, eine junge Frau und ein
Jugendlicher aus der Daunt-Siedlung wurden mit Verletzun gen in das Cromarty Base Hospital eingeliefert. Ihr Zustand ist stabil. Wie es heißt, befindet sich auch eine Polizistin mit Kopfverletzungen außer Lebensgefahr. Zwei andere Perso nen wurden ambulant behandelt und inzwischen entlassen. Eine routinemäßige Kontrollfahrt? Durch die Daunt-Siedlung in der Nacht, nachdem Donny Coulter tot aufgefunden wor den war? Was war das für ein Revierleiter, der seinen Leuten nicht einschärfte, sich von der Daunt fernzuhalten? Sie treiben den armen verängstigten Jungen in den Selbst mord, jetzt müssen Sie nicht vor Gericht gehen, das hat er Ihnen abgenommen. Und alle sind tot, alle Verdächtigen sind tot. Weil Sie und Ihre verfluchten Kumpel sie umge bracht haben. Seine Mutter und Harry frühstückten gerade in der Küche, Müsli mit Obst, das sie aus ungleich geformten lila Schalen aßen. »Schon gefrühstückt?«, fragte seine Mutter.
»Noch nicht.«
»Bestimmt gibt es in dieser Ruine nichts zu essen.« Sybil
stand auf und füllte eine andere Schale mit Müsli aus einem Glasbehälter, kippte dann die Reste aus einer Konservendose mit Mischobst hinein. Cashin setzte sich. Sie stellte die Schale vor ihn hin, schob die Milchkanne näher heran. Er goss Milch hinein und aß. Es war erstaunlich genießbar. »Michael hat angerufen«, sagte sie. »Er ist wohlauf, frisch und munter.« Harry nickte. »Frisch und munter.« Er war ein Wiederholer, das war seine Rolle in dieser Ehe. »Gut«, sagte Cashin.
»Ein Unfall«, fuhr Sybil fort. »Der viele Stress bei seiner Arbeit. Dermaßen angespannt, das ist kein gutes Leben.« Cashin spähte in die Müslischale. Was waren das für schwarze Dinger? Kerne? »Er kommt bald mal runter, w i l l sich ein wenig erholen.« »Ein wenig erholen«, sagte Harry. »Eine Gelegenheit für euch, etwas Zeit miteinander zu ver bringen«, sagte Sybil. »Er hat sich sehr freundlich über dich ge äußert, er schätzt dich sehr.« »Ich mag es, wenn man mich schätzt«, sagte Cashin. »Das kommt in meinem Leben so selten vor.« Harry lachte, riss sich aber zusammen, als er Sybils Blick be merkte, und sah in seine Schale. »Vermutlich bist du zu sehr geschätzt worden«, sagte Sybil. »Mit wie viel Liebe und Zuneigung man dich überschüttet hat.« Cashin dachte an die betrunkene Sybil im Wohnwagen, an die Nächte das Wartens, bis sie zurückkam. Er aß ein Stück Dosenpfirsich und ein Stück von etwas anderem, Rosafarbe nem. Geschmacklich identisch. »Schauderhafte Geschichte in der Daunt gestern Abend«, sagte Sybil. »Die Siedlung wird immer mehr zu einer A r t Is rael; die Polizei provoziert die Unterprivilegierten, bis sie ge walttätig werden. Man erzeugt Devianz.« »Man erzeugt was?« »Devianz«, sagte Sybil, »abweichendes Verhalten. U n d du bist ein Teil davon. Du produzierst die Rechtfertigung deiner Existenz.« »Ich?« »Die Maschinerie der Kontrolle. Du bist ein Teil davon, auch wenn es dir nicht bewusst ist.« »Lernst du das auf der Uni?« »Das war schon immer meine Ansicht. Die U n i gibt einem das intellektuelle Rüstzeug.«
»Ich könnte wohl auch ein wenig intellektuelles Rüstzeug gebrauchen. Wie heißt dieses Seminar?« »Iss auf, ich w i l l das Müsli nicht wegwerfen. Ein Biopro dukt, kostet ein Vermögen. Ich hab's auf dem Bauernmarkt ge kauft.« »Auf dem Bauernmarkt«, sagte Harry lächelnd, er hatte das Lächeln eines Muttersöhnchens. Sybil kam mit raus ans Auto. Die Hunde rasteten aus. »Sie können mich nicht leiden«, sagte sie. »Bellen ist nicht persönlich gemeint. Es ist einfach nur Bel len.« Sybil küsste ihn aufs Kinn. »Lass den Kontakt zu Michael nicht abreißen, ja, Liebling«, sagte sie. »Ruf ihn an. Verspro chen?« »Warum hast du mir nicht gesagt, dass Dad Selbstmord be gangen hat?« Sie trat einen Schritt zurück, schlang die Arme um den Oberkörper. »Das hat er nicht. Er ist gestürzt. Er ist ausge rutscht und gestürzt.« »Wo?« Ihre Augen waren feucht. »Beim Angeln«, sagte sie. »Wo?« »Wo?« »Ja. Wo?« »Am Kessel.« Cashin schwieg. Er stieg in den Wagen und fuhr los, ohne zum Abschied zu winken.
K
urz nach Mittag, auf der Rückfahrt aus Cromarty, wo er endlich die Fotos von Tommy Cashins Haus kopiert hatte, fiel Cashin auf, dass er in der Nähe der Abzweigung war, die zu Bourgoynes Anwesen führte. Er wurde langsamer, wendete, fuhr den Hügel hoch. Das ge schah ohne jede Überlegung. Er könnte oben links abbiegen, die Straße nehmen, die um den Hügel herum führte, durch Kenmare fahren und Bern hallo sagen. Er bog rechts ab, fuhr um die Kurven und durch das Tor von The Heights. Er hatte keine Ahnung, warum er das machte, außer dass es ihm vorkam, als könnte er die Angelegenheit dort abschließen, wo sie begonnen hatte. Er parkte und ging im Uhrzeigersinn um das Haus herum. Bestimmt waren wenigstens ein Dutzend Cops die Südseite abgeschritten, in einer Reihe und in Zeit lupe, hatten den Boden gemustert, Zweige hochgehoben, unter Laub nachgeschaut. Heute war kaum Laub da. Alles war tipptopp gepflegt, offenbar wurden die örtliche Footballlegende und sein Sohn immer noch beschäftigt, waren kürzlich aktiv gewesen, hatten Unkraut gejätet, den Rasen gemäht, Kies gerecht. Er ging am Kücheneingang vorbei und durch eine Weinlaube, zur Zeit ohne Blätter, doch die Äste so dicht ineinander verschlungen, dass kaum Licht durchdrang. Ebenerdige Außengebäude aus Backstein zur Linken, ein asphaltierter Innenhof, alte rosa Backsteine in Fischgräten
muster, an manchen Stellen eingesunken, in den Vertiefungen kleine Wasserpfützen. Cashin ging zwischen zwei Gebäuden hindurch, sah durch ein prächtiges schmiedeeisernes Tor in einen Trockenhof, wo zwischen Holzkreuzen genug Wäscheleinen aufgespannt wa ren, um die Wäsche einer ganzen Armee zu trocknen. Er ging weiter, zu einer gemähten Grasfläche, die sich bis zu einem fünfzig Meter entfernten rustikalen Lattenzaun hinzog. Dahin ter befand sich eine große Koppel, an deren Ende eine Reihe hoher Zypressen stand. Hinter den Bäumen lag die Straße. Er kehrte um, umrundete die südwestliche Hausecke. Hier war ein ungenutzter Platz, ein langes, leeres Rechteck, be grenzt von Zitronenbäumen in großen Terrakottatöpfen. Manche von ihnen sahen trostlos aus, hatten gelbe Blätter. Beim alten Haus hatten sie vier Zitronenbäume gehabt, auf der Rückseite. Zitronenbäume musste man anpinkeln, nah am Stamm. Zu diesem Zweck hatte ihn sein Vater oft nach dem Tee mit nach draußen genommen. Sie gingen von Baum zu Baum. Mick Cashin hatte genug für alle vier, der letzte bekam etwas weniger. Bei Joe war frühzeitig Schluss, doch er machte weiter, stand neben seinem Vater und zielte mit seinem kleinen leeren Schlauch auf den Boden. »In manchen Gegenden kriegen sie nichts anderes«, hatte sein Vater erzählt. »In trockenen Ländern. Pisse ist in O r d nung. Wird vom Körper gefiltert. Das Gehirn ist genauso. Be hält die schlimmen Sachen.« A u f der anderen Seite des Hofs stand ein langes einstöckiges Backsteingebäude, Türen und Fenster im Erdgeschoss, Schie befenster oben. Cashin ging hinüber und probierte es mit der großen Doppeltür in der Mitte. Sie ging auf und führte in einen Korridor, der das Gebäude der Breite nach durchzog. Eine Tür zur Rechten war angelehnt. Er machte ein paar Schritte in das Zimmer dahinter. Es war ein großer Raum, durch Fenster auf zwei Seiten gut
beleuchtet, eine Töpferwerkstatt - zwei große Scheiben, eine kleinere, auf Böcken stehende Tische, mehrere stählerne Roll wagen in Reih und Glied, an der gegenüberliegenden Wand gestapelte Säcke, in Regalen kleinere Säcke und Dosen unter schiedlicher Größen; alle möglichen Werkzeuge lagen herum. Tontöpfe waren keine zu sehen. Alles war sauber und ordent lich, wie ein Klassenraum, der täglich nach dem Unterricht ge fegt und aufgeräumt wurde. Cashin ging durch den Flur zu der Tür auf der linken Seite. Dahinter war es dunkel. Er tastete nach einem Schalter, fand mehrere, drückte drauf. Spotlights gingen an, drei Reihen im Dach. Es war eine fens terlose Galerie, der Fußboden aus Stein, mattgrau und glatt, die kahlen Wände in einer blassen Farbe gestrichen. Ein schmaler schwarzer Tisch nahm fast die gesamte Breite des Raums ein. Darauf standen in gleichmäßigen Abständen Cashin zählte sie - neun Gefäße. Sie waren groß, über einen halben Meter hoch, und hatten die Form von Eiern, deren Spit zen abgeschnitten waren, winzige Offnungen. Cashin fand die Form großartig, für diese Form würden sich Töpfe vielleicht selbst entscheiden, wenn Töpfer es zuließen. Er trat näher, betrachtete sie genau. Jetzt sah er kleine Unter schiede in der Form, der Wölbung und darin, wie sie sich nach oben verjüngten. U n d dann die Farben. Die Töpfe waren ge strichelt, gesprenkelt, getupft und gepunktet, in verschiedenen Schwarztönen, die das Licht zu absorbieren schienen, in Rot tönen, die aussahen wie frisches Blut, das durch winzige Risse drang, in den traurigen und herrlichen Blau-,- Braun-, Grauund Grüntönen der Erde, vom Weltall aus betrachtet. Cashin strich mit der Hand außen an einem Topf hinunter. Er fühlte glatte und raue Stellen, als wechsle man von der Wange einer Frau zu einem Dreitagebart. U n d es fühlte sich eiskalt an, als hätte die höllische Feuertaufe den Ton dauerhaft gegen Wärme immunisiert.
War das Bourgoynes gesamte Produktion als Töpfer? Mehr hatte er nicht aufgehoben? Im Haus gab es keine Tontöpfe. Cashin hob einen der Töpfe vorsichtig an und drehte ihn um; unten fanden sich die Initialen C B und ein Datum, 6.11.88. Er stellte den Topf wieder hin und ging zur Tür. Er stand da und betrachtete die Tontöpfe. Er wollte die Lampen nicht aus schalten und die Töpfe wieder dem Dunkel überantworten, wo ihre Farben bedeutungslos waren, vergeudet. Er knipste die Lampen aus. Das übrige Gebäude war eine Antiklimax. Oben befanden sich auf der einen Seite leere Zimmer, auf der anderen gemütli che, vielleicht in den 1970er Jahren möblierte Wohnräume, ein Wohnzimmer, ein Bad, eine Küche. Er öffnete eine Tür - ein kleines Schlafzimmer, ein abgezogenes Doppelbett, ein Nacht tisch, ein Kleiderschrank. Aus dem Fenster sah man auf die Koppeln, kilometerweit nichts. An der Tür zum Flur warf er noch einen Blick in das Wohn zimmer. Die Schlafzimmertür war verriegelt. Er ging ins Erd geschoss, durch die Hintertür auf eine mit Steinplatten ge pflasterte Terrasse, betrachtete gemähten Rasen, alte Ulmen, einen Eichenwald hinter einem Lattenzaun. Geradeaus vor ihm waren der Pferdestall und die Koppel, auf der damals der Hubschrauber gelandet war. Ein betonierter Weg führte unterhalb einer Rampe am lin ken Rand von der Terrasse fort. Cashin folgte ihm, ging durch ein Tor im Zaun und hinein in den dichten Wald. Die Eichen waren riesig, zweifellos von einem Ahnen Bourgoynes ge pflanzt, Bäume, auf die man klettern konnte, die Äste ange ordnet wie Leitersprossen. Trotz der dichten neuen Laub schicht auf dem Boden hingen sie noch voller brauner Blätter. Das Land stieg sanft an, der Weg wand sich durch den Wald, sein Verlauf war durch die Bäume vorgegeben. Cashin war vielleicht dreißig Meter weit gekommen, als er sich dabei er tappte, dass es ihm Spaß machte, ein kleiner Spaziergang durch
einen Wald an einem frühen Wintertag, und er wollte gerade umkehren. Ein Geräusch. Er blieb stehen. Es klang hohl, klagend, als blase jemand in das Gehäuse einer Kaurischnecke. Er ging weiter, das Geräusch wurde lauter. Keine Eichen mehr, eine Feuerschneise, und dann hoch aufragende, alte Eu kalyptusbäume. Sie wurden weniger, und es kam eine Lich tung, an einem sanft abfallenden Hang. Der Weg bog links ab, machte einen Bogen um einen Stapel Holzscheite unter einem Blechdach. Es roch nach einem seit langem erloschenen Hartholz feuer. Cashin blieb stehen, unsicher. Dann ging er weiter, umrun dete den Holzstapel. A u f der Lichtung stand ein tunnelartiges Gebilde aus be tonfarbenen Backsteinen. Es verjüngte sich nach hinten, wurde schmaler und flacher, das Ende wies auf eine Lücke zwischen den Bäumen, auf das ein paar Kilometer entfernte Meer. An der Rückseite stand ein quadratischer Schornstein. Cashin trat näher. Die Erde um das Fundament herum hatte eine Kruste wie Brot. Unten an der Seite befanden sich mit Stahlklappen verschlossene Offnungen, die Backsteine in ihrer Umgebung waren geschwärzt. Aus dem Schornstein ragte eine Stahlplatte, eine Drosselklappe, dachte Cashin, die man zur Regulierung der Luftzufuhr reinschieben oder rausziehen konnte. Auf der anderen Seite gab es noch mehr verschließbare Öffnungen. Vorne war der Tunnel offen. Im Nacken spürte Cashin, wie der Westwind direkt in die Hauptöffnung der Kammer wehte und so das dumpfe Geräusch erzeugte. Das war Bourgoynes Brennofen, der Ofen, in dem seine Töpfe erstanden. Um die Hauptöffnung herum waren geschwärzte Back steine fein säuberlich geschichtet. Er bückte sich, um nachzu sehen: Hinter der verrußten Öffnung befanden sich drei Stu
fen, wie eine kurze Abfolge breiter Altäre. Es roch intensiv, irgendwie chemisch, nach Erhitztem. Der Seewind würde in den angeheizten Brennofen blasen wie Atem in eine Trompete. Wurde er nachts befeuert? Der Ofen summte dann, die Feuerlöcher glühten weiß. In regel mäßigen Abständen müsste Brennstoff nachgelegt werden, da mit die Hitze bestehen blieb. Plötzlich wollte Cashin unbedingt die Lichtung mit ihrem traurigen Geräusch und dem Geruch erloschener Feuer verlas sen. Ihm wurde bewusst, dass ein kalter Wind blies, dass Re gen in der Luft lag. Er ging durch den Wald zurück, hinun ter zu den Gebäuden, setzte seinen Gang um das Haus herum fort, sah sich um, überlegte, wie es wohl wäre, wenn man sich den Gebäuden nachts näherte, wo man am besten einbrechen könnte. Nach wenigen Metern entlang der Nordwestseite des Hau ses kam er an eine Tür, halb aus Glas, vier Scheiben. Er schaute hinein: ein kleines Zimmer, Bodenfliesen, Bänke auf jeder Seite, Mäntel und Hüte an Haken. Er drehte sich um. Der äußerst gepflegte Garten zog sich noch mindestens zweihundert Meter bis zu einem Lattenzaun, dort folgten von Hecken, Baumgruppen und Tümpeln be grenzte Koppeln. Vielleicht eine Laune; halb besoffene junge Burschen fahren vorbei, einer von ihnen kommt auf eine Idee, als er das große Tor und das Messingschild im Scheinwerferlicht sieht. Es sandte eine Nachricht aus, wie in einer Leuchtreklame: HIER W O H N E N REICHE LEUTE. Sie fuhren vorbei? Wohin? Auf dem Rückweg in die Daunt, nachdem man am Strand geangelt und getrunken hatte, könnte man diese Strecke nehmen. Sie wäre weniger riskant als die Hauptstraße. Hatten die Jungs irgendwo an der Straße ein Fahrzeug ab gestellt, waren über einen Zaun geklettert und zum Haus ge
gangen? Einen Kilometer im Dunkeln, hatten Koppeln über quert, Tore geöffnet? Nein, bestimmt nicht. Sie hätten wohl eher in der Nähe des Haupttors geparkt und wären zur Auffahrt gegangen, im Dunkeln, das Anwesen war unbeleuchtet, die mächtigen Pappeln, an denen noch die Blät ter hingen, ließen kein Mondlicht durch. Die Jungs standen am Ende der Auffahrt im Dunkeln und betrachteten das Haus. Schien drinnen Licht? Bourgoynes Schlafzimmer lag nach hinten hinaus. Im Bett war er nicht. Wo war er? Im Arbeitszimmer? Gingen sie hinters Haus, sahen dort, dass im Arbeits- und Schlafzimmer Licht brannte? Falls ja, wären sie so weit wie möglich davon entfernt eingebrochen. Diebe brachen nicht dort in bewohnte Häuser ein, wo Licht brannte. Der Bewohner könnte bewaffnet sein. Womit hatten sie Bourgoyne geschlagen? War es etwas, das sie mitgebracht und anschließend wieder mitgenommen hat ten? Mittlerweile hatte man die Leiche obduziert, der Patho loge hatte bestimmt eine Meinung, doch die besagte womög lich nur, dass eckige Gegenstände auszuschließen seien, oder runde, die größer waren als der Griff eines Golfschlägers. Er hörte ein Geräusch. Die Tür des Wintergartens öffnete sich, und Erica Bourgoyne kam heraus. Sie trug weich ausse hende Kleidung, Grautöne, sah heute jünger aus, man hätte sie glatt für dreißig halten können. »Was soll das?«, sagte sie. »Sehe mich nur noch mal um«, sagte Cashin. »Das mit Ihrem Stiefvater tut mir leid.« »Danke«, sagte Erica. »Weshalb sehen Sie sich jetzt noch mal um?« »Der Fall ist nicht abgeschlossen.« Ein Mann mit vorzeitig ergrauten Haaren trat hinter ihr ins Freie. Er war ein Stückchen größer als klein, braungebrannt, dunkler Anzug, helles Hemd und blaue Krawatte. »Was ist los?«, sagte er.
»Das ist Detective Cashin«, sagte Erica. Er kam um sie herum, streckte die Hand aus. »Adrian Fyfe.« Als Cashin den festen Griff spürte, den Handschlag eines echten Mannes, gab er Fyfe den toten Fisch, zog seine Hand wieder weg. Das war Adrian Fyfe, der Anwalt und Bau unternehmer, der an der Mündung des Stone's Creek eine Fe riensiedlung bauen wollte. Cashin fiel Cecily Addisons Wut ausbruch an jenem Morgen im Zeitungsladen ein. Allerdings verschweigt dieses Käseblatt, dass es nur Zweck hat, die Mün dung des Stone's Creek zu kaufen, wenn man auch hinkommt. Und hin kommt man nur durch das Naturschutzgebiet oder durch das Camp. »Er wäre doch verurteilt worden, stimmt's?«, sagte Erica. »Ich meine Donny Coulter.« »Das steht nicht fest«, sagte Cashin. »Was ist mit der Uhr?« »Ein Zeuge sagt aus, zwei der Verdächtigen hätten versucht, sie ihm zu verkaufen. Wir wissen nicht, wie sie in deren Besitz gekommen sind.« »Das wissen Sie nicht?«, sagte Adrian Fyfe. »Das ist doch verdammt offensichtlich, oder?« »Bei solchen Sachen ist nie etwas offensichtlich«, sagte Cashin. »Egal, es ist vorbei«, sagte Fyfe. »Die ganze Geschichte. Der Gerechtigkeit wurde halbwegs Genüge getan.« »Wie sinnlos«, sagte Erica, jetzt teilnahmslos. »Einen alten Mann umzubringen wegen einer Uhr und ein paar Dollar oder was auch immer sie genommen haben. Was für Menschen tun so was?« Cashin versuchte nicht mal zu antworten. »Wir hätten gern Zugang zu den Gebäuden, wenn Sie nichts dagegen haben.« Eine kurze Pause. »Nein, ich habe nichts dagegen«, sagte sie. »Ich komme nicht wieder hierher. Irgendwann w i r d das A n wesen verkauft. In der Küche hängt ein großer Schlüsselbund.
Dutzende von Schlüsseln. Geben Sie sie Addison, wenn Sie fertig sind.« Sie folgte ihm um das Haus herum. Sie gaben sich die Hand. Derselbe Bodyguard lehnte an dem Saab und rauchte. »Die Sache mit dem Kies«, sagte er zu Cashin. »Eines Tages reiß ich dir den Kopf ab und steck ihn dir in den Arsch.« »Bedrohen Sie etwa einen Polizeibeamten?«, sagte Cashin. »Sie stehen wohl über dem Gesetz?« Der Mann drehte verächtlich den Kopf weg, spuckte auf den Kies. Cashin sah sich um. Erica stand immer noch da. Er kehrte um, stieg die Treppe hoch. »Übrigens«, sagte er. »Wer erbt?« Erica sah ihn an und blinzelte zweimal. »Ich. Das, was er nicht anderen vermacht hat.«
R
ebb mauerte Backsteine, baute die eingestürzte Nordost ecke des Hauses wieder auf. Cashin sah ihm eine Weile zu wie er scheibchenweise den Mörtel nahm, den Backstein damit bestrich, den Stein routiniert an seinen Platz legte, mit dem Griff der Kelle darauf klopfte, den überschüssigen Mörtel ab schabte. »Uberwachen Sie mich?«, sagte Rebb, ohne den Blick von der Arbeit abzuwenden. »Chef.« Cashin wollte etwas sagen, schaffte es aber nicht. »Was soll ich machen?«, fragte er. »Mischen. Drei Teile Zement, neun Teile Sand. Vorsicht mit dem Wasser.« Cashin war ausgesprochen vorsichtig. Dann verdarb er die Mischung durch Überfluten. »Das Gleiche noch mal«, sagte Rebb. »Diesmal halbe Spa ten.« Er kam rüber und goss das Wasser hinein, einen Schluck nach dem anderen, nahm den Spaten, teilte und mischte den Mörtel. »So soll der Pudding sein«, sagte er. Die Hunde kamen von einem Ausflug ins Tal zurück, be grüßten Cashin mit Nasen und Zungen, um gleich wieder zu verschwinden, weil sie zu irgendeinem Notfall gerufen wur den - vielleicht eine Kaninchenrettung, weil sich das arme Tier in einem Dickicht verfangen hatte. Cashin schleppte Backsteine, beobachtete Rebb, bekam die Mischung beim nächsten Mal einigermaßen hin. Das Geheimnis war äußerste Vorsicht. Die Arbeit wurde in Richtung der ent
gegengesetzten Ecke fortgesetzt, ein Bindfaden wurde gespannt, so straff, dass man ihn zum Klingen hätte bringen können. »Schon mal einen Backstein gemauert?«, fragte Rebb. »Nein.« »Dann los. Ich muss pinkeln.« Er ging. Cashin mauerte drei Steine. Es dauerte ewig und sah furcht bar aus. Als Rebb zurückkam, sagte er nichts, nahm die Steine wieder weg, säuberte sie. »Augen auf«, sagte er. Cashin sah ihm zu. Rebb verlegte die drei Backsteine in einer Minute neu. »Die Senkrechten müssen immer gleich breit sein«, sagte er. »Sonst sieht's schlimm aus.« »Wollen Sie was essen?«, sagte Cashin. »Dann arbeite ich an meinen Senkrechten. Was auch immer so eine Scheißsenk rechte sein mag.« Es war nach drei Uhr nachmittags. Von der weniger schlech ten Bäckerei in Cromarty hatte er Pasteten mitgebracht. Gefüllt mit Rindfleisch und Zwiebeln. Die aßen sie, im Windschatten des Backsteinhaufens sitzend, im schwächer werdenden Son nenschein. »Nicht übel«, sagte Rebb. »Da ist ordentlich Fleisch drin.« Er kaute. »Das Problem hier sind die Türen und Fenster«, sagte er. »Wir wissen nicht, wo sie hingehören.« »Doch. Ich hab die Fotos. Hatte ich ganz vergessen.« Als Cashin mit den Fotos zurückkam, hatte Rebb eine Ziga rette gedreht. Er sah sich die Bilder an. »O Gott, da fehlt ja so einiges. Das ist ein gewaltiges Vorhaben.« »Stimmt«, sagte Cashin. »Eigentlich nicht zu schaffen. Das hätte ich vorher sagen sollen.« Es war ihm klar geworden, als er sich die alten Fotos ansah. Auf einem standen Thomas Cashin und sechs Männer vor dem Haus, Bauarbeiter. Thomas hätte genauso gut Michael in einem altmodischen Anzug sein können. Sie saßen stumm da. Im Tal gab erst der eine Hund das hohe Jagdbellen von sich, dann der andere. Ein Ibis flog hoch, noch
einer, sie flatterten davon wie Urzeitwesen. Rebb stand auf, ging hinter den Backsteinstapel und hielt ein Foto hoch. Er be trachtete sein neu aufgemauertes Stück des Hauses, dann das Foto. Dann kam er wieder und setzte sich. »Ist so ähnlich, als würde man dreißig Kilometer Zaun bauen«, sagte er. »Man denkt immer nur an das Stück bis zum nächsten Baum.« »Nein«, widersprach Cashin. »Es ist eine idiotische Idee.« Er war erleichtert, dass der Wahnsinn nun ein Ende hatte. Als hätte ein Fieber seinen Höhepunkt überschritten, danach war man in Schweiß gebadet, aber bei klarem Verstand. »Das Haus ist ein Wrack, das sollte es auch bleiben.« Rebb bohrte mit einem Stiefelabsatz in der Erde herum. »Also, ich weiß nich. Ist doch gar nicht so übel. Immerhin bauen Sie etwas.« »Ich kann darauf verzichten. Es ist sinnlos.« »Was ist denn schon sinnvoll?« »Es ist eine idiotische Idee. Ich geb's ja zu, belassen wir's da bei.« »Na ja, Sie haben das ganze Material. War irgendwie Ver schwendung, jetzt aufzuhören.« »Ich habe eine Entscheidung getroffen.« »Man kann seine Entscheidungen auch übereilt treffen.« Cashin spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg. »Ich habe mehr Erfahrung darin, Entscheidungen zu treffen als der durch schnittliche Landstreicher«, sagte er, bereute seinen Polizisten tonfall aber sofort. »Ich bin ein Wanderarbeiter«, sagte Rebb, ohne ihn anzuse hen. »Die Leute bezahlen mich dafür, die Arbeit zu machen, die sie nicht selbst machen wollen. So wie der Staat Sie dafür bezahlt, das Eigentum der Reichen zu beschützen. Kaum ru fen die Reichen an, brausen Sie mit eingeschalteter Sirene los. Wenn die Armen anrufen, heißt es: Bleib dran, es gibt eine Warteliste, irgendwann seid ihr an der Reihe.«
»Blödsinn«, sagte Cashin. »Blödsinn. Sie haben überhaupt keine Ahnung, was Sie da quatschen...« »Die toten Jugendlichen«, sagte Rebb. »Ist das so eine Ent scheidung, wie die, von denen Sie sprachen?« Cashin spürte, wie seine Wut nachließ, spürte den blecher nen Geschmack im Mund. »Der Unterschied zwischen uns beiden«, sagte Rebb, »der Unterschied ist, dass ich nicht an meinem Arbeitsplatz bleiben muss. Ich kann einfach gehen.« Als sie schwiegen, kamen die Hunde, schleckten und stups ten die beiden, als hätten sie, während sie im Tal das Gestrüpp durchstöberten, die Aggressivität in den Stimmen ihrer Freunde gehört und wären rasch herbeigeeilt, um sie zu beruhigen. »Jedenfalls hab ich kein Recht, Ihnen gegenüber meine Mei nung zu äußern«, sagte Rebb. »Als Landstreicher.« Cashin hatte keine Ahnung, was er sagen sollte; die Locker heit, die im Lauf der letzten Tage zwischen ihnen entstanden war, war verschwunden, und zwischen ihnen gab es keinerlei Übung in Streitereien - gewonnen, verloren, unentschieden, abgebrochen -, auf die sie hätten zurückgreifen können. »Zeit zum Melken«, sagte Rebb. Er stand auf und ging, ließ den Spaten im Sandhaufen ste cken, seine Maurerutensilien lagen im Eimer, die Griffe ragten aus dem silbrigen Wasser. Die Hunde begleiteten ihn den Hang hinunter, sahen vor dem welken Gras noch schwärzer aus. Vergnügt trotteten sie des Wegs. Dann hielten sie an, drehten sich um, musterten mit ihren dunklen Augen den auf seinen Backsteinen sitzenden Cashin. Rebb schlenderte weiter, Hände in den Taschen, mit ge senktem Kopf und hängenden Schultern. Die Hunde waren hin- und hergerissen. Am liebsten hätte Cashin ihnen gesagt, sie sollten Rebb be gleiten - nur zu, ihr treulosen Biester, ich habe euch bei mir
aufgenommen, ich habe euch gerettet, ohne mich wärt ihr heute in irgendeinem betonierten Hinterhof, knietief versun ken in euren eigenen Exkrementen, und könntet ein Kanin chen nicht von einem Brathähnchen aus dem Imbiss unter scheiden. Doch ich war für euch nie mehr als Essen satt und ein weiches Bett, Beine, auf denen ihr liegen konntet. Also weg mit euch. Verpisst euch. Haut ab. Die Hunde liefen zu ihm zurück, mit diesen herrlich fe dernden Sätzen und fliegenden Ohren. Sie sprangen hoch, leg ten ihm die Pfoten auf die Schultern und redeten mit ihm. Er rief: »Dave.« Keine Reaktion. »DAVE.« Rebb wandte den Kopf, blieb jedoch nicht stehen. »NA SCHÖN, WIR BAUEN DAS SCHEISSDING WIE DER AUF!« Rebb ging weiter, hob aber den rechten A r m und streckte den Daumen empor.
D
as Telefon klingelte, als er Toast machte. »Joe, es ist Zeit, die Sache zu beenden«, sagte Villani. »Es ist vorbei.« »Wie kommst du auf >vorbei«, sagte Cashin. »Weil Donny sich zu Tode stürzt? Das ist kein Geständnis, sondern eine A n klage gegen die hiesigen Arschgeigen.« »Hast du gestern Abend Bobby Walshe gesehen?« Cashin setzte sich an den Tisch. »Nein.« »Nicht den Kontakt zur Welt verlieren, mein Junge. A n scheinend haben wir drei unschuldige schwarze Kinder ge kreuzigt. Es gibt nur noch Jesus und keine Diebe mehr, alle sind sauber.« »Dazu möchte ich sagen ...« »Und da ist noch etwas«, sagte Villani. »Jemand hat mit je mandem gesprochen, der mit dem stellvertretenden Chef ge sprochen hat, der direkt mit mir gesprochen hat. Es geht um deinen gestrigen Besuch in Bourgoynes Haus.« »Und?« »Man w i l l von mir wissen, warum wir immer noch um The Heights herumschleichen.« »Ich mache nur meine Arbeit. Die Beschwerde stammt von Erica, stimmt's?« »Die Bude ist bereits komplett auf den Kopf gestellt wor den. Was, zum Teufel, hast du da noch gemacht?« »Hab rumgeschnüffelt. Erinnerst du dich ans Rumschnüf feln? Erinnerst du dich an Singo?«
»Zum Schnüffeln ist es zu spät. Gib endlich Ruhe, klar?« »Es steht überhaupt nicht fest, dass die Jungs es waren«, sagte Cashin. Es war ihm einfach so herausgerutscht. Villani pfiff, kläglich. »Tja, Joe, ich hab 'ne Menge um die Ohren, es wird immer mehr. Tag für Tag. U n d nachts. Was hältst du davon, wenn wir uns später über deine Erkenntnisse unterhalten? Ich ruf dich an. Sobald ich einen Moment Ruhe habe. In Ordnung?« »In Ordnung. Klar.« »Ja?« »Ja.« »Du bist ein Cop, Joe, vergiss das nicht. Man ist nicht be sessen. Man gibt sein Bestes und hakt die Sache ab.« Cashin hörte Singos Stimme. »Keiner hat bei dieser Sache sein Bestes gegeben«, sagte er. »Keiner hat auch nur das Geringste unternommen.« »Ich wünsche dir einen stressfreien Tag«, sagte Villani. »Hab ich dir gesagt, dass dein Urlaub verlängert wurde? Der Vizechef will, dass du die gesamten fünf Wochen nimmst, die dir noch zustehen. Er macht sich Sorgen um deine Gesundheit und um dein Wohlbefinden. So ist er halt. Fürsorglicher Mensch. Du hörst von mir.« Man ist nicht besessen. Diese Worte hatte er gewählt, um zu erinnern, zu warnen. Um zu kränken. Cashin spürte die stärker werdende Übelkeit und den Schmerz in seiner Schulter, der in den Hals und dann in den Kopf aufsteigen würde. In der schlimmsten Zeit hatten diese Symptome das Kommen der erstarrten Bilder angekündigt, der unheimlichen Negative, die noch auf seiner Netzhaut blie ben, nachdem er von allem weggeschaut hatte. Damals stand für ihn fest, dass er verrückt wurde. Er nahm drei Tabletten, setzte sich in den Sessel, den Kopf zurückgelegt, schloss die Augen, konzentrierte sich auf seine Atmung und wartete. Der Schmerz wurde nicht mehr so
schlimm wie früher, die Übelkeit ließ nach. Doch fast eine Stunde verging, ehe er wieder aufstehen konnte. Er wusch sich Gesicht und Hände, putzte sich die Zähne, gurgelte und fuhr dann auf leeren Straßen nach Port Monro. Die Rinder beach teten ihn nicht. Er parkte vor dem Postamt. Vier Briefe in seinem Postfach, nichts Persönliches. Keiner schrieb ihm. Wer sollte ihm auch schreiben? Keine Seele auf der ganzen weiten Welt. Er ging um die Ecke zum Revier. Kendali saß an der Aufnahme. »Kann nicht mit der Arbeit leben, aber ohne...«, sagte sie. »Chef.« »Hältst du den Frieden im Städtchen aufrecht?« »Jawohl, Sir. Habe die Einheimischen wissen lassen, dass du im Falle ihres schlechten Benehmens zurückkommen würdest.« Cashin ging an seinen Schreibtisch, las die Revierberichte, die offiziellen Bekanntmachungen, saß da und betrachtete den Hinterhof. »Darf ich etwas Privates erledigen, während du hier bist, Chef?«, fragte Kendall. »Nur zu«, sagte Cashin. Sie war gerade mal eine Minute weg, als ein junger Mann durch die Tür kam, schmal wie ein Windhund, und sich umsah wie ein Bankräuber bei seinem ersten Überfall. Cashin trat an den Tresen. »Kann ich helfen?« »Die finden, ich sollt' mit euch reden.« Der Mann zog den abgerundeten Schirm seiner Mütze nach unten. »Ja? Sie heißen?« »Gary Witts.« »Was können wir für Sie tun, Mr. Witts?« »Problem mit der Freundin. Genau.« Cashin schenkte ihm das mitfühlende Lächeln. »Die Freun din.« »Genau. W i l l sie nich in Schwierigkeiten bringen. Sie ist meine Freundin.«
»Und das Problem?« »Tja, das ist mein Pick-up.« »Die Freundin und Ihr Pick-up?« »Ich w i l l ja keine Anzeige erstatten oder so was.« »Gegen ihre Freundin? Nein, das wollen Sie nicht.« »Was nich heißt, dass ich nich stinkig bin. Ich bin schließlich kein beschissener Putzlappen, Mann, oder so was. Ich nich.« »Was hat sie gemacht?« »Is mit mei'm Pick-up nach Queensland gefahren. M i t ihrer Freundin aus Cromarty, sind Friseusen, Auszubildende. Bei WowHair. Kennen Sie den Laden? Genau da.« »Sie hat den Pickup also ohne Ihre Erlaubnis genommen?« »Nö. Den hab ihn ihr geliehen. Aber jetzt w i l l sie wohl nicht zurückkommen. Hat in Surfers Paradise so 'n Typ kennenge lernt, Carlo, Mario, irgend so 'n Spaghettiname; der hat drei Salons, hat ihr 'n Job angeboten. Jetzt glaubt sie, der Pick-up gehört eigentlich ihr.« »Wieso das denn?« Gary zupfte wieder am Schirm seiner Mütze, bis Cashin die Augen nicht mehr sah. »Sie hat mir die Anzahlung gelie hen.« Cashin wusste Bescheid. »Und sie hat auch die Raten be zahlt?« »Nur vorübergehend. Ich zahl's ihr zurück. Hab jetzt 'njob.« »Wie lange hat sie die Raten bezahlt?« »O Mann, keine Ahnung, 'ne Weile. Ein Jahr, bisschen län ger. Vielleicht auch zwei. Genau.« »Was erwarten Sie jetzt von uns?«, sagte Cashin. »Ich hab mir gedacht, Sie könnten ein paar Cops hin schicken, die ihr sagen, sie soll den Wagen zurückbringen. Sie ein bisschen unter Druck setzen. Sie wissen schon ...« Cashin legte die Unterarme auf den Tresen, faltete die Hände und schaute unter Garys Mützenschirm. »Gary, so etwas ma chen wir nicht. Sie hat kein Verbrechen begangen. Sie haben ihr
den Pick-up geliehen. Sie schulden ihr jede Menge Geld. Am besten fahren Sie hin, bezahlen Ihre Schulden und kommen mit dem Pick-up wieder nach Hause.« »Oh, Scheiße«, sagte Gary, »das läuft nich.« »Dann müssen Sie einen Anwalt aufsuchen. Zivilrechtlich gegen sie vorgehen.« »Zivil?« »Ein Anwalt erklärt Ihnen das. Der schreibt ihr einen Brief, in dem er sie auffordert, den Pick-up zurückzugeben, sonst...« Gary nickte, kratzte sich am Ohr. »Vor Cops hat sie ziemli che Angst. Man könnte ihr ganz leicht Angst machen, glauben Sie mir.« »Wir sind keine Angsteinjäger, Gary.« Gary ging zur Tür, an den hängenden Schultern konnte man seine Enttäuschung ablesen. Er zögerte, machte kehrt, schniefte. »Noch was«, sagte er. »Wieso unternehmt ihr nix ge gen die verdammten Piggots?« »Weswegen sollten w i r was unternehmen?« »Die verdienen sich mit Drogen 'ne goldene Nase.« »Worauf wollen Sie hinaus, Gary?« »Na, ihre Freundin, mit der sie weggefahren ist. Die steckt mit den Piggots unter einer Decke. Schätze, sie haben unter wegs was von dem Zeug abgeliefert, wer kontrolliert schon zwei Weiber, stimmt's?« »Das wissen Sie genau, oder?« Gary sah weg. »Ich sag nich, dass ich's weiß, sag auch nich, dass ich's nich weiß.« »Wie heißt sie? Die Freundin?« »Lukie Tingle.« »Ihre Adresse und Telefonnummer, Gary.« »Nö. W i l l damit nichts zu tun haben. Tschüs.« »Gary, seien Sie nicht albern. Ich finde Sie in fünf Minuten, parke vor Ihrem Haus und komme auf 'ne Tasse Tee rein, wie hört sich das an?«
»Scheiße, machen Sie mal halblang, okay?« Er nannte eine Adresse und eine Telefonnummer und ging ohne ein weiteres Wort, vorbei an Kendall, die gerade zur Tür hereinkam. Als Cashin nach Hause fuhr, sagte der Mann im Radio: »Die Regierung des Bundesstaates läuft Gefahr, bei der nächsten Wahl in Cromarty die weißen Stimmen und ihren dortigen Sitz zu verlieren, wenn sie in Sachen Gesetz und Ordnung als nachlässig empfunden wird. Und sie braucht jeden Sitz. Das ist also ein echtes Dilemma. Für die Bundes regierung, Janice, ist es ein regelrechter Alptraum, wie viel Profit Bobby Walshe aus Cromarty geschlagen hat. Das be deutet natürlich ein riesiges Plus für United Australia.« »Wie viel bedeutet es genau, Malcolm?« »Bobbys Auftritt gestern Abend war beeindruckend, die Leidenschaft, seine Trauer. Er hat es landesweit in sämtliche Fernsehnachrichten geschafft, enorme Sendezeiten im Ra dio. Bobby hat Cromarty eine Art symbolischen Status ver liehen, was sehr wichtig ist, Janice. Das Bild von den drei gekreuzigten schwarzen Jugendlichen war dermaßen aussa gekräftig, glauben Sie mir, das hat viele ganz unterschiedli che Menschen angesprochen. Ein Bild von biblischer Kraft. Die Reaktion darauf heute war unglaublich. Menschen ha ben geweint, sogar solche aus typischen Redneck-Gegenden. Diese Worte sind auf große Resonanz gestoßen.« »Aber wird sich das auch landesweit auswirken, ich meine... ?« » Wir leben in einer interessanten Zeit, Janice. Die Regierung hat nicht nur Angst davor, Cromarty zu verlieren. Die Re gierung kann ohne Cromarty leben. Nein, es herrscht die spürbare Angst, dass United Australia überall im Land an Stimmen gewinnt, sich zu einer echten Koalition der Be nachteiligten entwickelt. Und man hat eine Heidenangst da
vor, dass Bobby Walshe dem Schatzkanzler dessen eigenen Wahlkreis abnimmt. Der für ihn bisher eine Art Erbhof war. Jetzt braucht Bobby neun Prozent Zugewinn, und es könnte ihm gelingen, Janice. * »Danke sehr, Malcolm. Malcolm Lewis, unser politischer Redakteur zu den großen Fragen, die heute das politische Leben beherrschen. Sagte ich Leben? Verzeihen Sie. Mein nächster Gast kennt sich beim Thema Leben aus, denn er hätte seins beinahe verloren, als...« Cashin fand den Klassiksender. Klaviermusik. Allmählich kam er auf den Geschmack, was klassisches Piano betraf - das Ge klimper mit flinken Fingern, die Dramatik, wenn die letzten Noten in der Luft schwebten wie das Parfüm von Frauen, die man begehrte. Am allermeisten gefielen ihm die Pausen, die Lücken .zwischen dem, was war, und dem, was noch kam.
S
ie arbeiteten wieder am Haus. Als es Zeit zum Melken war, hatten sie bis zur ersten Tür Backsteine in Höhe der Fens terbretter aufgemauert. »Auf dem Foto sind die Fensterbretter aus Stein«, stellte Rebb fest. »Waren wohl auch Türstürze aus Stein. Hier stand 'ne mordsgroße Tür.« »Ich red mit Bern«, sagte Cashin. »Gut möglich, dass er sie sogar geklaut hat.« Rebb ging. Cashin arbeitete noch eine Stunde im Garten, machte dann mit den Hunden einen kleinen Spaziergang in der kalten Dämmerung. Heute Abend hatte er nur gelegentlich stechende Schmerzen. Er war müde, litt aber nicht. Hunde füt tern, duschen, Feuer anmachen, ein Bier öffnen, Wasser für Nudeln heiß machen. Rebb klopfte, kam rein, die Hunde waren sofort bei ihm. »Landvermesser waren unten«, sagte er, stand im Halbdun kel, sah bedrohlich aus. »Am Zaun. Zwei Typen. Als ich zum Melken ging.« »Sie hat kein Glück«, sagte Cashin. »Wirft ihr Geld zum Fenster raus. Der Makler ist die Schlange, den sollte sie mal überprüfen. Die Nudeln sind bald gar.« »Hab bei dem Alten gegessen, ist ein bisschen einsam, lässt einen nicht gehen. Was er nie zugeben würde. Er würd' nicht mal zugeben, wenn ein Krokodil an seinem Bein hängt.« Eine Pause. »Was das Haus angeht.« »Ja?«
»Wir können es hochziehen, bis Sie so weit durchblicken, dass Sie es allein schaffen«, sagte Rebb. Cashin spürte den Stich eines bevorstehenden Verlusts. »Hören Sie«, sagte er, »liegt es daran, dass ich Sie Landstreicher genannt habe? Es tut mir leid, es tut mir wirklich leid.« »Nein«, sagte Rebb. »Ich bin ein Landstreicher, und Land streicher müssen weiterziehen. Wir sind wie Haie. Thunfische, wir sind eher wie Thunfische.« »Sie werden dem Alten fehlen.« Cashin wusste, dass er sich selbst meinte. Rebb sah nach unten, streichelte Hundeköpfe. »Na ja, alles geht vorbei. Er w i r d jemand anders finden. Dann gute Nacht.« Cashin aß vor dem Fernseher, die Hunde auf dem Sofa, ent spannt wie Geparde, an jedem Sofaende ein Kopf. Er legte Ka minholz nach, goss sich einen großen Whisky ein, saß da und überlegte. Michael die Schwuchtel. Wusste seine Mutter, dass Michael schwul war? Bisexuell, er war bisexuell. Sie wusste es. Frauen wussten so etwas immer. War Michaels sexuelle Orientierung nicht einerlei? Die Krankenschwester Vincentia Lewis, die ihm die CDs ihres Vaters geschenkt hatte, war lesbisch. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte er sie geheiratet und von der Hoffnung gelebt. Welcher Hoffnung? Was hatten Männer denn zu bieten? A u f dem Totenbett riefen sie nach ihren Müt tern. Mick Cashin war im Kessel ertrunken. Er hat sich das Leben genommen. Eine schreckliche Formulierung. Sich das Leben nehmen. Das war die drastischste Geltend machung eines Besitzanspruchs - die ewige Stille zu wählen, zu beschließen, dass man einschlafen will, ohne jemals wieder die Morgendämmerung zu erleben, das Vogelzwitschern, den Geruch des Meeres im Wind. Mick und Michael Cashin hatten sich beide entschieden, diesen Weg zu gehen.
Über so etwas dachte man nicht nach. Sein Vater hatte immerzu gelacht. Sogar wenn er etwas Erns tes gesagt oder geschimpft hatte, sagte er gleich etwas Lustiges und lachte. Warum behauptete seine Mutter immer noch, es sei ein U n fall gewesen? Michael gegenüber hatte sie erklärt, sie würde ihm, Joe, erzählen, sein Vater habe Selbstmord begangen. Was sie nicht fertigbrachte, nicht mal nach all den Jahren. Wahr scheinlich hatte sie ihre eigene Erinnerung manipuliert. Sybil hatte die Realität gemeistert. Es gab keinen Grund, die unan genehmen Ereignisse zu dulden. Aber warum hatte es ihm niemand anders erzählt? Als er zu den Doogues gezogen war, hatten sie es alle gewusst, aber nie ein Wort darüber verloren, hatten seinen Vater nie erwähnt. Be stimmt hatte man den Kindern eingeschärft, nicht über Mick Cashin zu sprechen. Niemand erwähnte je das Wort Selbst mord. Im Krankenhaus, ganz zu Anfang, als er überhaupt kein Zeitgefühl hatte, hatte Vincentia bei ihm gesessen, seine Hand gehalten, ihm mit den Fingern über den A r m gestrichen bis zum Ellbogen. Sie hatte lange Finger und kurze Nägel. Das Selbstmord-Gen der Cashins. Wie viele Cashins hatten sich umgebracht? Nachdem sie sich vermehrt, die nächste Ge neration Depressiver gezeugt hatten. Wenn man von Michael absah. Nach ihm war Schluss. Genau wie bei mir, dachte Cashin, ich bin auch so eine Sack gasse. Doch das stimmte nicht. An dem Tag, als er den Jungen aus dem Schultor hatte kommen sehen, wusste er, dass er ohne Zweifel sein Sohn war - das gleiche längliche Gesicht, die lange Nase, die rabenschwarzen Haare, das Grübchen im Kinn. Sein Sohn trug das Gen in sich. Er sollte es Vickie erzählen. Sie sollte es wissen. Quatsch. Er war nicht depressiv. Manchmal war er schlecht
drauf, mehr nicht. Das ging vorbei, so wie die Übelkeit ver schwand, so wie der Schmerz und die unheimlichen erstarrten Bilder verschwanden. Vor Rai Sarris war es ihm gut gegangen. Jetzt war er halt Rekonvaleszent und erholte sich von einem Unfall, einem Überfall. Von dem mörderischen Angriff eines verdammten Irren. Rai Sarris. Anschließend, im Krankenhaus, wurde ihm all mählich klar, wie besessen er inzwischen von dem Mann war. Sarris war kein gewöhnlicher Mörder. Sarris hatte in einem La gerraum in Flughafennähe zwei Männer verbrannt. Kroatische Drogenkuriere. Erst folterte er sie, dann verbrannte er sie bei lebendigem Leib. Bis man genug Beweise beisammen hatte, um ihn deswegen anzuklagen, vergingen fünf Jahre. U n d dann verschwand Sarris. Wo mochte Rai in diesem Augenblick sein? Was machte er gerade? Goss sich einen D r i n k ein, auf einem exklusiven, am Kanal gelegenen Anwesen in Queensland, draußen das Boot, und das Ganze im Besitz von Drogendealern, Wirtschaftsver brechern, Bordellbesitzern und Immobiliengangstern? War Rai an dem Tag, als er mit seinem Wagen in sie hinein fuhr, bereit gewesen zu sterben? Er war verrückt. Er war ver mutlich nie auf den Gedanken gekommen zu sterben. Cashin dachte daran, wie er mit Shane Diab in dem rampo nierten roten Sigma der Überwachungsabteilung gesessen und sie den körnigen kleinen Bildschirm betrachtet hatten, auf dem man das zwei Meter hohe Tor ein Stück weiter unten an der Straße sah. Als die Torflügel aufglitten, empfand er keinerlei Unruhe. Er wusste noch, dass er einen Kuhfänger sah, den mächtigen Frontschutzbügel eines großen Geländewagens. Er sah nicht den Kombi, der die Straße hinunterfuhr, die auf dem Rücksitz angeschnallten Kinder. Dem Fahrer des Panzers waren Kombis mit Kindern drin egal.
Auf dem Bildschirm sah Cashin den Panzer aus dem Tor rasen und nach rechts abbiegen. Es gab einen Augenblick, in dem er wusste, was geschehen würde. Nämlich als er Rai Sarris' Gesicht sah. Er kannte Rai Sarris, er hatte sieben Stunden in einem kleinen Raum mit Rai Sarris verbracht. Doch da war der Nissan Patrol nur noch wenige Meter ent fernt. Die Kriminaltechnik schätzte, dass der Nissan über sechzig fuhr, als er gegen das rote Auto prallte, es ins Rollen brachte, halb auf es hinauffuhr, es durch eine niedrige Gartenmauer schob, quer durch ein Gärtchen, in das Panoramafenster eines Hauses, in ein Wohnzimmer mit Klavier, auf dem Fotografien in silbernen Rahmen standen, an der Wand dahinter das k i t schige Gemälde eines Eukalyptusbaums. Die Fahrzeuge zerstörten auch diese Wand, und da tragende Teile einstürzten, fiel das Dach auf sie hinunter. Langsam. Der Fahrer des Kombis sagte aus, der Geländewagen sei im Rückwärtsgang aus der Ruine gekommen, aus dem vorstädti schen Gärtchen, und weggefahren. Er wurde in sechs Kilome tern Entfernung gefunden, auf dem Parkplatz eines Einkaufs zentrums. Shane Diab starb in dem zertrümmerten Kleinwagen. Rai Sarris wurde nie gefunden. Rai blieb verschwunden. Cashin stand auf und goss sich noch einen großen Whisky ein, spürte den Alkohol. Musik, er brauchte jetzt Musik. Er legte eine Callas-CD auf, ließ sich im Sessel nieder. Die Stimme der Diva stieg zur hohen Decke empor und kam zu rück, irritierte die Hunde. Sie hoben die Köpfe, erschlafften und schliefen weiter. Sie kannten Opern, mochten sie vielleicht sogar. Er schloss die Augen, es war Zeit, an etwas anderes zu den ken.
Wie viele Menschen wie Dave Rebb gab es da draußen, Men schen, die beschlossen, ein Leben als Geister zu leben? Eben noch waren sie solide Wesen mit eindeutiger Identität, im nächsten Moment waren sie unsichtbar, schwebten über das Land hinweg, durchschritten die vom Staat errichteten Mau ern. A u f ihren Namen ausgestellte Steuernummern, Sozialver sicherungsnummern, Führerscheine, Bankkonten konnten sie nicht gebrauchen. Geister arbeiteten für Bares. Sie ließen ihr Geld in den Taschen oder auf den Konten anderer Leute. Hatte Dave je eine irdische Identität besessen? Er war mehr ein Außerirdischer als ein Geist, von einem Raumschiff aus auf irgendeiner erdbraunen Rinderfarm gelandet, wo einem die Sterne näher erscheinen als die nächstgelegene Stadt. Die Welt ist nicht perfekt. Sei nicht besessen. Abhaken. Vernünftige Ratschläge von Villani. Villani war mal sein bes ter Freund gewesen. So etwas vergisst man nicht. Der beste Freund in einem überschaubaren Kreis. Von wie vielen? Ver wandte ausgenommen, Verwandte zählten nicht als Freunde. Nicht viele. Cashin hatte sich nie um Freunde bemüht, hatte seine Freundschaften nie gehegt und gepflegt. Was war ein Freund? Jemand, der einem beim Umzug hilft? Der mit einem in die Kneipe geht, zum Football? Woody machte das, sie waren zu sammen einen trinken gegangen, zu Pferderennen, zum K r i cket. Am Tag vor der Sache mit Rai Sarris hatten sie in dem Thai-Restaurant in Elwood gegessen. Woodys neue Flamme Sandra, die Computerfrau mit den hohen Wangenknochen, sah Woody an, lachte und strich dabei mit ihrem bloßen, be strumpften Fuß über Cashins Schienbein. Sofortige Erektion. Es war das letzte Mal gewesen, dass er so etwas verspürt hatte. Woody besuchte ihn ein paarmal im Krankenhaus, doch später traf Cashin sich nicht mehr mit ihm, sie konnten nicht mehr die gleichen Sachen unternehmen wie davor. Nein, das
war es nicht. Shane Diab lag zwischen ihnen. Die Leute glaub ten, er sei für Shanes Tod verantwortlich. Sie hatten Recht. Shane war tot, weil Cashin ihn mitgenommen hatte, um he rauszufinden, ob seine Vermutung stimmte, dass Sarris in das Haus seines Kompagnons, des Drogendealers, zurückkom men werde. Shane hatte darum gebeten, mitkommen zu dür fen. Doch das entließ Cashin nicht aus seiner Verantwortung. Er war ein erfahrener Polizist. Er hatte kein Recht, einen nai ven jungen Burschen in seine besessene Suche nach Sarris mit hineinzuziehen. Singo machte ihm nie einen Vorwurf. Als er das Gröbste hinter sich hatte, besuchte Singo ihn einmal die Woche. Beim ersten Besuch neigte er den Kopf näher zu Cashin und sagte: »Hör zu, du Penner, du hattest Recht. Der Scheißkerl ist wirk lich zurückgekommen.« Noch ein Drink. Denk über die Gegenwart nach, sagte er sich. Die Leute wollten in Donny und Luke Bourgoynes Mör der sehen. Falls sie es waren, rechtfertigte das den Tod von Luke und Corey. U n d es erklärte Donnys Selbstmord - die Tat eines Schuldigen. Unschuldige junge Burschen, verfemt als Mörder eines guten Mannes, eines anständigen, großzügigen Mannes. Dop peltes Unrecht. U n d wer auch immer es getan hatte, lief da draußen herum, genau wie Rai Sarris - frei, hämisch lachend. Cashin schloss die Augen und sah die Jungs vor sich, faltenlose Gesichter, der eine atmete kaum noch, sein Oberkörper zer quetscht, der andere keuchte, stieß einen dunklen Dunst aus, starb in der nasskalten Nacht, in der die Lichter von den mit Regen und Blut gefüllten Pfützen reflektiert wurden. Er trank noch einen Whisky und noch einen, schlief im Ses sel ein und wurde mit Schrecken wach, fror, das Feuer war he runtergebrannt, der Regen trommelte aufs Dach. Die Uhr an der Mikrowelle zeigte 3.57. M i t einem halben Liter Wasser
spülte er zwei Tabletten runter, machte die Lampen aus und ging vollständig bekleidet ins Bett. Die Hunde gesellten sich zu ihm, einer auf jeder Seite, glück lich, dass ihnen die Verbannung in ihr Quartier erspart geblie ben war.
A
ls es hell wurde, war die Welt eiskalt, der Wind blies von Westen, Regenschauer, Hagelkörner so groß wie Granat apfelkerne. Cashin war das Wetter egal. Das Wetter schreckte ihn nicht, er fühlte sich furchtbar, suchte nach Bestrafung. Er fuhr mit den Hunden ans Meer, ging im peitschenden Wind zur Fluss mündung, es gab keinen Flugsand, die Dünen waren vom Re gen durchtränkt, der Strand war fest und geriffelt. Heute führte der Stone's Creek viel Wasser, die Mündung war breit, die Sandbänke waren verschwunden. A u f der ande ren Seite angelte ein Mann in einem alten Regenmantel, Base ballkappe auf dem Kopf, mit einer leichten Rute, warf die Schnur dort aus, wo sich Süß- und Salzwasser vermischten, holte die Schnur wieder ein. Ein kleiner brauner Hund zu sei nen Füßen sah die Pudel, rannte bellend zum Wasser und sprang bei jedem heiseren Kläffen mit steifen Beinen in die Höhe. Die Pudel standen beieinander, stumm, die Vorderbeine im Wasser, und musterten das wütende Tier. Dazu wedelten sie langsam mit den Schwänzen, ein interessiertes, ja wissen schaftliches Wedeln. Cashin winkte dem Mann zu, der daraufhin eine Hand von der Angelrute hob. Man sah nicht viel von ihm - die Nase, das Kinn -, doch Cashin kannte ihn aus Port, er erledigte Gelegen heitsarbeiten für alte, gebrechliche und ungeschickte Menschen, tauschte Dichtungsringe und Sicherungen aus, flickte Dachrin
nen, reinigte verstopfte Abflüsse. Wie kommt es, dachte er, dass man Menschen aus großer Entfernung erkennt, die Anwesen heit einer bestimmten Person in einer Menschenmenge spürt, schon beim Offnen der Tür merkt, dass jemand abwesend ist? Einer Eingebung folgend, wandte er sich nach links, ging am Fluss entlang, schlängelte sich durch das Dünengestrüpp. Die Hunde waren einverstanden, drängten an ihm vorbei, liefen voran und fanden einen über lange Zeit von menschlichen Fü ßen getretenen Pfad. Die Landschaft stieg an, bald lag der Fluss ein paar Meter unter dem Pfad, glasklares Wasser, Schwärme winziger Fische reflektierten Licht. Sie gingen etwa zehn M i nuten lang, der Pfad entfernte sich von dem Fluss, und kamen in ein Gebiet voller Dünen, die wie große Meereswellen aussa hen. Von der Spitze der höchsten Düne aus überblickte man die Küstenebene. Rechts sah Cashin den sich durch die Land schaft schlängelnden kleinen Fluss, im Hintergrund einen Lastwagen auf dem Highway sowie, noch weiter hinten, ein dunkles Band, das die Straße war, die den Hügel zu The Heights erklomm. Unten beschrieb der Pfad eine sanfte Kurve bis zu einer mehrere Hektar großen Lichtung, einst dem Buschland abge rungen, das sie sich nun zurückholte. Er führte zu einem Ge bäude ohne Dach und zu den Überresten anderer Bauten, ein spitzer Schornstein stand inmitten von Ruinen wie ein aus einer schwarzen Faust aufragender Backsteinfinger. Die Hunde kamen eine Weile vor Cashin dort an, blieben stehen und beäugten das Ganze, die Schwänze gesenkt. Sie sa hen sich nach ihm um, bekamen das Zeichen und rannten los, auf einen Haufen Backsteine und Schutt zu. Kaninchen er wachten aus ihrer Erstarrung und stoben in alle Himmelsrich tungen davon, so dass die Hunde sich nicht entscheiden konn ten. Cashin ging zum Rand des Anwesens und blieb im strö menden Regen stehen. Der flache Bereich zur Linken war ein
mal ein Sportplatz gewesen. Drei Footballpfosten standen noch, im hohen Gras versunken, die Farbe verschwunden, das Holz weiß gebleicht. Er horchte auf die Geräusche des W i n des, der durch die Ruinen blies - eine A r t Klopfen, ein Quiet schen, als würde ein Nagel aus trockenem Hartholz gezogen, eine Vielzahl leiser Ächzlaute. Er ging zu dem dachlosen Holzbau, vier Zimmer, durch einen Flur verbunden, schaute durch einen Fensterrahmen, sah einen verwüsteten, geplünderten Raum, in dem Feuer ange zündet worden waren und Leute ihre Notdurft auf der blan ken, früher von Bodenbrettern bedeckten Erde verrichtet hat ten. Fünfzig Meter dahinter stand der Schornstein. Er ging rüber und weiter zur anderen Seite, Richtung Highway. Frü her hatten sich in großen Mauernischen zwei Herde befunden, dazwischen ein Ofen. Die aus den Angeln gerissene guss eiserne Tür lag halb verrostet auf der gemauerten Feuerstelle. Die Hunde liefen hektisch herum, von den Kaninchengerü chen überall völlig aus dem Häuschen. Doch die Kaninchen waren verschwunden, hatten sich unter kaputten Steinen und verrosteten Wellblechen in Sicherheit gebracht. Hinter der Küche, in dem Gras jenseits einer rissigen Betonfläche, ent deckte Cashin die Backsteinfundamente eines langen, zwei Zimmer breiten Hauses. Die obersten Backsteine waren ge schwärzt, und zwischen den Fundamenten stolperte er über einen verkohlten Balken. Das ist Geschichte, seit dem Brand lief da gar nichts mehr. Die Companions sind auch Geschichte. Cecily Addisons Worte. Cashin pfiff, ein munterer Laut an diesem gottverlassenen O r t . Die Hunde tauchten auf, zerrten an etwas, das sie beide zwischen den Zähnen hielten. Er befahl ihnen, Platz zu ma chen und den Gegenstand loszulassen. Es war ein Ledergürtel, steif und rissig - der Gürtel eines Jungen, die Größe ausreichend, um eine Taille vom Umfang
eines Fußballs zu umschließen. Cashin hob ihn auf. A u f der verrosteten Schnalle erkannte er eine Lilie und Bruchstücke von Wörtern: Allz berei. Allzeit bereit. Es war die Gürtelschnalle eines Pfadfinders. Er hob den A r m hoch, um den Gürtel wegzuwerfen, brachte es aber nicht fertig. Er überquerte das überwucherte Spielfeld, schlang den kleinen, harten Gürtel um einen Torpfosten, schnallte ihn zu und ließ ihn ins Gras hinabgleiten. Auf der höchsten Düne sah Cashin sich noch einmal um. Der Wind ließ die Torpfosten schwanken, das Gras wogen. Vom Highway ertönte das Hupen eines Lastwagens, irgend wie einsam, ein typischer Nachtton. Er rief die Hunde und gingSie fuhren auf leeren Straßen heimwärts, vorbei an in M u l den eingesunkenen Häusern, Wind riss den Qualm frischen Brennholzes von ihren Schornsteinen. Die Zeiten des billigen trockenen Holzes von einer Million teilentrindeter Bäume waren Vergangenheit. Er dachte an Bourgoyne. Ohne irgendeinen glücklichen Zu fall würden sie nie erfahren, wer ihn zusammengeschlagen, ge tötet hatte. Doch es würde immer an den Jungs hängenbleiben, an ihren Familien, an der ganzen Daunt-Siedlung, ja sogar an Leuten wie Bern und seinen Kindern. Bourgoynes Ermordung war Wasser auf den Mühlen der vielen, aus Gewohnheit hass erfüllten Menschen überall. Weil ihr die beiden Bimbo-Gangster umgelegt habt. Schade, dass es nicht 'ne ganze beschissene Busladung war. Die meisten von Derry Callahans Kunden hätten dem voll d ganz zugestimmt. Sei nicht besessen, dachte er. Hör auf Villani, lass die Finger von der Sache! Rebb wartete in einer windgeschützten Ecke, er hatte den Wagen kommen hören. Jetzt kam er rüber, eine plattgedrückte Zigarette im Mund. Cashin stieg aus und ließ die Hunde raus.
Rebb hielt die Hände unten, Handflächen nach außen, und die Hunde kamen näher, sprangen aber nicht hoch, sondern we delten mit dem ganzen Körper. »Hören Sie«, sagte er, »fahren Sie heute in die Stadt?« »Ja«, sagte Cashin, ein spontaner Entschluss. »Schon geges sen?« »Nein, komme gerade von den Kühen.« »Wir können irgendwo was essen. Ich brauche zehn M i n u ten, muss vorher duschen.«
I
n dem Truckstop am Stadtrand von Cromarty bestellten sie Eier mit Schinkenspeck. Eine magersüchtige junge Frau mit Damenbart und einem rosa verschorften Pickel zwischen den Augen brachte das Essen. Die Eier lagen auf papierdünnen Toastscheiben, die Eigelbe waren klein und nudelfarben. In dem grauen Schweinefett sah man schmale rosa Fleischstücke. Rebb aß etwas Ei. »Nicht von glücklichen Hennen aus Frei landhaltung«, sagte er. »Können Sie es sich leisten, Lohn zu zahlen?« Cashin schloss die Augen. Er hatte Rebb noch keinen Cent für die Arbeit am Haus, am Zaun bezahlt. Es war ihm gar nicht in den Sinn gekommen. »Meine Güte, Verzeihung«, sagte er. »Ich hab's schlicht vergessen.« Rebb aß weiter, wischte sich mit einer Papierserviette über den Mund. Er holte ein gefaltetes, aus einem Notizbuch geris senes Blatt aus seiner Jacke. »Ich schätze, das sind sechsund zwanzig Stunden. Sind zehn die Stunde okay?« »Kriegen Sie nicht den Mindestlohn?« »Ich hab freie Kost und Logis.« »Tja, dann sagen wir halt fünfzehn.« »Wenn Sie wollen.« »Ich brauche Ihre Steuernummer.« Rebb lächelte. »Tun Sie mir den Gefallen und nehmen Sie Berns Nummer. Die kennen Sie doch sicher auswendig, stimmt's, bei den vielen Geschäften, die Sie mit ihm machen? Sie zahlen doch Steuern für das alles.«
Hoffnungslos kompromittiert, dachte Cashin. Genauso schuldig wie irgendeine Frau mit zwei Kindern, die beim La dendiebstahl erwischt wurde. Er parkte zwei Straßen von der Bank entfernt. Er hätte auch hinter dem Polizeirevier parken können, doch etwas sagte ihm, das wäre keine gute Idee. Er nahm das Geld aus dem Automa ten und gab es Rebb. »Ich bin eine halbe Stunde weg«, sagte er. »Genug Zeit für Sie?« »Mehr als genug.« Auf nassen Straßen ging er zum Revier. Hopgood war da, schrieb etwas in eine Akte, ein ordentlicher Stapel zu seiner Linken wartete, bis er an der Reihe war. »Das papierlose Büro«, sagte Cashin von der Tür aus. Hopgood schaute auf, sein Blick ausdruckslos. »Was kann ich für Sie tun?« »Ich wüsste gern, wer angeordnet hat, einen Suchschein werfer auf Donnys Haus zu richten.« »Das ist die Behauptung dieser Coulter-Ziege, schlicht gelo gen, die lügen alle. Das liegt in ihrer Natur. Das war nur eine Routinepatrouille.« »Hieß es nicht, die Daunt wäre Indianergebiet? Was ist denn aus dem Black-Hawk-Down-Szenario geworden?« Leuchtend rote Flecken auf Hopgoods Wangenknochen. »Tja, es wurde Zeit, in dem beschissenen Schweinestall endlich mal wieder Flagge zu zeigen. Egal, was geht Sie das eigentlich an? Ich bin Ihnen keine Rechenschaft schuldig. Zerbrechen Sie sich über Ihr eigenes mieses Revierchen den Kopf.« Cashin spürte, wie in seinem eigenen Gesicht die Hitze auf stieg, wie ihn der Drang überkam, Hopgood mitten ins Ge sicht zu schlagen, ihm Nase und Lippen kaputtzuhauen, in sei nen Augen das zu sehen, was er in Derry Callahans Blick gesehen hatte. »Ich möchte die Bourgoyne-Akten sehen«, sagte er.
»Wieso? Es ist vorbei.« »Das glaube ich nicht.« Hopgood pochte sich mit einem Finger an den Nasenflügel. Er hatte dicke Finger. »Die Uhr? Was ist damit?« »Ich möchte sie trotzdem gern sehen.« »Ich bin beschäftigt. Wenden Sie sich an den Revierleiter, wenn er aus dem Urlaub zurück ist.« Sie starrten einander unverwandt an. »Das werde ich tun«, sagte Cashin. »Es gibt noch etwas zu besprechen.« »Ach ja?« »Der schrottige Falcon. Sie wussten doch, dass der nicht mithalten konnte?« »Ich wusste nicht, dass Sie nicht Auto fahren können, Mann. Wusste nicht, dass Sie ein verdammt feiges Aas sind.« »Und die Funksprüche. Die haben Sie gehört.« »Tatsächlich? Auf Band ist nichts zu hören. Denkt ihr Bim bos euch jetzt Geschichten aus? So wie Donnys verdammte Mutter? 'ne Verwandte von Ihnen? Scheiße, ihr seid doch alle miteinander verwandt, stimmt's? Wie kommt das wohl, was schätzen Sie? Alle liegen in dem einen Bett und ficken im D u n keln, wenn der Strom abgestellt w i r d , weil ihr das ganze Geld für Schnaps ausgegeben habt?« Cashin sah nur noch verschwommen. Ihn hatte Mordlust gepackt. »Und eins w i l l ich dir noch sagen, du verdammter Klug scheißer«, sagte Hopgood. »Du glaubst doch nicht, du könn test da draußen mit 'nem Landstreicher unter einem Dach hau sen und keiner merkt's? Dann schlägt dein Arschficker unsere unschuldigen Bürger zusammen, und du guckst in die andere Richtung? Geilt dich so was auf? Gefällt dir so was? Da geht dir einer ab, stimmt's?« Cashin machte kehrt und ging. An der Tür stand ein unifor mierter Polizist. Der Mann machte, dass er weg kam.
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ashin ging hinunter zur Promenade, stellte sich an die Mauer und ließ sich den Seewind ins Gesicht wehen. Über all in der Bucht sah man Schaumkronen, ein Fischerboot fuhr Richtung Ufer, mal oben auf den grauen Wellenbergen, dann unten in den Wellentälern. Cashin machte seine Atemübungen, wollte sein Nervensystem unter Kontrolle kriegen, spürte, wie sein Herz wieder langsamer schlug. Nach zehn Minuten ging er zurück, die einzigen anderen Menschen zu Fuß war eine Gruppe von Kindern, die in einem raufenden Knäuel den Hügel hinuntertobten. Er bog auf hal ber Höhe rechts ab, nahm den Weg, den er vom Gericht mit Helen Castleman gegangen war, stieg die Treppe zu ihrem Büro hoch. Die junge Frau am Empfang war noch ein Teen ager, übertrieben geschminkt, musterte ihre Fingernägel. Er fragte. Sie griff zum Telefon.
»Den Gang hinunter«, sagte sie dann und lächelte breit, jede Menge Zahnfleisch. »Am Ende.« Die Tür war offen, der Schreibtisch stand rechts. Helen er wartete ihn, sah auf, kein Lächeln. Er machte einen Schritt in das Zimmer. »Zwei Dinge«, sagte er. »Ihrer Wichtigkeit nach.« »Ja?« »Donny«, sagte er. »Ich habe die Schikanen angesprochen. Sie bestreiten das. Ich bemühe mich, dem auf den Grund zu gehen.« »Donny ist tot«, sagte sie. »Das hätte nie geschehen dürfen. Er war ein nicht sehr kluger Junge, der große Angst hatte.«
»Wir haben das nicht gewollt. Wir wollten einen Prozess.« »Wir? Heißt das du und Hopgood? Ihr habt nur herumge stochert. Ihr hattet gar nichts in der Hand.« »Die Uhr.« »Mit jemand Zusammensein, der versucht, eine Uhr zu ver kaufen, beweist gar nichts. Sogar die Uhr selbst haben bedeu tet noch gar nichts.« »Nun zu dem Zaun«, sagte Cashin. »Du hast mir mehr als einen Meter meines Grundstücks ge nommen«, sagte sie. »Wenn du meine Vermessung nicht ak zeptierst, lass selbst eine durchführen.« »Der Meter stört dich doch gar nicht. Du dachtest, das Grundstück ginge bis zum Bach.« »Das hat damit nichts zu tun. Ich verlange von Ihnen, Detec tive Cashin, den Zaun wieder abzureißen, den Sie so hastig...« »Ich verkaufe dir den Streifen bis zum Bach.« Das hatte er gar nicht sagen wollen. Helen warf den Kopf in den Nacken. »Darum geht es also? Bist du mit dem Makler befreundet?« Cashin spürte, wie er rot anlief. »Ich ziehe das Angebot zu rück«, sagte er. »Adieu.« Er war schon in der Tür, als sie sagte: »Joe, bitte geh nicht.« Er drehte sich wieder um, war sich seiner Röte bewusst, wollte ihr nicht in die Augen sehen. Sie hielt ihm die Hand hin. »Es tut mir leid. Ich nehme das zurück. Und für meinen abendlichen Wutausbruch entschul dige ich mich auch. Das war unanwaltliches Verhalten.« Erst Ablehnung, dann Kapitulation. Er wusste nicht weiter.
»Nimmst du an?«, sagte sie.
»Okay. Klar.«
»Gut. Setz dich, Joe. Lass uns von vorne anfangen, irgendwie
kennen wir uns ja, nicht wahr?« Cashin setzte sich. »Ich wollte dich was wegen Donny fragen.«
»Ja?« »Es geht um etwas, was mir keine Ruhe lässt.« »Ja?« »Die Verfolgung, die Straßensperre, nenn es, wie du willst, das fand doch statt, weil jemand in Sydney eine Uhr verkaufen wollte. Ist das richtig?« Cashin wollte gerade bejahen, als ihm Bobby Walshe ein fiel. Hier ging es um Politik, die drei gekreuzigten schwarzen Jungs. Bobby würde in dieser Sache keine Ruhe geben, das Ganze ließe sich noch ausschlachten, und zwar weidlich aus schlachten. Sie wollte ihn benutzen. »Damit w i r d sich der Untersuchungsrichter befassen«, sagte er. »Wie geht's Bobby Walshe?« Helen Castleman biss sich auf die Lippe, schaute weg, er be wunderte ihr Profil. »Es geht hier nicht um Politik, Joe«, sagte sie, »sondern um die Jungs, die Familien. U n d die gesamte Daunt-Siedlung. Es geht um Gerechtigkeit.« Er sagte nichts, traute sich selbst nicht recht. »Denken Polizisten eigentlich über so etwas wie Gerechtig keit nach, Joe? Über Wahrheit? Oder ist es wie bei der Lieb lingsmannschaft im Football, sie macht nie Fehler, und nur Siege zählen?« »Polizisten denken ganz ähnlich wie Anwälte«, sagte Cashin. »Nur dass sie nicht reich werden und manche Leute sie umbringen wollen. Worauf willst du hinaus?« »Laut Donnys Mutter hat Corey Pascoes Schwester ihrer Mutter erzählt, Corey habe eine Uhr, eine teuer aussehende Armbanduhr.« »Wann war das?« »Vor etwa einem Jahr.« »Tja, wer weiß schon, was Corey wirklich hatte?« Cashin hörte selbst, wie schroff seine Stimme klang. »Uhren und was noch?«
»Kümmerst du dich darum?« »Es liegt nicht in meinen Händen.« Sie schwieg, ließ ihn nicht aus den Augen. Er wollte wegse hen, konnte aber nicht. »Du bist also nicht daran interessiert?« Eigentlich wollte Cashin sich wiederholen, doch dann fiel ihm Hopgood ein. »Wenn es dich glücklich macht, rede ich mit der Schwester.« »Ich kann sie überreden, hierherzukommen. Ihr könnt das zweite Büro benutzen.« »Nicht hier, nein.« Das war keine gute Idee. »Sie hat Angst vor Cops. Ist das nicht seltsam?« Er war mit einem Pascoe in derselben Grundschulklasse ge wesen. »Frag sie, ob sie Bern Doogue kennen«, sagte er. »Sag ihnen, der Cop sei Berns Cousin.« Am Kiosk kaufte Cashin den Cromarty Herald. Er warf erst einen Blick auf die erste Seite, als er an der Ampel stand und wartete, bis er die Straße überqueren konnte. SILVERWATER-FERIENSIEDLUNG GENEHMIGT Bezirk billigt j50-Millionen-Dollar-Projekt Er las im Gehen. Der gewiefte und sonnengebräunte Adrian Fyfe bekam sein Bauprojekt, vorausgesetzt, die Umweltver träglichkeitsprüfung fiel positiv aus. In dem Artikel stand nichts über den Zugang, nichts über den Kauf des Companion Camps aus Bourgoynes Nachlass.
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ashin sah sie, als er um das alte Wollgeschäft bog - zwei stämmige Männer und eine Frau, fast am Ende des Lan dungsstegs. Er parkte, stieg aus, steckte die Hände in die Taschen seiner Filzjacke und ging in den Wind, der nach Salz, Fisch und ein wenig nach verbranntem Diesel roch. Der alte Steg war von tiefen Rissen durchzogen, die Lücken zwischen den Planken waren breit genug, dass man ein Messer im Meer verlieren und es blitzen sehen konnte, wenn es aufs Wasser traf. N u r drei weitere Personen waren bei dem Wetter draußen, ein Mann und ein kleiner Junge, die Seite an Seite saßen und mit Schnüren ohne Ruten angelten, und ein alter Mann mit etlichen Kleidungsschichten, der eine Angelrute übers Geländer hielt. Seine Mütze hatte er über die Augenbrauen gezogen, eine rote Nase ragte zwischen grauen Stoppeln hervor. Die beiden Männer am Ende des Stegs beobachteten ihn, während er auf sie zuging, die zwischen ihnen stehende Frau hatte den Blick gesenkt. Als Cashin näher kam, sah er, dass sie ein großes Mädchen war, vielleicht fünfzehn oder sechzehn, Stupsnase, unreine Haut. »Joe Cashin«, sagte er, als er bei ihnen war. Er hielt ihnen nicht die Hand hin. »Chris Pascoe«, sagte der ihm am nächsten stehende Mann, der größere der beiden. Er hatte eine gebrochene Nase. »Das ist Susie. Kann mich aus der Schule nicht an Sie erinnern.« »Tja, also, wenn Sie sich an Bern Doogue erinnern, ich war mit dabei.«
»Ein zäher kleiner Scheißkerl, dieser Bern. Wie alle Doo gues. Hab ihn gelegentlich gesehen, is jetzt nicht mehr so klein, kennt mich aber nicht. Is wohl weiß geworden.« Der andere Mann schaute mit erhobenem Kinn in die Ferne, wie eine Gallionsfigur. Er hatte nach hinten gebundene Dread locks, einen gestutzten Bart und einen goldenen Ring in dem sichtbaren Ohrläppchen. »Die Anwältin sagt, es gäbe eine wichtige Information für mich«, sagte Cashin. »Sag's ihm, Susie«, forderte Pascoe das Mädchen auf. Susie blinzelte rasch, sah Cashin nicht an. »Corey hatte eine Armbanduhr«, sagte sie. »Bevor er nach Sydney gefahren ist.« »Was für eine Uhr?« »Lederarmband, jede Menge von diesen kleinen Uhrdin gern.« Sie machte mit dem Finger winzige Kreise auf ihr Handgelenk. »Teuer.« »Hat er gesagt, wo er sie her hatte?« »Er wusste gar nicht, dass ich sie gesehen hatte. Ich hab nur meine CDs gesucht, dauernd hat er meine CDs gemopst.« »Warum hast du ihn nicht gefragt?« Sie sah Cashin an, mit hochgezogenen Augenbrauen, aus großen braunen Augen. »Damit er wusste, dass ich in seinem Zimmer rumgewühlt hab? Scheiße, so mutig bin ich nicht.« »Solche Ausdrücke w i l l ich nicht hören«, sagte ihr Vater. »Wenn ich dir ein Foto der Uhr zeige, würdest du sie wiedererkennen?«, fragte Cashin. Susie zuckte mit den Schultern, ihr Anorak bewegte sich da bei kaum. »Weißnich.« »Hast du sie dir gut angesehen?« »Ja.« Cashin fiel der Streifen blasser Haut an Bourgoynes Hand gelenk ein. »Wieso bist du dir nicht sicher, ob du sie wiederer kennen würdest?«
»Weißnich. Vielleicht doch.« »Der Markenname der Uhr«, sagte er. »Ist der dir aufgefal len?« »Ja.« Cashin sah die Männer an. Das half ihm nicht weiter. Der mit den Dreadlocks drehte sich eine Zigarette. »Du weißt den Namen noch?« »Ja. Bretling. So ungefähr.« »Kannst du das buchstabieren?« »Was soll die Buchstabieren-Scheiße?«, sagte Chris Pascoe. »Sie hat die Uhr gesehen.« »Kannst du das buchstabieren?« Sie zögerte. »Weißnich. B-R-E-T-L-I-N-G oder so.« Hätten sie ihr das eingetrichtert, hätte sie es richtig buchsta biert. Außer sie hätten ihr eingeschärft, einen Fehler einzu bauen. »Wann war das?«, sagte Cashin. »Is lange her. Vor 'nem Jahr, würd ich sagen.« »Verrat mir eins«, sagte Cashin. »Weshalb hast du jetzt erst von der Uhr erzählt?« »Hab's meiner M u m am Tag danach gesagt.« »Wonach?« »Nachdem ihr Corey und Luke erschossen habt.« Das schluckte er. »Was hat sie gesagt?« Das Mädchen sah nicht seinen Vater an, sondern den Mann mit den Dreadlocks. Der öffnete den Mund, und der Wind wehte Rauch von seinen Lippen. Cashin wurde aus seiner Miene nicht schlau. »Sie sagte, behalt das für dich.« »Warum?« »Weißnich. Das hat sie gesagt.« »Wir müssen los«, sagte Chris Pascoe. »Sie hat's Ihnen doch gesagt, oder? Jetzt können Sie nicht behaupten, Sie wüssten's nicht, oder?«
»Nein«, sagte Cashin. »Das kann ich nicht behaupten. Hab nicht verstanden, wie Ihr Freund heißt.« »Stevo«, sagte Pascoe. »Das ist Stevo. Stimmt doch, Stevo?« Stevo zog an seiner Zigarette, machte dabei Hohlwangen. Er schnipste die Kippe weg, die der Wind über den Steg wehte. Eine Möwe stieß hinab und schnappte sie sich. Stevos Gesicht wurde lebendig. »Habt ihr das gesehen? Der Scheißvogel raucht.« »Danke für Ihre Zeit«, sagte Cashin. »Haben Sie eine N u m mer, unter der ich Sie erreichen kann?« Die Männer sahen einander an. Stevo zuckte mit den Ach seln. »Ich geb Ihnen meine Handynummer«, sagte Pascoe. Er fand das Handy in seiner Jacke und las die auf der Tasche stehende Nummer vor. Cashin schrieb sie in sein Notizbuch. »Sie hören von mir oder der Anwältin«, sagte er. »Danke, Susie.« »Corey war kein übler Kerl«, sagte Pascoe. »Hätte als Profi Australian Football spielen können. Hatte bloß Scheiße im Sinn, wollte lieber 'ne Drogenlaufbahn einschlagen. Sind Sie 'n Kumpel von Hopgood und seinem Haufen?« »Nein.« »Aber Sie halten zu den Dreckskerlen, stimmt's? Alles eine Soße.« »Ich mache meine Arbeit. Ich halte zu niemandem.« Als Cashin über die holprigen Bohlen ging und die Angler und die unruhige See betrachtete, spürte er, wie sie ihm nach schauten. Am Wollgeschäft sah er sich um. Die Männer hatten sich nicht bewegt. Sie beobachteten ihn, Rücken an das Geländer gelehnt. Susie sah nach unten auf die feuchten Planken.
I st schwierig«, sagte Dove, dessen Stimme über das Telefon I noch heiserer klang. »Ich kann hier nicht nach Belieben schalten und walten.« »Diese Geschichte macht mir Sorgen«, sagte Cashin. »Na ja, man hat halt Sorgen, und dann hat man andere Sor gen.« »Nämlich?« »Ich hab Ihnen doch erzählt, die Sache wurde auf Eis gelegt. Die Wahl steht bevor. Wenn Sie sich weiter Sorgen machen, lei ten Sie auf einmal die Wache in Bringalbert N o r t h . U n d Ihr Kumpel Villani kann Ihnen auch nicht helfen.« »Wo liegt Bringalbert?« »Genau. Ich hab keinen blassen Schimmer.« »Der Unterschied ist der, dass wir damals dachten, die Jungs seien es gewesen, und Sie dachten, jemand würde Donny mit Samthandschuhen anfassen, und er käme frei.« »Tja, damals. Haben Sie mit Villani gesprochen?« »Er sagte, ich solle meinen Urlaub fortsetzen«, sagte Cashin. »Das kommt garantiert von ganz oben. Die Kommunal politiker wollen das attraktive weiße Hotelpersonal von Cro marty nicht gegen sich aufbringen, und die Bundesregierung w i l l Bobby Walshe nicht noch mehr Munition verschaffen, als er jetzt schon hat.« Es war spät am Vormittag, ein Feuer brannte. Cashin lag in der Z-Haltung auf dem Boden, versuchte einen Hohlrücken zu machen und hatte die Unterschenkel auf einen wackligen
Küchenstuhl gelegt. Lautloser Regen auf dem Dach, Tropfen huschten an der großen Fensterscheibe hinunter. Heute wür den sie nicht an Tommy Cashins Ruine arbeiten. »Falls sich keiner um diese Sache kümmert«, sagte er, »wird sie unter den Teppich gekehrt. Die gerichtliche Untersuchung wird ergeben, dass es eine äußerst unglückliche Abfolge von Er eignissen war, niemand ist verantwortlich, und das Ganze wird Geschichte und interessiert nie wieder jemanden. Alle sind tot. Und dann bleibt es an den drei Jugendlichen, an ihren Fami lien und der ganzen Daunt hängen. Sie haben Charles Bour goyne ermordet, einen Ortsheiligen. Auf ewig ein dunkler Fleck.« »Tragisch«, sagte Dove. »Dunkle Flecken sind tragisch. Frü her mochte ich diese Fleckenwerbung im Fernsehen. Joe, krie gen Sie Fernsehen, wo Sie gerade sind?« »Um mir was anzusehen?« »Bobby Walshe und die toten schwarzen Jungs.« »Vielleicht sitze ich hier am Arsch der Welt«, sagte Cashin, »aber mein Gehirn funktioniert noch. Sagen Sie's einfach, wenn Sie's nicht machen wollen.« »So was von empfindlich. Was soll ich machen?« »Bourgoynes Uhr. Hat sich irgendwer die Mühe gemacht herauszufinden, wo er sie gekauft hat? Ich glaube, solche teu ren Uhren haben Nummern, wie Automotoren.« »Ich kümmere mich drum. Damit läuft man wohl nicht Ge fahr, nach Bumbadgery versetzt zu werden.« »War das nicht Bringalbert North?« »Meines Wissens sind das die beiden Fixsterne in der Ein Polizist-Konstellation. Liegen Sie immer noch auf dem Fuß boden rum?« »Nein.« »Schade. Eine interessante Übung, immer gut für einen lo ckeren Gesprächseinstieg. Ich ruf Sie an.« Cashin unterbrach die Verbindung, schaute an die Zimmer
decke. Er sah Doves ernstes Gesicht vor sich, die skeptischen Augen hinter den kleinen, runden Brillengläsern. Nach einer Weile schlief er beinahe ein, hörte den Regen durch die Rinnen und Fallrohre fließen. Es klang wie der Fluss bei Hochwasser. Er dachte daran, wie er als Junge nach einem Regen hinunter ging, wie das Gras ihn fast bis zu den Achseln durchnässte, er hörte das Rauschen, sah, wie das Wasser die vom Ufer herab hängenden Zweige beiseite drückte, wie es moosbewachsene Inseln überschwemmte, von denen aus er geangelt hatte, wie es um die großen Felsbrocken herum- oder über sie hinwegfloss. An manchen Stellen gab es Stromschnellen, kleine Wasserfälle. Einmal sah er, wie ein großes Stück des gegenüberliegenden Ufers abbrach. Es fiel langsam in das Flüsschen, legte verdutzte Regenwürmer frei. Das Geld, das Cecily Addison in Bourgoynes Auftrag aus zahlte. Er hatte Cecilys Zahlungsunterlagen. Cashin hob die Beine vom Stuhl, ließ sich auf die rechte Seite rollen, rappelte sich mühsam auf und trat an den Tisch. Der dicke gelbe Umschlag lag unter Stapeln alter Zeitungen. Er machte sich einen Becher Tee und nahm ihn mit zum Tisch. Der erste Zahlungsbeleg datierte vom Januar 1993. Er blätterte die Schriftstücke durch. Für die meisten Monate ge nügte eine Seite, einzeilig beschriftet. Vorne anfangen und sich nach hinten durcharbeiten? Er betrachtete das erste Blatt. Namen - Läden, Händler, regel mäßige Zahlungen, Strom, Wasser, Telefongebühren, Versiche rungsprämien. Auf anderen Blättern standen nur Datumsan gaben, Schecknummern und Geldbeträge. Bei seinem ersten Versuch hatte er es nach einem Blick auf die Belege aufgegeben, danach war allerhand passiert, und er hatte sich nie wieder da mit befasst. Cashin las, markierte, versuchte, die einzelnen Positionen in Gruppen zu ordnen. Nach einer Stunde griff er zum Telefon. Cecily Addison sei nicht erreichbar, sagte Mrs. McKendrick.
Sie hält ihr Mittagsschläfchen, dachte Cashin. »Hier spricht die Polizei«, sagte er. »Wir sind zwar furchtbar liebenswürdig, kommen aber auch vorbei und wecken Mrs. Addison, falls dies nötig sein sollte.« »Bleiben Sie bitte dran«, sagte sie. »Ich sehe nach, ob sie mit Ihnen sprechen möchte.« Es dauerte mehrere Minuten, bis Cecily Addison ans Tele fon kam. »Jaaa?« »Joe Cashin, Mrs. Addison.« »Joe.« Sie klang matt. »Ich hab Sie im Fernsehen gesehen, Sie waren grob. So wird man nicht befördert, mein Junge.« »Mrs. Addison, es geht um die Zahlungen, die Sie für Bour goyne getätigt haben. Bei manchen stehen keine Namen. Da weiß man nicht, wer bezahlt wird.« Cecily räusperte sich ausgiebig. Cashin hielt das Telefon vom Ohr weg. Nach einer Weile sagte Cecily: »Das sind die regelmäßigen Empfänger, die Löhne, solche Sachen.« »Jeden Monat gehen zwei Riesen an jemanden, und zwar so lange diese Unterlagen zurückreichen. Wofür ist das?« »Keine Ahnung. Charles gab mir eine Kontonummer, dann wurde das Geld überwiesen.« »Ich brauche die Nummern und die Geldinstitute.« »Vertraulich, leider.« Cashin seufzte so laut wie möglich. »Das haben wir schon mal durchgekaut, Mrs. Addison. Hier geht es um Mord. Wenn ich mit dem Durchsuchungsbeschluss vorbeikomme, nehmen w i r alle Ihre Akten mit.« Ein Gegenseufzer. »Diese Information habe ich nicht zur Hand. Mrs. McKendrick ruft Sie zurück.« »Bitte binnen zehn Minuten, Mrs. Addison.« »Schon klar. Jetzt haben wir es plötzlich eilig, nicht wahr? Dazu brauchte es den dritten toten Jungen und Bobby Walshe.« »Ich erwarte, von Mrs. McKendrick zu hören. Sehr bald. Wer war eigentlich Mr. McKendrick?«
»Sie hat ihn in den Fünfzigern in Malaya verloren. Er war Heckschütze in einer Lincoln.« »Ein Mann, der sich vorwärts bewegt, während er nach hin ten schaut«, sagte Cashin. »Dieses Gefühl kenne ich.« »In dem Fall vorwärts fällt. Von einem Hotelbalkon. Voll wie tausend Russen, verzeihen Sie den Ausdruck.« »Ich bin erschüttert.« Keine zehn Minuten später lieferte Mrs. McKendrick die gewünschte Information, in einem Tonfall, als wäre er ein Er presser. Danach musste Cashin Dove bitten, die Nachfor schungen anzustellen. Er rief zurück, als Cashin gerade Brenn holz hereinholte. »Ich musste Andeutungen machen, Halbwahrheiten erzäh len«, sagte Dove. »Dabei kenne ich Sie kaum. Ich möchte, dass Sie von nun an Ihre eigenen Halbwahrheiten erzählen.« »Wahrheit light, das macht doch jeder. Der Name?« Der Tag war fast zu Ende, hinter den Hügeln im Westen glühte es wie Feuerschein. »A. Pollard. Collet Street 128A, N o r t h Melbourne. Sämtli che Abhebungen an örtlichen Geldautomaten.« »Wer ist A. Pollard?« »Ein Arthur Pollard.« Die Hunde stupsten ihn an. Es wurde Zeit. »Hier steht seit x Jahren ein mysteriöser Kerl auf der Lohnliste«, sagte er. »Da sollte man sich doch ein wenig damit befassen, finden Sie nicht?« Cashin hörte ein Geräusch. Dove pochte auf seinen Schreib tisch. »Tja«, sagte Dove, »hier gibt's jede Menge Sachen, mit denen man sich befassen sollte. U n d diese kleine Recherche hat Stun den gedauert.« »Das nenne ich wahres Engagement. Die Truppe ist stolz auf Sie.« Drei langsame Klopfer mit den Fingerknöcheln. »Eins muss
ich zugeben: Für das Morddezernat bin ich ungeeignet. Das war ein Fehler. Der Tod eines reichen alten Arschlochs lässt mich kalt. M i r ist egal, ob die Schuldigen davonkommen. M i r ist sogar egal, ob man die Sache möglicherweise unschuldigen Leuten anhängt, die inzwischen tot sind.« Cashin strich abwechselnd über Hundeköpfe, rieb die kno chigen Erhebungen. »Bourgoynes Uhr?«, sagte er. »Was ist da mit?« »Darf ich sagen: Lecken Sie mich doch bitte nett am Arsch?« Es wurde Zeit. Cashin zog die Driza-Bone-Outdoorjacke seines Vaters an, dunkelbraun und faltig wie die Haut einer Moorleiche. Etwa ein Jahr, nachdem er zu den Doogues gezo gen war, hatte Berns Vater sie ihm eines Tages gegeben, als sie mit den Frettchen rausgingen. »Hat deinem Dad gehört. Hab sie für dich aufgehoben. Biss chen groß. Mick war nicht gerade klein.« Mann und Hunde im Regen, sie gingen den Hügel hinab und dem schlimmsten Wind aus dem Weg. Die lange Trocken heit war vorbei, der Bach füllte sich. Die Hunde musterten ihn verdutzt, pikiert. Sie hielten versuchsweise und behutsam die Zehen hinein. Cashin steckte die Hände in die großen faltigen Taschen. Ob sein Vater die Jacke an jenem Tag getragen hatte? Oder war es Nacht gewesen? Hatte er sie ausgezogen und auf eine steinerne Stufe gelegt, ehe er in den Kessel sprang? War es dieselbe Stufe, auf der er damals mit Helen gesessen hatte? Ihm war kalt, er pfiff nach den Hunden. Sie sahen sich uni sono um.
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egen passte zu Cromarty. In der Altstadt verwandelte er die Rinnsteine in silbrige Bächlein, färbte die Backsteine, Fliesen und Klinker dunkel, verlieh den Blättern der immer grünen Pflanzen einen düsteren Glanz. Cashin parkte vor dem Supermarkt, blieb sitzen und wischte das Seitenfenster frei, um die Straße beobachten zu können: Ein dicker Mann schob vier Blocks von dem Laden entfernt einen Einkaufswagen, zwei Jugendliche auf Skateboards schwänzten die Schule, zwei Frauen in unförmigen Baumwoll kleidern stritten sich beim Gehen, machten heftige Kopfbewe gungen. Er verstand Cromarty nicht, dachte Cashin, er wusste nicht, wer hier die Power hatte. Die Power haben. So hatte Singo es genannt. Damit, mein Junge, ist die Macht gemeint, anderen zu scha den. Und die Macht zu verhindern, dass andere dir schaden. Dass ist die Power. Es gibt Typen mit Millionen, die sie haben, und solche, die keinen Cent besitzen. Typen mit drei Uni-Ab schlüssen haben sie und auch Typen, die nicht mal die Speise karte bei McDoof lesen können. Die Bourgoynes hatten bestimmt die Power gehabt, als der halbe O r t in der Maschinenfabrik beschäftigt war. Hatte Char les die Power behalten, nachdem die Firma verkauft worden war? Hatte er überhaupt noch Verwendung dafür gehabt? Cashin stieg aus. Der Regen durchnässte seine Haare, floss ihm über die Augenbrauen. Er kaufte zwei große Beutel Tro ckenfutter für Hunde, fuhr zum Supermarkt und füllte zwei
Einkaufswagen, Vorratshaltung. Nie wieder konnte er Derry Callahans Laden betreten. Konnte sich nie wieder dort auf die Schnelle mit Milch, Brot oder Hundefutter eindecken. A n schließend kaufte er im Fischladen ein paar Weißfischfilets und fuhr nach Kenmare. Die Straße war leer, ein Augenblick ohne Wind, der Regen fiel schnurgerade herunter. Er betrat den Fleischerladen. Ein Neuer stand hinter dem Tresen, ein rundlicher junger Mann, pickliges Gesicht, dunkle Haare. Sie begrüßten einander. »Erstmal ein paar Meter Hundewurst«, sagte Cashin. »Wo ist Kurt?« »Cromarty. Beim Zahnarzt.« »Aushilfe?« »Fest angestellt. Sind 'n bisschen knapp bei Hundewurst, Mann.« »Geben Sie halt, was Sie haben.« Der junge Mann wog die Wurst ab, wickelte sie in Papier ein und legte sie in eine Plastiktüte. »Außerdem drei Kilo Rumpsteak«, sagte Cashin. »Von dem, das er abhängen lässt.« Der Bursche holte das Fleisch, wog es ab. »Drei Kilo dreißig okay?« »Geht in Ordnung. Ist der Fleischwolf sauber?« »Klar.« »Drehen Sie drei Kilo Kraftschinken durch, ja? Nicht zu fett.« »Ich brauch etwas Vorwarnung, Mann. Können Sie morgen wiederkommen ?« »Zu beschäftigt, wie?« »Jetzt ja.« »Sagen Sie Kurt, Joe Cashin sucht sich einen anderen Flei scher, ja?« Der junge Mann überlegte kurz. »Ich schätze, ich krieg das hin mit dem Fleischwolf«, sagte er dann.
Cashin ging raus, setzte sich in den Wagen und betrachtete den Regen; der junge Mann kam ihm bekannt vor. Als Cashin wieder in die Tür trat, packte er gerade das Hackfleisch ein. »Sie sind von hier, stimmt's?«, sagte Cashin. »Wie heißen Sie?« »Lee Piggot.« Lee konnte nicht gut einwickeln, seine Finger waren zu dick. »Sind Sie der Cousin der Doogues?« »Stimmt. Kennen Sie die Doogues?« »Den einen oder anderen. Aus meiner Schulzeit.« »Lee Piggot. Hab ich Ihren Namen vielleicht mal im Rausch giftdezernat von Cromarty gehört?« Das Gesicht lief rot an. »Nein.« »Der Name klang wohl so ähnlich wie Ihrer. Fleischer ist ein guter Beruf, hat Perspektive. Eine ehrliche Arbeit. Die Leute mögen ihren Fleischer. Sie vertrauen ihrem Fleischer sogar.« Eure Polizei, dachte Cashin. Arbeitet aktiv in der Gemeinde an der Schaffung einer besseren Gesellschaft. Wobei sie zu M i t teln wie Angst einjagen und Einschüchterung greift. Letzter Halt in Port Monro. Das Revier war unbesetzt. Er schloss die Tür auf und kontrollierte seinen Schreibtisch: ein Umschlag mit Seiten, die Dove gefaxt hatte. Er trat die Heimfahrt an, ein Mann im Urlaub, und zwar noch fünf Wochen lang. Es regnete nicht mehr, die Wolken waren verschwunden, die Welt war sauber und hell. Wie viel konnte man in fünf Wochen wegräumen und aufbauen? Rebb arbeitete im Garten. Er hatte eine niedrige Trocken mauer entdeckt. »Herrje«, sagte Cashin. »Waren die Heinzelmännchen hier zugange? Im Regen?« »Arbeit ist Arbeit. Man kann sich nicht vom Regen abhalten lassen.« »Mich hält er ab.« »Sie sind ein Cop. Von Arbeit haben Sie keine Ahnung. Den Reißverschluss runterziehen, das ist für Cops Arbeit.«
»Sie und Bern würden sich prima verstehen. Brüder im Geiste.« Sie rackerten zwei Stunden lang, legten dabei zwanzig Meter geschichtete Feldsteine und die Reste eines schmiedeeisernen Tors frei. »Hab was zu essen gemacht«, sagte Rebb. Sie gingen zum Haus, wo er vier ordentlich mit Bindfaden verschnürte Sand wiches holte und sie im Grill toastete. »Nicht übel«, sagte Cashin. »Altes Buschläuferrezept?« »Tomaten und Zwiebeln sind kein Rezept.« Danach arbeiteten sie noch eine Stunde, dann ging Rebb zum Melken. »Der Alte lädt mich nachher zum Essen ein«, sagte er. »In den Pub nach Kenmare.« Cashin arbeitete noch eine halbe Stunde weiter, dann machte er einen Rundgang und inspizierte, was sie im Garten und am Haus geleistet hatten. Er genoss es, den Fortschritt zu sehen, war stolz auf seinen Beitrag. Außerdem wurde ihm bewusst, dass er fast vier Stunden lang ohne größere Schmerzen gear beitet hatte. Als er sich im Haus wieder aufrichtete, nachdem er den Hunden ihre Näpfe hingestellt hatte, durchfuhr ihn der Schmerz wie ein Stromstoß. Er schlich zu einem Küchenstuhl und setzte sich kerzengerade hin, die Augen geschlossen. Es verging eine ganze Weile, ehe er sich traute, wieder aufzu stehen. Dann machte er mit bedächtigen Bewegungen Feuer, öffnete ein Bier und setzte sich mit Doves Unterlagen an den Tisch. Es gab drei Krankenberichte über Bourgoyne. Einer betraf seinen Zustand bei Einlieferung im Krankenhaus. Der zweite stammte von einem Gerichtsmediziner, der ihn am folgenden Tag so gründlich wie möglich auf der Intensivstation unter sucht hatte. Der dritte war der Autopsiebericht nach seinem Tod. Bourgoyne starb, weil sein Kopf auf den steinernen Ka minsockel geschlagen war.
Die Fachleute erklärten, dass Spuren wie die an seinen Knien, Handflächen und Füßen entstanden, wenn man auf allen vieren über raue Bodenbeläge kroch. Die Gesichtsverlet zungen deuteten darauf hin, dass er wiederholt von einer über ihm stehenden Person geschlagen wurde, mit beiden Seiten einer etwa neun Zentimeter breiten Hand. Die Schläge auf seinen Rücken waren ihm aller Wahrscheinlichkeit nach mit einem Bambusstock der Sorte verabreicht worden, die zum Abstützen von Pflanzen in Gärtnereien verkauft wurde. Cashin machte sich noch ein Bier auf. Er stand am Tresen, Flasche in der Hand, Bilder vor seinem inneren Auge. Ein alter Mann musste aus seinem Bett steigen und auf Hän den und Füßen über einen groben Teppich kriechen. Ein kniender, halb nackter alter Mann, jemand schlug ihn, riss den Kopf von einer Seite auf die andere, schlug ihn mit der Handfläche, dann rückhand mit den Knöcheln. Dann versetzte man ihm mit einem Rohrstock Schläge auf den Rücken. Zehn Stück. Bis er schließlich nach vorn fiel, mit dem Kopf auf den stei nernen Kaminsockel. Cashin öffnete eine Dose Tomatensuppe, kippte den Inhalt in einen Topf und gab Milch hinzu. Die Suppe wurde mit Brot und Butter gegessen. Bei den Doogues war das ein bewährtes Abendessen gewesen, allerdings selbstgemachte Suppe, voller fester Stücke, sie aßen ihre Teller leer. Er sollte mal richtige Suppe kochen. Das konnte doch nicht so schwer sein! Er dachte daran, wie er an jedem Schultag zusammen mit Bern, Joannie, Craig, Pat und Barry den Bus nach Cromarty genommen und sie sich zu sechst auf die hinterste Sitzbank gefläzt hatten, ihre Bank. Auf dem Schulweg alberten Bern, Barry und Pat herum, er selbst machte seine Hausaufgaben zu Ende, Joannie und Craig, die Zwillinge, flüsterten und kabbel ten sich. A u f dem Heimweg waren alle gut drauf. Einer nach
dem anderen brachen Barry, Pat und Bern die Schule ab, und sie waren nur noch zu dritt. Cashin nahm das Bier mit zu seinem Stuhl und wünschte, er hätte was zu rauchen. Wie lange dieses Verlangen wohl anhielt? Bestimmt ewig, wenn er bei jeder sich bietenden Gelegenheit Zigaretten schnorrte. Er dachte an jenen Morgen in The Heights - daran, wie der alte Mann auf dem Boden lag, an das Blut, den sauren Geruch. Was für ein Geruch war das? Kein typischer Geruch bei M o r d fällen. Blut und Pisse, Scheiße, Alkohol und Kotze, das waren typische Gerüche bei Mordfällen. Warum war das Gemälde aufgeschlitzt worden? Was bedeu tete das? Warum sollte man sich mit so etwas aufhalten? Er stand auf und fand in seinem Notizbuch Carol Gehrigs Nummer. Das Telefon klingelte höchstens drei Sekunden. »Hi. Hier ist Alice.« Ein Mädchen, ein Teenager, eine muntere Stimme. Sie hoffte auf einen Anruf, hing zu Hause rum. »Ist Carol Gehrig da?« Eine enttäuschte Pause. »Ja. M u m ! Telefon.« Geräusche, dann meldete sich Carol. »Joe Cashin. Verzeihen Sie, dass ich Sie noch mal störe.« »Sie stören nicht.« »Carol, das Gemälde in Bourgoynes Haus, das aufge schlitzte Gemälde.« »Ja?« Noch eine Enttäuschte. »Hängt das immer noch an der Wand?« »Nein. Ich habe Starkey gebeten, es abzunehmen.« »Wo ist es?« »Ich habe ihm gesagt, er soll es in den Lagerraum bringen.« »Wo ist der?« »Neben den alten Stallungen. Sie müssen durch das Atelier gehen.« »Hat man Sie nach dem Gemälde gefragt?«
»Die Cops? Nein. Glaub ich nicht.« »Warum sollte jemand das Gemälde aufschlitzen?« »Da bin ich überfragt. Ziemlich scheußliches Bild. Irgend wie traurig.«
M
rs. McKendrick war über siebzig, hager, lange Nase, straff nach hinten gekämmte graue Haare. Auf ihrem Schreib tisch stand ein Computer. Zu ihrer Linken, in Augenhöhe, be fand sich ein Ständer, der ihr in Steno verfasstes Notizbuch hielt. Zur Rechten standen auf dem Schreibtisch in zwei Rei hen Behälter für Büroklammern, Klammern für Versandta schen, Bleistifte, ein Tacker, ein Locher und Siegelwachs. »Falls gerade niemand bei ihr ist«, sagte Cashin. »Es dauert nur ein paar Minuten.« »Diese Firma erwartet von Besuchern, ihre Termine vorher zu vereinbaren«, sagte sie und bearbeitete die Tastatur. Cashin sah sich in dem dunklen Zimmer um, betrachtete die Drucke von röhrenden Hirschen, einsamen Wasserfällen und in Schluchten grasenden haarigen Hochlandrindern, was seine Ungeduld aber nicht besänftigte. »Ich bin kein Besucher«, sagte er. »Ich bin die Polizei. Wür den Sie die Entscheidung bitte Mrs. Addison überlassen?« Das Tippen hörte auf. Graue Augen richteten den Blick auf Cashin. »Wie war das?« Hinter Mrs. McKendrick tauchte Cecily Addison auf. »Was geht hier vor?«, sagte sie. »Kommen Sie, Joe.« Cashin folgte Cecily in ihr Büro. Sie ging zu der Wand mit dem Kamin und lehnte sich an das kleine Bücherregal, änderte die Haltung, hatte zwar nicht viel Fleisch, um ihr Gewicht abzufedern, aber auch kein großes Gewicht, das man abfedern müsste. »Setzen Sie sich«, sagte sie. »Wo liegt das Problem?«
Er reichte ihr die Zahlungsbelege. »Es geht um die, die ich markiert habe.« Cecily ging die Liste von oben nach unten durch. Sie run zelte die Stirn. »Das sind hauptsächlich Löhne. Dies hier ist wohl der Mitgliedsbeitrag für den Rennclub. Das hier ist der Melbourne Club, steigt jedes Jahr. Kreditkartenabrechnung. Heutzutage klein, war mal riesig. Das ist... ah ja, Grundsteuer für die Immobilie in N o r t h Melbourne. Wood Street. Die steigt auch jedes Jahr, keine Ahnung, warum er den Besitz be hält. Die Companions haben das Gebäude genutzt. Ich habe die Rechte dafür übertragen lassen.« »Was für ein Gebäude ist das?« »Ein Saal. Anfangs wurden dort Konzerte veranstaltet, so viel ich weiß. Musik. Theaterstücke. Es war die Zentrale der Companions.« Cecily machte sich auf die Suche nach ihren Zigaretten. Heute wurde sie rasch fündig, in ihrer Handtasche. Sie zog eine heraus, fand ihr Ronson-Feuerzeug, das beim ersten K l i cken zündete. Ein tiefer Zug, Ausstoß einer grauen Qualm wolke, Hustenanfall. »Erzählen Sie mir ein wenig über die Companions«, sagte Cashin. »Nun, das Geld kam von Andrew Beecham. Sagt Ihnen der Name was?« »Nein.« »Andrews Großvater gehörte irgendwann mal halb St. Kilda. Sie waren die Herren der Stadt, diese Beechams. U n d des U m lands, hatten einen Riesenbesitz auf der anderen Seite von Hamilton. Heute ist er zerstückelt, in vier, fünf Grundstücke. Sie hatten Royais zu Besuch, englische Aristokratie. Adel und Hochadel. Zum Polospielen.« Cecily musterte ihre Zigarette, hielt die Handfläche nach oben, drehte sie um. »Haben in England die Schule besucht und studiert, die
Beechams«, sagte sie. »Alles andere war nicht gut genug. Nicht die Melbourne Grammar School, die U n i Melbourne auch nicht. Andrew hat in seinem ganzen Leben keinen einzigen Tag gearbeitet. Allerdings hat er im Krieg das Militärverdienstkreuz verliehen bekommen. Dann hat er eine der McCutcheons ge heiratet, so reich wie er selbst, halb so alt. Sie hat sich in der Villa in Hawthorn erhängt, und Beecham bekam am selben Tag einen Schlaganfall. Halbseitig gelähmt, totes Bein, toter A r m . Schließ lich hat er eine Schwester aus dem Krankenhaus geheiratet. Natürlich erst nach einer Schamfrist.« Cashin konnte nachvollziehen, dass man die Kranken schwester heiratete. Cecily sah aus dem Fenster. »Sie kommen einem wie Engel vor, diese Krankenschwestern«, sagte sie. »Ich weiß noch, wie ich nach meiner OP aufwachte, ich hätte genauso gut auf dem Mars sein können, als Erstes sah ich diese Erscheinung in Weiß...« Schweigen. »Mrs. Addison, die Companions«, sagte Cashin. »Genau. Raphael Morrison. Schon mal gehört?« »Nein.« »Er war Bomberpilot, hat die Deutschen bombardiert, Dresden, Hamburg und so was, hat sie geröstet wie Ameisen, Frauen, Kinder und alte Leute, Soldaten waren da kaum. Wie der zu Hause hatte er eine Vision. Bring den jungen Leuten bei, nicht die gleichen Fehler zu begehen, eine neue Welt zu schaf fen, so was in der Art. Moralische Erziehung. Und so gründete er die Companions.« Cecily kaschierte ihr Gähnen mit den Fingerspitzen. »Jedenfalls hörte Andrew Beecham von Jock Cameron über die Companions, die beiden waren gemeinsam im Krieg. Jock machte Andrew und Morrison mit dem alten Bourgoyne be kannt, der sich wegen seiner toten älteren Söhne für die Sache begeistern ließ, und deshalb ist das Camp dort, wo es ist. Auf
Bourgoynes Land. Seit Ende der fünfziger Jahre, damals hab ich schon in der Kanzlei gearbeitet.« »Bin ein wenig verwirrt. Wer ist Jock Cameron?« »Vierzig Jahre lang eine Stütze der Kanzlei. Jock wurde bei der Überquerung des Rheins verwundet. Kam aus gesundheit lichen Gründen hierher.« Cecily musterte Cashin. »Sie sehen Charles Bourgoyne ein wenig ähnlich«, sagte sie. »Also, die Companions.« »Zauberhafte Familie, die von Jock«, sagte sie. »Hab sie 67 kennengelernt, wir sind gemeinsam auf der Dunedin Star nach England gefahren. Werde diese Stewards nie vergessen, das waren durchweg Hinterlader. Wenn sie durch diese schmalen Gänge kamen, haben sie sich gegen meinen Harry gedrückt. Er war alles andere als erfreut, das können Sie mir glauben.« Cashin schaute weg, peinlich berührt. »Etwas anderes. Offenbar ist Jamie Bourgoyne auf Tasmanien ertrunken.« »Noch so eine Familientragödie«, sagte sie, leicht außer Puste. »Zuerst starb seine Mutter in so jungen Jahren.« »Was ist mir ihr passiert?« »Sie fiel die Treppe runter. Der Arzt sagte, sie habe unter dem Einfluss von Schlaftabletten gestanden. Beruhigungsmit tel, vielleicht waren es auch Beruhigungsmittel, ich erinnere mich nicht. In derselben Nacht, als bei den Companions das Feuer ausbrach. Eine doppelte Tragödie.« »Also hat Bourgoyne die Stiefkinder großgezogen?« »Nun, großgezogen ist der falsche Begriff. Erica ging damals in Melbourne aufs Internat, Jamie hatte wohl einen Hausleh rer, bis er etwa zwölf war.« »Und dann?« »In Melbourne aufs Internat. In den Ferien sind sie vermut lich nach Hause gekommen, ich weiß es nicht.« Cashin bedankte sich, ging in den Tag hinaus. Eisregen peitschte unter die tiefen Veranden, fast bis an die Schaufens ter, und durchnässte die Schuhe der wenigen Fußgänger, die 292
sich dicht an den Wänden hielten. Er fuhr zum Revier. Doves Faxe lagen auf seinem Schreibtisch, und er begann zu lesen. Das Telefon klingelte. Er hörte, wie Wexler höflich war. »Können Sie sich etwa zehn Minuten um den Laden küm mern, Chef?«, sagte Wexler dann hinter ihm. »Ladendiebstahl im Supermarkt.« »Wo ist die Gewerkschaft, wenn man sie braucht«, sagte Cashin. »Ich hab Urlaub. Aber ich kann hier keinen Schritt reinsetzen, ohne dass man mich ausbeutet.« Er war auf Seite sechs, als ein zufriedener Wexler zurück kam. »Hat ein Weilchen gedauert, Chef«, sagte er. »Die Frau hatte keine Ahnung, dass ihre zwei Kinderchen im Einkaufswagen sich Sachen in die Anoraks gesteckt hatten, Schokokekse und so was. Und die Besitzer fallen über sie her, als war sie eine Art...« »Hatte sie hier wunde Stellen?«, fragte Cashin. Ihr Name fiel ihm nicht ein. Er berührte seine Mundwinkel. Wexler guckte erstaunt. »Ja. So kleine Bläschen, ja.« Der Vorname fiel ihm wieder ein. »Jadeen Soundso?« Wexler machte große Augen. »Jadeen Reed.« »Jadeen sind hier im O r t die Supermärkte ausgegangen. Von jetzt an kauft sie in Cromarty ein.« Wexlers verdutzte Miene blieb. »Ich hab's verbockt, stimmt's, Chef?« »Tja«, sagte Cashin, »vermutlich hat Jadeen auch ohne eine Anzeige wegen Ladendiebstahls schon genug Probleme.« Er verließ das Revier, kaufte am Kiosk die Zeitungen, ließ sich auf kein Gespräch ein und ging runter zur Dublin Street. Am Tresen standen zwei ältere Frauen mit kurzen Haaren und zahlten. Sie nickten ihm zu und lächelten. Entweder hatten sie an der Demo teilgenommen oder ihn im Fernsehen gesehen oder beides. Leon dankte ihnen für ihren Besuch. Als die Tür zu war,
sagte er: »Na, inzwischen frühverrentet aufgrund von post traumatischem Stress, verursacht durch eine Demo von Klein kindern und Senioren? Freut sich da jemand darauf, künftig von der Erwerbsunfähigkeitsrente zu leben?« »Groß und schwarz, bitte. Groß und stark.« An der Maschine sagte Leon: »Dazu fällt mir ein, Sie und Bobby Walshe sind alte Schulfreunde.« »Grundschule Kenmare. Wir haben's überlebt.« »Und dann sind beide Knaben nach Cromarty auf die High school gewechselt?« »Bobby ist weggezogen. Nach Sydney.« »Dann wählen Sie ja bestimmt Ihre alte Schulfreundin. Helena von Troilismus.« »Von was?« »Troilismus. Flotter Dreier.« Leon bewunderte die crema auf seinem Werk. »Probieren Sie's mal unter T im Polizeihand buch. Ist in Queensland vermutlich strafbar. Sie steht in Cro marty für Bobbys Allzweckpartei auf dem Wahlzettel.« »Wo haben Sie das her?« »Aus dem Lokalblatt. Liegt hier irgendwo rum.« Leon fand die Zeitung und schlug die entsprechende Seite auf. Dort fand sich ein kleines, nicht sehr schmeichelhaftes Foto von Helen Castleman. Die Schlagzeile lautete: ANWÄLTIN KANDIDIERT FÜR NEUE PARTEI »Ist Ihnen schon mal in den Sinn gekommen«, sagte Leon und beugte sich über den Tresen, »dass unser Leben sich so ab spielt wie die Geschichten, die Kinder einem erzählen? Erst heißt es >und dann, und dann<, doch irgendwann geht ihnen die Puste aus und sie enden einfach.« »Sie haben Kinder?« Auf die Idee wäre Cashin nie gekom men. »Zwei«, sagte Leon. Cashin fand das irgendwie ungerecht. »Vielleicht sollten Sie nicht so über Ihr Leben nachdenken. Vielleicht sollten Sie
überhaupt nicht über Ihr Leben nachdenken, sondern einfach nur Kaffee machen.« »Ich muss darüber nachdenken, ich kann nicht anders«, sagte Leon. »Als Jugendlicher wollte ich Arzt werden, Gutes tun, Leben retten. Ein sinnvolles Leben führen. Ich wollte nicht wie mein Vater werden.« »Was stimmte nicht mit ihm?« »Er war Steuerberater. Hat seine Klienten übers Ohr ge hauen, die netten alten Damen, die Rentner. Eines Tages kam er nicht nach Hause. Ich war damals neun, er kam erst wieder, als ich vierzehn war. Dazwischen hat er nichts von sich hören lassen. Ich hoffte damals immer, dass er an meinem Geburtstag zurückkäme. Als er dann zurückkam... egal, vergessen Sie's, ich werde im Winter immer sentimental. Vitamin-D-Mangel, ich trinke zu viel.« »Wieso sollten Zahnärzte nichts Sinnvolles tun können?« Leon schüttelte den Kopf. »Haben Sie je gehört, dass je mand einen Zahnarzt gebeten hätte, sich als Kandidat aufstel len zu lassen?« »Ich hab den Eindruck«, sagte Cashin, »dass Sie ein wenig zu hart mit sich selbst ins Gericht gehen.«
C
ashin warf gerade einen Blick in den Kühlschrank und überlegte, was er zum Abendbrot essen wollte, als das Te lefon auf der Anrichte klingelte. »Hast du in der von uns besprochenen Angelegenheit etwas erreicht?«, sagte Helen Castleman. »Ich hab mit ihnen geplaudert, ja«, sagte Cashin. »Und?« »Es ist eine Überlegung wert.« »Nur eine Überlegung?« »Das ist eine Redewendung.« Schweigen. »Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll, Detective«, sagte sie. »Wieso das denn?« »Mir ist nicht klar, ob du auf das richtige Ergebnis aus bist.« »Was ist das richtige Ergebnis?« »Die Wahrheit ist das richtige Ergebnis.« Cashin betrachtete die Hunde, die vor dem Kaminfeuer la gen und dort einen herrlichen Anblick boten. Sie spürten sei nen Blick, hoben die Köpfe, sahen ihn an, seufzten und er schlafften wieder. »Du wärst ideal fürs Parlament«, sagte Cashin. »Das würde sämtliche Standards anheben - das Aussehen, den IQ-Durch schnitt.« »Der Hund des blinden Freddy hat bessere Chancen ins Parlament zu kommen als ich«, sagte sie. »Ich trete an, damit
man in diesem reaktionären Kaff überhaupt eine Wahl hat. Weiter im Text. Was hast du nun vor?« »Ich arbeite an der Sache.« »Heißt das du oder das Morddezernat?« »Ich kann nicht für das Morddezernat sprechen. Es besteht keine große ...« »Große was?« »Ich vergaß. Das passiert, wenn man mich unterbricht. Ich bin im Urlaub. Nicht auf dem neuesten Stand.« »Und du hast garantiert bereits einen Weg zwischen deinem Herrenhaus und dem illegalen Zaun auf meinem Grundstück getreten.« »Es gab bereits einen Weg. Einen historischen Weg zur his torischen Grundstücksgrenze.« »Tja, den werde ich jetzt betreten«, sagte Helen. »Ich w i l l deine Augen sehen, wenn du diesen diffusen Kram erzählst.« »Das ist auch so eine Redewendung, stimmt's?«, sagte Ca shin. »Nein. Ich bin da i n . . . wie lange es halt dauert. Unterwegs inspiziere ich meine Grundstücksgrenze.« »Wie, jetzt sofort?« »Noch in dieser Minute breche ich auf.« »Wird bald dunkel.« »Nicht so bald. Und ich habe eine Taschenlampe.« »Schlangen sind ein Problem.« »Ich hab keine Angst vor Schlangen. Mann.« »Ratten. Fette Wasserratten. Und Landratten.« »Tja, igitt, igitt und pfui. Vierbeinige Ratten jagen mir keine Angst ein. Bin schon unterwegs.«
I m schwindenden Nachmittagslicht sah er ihre rote Jacke aus großer Entfernung, eine Streichholzflamme in der aufkom menden Dämmerung. Dann witterten die Hunde sie im Wind und rannten los, direkt auf sie zu. Die beiden sprangen an ihr hoch, doch sie ließ die Hände in den Taschen, hatte vor H u n den genauso wenig Angst wie vor Schlangen oder Ratten. Als sie auf gleicher Höhe waren, streckte ihm Helen förm lich die Hand entgegen. Sie sah frisch gewaschen aus, kam direkt aus der Dusche, hatte Farbe auf den Wangenknochen. »Vermutlich könntest du mich wegen unbefugten Betretens anzeigen«, sagte sie. »Das halte ich mir als Option offen«, sagte Cashin. »Ich gehe am besten voran, hier gibt's jede Menge Löcher. Ich w i l l nicht verklagt werden.« Er machte kehrt und ging. »Eine sehr legalistische Besprechung«, stellte Helen fest. »Weiß nicht, ob das eine Besprechung ist. Eher eine A r t I n terview.« Sie gingen schweigend den Hang hinauf. Am Tor pfiff Cashin die Hunde herbei, die aus unterschiedlichen Richtun gen angelaufen kamen. »Ausgezeichnet abgerichtete Tiere«, sagte sie. »Hungrige Tiere. Es ist Abendessenszeit.« An der Hintertür sagte er: »Ich entschuldige mich nicht für das Haus. Es ist eine Ruine. Ich wohne in einer Ruine.« Sie traten ein, durch den Flur in den großen Raum.
»Herrje«, sagte sie. »Welches Zimmer ist das denn?« »Der Ballsaal. Hier veranstalte ich die Bälle.« Cashin sperrte die Hunde in der Küche ein und ging voran in die Zimmer, die er bewohnte, ihm wurde ganz anders ange sichts der halb heruntergerissenen Tapete, des bröckelnden Putzes, der Zeitungsstapel. »Hier gehst du nach den Bällen hin«, sagte Helen. »Das weniger konventionelle Zimmer. Es ist warm.« »Hierhin zieht man sich nach den Bällen zurück«, sagte er. »Das Gesellschaftszimmer.« Den Begriff hatte er irgendwo ge lesen, hatte ihn vor Rai Sarris nicht gekannt, das stand fest. Helen sah ihn an, nickte abwägend und biss sich auf die Unterlippe. »Dieser Besuch w i r d mir immer peinlicher«, sagte sie. »Ich werde manchmal so wütend.« Cashin räumte Zeitungen von einem Stuhl, ließ sie auf den Boden fallen. »Nimm doch Platz«, sagte er, »wo du jetzt schon mal hier bist.« Sie setzte sich. Er wusste nicht weiter. Schließlich sagte er linkisch: »Die Hunde müssen gefüttert werden. Tee, Kaffee? Einen Drink?« »Ist das die Auswahl für die Hunde? Darf ich entscheiden? Gib ihnen Tee. U n d einen Keks.« »In Ordnung. U n d du?« »Was für ein Drink wäre das ?« Sie zog ihre Jacke aus und sah sich in dem Zimmer um, betrachtete die Musikanlage, die CDGestelle, das Bücherregal. »Also, Bier. Rotwein. Rum, und zwar Bundy. Kaffee mit Bundy ist an einem kalten Tag prima, also an jedem Tag. M i t einem kleinen Schuss. Ein großer Schuss ist auch gut.« »Ein mittlerer Schuss. Kriegst du das hin?« »Ist einen Versuch wert. Ich verfalle hier häufig in Extreme. Der Kaffee ist in einem Kaffeebereiter gemacht. Wird aufge wärmt.« Das Licht fing sich in ihrem Haar, das glänzte. »Sehr gut.
Das ist ein Riesenfortschritt verglichen mit dem, was ich sonst trinke.« Als er die Hunde gefüttert hatte, war der Kaffee heiß. Er goss einen großen Schuss Rum in jeden Becher, füllte mit Kaf fee auf, nahm die Becher in die eine, Zucker in die andere Hand und ging zurück. Helen sah sich die CDs an. »Das ist wirklich starker Tobak«, sagte sie. »Für einen Cop, meinst du?« »Ich meinte mich selbst. Mein Vater hat andauernd Opern gespielt. Ich fand das grässlich. Habe wohl nie richtig zuge hört. Ich bin eine schlechte Zuhörerin.« Er gab ihr einen Becher. »Ein bisschen Zucker nimmt das Beißende«, sagte er. »Ich lasse mich von dir leiten.« Er löffelte Zucker in ihren Becher, rührte um, verfuhr bei seinem Becher genauso. »Prost.« Sie erschauerte. »Wow«, sagte sie. »Das mag ich.« Sie setzten sich. »Es war eine schlimme Geschichte«, sagte sie, den Blick aufs Feuer gerichtet. »Ohne Frage.« »Ich habe bei der Sache ein schlechtes Gefühl, weil ich glaube, dass du glaubst, dass ich dich irgendwie benutze.« Gebell. »Dürfen die Hunde rein?«, fragte er. »Sie werden dich nicht behelligen.« »Her mit den Hunden.« Cashin nahm Helens Becher, ließ die beiden rein. Sie stürm ten auf Helen zu. Sie war nicht beunruhigt. Als er streng auf die Tiere einredete, gingen sie zum Kamin und ließen sich nie dersinken, jeder legte den Kopf auf die Pfoten. »Es ist kein Interview, Joe«, sagte sie. »Ich möchte mit dir über das reden, was Sache ist, schließlich trage ich kein Mikro.
Um zu sagen, was ich glaube, ich glaube, die Regierung ist froh darüber, dass der M o r d an Bourgoyne diesen Jungs angehängt wird, weil es womöglich politisch gesehen hilft.« »Politik hat bei Mordfällen nichts zu suchen.« »Ach nein?« »Mit mir hat niemand über Politik gesprochen.« »Mit dem Fall sollte sich eine Sondereinheit befassen. Statt dessen tun es du und Dove, du wirst beurlaubt, nicht suspen diert, beurlaubt. Dove ist wieder in Melbourne. Und dann willst du mir erzählen, man hat dir nicht zu verstehen gegeben, die Angelegenheit sei unter >Vergiss es< abgeheftet worden?« Cashin wollte sie nicht anlügen. »Anscheinend will man erstmal, dass sich die Lage beru higt«, sagte er. »Der Mann ist tot, die Jungs sind tot, wir haben es nicht eilig. Es ist schwer zu ermitteln, wenn die Leute voller Wut sind. Wer redet dann mit einem?« »Meinst du damit die Daunt?« »Die Daunt.« Sie trank. »Joe«, sagte sie, »kannst du dir vorstellen, dass die Jungs Bourgoyne nicht überfallen haben?« Das Kaminfeuer musste nicht geschürt werden. Er stand auf und schürte es. Dann legte er Björling auf. Die Balance war nicht mehr perfekt. Er drehte an den Reglern herum. »Ja«, sagte er, »die Möglichkeit besteht.« »Na, wenn es die Jungs nicht waren, musst du nicht darauf warten, dass die Daunt zur Ruhe kommt. Du brauchst nicht die Unschuld der Jungs zu beweisen, ehe du in andere Rich tungen ermittelst, oder?« »Helen, ich wurde vom Morddezernat nach Port Monro abgestellt. Sie hatten Personalmangel und haben mich angefor dert. Dann ging's los.« »Hatte Hopgood etwas damit zu tun?« Cashin setzte sich. »Warum sollte er?« »Weil er in Cromarty das Sagen hat. Es heißt, der Revier
leiter geht nicht mal auf die Toilette, ohne dass Hopgood es ab segnet.« »Tja, ich bin in Port Monro. Vielleicht hörst du manches, was ich nicht höre.« Sie sahen einander über ihre Becher hinweg an. Sie blinzelte langsam. »Joe, die Leute sagen, er sei ein Killer.« »Ein Killer? Wer sagt das?« »Leute aus der Daunt.« Cashin dachte, es gäbe nichts, was er über Hopgood nicht glauben würde. Er schaute weg. »Die Leute sagen alles Mög liche über Cops, das gehört zum Job.« »Du hast doch Aborigine-Verwandte, haben die dir nichts erzählt?« »Für meine Verwandten bin ich irgendein mieser weißer Cop«, sagte er. »Aber das würdest du nicht verstehen. Lass uns über reiche weiße Kids reden, die die Welt beherrschen wollen.« Helen schloss die Augen. »Das war überflüssig. Ich fang noch mal von vorn an. Es heißt, Corey Pascoe sei in jener Nacht hingerichtet worden. Du warst dabei. Was sagst du dazu?« »Was ich zu sagen habe, werde ich dem Untersuchungsrich ter sagen.« »Du hast versucht, den Einsatz abzubrechen.« »Ach ja?« »Ja, allerdings.« »Wo hast du das denn her?« »Das tut für unsere Zwecke nichts zur Sache.« »Für unsere Zwecke? Es gibt nicht >unsere Zwecken Und überhaupt wird der Untersuchungsrichter entscheiden, wer was getan hat und wer nicht.« »O Gott«, sagte sie, »irgendwie krieg ich das nicht hin. Kannst du dich nicht mal eine verfluchte Sekunde lang ent spannen?« Ihm wurde heiß, er lief rot an.
»Du bist einfach verwöhnt, weiter nichts«, sagte er. »Du kommst her, engagiert bis zum Gehtnichtmehr, aber im Grunde bist du nur ein reicher, begabter Fratz. Wenn du nicht kriegst, was du haben willst, stampfst du mit dem Schuhchen auf. Wende dich doch an die Medien. Bring das Mädchen dazu, ihnen die Geschichte mit der Uhr zu erzählen. Dann kommst du auch ins Fernsehen. Das wird deinem Wahlkampf guttun, deinem und Bobbys auch.« Helen stand auf, stellte ihren Becher auf den wackligen Tisch und nahm ihre Jacke. »Ich danke dir jedenfalls, dass ich vorbeikommen durfte. Und für den Kaffee mit Schuss.« »Gern geschehen.« Cashin stand auf und ging voran, durch das riesige Z i m mer mit den rissigen Bodendielen, die leise klagende Mausge räusche von sich gaben. Draußen schien ein Dreiviertelmond, die hoch fliegenden Wolken verteilten sich. Er sagte: »Ich be gleite dich ein Stück.« »Nein danke«, sagte sie und stieß einen A r m in ihren Ja ckenärmel. »Ich finde den Weg allein.« »Ich gehe mit bis zu meinem Zaun«, sagte Cashin. »Ich möchte Zeuge sein, falls du angeblich ausrutschst und fällst.« Er nahm die große Taschenlampe von dem Haken und ging voran. Sie folgte ihm stumm, den Weg hinunter, durch das Tor, über die Wiese, in das Kaninchengebiet. In der Nähe des Zauns schwenkte er die Taschenlampe, Augen leuchteten auf - vier, nein, mehr. Er blieb stehen. Hasen. Festgenagelte, unbewegliche Hasen. Die Hunde wä ren begeistert, dachte er. »Hunde fänden das toll«, sagte sie hinter ihm. Er drehte sich halb um. Sie war dicht hinter ihm, nur Zenti meter entfernt. »Nein, man kann Hunde nicht mit rausnehmen, wenn man eine Lampe dabei hat. Die Hasen hätten keine Chance.«
Sie machte einen kleinen Schritt nach vorn, legte ihm eine Hand an den Hinterkopf und küsste ihn auf den Mund, zog ihren Kopf weg und küsste ihn dann noch mal. »Tut mir leid«, sagte sie. »War nur ein Impuls.« Sie ging um ihn herum und knipste ihre Taschenlampe an. Er rührte sich nicht, war verdutzt, stand da mit einem Halbsteifen, leuchtete sie an und sah ihr nach, als sie zwischen den schlaffen Drähten des Seitenzauns hindurchstieg, der an seinem neuen Eckpfosten endete, den Hang erklomm, in der Dunkelheit verschwand, zu einem sich bewegenden, aufsteigenden Licht wurde. Sie schaute sich nicht um. Cashin blieb noch eine Weile stehen, Finger an den Lippen, und dachte an den Abend am Kessel, an die anderen Küsse, lange her, zwei Küsse. Er zitterte, das war nur die kalte Nacht. Warum hatte sie das getan?
D
ie Wood Street in N o r t h Melbourne war eine kurze Sack gasse, schmal, auf einer Seite nackte Fabrikmauern, denen fünf schmale, außenwandverschalte Häuser gegenüberstan den. Am Ende der Straße stand ein nach dem Vorbild eines griechischen Tempels erbautes Gebäude, fensterlos, vier Säu len und ein dreieckiger Giebel. Es war eine A r t Saalbau, wie ein Logenhaus, doch der Giebel war kahl. Cashin fuhr langsam, parkte schräg vor nicht beschrifteten Rolltoren. Er stieg nicht aus, dachte daran, dass er ohne plau siblen Grund den weiten Weg gefahren war, dass er über man che Dinge tage-, wochen- oder monatelang nachgrübelte, wäh rend er andere ohne jede Überlegung einfach machte. Vickie war das schon damals aufgefallen, als er eines Tages nach Hause kam, am Steuer eines gebraucht gekauften Audi. »Du überlegst dir alles genau, nicht wahr?«, sagte sie. »Denkst gründlich nach. U n d dann machst du einfach irgendetwas, egal was. Genauso gut könntest du ein totaler Schwachkopf sein, das Ergebnis ist schließlich dasselbe.« Sie hatte Recht. Deshalb war Shane Diab tot, deshalb war ihm das Blut aus Mund, Nase und Augen gelaufen, deshalb hatte er schreckliche Laute von sich gegeben und war gestorben. Cashin stieg aus und ging um den Wagen herum. Der Bo den des schmalen Säulengangs des Tempels war bedeckt von schimmligen Hundehaufen, weggeworfener Reklamepost, die allmählich wieder zu Zellstoff wurde, gebrauchten Spritzen, Bierflaschen, Dosen, Whiskyflaschen, Kondomen, Kleidungs
fetzen, Styroporresten, einem brettsteifen Badetuch und einem Stück Auspuffrohr. Er ging die beiden Stufen hinauf und über den Müll zu der riesigen eisenbeschlagenen Doppeltür. Sie wies Spuren zahlrei cher Einbruchsversuche auf. Ein Klingelknopf war herausge rissen worden, doch der schmiedeeiserne Klopfer hatte stand gehalten. Cashin hieb ihn gegen die kleine Eisenscheibe - ein-, zwei-, dreimal. Er wartete, klopfte wieder. Wieder. U n d wie der. Dann kniete er sich hin und schob die Briefkastenklappe nach hinten. Drinnen war es dunkel. Als er hinter sich Blicke spürte, stand er auf und drehte sich um. A u f der Türschwelle des nächsten außenwandverschalten Hauses stand eine Frau, ihr Schildkrötenkopf linste aus einem textilen Panzer, dessen oberste Schicht eine riesige Schürze mit Blumenmuster war. »WasmachnSieda?«, rief sie. Cashin ging die Treppe hinunter, trat näher. »Polizei.« »Echt? Zeigen Sie mal.« Er zeigte es ihr. »Wer kümmert sich um dieses Gebäude?« »Hä?« »Dieses Haus.« Er zeigte darauf. »Wer ist dafür zuständig?« »Ah so. Da gab's mal 'n Typ. Kam nie zur Vordertür raus. Hab ihn nie diese Tür öffnen sehen.« Sie schniefte, schob einen Finger unter der Nase vorbei, musterte Cashin schweigend, ohne mit der Wimper zu zucken. »Woher wussten Sie dann, dass er da drin war?«, fragte er. »Merv hat da 'ne Garage, der hat ihn gesehen.« »Eine Garage, wo?« Sie sah ihn an, als wäre er schwer von Kapee. »In dem Weg. Hab ich doch gesagt.« »Genau. Wie kommt man zu dem Weg?« »Neben Wolfs.« »Wo ist Wolfs?« »Na, inner Tilbrook Street. Was dacht'n Sie denn?«
»Danke für Ihre Hilfe.« Sie beobachtete, wie er rangierte, wendete und wegfuhr. Er winkte. Sie reagierte nicht. In der Tilbrook Street entdeckte er die Gasse, gerade breit genug für ein Fahrzeug. Er parkte vorn, ging die mit Blaustein gepflasterte Rinne in der Mitte entlang und suchte auf der linken Seite den Eingang zur Rückseite des Tempels. Es musste das Holztor mit dem morschen unteren Teil neben dem rostigen Garagentor aus Stahl sein. Sicherheitsschloss, kein Türgriff. Er legte beide Hände an das Tor und drückte ver suchsweise dagegen. Es gab nicht nach. Er probierte es am rech ten Torpfosten, der ein wenig nachgab. Klopfen war angesagt. Er klopfte, rief den Namen Merv, wiederholte das Ganze. Dann sah er den Weg rauf und runter, trat in den Eingang, stemmte sich mit dem Rücken gegen den einen, mit einem Fuß gegen den anderen Torpfosten, drückte sich ab und lehnte sich gegen das Tor. Es ging quietschend auf, und er fiel fast hinein. Gewaltsames Eindringen ohne Durchsuchungsbeschluss. Ein vier oder fünf Meter langer Gartenweg, auf beiden Sei ten Backsteinmauern, ein Mülleimer. Cashin ging bis ans Ende. Ein betonierter, rechteckiger H o f hinter einer nur von drei kleinen Fenstern und einer Tür durchbrochenen hohen Wand. Links hingen leere Wäscheleinen. Er ging zu der Tür, die in das Gebäude führte, stellte sich auf die oberste Stufe und klopfte dreimal, jedes Mal fester, bis ihm die Knöchel wehtaten. Er probierte den Türknauf. Abgeschlossen. Auch ein Si cherheitsschloss, ein neueres. Das Tor zum Garten war eine Sache, da ließ sich irgendein Vorwand finden. Sich gewaltsam Zutritt in ein Gebäude zu verschaffen, war etwas anderes. Er sollte Villani anrufen, ihm erzählen, was er wollte, was er hier tat. Er untersuchte die Tür. Während der mehr als hundert Jahre
ihres Bestehens war sie geschrumpft, passte nicht mehr genau in den Rahmen. Wenn man ein neues Schloss in eine alte Tür einbaute, musste man eigentlich die ganze Tür ausbessern. Das war versäumt worden. Er bückte sich, um nachzusehen, und entdeckte den Schnapper des Türschlosses. Verschwinde, sagte die Stimme der Vernunft. Hau ab. Ruf Villani an. Besorg dir einen Durchsuchungsbeschluss. Das würde ewig dauern. Villani würde sich von Singo inspi rieren lassen, er würde Singo zitieren. Er würde darauf beste hen, dass für das Eindringen stichhaltige Gründe vorliegen mussten. Am liebsten wäre Cashin nach Hause gefahren, im frischen Wind mit den Hunden rausgegangen, hätte sich eine Weile auf den Boden gelegt, sich ans Feuer gesetzt, die Callas gehört und Rotwein im Mund zirkulieren lassen, während er ein paar Sei ten Conrad las. Er holte sein Portemonnaie heraus und entnahm ihm das dünne, schmale Stück Plastik. Er hielt es kurz zwischen Dau men und Zeigefinger, bog es. Es war stabil, gerade biegsam genug. Was soll's, scheißegal, jetzt bin ich schon so weit gekommen. Das Plastikstück ließ sich problemlos in die Lücke schieben, glitt um den Riegel herum, schob ihn gerade weit genug zu rück. Er drückte gegen die Tür. Der Riegel rutschte aus seiner Behausung. Die Tür ging auf. Licht fiel in einen breiten Flur, auf dem Boden lag Linoleum, schwarze und weiße Quadrate, unter dem Belag sah er die U m risse der Bretter. Er machte einen Schritt in das Haus. Die Luft war kalt und muffig, von oben kamen Kratzgeräusche. Vögel. Das waren bestimmt Stare, kein Dach hielt sie ab. In wenigen Wochen konnten sie eine Zimmerdecke mit ihrem Dreck iso lieren. »Jemand zu Hause?«, rief er.
Er ging noch ein paar Schritte in den Flur, rief wieder. Kein Laut, die Stare legten eine kurze Pause ein. Cashin öffnete die erste Tür zu seiner Linken. Dahinter lag ein Badezimmer mit Toilette, über der alten Löwenfuß-Bade wanne hing ein Duschkopf. Ein Schränkchen über dem Wasch becken war leer, sah man von einem trockenen Seifenstück ab. Die nächste Tür stand offen: eine Küche, uralter Gasherd, blanker Kiefernholztisch, ein leeres Gemüseregal. Cashin überquerte den Flur. Das gegenüberliegende Z i m mer war ein Schlafzimmer - ein mit weißer Wäsche bezogenes Einzelbett, ein Nachttisch, eine Lampe. Zwei gefaltete Decken lagen auf einer Kommode aus Fichtenholz. Die Schubladen waren leer. Cashin öffnete einen schmalen Schrank. Bis auf ein paar Drahtbügel war er leer. Das nächste Zimmer sah genauso aus, ein Einzelbett mit ge streifter Kokosmatratze und ein Tisch. Die Tür vis-ä-vis ließ sich nur mit Mühe öffnen. Als er den Lichtschalter rechts an knipste, sah er ein Büro mit Schreibtisch, einem Stuhl, einem grauen Aktenschrank mit drei Schubladen und einer Wand voller Holzregale, in denen graue Leitzordner standen. Cashin berührte die leere Schreibtischplatte. Seine Finger waren an schließend mit Staub überzogen. Er trat an die Regale. Sie waren beschriftet, an jedem Brett hatte man in Messingrähmchen handgeschriebene Kärtchen be festigt: Allgemeine Korrespondenz, Korrespondenz Q'land, Korrespondenz WA, Korrespondenz SA, Korrespondenz Vic. Das Regalbrett für Vic(toria) war leer. Andere Bretter trugen die Aufschrift »Rechnungen«. A u f dem Brett für Rechnungen Vic war nichts. Er nahm eine Akte der Korrespondenz WA, blätterte sie durch. Originale, Durchschläge und Fotokopien von Briefen an das und von dem Companions Camp, Caves Road, Busselton, Western Australia. Cashin stellte die Akte zurück, öffnete eine Schreibtisch schublade.
Benutzte Scheckhefte, ganze Bündel von Gummibändern zusammengehalten, von denen einige zerfallen waren. Er nahm ein Heft heraus, sah sich ein paar Kontrollabschnitte an. Of fenbar waren sämtliche Rechnungen der Moral Companions von hier aus bezahlt worden. Er schloss die Schublade, verließ das Zimmer und öffnete die Tür am Ende des Gangs. Dunkelheit. Er tastete, fand den Schalter, drei Leuchtstoffröhren ließen sich Zeit, bis sie fla ckernd erwachten. Von einem anderen, quer zum ersten ver laufenden Gang gingen drei Türen ab. Cashin öffnete die erste, fand Lichtschalter, einen, zwei, drei, knipste alle an. An der ge genüberliegenden Wand gingen ein paar Lampen an, die Spie gel umgaben. Der Raum war eine Theatergarderobe. Er war schon einmal in so einer Garderobe gewesen, damals hatte die Leiche einer Frau seit sechzehn Stunden in der Toilette gelegen. Anschei nend war sie irgendwann nach der letzten Aufführung einer Amateurgruppe gestürzt und mit dem Kopf auf die Kloschüs sel geschlagen. Es hatte eine Party gegeben. Doch sämtliche Alarmglocken schrillten, als man ein Hämatom an ihrem H i n terkopf entdeckte. Das Theaterstück war von einem Arzt ver fasst worden. Singo hatte ihn im Verdacht, und sie quetschten ihn aus, doch es kam nichts weiter dabei heraus als sein Ein geständnis, dass er mit einer anderen Schauspielerin aus der Gruppe gevögelt hatte. Cashin überprüfte die anderen Zimmer. Ebenfalls kleine Garderobenräume. Im zweiten platzten zwei Glühbirnen, als er das Licht anknipste. Er ging zurück, öffnete eine Tür, ging eine lange Treppe hinunter zu einer anderen Tür. Ein großer Raum, von verstaubten Fenstern hoch oben an den Wänden nur schwach erhellt. Er ging ein paar Schritte h i nein. Es war ein Theater aus einer anderen Zeit, länger als breit, nach hinten zu leicht ansteigend, etwa dreißig Zuschauerrei
hen, alle Sitze hochgeklappt. Links von Cashin führte eine kurze Treppe auf die Bühne. Ein letzter Versuch. »Jemand da?«, rief er. »Polizei!« Auch hier hörte man Stare und von der Straße das Geräusch eines Autos, dessen Motor jemand aufheulen ließ, probeweise, wie es Mechaniker tun. Den Staub überlagerte ein für Cashin nicht identifizierbarer Geruch und das leichte Aroma von etwas Feuchtem, das seinen Ursprung unter dem Fußboden hatte. Irgendwoher kannte er diesen Geruch, und er spürte, wie sich die Haut in seinem Ge sicht und am Hals spannte. Er ging nach hinten und stieß eine von zwei Türen auf. Von dort kam man in ein Foyer mit Marmorfußboden und zu den Vordertüren. Er ging zurück, stieg die Treppe zur Bühne h i nauf und schob einen schweren lila Samtvorhang beiseite. Er stand jetzt in der Seitenkulisse, ein dunkler Bereich, die Bühne mit ihren kahlen Bodenbrettern sah man durch Lücken in hohen Kulissenaufbauten. Cashin ging zu einer der Lücken. Auf die Bühne hatte man Sand geschüttet, sauberen Bau sand, in Haufen und verstreuten Flecken. Sand? Er sah die Eimer im Hintergrund, drei rote Eimer, und auf jedem stand das Wort FEUER. Jemand hatte die Löscheimer auf der Bühne ausgeleert und den Sand verteilt. Rowdys? Die hätten sich nicht damit begnügt, mit Sand he rumzuschmeißen, sie hätten die ganze Bude kurz und klein ge schlagen, die Vorhänge abgerissen, auf die Bühne geschissen, von der Bühne gepisst, sie wären auf die Sitze gesprungen, bis sie abbrachen, hätten sie aus ihren Verankerungen gerissen, Brände gelegt. Keine Rowdys, nein. Das hatte mit Rowdytum nichts zu tun. Hier war etwas anderes passiert.
Er ging auf die Bühne und musste dabei auf Sand treten, der unter seinen Füßen knirschte, ein erschreckend lautes Ge räusch. In der Bühnenmitte sah er sich um. Millionen Staub körnchen schwebten in dem schwachen blassgelben Licht, das von oben durch die Fenster fiel. Es musste eine Bühnenbeleuchtung geben. Aber wo? Er suchte in der Seitenkulisse und fand in der Nähe der Treppe einen Kasten mit Schaltern - vier altmodische, runde Schalterdosen aus Porzellan mit Messingkippschaltern. Er legte sie alle um, es klickte hörbar, die Bühne war beleuchtet. Er ging zurück auf die Bühne. Ein Scheinwerfer über dem Bühnenportal erhellte nun einen gemalten Bühnenprospekt, und etwa ein Dutzend Rampenlichter brannten. Während er hinsah, verloschen zwei davon, gleich darauf ein drittes. Er be trachtete den Hintergrundprospekt. Es war eine leicht hüge lige Landschaft, hier und da Bauernhäuser, weidende Schafe als weiße Punkte, eine gelbliche Straße schlängelte sich durch die Ebene und einen Hügel hinauf, einen grünen, sanft gerundeten Hügel. Auf seinem Gipfel standen drei Kreuze, zwei kleinere flankierten ein doppelt so großes. Cashin trat näher. An den kleineren Kreuzen hingen ge kreuzigte Gestalten, doch das große Kreuz war leer. Es wartete auf jemanden. Er betrachtete den Sand auf dem Boden vor dem Hintergrund der gemalten Landschaft. Warum sollte jemand Sand auf die Bühne werfen? Um einen Brand zu löschen? Vielleicht hatte irgendwer ein Feuer ge macht, eine leicht brennbare Flüssigkeit auf die Bodenbretter geschüttet, sie angezündet, war dann in Panik geraten, hatte einen Löscheimer genommen und die Flammen erstickt. Das war die naheliegende Erklärung. Rowdys legten Brände. Aber sie löschten sie nicht. M i t dem Schuh schob er etwas Sand beiseite, kratzte darauf herum. Die unteren Körner waren dunkel, klebten zusammen,
waren verklumpt. Er kratze noch etwas mehr, legte die Dielen frei. Ein schwarzer Fleck. Plötzlich wurde ihm übel, er spürte die Kälte im Nacken, am Hinterkopf, in den Ohren. Hier war etwas Schlimmes geschehen. Es wurde Zeit, die Kollegen zu verständigen, im Wagen zu warten. Er hockte sich hin, streckte einen Zeigefinger aus und be rührte den Boden, musterte dann seine Fingerspitze. Blut. Er kannte Blut. Wie alt? Der Sand hatte die Feuchtigkeit aufgesogen. M i t schmerzendem Rücken stand er auf, beugte die Schul tern vor, das Gesicht dem Zuschauerraum zugewandt, der Scheinwerfer brannte, die Rampenlichter strahlten ihm in die Augen, er konnte den Saal nur undeutlich erkennen. Dann sah er es.
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lle Sitze im Saal waren hochgeklappt, Bis auf einen Sitz. Sechs Reihen weiter oben, in der Mitte der sechsten Reihe. Dieser eine Sitz war unten. Im gesamten Saal war nur ein Sitz runtergeklappt. Jemand hatte auf diesem Platz gesessen. Jemand hatte sich diesen Sitz ausgesucht. Es war der beste Platz im Haus, wenn man etwas sehen wollte. Was sehen? Blödsinn. Wahrscheinlich war der Sitz von selbst runterge fallen, Sitze taten das, und nicht nur Sitze, Runterfallen war ein Naturgesetz. Wenn man ein Dutzend Dinge aufbaute, die um fallen konnten, würde es mindestens eins auch tun. Cashin verließ die Bühne, ging die Treppe hinunter und durch den Mittelgang, bis er an der sechsten Reihe ankam, wo er sein Handy hervorholte und das Morddezernat anrief. »Joe Cashin. Ist Inspector Villani da?« »Er telefoniert. Nein, er hat aufgehört. Ich stelle Sie durch.« Villani blaffte seinen Nachnamen. Jeden Tag klang er mehr wie Singo. »Hier ist Joe. Hör zu, ich bin hier in einer A r t Saal in N o r t h Melbourne, wo etwas passiert ist, das untersucht werden muss.« Villani hustete. »Spreche ich mit Joe aus Port Monro? Der gerade aus N o r t h Melbourne anruft? Machst du einen Ausflug in die große Stadt, Joe? Na los, erzähl uns, was dich bedrückt.« »Hör zu, die Adresse«, sagte Cashin.
»Scheiße, was soll das?« »Hier ist Blut, nicht alt.« »Worum geht's überhaupt?« »Bourgoyne.« »Bourgoyne?« »Ich glaube schon. Ja.« »In N o r t h Melbourne?« »Es ist kompliziert, okay? Ich melde das nur, aber wenn es dir lieber ist, kann ich auch die CrimeStoppers-Hotline anru fen. Soll ich?« »Tja, da es so verdammt dringend und wichtig klingt, lasse ich alles stehen und liegen und komme selbst. Wie ist die Adresse?« Cashin sagte es ihm und beendete das Telefonat. Er stand da und betrachtete die Bühne, vor der gemalten Kulisse eines ide alisierten Kalvarienberges. Dann ging er die Sitzreihe entlang, durch den Korridor zu der Treppe auf der anderen Seite der Bühne und stieg hinauf, so dass er nun im dunklen Bereich neben der Bühne stand. Diesen Geruch kannte er. Hier war er stärker. Die Kälte schlich sich wieder in Nacken und Schultern, ihn fröstelte. So hatte es auch an jenem Morgen in Bourgoynes Wohn zimmer gerochen. Er schnupperte, sah sich um und merkte, dass er mit den Zähnen knirschte. Zu seiner Linken entdeckte er in Wandnähe ein gusseisernes Rad mit zwei rechtwinklig abstehenden Grif fen. Er trat näher. Von der Rückseite des Rads führte ein Seil in die Dunkelheit. Man hatte das Seil um eine Trommel gewi ckelt, dahinter befand sich ein Sperrrad mit eingebauter Sperr klinke. Er brauchte eine Weile, um aus der Konstruktion schlau zu werden. M i t dem Seil hob und senkte man den gemalten Bühnen prospekt. M i t dem Sperrrad kontrollierte man diesen Vorgang; es sorgte dafür, dass der Prospekt nicht zu Boden krachte.
Hinter dem Seil lag etwas, zwischen Seil und Wand. Cashin streckte eine Hand aus, zog daran. Ein Stück Stoff, zusammengeknüllt, hart, aber immer noch feucht. Der Geruch. Er brauchte nicht an dem Tuch zu riechen. Es sig. Es war ein mit Essig getränktes Geschirrtuch. Er hielt es gegen das von der Bühne kommende Licht. Es war dunkel. Blut. Die Frage stellte sich ihm von selbst. Warum war das Sperr rad eingerastet? Warum war das Seil straff gespannt? Er zog an dem eisernen Rad, und die Klinke des Sperrrads löste sich. Er ließ das Rad laufen, die Klinke machte klick-klick und das Seil gab nach. Metallisches Knirschen. Der Prospekt senkte sich ein Stück weit. Er schaute zwischen den Latten hindurch auf den Teil der Bühne, den er sehen konnte. Großer Gott. Nackte Füße, dunkle, geschwollene Beine, an denen ge trocknete Blutrinnsale ein Streifenmuster bildeten, verfilzte Schamhaare, ein dunkler Torso, erhobene Arme, ein schwarzes Loch unter den Rippen, in der Seite... Cashin ließ das Rad los. Die Sperre hakte ein, das Seil wurde angehalten. Der hagere, nackte, blutverkrustete Leichnam schwang leicht hin und her. Cashin ging durch den Saal, ins Foyer, schloss die Vordertür auf, ging hinaus in die kalte, giftige Stadtluft, blieb auf der obersten Treppenstufe stehen und atmete die Luft tief ein. Ein silbriger Wagen bog in die Straße ein, fuhr in der Mitte, direkt auf ihn zu, hielt zwei Meter von ihm entfernt, beide Vorderräder am Bordstein, scherte sich nicht um das vorge schriebene schräge Einparken.
Die vorderen Türen gingen auf. Villani und Finucane stiegen aus, bleich und schwarz wie Bestatter, Blicke auf ihn gerichtet. »Was?«, sagte Villani. »Was ist?« »Drinnen«, sagte Cashin.
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u dritt saßen sie in dem großen unordendichen Raum im siebten Stock, auf jeder Oberfläche Akten, ein Konzert aus Telefonklingeltönen - Schnarren, Trillern, alberne kleine Me lodien. »Wie in alten Zeiten«, sagte Birkerts. »So sitzen wir hier. Jeden Moment kommt Singo zur Tür rein.« »Scheiße, wenn's doch nur so wäre«, sagte Villani. Er seufzte, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. »Oje, ich muss unbedingt rausfahren und ihn besuchen. An allen Fronten häuft sich Schuld auf. Was man alles nicht erledigt hat.« Cashin fand, dass Villani noch müder aussah als beim letz ten Mal, als sie nach Mitternacht im Zimmer seines Sohns Wein getrunken hatten. »Apropos erledigt«, sagte Birkerts. »Hab ich euch erzählt, dass dieser Fenton wegen Exhibitionismus aktenkundig ge worden ist? Draußen am Arsch der Welt, in Clunes, bei Balla rat. Vor Mädels von der Wesley-Schule.« »Von Wesley? In Clunes?« »Offenbar hat die Schule da irgendein Projekt am Laufen. Ein Begegnungsprojekt, die reichen Kids sind der armen Land bevölkerung behilflich, geben ihnen Tipps, wie man die billige ren Fleischstücke brät.« »Eiskalte Gegend«, sagte Cashin. »Die sollten seinen Pim mel auf Erfrierungen überprüfen.« »Immer hübsch nacheinander, einen kranken, miesen Fall zurzeit«, sagte Villani. »Laut Dr. Colley hatte man diesem Typ
auf der Bühne die Hände gefesselt. Keine Klamotten an. Man hat ihn mit dieser A r t Flaschenzug nach oben gehievt, und er ist gefoltert worden, überall Schnitte, vorne und hinten, Stiche, überall Blut. Hat einen Knebel verpasst bekommen, wie eine Trense, ein Taschentuch, ein zweites steckte im Mund. Dann wurde er bis rauf ins Dach gehievt. Irgendwann starb er dann, ist wahrscheinlich erstickt. Morgen früh wissen wir's.« »Er hat dagesessen und ihm beim Sterben zugesehen«, sagte Birkerts. »Beim Bluten.« Finucane kam mit Dove rein, der Cashin zunickte. Alle am Tisch Sitzenden sahen Finucane an. »Wir haben die Klamotten des Typs gefunden«, sagte er. »In einer Plastiktüte in einem Mülleimer. Schlüssel in der Hosen tasche.« »Ausweis?«, fragte Villani. Finucane zeigte seine leeren Handflächen. »Nichts«, sagte er. »Auch keine Fingerabdrücke. Niemand in der Gegend hat irgendwas gesehen. Bin die Vermisstenanzeigen durchgegan gen, da findet sich keiner wie er, nicht im letzten Monat. Uber seine Fingerabdrücke erfahren wir jeden Moment mehr.« Er schaute auf seine Uhr. »In fünf Minuten kommt sein Foto in den Nachrichten, vielleicht hilft's ja.« Villani sah Cashin an. »Also, erzähl's allen.« »Das Gebäude war die Zentrale einer Organisation, die sich Moral Companions nannte«, sagte Cashin. »Eine karita tive Einrichtung. Früher unterhielten diese Leute Camps für arme Kinder, Waisen, Mündel unter staatlicher Vormundschaft. Camps in Queensland und Westaustralien. Bourgoyne war ei ner der Förderer. Ihm gehörte das Grundstück, auf dem die Companions bei Port Monro ein Camp bauten, und ihm ge hörte auch dieses Gebäude.« »Was ist aus ihnen geworden?«, fragte Finucane. »In dem Camp bei Port Monro gab es 1983 einen Brand. Drei Tote. Danach haben sie den Laden dichtgemacht.«
»Welcher Zusammenhang besteht nun zwischen Bourgoyne und diesem Typ?«, fragte Birkerts. »Keine Ahnung«, sagte Cashin. »Aber auch an dem Morgen in Bourgoynes Villa habe ich Essig gerochen.« »Da wurde kein Lappen gefunden«, sagte Villani. »Den hat er mitgenommen«, sagte Cashin. »Warum hat er ihn in diesem Fall dagelassen?« Cashin zuckte die Schultern. Er war müde, um seine Hüften schlang sich ein Gürtel aus Schmerzen, er hatte stundenlang gewartet, bis die Spurensicherung fertig war. »Essig«, wiederholte Birkerts. »Was soll das mit dem Es sig?« »Und sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken in meinem großen Durst«, sagte Dove. »Hä?«, machte Villani. »Was ist das denn?« »Das ist aus dem Alten Testament. Ein Psalm, ich hab ver gessen, welcher.« Keiner sagte etwas. Dove hüstelte verlegen. Cashin regis trierte die klingelnden Telefone, das elektronische Summen, das Geräusch eines Fernsehers im Nebenzimmer, den Ver kehrslärm unten auf der Straße. Villani stand auf, streckte die Arme über den Kopf, Hand flächen Richtung Decke, die Augen geschlossen. »Joe, dieser Moral-Companions-Scheiß«, sagte er dann, »das ist doch was Religiöses, oder?« »Irgendwie schon. Gegründet hat sie ein ehemaliger Priester namens Raphael Soundso. Morris. Morrison. Nach dem Zwei ten Weltkrieg. Er hatte ein Erlebnis, das sein Leben verän derte.« »Das brauche ich auch«, sagte Villani. »Du hast doch schon einen schicken neuen Anzug«, sagte Cashin. »Und Schlipse. Für den Anfang nicht übel.« »Reine Kosmetik«, sagte Villani. »Ich hab mich nicht verän dert, glaub mir. Mach die Glotze an, Fin.«
Es war der dritte Beitrag in den Nachrichten. Man hatte den Medien nicht viel verraten - nur dass in einem Saal in N o r t h Melbourne ein Toter gefunden worden sei, nichts davon, dass er geknebelt und gefoltert worden war und nackt über einer Bühne hing. Auf dem Bildschirm tauchte das Gesicht des Mannes auf, sauber, beinahe lebendig, Licht in den Augen. Er hatte einmal gut ausgesehen, nach hinten gekämmte, halblange glatte Haare, Tränensäcke unter den Augen, ausgeprägte, von der Nase bis zu den dünnen Lippen reichende Furchen. Der Mann ist etwa Mitte sechzig. Er hat dunkelbraun ge färbte Haare. Wer seine Identität kennt oder irgendwelche Informationen über ihn geben kann, wird gebeten, die CrimeStoppers-Hotline unter der Nummer 990 897 897 an zurufen. »Man hat ihn gut herausgeputzt«, befand Finucane. »Reine Kosmetik«, sagte Birkerts. »Er ist immer noch tot.« Sie sahen sich auch die restlichen Nachrichten an, in denen Villani einen Auftritt hatte, bei dem er nichts zu dem Thema eines anderen Mordes aus dem Bereich des organisierten Ver brechens sagte, beiläufig einen Augenwinkel und seinen Mund berührte. »Ein bisschen Al Pacino, ein bisschen Clint Eastwood«, sagte Cashin. »Umwerfende Mischung, darf ich das anmer ken?« »Du darfst die Fresse halten«, sagte Villani. »Halt einfach die Fresse.« »Chef?« Tracy Wallace, die Analytikerin, ein schmales, besorgtes Ge sicht. »Eine Frau am Telefon, Chef, weitergeleitet von CrimeStoppers. Es geht um den Toten.«
Villani sah Cashin an. »Geh du ran, Käpt'n«, sagte er. »An scheinend weißt du, was da Sache ist.« Cashin ging ans Telefon. »Mrs. Roberta Condi«, sagte Tracy. »Sie wohnt in N o r t h Melbourne.« Er musste nichts notieren, Tracy hatte Kopfhörer auf. »Hallo, Mrs. Condi«, sagte Cashin. »Danke für Ihren A n ruf. Können Sie uns helfen?« »Das ist Mr. Pollard. Der Typ im Fernsehen. Ich kenne ihn.« »Erzählen Sie mir mehr«, sagte Cashin, die Augen geschlos sen.
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ashin steckte den grünen Schlüssel in das Schloss, drehte ihn um. »Das Zuhause des verstorbenen Arthur Pollard«, sagte er und machte die Tür auf. In dem Reihenhaus war es dunkel, kalt. Er brauchte eine Weile, um einen Lichtschalter zu finden. Eine Deckenlampe ging an, zwei Kugelleuchten erhellten ein Wohnzimmer, typisches Siebziger-Jahre-Mobiliar. A u f dem Couchtisch lag eine Zeitung. Cashin warf einen Blick auf das Datum. »Vier Tage alt«, sagte er. Von dem Wohnraum ging ein Schlafzimmer ab - ein ordent lich gemachtes Doppelbett, keine Tagesdecke, Kleiderschrank mit zwei Spiegeln, Kommode, Schuhe in einem Drahtregal. Ein Flur führte in ein anderes Zimmer mit einem Einzelbett, einem Schreibtisch, einem Stuhl und einem Bücherregal. Cashin warf einen Blick auf die Bücherrücken. Allesamt Taschenbücher. Kriminalromane, Katastrophenromane, Ro mane mit goldenen Titeln auf den Rücken. Aus zweiter Hand, dachte er. »Todschicke Küche«, sagte Dove von der Tür aus. Cashin folgte ihm durch den Flur in eine Fünfziger-JahreKüche: eine einzelne nackte Gühbirne mit grünem Lampen schirm, ein emaillierter Gasherd, ein Electrolux-Kühlschrank mit abgerundeten oberen Ecken sowie ein tragbares Radio auf einem Eisentisch mit Resopalplatte. A u f der Spüle stand ein umgedrehter blau-weiß gestreifter Becher. 33 2
»Wie ein Mönch«, sagte Cashin. Er ging zur Spüle und ver suchte, aus dem Fenster zu schauen, sah aber nur das Spiegel bild des tristen Raums. Als Dove neben der Hintertür ein paar Schalter betätigte, beschien ein starkes Flutlicht den Regen, der schnurgerade auf einen betonierten H o f fiel. Er führte zu einer Backsteinmauer mit Stahltür. Neben der Brandmauer hing auf einer einzelnen Leine durchweichte Wäsche: drei Hemden und drei Unterho sen. »Dahinter liegt eine Straße«, sagte Dove. »Das muss die Ga ragentür sein.« Sie gingen nach draußen, Cashin voran, er spürte den feuch ten, glitschigen Beton unter den Füßen. Kein Schlüssel an Pol lards Ring schloss die Stahltür auf. »Ich probier's mit der Tür zur Straße«, sagte Dove und nahm die Schlüssel mit. Cashin wartete im Haus, sah sich um. In den Schreibtisch schubladen fand er Aktenmappen mit Kontoauszügen, Strom-, Gas-, Telefon- und Wasserrechnungen. Es gab nichts Privates keine Briefe oder Fotos, keine Kassetten oder CDs. Nichts zeugte von Arthur Pollard als Mensch mit eigener Geschichte, mit Neigungen und Abneigungen, abgesehen von vier Dosen mit Baked beans in Tomatensauce, einer halb leeren Flasche Whisky und einer leeren im Mülleimer. Dove kam wieder rein. »Ist keine Garage mehr«, sagte er. »Die Tür wurde zugemauert.« Doves Handy klingelte. Er wechselte ein paar Worte, Halb sätze, und reichte das Telefon Cashin. »Der Chef«, sagte er. »Wir brauchen hier den großen Schlüssel«, sagte Cashin. »Sesam öffne dich. U n d nicht erst morgen.« »Wieso gibst du eigentlich die ganzen Befehle, obwohl du doch langfristig vom Morddezernat wegversetzt wurdest?«, sagte Villani. »Jemand muss das Kommando haben.«
Sie warteten im Wagen, das Licht der Straßenlaternen floss die Windschutzscheibe hinunter. Cashin fand den Klassiksen der. Seine Gedanken wanderten heimwärts, zu der dunklen Ruine von einem Haus unter dem nassen Hügel, zu den H u n den. Bestimmt hatte Rebb sie inzwischen gefüttert, man muss te ihn nicht extra bitten. Sie waren jetzt alle im Schuppen, die Hunde hatten sich lang gemacht und trockneten, alle drei hat ten sich um den alten Kanonenofen versammelt, den rostigen Schafschererofen, der vor Rebbs Eintreffen bestimmt dreißig Jahre lang nicht benutzt worden war, die Wärme verbreitete sich in dem Gebäude und erweckte alte Gerüche zum Leben Lanolin, Speck, die miefige Ausdünstung müder Männer, die inzwischen tot waren. »Es könnte ein Zufall sein«, sagte Dove. »Vielleicht hätten Sie bei der Bundespolizei bleiben sollen«, sagte Cashin. Das Scheinwerferlicht eines Pick-ups bog um die Ecke. Der Fahrer beugte sich vor, fuhr langsam, suchte etwas. Cashin stieg aus und hob die Hand. Die beiden Männer in Overalls folgten ihnen durch Pollards sparsam möbliertes Haus. Es ging rasch. Einer der Neuankömmlinge öffnete eine Bauarbeitertasche und nahm ein Winkeleisen mit pilzförmigem Kopf heraus. Er hielt es an den Knauf der Garagentür, in Höhe des Schlosses. Dann hieb der Schlosser mit einem Vorschlaghammer dagegen, schnelle, immer fester werdende Schläge. Als das Winkeleisen eingekeilt war, trat der Mann zurück, streckte und dehnte die Handgelenke. »Sesam öffne dich«, sagte er, schwang den Hammer wie eine Axt und verpasste dem Pilz einen sauberen Hieb, der klang wie ein Gewehrschuss. Die Stahltür krachte auf, dahinter war es höllisch dunkel.
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ashin fand die Lichtschalter. Ein weiß gestrichener, fensterloser Raum, Teppichbo den. Abgestandene Luft. An einer Wand stand ein Tapezier tisch, darauf befanden sich ein Computer, ein Flachbildschirm, ein Drucker und ein Scanner. Daneben standen ein grauer metallener Aktenschrank und drei metallene Regale - jedes mit vier Ablagen -, wie man sie in Heimwerkermärkten findet. A u f den Regalablagen herrschte Ordnung: Vier waren für Video kassetten, vier für CDs und DVDs, die anderen für Aktenord ner, Bücher und Zeitschriften. An der Wand mit der Tür befand sich ein Doppelbett mit lila Satindecke und großen, glänzenden, roten Kissen. Am Fuß des Betts stand ein Fernseher mit Großbildschirm, daneben sta pelten sich ein Videorecorder und ein DVD-Player. Seitlich da von stand ein Stativ. An allen Wänden hingen Poster: Fotos von muskulösen halbnackten Männern - Sportler, Bodybuil der, Kickboxer, Schwimmer. Dove öffnete eine der Schubladen des Aktenschranks. »Di gitaler Fotoapparat«, sagte er. »Digitale Videokamera.« Er schloss die Schublade, ging zu dem Computer, setzte sich und schaltete das Gerät ein. »Irgendein Gefühl bei dem hier?«, sagte er. Cashin schwieg. Als er eine Fernbedienung fand, fummelte er daran herum, schaltete den Fernseher ein, auf dem Bild schirm war Schnee, er drückte auf ein paar Knöpfe. Ein Bild.
Irgendetwas füllte den Schirm. Es sah aus wie ein Gemüse i t glatter Haut, eine Aubergine vielleicht, die Kamera be wegte sich. Eine Öffnung, ein Loch. Es war kein Gemüse. Die Kamera fuhr zurück. Ein Gesicht, ein junges Gesicht, ein Junge. Sein M u n d stand offen, man sah die obere Zahnreihe. In seinen Augen lag nackte Angst Cashin drückte den AUS-Knopf. »Sehen Sie sich die Scheiße an«, sagte Dove. Cashin sah sie sich ein, zwei Minuten lang an. »Ist nicht älter als zwölf«, sagte Dove. »Wenns hoch kommt.« »Ich fahr jetzt nach Hause«, sagte Cashin. Sie waren schon an der Tür, als er die beiden weißen Becher mit gelben Punkten auf dem Tisch neben dem Computer bemerkte. Uber den Rand des einen Bechers hing das Anhängeschildchen eines Teebeu tels. »Er hat sich gerade eine Tasse Tee gemacht«, sagte er. Dove sah sich um. »Der mochte ihn stark.« Im Wagen telefonierte Cashin mit Villani. »Überrascht mich nicht«, sagte der. »Pollard hat ein Vor strafenregister. Sexuelle Übergriffe auf Minderjährige. Eine Strafe auf Bewährung, eine andere abgesessen. Halbes Jahr. Außer der Kinderpornobude noch was gefunden?« »Kontoauszüge, Telefonrechnungen.« »Warum bist du nicht zu Hause geblieben? Du wühlst die sen ganzen Mist auf, und nachher ist keiner da, der die Arbeit macht.« »Der Gedanke kam mir auch schon.« »Jedenfalls hab ich ein ganzes Haus, in dem du dich aufs Ohr legen kannst. Ist niemand da, nur ich gelegentlich. Du schläfst doch, oder? Irgendwann mal?« »Projizier deine Probleme nicht auf mich, Alter. Ist noch was von diesem Bestechungswein da?« m
»Schon möglich.« Ehe er einschlief, sah Cashin den widerlichen Raum vor sich, sah die beiden fröhlich gepunkteten Becher auf dem Tisch, und er steckte den Kopf unter das Kissen und konzen trierte sich auf seine Atmung.
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ove wartete schon, las im Herald. Er faltete das Blatt zusammen, legte es auf den Rücksitz. »Schön, dass ich Sie fahren darf. Ich hab was Neues über Bourgoynes Armband uhr.« »Wahrscheinlich wurde sie in einem Koffer mit doppeltem Boden transportiert, die Schmuggler kamen über Broome«, sagte Cashin. Dove verzog keine Miene. »Bourgoyne kaufte 1984 eine Uhr der Marke Breitling in einem Geschäft namens Cozzen in der Collins Street. Sechs Jahre später kaufte er noch eine.« Carol Gehrig hatte die U h r beschrieben. Susie, das Mädchen auf dem Landungssteg, hatte nur den Namen genannt. Bret ling, sagte sie. Warum hatte er sie nicht aufgefordert, die U h r zu beschreiben? Singo hätte die Augen geschlossen und den Kopf geschüttelt: »Sie haben nicht gefragt? Soll das vielleicht Ihre Grabinschrift werden? Ich habe nicht gefragt.« Hatte der Pfandleiher in Sydney die Uhr beschrieben, die ihm damals von den Jungs angeboten wurde? Hatte das ein Polizist notiert? Pfandleiher hatten ein Auge für so was, sie sa hen sofort, wenn etwas wertvoll war, das war ihr trister Beruf. »Kann jemand in dem Geschäft die Uhren beschreiben?«, sagte Cashin. »Tja, vermutlich schon. Ich habe nicht gefragt.« »Soll das vielleicht Ihre Grab...« Cashin brach ab. »Was?« »Gar nichts. Haben Sie Ms. Bourgoyne erwischt?«
»Sie empfängt Sie um zehn Uhr dreißig in der Kunstgalerie. Das Cafe im ersten Stock. Sie sitzt im Vorstand der Galerie. Ein Powerbroker der Kunst.« »Ein was?« »Hab ich heute in der Financial Review gelesen.« »Hab ich verpasst. Ich habe nur die Cornflakespackung ge lesen. Juristerei, Kunst, Politik - die Frau hat's echt drauf.« Sie schwiegen während der Fahrt. In der Lygon Street nahm Cashin die Zeitung vom Rücksitz. Pollards Foto war auf Seite fünf, der dazugehörige Artikel bot nicht mehr Details als die Fernsehnachrichten. »Die Anrufe zu Pollard«, sagte Dove. »Es gibt etwa drei ßig. Eltern, Opfer. Der Kerl war ein sehr aktiver Päderast. Es klingt, als hätten die Leute Schlange gestanden, um ihn auf zuknüpfen. Ein Typ sagt, er kennt ihn aus grauer Vorzeit. Schwatzt wie ein Wasserfall, dann macht er plötzlich dicht und kriegt kein Wort mehr raus.« »Ich fahre nach diesem Termin heim«, sagte Cashin. »Und übergebe die Angelegenheit den Experten.« Sie fuhren quer durch die Stadt, stumm, bis Dove in der Wohnstraße gegenüber der Galerie hielt. »Schmollen Sie?«, sagte er. »Das ist unverschämt«, sagte Cashin. »Was bedeutet unverschämt im Morddezernat?« »Wenn ich noch im Morddezernat wäre, hieße das, ich wäre der Ranghöhere von uns beiden. Und dass ein Penner aus dem Abschaum Canberras und nachgewiesener Lahmarsch einem gefälligst Respekt bekunden sollte. Das bedeutet unter ande rem unverschämt.« »Verstehe. Ich lasse mir eine Beschreibung der Uhren geben.« »Sie haben den Namen Pollard nicht durch den Computer geschickt, als Sie Addisons Zahlungen überprüften?« Dove holte tief Luft. »Ich habe Ihnen einen Gefallen getan. Außerdem ist das drei Tage her. Da war Pollard schon tot.«
Cashin betrachtete den fließenden Verkehr. »Sie dürfen Scheiße bauen«, sagte Dove. »Sie haben in der bewussten Nacht Hopgood das Kommando überlassen, der die Jungs umgebracht hat, aber Ihnen ist nichts passiert. Ihre Kumpels passen auf Sie auf.« »Besorgen Sie die Beschreibungen der Uhren«, sagte Cashin. »Und finden Sie heraus, ob Sydney sich von diesem Pfandleiher oder wie er sich nennt eine Beschreibung seiner Uhr hat geben lassen. Wie auch immer, wir wollen sie sofort haben, also noch heute.« »Jawohl, Sir.« Auf dem Weg zur Galerie überquerte Cashin die Straße, musste den Autos und einer Straßenbahn ausweichen. Als er im Foyer hochschaute, trafen seine Blicke die von Erica Bour goyne. Sie stützte sich auf das Geländer. Als er oben ankam, hatte sie Platz genommen. »Verzeihen Sie die Verspätung«, sagte er. »Ist Ihnen das p r i vat genug?« »Wenn Sie nicht schreien.« Sie trug Grau und trank einen schwarzen Kaffee, bot ihm nichts an. »Um was für eine Er mittlung handelt es sich?« »Nur ein kleiner Plausch.« Die Mundwinkel nach unten gezogen. »Für Plaudereien stehe ich nicht zur Verfügung. Wozu soll das gut sein? Mein Stiefvater ist tot, die Verdächtigen sind es auch.« Cashin dachte an Singo, die grauen Augen unter Brauen, die wie Stabheuschrecken aussahen. »Wir sind den Toten ver pflichtet«, sagte er. »Ihr Stiefvater hat jeden Monat einem ge wissen Arthur Pollard Geld überwiesen.« »Ach ja?« »Sie kennen Pollard nicht?« »Nie von ihm gehört.« Eine Gruppe japanischer Touristen versuchte, die Galerie durch den Eingang zu verlassen. Der Aufseher schickte sie in
Richtung Ausgang, doch sie verstanden nicht oder hielten ihn für einen Trottel. »Er wurde vor wenigen Tagen ermordet. In einem Haus, das Ihrem Stiefvater gehörte.« »Herrje. Was für ein Haus?« »Ein Saalbau in N o r t h Melbourne. Es war einmal ein Thea ter. Wussten Sie, dass es ihm gehört hat?« »Nein. Ich weiß nicht, was ihm gehört. Gehörte. Was hat das mit Charles zu tun?« »Es gibt Ubereinstimmungen.« »Das heißt?« Cashin sah den Mann in einem schwarzen Rollkragenpullo ver, drei Tische weiter, der die Seite einer Zeitung umblätterte, eines Boulevardblatts. »Wir arbeiten noch daran«, sagte er. »Wissen Sie etwas über die Moral Companions? Das Camp in Port Monro?« »Ich erinnere mich an das Camp, ja. Da gab es einen Brand. Wieso?« »Dieser Saalbau war die Zentrale der Companions.« »Damit ich Sie recht verstehe«, sagte Erica. »Soll das heißen, die Jungs aus der Daunt hätten Charles nicht überfallen?« Cashin sah weg, auf das Wasser, das die riesigen Glasschei ben hinunterlief. Draußen fuhren zwei schemenhafte Gestal ten mit den Fingerspitzen über die Rinnsale und hinterließen kurzlebige Schlangenlinien. »Das ist möglich«, sagte er. »Was ist mit der Uhr?« »Nicht eindeutig zu klären.« »Dass Charles diesem Mann Geld gegeben hat, heißt noch lange nicht, dass die beiden Überfälle in einem Zusammenhang stehen«, sagte Erica. »Wer weiß, wie vielen Menschen Charles Geld gegeben hat?« »Ich.« Sie lehnte sich zurück, Hände auf dem Tisch, verschränkte sie, legte sie wieder nebeneinander. »Sie wissen also alles, sagen
aber nichts. Was könnte ich Ihnen denn wohl sagen, das Sie nicht schon wissen?« »Ich dachte, vielleicht fällt Ihnen etwas ein, das Sie mir sagen könnten.« Erica sah ihn an, unverwandt, aus blaugrauen Augen. Sie be rührte den schmalen, silbernen Halsreif, fuhr mit einem Finger an seiner Innenseite entlang. »Ich habe Ihnen nichts mehr zu sagen und muss jetzt zu einer Besprechung.« Cashin wusste nicht, warum er es erst jetzt erwähnte. »Pol lard war pädophil«, sagte er. »Er hat Jungs gefickt. Kinder.« Sie schüttelte den Kopf, als sei sie überrascht. Ihre Wangen bekamen Farbe, dagegen konnte sie nichts machen. »Nun«, sagte sie, »bestimmt ist diese Information für Sie nützlich, aber...« »Für Sie nicht?« »Warum sollte sie? Bohren Sie nach, weil es für die Polizei peinlich wird, falls die Jungs aus der Daunt unschuldig sein sollten?« »Das stehen wir durch.« Er schaute weg und sah am Rande seines Gesichtsfeldes den Mann in dem schwarzen Rollkra genpullover, der gerade die rechte Hand streckte. »Wovor ha ben Sie Angst, Ms. Bourgoyne?« Einen Moment lang dachte er, sie würde es ihm sagen. »Was soll das heißen?« »Der Bodyguard.« »Wenn ich vor etwas Angst hätte, Detective, das in Ihr Res sort fiele, würde ich es Ihnen sagen. Jetzt habe ich eine Bespre chung.« »Danke für Ihre Zeit.« Cashin sah ihr nach. Sie hatte prima Beine. Am Fahrstuhl sah sie sich um, begegnete seinem Blick und hielt ihm einen Moment länger stand als nötig. Dann kam der Leibwächter da zwischen.
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ie erste Uhr, die Bourgoyne bei Cozzen gekauft hat«, sagte Dove, »ist dieses Modell.« Er zeigte auf ein Foto in einer Broschüre. »Die Quittung wurde am 14. September 1986 aus gestellt.« »Sehr schön. Wird auch Zeit, dass Sie sich selbst auf die Bob bahn begeben.« Die Uhr sah sehr professionell aus, schwarzes Zifferblatt, drei weiße kleine Hilfszifferblätter, drei kleine Rä der zum Aufziehen, versenkt, Armband aus Krokodilleder. »Sie heißt Maritimer, wird immer noch hergestellt.« Dove sprach kurz und knapp, wirkte ausgesprochen feindselig. »Hier ist die zweite, die er gekauft hat, auch eine Maritimer, 14. März
2000.« Sie hatte ein schlichtes weißes Zifferblatt, drei kleine Hilfs zifferblätter, auch ein Armband aus Krokodilleder. Cashin dachte an den Morgen in The Heights. Eine schicke Uhr, hatte Carol Gehrig gesagt. Ein Krokodillederarmband. »Was hat der Pfandleiher erzählt?« »Er hatte damals eine Aussage gemacht«, sagte Dove. »Syd ney hat sie uns geschickt, doch in der Aufregung ist sie offen bar verschüttgegangen.« Cashin fühlte sich, als fehle ihm eine Nacht Schlaf. »Was hat er denn damals gesagt?« »Er sagte, ich zitiere: >Es war eine Breitling. Eine Maritimer. Das ist ein Sammlerstück. Sehr teuer. Die mit den drei Hilfszif ferblättern, schwarzes Zifferblatt, Krokodillederarmband.<« Cashin stand auf, alles tat weh, er ging zum Fenster und
schaute auf das Schulgelände, den öffentlichen Park, hinter dem Regenschleier wirkte alles wie weich gezeichnet. Er fand Helen Castlemans Durchwahl. »Helen Castleman.« »Joe Cashin.« Kurze Pause. »Ich hab versucht, dich anzurufen«, sagte sie. »Dein Telefon zu Hause klingelt einfach nur, dein Handy ist offenbar abge stellt.« »Ich benutze ein anderes. Ich bin in der Stadt.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Du warst so beleidigend. Arrogant. Abweisend.« »Reden wir von derselben Person? Hör zu, ich brauche eine Beschreibung der Uhr, die Susie gesehen hat. Sie hat mir den Markennamen genannt, aber ich muss von ihr eine Beschrei bung haben. Kriegst du das hin?« »Brauchst du das, weil in dem Fall noch ermittelt wird?« »Die Ermittlungen wurden nie unterbrochen. Geht das schneller als schnell?« »Ich werd's versuchen. Gib mir deine Nummer.« Cashin setzte sich, sah Dove an. Dove erwiderte den Blick nicht. »Laut Hopgood sind unsere Funksprüche aus der bewuss ten Nacht nicht auf dem Band«, sagte Cashin. Jetzt sah Dove ihn an. »Diese Wichser«, sagte er. »Die haben sie gelöscht. Sie haben die verdammten Aufzeichnungen ge löscht.« »Könnte auch an uns gelegen haben, eine Fehlfunktion.« Dove schüttelte den Kopf, die Deckenlampe spiegelte sich in seinen runden Brillengläsern. »Tja, dann können Sie bei der Anhörung mich dafür verantwortlich machen«, sagte er. »Er hat nicht auf die richtigen Knöpfe gedrückt. Einfach Scheiße gebaut. Typisch Bimbo halt.« Cashin erhob sich, sitzen war schlimmer als stehen, und ging
wieder ans Fenster. Er sagte: »Hopgood sagte, und ich zitiere ihn: >Denkt ihr zwei Bimbos euch jetzt Geschichten aus?<« »Was?« »Er sagte: Denkt ihr zwei Bimbos euch jetzt Geschichten aus.« »Damit meint er uns?« »So hab ich ihn verstanden, ja.« Dove lachte, wirklich amüsiert. »Willkommen im Bimbo land«, sagte er. »Hör zu, Bro', wollen wir uns um die Ecke was zu essen holen? Kneipensandwich?« »Hab die Nase voll von um die Ecke essen gehen«, sagte Cashin. »Hatte ich sechs Jahre lang, und es steht mir bis hier.« »Im Kunstzentrum gibt's ein Brunetti's«, sagte Dove. »Kennst du das Brunetti's in Carlton?« »Du Scheiß-Zugereister, du kannst doch nicht mal Brunetti's von Donetti's unterscheiden.« Finucane stieg zu ihnen in den Aufzug, nahm sie in seinem Wagen mit, die St. Kilda Road runter. »Fin, wenn ich dich so ansehe«, sagte Cashin, »gebe ich dir eine Neunkommasechs auf der Uberarbeitet-Schlafmangel und-ganz-generell-am-Arsch-Skala.« Finucane schenkte ihm das Lächeln eines Mannes, dessen Leistungen gewürdigt wurden. »Danke sehr, Chef«, sagte er. »Wie wär's mit einer Versetzung nach Port Monro?«, sagte Cashin. »Nichts als Kneipenschlägereien und Schafdiebstähle, gelegentlich klaut mal einer seinem Nachbarn die Hydrokul turanlage, die offiziell zur Aufzucht von Strauchtomaten ver wendet wurde. Ist 'ne nette Gegend, um Kinder großzuzie hen.« »Zu stressig«, sagte Finucane. »Ich muss sechs Typen wegen Pollard befragen. Der eine aus Footscray behauptet, er kenne ihn schon ewig. Wahrscheinlich stellt sich raus, dass er aus dem Haus seiner taubstummen Tante angerufen hat, wo er nicht mehr ist und auch nicht wohnt.«
Bei Brunetti's stellten sie sich an, hinter schwarz gekleideten Büroangestellten, Rucksacktouristen und vier Frauen vom Land, die von der großen Auswahl ganz erschlagen waren. Cashin nahm eine Calzone, Dove ein Brötchen mit Ente, O l i ven, Chili-Paprika-Relish und fünf Sorten Salatblättern. Sie tranken gerade den Kaffee, als Cashins Handy klingelte. Er ging raus. »Ich höre Straßenlärm«, sagte Helen. »Davon w i r d mir ganz nostalgisch zumute. Wo bist du?« »In der Nähe des Kunstzentrums.« »Wie kultiviert - Oper, Kunstgalerien.« »Hast du Susie erwischt?« Cashin beobachtete einen Mann, der auf seinem Einrad über den Gehsteig fuhr, auf jeder Schul ter thronte ein weißes Hündchen. Die Hunde umgab die glei che Aura von Resignation wie Reisende in einem Überland bus. »Sie sagt, die Uhr hatte ein großes schwarzes Zifferblatt und zwei oder drei kleine weiße Zifferblätter.« Cashin schloss die Augen. Er dachte, er sollte sich am bes ten für ihre Hilfe bedanken und sich verabschieden. Das sollte er wirklich tun. So wie es der Polizeiminister, der Polizeichef, der stellvertretende Leiter der Kripo und sehr wahrscheinlich auch Villani von ihm erwarteten. Aber das war nicht richtig. Eigentlich sollte er ihr sagen, dass die Uhr, die die Jungs in Sydney hatten verkaufen wollen, nicht dieselbe Uhr war, die Bourgoyne in der Nacht des Überfalls getragen hatte. »Bist du noch dran?«, fragte Helen. »Danke für deine Hilfe«, sagte er. »Das war's?« »Das war's.« »Na, dann tschüs.« Sie tranken ihren Kaffee aus und gingen. Cashin musste zwanzig Minuten warten, bis Villani Zeit für ihn hatte. »Bour
goyne hatte nicht die Uhr an, die die Jungs in Sydney verkau fen wollten«, sagte er. »Woher weißt du das?« Cashin sagte es ihm. »Die hätten sie auch in dem Haus klauen können. Vielleicht haben sie beide Uhren geklaut.« »Nein. Corey Pascoes Schwester hat die schicke Uhr vor etwa einem Jahr gesehen. Corey hatte sie schon, ehe er nach Sydney fuhr. Ich habe mit ihr geredet.« »Tja, das könnte auch gelogen sein.« »Ich glaube ihr.« »Ach ja?« »Sie kennt den Namen. Sie hat die Uhr beschrieben.« »Verflucht«, sagte Villani. »Verflucht. Das sieht gar nicht gut aus.« »Nein. Was gibt's Neues über Pollard?« »Noch eine Frau hat ihn identifiziert, wohnt die Straße run ter vom Saalbau. Hat ihn ein paarmal in der Nachbarschaft ge sehen. Einmal mit 'nem Jungen. Etwa zwanzig Opfer müssen vernommen werden. Der Computerkram dauert ewig. Tau sende von Fotos. Ich rechne uns keine großen Chancen aus. Können bloß froh sein, dass er tot ist. Wie diese widerlichen Drogendealer, die wir der Gerechtigkeit zuführen wollen.« »Egal, ich hau ab«, sagte Cashin. »Ich fahr nach Hause. Bin schließlich beurlaubt. Ich melde mich ab, mach's gut.« »Wo du gerade wieder auf den Geschmack gekommen bist. Willst du diese alberne Versetzung nach Port Monro beenden? D i r fehlt doch rein gar nichts.« »Ich hab mit dem Morddezernat abgeschlossen«, sagte Ca shin. »Ich w i l l keine Toten mehr sehen. Ausgenommen Rai Sarris. Den toten Rai Sarris w i l l ich sehen. U n d Hopgood. Für Hopgood mach ich auch 'ne Ausnahme.« »Unprofessionelle Einstellung. Der Essiggeruch. Bist du dir da sicher?«
»Ja.« Villani begleitete ihn zu den Aufzügen. »Was ich sagen sollte«, sagte er und schaute in den Flur. »Ich möchte dir sagen, dass ich in dieser Sache unter Druck gesetzt wurde. Ich bin mit meinem Verhalten nicht glücklich. Bin nicht stolz drauf. Ich denke über meine Einstellung nach.« Cashin wusste nicht, was er sagen sollte. Die Aufzugtüren öffneten sich. Er berührte Villani am Ärmel. »Nimm's leicht«, sagte er. »Sei nicht besessen.«
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ange bevor Cashin die große Stadt hinter sich gelassen hatte, klingelte das Handy. Er hielt am Straßenrand. »Chef, Fin hier. Dieser Typ hat sich gemeldet...« »Ja. Footscray.« »Du solltest mit ihm reden, Chef.« »Nicht mehr mein Fall, Fin, ich bin unterwegs nach Hause.« Der Verkehr nahm zu, Ende der Frühschicht, Pendler aus den Satellitenstädten, jede Menge Allradwagen, Pick-ups, Last wagen. »Klar, na ja, der Chef sagt, ich soll dich fragen, Chef.« »Erzähl's mir.« »Also, dieser Typ ist ziemlich fertig. Er kriegt manchmal die Kurve nicht, verstehst du?« »Was für 'ne Kurve?« »Er kennt Pollard. Er hasst Pollard. Eigentlich hasst er alle und alles, die Spucke fliegt überallhin, man braucht ein Schutz schild.« »Wie alt?« »Nicht sehr alt. Ist schwer zu sagen, hat sich den Kopf ge schoren, kaputte Zähne, vielleicht Mitte vierzig. Ja. Zweifellos ein größeres Drogenproblem.« »Hast du eine Aussage?« »Chef, das ist keine Frage von Aussage. Das ist eine Frage von Türen einschlagen.« »Türen einschlagen?« »Als ich irgendwie zu ihm durchdringen wollte, wurde er
plötzlich ganz still, und dann sprang er aus dem Scheißsessel, lief quer durchs Zimmer und schlug gegen die Tür, zweimal. Beim zweiten Mal blieb seine Hand in der Tür stecken, über all Blut.« »Er heißt?« »David Vincent.« Cashin stieß den Atem aus. »Wo wohnt er? Ich bin in der Nähe.« Finucane wartete auf ihn, parkte in einer Straße mit lauter heruntergekommenen, außenwandverschalten Häusern, Auto wracks und schmalen, mit Postwurfsendungen zugemüllten Vorgärten. Cashin ging zu ihm und blieb am Wagenfenster ste hen, Hände in den Taschen. »Wird er sich freuen, dich wiederzusehen?« Finucane kratzte sich am Kopf. »Nein. Er hat gesagt, ich soll mich verpissen. Aber auf mich ist er nicht sauer. Sein Problem ist die ganze Welt.« »Wohnt er allein?« »Jetzt ist kein anderer da.« »Gehen wir.« Sie mussten mehrmals heftig anklopfen, ehe die Tür einen Spaltbreit aufging. Cashin sah ein blutunterlaufenes Auge. »Mr. Vincent«, sagte Finucane. »Ein leitender Polizeibeamter möchte sich mit Ihnen darüber unterhalten, was Sie bedrückt.« Die Tür öffnete sich so weit, dass man beide Augen und eine verfärbte, mehrfach gebrochene Nase sah, gebrochen und seit lich verschoben. Die Augen hatten die Farbe von Waschpulver. »Scheiße, mich bedrückt überhaupt nichts«, sagte Vincent. »Wo haben Sie denn den Quatsch her?« »Dürfen wir reinkommen, Mr. Vincent?«, sagte Cashin. »Verpisst euch. Ich hab gesagt, was ich sagen wollte.« »Soviel ich weiß, kennen Sie Arthur Pollard?« »Das hab ich schon am Telefon gesagt. Hab's dem Volltrot tel gesagt. Hab ihm den Namen gegeben.«
Cashin lächelte ihn an. »Dafür sind wir sehr dankbar, Mr. Vincent. Ich danke Ihnen. Uns interessieren nur noch ein paar andere Dinge.« »Nö. Bin beschäftigt. Hab 'ne Menge zu tun.« »Verstehe«, sagte Cashin. »Nun, Sie wären uns wirklich eine große Hilfe. Ein Mann ist ermordet worden, ein unschuldiger Mann.« Vincent riss die Tür auf, knallte sie gegen die Flurwand, so dass das ganze Haus wackelte. »Unschuldig? Sind Sie völlig bescheuert? Der beschissene Dreckskerl, ich hätte das Ekel schwein selber umbringen sollen...« Cashin schaute weg. Er hatte damit nicht Pollard gemeint, sondern an Bourgoyne gedacht. Eine Frau war aus dem Nachbarhaus gekommen. Ihr Alter war undefinierbar, sie hatte einen rosa Turban auf und eine A r t altertümlich geprägten Samtvorhang um sich geschlungen, ver blichen und zerfasert. »Hab ich euch nicht das letzte Mal schon gesagt, ihr sollt ab zischen?«, schrie sie. »Ihr kommt mit eurer verdammten Yan kee-Religion angeschissen, eurem verdammten Turm von Pisa, diesem schiefen beschissenen Wachtturm, egalwasfürnScheiß.« »Polizei«, sagte Finucane. Augenblicklich verschwand sie rückwärts wieder im Haus. Cashin sah Vincent an. Die Wut war aus seinem Gesicht gewi chen, als hätte der Ausbruch einen Teil des Gifts genommen. Er war ein großer Mann, ging aber gebeugt und war dick ge worden, hatte Fettwülste am Hals. »Die Frau ist irre«, sagte Vincent mit ruhiger Stimme. »Völ lig meschugge. Kommen Sie rein.« Sie folgten ihm in einen halbdunklen Flur und ein kleines Zimmer mit einem kaputten Sofa, zwei versifften Plastikstüh len und einem Couchtisch mit Metallbeinen, auf dem fünf Bier dosen standen. Auf zwei übereinandergestapelten Milchkisten thronte ein Fernseher. Vincent nahm auf dem Sofa Platz und
zündete sich eine Zigarette an, dabei zitterte er so stark, dass er das Feuerzeug mit beiden Händen halten musste. An den Fin gern und Knöcheln seiner rechten Hand klebte vertrocknetes Blut. Cashin und Finucane setzten sich auf die Plastikstühle. »Sie kennen also Arthur Pollard, Mr. Vincent?«, sagte Ca shin. Vincent nahm eine Bierdose, schüttelte sie, probierte es mit einer anderen, bis er eine fand, die noch nicht leer war. »Scheiße, wie oft soll ich's denn noch sagen? Ich kenn das Schwein, ich kenn das Schwein, ich kenn das ...« Cashin hob die Hand. »Verzeihung. Von woher kennen Sie ihn, Mr. Vincent?« Vincent trank, sah zu Boden, zog an der Zigarette. Die linke Schulter zuckte. »Aus den Scheißferien.« »Welchen Ferien, Mr. Vincent?« »Den Scheißferien halt, verstehn Sie, den Ferien.« Er hob den Kopf, fixierte Cashin. »Hab versucht, es ihnen zu sagen, verstehn Sie. War nicht nur ich. O nein. Hab beinahe, armer kleiner Kerl, hab sie gesehen. Hab sie gesehen.« »Ihnen was zu sagen, Mr. Vincent?« »Sie glauben's mir nicht, stimmt's?« »Welche Ferien meinen Sie?« »Hat mich angeguckt mit diesem Scheißblick. Ich kenn die sen Scheißblick. HASSE DIESEN SCHEISSBLICK.« »Ganz ruhig«, sagte Cashin. »Verpisst euch. Verpisst euch. Ich hab euch Mistkerlen nichts zu sagen, ihr seid doch alle gleich, ihr steckt doch mit drin, die Schweine haben ein Kind umgebracht, ihr, i h r . . . haut bloß ab, ihr.« »Haben Sie eine Zigarette übrig?«, fragte Cashin. »Hä?« Cashin tat so, als sei er Raucher. »Geben Sie uns 'ne Ziga rette?«
Vincents Blick huschte von Cashin zu Finucane und wieder zurück. Er griff in sein schmutziges Baumwollhemd und holte eine Packung Leisure Lights heraus, öffnete sie mit einem schwarz geränderten Daumennagel und bot sie an, zitternd. Cashin nahm eine Zigarette. Vincent hielt die Packung Finu cane hin. »Nein danke«, sagte der. »Ich versuche aufzuhören.« »Klar. Ich auch.« Vincent gab Cashin das Plastikfeuerzeug. Cashin zündete seine Zigarette an, gab das Feuerzeug zu rück. »Danke, Mann«, sagte er. »Sie wollten's also nicht hören?« »Wollten nicht hören«, sagte Vincent. »Der Mistkerl Kerno hat mich verprügelt. Hat mich andauernd verprügelt. Ich war so dünn wie ein Stock, damals. Hat mir Rippen gebrochen, drei Rippen. In der Schule musste ich erzählen, ich war vom Rad gefallen.« Ein langes Schweigen. Vincent leerte die Bierdose und stellte sie auf den Tisch. Sein kahl rasierter, narbiger Kopf sank nach unten, berührte fast seine Knie, jeden Moment würde die Ziga rette seine Finger verbrennen. Cashin und Finucane tauschten vielsagende Blicke. »Hatte nie 'n Fahrrad«, sagte Vincent mit trauriger Klein jungenstimme. »Ich hatte überhaupt nie 'n Rad. Wollte unbe dingt eins haben.« Cashin rauchte. Die Zigarette schmeckte grauenhaft, und er war froh, dass er nicht mehr rauchte. Kaum noch rauchte. Vin cent schaute nicht hoch, ließ die Kippe zu Boden fallen, zielte mit dem Fuß, trat daneben. Der Gestank brennender N y l o n fasern stieg auf, beißend und seltsam süßlich. »Ich würde gern mehr über Ihre Kinder- und Jugendzeit er fahren«, sagte Cashin. »Ich höre zu. Sie reden, ich höre zu.« Das nächste lange Schweigen. Vincent hob den Kopf, wirkte erstaunt, als hätten die beiden eben erst das Zimmer betreten. »Ich muss los«, sagte er atemlos. »Gibt viel zu tun, Jungs.« Er stand unsicher auf und verließ das Zimmer, stieß dabei
gegen den Türknauf. Sie hörten ihn murmeln, als er durch den Flur ging. Eine Tür fiel krachend ins Schloss. »Das war's dann wohl«, sagte Finucane. Er trat auf Vincents Zigarette. Draußen im Regen sagte Cashin zu Finucane: »Die Ferien. Er redet von einem Ferienlager der Moral Companions, Fin. Sein ganzes Leben, wir brauchen alles über sein Leben. U n d zwar am besten gestern. Richte das Villani aus.« »Wir bleiben also nicht, Chef?« »Nein. U n d die Akten im Haus der Companions. Jemand muss dort alles rausholen, was mit Port Monro zu tun hat. Ruf mich an, sobald ihr was habt. Ruf mich an, klar?« »Klar. Du erfährst es als Erster, Chef.« »Und hol verdammt noch mal 'ne Mütze Schlaf nach, Fin. Du machst mir Sorgen.« »Geht klar. Sie werden nicht wieder lebendig, stimmt's?« »Du lernst dazu. Zwar langsam, aber du lernst.« Es war schon längst dunkel, als er endlich die Scheinwerfer ausmachte und den Lichtkegel der Taschenlampe seitlich am Haus auf sich zukommen sah, auch die beiden Hunde, Seite an Seite, die Köpfe erhoben, die großen Ohren schlenkernd. Bevor er aussteigen konnte, waren sie schon am Auto. Um die Tür zu öffnen, musste er sich gegen sie stemmen. Als er die Beine ins Freie schwang, spürte er einen schmerzhaften Stich in seinem rechten Oberschenkel. »Ich dachte, Sie wären verschüttgegangen«, sagte Rebb, der sich hinter dem Licht auftürmte. Cashin erwiderte die Zuneigung der Hunde, senkte den Kopf und ließ zu, dass sie ihm die Hände, die Haare, die O h ren leckten. »Bin in der Stadt aufgehalten worden«, sagte er. »Dachte mir, Sie kommen mit diesen Untieren schon zurecht.« »War kein Untierfutter mehr da«, sagte Rebb. »Ich hab diese kleine Flinte von Ihnen mit auf den Spaziergang genommen. In Ordnung?«
»Prima Idee.« »Der andere Hase ist im Herd. Ich hab die Oliven aus dem Kühlschrank verwendet. U n d eine Dose Tomaten.« »Was wissen Sie über Oliven?«, sagte Cashin. »Hab in Südaustralien welche geerntet, in einer Fabrik ge arbeitet, wo sie eingelegt wurden. Ich habe Oliven gegessen, bis sie mir zu den Ohren rauskamen. Landstreicher essen alles. Überfahrene Tiere, Kaviar.« »Ich brauch einen Drink«, sagte Cashin. »Haben Sie noch was zu trinken übrig gelassen?« »Ich breche morgen früh auf.« Cashin spürte Müdigkeit und Schmerzen, die sich in seinem Inneren ausbreiteten. »Können wir drüber reden?« »Ich schaue vorbei, wenn ich mal wieder in der Gegend bin.« »Kommen Sie jetzt rein und trinken Sie einen Schluck mit mir. Einen Abschiedsdrink.« »Hatte schon einen Drink. Hab einen im Tee. Ich gebe Ihnen jetzt die Hand.« Er streckte eine Hand aus. Cashin wollte sie nicht nehmen. Er nahm sie. »Ich schulde Ihnen Geld«, sagte er. »Morgen bringe ich das in Ordnung. Versprochen.« »Legen Sie's auf die Türschwelle«, sagte Rebb. »Wenn Sie's nicht haben, hol ich es beim nächsten Mal ab. Ich vertraue Ihnen, Sie sind ein Cop. Wem sonst kann man trauen?« Er machte kehrt und ging. Cashin empfand einen Verlust, auf den er nicht vorbereitet war. »Mann«, sagte er. »Mann, Scheiße, schlafen Sie noch mal drüber, okay?« Keine Antwort. »Den Hunden zuliebe.« »Gute Hunde«, sagte Rebb. »Die Hunde werden mir feh len.«
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in düsterer Tag, ein Wagen kroch die regennasse Straße hoch, auf eine im Nebel verborgene Hügelspitze zu. Durch das Tor von The Heights, die Auffahrt entlang, die Pappeln tropften. Cashin bog nach links ab, auf den Fahrweg, der einen gro ßen Bogen um das Haupthaus machte und an dem eingeschos sigen Backsteingebäude endete. Er parkte auf dem Asphalt vor dem hölzernen Garagentor, machte den Motor aus und kur belte die Scheibe runter. Die kalte, feuchte Luft wehte herein. Er saß in der Stille da, kein Laut, nur der Motor knackte, und dachte darüber nach, warum das ein sinnloses Unterfangen war. Er dachte daran, wie Shane Diabs Eltern ihn im Kranken haus besucht hatten, als er aus dem Gröbsten raus war. Sie setz ten sich nicht, sie waren verlegen, ihr Englisch war nicht gut. Er wusste nicht, was er zu ihnen sagen sollte, er wusste, dass er für den Tod ihres Sohns verantwortlich war. Nach einer Weile rettete ihn Vincentia, und die beiden verabschiedeten sich. Shanes Mutter berührte ihn an der Wange, dann küsste sie ihn rasch auf die Stirn. Sie ließen einen weißen Pappkarton auf dem Nachttisch zurück. Vincentia öffnete den Karton, hielt ihn hoch, schräg, damit Cashin hineinsehen konnte. Es war ein rechteckiger Kuchen, weißer Guss, ein rotes Kreuz. Erst nach einer Weile sah er, dass Namen den Querbalken des Kreuzes bildeten: Joe + Shane. Er schenkte den Kuchen Vincentia. Später erzählte sie ihm,
die Schwestern in ihrer Schicht hätten ihn sich geteilt, ein Früchtebrot, sehr lecker. Cashin stieg aus und ging um das Haus herum, zu der Dop peltür in der Mitte. Der Nebel wurde zu Regen. Etwa ein Dutzend Schlüssel hingen an dem Ring, den Erica Bourgoyne ihm gegeben hatte. Der siebte passte. Cashin schloss die Tür auf und ging durch den Flur. Die Töpferwerk statt war dunkel, die Fensterläden geschlossen. Er fand die Lichtschalter, und hoch oben flackerten die Leuchtstoffröh ren, erhellten den Raum. Die Tür befand sich direkt vis-ä-vis. Im Licht der Lampen sah man einen gefegten Backstein boden, einige Gartengeräte an Wandhaken, andere wie Aus stellungsstücke auf Regalbrettern arrangiert. Ein Aufsitzmä her, ein kleiner Traktor und ein Anhänger standen in Reih und Glied, blank geputzt wie in einem Showroom. Der makellos saubere Raum zeugte von Organisation und Disziplin. Zu Cashins Rechten lehnte das Gemälde an der Wand, die Vorderseite nach hinten, das eingeschnittene V mit Klebeband zusammengehalten. Es war größer, als er es in Erinnerung hatte. Er ging hin, griff den Rahmen und hob das Bild unbeholfen hoch, drehte es um und lehnte es wieder an die Wand. Erst als er ein paar Schritte zurückgetreten war, konnte er das Bild richtig sehen. Es war das Gemälde einer Landschaft im Mondschein; ein bleicher Pfad schlängelte sich zwischen Sanddünen hindurch, die mit küstentypischem Buschwerk bewachsen waren, und führte zu einer Gruppe von Gebäuden im Hintergrund, in de ren Fenstern die Andeutung eines Lichtscheins zu sehen war. Den größten Teil der Leinwand beanspruchte ein mächtiger Himmel, windgetriebene, grauschwarze Wolken, die ein fast voller Mond beschien. Cashin kannte die Stelle. Er hatte genau da gestanden, wo der Maler gestanden haben musste, oben auf der letzten gro ßen Düne, und in Richtung der inzwischen halb verfallenen
Häuser geblickt, in Richtung des Highways und der Straße, die sich von dem Highway den Hügel hinaufschlängelte, zur Straße nach Kenmare und der Auffahrt von The Heights. Er trat näher. Auf dem Weg befanden sich offenbar Gestal ten, eine kleine Kolonne von Menschen, zu dritt nebeneinan der, die auf die Gebäude zugingen. Kinder, es waren Kinder, dazu zwei größere Gestalten. Das Gemälde war nicht signiert. Er drehte es um. In der un teren linken Ecke war ein kleiner Aufkleber. Darauf stand mit roter Tinte: Companions Camp, Port Monro, 1977.
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as Companions Camp«, sagte Cashin. »An der Flussmün dung.« Es blieb lange still. Cecily Addison stand am Kaminsims und schaute ihn an. Er wusste nie, wie lange er Cecilys Blick erwidern sollte, denn möglicherweise sah sie ihn gar nicht. »Sie scheinen mir eine geeignete Gesprächspartnerin zu sein«, sagte Cashin. Cecilys Kopf neigte sich, die Lider flatterten. Sie wirkte wie jemand, der sich gerade die Füße massieren ließ. »Darf ich fra gen, worum es dabei geht?« »Um Charles Bourgoyne.« »Ich dachte, das wäre abgehakt.« »Nein.« Ein langer letzter Zug an ihrer Zigarette, eine hochgezogene Augenbraue. »Nun, was wollen Sie denn wissen, mein Lieber?« »Was für ein Camp war das?« »Eins für Jungs. Waisen und dergleichen. Für Jungs in Hei men, Pflegekinder. Die Moral Companions boten ihnen einen Ferienaufenthalt, ein wenig Spaß. Viele Leute aus Cromarty halfen mit, darunter auch mein Harry. Es war eine gute Sache.« »Und es ist abgebrannt.« »1983. Tragisch. Aber es hätte durchaus schlimmer kommen können. In jener Nacht waren nur drei Jungs da. U n d der Ver antwortliche. Der Companion, so nannten sie sich selbst. Er konnte sie nicht retten. An Rauchgasen erstickt, so lautete das Ergebnis der Untersuchung.«
»Wo waren die anderen Kinder?« »Bei irgendeiner Kulturveranstaltung.« Sie streckte den A r m aus und ließ ihre Zigarette in die auf dem Kaminsims ste hende Vase fallen. »Sie sind mit ihnen nach Cromarty gefah ren - Musik, Theater, solche Sachen. Damals gab's das noch häufig. Die Leute hockten nicht zu Hause vor ihren Fernse hern und glotzten amerikanischen Mist.« »Was hat den Brand verursacht?« »Ich glaube, es hieß, es sei der Heizungskessel im Schlafhaus gewesen, dem einstöckigen. Ein Holzhaus. Die Jungs schliefen im ersten Stock.« Cashin dachte an die geschwärzten Grundmauern aus Back stein, an den verkohlten Bodenbalken. Wo er gestanden hatte, waren die Jungen gestorben. »Davon abgesehen, dass ihm das Land gehörte, hatte Bour goyne sonst noch irgendetwas mit dem Camp zu tun?« Cecily runzelte die Stirn, tiefe Falten. »Tja, ich weiß es nicht. Natürlich zeigte er sich interessiert. Er trat dabei in die Fuß stapfen seines Vaters. Eine Menge Leute zeigten Interesse. Da mals war Cromarty sozial gesinnt. Die Leute taten Gutes, und zwar nicht, damit ihre Namen in der Zeitung standen. Die Tu gend ist sich selbst Lohn genug. Ist Ihnen diese Redewendung geläufig, Detective?« »Mein Lohn ist mein Spitzengehalt, Mrs. Addison.« Sie musterte ihn aus schmalen Augen. »Sie stehen eine Stufe über den tumben Jungs, die keine andere Arbeit gefunden haben, nicht wahr?« »Das war also das Ende des Camps?«, sagte Cashin. »Des Camps und auch der Companions. Es stand groß in allen Zeitungen. Ich glaube, sie machten den Laden einfach dicht. Es war das letzte verbliebene Camp der Companions. Charles gab dem Verwalter Arbeit. Percy Crake. Kalt wie ein Fisch, dieser Percy Crake.« An der halb offenen Tür klopfte es.
»Ja«, sagte Cecily. Mrs. McKendrick. »Ihr Termin wird sich um zwanzig M i n u ten verspäten, Mrs. Addison«, sagte sie. »Als Entschuldigung haben sie Probleme mit dem Auto zu bieten.« »Danke, meine Liebe.« Mrs. McKendrick machte kehrt wie eine jugendliche Balle rina und schloss hinter sich die Tür, die sie offen vorgefunden hatte. Es war eine Botschaft. »Sie war in Jock Cameron verliebt«, sagte Cecily. »All die Jahre. Wirklich traurig. Er hat's nie bemerkt. Ich hab mich oft gefragt, ob er vielleicht im Gefecht ein paar Schrapnelle abbe kommen hat.« »Man hat mir gesagt, dass es in der ehemaligen Zentrale in Melbourne keine Unterlagen der Companions für Port Monro gibt.« Fin hatte angerufen, als er aus The Heights weggefahren war. »Die Unterlagen aller anderen Camps sind vorhanden«, sagte Cashin. »Könnten sie woanders sein?« »Keine Ahnung. Warum sollte man sie woanders aufbewah ren?« Die Vase auf dem Kaminsims stieß Qualm aus wie eine Fumarole. Cashin stand auf und trug sie zum Fenster, schob dessen untere Hälfte hoch und schüttelte den Behälter, so dass seine glimmende Fracht vom Seewind davongetragen wurde. »Danke Ihnen, Joe.« »Ich gehe dann. Danke, dass Sie Zeit für mich hatten, Mrs. Addison.« »Gern geschehen.« Draußen war es kalt, niemand lungerte auf der Straße herum. Cashin verspürte das Bedürfnis zu laufen, er ging die Straße hinunter, vorbei an den leeren Modeboutiquen, der Aroma therapeutin, den Immobilienangeboten in den Fenstern des Maklers. Er überquerte die Crozier Street und kam an der Lounge Bar vorbei, wo drei Leute sich im Fernsehen ein Grey
houndrennen ansahen; einer davon ein alter Mann, der hustete, als könnte er jeden Moment im Stehen sterben. Nach der Bar kamen Häuser, meist Ferienhäuser, die Vorhänge waren zuge zogen. Während Cashin ging, wurde der Gesang aus der Kirche auf der Anhöhe lauter. Er bog um die Ecke, als die brüchig und ab gehackt klingenden letzten Zeilen eines Kirchenlieds ertönten. Des Himmels Morgen erwacht, es verschwinden die Schatten der Nacht; Im Leben, im Tod, oh Herr, halt Du bei mir Wacht. Erst wurde es still, dann ertönte ein schwaches Amen, das in der kalten Luft stand, in den Pinienzweigen hing. Cashin verspürte plötzlich den heftigen Schmerz von Ver lust und Sterblichkeit, er machte kehrt und ging denselben Weg zurück, den er gekommen war, in den Wind.
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r überquerte während eines Sturms eine Hängebrücke, tief unter ihm das Wasser. Die Brücke schwankte, knarzte und ächzte, und manche Bretter fehlten. Als er nach unten schaute, sah er den Kessel, eine gewaltige Welle kam näher, und er hatte Mühe, nicht den Halt zu verlieren, klammerte sich an den Sei tentauen fest, konnte sich nicht mehr halten, musste den Griff lockern, er stürzte in den Kessel. In Schweiß gebadet lag Cashin da, hellwach, das Herz pochte wie rasend, und Erleichterung überkam ihn. Er kannte diese Geräusche: Die Fernsehantenne hatte sich wieder mal ge löst und wurde vom Wind herumgestoßen, schabte an der Hal terung. Diese Geräusche hatten den Kesseltraum ausgelöst. Wie funktionierten Träume überhaupt? Er drehte die Uhr um: 6.46 morgens. Sieben Stunden Schlaf, der längste ununterbrochene Schlaf seit einer halben Ewigkeit. N u r kurze schmerzhafte Stiche beim Aufstehen, ein guter Morgen, Hunde reinlassen, füttern, Saft trinken, duschen. Es war ein grauer Tag, kein nennenswerter Wind. Als die Hunde von ihrer Suche nach Rebb zurückkamen, entschied er sich für den Rundweg, den Hügel hinauf. Die europäischen Bäume waren mittlerweile kahl, standen in ihrem feuchten Laub, hundert und mehr Generationen Laub. Sie gingen den Hang hinunter und über die große Lichtung, heute weit und breit keine Hasen. Cashin überquerte den immer noch tur bulenten Bach, trat von Stein zu Stein. Dann, von den H u n den war nichts zu sehen, bog er nach Westen ab, in Richtung
Helens Grundstück, das Gemälde ließ ihn nicht los - die im Mondschein liegende Ebene, die kleine Prozession von Jungs, die auf die Gebäude zumarschierten, das Licht in den Fenstern. Das Camp der Companions. Er dachte an Pollard, der im Saal der Companions hing, gekreuzigt, sterbend, während jemand zusah, als schaute er sich ein Theaterstück oder ein Konzert an, das man genoss, wo man Beifall spendete. Wann hatte Pollard das Bewusstsein verloren? Hatte der Zu schauer voller Vergnügen seinen Lauten, seiner Agonie ge lauscht? Hatte Pollard um Gnade gebettelt? Hatte der Beob achter genau das gewollt? Bourgoynes Zahlungen an Pollard. Bourgoyne, Förderer der Companions. Die Companions bewahrten Unterlagen über die Camps in Western Australia, Queensland und South Australia auf, die alle vor dem in Port Monro geschlossen wurden. Was war mit den Port-Monro-Akten geschehen? Der Gürtel, den die Hunde kürzlich dort gefunden hatten. Allzeit bereit. Nicht größer als ein Hundehalsband, Erwachsenenhände konnten eine so kleine Taille umspannen. An Helens Haus wurde gearbeitet. Neues Wellblech auf dem Dach, eine A r t Anbau mit Außenverschalung, rosa grun dierte Bretter, große Fenster, eine Plattform ragte vor, eine Dachterrasse, wenn sie fertig war. Dort würde sie ausspannen, nach unten auf den Bach, nach oben auf den Hügel schauen. Auf sein Grundstück. Warum hatte er angeboten, ihr den Streifen Land am Bach zu verkaufen? Weil sie sauer auf ihn war, weil sie, das reiche, schöne und kultivierte Mädchen ihn geküsst hatte, als er ein schüchterner Schlacks gewesen war, dem seine Tante die Haare schnitt? Angebot für immer zurückgezogen. Es war ein guter, stabiler Zaun. Rebbs Zaun. Wie weit konn
te man an einem Tag gehen? Rebb würde nicht darum bitten, mitgenommen zu werden, die Leute müssten ihn schon fra gen. Jedes einzelne Werkzeug, das Rebb benutzt hatte, war in dem Schafscherschuppen fein säuberlich aufgereiht, gerei nigt und geölt. Seine Matratze lehnte an der Wand, die Decken lagen auf den Sprungfedern des Bettes, quadratisch gefaltet, darauf das Kissen und ganz oben der gewaschene Kissenbe zug. Cashin kaute gerade in der Mikrowelle gekochten Hafer brei, als das Telefon klingelte. »Ist der am Dienstag bei euch schon eingetroffen?«, sagte Dove. »Von welcher Woche?« »Ich hätte das Jahr erwähnen sollen. Hab mir alles über die sen David Vincent beschafft.« »Und?« »Der Aktenstapel ist backsteinhoch.« »Die Zusammenfassung. Die hast du natürlich gemacht?« »Natürlich. 1968 in Melbourne geboren, 1973 in die Obhut der Jugendfürsorge gekommen, von 1973 bis 1976 in einem ge wissen Colville House gewohnt. Dann kam Pflegefamilie N u m m e r eins bis 1978, Nummer zwei bis 1979, weggelaufen, wieder aufgegriffen, Nummer drei bis 1980, weggelaufen, Kannst du folgen?« » N u r weiter.« »Der nächste Eintrag ist eine Festnahme in Perth 1983 wegen Diebstahls einer Handtasche. M i t fünfzehn. Es folgten eine ganze Reihe kleiner Vergehen, 84 kommt er ein halbes Jahr in eine Jugendstrafanstalt, 86 wieder, diesmal neun Monate lang. Soviel zu den Vorstrafen.« »Und der Rest?« »Ist eine traurige Geschichte. Anstalten. Hier, in diesem einen Bericht, steht klinische Depression, verbunden mit Mehrfach abhängigkeiten. Vier Jahre in Lakeside, Ballarat. Das klingt nett.
Liegt am See. Ich interpretiere die Probleme als Heroin, A m phetamine, Methadon, Dope, Suff, gerät in Schlägereien und erleidet an zahlreichen Körperteilen Verletzungen.« Cashin war vorher nicht aufgefallen, wie sich das Tuch aus Sonnenschein auf den Bodenbrettern des alten Zimmers auf faltete. »Danke sehr«, sagte er. »Hör mal, ich brauche die Nummer, von der aus Dave Vincent bei der Polizei angerufen hat. Tracy hat sie.« »Ich dachte, es wäre ein Problem, mit Vincent zu reden.« »Manchmal wird es dadurch ein Problem, dass einen die Leute ansehen.« Eine von Singos Erkenntnissen. Zu Beginn von Cashins Arbeit, im ersten Jahr, hatten sie mit einem Mann aus Geelong zu tun, der kein Wort sagen wollte, die Hände zu Fäusten ge ballt, sein Hals ein Zaun aus Sehnen. Singo schrieb die N u m mer seines Diensttelefons auf einen Zettel und gab ihn dem Mann. Sie gingen und warteten in Singos Büro. Nicht mal eine Minute später klingelte das Telefon, und Singo sprach fast eine Stunde lang mit ihm. »Tja, ich bin froh, dass du dich selbst so objektiv ansehen kannst«, sagte Dove. »Jedenfalls am Telefon. Darf ich aus rein informatorischen Gründen erfahren, was du von Vincent willst?« »Ich glaube, er war im Companions Camp in Port Monro.« »Ach ja? Und was hast du davon?« »Ich folge nur meinem Riecher.« »Ah, der Riecher. Von dem höre ich immer wieder. Ein Be triebsgeheimnis. Bleib dran.« Nach knapp zwei Minuten kam Dove mit der Telefonnum mer zurück. »Dann los mit dir, an die Arbeit«, sagte Cashin. »Geh zum Rauschgiftdezernat, oder wie der Schuppen jetzt heißen mag, und nimm den ersten Drecksack fest, der dir über den Weg läuft.«
»Wie altmodisch, wie weit entfernt von allem, was moderne Polizeiarbeit heute ausmacht.« David Vincents Telefon klingelte lange. Zu früh für ihn, dachte Cashin. Sein Tag begann wahrscheinlich, wenn die meisten Menschen ans Mittagessen dachten.
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rbeitslos«, sagte Carol Gehrig, rutschte auf dem Stuhl he rum und zog am Schritt ihres Jogginganzugs. »Sechzehn Wochen Lohn, wie klingt das nach sechsundzwanzig Jahren Arbeit?« Das billige Holzhaus stand mitten im Wind auf einem fla chen Hügel mit Blick auf Kenmare. Dahinter befand sich ein großer, vorn offener Schuppen, ein Traktorschuppen, in dem nur ein alter gelber Mazda stand. »Wer hat Ihnen gekündigt?«, fragte Cashin. »Die Anwältin. Addison. Das Anwesen soll irgendwann zum Verkauf angeboten werden. Sie will, dass ich sauber ma che, wenn es so weit ist.« Sie zog an ihrer Kippe, drückte sie zwischen den fünf oder sechs anderen aus, die schon in der Muschelschale auf dem Tisch lagen. Sie hielt Cashin die Packung hin. Er schüttelte den Kopf. »Kaffee?«, sagte sie. »Tee? Ich hätte fragen sollen. Und dann haben Sie mich auch noch ungeschminkt erwischt. Ich bin's halt nicht gewöhnt, vormittags hier zu sein.« Er hatte mehrere Minuten warten müssen, aber nicht noch mal geklopft, nachdem er drinnen Geräusche gehört hatte. »Nein danke. Schon mal den Namen Arthur Pollard ge hört?« »Pollard? Nein.« In dem ausgebeulten Schaumstoffsessel tat ihm der Rücken weh. Cashin setzte sich kerzengerade hin, wollte sein Rückgrat
lang machen. Er holte das geschönte, retuschierte Foto des toten Pollard heraus. »Kennen Sie den Mann?« Sie sah das Bild an, hielt es auf Abstand. »Kommt mir irgendwie bekannt vor... von hier?« »Nein. Erzählen Sie mir von Percy Crake.« »Tja, er kam nach dem Brand im Camp. Kleiner Schnurr bart. Dann kam seine Schwester, ein echtes Miststück. Gesicht wie 'ne Axt, auch 'n Schnurrbart. Größer als der von Crake. Nannte sich >Mrs. Lowelk Weiß Gott, wie sie Mrs. Lowell ge worden ist. Sie ist auf der Suche nach Staub mit 'nem Taschen tuch hinter mir hergeschlichen.« »Was hat Crake gemacht?« »Hat das Kommando übernommen, ist rumgelaufen wie ein Vollidiot. Er ließ uns draußen vor seinem Büro zur Lohnüber gabe antreten, und dann mussten wir warten, als hätte er drinnen noch massig zu tun. Dann machte er die Tür auf und sagte: >Na, dann stellen Sie sich mal in alphabetischer Reihenfolge auf.<« Die Stimme, die sie nachmachte, war nicht laut und befeh lend, sondern dünn und krächzend. »Fünf Leute. In alpha betischer Reihenfolge, ich bitte Sie! Tommy-Scheiß. Ein ver dammter Pfadfinderführer.« Allzeit bereit. Cashin sah den starren und brüchigen kleinen Gürtel vor sich, die runde, verrostete Schnalle. »Das war 1980«, sagte er. »Im Jahr, als ich die volle Stelle annahm, 1978. Mrs. B. war mit den Kindern da. Sie war nett, schenkte ihm ungefähr zwan zig Jahre. Eine echte Tragödie, dass sie die Treppe runterfiel.« »Wie haben die Kinder das verkraftet?« »Der Junge hat nie ein Wort gesagt. Erica lief Mr. B. nach, als wäre er ein Popstar. Sie war in ihn verliebt. Mädchen sind manchmal so.« Rauch wurde inhaliert, wieder ausgeatmet, Asche an der Muschelschale abgestreift. »Früher haben sie Partys gefeiert. Gartenpartys, Cocktailpartys, Dinnerpartys, die Reichen aus
Cromarty, auch aus Melbourne kamen Leute. Während der Pferderennen im Herbst wohnten Gäste im Haus. Ich besorgte Hilfe. Aus Melbourne kamen ein Koch und ein Kellner.« Carol saugte die Wangen ein. »Egal, alte Zeiten. Geschichte. Worum geht's hier eigentlich?« Cashin zuckte die Achseln. »Reine Neugier.« »Ich dachte, die schwarzen Jugendlichen waren's.« »Was glauben Sie denn?« »Fänd ich nicht überraschend. Die Daunt ist ein verdamm ter Fluch für diese Stadt.« »Sie wissen bestimmt viel über die Bourgoynes.« »Nicht besonders viel. Hinter den Leuten herräumen, das ist der Job. Waschen, bügeln. Zwanzig Stunden die Woche seit zehn Jahren oder so. Das war's.« Sie rauchte wieder. »Kopf runter, Hintern hoch, hieß da die Devise, Mann«, sagte sie. »Außer man war Bruce Starkey.« »Gab's für ihn eine Sonderbehandlung?« »Also, früher hat Crake immer kontrolliert. Erwischte er einen beim Paffen, hat er eine Viertelstunde Lohn abgezogen. Ist das nicht unglaublich? Der dämliche Starkey, an den hat er sich nie rangetraut, der musste sich auch nicht für seinen Lohn anstellen, der große Blödmann.« »Wie kamen denn Bourgoyne und Crake miteinander aus?« »Ziemlich gut. Ich habe Crake nur einmal lachen hören, und da war Mr. B. in seinem Büro. Crake hat ihm bei der Töpferei geholfen, beim Brennofen. Früher haben sie das an Wochenen den gemacht. Das ganze Wochenende über gebrannt.« »Das haben Sie gesehen?« »Nein. Mrs. Lowell hat es mir erzählt. Sie haben die ganze Nacht durch gebrannt. Starkey musste dafür eine Woche vor her mit der Kettensäge und der Axt Holz zerkleinern.« »Wie oft fand das statt?« »Herrje, das ist lange her. Vielleicht zweimal im Jahr. So un gefähr.«
»Die Töpfe in dem Galerieraum. Neun Töpfe. Mehr hat er nicht aufgehoben?« »Er hat sie immer zerdeppert. Starkey brachte die Scherben dann zur Kippe. Das war jedes Mal eine halbe Pick-up-Ladung voll.« Cashin betrachtete die karge grüne Landschaft und dachte, wie schön es gewesen wäre, wenn das alles nie angefangen, wenn er an jenem Morgen nie den Anruf bekommen hätte. »Wollen Sie wirklich keinen Kaffee? Ich gehe nämlich...« »Nein danke«, sagte Cashin. »Erica sagt, sie wisse fast nichts über die Angelegenheiten ihres Stiefvaters. Was sagen Sie dazu?« Carol runzelte die Stirn, was sie um zehn Jahre altern ließ. »Tja, würde mich nicht überraschen. Die Gelegenheiten, bei denen ich sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr dort gesehen habe, kann ich an den Fingern einer Hand abzählen. Die Liebe zu ihrem Stiefvater ist erkaltet.« Sie begleitete ihn zum Wagen, schlang gegen die Kälte die Arme um ihren Oberkörper. Den Hunden gefiel sie, und sie hatte keine Angst vor ihnen, kratzte sie beide am Kinn. »Doppelpack«, sagte sie. »Was sind das für welche?« »Pudel.« »Nä. Pudel sind verweichlichte kleine Viecher. Die beiden sind raue Burschen.« »Sie wurden vernachlässigt«, sagte Cashin. »Nicht gebürs tet, kein Haarschnitt.« »Bisschen wie bei mir.« Sie spielte mit großen Hundeohren, sah ihn dabei nicht an. »Sind Sie verheiratet?« »Nicht mehr.« »Kinder?« Er zögerte. »Nein.« »Kinder sind gut, das Problem ist die verdammte Arbeit. Mein Ex ist nach Darwin gezogen, kann's ihm nicht verden ken. Er ist Fischer. Ich wurde damit nicht fertig, hab ihn nie gesehen, er hat nur hier geschlafen.«
»Danke für Ihre Hilfe«, sagte Cashin. »Jederzeit. Kommen Sie mal wieder. Auf ein Bier.« »Das wäre nett. Ist Starkey auch gefeuert worden?« »Weiß nicht. Das Anwesen muss gepflegt werden, wenn es zum Verkauf steht.« Cashin saß schon im Wagen, als ihm noch etwas einfiel. »Wissen Sie irgendwas über das Companions Camp?« Carol schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Starkey hat vor dem Brand dort gearbeitet.«
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ie Redaktionsräume des Cromarty Herald befanden sich in einem hässlichen gelben Backsteingebäude aus den 1950er Jahren am Rand des Geschäftsviertels. Cashin ging durch Glastüren in einen Bereich mit einem Tresen, an dem zwei junge Frauen arbeiteten. Eine Trennwand aus Glas befand sich zwischen ihnen und einem großen Büro mit sechs Schreibtischen, an denen fünf Frauen und ein Mann saßen, alle mit gesenkten Köpfen. Er musste warten, bis drei Leute bezahlt hatten, einer, um eine Kleinanzeige aufzugeben. »Ich möchte alte Ausgaben der Zeitung durchsehen, bitte«, sagte er. »Durch diese Tür«, sagte die eine Frau. »Die reichen etwa ein halbes Jahr zurück.« »Aus dem Jahr 1983.« »O Gott. Ich glaube nicht, dass das geht.« Sie war nicht inte ressiert, sah die hinter ihm stehende Person an. »Gibt es eine Bibliothek?« »Bibliothek?« »Wo Sie Ihre Ordner aufbewahren.« Stirnrunzeln. »Da fragen Sie besser die Redaktion«, sagte sie. »Dort drin.« Noch ein Empfangsraum, eine ältere Frau hinter einem Schreibtisch. Er wiederholte seine Frage. Diesmal erwähnte er das Wort Polizei. Sie telefonierte. Sekunden später öffnete sich eine Tür und ein Mittfünfziger kam herein, Glatze, rotes Ge sicht, Wampe. Cashin stellte sich vor, zeigte seine Marke.
»Alec Clarke«, sagte der Mann. »Redakteur. Kommen Sie mit.« Es war ein großer Raum, sechs oder sieben Personen an Schreibtischen, die Blicke auf Computer gerichtet. An einem unaufgeräumten Tisch in der Zimmermitte machten drei Män ner das Gleiche. Das Ganze glich einem Dienstraum bei der Polizei. Clarke brachte Cashin zu dem ersten Büro in einer Reihe von vier abgeteilten Arbeitsnischen. Sie nahmen Platz. »Wie kann ich helfen?« Cashin sagte es ihm. »So lange her? Suchen Sie etwas Bestimmtes?« »Einen Brand. Im Camp der Moral Companions bei Port.« »Ah ja. War eine Riesensache, die toten Jungs. Traurige Ge schichte. Woher das heutige Interesse?« »Pure Neugier.« Clarke lachte, hielt die Hände hoch, Handflächen nach au ßen. »Habe verstanden. Ich sehe mal nach, bin gleich wieder da.« Er verließ den Raum und ging nach rechts. Cashin sah sich die Mitarbeiter an. Alle waren junge Frauen, bis auf die drei am Mitteltisch, eher abgerissene ältere Männer, bleich, schäbig und miefig. Der Rotblonde, anscheinend der Chef, bohrte sich ausgiebig in den Nasenlöchern herum und betrachtete gele gentlich seine Funde. Eine spindeldürre junge Frau kam herein und ging zu dem Ölbohrer, mit dem sie sich respektvoll unter hielt. Er verzog das Gesicht und wedelte abfällig mit der Hand. Daraufhin nickte sie und ging zu einem Stuhl im hinteren Bereich des Raums. Cashin sah, wie ihre Schultern nach vorn sackten, das Kinn nach unten sank. »Tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, Detective«, sagte Clarke. Er nahm hinter dem Schreibtisch Platz. »Es ist immer ein Vergnügen, eine gut geölte Maschinerie bei der Arbeit zu erleben«, sagte Cashin. Ein schmallippiges Lächeln. »Es gibt da ein Problem«, sagte
Clarke. »Wir haben 84 modernisiert, alles auf Mikrofiche um gestellt. Sie sind wohl zu jung, um sich noch an Mikrofiche zu erinnern.« »Ich kenne Mikrofiche.« »Ah ja. 86 hatten wir hier einen Brand, jemand ließ eine Zigarette in einen Papierkorb fallen, dabei haben wir die Fiches mit etwa zehn Jahrgängen verloren, beginnend mit 1979.« »Was wurde aus den Zeitungen?« »Die wurden 84 verbrannt, leider. Damals interessierte man sich nicht für das Erbe. Im Nachhinein hätten wir das nie mals ...« »Ob die Staatsbibliothek sie aufbewahrt hat?« »Ist einen Versuch wert. Gewiss.« Cashin ging an einem kalten Vormittag zu seinem Wagen und schaute zu einem Himmel hoch, weit wie das Firmament, bleich wie die Erinnerung. Als die Hunde ihn sahen, schlugen sie einander mit den Schwänzen.
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ie Staatsbibliothek hatte den Cromarty Herald nicht im Bestand. Cashin legte das Telefon beiseite und dachte an Corey Pascoe und Bourgoynes Armbanduhr. War das jetzt noch wichtig? Er schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken. Die Jungs waren tot, und zwar wegen einer Uhr von Bourgoyne. Diese ganze schreckliche Geschichte stand und fiel mit der Uhr. Wie kam Corey zu einer Uhr, die Bourgoyne gehört hatte? Chris Pascoe hatte neulich auf dem Landungssteg etwas ge sagt, das ihm nicht wichtig vorgekommen war. Corey war kein übler Kerl. Hätte als Profi Australien Football spielen kön nen. Hatte bloß Scheiße im Sinn, wollte lieber 'ne Drogenlauf bahn einschlagen. Sind Sie 'n Kumpel von Hopgood und sei nem Haufen? Eine Drogenlaufbahn. Meinte er damit, dass Corey Dope rauchte? Das wäre in der Daunt-Siedlung nicht weiter er wähnenswert, genauso wenig wie anderswo im Land. Heute war Kiffen wie Biertrinken in den Sechzigerjahren. Damals sagten die Leute nicht, Biertrinken halte sie davon ab, als Profi Football zu spielen. Nein, Pascoe hatte nicht Doperauchen gemeint. Er meinte anbauen, dealen. Cashin beobachtete, wie die Hunde den Hinterhof durch streiften, sich beim jeweils anderen über sensorische Depriva tion beklagten. Ihnen gefiel es hier nicht, sie wollten in Rebbs
Gesellschaft sein. Was Hunde wohl für ein Gedächtnis hatten? Ob Rebb ihnen fehlte? Die Piggots hatten mit Drogen zu tun. Billy Piggot dealte mit Schulkindern. Debbie Doogue war Kunde gewesen. Kendali sagte hinter ihm: »Darf ich mir die Bemerkung er lauben, dass ich dich gerne wieder dauerhaft hier am Ruder sehen würde, und zwar am besten gestern? Diese Wunderkna ben hier langweilen mich dermaßen, dass ich jeden Moment ausrasten könnte.« »Ich komme bald wieder«, sagte Cashin. »Hab noch nie ge hört, dass ich jemandem fehle.« »Nach Komplimenten fischen ist verboten«, sagte sie. »Ich weiß zu würdigen, dass du nicht über diese dämlichen Reality TV-Sendungen laberst und wie verlockend es ist, ein Spezial training für die Oberkörpermuskulatur zu absolvieren.« »Apropos verlockend... ich musste neulich an Locken den ken. Da kam so ein junger Typ rein, dessen Freundin, eine Fri seuse, mit seinem Pick-up nach Queensland durchgebrannt ist. Er sagte, die Piggots werden richtig reich. Sind die Pigs deines Wissens schon mal verhaftet worden?« »Nicht zu meiner Zeit, nein.« »Warum nicht?« »Keine Ahnung. Dafür ist Cromarty zuständig.« »Klar, aber jemand muss Cromarty darüber informieren.« »Ich glaube, das ist nicht nötig. Die wissen bestimmt Be scheid.« »Wurde das angesprochen, bevor ich hierherkam? Als Sad ler Chef war?« »Es gab Klagen.« Kendali sah weg. »Sadler sagte, er würde mit Cromarty reden. Egal, ich hab zu tun.« »Einen Moment noch, Ken. Am Tag von der Demonstration hab ich dich nach Billy Piggot gefragt, worauf du etwas über einen Ray Piggot sagtest. Was war das noch gleich?« »Er hat einem Handelsvertreter, der im Wavercrest abgestie
gen war, fünfhundert Dollar geklaut. Der Vertreter sagte, er habe Ray außerhalb von Cromarty beim Trampen mitgenom men und auf ein Bier in sein Hotelzimmer eingeladen. Nach her war das Geld weg. Du verstehst, nur zwei durstige Bur schen, der eine ist ungefähr fünfzig, der andere sieht aus wie vierzehn.« »Er hatte Rays vollen Namen?« »Ja. Sadler rief Cromarty an. Hopgood und dieser Steggles kamen her. Haben hinter der Wache geparkt. Ray Piggot saß auf dem Rücksitz. Anscheinend hatten sie ihn unterwegs auf gelesen. Da blieb er auch, während sie sich im Verhörraum mit dem Vertreter unterhielten. Er fuhr weg, sie fuhren weg. Hab nie mehr davon gehört.« »Gab's ein Verfahren gegen Piggot?« »Nö. Und in Melbourne kam er auch ohne eins davon. Hat 'nem Typen, den er im Park kennenlernte, eine Stereoanlage und einen Laptop gestohlen.« »Was sagt einem das?« Kendali lächelte ihr kleines, trauriges, wissendes Lächeln, den Blick nach unten gerichtet. »Ich bin einfach nur froh, meine Arbeit zu haben«, sagte sie. »Als ich körperlich am Ende war, haben die Leute mich nicht weggestoßen, abgeschoben oder früh pensioniert. Sie waren zu mir wie eine Familie. Das kennst du doch. Oder nicht?« Sie ging. Cashin legte den Kopf in den Nacken, spürte, wie sich sein müder Körper meldete. Damals, morgens im Gericht, hatte ihm Greg Law eine Botschaft in Bezug auf Hopgood zu kommen lassen. Die gewalttätige, Gras anbauende Gabby Tre vena sei nicht der gefährlichste Mensch in dieser Stadt, hatte er gesagt. Hatte Law eine Drohung Hopgoods ausgerichtet? Oder sollte das heißen, dass er keiner von Hopgoods Leuten war? Sind Sie 'n Kumpel von Hopgood und seinem Haufen? Hopgood und Lloyd. Und vermutlich auch Steggles. Steggles hatte sich in jener Nacht übergeben. Bei strömen
dem Regen, Gesicht nach unten, seine Waffe in den Himmel gerichtet, kam eine Säule Erbrochenes aus seinem Mund ge schossen. Der Hamburger, den er bei der Einsatzbesprechung gegessen hatte, und die fettigen gelben Pommes mit ketchup roten Spitzen verließen seinen Körper, nachdem er den Jungen erschossen hatte. Die Sache war Steggie auf den Magen geschlagen. Cashin rief Helen Castleman an. »Ich will noch mal mit diesem Pascoe reden«, sagte er. »Deine Umgangsformen lassen zu wünschen übrig. Hat dir das schon mal jemand gesagt?« »Ich rede in deinem Büro mit ihm. Du kannst dabei sein.« »Das ist also offiziell? Eine offizielle Befragung?« »Nein. N u r eine Plauderei.« »Nun, da ich Pascoe nicht vertrete, habe ich für Plaudereien kein Mandat. Außerdem habe ich nicht die Absicht, der Poli zei bei ihren Plaudereien behilflich zu sein.« »Ich fang noch mal an. Ich versuche gerade, die Jungs von jedem Verdacht reinzuwaschen. Auch deinen Mandanten.« »Meinen verstorbenen Mandanten.« Sie schwieg. Cashin wartete. »Ich melde mich«, sagte sie. »Wo bist du?« Cashin verließ das Revier, ging im Wind um den Block, nur wenige Menschen auf der Hauptstraße, auf dem Weg zwischen Fahrzeugen und Läden. Leons Café war leer. »Polizei«, rief Cashin. »Ist dieser Laden offen?« »Bin für verdammte Vorschläge offen«, sagte Leon, der ge rade aus der Küche kam. »Offen für Angebote jeglicher Art. Heute nur die kleine Speisekarte. Suppe, mehr biete ich nicht an, eine gepflegte Minestrone mit Schinkenknochen.« »Zum Mitnehmen?« »Sieben fünfzig, wenn sie im Lokal gegessen wird. Bei M i t nahme der Speisen gebe ich mich mit vier fünfzig zufrieden. Drei fünfzig, weil Sie die Polizei sind.«
»Den Knochen können Sie behalten.« »Drei fünfzig. Ich lege noch eine Scheibe Brot drauf. Rich tiges Brot. Gebuttert. Mit Butter.« »Zwei Scheiben.« »Erpressung. Man erpresst mich. Was für Musik mögen Sie?« Cashin aß gerade an seinem Schreibtisch die Suppe, als das Telefon klingelte. »Er will nicht herkommen«, sagte Helen. »Er ist ein ausge sprochen uninteressierter Mensch, er interessiert sich nicht für Plaudereien.« »Das war's?« »Er sagt, wenn du plaudern willst, sollst du heute Abend zu ihm nach Hause kommen. Er möchte darauf hinweisen, dass er der Polizei nichts schuldet. Ich habe seine Worte umformuliert und Streichungen vorgenommen, aus Rücksicht auf dein emp findliches Gemüt.« Wirklich clever. Cashin dachte, er könne noch zehn Jahre lang Bücher lesen, und es würde ihm nicht helfen. »Dann ma che ich das halt«, sagte er. »Danke und adieu.« »Ich muss dich fahren, dich begleiten. Er will keinen Einsatz wagen vor seinem Haus stehen haben. Und da du versuchst, etwas gegen eine schwerwiegende Ungerechtigkeit zu unter nehmen, bin ich bereit, das zu tun.« Er betrachtete die Hunde im H o f und dachte an Helens Mund, an die Küsse. Küsse aus heiterem Himmel. Im Abstand von zwanzig Jahren.
C
ashin und Helen saßen an einem Küchentisch in der ehe maligen Garage des Hauses. Jetzt glich der Raum eher einer kleinen Kneipe mit Bar, einem regulär großen SnookerTisch und diversen Stühlen. An eine Seitenwand hatte man einen Fernseher montiert. Chris Pascoe holte hinter der Bar ein Sechserpack Bier her vor und stellte es auf den Tisch. Er setzte sich, nahm eine Dose und riss den Verschluss auf. »Greifen Sie zu«, sagte er. »Also, worum geht's hier?« »Um die Uhr, die Corey hatte«, sagte Cashin. »Suse hat's Ihnen erzählt.« »Ich wüsste zu gern, woher er sie hatte.« »Wollen Sie ihn wegen Diebstahl anklagen? Tja, er hat be reits die Scheiß-Todesstrafe bekommen. Schon vergessen?« »Nein. Wir wollen herausfinden, wer Bourgoyne überfallen hat. Die Jungs waren es nicht, da bin ich mir ziemlich sicher.« »Seit wann?« »Seit ich beschlossen habe, Susie zu glauben, was den Zeit punkt angeht, zu dem sie die Uhr sah.« Pascoe trank, wischte sich über die Lippen, fand eine Ziga rette. »Tja, aber Suse weiß nicht, wo er sie herhatte, seine M u m weiß es auch nicht.« »Aber seine Kumpel wissen es vielleicht.« »Die meisten seiner Kumpel sind tot.« Helen hustete. »Chris, wie ich am Telefon schon sagte, bin ich wegen Donny hier. Ich will, dass sein Name ohne Makel ist,
die Namen aller drei Jungs. Genau wie die Daunt. Diese Schuld sollte nicht auf der Daunt lasten.« Pascoe lachte, den abgehackten Lachhusten eines Rauchers. »Keine Sorge wegen der Daunt. Dass man ihr alles Mögliche anhängt, ist für die Daunt nichts Neues. Und was soll es eigentlich bringen, wenn man weiß, woher er die Uhr hatte? Das blöde Ding ist bestimmt schon vor 'ner ganzen Weile ge klaut worden.« »Wenn sich herausstellt, dass Corey sie geklaut hat, war's das«, sagte Cashin. »Wir lassen's einfach auf sich beruhen, machen einen Strich drunter.« »Wie ich höre, kann Hopgood Sie nicht leiden«, sagte Pas coe. »Wo haben Sie das denn her?« Pascoe zuckte die Schultern, rauchte, lächelte leicht. »Wände haben Ohren, Mann. Sie schlafen wohl inzwischen unter dem Bett, stimmt's?« Die Seitentür wurde mit Macht aufgestoßen, prallte gegen die Wand. Der andere Mann vom Landungssteg, der mit dem hageren Gesicht und den Dreadlocks. Cashin fand, dass er in geschlossenen Räumen größer wirkte. »Weshalb die Scheißparty?«, sagte er. Pascoe hob die Hand. »Wir reden nur, Stevo.« »Reden? Bier mit den Bullen? Hier verändert sich ja 'ne Menge, Alter. Als Nächstes veranstalten wir noch gemeinsame Quizabende mit den Cops.« »Wir klären bloß die Sache mit Corey und der Uhr«, sagte Pascoe. »Mehr nicht.« »Tja, prima«, sagte Stevo. »Die ist geklärt. Wer ist die Frau?« »Die Anwältin«, sagte Pascoe. »Donnys Anwältin.« Stevo stellte sich hinter Pascoe, streckte den A r m aus, hob das Sechserpack hoch, riss eine Dose raus und sah aus blutunterlau fenen Augen erst Cashin, dann Helen an, dann wieder Cashin. »Kein Bier?«, sagte er. »Ihr trinkt wohl nicht mit Bimbos?«
Der Stoff, aus dem Kneipenschlägereien sind, dachte Ca shin, reden half da nicht weiter. Er sah Pascoe an. »Hören Sie, wenn Ihr Kumpel hier das Sagen hat, verschwinde ich.« »Dann verpiss dich doch«, sagte Stevo. Pascoe sah sich nicht um. »Reg dich ab, Stevo«, sagte er, eine gewisse Schärfe in der Stimme. »Ich soll mich abregen? Scheiße, sag du mir ja nicht, ich soll mich abregen, für wen hältst du...« Pascoe schob den Stuhl zurück, für Stevo überraschend, der das Gleichgewicht verlor. M i t einer schnellen Bewegung war Pascoe auf den Beinen, drängte Stevo nach rückwärts, drei Schritte weit, stieß seinen mächtigen Brustkorb gegen dessen Oberkörper, und presste ihn gegen die Bar. Pascoe sagte ihm etwas ins Gesicht, Kinn an Kinn, was Cashin nicht verstand. Stevo hob die Hände. Pascoe trat zurück, machte eine Hand bewegung. Stevo ging hinter den Tresen, stützte sich auf, sah die anderen nicht an. Pascoe setzte sich wieder auf seinen Stuhl, trank einen Schluck Bier. »Ich sage dazu Folgendes«, sagte er, als wäre nichts gesche hen. »Ich sage dazu, Corey könnte die U h r auch gegen irgend was eingetauscht haben, stimmt's?« »Gegen was?«, sagte Cashin.
»O Mann, woher soll ich das wissen? Was glauben Sie denn?«
»Von wem könnte er die Uhr denn bekommen haben?«
»Gute Frage, Mann.«
»Das war hilfreich. Möchten Sie mir vielleicht sonst noch
was erzählen? Können mich irgendwelche anderen Leute nicht leiden? Wie war's mit Steggles? Haben Ihre Wandohren was über Steggie gehört?« »Der ist so gut wie tot. Das blöde Arschloch.« »Ich würd's selber machen«, lallte Stevo. »Scheiße, heute Abend noch. Ich puste den Wichser weg.« »Halt die Klappe, Stevo«, sagte Pascoe. »Halt endlich deine verdammte Klappe.«
Cashin nahm eine Dose, riss den Verschluss ab. Er sah zu Helen hinüber. Sie wirkte wie jemand, der sich einen brutalen Boxkampf ansah, die Lippen geöffnet, auf ihren Wangen ein zarter Hauch von Rosa. »Hören Sie«, sagte Cashin. »Wenn Sie etwas wollen, sagen Sie's mir rasch, ich bekomme langsam Hunger. Um diese Tages- oder auch Nachtzeit esse ich immer was.« »Corey hat einige Dummheiten gemacht, wollte nie hören«, sagte Pascoe. »Er ließ sich rein gar nichts sagen, hatte immer seinen eigenen Kopf.« Cashin sagte: »Meinen Sie damit Dope?« Pascoe wedelte mit einer großen Hand. »Die Leute bauen ein bisschen Gras an, verdienen sich ein paar Dollar. Hier in der Gegend gibt's keine Arbeit.« »Was hat er denn nun gemacht?« »Na ja, Sie wissen schon, es gibt Mittel und Wege, um Ge schäfte zu machen. Damit meine ich nicht massenweise Geld, eher ein Taschengeld. Jedenfalls heißt es, dass Corey private Geschäfte abgewickelt hat, er und Luke, auch so ein junger Bursche, der nicht hören wollte, Respekt war dem scheißegal.« Pascoe bot seine Zigaretten an, Cashin nahm eine, das Feuer zeug, zündete sie an, blies Qualm in Richtung Dach, sein I n stinkt riet ihm, es zu wagen. »Piggots«, sagte er. »Reden wir von den Piggots?« Pascoe sah erst Helen, dann Cashin an. »Ihr pennt also doch nicht alle in Port Monro, stimmt's? Klar, die Piggots. Der Ehr geiz hat sie gepackt, diese Scheiß-Piggots, was für Schwach köpfe, aber sie sind wild entschlossen, ganz groß rauszukom men, wollen ganz oben mitspielen.« »Scheiß-Piggots«, sagte Stevo, der jetzt eine Flasche Jim Beam in der Hand hielt. »Ich knall die Schweine ab. Verfluchte weiße Schmarotzer.« »Stevo«, sagte Pascoe. »Halt die verdammte Klappe. Mach die Glotze an. Such dir irgendwelche Zeichentrickfilme.«
Helen sagte: »Chris, hab ich das richtig verstanden, wollen Sie damit sagen, Corey habe die Uhr von den Piggots als Be zahlung bekommen?« »Klar, kann durchaus sein, ja.« »Erzählen Sie mir, wie die Piggots an die Uhr gekommen sind«, sagte Helen. Pascoe sah Cashin an. »Können Sie sich das vorstellen?«, sagte er. »Diese Pigs haben sich in den Kopf gesetzt, dieser Scheiß sei leichter als Meerohren zu wildern. Sie wollen's nicht mal selber anbauen, auch die Lieferung nicht übernehmen. Profit ohne Risiko.« »Ein sehr ehrgeiziges Vorhaben«, sagte Cashin. »Verdammt richtig. Und ich hab gehört, sie hätten sogar einen, der das Zeug für sie kocht. Der Typ ist so 'ne A r t rei sender Speedkoch.« »Ach ja?« »Dürfte man eigentlich nicht zulassen, oder?« »Nein.« Pascoe beugte sich vor, hielt sein Gesicht so dicht wie mög lich an Cashins. »Man kann nicht erwarten, dass dieser ver fluchte Hopgood und die hiesigen Cops irgendwas unterneh men, stimmt's? Das war ja absurd, schließlich gehört Hoppy ein Anteil an dem Pferd. Ein ganzes Bein sogar, heißt es.« »Dagegen muss man unbedingt vorgehen«, sagte Cashin. »Verdammt richtig.« Pascoe lehnte sich zurück. »Sie verste hen mich.« Cashin nickte. »Ich versteh Sie.« Helen hüstelte. »Zu der Frage, wie die Piggots an die Uhr gekommen sind«, sagte sie. »Können wir dazu noch etwas er fahren?« Cashin glaubte, die Antwort zu kennen, dank eines ständig währenden Prozesses in seinem H i r n , das Dinge siebte, sichtete und sortierte, die er gelesen, gehört und gespürt hatte, Brocken und Bruchstücke ohne erkennbaren Wert, einfach nur Ramsch,
Müll, bis zu dem Augenblick, in dem zwei dieser Elemente sich berührten, sich wendeten und zusammenkamen, sich wie zwei Hände verschränkten. »Ray Piggot«, sagte er. »Sie sind so was von blitzschnell«, sagte Pascoe. »Genau, der kleine Gauner. Das hab ich gehört.« Die Anschuldigung gegen Ray Piggot. Hopgood und Stegg les auf dem Revier. Ray saß draußen im Streifenwagen. Ray, der aussah, als wäre er gerade mal vierzehn. »Ray Piggot hat Bourgoyne die Uhr geklaut?«, sagte Helen zweifelnd. »Tja, geschenkt hätte der sie ihm nicht.« »Ich verstehe nicht, was das soll«, sagte Helen. »Wer ist Ray Piggot? Bin ich bloß ...« Cashin sagte: »Damit das klar ist, Ray hat nicht bei Bour goyne eingebrochen?« Pascoe lachte. »Hopgood hätte ihn persönlich oben beim alten Charlie Bourgoyne abgesetzt. Dieser Drecksack Ray wusste, was ihm bevorstand, aber er ist nicht der erste Junge, den man Charlie und seinen Kumpels zugeführt hätte. Das ist eine von Hoppys Aufgaben. Das war schon immer so.«
S
chweigend fuhren sie zu der Tankstelle, wo Cashin geparkt hatte. »Danke«, sagte er und machte Anstalten auszustei gen. »Warte.« An den Zapfsäulen standen keine Autos. Die Fenster des kleinen Kassenhäuschens waren beschlagen. »Ich brauche ein paar Erklärungen«, sagte Helen. »Was zum Teufel war da eben los?« Cashin überlegte, was er ihr sagen sollte. Sie war an die sem Mist nicht mehr beteiligt, hatte keinen Mandanten mehr. »Pascoe baut Dope an«, sagte er. »Außerdem liefert er selbst, macht die gefährlichen Ubergaben. Die Piggots lassen andere Leute anbauen, abpacken, liefern. Laut Pascoe sind Hopgood und seine Kumpels an der ganzen Sache beteiligt, stocken so ihre Pension auf.« »Warum erzählt dir Pascoe das?« »Er will, dass ich die Piggots ausschalte. Weil er mir verraten hat, wie die Jungs an die Uhr gekommen sind.« »Das ist aber eine andere Uhr, eine ältere?« »Genau. Ein anderes Modell.« »Es war also von Anfang an eine falsche Fährte?« »Das stimmt.« »Und du glaubst die Geschichte über diesen Ray Piggot?« Cashin sah sie an. Als ein Wagen wendete und das Schein werferlicht ihr Gesicht streifte, verspürte er wieder die volle deprimierende Torheit jugendlicher Begierde nach einer Per
son, die unerreichbar ist. »Ray ist ein Quickpick«, sagte er. »Wenn möglich, beklaut er seine Freier.« »Ein Quickpick?« »Ein Autostopper, ein Anhalter. Der nichts auslässt.« »Joe, bis vor einem Jahr war ich Firmenanwältin.« »Es ist unwichtig«, sagte er. »Für dich bleibt nichts mehr zu tun. N u r noch für uns, ein Chaos, das wir entwirren müssen. Nachdem wir es selbst angerichtet haben.« »Joe.« »Was ist?« »Nun mach mal 'n Punkt. Du wüsstest das alles gar nicht, wenn ich dich nicht aufgefordert hätte, Pascoe zu treffen. Pas coe sagt, Hopgood habe Bourgoyne diesen Ray Piggot zuge führt. Und andere Jungs auch. Das hat noch keiner über Bour goyne behauptet.« »In deinen Kreisen nicht.« »Was soll das heißen, >in meinen Kreisen« »Vielleicht redet ihr vornehmen Bayview-Drive-Anwohner nicht über solche Sachen. Zu vulgär.« Helen pochte mit dem zweiten Knöchel jeder Hand auf das Lenkrad. »Bei dem Köder beiße ich nicht an«, sagte sie, machte nach jedem Wort eine Pause. »Ich muss los«, sagte Cashin. »Ich melde mich bei dir.« Draußen war es kalt und klamm, vom Meer kommender Nebel. Cashin senkte den Kopf, um sich zu bedanken. »Hast du oft Schmerzen?«, fragte Helen. »Nein.« »Tja, mich hast du glatt genarrt. Egal, ich bin in dem Haus, wir sind Nachbarn. Möchtest du auf einen Drink mit zu mir kommen? Ich kann ein paar Party-Pies in die Mikrowelle tun. Soviel ich weiß, essen Leute aus deinen Kreisen so was gern.« Eigentlich wollte er ablehnen, nein danke, ein andermal viel leicht, doch dann sah er ihr in die Augen. »Ich fahre dir nach«, sagte er.
»Nein«, sagte sie, »du fährst voran. Du kennst die Straße besser.« Die Auffahrt zum Corrigan-Haus verlief zwischen alten Ulmen, viele davon abgestorben. Sie war mit frischem Kies bestreut, die Erde sah im Scheinwerferlicht weiß aus. Cashin parkte links vom Tor und machte das Licht aus. Helen hielt neben ihm. Er stieg aus, unsicher. Zwischen rasch dahinzie henden Wolken tat sich eine Lücke auf, ein Vollmond schien vom Himmel, tauchte die Welt in bleiches Grau. Schweigend gingen sie über den langen Weg und eine neue Holztreppe hi nauf zur Haustür. »Ich finde es hier immer noch ein bisschen unheimlich«, sagte sie. »Die Dunkelheit. Die Stille. Vielleicht war es ein Feh ler.« »Besorg dir einen Hund«, sagte Cashin. »Und eine Knarre.« Sie gingen durch einen Flur. Helen knipste Lampen an, so dass man ein großes, leeres Zimmer sah, zwei oder drei Räume des alten Hauses zu einem zusammengelegt, ein neuer Fußbo den. Es gab zwei Stühle und einen niedrigen Tisch. »Zum Möbelkaufen bin ich noch nicht gekommen«, sagte Helen. »Oder zum Bücherauspacken.« Er folgte ihr in eine Küche. »Herd, Kühlschrank, Mikrowelle«, sagte sie. »Im Grunde eine Nullachtfünfzehn-Frühstückspension. Ohne eigene Per sönlichkeit.« »Party-Pies sind genau das Richtige«, sagte Cashin. »PartyPies haben kaum eigene Persönlichkeit.« Helen hakte die Daumen in ihre Jackentaschen. Sie hob den Kopf. Cashin sah die Sehnen an ihrem Hals. Er spürte, wie sein Herz klopfte. »Hungrig?«, sagte sie. »Deine Augen«, sagte er. »Hast du die geerbt?« »Meine Großmutter hatte verschiedenfarbige Augen.« Sie wandte sich halb von ihm ab. »In der Schule fand ich dich
interessant. Das trifft es ziemlich gut. Ich fand dich interes sant.« »Das ist gelogen. Du hast mich nie wahrgenommen.« »Du sahst immer so feindselig aus. Hast finster dreinge schaut. Du guckst immer noch finster. Finster gucken ist irgend wie sexy.« »Wie soll das gehen, finster gucken?« »Stell deine Gabe nicht in Frage.« Helen ging zu ihm und nahm seinen Kopf in die Hände, küsste ihn, wich wieder zu rück. »Nicht übertrieben empfänglich«, sagte sie. »Werden Cops bei ihrer ersten Verabredung intim?« Cashin schob die Hände unter ihre Jacke, drückte sie an sich, atmete ihren Duft, spürte ihre Rippen. Sie war dünner, als er erwartet hatte. Er zitterte. »Gewöhnlich haben Cops keine zweiten Verabredungen.« Es gab eine lange Pause. Dann nahm Helen Cashins rechte Hand, küsste sie, küsste ihn auf die Lippen, lenkte ihn. Nachts wurde er wach, spürte, dass sie wach war. »Reitest du noch?«, sagte er. »Nein. Ich bin schlimm gestürzt, jetzt traue ich mich nicht mehr.« »Ich dachte, man sollte nach so was gleich wieder aufstei gen.« Sie berührte ihn. »Ist das ein Vorschlag?«
M
an sah das Haus schon von weitem, die Vordertür befand sich genau an der Stelle, wo eine von Schuppenfichten ge säumte Auffahrt endete. Während Cashin fuhr, flackerte das Licht der tief stehenden Sonne irritierend zwischen den Bäu men. Auf sein Klopfen öffnete eine magere, runzelige Frau in einem dunklen Jogginganzug. Cashin sagte, was er wollte, zeigte seine Dienstmarke. »Er ist hinten«, sagte sie. »Im Schuppen.« Er ging über den betonierten Hof. Das Ganze hatte die Aura eines Low-Security-Gefängnisses - das Anwesen war einge zäunt, die Gebäude waren frisch gestrichen, in der Luft lag der Wassermelonenduft von frisch gemähtem Gras. Keine Bäume, keine Blumen, kein Unkraut. Der Schuppen, groß genug für einige Leichtflugzeuge, hatte an der Nordseite eine offen stehende Schiebetür. In der Tür öffnung tauchte ein Mann auf, als Cashin zehn Meter entfernt war. »Mr. Starkey?«, sagte Cashin. »Ja?« Er trug einen sauberen blauen Overall über einem karierten Hemd, ein massiger Mann, dick, aber kraftvoll, mit einem Kopf von der Form und Farbe einer geschrubbten Kartoffel. »Detective Senior Sergeant Cashin. Können wir uns unter halten?« »Ja.« Er machte kehrt und ging in den Schuppen.
Cashin folgte ihm. So sauber und ordentlich wie. vermut lich auch Mrs. Starkeys Küche, dachte er. Elektrowerkzeuge in Halterungen. Unter den Leuchtstoffröhren glänzten zwei lange Werkbänke mit galvanisierten Eisenplatten. Dahinter klemmten Werkzeuge an Stecktafeln - Schraubenschlüssel, Schraubenzieher, Zangen, Blechscheren, Bügelsägen, Stahlli neale, Schraubzwingen, Messschieber -, die der Größe nach in schnurgeraden Reihen angeordnet waren. Es gab eine große metallene Drehbank und eine winzig kleine, einen Bohrstän der, zwei Standschleifer, eine mechanische Bogensäge, ein Ge stell mit Schlitzen und Löchern für Feilen und Punzen und vieles mehr. In der Mitte des Raums, unter Kettenzügen, standen auf quadratischen Stahltischen vier alte, partiell zerlegte Motoren. Ein großer, dünner, wie Starkey gekleideter Jugendlicher stand an einem Schraubstock und feilte an etwas herum. Er musterte Cashin kurz, beugte sich dann wieder über seine Arbeit, eine Haarlocke hing herab. »Geh und red mit deiner M u m , Tay«, sagte Starkey. In der Gesäßtasche hatte Tay einen schmierigen Lappen. Den nahm er heraus, wischte sorgfältig die Arbeitsfläche sau ber, wischte seine Feile ab und steckte sie an ihren Platz. Er ging, ohne Cashin noch einmal anzusehen. Cashin schaute ihm nach. Er hielt die eine Schulter tiefer als die andere und schob sie beim Gehen vor, was an den Gang einer Krabbe erinnerte. »Sie arbeiten an den Motoren«, stellte Cashin fest. »Ja«, sagte Starkey. Seine Augen waren zu Schlitzen verengt. »Motoren von Bourgoyne & Cromie. Was kann ich für Sie tun?« »Reparieren Sie die?« »Ich restauriere sie. Die besten, die je gebaut wurden. Also was?« Cashin merkte, dass es keine Sitzgelegenheit gab. »Die A r m
banduhr, die Mr. Bourgoyne getragen hat«, sagte er. »Können Sie die identifizieren?« »Ja, schätze schon.« Cashin holte eine Farbkopie der Broschüre heraus, die so gefaltet war, dass man nur die Uhr mit dem schlichten weißen Zifferblatt und den drei kleinen Hilfszifferblättern sah. »Ja, das ist sie«, sagte Starkey. »Diese Uhr hat er an jenem Tag getragen?« »Die hat er jeden Tag getragen.« »Danke. Jetzt noch ein paar andere Fragen.« »Wieso das denn? Die Bimbos aus der Daunt haben ihn totgeschlagen.« Ausdrucksloses Gesicht, graue, marmorne Augen. »Da sind wir uns nicht sicher.« »Ach ja? Der beschissene kleine Coulter ist wohl zum Schwimmen in den Kessel gesprungen? Die sind schuldig, und wie.« Starkey ging zur Tür und spuckte aus, wischte sich über die Lippen, kam zurück und baute sich vor Cashin auf, den Kopf fragend schräg gelegt. »Waren Sie an dem Abend damals zu Hause?«, sagte Cashin. »Sie und Tay?« Starkeys Augen wurden schmaler, bedrohlich. »Die Frage hab ich schon beantwortet. Was wollen Sie also, verdammt?« »Sie begleiten mich auf die Wache«, sagte Cashin. »Alle beide. Nehmen Sie die Zahnbürsten mit, man kann nie wissen.« Starkey bewegte den Unterkiefer, hoch und runter, hin und her. »Kennen Sie einen Cop namens Hopgood?«, sagte er dann. »Ich kenne ihn. Mann.« Cashin holte sein Handy hervor, hielt es ihm hin. »Rufen Sie ihn an«, sagte er. »Das tu ich, wenn's mir passt, verdammt.« »Soll ich ihn anrufen? Ich rufe ihn für Sie an.«
Starkey steckte beide Hände in die Hosentaschen. »Wir waren zu Hause, fragen Sie sie. Wir gehen abends kaum noch raus. Höchstens mal wegen Football.« »Arbeiten Sie immer noch in The Heights?« »Bis es verkauft ist, ja.« »Ist 'ne gut bezahlte Arbeit, in The Heights.« »Ach ja?« »Etwa viermal so viel wie ein Gärtner hier sonst kriegt. Viel leicht fünfmal.« »Wir sind zu zweit.« »Also das Doppelte.« »Ist doppelt so viel Scheißarbeit wie sonstwo.« »Sie haben ihn auch durch die Gegend gefahren.« Starkey schüttelte den Kopf. »Hab ihn nicht durch die Ge gend gefahren. Hab ihn zur Bank gebracht, in die Stadt. Er fuhr nicht mehr gern Auto.« »Kennen Sie einen gewissen Arthur Pollard?« »Nein.« »Kennen Sie diesen Mann?« Er zeigte ihm das Foto von Pol lard, beobachtete Starkeys Augen. »Nein.« Cashin überlegte, wie er weiter vorgehen sollte, entschied sich für die sanftere Variante. »Mr. Starkey, ich kann Ihnen mitteilen, dass die Jungs aus der Daunt Mr. Bourgoyne unse rer Ansicht nach nicht überfallen haben. Wenn Sie uns also sagen können, was Sie womöglich gesehen oder gehört haben, ob es irgendeine Vermutung gibt, die Sie vielleicht...« »Nicht die aus der Daunt?« »Nein.« »Wieso das denn?« »Einiges passt nicht zusammen.« »Aber dieser Coulter wurde doch angeklagt?« »Wir dachten, er sei beteiligt, darum wollten wir ihn pro phylaktisch in Gewahrsam nehmen.« 1
»Was heißt das?« »Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie von der Sache hör ten?« Eine plötzliche Regung, etwas in Starkeys trübem Blick. »Tja, Schock, das war's, genau.« »Mehr nicht?« »Was denn noch? So was passiert hier in der Gegend nor malerweise nicht, oder?« »Mochten Sie ihn?« »Er war in Ordnung. Ja. Man kann ja wohl nicht erwarten, dass wir beide Kumpels geworden wären, oder?« »Wer hätte ihm etwas antun wollen?« »Von Diebesgesindel abgesehen?« »Ja.« »Keine Ahnung.« »Hatte Mr. Bourgoyne in letzter Zeit Besuch? Von seiner Stieftochter abgesehen?« »Nö. Hab keinen bemerkt.« »Gab es Einbrüche in The Heights, bevor dies passiert ist?« »Nicht, solange ich da bin. Ein paar Pferde sind mal geklaut worden. Die Diebe haben den Draht durchgeschnitten und von der unteren Koppel drei Pferde geklaut. Sie haben doch die Akten, oder?« »Wenn es gemeldet wurde.« »Warum sollte es nicht gemeldet sein?« »Crake. Wie sind Sie mit ihm klargekommen?« Starkey zuckte die Schultern. »Ging so. Er wollte, dass die Dinge auf seine A r t gemacht wurden. So habe ich sie halt ge macht.« »Er hat Bourgoyne bei dem Brennofen geholfen, stimmt's?« »Weiß nicht mehr genau.« »Sie haben im Camp der Companions gearbeitet.« Starkey kratzte sich wieder am Kopf, wirkte unsicher, sah Cashin nicht an. »Ist lange her«, sagte er.
»Sie kannten also Crake aus dem Camp?« »Ja. Er war der Chef.« »Was hatten Sie zu tun?« »Hausmeisterarbeiten. Hab auch ein bisschen FootballTraining gemacht. Den Kids gezeigt, wo's langgeht.« »Waren Sie in der Nacht da, als es brannte?« Die großen Hände wurden lebendig. »Nö. Im Pub in Port.« »Erzählen Sie mir, wie es war, wenn Sie ihn in die Stadt fuh ren. Wohin ging es dann?« »Zur Wohnung in der Relly Street. Von dort hat er Taxis ge nommen.« »Haben Sie da übernachtet?« »Hotel in St. Kilda. Gedding's Hotel.« Cashin ging zu den Motoren hinüber. »Ist das ein Genera tor?«, sagte er. »Jahrgang 56. So was Gutes kann man heute gar nicht mehr kaufen.« »Wie groß ist Ihr Grundstück?« »Elf Hektar.« »Bauen Sie was an?« »Nö. Hab das Haus in die Mitte vom Land gesetzt. Wollte keine Nachbarn hören. Jetzt beschwert sich der eine Scheiß kerl über die Motoren.« »Na«, sagte Cashin, »dann erzählen Sie ihm doch, Sie ver sorgen ihn bei Stromausfall mit Elektrizität. Ich könnte selbst einen Generator gebrauchen. Verkaufen Sie die?« »Verkaufe keine, ich mach das nicht zum Geldverdienen«, sagte Starkey. »Ich restauriere nur welche, an denen mein Opa und mein Dad mitgebaut haben. Sie haben ihre Initialien unter der Seriennummer eingraviert.« »Wie finden Sie die Dinger?« »Ich inseriere, in Queensland, WA, im Northern Territory. Lass die Versteigerer bei Räumungsverkäufen Ausschau hal ten, solche Sachen. Einen hab ich auf Fiji gefunden, total ver
rostet. Hat 'ne Stange Geld gekostet, ihn nach Hause zu schaf fen.« »Und Sie haben vier gefunden?« »Dreizehn. Hab noch einen anderen Schuppen.« »Wann hören Sie auf?« »Aufhören?« »Mit dem Sammeln.« »Muss nicht aufhören.« Es hatte keinen Zweck, nach dem Grund zu fragen. Meist war diese Frage ziemlich überflüssig. Entweder lag die Antwort auf der Hand, oder sie war zu kompliziert und daher unver ständlich. Cashin suchte nach der Motornummer. »Haben Sie Bourgoyne mal in ein Haus in North Melbourne gefahren?« »North... nein. Immer nur in die Relly Street.« Die Festung hatte einen Sprung, einen Haarriss. Er sah Star key nicht an. »Ein Saal in N o r t h Melbourne, und Sie haben ihn hingefahren.« »Ein Saal? N u r in die Relly Street.« »Der Saalbau der Companions. Sie kennen ihn, erzählen Sie mir keinen Scheiß, Mr. Starkey.« »Nein, kenn ich nicht.« Cashin ging zu einem anderen Motor. Es waren einfache Maschinen, wahrscheinlich konnte er lernen, wie man eine reparierte. Das war leichter, als eine ordentliche Suppe zu kochen. »Ihr Vater war bestimmt ganz schön sauer, als die Fa brik verkauft wurde.« Schweigen. Starkey hustete, war auf dem falschen Fuß er wischt worden. »Hat darüber nie ein Wort verloren. Mum hat's mir gesagt.« »Was hat er danach gemacht?« »Gar nichts. Er starb bevor die Abfindung ausgezahlt wurde. Irgendeine schlimme Gehirngeschichte.« »Das ist traurig.« Cashin sah ihn nicht an. »Ich werd Ihnen sagen, was eine schlimme Gehirngeschichte ist, Mr. Starkey.
Mich zu verarschen. Das ist eine ganz üble Gehirngeschichte. Erzählen Sie mir von dem Saal.« »Kenne keinen Saal.« »Ich muss mit Tay reden«, sagte Cashin. »Allein.« »Warum?« »Vielleicht hat er was gesehen. Was gehört.« Starkey glotzte Cashin an. »Der weiß doch gar nichts, Mann. War immer bei mir.« Cashin zuckte die Achseln. »Wir werden sehen.« »Hören Sie«, sagte Starkey, dessen Stimme jetzt anders klang. »Der Junge ist keine große Leuchte. Sie hat ihn hinfal len lassen, als er noch ganz klein war. Das Kerlchen hatte 'nen Kurzschluss im Kopf. War in der Schule zu nichts nütze.« »Holen Sie ihn her.« Starkey kratzte sich an der Kopfhaut, langsam, eindringlich. »Tun Sie mir einen Gefallen, Mann«, sagte er. »Lassen Sie ihn in Frieden. Er kriegt Alpträume. Schreit.« Der Augenblick der Macht. Cashin sah, dass Starkey Angst hatte. »Das ist wirklich schlimm. Holen Sie ihn her.« »Mann, bitte.« »Holen Sie ihn einfach.« »Ich ruf jetzt Hopgood an.« »Hören Sie zu, Starkey«, sagte Cashin. »Hopgood kann Sie nicht schützen. Die Ermittlungen laufen auf höherer Ebene. U n d weil Sie so verdammt unkooperativ sind, werde ich nicht hier mit Tay sprechen, auch nicht auf dem Revier, ich nehme ihn mit nach Melbourne. Packen Sie seine Zahnbürste, seinen Schlafanzug und ein paar Kekse ein. Was für Kekse mag er?« Er sah Hass in Starkeys Augen, und er sah die pure nackte Angst, Angst und Panik. »Das dürfen Sie nicht, Mann. Ich flehe Sie an, bitte. Ich bitte Sie...« »North Melbourne. Das Haus in der Collett Street. Sie ha ben ihn hingefahren?«
»Nein, hab ich nicht, Sie müssen...« »Reine Zeitverschwendung. Ich hab noch eine lange Fahrt vor mir. Sagen Sie mir die Wahrheit oder holen Sie Tay. Jetzt.« Starkey sah sich in dem Schuppen um, als stünde die Ant wort womöglich an einer der Wände, und er könnte sie von dort ablesen. »Also gut. Ich habe ihn hingefahren.« »Wann zuletzt?« »Vor fünf, sechs Jahren, keine Ahnung.« »Wie oft?« »Selten.« »Jedes Mal, wenn Sie nach Melbourne fuhren?« »Vermutlich.« »Wie oft war das?« Starkey schluckte. »Vier-, fünfmal im Jahr.« »Und der Saal?« »Den kenn ich nicht.« Cashin hörte den blechernen Unterton in der Stimme des kräftigen Mannes. Er holte das Foto von Pollard wieder hervor, hielt es Starkey aber nicht hin. »Ich frage Sie noch mal. Kennen Sie den Mann?« »Ich kenne ihn.« »Wie heißt er?« »Arthur Pollard. Er kam regelmäßig ins Camp.« »Woher kennen Sie ihn noch?« »Aus der Collett Street. Da hab ich ihn gesehen.« Cashin ging zu der Werkbank und fuhr mit einem Finger über das Stück Metall, an dem Tay gefeilt hatte. Es war irgend ein Ersatzteil. »Pollard ist pervers«, sagte er. »Wissen Sie das? Er mag Jungs. Kleine Jungs. Die fickt er. Genau wie die ande ren auch. Viele von denen, das können Sie mir glauben. Das wissen Sie doch, nicht wahr, Mr. Starkey?« Schweigen. Cashin sah Starkey nicht an. »Sie haben Ihren Jungen nicht in die Collett Street gebracht, Mr. Starkey, oder? Ihn Pollard zugeführt?«
»Ich bring Sie um«, sagte Starkey langsam, mit belegter Stimme. »Wenn Sie das noch mal sagen, mach ich Sie kalt.« Cashin drehte sich um. »Erzählen Sie mir von Bourgoyne.« Starkey hatte eine Hand auf den Brustkorb gelegt. Sein Ge sicht war orangefarben angelaufen, und er bemühte sich, die Atmung zu kontrollieren. »Hab nichts gesehen. Gar nichts. Ich schwör's. Ich hab nie was gesehen.« »Was ist mit dem Saalbau?« »War nur einmal da. Hab 'ne Menge Zeug abgeholt, Akten und so. Er sagte, ich soll's verbrennen.« »Bourgoyne?« »Ja.« »Wo haben Sie's denn verbrannt?« »Da konnte man's nicht verbrennen. Hab's mitgenommen, um's hier zu verbrennen.« »Dad.« Tay stand in der Tür, Kinn auf den Brustkorb gesenkt, schaute durch eine Strähne fahler Haare, die bis zur Nasen wurzel reichten. »Was ist?« »Mum fragt, Spaghetti bolo zum Mittagessen okay?« »Sag ihr, sie soll den Herd anwerfen, mein Junge.« Tay ging. Cashin trat zur Tür, drehte sich um. »Gehen Sie nirgendwohin«, sagte er. »Wir haben noch jede Menge Fragen. Und Sie erwähnen dieses kleine Gespräch niemandem gegen über. Falls Sie zu dem beschissenen Hopgood oder sonstwo hin laufen, komme ich wieder und nehme Sie und Tay mit, dann werden Sie beide in Melbourne in der Untersuchungshaft schmoren. Und zwar nicht zusammen. Ihn stecken wir zu den Typen, die Hunde ficken. U n d Sie auch.« »Ich hab das Zeug nicht verbrannt«, sagte Starkey leise.
C
ashin saß am Tisch und ging den Inhalt von Starkeys Kar tons durch. Erst nach einer halben Stunde stieß er auf ein Foto, einen Ausschnitt aus dem Cromarty Herald. Oben auf der Zeitungsseite stand das Datum, 12. August 1977. Die Schlagzeile über dem Foto lautete: SAUBERE LUFT TUT STADTJUNGS GUT Die Bildunterschrift hieß: Trainer Rob Starkey, Halbstürmer und Star von North Cromarty, feuert die Unter-Fünfzehnjährigen des Compa nions-Camp an, in der Halbzeitpause am Samstagvormittag bei ihrem Spiel gegen St. Stephen's. Die Stadtjungs, die dank der Moral Companions im Ferienlager bei Port Monro hoch willkommene Ferien verbringen, gingen 167/43 unter. Doch das Ergebnis war unwichtig. Es kam darauf an, ordentlich in der belebenden Luft herumzurennen.
Auf dem Schwarzweißfoto sah man Jungen in schlammver schmierten kurzen Hosen und dunklen Football-Trikots, die einem großen, bulligen Mann gegenüberstanden. Er hielt den Ball in den waagerecht ausgestreckten Händen und sagte ge rade etwas. Die Jungs, die Haare an den Seiten und hinten kurz geschoren, aßen Orangenviertel - saure Orangen, wie man aus dem verzerrten Gesicht und den geschlossenen Augen des am weitesten vorn stehenden Jungen schließen konnte. Im Hintergrund sah man Zuschauer, bis auf zwei nur Män
ner, warm angezogen gegen die Kälte. Zur Rechten zwei Män ner in Mänteln und vor ihnen ein kleiner Junge. Die Männer rauchten Zigaretten. Cashin stand vom Tisch auf und nahm den Zeitungsaus schnitt mit ans Fenster, hielt ihn in das schwächer werdende Licht. Er erkannte den einen der Männer, der einen Kamel haarmantel trug, von den Fotos in The Heights: Charles Bour goyne. Er hatte lange Finger. Der Mann rechts von ihm könnte Percy Crake sein - er hatte einen kleinen Schnauzbart. Cashin betrachtete die anderen Zuschauer: Männer in mitt leren Jahren, eine Frau mit Hakennase und Kopftuch, eine lachende Frau undefinierbaren Alters. Das Gesicht hinter Bourgoyne war abgewandt, ein junger Mann mit nach hinten gekämmten, kurzen Haaren, der irgendetwas an sich hatte. Gehörte der Junge zu Bourgoyne und Crake? Er runzelte die Stirn, schien in die Kamera zu blicken. Etwas in dem klei nen Gesicht ließ Cashin keine Ruhe. Er schloss die Augen und sah Erica Bourgoyne vor sich, wie sie ihm am Tisch in der Galerie gegenübersaß. James Bourgoyne. Der Junge mit dem traurigen Gesicht könnte der ertrunkene Jamie sein, Ericas Bruder, Bourgoynes Stiefsohn. Cashin widmete sich wieder den Unterlagen und suchte nach anderen Fotos. In einem Hefter fand er mehr als ein Dut zend Abzüge im Format 8 x 10. Die Anordnung war immer die gleiche: Jungs in Neuner- oder Zehnerreihen, die größten hin ten, die kleinsten vorn, auf einem Bein kniend. Sie trugen Unterhemden und dunkle Shorts, Tennisschuhe, kurze So cken. Der Mann mit dem Schnäuzer war auf allen Fotos zu sehen, immer rechts, ein wenig abseits. Die Arme hatte er ver schränkt, die geballten Fäuste unter den Bizeps. Er hatte stark behaarte Beine, massige Oberschenkel und muskulöse Waden. Links im Bild standen zwei andere Männer in Trainingsanzü gen. Einer der beiden, ein untersetzter, dunkelhaariger Mann
mit Brille, war auf allen Fotos vertreten. Der andere - groß, hager, lange Nase - nur auf fünf oder sechs davon. Cashin drehte ein Foto um: Companions-Camp 1979. Die Namen waren mit Bleistift und flüchtig hingeschrieben worden - hintere Reihe, mittlere Reihe, vordere Reihe. Links: Mr. Percy Crake. Rechts: Mr. Robin Bonney, Mr. Duncan Val lins. Vallins war der große, Bonney der dunkle, untersetzte Mann. Cashin suchte den einen Namen und fand ihn 1977. David Vincent stand in der mittleren Reihe, ein magerer, blasser Junge mit langem Hals; man sah den Adamsapfel und die Pickel auf seinen Schultern. Den Kopf hatte er leicht weg gedreht, besorgt, als befürchtete er, der Fotograf würde ihm körperlichen Schaden zufügen. Cashin las die anderen Namen, betrachtete die Gesichter, wandte den Blick ab und dachte nach. Er holte das Telefon, wählte und horchte, die Augen geschlossen. David Vincent war weg oder weggetreten. Er rief Melbourne an, musste war ten, bis Tracy dranging. »Zwei Namen«, sagte er. »Robin Bonney. Duncan Vallins. Weiß es sehr zu schätzen Rhabarber, Rhabarber.« »Ihr seid beide Klone von Singo«, sagte sie. »Du und der Chef. Hat dir das schon mal einer gesagt?« »Man hat mich mit dem jungen Clint Eastwood verglichen. Kannst du das nachvollziehen?« »Rhabarber, Rhabarber. Sprichst du etwa auch mit mir, wenn du das nächste Mal herkommst? Statt nur meine Gegen wart zur Kenntnis zu nehmen?« Auf dem Sofa erhob sich ein Hund, stellte träge die Pfoten auf den Boden und machte sich lang, den Hintern hoch über dem Kopf. Mit beleidigter Miene folgte der andere Hund sei nem Beispiel. »War furchtbar beschäftigt«, sagte Cashin. »Tut mir leid. Bist du immer noch mit dem Möbelpacker verheiratet?«
»Nein. Geschieden.« »Klar. Hast die Möbel gepackt. Tja, wenn ich das nächste Mal da bin, können wir noch ein paar andere private Infor mationen austauschen. Blutgruppen und dergleichen.« »Ich kann's kaum erwarten. Ich habe hier einen Robin Gray Bonney. Siebenundfünf zig Jahre. Passt?« »Könnte passen.« »Ehemaliger Sozialarbeiter. Laut Akte wegen sexuellen Miss brauchs von Kindern festgenommen. Zwei Urteile auf Bewäh rung. Dann hat er vier von sechs Jahren abgesessen.« »Passt immer besser.« »Tja, er ist tot. Zahlreiche Stichwunden, kastriert, verstüm melt und gewürgt. In Sydney. Marrickville. Das, das ist zwei Tage her. Keine Festnahme.« Cashin versuchte es mit den Dehnübungen, wollte die Schulterblätter lockern, doch sämtliche Muskeln verweigerten die Mitarbeit. »Weiter im Text«, sagte Tracy. »Vallins, Duncan Grant, drei undfünfzig Jahre, anglikanischer Pastor, Adresse in Brisbane, Fortitude Valley, aber die ist aus dem Jahr 1994. Hat eine Akte wegen Kindesmissbrauchs, Urteil auf Bewährung 1987. Hat 1994-95 ein Jahr abgesessen. Vermutlich ist er jetzt ein ehemaliger Pastor.« »Wie kommst du darauf? Trace, drei Dinge noch. Alle De tails über Bonney, die Verstümmelung. Zweitens, alles über Vallins, mach in Brisbane Dampf, sie sollen die Adresse über prüfen, und betone dabei, dass sie ihm keine Angst einjagen sollen. Dittens, sag Dove, wir brauchen den Untersuchungs bericht über einen Brand im Companions-Camp, Port Monro, im Jahr 1983.« Er stand am Fenster. Gezackte rosa Schnüre liefen den H i m mel hinunter, endeten auf dem schwarzen Hügel. In derselben Nacht, als bei den Companions das Feuer aus brach. Eine doppelte Tragödie.
Cecily Addisons Worte. Bourgoynes Frau fiel in der Nacht des Brandes die Treppe hinunter. Als Grund galten Beruhi gungsmittel. »Wenn ich's mir recht überlege«, sagte er, »fahre ich viel leicht in die Stadt. Richte das dem Chef aus, ja?« »Ich richte es allen Liebeskranken in diesem Haus aus. Dove ist hier, möchtest du ihn sprechen?« »Nein, aber stell ihn trotzdem durch.« Es klickte. »Tag auch«, sagte Dove. »Das CrimeStoppers-Protokoll über die Anrufe zu Bourgoyne. Hast du mal einen Blick rein geworfen?« »Wie, zum Teufel, sollte ich da einen Blick reinwerfen?« »Ich glaube, das hat noch keiner gemacht. In derselben Nacht, als es im Fernsehen kam, rief eine Frau an. Sie sah den Bericht und rief auf der Stelle an. Mrs. Moira Laidlaw. Sie sagte wört lich: Ich schlage vor, dass Sie Jamie Bourgoyne überprüfen.« »Das war's?« »Das war's.« »Nun, Jamie ist tot. Auf Tasmanien ertrunken.« »Man muss nicht ertrinken, um auf Tasmanien tot zu sein, aber ich dachte, es lohnte sich, da ein wenig herumzuriechen. Sagt man das so? Schnüffeln? Einen Riecher haben?« »Hast du mit ihr gesprochen?« »Ich weiß das erst seit zehn Minuten. Ich hab dich angeru fen, aber es war besetzt.« »Finde alles über den toten Jamie raus. Tracy sagt dir, was es sonst noch Neues gibt. Wir sehen uns morgen.« Cashin wusste, dass er eigentlich auf der Stelle aufbrechen, Villani Bescheid sagen, in den Wagen steigen und losfahren sollte. Er würde es nicht machen. War das jetzt noch wichtig?
I c h habe ihn ganz deutlich gesehen«, sagte die alte Frau mit trockener und präziser Stimme. »Ich wartete gerade neben der Ampel an der Toorak Road, als sie rot wurde und ein Auto hielt. Aus irgendeinem Grund sah ich hinein, und da war Jamie auf dem Beifahrersitz.« »Kannten Sie ihn gut, Mrs. Laidlaw?«, sagte Cashin. »Selbstverständlich. Er ist mein Neffe, der Sohn meiner Tochter. Er hat eine Zeitlang bei uns gewohnt.« »Aha. Und wann haben Sie ihn gesehen?« »Vor etwa sechs Wochen. An einem Freitag. Freitags gehe ich einkaufen und esse mit Freundinnen zu Mittag.« Es war kurz nach sechzehn Uhr, aber Cashin kam es in dem Wohnzimmer viel später vor, draußen war es trübe, eine Reihe Regentropfen wartete darauf, von einem dünnen Zweig zu fallen, der von der Terrassentür eingerahmt wurde. »Sie wissen aber, dass Jamie angeblich 1993 auf Tasmanien ertrunken ist«, sagte er. »Ja. N u n , offenbar ist er das nicht, denn ich habe ihn in der Toorak Road gesehen.« Cashin blickte Dove an, signalisierte ihm, dass er keinen Grund sah, die Identifizierung in Frage zu stellen. »Darf ich fragen, warum wir Ihrer Meinung nach im Zusam menhang mit dem Überfall auf seinen Stiefvater Jamie über prüfen sollten?« »Weil er lebt und zu so etwas in der Lage ist. Er hasst Charles Bourgoyne.«
»Wieso das denn?« »Ich habe keine Ahnung. Fragen Sie Erica.« Sie wandte den Kopf, und in dem Licht glänzten ihre kurzen Haare. »Wann haben Sie Jamie das letzte Mal gesehen?«, sagte Dove. »Das heißt vor der Toorak Road.« »Er kam zur Beerdigung meines Mannes. Tauchte in der Kirche auf. Weiß Gott, wie er davon erfahren hat. Hat mit kei nem geredet außer mit Erica. Kein Wort zu seinem Stiefvater.« »Mochte er Ihren Mann?«, sagte Cashin. Sie zupfte an nichts auf ihrer Strickjacke herum. »Nein. Und mein Mann hatte gewiss nichts für ihn übrig.« »Weshalb?« »Er mochte ihn nicht.« Cashin wartete, doch es kam nichts mehr. »Warum mochte er ihn nicht, Mrs. Laidlaw?« Sie schaute zu Boden. Eine taubengraue Katze war ins Zim mer gekommen und lehnte sich an ihr rechtes Bein. Das Tier musterte Cashin aus aschfarbenen Augen. »Mein Mann hat den Tod seines Neffen nie verwunden. Mark ertrank mit zehn Jah ren im Schwimmbecken. Jamie war hier. Und zwar er allein.« »Gab es den Verdacht, dass Jamie etwas damit zu tun hatte?« »Niemand sagte so etwas.« »Aber Ihr Mann war dieser Ansicht?« Sie musterte ihn kurz. »Jamie war drei Jahre älter als Mark, verstehen Sie.« Cashin spürte das seidige Fell der Katze, die sich um seinen Knöchel wand. »War das wichtig?« »Er sollte auf Mark Acht geben. Wir haben Mark sehr ge liebt. Er lebte bei uns, seit er sechs war. Er war für uns wie ein Sohn.« »Verstehe. Und Jamie kam zur Beerdigung Ihres Mannes?« »Ja. Ganz unerwartet hereingeschneit und angezogen wie eine A r t Hippiemusiker.« »Wann war das?«
»1996. Am zwölften Mai 1996. Am nächsten Tag kam er hierher.« »Warum das?« »Er wollte ein Foto von Mark haben. Er bat darum. Er wusste auch, wo die Fotos waren, wo wir Marks Sachen auf bewahrten. Er sagte, für ihn sei Mark wie ein Bruder gewesen. Wenig glaubwürdig, ehrlich gesagt.« »Und danach haben Sie ihn nie wieder gesehen?« »Nein, nicht vor der Toorak Road. Wie war's mit einer Tasse Tee? Ich könnte Tee machen.« »Nein danke, Mrs. Laidlaw«, sagte Dove. »Wie lange hat Ja mie bei Ihnen gewohnt?« Sie nahm die Brille ab, berührte behutsam einen Augenwin kel, und setzte sie wieder auf. »Nicht sehr lange. Knapp zwei Jahre. Er kam zu uns, als er nicht mehr im Internat wohnte. Sein Stiefvater bat uns darum.« »Und das war hier?« »Hier?« »Sie wohnten damals in diesem Haus?«, sagte Cashin. Mrs. Laidlaw betrachtete ihn, als wäre er nicht ganz dicht. »Wir haben immer hier gewohnt. Ich bin hier aufgewachsen, meine Großeltern haben dieses Haus gebaut.« »Und nachdem Jamie die Schule beendet hatte... ?« »Er hat die Schule nicht beendet. Er hat sie verlassen.« »Er hat die Schule abgebrochen?« »Ja. Und er hat uns verlassen. Er war im elften Schuljahr, als er eines Tages einfach verschwand.« »Wo ist er hin?« »Ich weiß es nicht. Erica erzählte mir, er sei irgendwann in Queensland gewesen.« Im Flur klingelte ein Telefon. »Entschuldigen Sie mich.« Cashin und Dove standen mit ihr auf. Sie schritt langsam zur Tür, und Cashin ging zur Terrassentür und sah hinaus in den
Garten, auf die großen, kahlen Bäume - eine Eiche, eine Ulme, ein ihm unbekannter Baum. Das Laub war nicht entfernt wor den und häufte sich in durchweichten Verwehungen. Eine Stützmauer war schief, etliche Steine waren locker. Bald würde sie zusammenbrechen, und man könnte die Würmer sehen. »Diese Bettelanrufe für wohltätige Zwecke«, sagte Mrs. Laidlaw. »Ich weiß wirklich nicht, was ich zu den Leuten sagen soll. Sie klingen so nett.« Sie setzte sich auf ihren Stuhl. Die Katze nahm auf ihrem Schoß Platz. Cashin und Dove setzten sich. »Mrs. Laidlaw, warum hat Jamie damals das Internat verlas sen?«, sagte Cashin. »Die Einzelheiten sind mir nicht bekannt. Das könnte Ihnen bestimmt die Schule sagen.« »Und aus welchem Grund verschwand er hier?« »Das fragen Sie am besten auch die Schule. Wenn ich be haupten wollte, es wäre keine große Erleichterung gewesen, müsste ich lügen.« Sie streichelte die Katze, sah das Tier dabei an. »Jamie war ein seltsamer Junge. Er hing sehr an seiner Mutter und ist offenbar nie über ihren Tod hinweggekommen. Aber da war noch etwas, er hatte etwas an sich...« »Ja?« »Still, immer auf der H u t und irgendwie ängstlich. Als be fürchtete er, man könnte ihm wehtun. Doch dann machte er diese schrecklichen Dinge. Als er einmal nach der Schule am Wochenende hier war, baute er sich Pfeil und Bogen und schoss auf die Nachbarkatze. Traf durch ein Auge. Er behaup tete, es sei ein Unfall gewesen. Aber als weiter unten in der Straße ein Hund angezündet wurde, wussten wir, dass es Jamie war. Und Marks Wellensittiche hat er im Pool ertränkt. In ih rem Käfig.« Sie schaute von Cashin zu Dove. »Er las immer die medizi nische Fachliteratur meines Mannes. Er saß dann im Arbeits
zimmer auf dem Boden und sah sich stundenlang anatomische Bücher an.« »Kennen Sie jemanden, zu dem er Kontakt haben könnte?«, sagte Cashin. Sie streichelte die Katze, hielt den Kopf gesenkt. »Nein. Er hatte einen Schulfreund, auch ein Problemkind. Er wurde an scheinend von der Schule verwiesen.« »Auf welche Schule ging er, Mrs. Laidlaw?« »St. Paul's. Alle Bourgoynes gingen auf die St. Paul's. Sie spendeten einen Haufen Geld.« »Sie sagten, er habe Charles Bourgoyne gehasst?« »Ja. Wie sehr er ihn hasste, wurde mir erst klar, als ich ihm vorschlug, doch einmal die Ferien bei Charles zu verbringen. Er verbrachte sie gewöhnlich hier. Daraufhin rannte er mit dem Kopf voran gegen die Haustür. Absichtlich. Und dann saß er auf dem Boden und schrie nein, nein, nein, immer und immer wieder. Die Kopfhaut musste mit sechzehn Stichen ge näht werden.« »Danke für Ihre Hilfe, Mrs. Laidlaw.« »So hatte ich Sie mir nicht vorgestellt.« Dabei sah sie Dove an. »Uns gibt es in allen möglichen Sorten«, sagte Cashin. Sie lächelte Dove an, ein herzliches Lächeln, als würde sie ihn kennen und große Stücke auf ihn halten. Sie gingen durch den Flur zur Haustür. Cashin sagte: »Mrs. Laidlaw, ich muss Sie das fragen. Haben Sie auch nur den lei sesten Zweifel daran, wen Sie in der Toorak Road gesehen haben? Ist es möglich, dass es nicht Jamie war?« »Keinerlei Zweifel. Ich bin geistig gesund, ich hatte die Brille auf, und es war Jamie.« »Haben Sie Erica erzählt, dass Sie ihn gesehen haben?« »Ja. Sobald ich nach Hause kam, rief ich sie an.« »Was hat sie gesagt?« »Eigentlich gar nichts. Ja, meine Liebe, so was in der Art.«
Ein leichter, aber steter Regen fiel auf die Männer, als sie über den schütteren Kiesweg und den Bürgersteig zum Fahr zeug gingen. In den Gossen floss das Wasser, trug Laub, Zweige und Eicheln mit sich. In irgendeinem finsteren Tunnel würden sie auf den menschlichen Abschaum der Stadt treffen und ge meinsam in der kalten, schiefergrauen Bucht enden. Der Gedanke kam Cashin, als sie am Wagen waren. »Bin gleich wieder da«, sagte er. Mrs. Laidlaw öffnete so rasch die Tür, als hätte sie dahinter gewartet. Er fragte sie. »Mark Kingston Denby«, sagte sie. »Warum?« »Nur der Vollständigkeit halber.« Im Wagen sagte Cashin: »Zur Schule. Der Freund, der von dort verwiesen wurde.«
D
er stellvertretende Schulleiter war Mitte fünfzig, trug einen grauen Anzug, war braungebrannt und sah so fit aus wie ein Skilangläufer. »Diese Schule gibt grundsätzlich keine I n formationen über jetzige oder ehemalige Schüler oder den Lehrkörper weiter«, sagte er. Er lächelte, zeigte die Zähne. »Mr. Waterson«, sagte Cashin, »wir werden Ihnen den Abend verderben. Binnen einer Stunde sind wir wieder da, mit einem Durchsuchungsbescheid und einem Lastwagen, in dem wir alle Ihre Akten abtransportieren. Und wer weiß, vielleicht tau chen plötzlich die Medien auf. Heutzutage kann man nichts mehr geheimhalten. Mit anderen Worten, St. Paul's wird heute Abend in sämtlichen Fernsehnachrichten auftauchen. Die El tern werden garantiert begeistert sein.« Waterson kratzte sich an der Wange, mit einem rosafarbe nen, akkurat geschnittenen Fingernagel. Er trug ein kupfernes Armband. »Ich muss mich beraten«, sagte er. »Bitte entschul digen Sie mich kurz.« Dove ging zum Fenster des Büros. »Dämmerlicht auf den Spielfeldern«, sagte er. »Wie in England.« Cashin betrachtete die Bücher des Vize-Schulleiters. Offen bar behandelten sie alle das Thema Unternehmensführung. »Wir haben diese Sache verbockt«, sagte er. »Und zwar gründ lich. N u r gut, dass Singo nicht da ist und es mitkriegt.« »Gott sei Dank waren wir es«, sagte Dove, »Stell dir vor, du hättest sie ganz allein verbockt. Oder wenigstens überwie gend.«
Die Tür ging auf. »Bitte folgen Sie mir, meine Herren«, sagte Waterson. »Ich habe unsere Justitiarin gerade noch aufhalten können. Sie arbeitet hier an zwei Tagen in der Woche.« Sie gingen durch einen Korridor und in einen großen, holz getäfelten Raum. Eine dunkelhaarige Frau in einem Nadel streifenanzug saß am anderen Ende eines Tischs, an dem min destens zwanzig Personen Platz fänden. »Louise Carter«, sagte Waterson. »Detective Cashin und Detective Dove. Setzen Sie sich bitte, meine Herren.« Sie setzten sich. Carter sah sie nacheinander an. »Diese Schule wacht äußerst sorgsam über die Privatsphäre ihrer Gemeinschaft«, sagte sie. Sie war um die fünfzig, hatte ein längliches Gesicht, straffe Haut um die Augen und eine leicht erstaunte Miene. »Wir beugen uns keinen Forderungen nach Herausgabe von Informationen, es sei denn, die betroffene Schulgemeinschaftsfamilie oder das betroffene Mitglied der Schulgemeinschaftsfamilie fordert uns dazu auf, und voraus gesetzt, die Person ist in der Position, eine solche Forderung zu erheben. Doch auch dann behalten wir uns das Recht vor, selbst zu entscheiden, ob wir Forderungen nachkommen.« »Das haben Sie sich auf die Hand geschrieben«, sagte Dove. »Ich hab gesehen, wie sie nach unten geschaut haben.« Sie fand das nicht lustig. »Die Schulgemeinschaftsfamilie, um die es hier geht, steckt bis zum Hals in der Scheiße«, sagte Cashin. »Ein schlichtes Ja oder Nein, wir haben es eilig.« Carter bewegte den Mund. »Sie können St. Paul's nicht ein schüchtern, Detective. Vielleicht ist Ihnen nicht bewusst, wel che Position unsere Schule in dieser Stadt einnimmt.« »Auch das ist mir scheißegal. Wir nehmen den ganzen La den auseinander. Dauert keine Stunde, dann geht's los. Das können Sie mir glauben.« Sie zuckte mit keiner Wimper. »Was wollen Sie über diese Schüler wissen?«
»Warum Jamie Bourgoyne als Internatsschüler flog, den Namen seines damaligen Freundes und warum der von der Schule verwiesen wurde.« Eine Kopfbewegung, die Ablehnung signalisierte. »Unmög lich. Verstehen Sie bitte, dass zwischen der Familie Bourgoyne und dieser Schule eine lange und enge Verbindung besteht. Leider können wir nicht...« »Bleiben Sie angeschnallt«, sagte Cashin. »Wir sind bald wieder da. Sie sollten vielleicht Ihren Lippenstift überprüfen, man wird Sie im Fernsehen bewundern können.« Cashin und Dove standen auf. »Moment«, sagte Waterson und erhob sich. »Ich glaube, die ser Forderung können wir nachkommen.« Er verließ den Raum, und die Frau folgte ihm mit klappern den Absätzen. Draußen gab es einen kurzen Wortwechsel, sie kam zurück und blieb am Fenster stehen. Dann setzte sie sich, und es war still, bis sie hustete und sagte: »Habe ich Sie beide nicht im Fernsehen gesehen?« Cashin betrachtete das ihm gegenüber hängende große Ge mälde, vertikale graue und braune Balken. Es erinnerte ihn an einen Pulli, den Bern früher getragen hatte und der von einer alten Verwandten gestrickt worden war; jemand mit Selbst achtung hätte das Ding kompostiert. Früher mal hätte er Wert darauf gelegt, dass diese Frau eine gute Meinung von ihm hatte. »Schon möglich, dass Sie mich gesehen haben«, sagte Dove. »Ich bin der verdeckte Ermittler. Manchmal habe ich einen Bart.« Waterson kam herein. Er legte zwei gelbe Aktenmappen auf den Tisch und setzte sich. »Ich werde mich mit all Ihren Fra gen in erzählerischer Form befassen«, sagte er in geschäfts mäßigem Ton. »Unterbrechen Sie bei Bedarf.« Die Frau sagte: »David, können wir...« »James Bourgoyne und ein gewisser Justin Fischer waren
in derselben Klasse und im selben Wohnhaus«, sagte Water son. Er sah erst die Frau, dann Cashin an. »Ich muss Ihnen ge stehen, dass ich James für einen schwer gestörten jungen Mann hielt. U n d Justin Fischer ist der gefährlichste Knabe, der mir in meinen sechsunddreißig Jahren im Erziehungswesen je begeg net ist.« Die Anwältin beugte sich vor. »David, eine derartige Offen heit ist absolut nicht erforderlich. Darf ich...« »Was ist passiert?«, sagte Cashin. »Unter anderem wurden sie verdächtigt, zwei Feuer gelegt zu haben. Das eine in einem Sportgeschäft, das niederbrannte, das andere in dem Wohnhaus.« »David, bitte.« »Eine Sache für die Polizei«, stellte Cashin fest. »Natürlich wurde die Polizei umgehend verständigt«, sagte Waterson, »aber wir teilten ihr unseren Verdacht nicht mit, und die Beamten fanden nichts. Stattdessen baten wir James' Stiefvater, ihn nur noch als externen Schüler zu schicken. Das war ein Versuch, die beiden zu trennen.« Die Anwältin hielt die Hände in die Höhe. »Das ist viel leicht der Augenblick...« »Im Nachhinein betrachtet«, fuhr Waterson fort, »hätten wir der Polizei alles erzählen und beide Schüler von der Schule verweisen sollen. In dieser Reihenfolge.« Die Frau sagte rasch: »David, bevor Sie noch ein weiteres Wort sagen, bestehe ich darauf, dass der Schulleiter verständigt wird.« Waterson sah sie nicht an, wandte den Blick nicht von Ca shin. »Louise«, sagte er, »der Schulleiter hat die moralische I n tegrität eines Pol Pot. Wir wollen unsere früheren furchtbaren Fehleinschätzungen nicht noch verschlimmern.« Cashin sah in den Augen des sonnengebräunten Mannes die Erleichterung, die er von Menschen kannte, die einen M o r d ge
standen hatten. »Fahren Sie fort«, sagte er. Jetzt hatte er das ge wisse Gefühl, wie ein Hustenkitzel im H i r n . »Nachdem Bourgoyne nur noch externer Schüler war«, sagte Waterson, »wurden in der Nachbarschaft Hecken in Brand ge steckt. Drei oder vier, ich weiß es nicht mehr genau. Dann wurde in Prahran ein sieben- oder achtjähriger Junge von zwei männlichen Jugendlichen an eine abgelegene Stelle gelockt und gefoltert. Es gibt kein anderes Wort dafür. Es dauerte nicht lange, und er wurde nicht schlimm verletzt, aber es war Folter, Sadismus. Einer unserer Schüler kam zu uns, er wohnte im Internat, und sagte, er habe um die fragliche Zeit Bourgoyne und Fischer in der Nähe des Tatorts gesehen.« »Haben Sie das der Polizei gesagt?« »Nein, zu unserer ewigen Schande.« »Der Schüler wurde nicht aufgefordert, zur Polizei zu ge hen?« »David«, sagte die Frau, »ich muss Sie jetzt auffordern, nicht...« »Man riet ihm davon ab«, sagte Waterson. »Auf Anweisung des Schulleiters riet ich ihm davon ab.« »Abraten«, sagte Dove. »Ist das dasselbe wie die Anwei sung, es nicht zu tun?« »So ziemlich«, sagte Waterson. »Danach verwiesen wir Bourgoyne und Fischer von der Schule. Noch am selben Tag. Das war der einzige richtige und anständige Schritt, den wir im Umgang mit diesem Paar vollzogen haben.« »Ich hätte gern Kopien der Akten, bitte«, sagte Cashin. »Das sind Kopien«, sagte Waterson. Er schob sie über den Tisch. »Danke«, sagte Cashin. Er stand auf und gab Waterson die Hand. Die Anwältin sah er nicht an. »Ich wüsste keinen erkennbaren Grund, weshalb wir die Schule erwähnen soll ten.« Als Cashin die Steintreppe hinunterging, öffnete er eine Akte.
»Ruf Tracy an«, sagte er zu Dove. Im Foyer reichte Dove ihm das Handy. »Tracy, Joe. Dies hat höchste Priorität, alles andere muss warten. Alles über einen Justin David Fischer. U n d zwar mit S-C-H-E-R. Der letzte Wohnsitz ist der seiner Tante, Mrs. K. L. Fischer, Hendon Street 19, Albert Park. Bitte Birk, dass sich sofort jemand darum kümmert.« »Wir sammeln alles über Jamie Bourgoyne und die gericht liche Untersuchung des Brandes im Camp der Companions. Damit befasst sich Fin.« »Sag ihm, er soll mich anrufen, ja?« »Und Brisbane hat die Adresse von Duncan Grant Vallins überprüft. Er ist vor zwei Jahren weggezogen. Etwas Aktuel leres haben sie nicht.« »Mist.« »Der Nachbar sagt, ein Typ habe sich letzte Woche nach ihm erkundigt. Lange Haare, Bart. Ein anderer saß im Wagen.« Im Halbdunkel stapften sie leise die kiesbestreute Auffahrt hinunter. Jungen in grünen Sakkos und grauen Flanellhosen kamen rechts von ihnen einen Weg entlang. Der bleiche Knabe vorn aß Pommes aus einer Schachtel. E i n Junge hinter ihm nahm ihn in den Schwitzkasten und riss ihm den Kopf nach hinten. Ein anderer Junge kam vorbei, nahm ihm im Vorbeige hen die Schachtel weg, ging weiter und steckte sich ein Pom messtäbchen in den Mund. »Zehntes Schuljahr, Leistungskurs Mundraub«, sagte Dove. »Kleine Feldübung.«
W
as hast du über ihn gefunden?«, sagte Cashin. Sie standen an einer Ampel in der Toorak Road. Drei Blondinen überquerten die Straße, die feuchten Haare nach hinten ge kämmt, kein Make-up, die Gesichter von einem Fitnesskurs nach der Arbeit gerötet. »Mein Gelübde«, sagte Dove. »Diese Dinger wurden ge schickt, um uns in Versuchung zu führen.« »Er stand nie in den Wählerlisten«, sagte Finucane. »Wurde nie bei einer Krankenversicherung oder für die Stütze regis triert, für nichts. Ein Führerschein wurde 1989 in Darwin ausgestellt. Von da an ist er unterwegs. Kleinere Drogensachen in Cairns, Festnahme wegen Angriffs auf einen Zwölfjährigen in Coffs Harbour. Verfahren eingestellt. Auf Bewährung ausge setzte Strafe wegen Körperverletzung in Sydney, 1986. In einem Park, sechzehnjähriges Opfer. 1987 Heroinbesitz in Sydney. 1990 zwei Jahre Haft für schweren Einbruch in Melbourne.« Die Ampel wurde grün. Ohne nach rechts oder links zu sehen, schob eine alte, bucklige Frau in einem durchsichtigen Plastikregenmantel mit gesenktem Kopf einen kinderwagen artigen selbstgebauten Einkaufswagen auf die Kreuzung. »Wie Kolumbus«, sagte Dove. »Ahnungslos ins Unbe kannte.« Der Wagen hinter ihnen hupte, zweimal lang. Dove wartete, bis die Frau die Kreuzung überquert hatte und in Sicherheit war, dann fuhr er langsam an und behielt die Geschwindigkeit bei, provozierend und demonstrativ.
»Red weiter«, sagte Cashin. »Mehr ist nicht. Jamie kam 92 aus dem Knast und ertrank angeblich 93 auf Tassie.« Cashin sagte: »Fin, Tracy ist an diesem Fischer dran. Be schaff dir alles, was sie hat, und ruf mich an, klar? Außerdem hat sie Infos über einen Duncan Grant Vallins. Er ist Pädo, ehe maliger anglikanischer Seelenhirte, Adresse unbekannt; finde raus, ob er in unserem System steckt, finde raus, ob die Kirche irgendwas über ihn weiß. Sag dem für die kirchliche Öffent lichkeitsarbeit zuständigen Chorknaben, sie sollen gefälligst kooperieren oder sich auf Gegenwind einstellen. Und zwar heute in den Abendnachrichten.« »Chef.« »Und noch eins. Probier's mit dem Namen Mark Kingston Denby. Ruf Dove an, wenn du was erfährst.« »Chef.« Cashin schloss die Augen und stellte sich die nackte Helen Castleman vor. So glatt. Nacktheit und Sex änderten alles. Nie wieder würde ein Sandwich mit Schinkenspeck, Zwiebel und Tomate so schmecken. »Wohin?«, fragte Dove. »Queen Street. Kennst du die?« »Hab den Stadtplan memoriert, meine erste Amtshandlung.« »Dann findest du immer einen Job als Taxifahrer. Wahr scheinlich eher früher als später.« In der Queen Street sagte Dove: »Auch wenn ich zugebe, dass ich vielleicht ein wenig wie ein...« »Hier«, sagte Cashin. »Park da drin. Ich w i l l mit Erica Bour goyne reden.« »Bisschen spät am Tag, oder?« »Sie ist Anwältin. Die gehen nicht nach Hause.« Cashin hatte die Tür geöffnet, als Doves Handy klingelte. Er wartete, während Dove dranging, den Finger hob. »Ich geb ihn dir«, sagte Dove und hielt Cashin das Telefon hin.
»Chef, ich hab einen Kirchenheini erwischt, der mir sofort Duncan Grant Vallins' Adresse gegeben hat«, sagte Finucane. »Er wohnt in Essendon, St. Aidan's Knabenwohnheim. Das ist zwar geschlossen, aber der Typ sagte, bedürftige Kirchenleute kommen da manchmal unter.« »Was er wohl mit bedürftig meint?«, sagte Cashin. »Die Adresse?« Inzwischen war die Nacht über sie hereingebrochen, Regen verwischte die Lichter, tropfte von den Straßenbäumen, der Gehsteig eine Abfolge bleicher Gesichter über dunkler Klei dung. »Und Mark Kingston Denby, den hab ich auch gefunden. Kam vor neun Wochen aus dem Knast. Sechs Jahre für bewaff nete Raubüberfälle. Es gibt da einen Mittäter.« »Ja?« »Einen Justin Fischer«, sagte Finucane. »Er hat dieselbe Strafe bekommen.« Cashin überlegte, ob er Villani anrufen sollte, entschied sich dagegen und sagte Dove, wohin er fahren sollte.
D
ie Scheinwerfer beleuchteten die Pfosten und die beiden Torflügel: schmiedeeisern, verziert, ganze zwei Meter hoch, früher einmal angestrichen, jetzt herbstfarben und ab blätternd. Dahinter lag eine Auffahrt, und das Scheinwerfer licht warf die Schatten des Tors auf dunkle, üppig wuchernde Vegetation. »Wenn der Mistkerl zu Hause ist, nehmen wir ihn in Schutz haft«, sagte Cashin. Mittlerweile tat sein ganzer Oberkörper weh, und Schmerzpfeile fuhren ihm bis in die Beine. Dove schaltete den Motor und die Beleuchtung aus. Hier war die Straße dunkel, die nächste Lampe stand auf der ande ren Seite, fünfzig Meter entfernt. Sie stiegen aus, in den kalten Abend, der Regen legte eine Pause ein. »Was machen wir jetzt?«, sagte Dove. »Anklopfen«, sagte Cashin. »Was soll man sonst machen?« Er probierte es am Tor, streckte die Hand durch eine Öff nung, fand einen Hebel, schob ihn mit einiger Mühe hoch, Metall quietschte. Zuerst rührte sich der rechte Torflügel nicht, schwang beim zweiten Stoß locker auf. »Lass es offen stehen«, sagte Cashin. Seite an Seite gingen sie die Auffahrt hoch, bemüht, die nassen Büsche nicht zu streifen. »Bist du bewaffnet?«, sagte Dove. »Ganz ruhig«, sagte Cashin, »es geht um einen alten ehema ligen Pastor und Päderasten, nicht um eine wüste Party bei den Hell's Angels.« Er wusste, dass er seine Waffe eigentlich dabei
haben müsste. Er hatte es sich abgewöhnt, den Instinkt einge büßt. Das Haus kam in Sicht, einstöckig, Backstein, Bogenfenster, eine Treppe führte auf eine lange Veranda und zu einer von bleiverglasten Fenstern flankierten Haustür. In einem Fenster zur Linken sah man einen Spalt breit Licht, ein Vorhang war nicht ganz zugezogen. »Da ist jemand zu Hause«, sagte Cashin. »Ein Bedürftiger.« Sie stiegen die Treppe hinauf; er griff nach einem massiven Messingring, klopfte ein paarmal, wartete, hämmerte erneut. »Wer ist da?« Eine feste männliche Stimme. »Polizei«, sagte Cashin. »Schieben Sie Ihren Ausweis durch den Brief schlitz.« Cashin bedeutete Dove, seinen Dienstausweis herauszuho len und durch den Schlitz zu schieben. Sie hörten zwei Riegel zurückgleiten. Die Tür öffnete sich. »Worum geht's?« Ein großer, unrasierter Mann, schwarz gekleidet, Dreifachkinn, runde Brille, nach hinten gekämmte, dünne graue Haare, pomadig, an den Spitzen gelockt. »Duncan Grant Vallins?« »Ja.« »Detective Senior Sergeant Cashin, Detective Dove. M o r d dezernat.« »Was wollen Sie?« »Dürfen wir hereinkommen?« Vallins zögerte, gab den Weg frei. Sie betraten eine Ein gangshalle mit Marmorboden, in deren Mitte eine nach oben hin zweigeteilte Treppe auf die rechte und die linke Seite der Galerie führte. In sechs Meter Höhe hing ein ausladender kris tallener Kronleuchter. »Hier entlang«, sagte Vallins. Sie folgten seiner birnenförmigen Gestalt in einen Raum zur Linken. Es war ein großes Wohnzimmer, an der Decke eine matte Glühbirne ohne Schirm, neben dem Kamin eine Steh
lampe. Die Möbel waren alt und schäbig, nicht zueinander pas sende Stühle, ein durchgesessenes Sofa mit Chintzbezug. Es roch feucht, nach Mauskot und uraltem Zigarettenqualm, der Vorhängen, Teppich und Bezügen anhaftete. Vallins setzte sich auf den Stuhl neben der Lampe, schlug die Beine übereinander, rückte sie zurecht. Er hatte dicke Ober schenkel. Neben einer weißen Tasse glomm in einem Messing aschenbecher eine Filterzigarette; er griff danach, machte einen tiefen Zug, seine langen, dünnen Finger hatten die Farbe von Zimtstangen. »Was wollen Sie?«, sagte er. »Erinnern Sie sich an einen Arthur Pollard?«, sagte Cashin und betrachtete den Raum, die hohe Decke, die Ansammlung von Flaschen auf einem Beistelltisch, Whiskyflaschen, sieben oder acht, bis auf zwei alle leer. »Dunkel. Ist Jahre her.« »Robin Gray Bonney. Kennen Sie den?« Vallins saugte an der Zigarette, spie Rauch, wedelte mit einer Hand. »Auch schon lange her. Ewig und drei Tage. Warum?« »Charles Bourgoyne«, sagte Cashin. »Vermutlich können Sie sich an Charles erinnern. Dunkel. Aus grauer Vorzeit. Und natürlich an Mr. Crake.« Vallins sagte kein Wort, suchte in seiner Packung eine neue Zigarette, zündete sie an dem Stummel an, was nicht leicht war, da beide Hände zitterten. Er drückte die alte Kippe in dem Aschenbecher aus. »Was ist das für ein Quatsch?«, sagte er mit hoher, gequetschter Stimme. »Warum sind Sie hergekommen und belästigen mich?« »Vielleicht möchten Sie in Schutzhaft genommen werden«, sagte Cashin. »Vielleicht möchten Sie uns in Ruhe von dem Camp der Companions erzählen, von jener glücklichen Zeit. Auf den Fotos sahen Sie richtig fit aus. Damals haben Sie sich in Form gehalten, nicht wahr, Mr. Vallins? M i t den Jungs?« »Ich möchte Ihnen gar nichts erzählen«, sagte Vallins. »Kein einziges Wort. Sie können jetzt gehen.«
»Sie führen hier eine A r t Eremitendasein, hab ich Recht, Mr. Vallins? So ganz allein in diesem Haus für bedürftige Anglika ner?« »Das geht Sie nichts an. Sie wissen, wo die Tür ist.« Cashin sah Dove an. Dove wirkte bekümmert, kratzte sich an der Kopfhaut. Juckten Kopfhäute auch ohne Haare? Wie das? »Na schön«, sagte Cashin. »Wir verschwinden wieder. Wir lassen Sie allein, damit Sie darüber nachdenken können, wie Ihre Freunde Arthur und Robin gefoltert wurden. Bei Robin war's besonders schlimm. Dem hat man hinten etwas reinge schoben. Den Messerschärfer. Kennen Sie so ein Ding? Aus Stahl? Man glaubt, dass er über dem Gasherd heiß gemacht wurde. Glühend heiß. Kam vorne wieder raus.« Vallins verzog entgeistert das Gesicht. »Was?« »Gefoltert und ermordet«, sagte Cashin. »Bourgoyne, Bon ney, Pollard. Wir finden schon selbst nach draußen. Gute Nacht.« Cashin ging. Als er an der Tür war, sagte Vallins: »Warten Sie bitte, Detective, es tut mir leid, ich wusste nicht...« »Wir haben nur vorbeigeschaut, um Sie von der Sterberate unter Ihresgleichen zu unterrichten«, sagte Cashin. »Angebot wurde unterbreitet und abgelehnt. Das w i r d vermerkt. Viel Glück, und schlafen Sie gut, Mr. Vallins.« Sie waren in der Eingangshalle, Cashin vorneweg, gefolgt von Dove, Vallins einen Schritt dahinter. »Ich glaube, Sie könnten Recht haben, Detective«, sagte Val lins mit hoher Stimme. »Muss ich...« »Ich weiß, was du musst, Duncan«, sagte eine Stimme von oben, von der Galerie. »Du musst Buße tun für dein schmut ziges Leben und in Frieden mit Gott sterben.«
C
ashin sah den Mann nicht. Der Lichtschein aus dem Wohn zimmer war zu schwach. »Wer ist das?«, sagte er. Er wusste es. Jemand lachte, schrill, nicht der Sprecher. »Cops«, sagte er. »Ich rieche Cops, dreckige, stinkende, dumpfe Cops.« Cashin sah Dove an. Sein Blick war auf die Galerie gerich tet, mit der rechten Hand schob er den Mantel beiseite, Cashin sah die Pistolentasche, den Griff, Doves ausgestreckten Finger. Es knallte, grellrote Mündungsblitze. Dove wich zurück, drehte sich um zu Cashin, Cashin sah seine Brillengläser blitzen, sah, wie sein Mund sich öffnete, wie Dove sich mit den Händen an die Brust griff und seitlich um kippte. »EINER WENIGER!« Ein schriller Begeisterungsschrei. Cashin sah den Sicherungskasten an der Wand neben dem Buntglasfenster. Er stürzte sich darauf, zwei Schritte, duckte sich, hieb mit der linken Hand dagegen, sah am Rande seines Gesichtsfelds ein Aufblitzen, spürte, wie unterhalb der Schul terblätter ein Messer quer über seinen Rücken fuhr. »ZWEI WENIGER!« Stockfinster. Er kniete auf dem Boden, sein ganzer Rücken schien in Flammen zu stehen. Scheiße, dachte er. Mich hat's erwischt. »Bitte!«, rief Vallins. »Ich gebe euch Geld. Ich habe Geld!«
Cashin streckte die Hand aus und fand Doves Schulter, spürte Tuch, berührte sein Gesicht. Dove atmete. Cashin kroch zu ihm hinüber, hörte Dove leise röcheln. Er tastete nach Doves Pistolentasche, ließ die Hand den Körper hinabgleiten. Leer. O Gott, er hatte die Waffe rausgeholt und fallen lassen. Aber wo? »ICH K O M M RUNTER, JUNGS!« Die hohe, schrille Stimme. Cashin tastete hektisch den Boden ab, der Marmor war eis kalt. »Bitte!«, schrie Vallins. »Biiitte!« »Erst musst du Buße tun, Duncan«, sagte die tiefere, ruhi gere Stimme. Cashin kroch schnell, rechts von der Treppe war eine Tür, dorthin musste er kommen, ehe sie den Strom wieder einschal teten, sie hatten ihn am Sicherungskasten gesehen; sie wür den die Waffe finden, man ging nicht unbewaffnet los, dabei brauchte man das Scheißding nie, bis man es einmal so dringend brauchte, dass einem die Zähne wehtaten. Er stieß gegen eine Wand, stand auf, ging nach links, tastete, warf etwas um, einen Tisch, ein Gegenstand fiel zu Boden, zer brach. Bumm, Mündungsfeuer. Von der Treppe, aus halber Höhe. Cashin fand eine tiefe Nische, fand die Tür, fand den Tür knauf, drehte ihn, die Tür ging auf, er war drin. Ein Duft. Ein schwaches, ekelhaftes Parfüm. Mach die Tür nicht zu, sonst hören sie das Klicken. Ihm war schwindlig. Er stieß gegen etwas Festes, Hüfthohes, wandte sich nach rechts, tastete sich voran, es war die Rückseite von irgendetwas; es ging weiter, es endete, ein geschnitzter Pfei ler, er streckte die Hand aus und berührte eine Wand. Eine Kirchenbank. Dies ist eine Kirche. Eine Kapelle. Daher der Geruch.
Er machte einen Schritt nach vorn, die rechte Hand an der Wand, berührte etwas, warf es vom Sockel. Es fiel zu Boden, ein lauter Krach, er blieb stehen. »Da drüben«, sagte die erste Stimme. »Er ist da drüben. Er hat keine Knarre.« »Knall den Cop hier ab«, sagte Quietschstimme. »Blas ihm den Kopf weg.« »Nein, such den anderen Cop, Justie. Den hier lassen wir ausbluten. Er ist ein Lamm Gottes. Ich werde für ihn beten.« Cashin hörte ein Wimmern, einen schrecklichen Laut, eine Mischung aus Angst und Schmerz. Er versuchte, sich an das Dunkel zu gewöhnen, er blinzelte, versuchte rasch zu blinzeln, doch es ging nicht, seine Lider waren zu schwer. Der Blutverlust? Er schob die rechte Hand unter seinen Mantel, betastete den Rücken. Feucht. Warm. Ihn überkam das Bedürfnis, sich zu setzen. Er streckte die Hand aus, fand die Rückseite einer Bank, lehnte sich dagegen; es eilte nun nicht mehr, es war egal. Er würde hier sterben, in diesem eiskalten und übelriechenden Raum. Nein. Einen Weg hier raus. Finde die Tür. Folge der Wand. Seine Augen funktionierten nicht. Er war unter Wasser, schwarzes Wasser, nein, kein Wasser, es war dicker. Blut. Der Versuch, sich in Blut zu bewegen. Wasser und Blut. Diab und Dove, er hatte sie beide getötet. Er konnte die Zehen nicht mehr bewegen. Er spürte die Beine nicht mehr. Atmete nicht mehr. Er nahm die Hand von der Kirchenbank und fühlte, wie er fiel, sah etwas, einen Pfeiler, wollte ihn packen. Er war lose, fiel mit ihm. Etwas traf ihn am Kopf. Schreck liche Schmerzen, dann nichts mehr.
E
r lag im Krankenhaus, hatte etwas Kaltes im Gesicht, sie
wischten einem mit feuchten Tüchern das Gesicht, jemand
sprach laut. Nicht zu ihm. Es war nicht in der Nähe, es war das
Radio, der Fernseher...
Cashin schlug die Augen nicht auf. Er wusste, er war in kei
nem Krankenhaus, sondern er lag auf etwas Steinhartem. A u f
einem Fußboden. Einem eisigen Marmorfußboden. Alles kam
zurück.
»Weißt du noch, was du mir angetan hast, Duncan?«, sagte
die Stimme. »Wie ich vor Schmerzen geschrien habe? Wie ich
um Gnade gebettelt habe? Weißt du das noch, Duncan?«
Schweigen.
Ich lebe, dachte Cashin. Ich liege auf dem Boden und lebe.
»Ich war so froh, als ich erfuhr, dass du Pastor geworden
bist, Duncan«, sagte die Stimme.
Jamie Bourgoyne. N u r dass er jetzt Mark Kingston Denby
war, sein toter Cousin.
»Wir haben beide unser Leben dem Herrn geweiht, Duncan«,
sagte Jamie. »Das verändert alles, nicht wahr? Ich war ein Sün
der. Ich habe schlimme Dinge getan, Duncan. Ich habe einigen
Geschöpfen Gottes furchtbares Leid zugefügt. Das wirst du
doch verstehen, nicht wahr? Natürlich tust du das. Schließlich
bist auch du nicht reinen Herzens vor den Herrn getreten.«
Ein Schrei der Pein.
»Der Herr wird dein Licht sein, Duncan. Denkst du an das,
was unser Heiland gesagt hat? Antworte mir, Duncan.«
Noch ein Schrei, Worte, gemurmelte Worte. »Duncan, unser Herr sagte: Die Tage deines Leides sollen ein Ende haben. Was für ein herrlicher Satz, nicht wahr, Dun can? Denn der Herr w i r d dein ewiges Licht sein, und die Tage deines Leides sollen ein Ende haben.« Der Schrei füllte die Kapelle, füllte Cashins Kopf, schien direkt aus dem Marmorboden in sein Ohr zu dringen. »Darf ich?«, sagte die hohe Quietschstimme. »Lass mich auch mal ran, Jamie.« »Bald, Justie, bald. Ich muss Duncan vorbereiten. Duncan, das Wort Leid, welch ein wichtiges Wort das doch ist. Egal, ob als Substantiv oder Verb - Leid, leiden. Sprich mir nach, Duncan. Sag: Die Tage deines Leides sollen ein Ende haben. Sag das, Duncan.« Cashin merkte, dass seine Augen funktionierten, er sah Licht. Es war Kerzenlicht, das sich bewegte, das flackerte, Schatten an die Wand warf, sie hatten darauf verzichtet, den Strom wieder einzuschalten, sie hatten Kerzen angezündet, Dove war tot, und sie dachten, er sei auch tot oder liege im Sterben. Blute aus. Ausbluten. Vallins krächzte etwas, versuchte, einen Satz zu bilden. »Ein Kind«, sagte Jamie. »Duncan, ein kleiner Junge. Hast du je so etwas wie Reue verspürt? Ich glaube nicht. Du und Robin und Crake. Ich war so traurig, als ich hörte, dass Crake starb, während ich im Gefängnis war. Der Herr wollte, dass ich mich auch seiner annehme.« »Lass mich mal ran«, sagte Justin. »Na los, Jamie.« Cashin versuchte, sich zu erheben, aber sein Körper war vollkommen kraftlos, er konnte sich nicht bewegen; am besten blieb er einfach liegen, sie würden Vallins umbringen und dann verschwinden. Er konnte die Luft anhalten. Er war Jamie gleich, ihn hasste er nicht. »Und in den Tagen werden die Menschen den Tod suchen«,
sagte Jamie, »und nicht finden; werden begehren zu sterben, und der Tod wird vor ihnen fliehen. Ich musste ins Gefäng nis gehen und mit bösen Menschen zusammenleben, um diese Worte zu verstehen. Verstehst du sie jetzt, Duncan?« »Bitte, bitte, bitte...« Ein Stöhnen, mehrfaches Stöhnen, schlimme, furchtbare Laute. »Oft wollte ich sterben, konnte aber nicht, Duncan. Heute weiß ich, der Herr wollte, dass ich mit meiner Qual lebe, weil er einen Auftrag für mich hatte.« »Lass mich, Jamie, lass mich«, bat Justin. »Ich war tot, und siehe, ich bin lebendig von Ewigkeit zu Ewigkeit und habe die Schlüssel der Hölle und des Todes. Kennst du diese Worte, Duncan? Apostel Johannes. Die Schlüs sel der Hölle und des Todes. Der Herr hat sie mir gegeben. Ist das für dich die Hölle, Duncan? Ist sie das?« Ich bleibe einfach hier liegen, dachte Cashin. Ich habe Dove getötet, sie foltern einen Mann zu Tode. Was soll ich Singo sagen, falls ich am Leben bleibe? Nicht Singo. Was soll ich V i l lani sagen. Fin. Birkerts. Ich bin Polizist, Herrgott noch mal. »Der Herr will, dass du die Bedeutung von Schmerzen ken nen lernst, von Schmerzen und Angst, Duncan«, sagte Jamie. »Er wollte, dass auch Charles sie kennenlernte, wegen alledem, was Charles mir angetan hat. U n d dein Freund Robin auch. Weißt du, dass ich eure Gesichter nie vergessen habe, deins und Robins? Es heißt, Kinder erinnern sich nicht an die Gesichter der Menschen. Manche schon, Duncan, sie sehen sie in ihren Alpträumen.« Ein gellender Schrei, ein grellroter Speer aus Schmerz. »Mut, Duncan. Robin war überhaupt nicht mutig, er konnte sich glücklich schätzen, dass wir es so eilig hatten. U n d dann Arthur Pollard. Ich kannte Arthur nicht, aber der Herr brachte mich im Gefängnis mit einem Mann zusammen, einem sehr traurigen Menschen, und der erzählte mir von Arthur.« Stöhnen. »Bitte. O Gott, ah, ah...«
»Ich warte, ob's jemand jammere - aber da ist niemand -, und auf Tröster - aber ich finde keine«, sagte Jamie. »Und sie geben mir Galle zu essen und Essig zu trinken in meinem gro ßen Durst. Duncan hat Durst, Justie, gib ihm was zu trinken.« Ein Geräusch, ein Gurgeln, Husten, Würgen. »Na, schon besser, nicht wahr?« Stille. »Fertig, Duncan, jetzt kriegst du keinen Ton mehr raus, stimmt's? Du siehst aus wie ein Schwein, Duncan. Sprichst du im Stillen ein Gebet? Zu dem Tier? Du kannst nur zu dem Tier beten, nicht wahr? Hier, Justie, der Herr will, dass du Duncan losschickst, damit er seinen König, das Tier, trifft.« Cashin hievte sich auf die Knie, hob den Kopf, den schwe ren. Flackerndes gelbes Licht. Etwas lag auf einem kahlen stei nernen Altar, ein fleischiges, rosafarbenes, mit einem Seil zu sammengebundenes Etwas, wie ein zum Braten geschnürtes Stück Fleisch. Es blutete überall, das Blut floss in Strömen. Zwei Männer standen am Altar. Der Kleinere rechts hielt ein Messer hoch, das Kerzenlicht spiegelte sich in der Klinge. Der andere, größere Mann hielt das Etwas, hielt Vallins, hielt des sen Kopf, Cashin sah, dass es sein Kopf war; der Mann, Jamie, hielt Vallins' Kopf an den Ohren, an den Haaren und an den Ohren, er schien Vallins' Kopf zu küssen... Nein. Cashin schüttelte den Kopf, es geschah von selbst, ohne dass sein H i r n den Befehl ausgesandt hätte. Er versuchte aufzuste hen. Etwas lag auf dem Boden, ein Pfahl, nein... ja, ein Pfahl und oben daran ein Kreuz, ein Messingkreuz mit spitzen En den, keine Pfeilspitzen. Nein, keine Pfeilspitzen. Diamanten, ja, Diamanten. Er legte die Hand darauf, wollte ihn greifen, konnte nicht zupacken, konnte den Pfahl nicht richtig fühlen.
Dann packte er ihn und stand auf, für ihn selbst über raschend, er stand aufrecht und hielt den Pfahl mit dem Kreuz in der rechten Hand. Er sah sie an. Sie sahen ihn nicht an. Sie hatten ihn nicht gehört. »Geh in die ewigen Feuer, Duncan«, sagte Jamie. »Schick ihn dorthin, Justie.« »Nein«, sagte Cashin. Sie wandten ihm die Köpfe zu. Cashin warf den Pfahl mit dem Messingkreuz. Er hing in der Luft. Justin drehte sich um, das lange Messer in der rechten Hand. Die diamantförmige Spitze drang in seinen Hals, in die Ver tiefung zwischen den Schlüsselbeinknochen. Dort blieb sie stecken, die Stange federte nach. Justin hob die Hände an den Hals, umfasste den heiligen Speer, machte einen Schritt, einen unsicheren Schritt, sein linkes Bein gab unter ihm nach, seine Füße glitten aus auf dem kalten, harten Fußboden. »Festgenommen«, sagte Cashin mit belegter Stimme. Jamie hielt immer noch Vallins' Kopf und schaute hinunter auf Justin. »Justie«, sagte er. »Justie.« Er ließ den verschnürten Vallins loß und kniete nieder. Cashin sah nur seinen Schädel von oben. »Justie, nein«, sagte Jamie. »Justie, nein, Justie, nein, nein, Justie nein, mein Liebling nein, Justie, nein, nein, neiiin...« Cashin ging den Weg zurück, den er gekommen war. Er schien lange zu brauchen, bis er zur Tür der Kapelle gelangte. Er ging quer durch die Eingangshalle bis zum Sicherungskas ten, fand die Hauptsicherung. Das Wohnzimmerlicht ging an. Doves Pistole lag fast vor seinen Füßen. Als er sich bückte, um sie aufzuheben, fiel er um, stand auf, probierte es erneut, nahm die Waffe. Er sah Dove nicht an, sondern ging zurück in die Kapelle, durch die Tür, fand einen Lichtschalter, ging durch
den Mittelgang und blieb drei oder vier Meter vor dem Altar stehen. Jamie beugte sich über Justin. Überall war Blut. Er sah Cashin an, stand auf, das Messer in der Hand. »Festgenommen«, sagte Cashin. Jamie schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Jetzt muss ich dich töten.« Cashin hob Doves Pistole und zielte auf Jamies Brustkorb; man zielte auf die breiteste Stelle, betätigte den Abzug. Jamie legte den Kopf schräg wie ein Vogel. Lächelte. Hab ihn verfehlt, dachte Cashin. Wie hab ich das gemacht? Er sah Jamie nicht besonders gut, die Waffe war zu schwer, er konnte sie nicht hochhalten. »Der Herr will nicht, dass ich sterbe«, sagte Jamie. »Er will, dass du stirbst, weil du mir Justie genommen hast.« Er ging mit ausgestrecktem Messer auf Cashin zu. Cashin sah das Licht auf dem Messer, sah das Blut. Seine Beine gaben nach, er konnte nicht mehr stehen, er fiel zu Boden... Das Messer, Jamies Augen über ihm, so nah. »Jetzt musst du zu deinem Vater beten, der da ist im H i m mel«, sagte Jamie. »Vater unser«, sagte Cashin.
S
oll ich die wirklich nicht tragen?«, sagte Michael.
»Nein«, sagte Cashin. Die kleine Tasche wog fast nichts Zahnbürste, Rasierer, Schlafanzug, alles, was sein Bruder ihm
ins Krankenhaus gebracht hatte. Sie standen da und warteten
auf den Fahrstuhl, verlegen, Schulter an Schulter.
»Ich hab einen neuen Job«, sagte Michael. »In Melbourne.
Eine kleine Firma.«
»Das ist gut«, sagte Cashin. Er hatte von Dove geträumt, wie
er mit Dove durch eine Straße ging, und dann war Doves Ge
sicht zu dem von Shane Diab geworden.
»In vierzehn Tagen fange ich an. Hab mir überlegt, ich
komme vielleicht für eine Woche oder so runter, ich könnte dir
beim Bauen helfen. Nicht dass ich schon mal was gebaut hätte.
Allerdings habe ich im Fitnessstudio ein paar Muskeln aufge
baut.«
»Keine Erfahrung nötig. N u r rohe Kraft.«
Der Aufzug kam, er war leer. Drinnen stellten sie sich mit
dem Gesicht zur Tür hin.
»Joe, was ich dich fragen wollte«, sagte Michael, den Blick
auf den Etagenanzeiger gerichtet. »Es w i l l mir nicht aus dem
Kopf...«
»Was denn?«
»Unbewaffnet da hinzugehen. Das war doch kein selbstzer
störerischer Impuls, oder? Ich meine...«
»Das war ein kolossal dämlicher und arroganter Impuls«,
sagte Cashin. »So was ist meine Spezialität.«
Villani wartete im Foyer. Er gab Michael die Hand. Sie gin gen durch die Schiebetüren, die Rampe hinauf und seitlich an dem Gebäude entlang. Es war die Phase zwischen zwei Regen schauern, große, zackige Löcher in der Wolkendecke, ein end los weiter Himmel. »Wir sehen uns in einigen Tagen«, sagte Michael. »Kauf ein Paar Handschuhe«, sagte Cashin. »Arbeitshand schuhe.« Finucane hatte den Wagen hinter dem von Villani geparkt. Er kam ihnen entgegen. »Tach auch, Chef«, sagte er. »Geht's gut?« »Prima«, sagte Cashin. »Steig mal kurz ein«, sagte Villani. »Du auch, Fin.« Cashin stieg auf der Beifahrerseite ein. Typischer Polizeiwa gengeruch. »Du siehst aus wie der Tod persönlich«, sagte Villani. »Heißt das etwa, sie haben in der Bude keine von diesen Sonnenbän ken?« »Ich war auch schockiert.« »Egal, bleich oder nicht, du und Dove, ihr seid mir schon ein verdammt bezaubertes Pärchen«, sagte Villani. »Und ich sagte bezaubert, nicht bezaubernd. Er kommt nächste Woche wie der raus, 'ne Blutgerinnung wie bei einem Hummer, sagt der Arzt.« »Einem Hummer?«, sagte Finucane von hinten. »Einem Hummer?« »Das hat er gesagt. Hör zu, Joe, muss dir einige Sachen er zählen. Erstens, Fin hat ein paar Informationen aus diesem irren Dave Vincent rausgeholt. Am Telefon, wohlgemerkt. Fin hat sein Notizbuch dabei. Schieß los, Fin.« Finucane hüstelte. »Er war in der Nacht des Brandes im Camp«, sagte er. »Damals hieß er Dave Curnow, der Name sei ner Pflegefamilie. Er sagte, er sollte zu irgendeiner Konzert veranstaltung mitkommen, wollte aber weglaufen, deshalb habe
er sich versteckt. Dann trafen zwei Männer ein, die eine Leiche aus dem Kofferraum eines Wagens holten. Eine kleine Leiche, wie er sagt.« Cashin schaute auf die Straße, den Verkehr sah er nicht. »Sie brachten die Leiche in das Haus, wo die Jungs schliefen. Als sie wieder gingen, sah er in dem Haus Flammen. Er lief weg, schlief am Strand, und am nächsten Tag machte er sich per Anhalter auf und davon. Er landete schließlich in Westaustra lien, ein zwölfjähriger Junge.« »Was ergaben die Autopsien der toten Jungen?«, sagte Ca shin. »Sie wurden von einem ortsansässigen Arzt durchgeführt«, sagte Finucane. »Anscheinend war das damals so. Sie starben an Rauchvergiftung.« »Alle drei.« »Genau.« »Etwas anderes wurde nicht erwähnt?« »Gar nichts, Chef.« Cashin bereute, dass er gefrühstückt hatte, Übelkeit stieg in ihm hoch. »Weißt du noch, wie der Arzt hieß?« »Ich hab's hier notiert. Castleman, Dr. Robert Castleman. Hat auch den Totenschein für Bourgoynes Frau unterschrie ben. Ein vielbeschäftigter Hausarzt.« Helens Vater. Cecily Addison hatte gesagt: Eine Menge Leute zeigten Interesse. Damals war Cromarty sozial gesinnt. Die Leute taten Gutes, und zwar nicht, damit ihre Namen in der Zeitung standen. Die Tugend ist sich selbst Lohn genug. »Jetzt kommt was Seltsames«, sagte Villani. »Dave Vincent erinnert sich an das Auto aus jener Nacht.« »Dave hat ein Faible für Autos«, sagte Finucane. »Er sagt, es war ein Merc, ein Kombi. Das weiß er, weil es der erste von Mercedes gebaute Kombi war. 1979.« »War das hilfreich?«, sagte Cashin.
»Ich hab ihn gefunden.« »Lass mich raten. Bourgoyne.« »Firmenwagen. Charles Bourgoyne und ein gewisser J.A. Cameron waren Direktoren.« , »Jock Cameron. Ein Anwalt aus der Gegend. Wer war in jener Nacht der im Camp anwesende Companion?« »Vallins«, sagte Villani. »Hast du was zu rauchen?«, sagte Cashin. Villani holte ein Päckchen hervor und drückte auf den Knopf neben dem Aschenbecher. Sie warteten stumm, zünde ten sich Zigaretten an. Das N i k o t i n traf Cashin wie ein Keulenschlag, er brachte eine Weile keinen Ton heraus, sagte dann: »Herrgott, wie sind sie damit bloß durchgekommen? Haben das Camp wie ein Bordell geführt, mindestens drei Jungs ermordet, aber kein Mensch rührt sich. Was waren das denn für beschissene Er mittlungen?« Villani kurbelte die vorderen Fensterscheiben runter, es roch nach Abgasen, nach frisch geschüttetem Asphalt. »Du musst noch etwas wissen. Vor zwei Tagen ist Singo gestorben. Wie der ein Schlaganfall. Ein schwerer.« »Mist«, sagte Cashin. »Tja. Mist.« Er spürte, wie die Tränen kamen, drehte den Kopf von Villani weg, blinzelte mehrmals. »Singo war beim Companions-Brand für die Ermittlungen zuständig«, sagte Villani. »Er war damals die Nummer zwei.« Cashin sah Singo vor sich, in seinem fadenscheinigen, zer rissenen Regenmantel, sah die verbrannten Ruinen des Camps, die Torpfosten im Gras, den kleinen Gürtel. Singo hatte Cro marty nie erwähnt. Spät am Abend, nach einem Drink, erzählte er von Jobs in Stawell und Mildura, in Geelong, Sale und Shep parton, von den Morden an reisenden Prostituierten in Ben digo, von dem Mann, der seinen Onkel und seine Tante auf der Tabakfarm bei Bright umgebracht und geplant hatte, Silofutter aus ihnen zu machen und sie an die Schweine zu verfüttern.
Singo verlor nie ein Wort über Cromarty. »Ich hab ein schlechtes Gefühl dabei«, sagte Villani. Er rutschte unbehaglich herum. »Wir haben seine Bankunterla gen überprüft. Ich hätte nie gedacht, dass dieser Tag kommen würde, nicht mal, wenn ich hundert Jahre... egal, da war nichts. N u r sein Gehalt und Dividenden von ein paar FostersAktien.« »Er hat ihr Bier nicht angerührt«, sagte Cashin. »Er konnte ihr Bier nicht ausstehen.« Villani sah ihn ohne Hoffnung an und schnippte seine Kippe aus dem offenen Fenster, traf beinahe eine Möwe, die beiseite hüpfte. Cashin musste an das Treffen auf dem Landungssteg denken, wie die Möwe im Flug die Fluppe gefangen hatte. »Vor drei Jahren«, sagte Villani, »erbte Singo eine Million Dollar von seinem Bruder. Derek. Derek hat die ganze Fami lie reich gemacht. Etwa vierzehn Millionen in der Erbmasse.« »Und?«, sagte Cashin. »Singo ist wie ein verdammter Papagei auf meiner Schulter, was ich heute bin, bin ich wegen ihm. Glaubst du, die Arbeit ist erledigt, mein Junge? Tja, leg noch eine Sonderschicht ein. Neunundneunzigmal ist es vertane Zeit. Doch dann kommt das eine Mal. Also hab ich, haben wir die Sonderschicht einge legt.« Dicke Regentropfen auf der Windschutzscheibe. Cashin dachte, er wäre jetzt gern zu Hause, in dem kaputten alten Haus, in dem kaputten alten Sessel, die Hunde sollten ihre Na sen in die Kissen unter seinen Oberschenkeln bohren, Feuer im Kamin, Musik. Am liebsten Björling. Zuerst wäre Björling dran. Björling und dann die Callas. »Jemand hat 1983 auf Bruder Dereks Konto zweihundert tausend Dollar eingezahlt«, sagte Villani. »Drei Tage nach dem Brand in Cromarty. Später, nach der gerichtlichen Untersu chung, bekam Derek noch mal zweihundert Riesen. Er kaufte Land an der Gold Coast. Er war nicht doof, unser Derek.«
Cashin sah Villani an. Villani erwiderte seinen Blick, tiefe Furchen zwischen den Augenbrauen, nickte kaum merklich, zog an seiner Zigarette, versuchte den Rauch aus dem Fenster zu blasen. Er kam zurück. »Singo hat von Bourgoyne Geld genommen?« »Es kam von einem Firmenkonto. Um herauszufinden, dass es Bourgoynes Geld war, muss man es über drei andere Firmen zurückverfolgen.« Cashin dachte, dass es im Leben keinen festen Grund unter den Füßen gab. N u r verschieden dicke Krusten über dem Schlamm. Schweigend saßen sie da und beobachteten drei Krankenschwestern, die Dienstschluss hatten, alle drei gleich groß, die mittlere fuchtelte mit den Händen, als dirigierte sie ein Orchester. »Für mich ist das wie ein zweifacher Tod«, sagte Villani. »Ich wache heute auf, und etwas fehlt, etwas ist weg.« »Sonst noch was?«, sagte Cashin. »Irgendwelche anderen Kleinigkeiten, die ich wissen sollte? Nein? Dann mach ich mich jetzt auf den Heimweg, danke fürs Kommen.« »Fin fährt«, sagte Villani. »Birkert ist bereits da unten, er ist fertig und nimmt Fin mit zurück. Wenn dir das nicht passt, kannst du ja 'n Taxi nehmen oder laufen.« Cashin wollte widersprechen, doch ihm fehlte die Kraft. »Da ist noch etwas«, sagte Villani. »Singos Anwalt hat ange rufen. Wir werden im Testament berücksichtigt, du, ich und Birk.« »Das Morddezernat, die letzte Bastion der Rechtschaffen heit in der gesamten Polizei«, sagte Cashin. »Meinen Anteil kann die Heilsarmee haben.« Unterwegs sagte Cashin: »Fin, ich muss noch in die Queen Street. Dauert nicht lange.«
E
rica Bourgoyne, hübsch und streng in Schwarz, stand hin
ter einem Schreibtisch mit Glasplatte. »Ich habe heute wirk
lich keine Zeit«, sagte sie. »Können wir es also kurz machen?«
»Das können wir«, sagte Cashin.
Er ließ sich Zeit, sah sich in dem großen, holzgetäfelten
Büro um, betrachtete die Bücherregale hinter Glas, die leder
nen Mandantensessel, die frischen Veilchen in einer Vase aus
geschliffenem Glas auf dem Fensterbrett, die nackten Platanen
äste draußen.
»Sehr nettes Büro«, sagte er.
»Kommen Sie bitte zur Sache.« Den Kopf schräg gelegt,
Tonfall und Miene einer Lehrerin, die sich mit einem begriffs
stutzigen Schüler abgibt.
»Ich dachte, ich unterbreite ihnen ein paar Dinge. Thesen.«
Sie schaute auf ihre Uhr. »Dafür haben Sie fünf Minuten.
Auf die Sekunde.«
»Ihr Bruder wurde von Ihrem Stiefvater sexuell miss
braucht, und das wissen Sie.«
Erica nahm Platz und blinzelte, als hätte sich in ihren Augen
etwas festgesetzt.
»Jamie und Justin Fischer folterten und töteten Arthur Pol
lard, und das wissen Sie wahrscheinlich auch. Jamie und Justin
ermordeten einen gewissen Robin Gray Bonney in Sydney,
was Sie vielleicht wissen oder auch nicht.«
Erica hielt die Hände in die Höhe. »Detective, das ist völ
lig...«
»Warum haben Sie nicht mir oder irgendwem erzählt, d^ass Mrs. Laidlaw Jamie gesehen hat?« Eine vage Handbewegung. »Moira wird alt, auf sie ist kein Verlass mehr...« »Mir schien Mrs. Laidlaw im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte zu sein. Für Sie stand fest, dass sie Jamie gesehen hatte. U n d Sie haben ihr geglaubt, nicht wahr? Danach haben Sie sich den Bodyguard genommen. Und zwar noch vor dem Überfall auf Charles.« »Detective Cashin, jetzt sind Sie zu weit gegangen. Ich sehe keinen Grund, dieses Gespräch fortzusetzen.« »Wir können es auch in Form einer offiziellen Befragung machen«, sagte Cashin. »Sagen Sie alle Termine ab, und beglei ten Sie mich in die St. Kilda Road. Ist wahrscheinlich besser so. Sie sind zu weit gegangen. Wir haben es hier mit einer Ver schwörung zu tun.« Schweigen. Sie hielt seinem Blick stand, doch ihn konnte sie nicht täuschen. »Sie haben mit Jamie gesprochen, stimmt's?«, sagte Ca shin. »Nein.« Erica schloss die Augen. Er sah das Geflecht ihrer Adern. Cashin sprach aus, was ihn schon lange beschäftigt hatte: »Nur Sie beide nach dem Tod Ihrer Mutter. Nachts ganz allein mit Charles in dem großen Haus. Was ist damals nachts vorgefal len, Erica?« »Joe, bitte nicht.« Sie hatte das Kinn gesenkt, eine Haarlocke fiel über ihre Augenbraue. »Bitte, Joe.« »Was ist in diesem Haus mit Ihnen geschehen, Erica?« Schweigen. »Wurden Sie Charles' kleines Frauchen? War das vor oder nach dem Tod Ihrer Mutter? Sie sind ihm nachgelaufen. Sie haben ihn vergöttert. Wussten Sie, dass diese Männer Jamie gefickt haben? Auch Charles hat das getan, wussten Sie das?«
Sie haue angefangen zu zittern. »Nein, nein, nein...« Es war kein Leugnen. Sie flehte ihn an, damit aufzuhören. »Sie glauben immer noch, dass der Tod Ihrer Mutter ein U n fall war, das stimmt doch, Erica? In derselben Nacht wie der Brand im Companions-Camp, wissen Sie noch? In der Nacht sind drei Jungs gestorben. Einen davon hat Charles eigenhän dig in The Heights ermordet. Hat Ihre Mutter etwas gesehen? Etwas gehört?« »Joe, nein, bitte, ich kann das nicht...« Cashin betrachtete ihren gesenkten Kopf; sie sagte etwas Unhörbares, sagte es zu sich selbst, immer und immer und immer wieder, ein Mantra. M i t Mantras kannte Cashin sich aus. Er hatte eine Million Mantras gesprochen, gegen die Schmerzen, gegen das Grübeln, gegen die Erinnerung, gegen die Nacht, die nicht von der Fins ternis lassen wollte. Sie richtete sich in ihrem Sessel auf, versuchte die Fassung zurückzugewinnen. Cashin wartete. »Was ändert das jetzt noch, Joe?«, sagte sie mit einer Stimme, aus der alles Leben gewichen war, einer alten Stimme. »Warum wollen Sie mir das entlocken? Macht Ihnen das Ver gnügen?« »Der Bodyguard«, sagte Cashin. »Was sollte das?« »Ein Mandant hat mich bedroht.« »Ich glaube Ihnen nicht. Wahrscheinlich wussten Sie immer, dass Jamie noch lebte. Sie haben ihn in Schutz genommen, hat ten aber auch Angst vor ihm. Das stimmt doch, oder?« Keine Antwort. »Sie haben zugesehen, als die beiden Pollard folterten, rich tig? In dem Saal war ein Sitz runtergeklappt. N u r einer. Auf dem saßen Sie, Erica.« Sie weinte tonlos, Tränen verschmierten ihr Make-up. »Hat Charles Sie an Pollard weitergereicht, Erica? Pollard
mochte auch kleine Mädchen. Wir haben die Fotos auf seinem Computer entdeckt. Sie wollten, dass Jamie Charles und Pol lard umbringt, nicht wahr? Bei Charles konnten Sie nicht da bei sein, aber Pollard wollten Sie sich nicht entgehen lassen. Das stimmt doch, hab ich Recht?« Erica fing an zu schluchzen, immer lauter, hielt den Kopf gesenkt, der Oberkörper zitterte. »Sind Sie bis zum Ende geblieben, Erica? Haben Sie ge klatscht, als sie ihn nach oben hievten? War das ein befreiendes Gefühl für Sie?« Eine Frau weinte, ihr ganzer Körper weinte, ihr ganzes We sen weinte. Cashin stand auf. »Sie sind ein kranker Mensch, Ms. Bourgoyne«, sagte er. »Aus Krankem erwächst Krankes. Danke für Ihre Zeit.« Ein starker Regen fiel auf die Queen Street. Fin stand in der zweiten Reihe, behinderte den Verkehr und las Zeitung. »Wie war's, Chef?«, sagte er. »Ziemlich banal«, sagte Cashin. »Bring mich nach Hause, mein Junge.«
E
r erkannte die Hunde nicht wieder. »Was hast du mit ihnen angestellt?«, sagte Cashin. »Sieh dir die Ohren an.« »Sie wurden zum ersten Mal in ihrem Leben ordentlich ge trimmt und gepflegt«, sagte seine Mutter. »Sie waren begeis tert.« »Sie stehen unter Schock. Sie brauchen psychologische Be treuung.« »Ich finde, sie sollten hierbleiben. Hier sind sie glücklich. Ich glaube nicht, dass sie in diese Ruine zurückwollen.« Cashin ging zum Wagen und öffnete eine Hintertür. Die Hunde guckten nur, rührten sich nicht. »Siehst du, Joseph«, sagte seine Mutter. »Siehst du.« Cashin pfiff, ein klarer Pfeifton, und zeigte mit dem Dau men Richtung Wagentür. Die Hunde rasten los, schafften es, sich gleichzeitig durch die Tür zu zwängen, und nun saßen sie kerzengerade da und schauten starr geradeaus. Cashin machte die Wagentür zu. »Ich bring sie zu Besuch vorbei«, sagte er. »Oft«, sagte seine Mutter. »Bonzo ist ganz vernarrt in die beiden. Sie sind seine besten Hundefreunde.« Cashin glaubte, eine Träne zu sehen. »Ich setze sie bei Bonzo ab, wenn ich in die Stadt fahre«, sagte er. »Vorausgesetzt, es w i r d nicht wieder Dioxin gespritzt.« Er ging zu ihr und küsste sie. »Du solltest dir überlegen, eine Therapie zu machen, Joseph«,
sagte sie und hielt seinen Kopf fest. »Dein Leben ist eine ein zige Aneinanderreihung furchtbarer Ereignisse.« j »Eine Pechsträhne, weiter nichts.« Er stieg ein. Sie kam ans Fenster. »Sie mögen Huhn, hast du Huhn?« »Filetsteak mögen sie auch. Sie kriegen tote Tiere zu futtern, die ich am Straßenrand auflese. Tschüs, Syb.« Auf der Heimfahrt ein letzter Rest Rosa am westlichen Himmel, während die Nacht das Land Graben für Graben, Tal für Tal in Besitz nahm. An der Kreuzung schaltete er die Scheinwerfer ein, und fünf Minuten später schwenkten sie über das dunkle Haus und einen Mann, der an der Mauer lehnte, eine Zigarette rauchte und eine Taschenlampe in der Hand hielt. Rebb kam zum Wagen und öffnete den Hunden die hintere Tür. »Herr im Himmel«, sagte er, »haben Sie die gegen andere eingetauscht?« Sie sprangen ihn an, freudig erregt. »Nicht meine Schuld«, sagte Cashin. »Das war meine M u t ter. Ich dachte, Sie wären weg?« »Bin weg, da war nichts, also kam ich wieder zurück«, sagte Rebb. »Der Alte ist nicht mehr so gut zu Fuß. Darum dachte ich mir, ich könnte ihm genauso gut zur Hand gehen und zwi schendurch ein bisschen an der Kathedrale arbeiten.« Sie gingen herum und sahen sich im Licht der Taschenlampe an, was Rebb getan hatte. »Ein bisschen«, sagte Cashin. »Das nennen Sie ein biss chen?« »Bern kam vorbei, hat mitgemacht. Bern hat eine echte Kod derschnauze, kann aber arbeiten.« »Das mit dem Arbeiten ist mir neu. Ein gutes Gedächtnis hat er, das weiß ich.« »Ach ja?« Rebb beleuchtete die neue Mauer, ging hin und fuhr mit dem Finger eine Fuge entlang. »An dem Tag, als er den Wassertank gebracht hat. Er hat sich
an Sie erinnert, aus grauer Vorzeit, als ihr Kinder wart. Hat ge gen Sie Football gespielt. Gegen das Companions-Camp.« Rebb sagte: »Tja, das ist mir neu. Hab noch nie vom Com panions-Camp gehört.« Er richtete die Taschenlampe auf die Hunde. »Ich hab ein Foto von Ihnen«, sagte Cashin. »Wie Sie einen Orangenschnitz essen. Alter etwa zwölf.« »Bin nie zwölf gewesen«, sagte Rebb. »Ich könnte eine Kar nickelpastete machen. War wieder mit der Flinte draußen.« »Ist Ihnen dort etwas passiert?« Cashin glaubte, Rebb lächeln zu sehen. »Bin nur den einen Tag geblieben«, sagte Rebb. »Das Essen hat mir nicht geschmeckt.« »Ich hab Steak da«, sagte Cashin. »Wie klingt das?« »Warum nicht. Die Nachbarin war hier. Hat für Sie was da gelassen. Eingepackt wie ein Geschenk.« »Ich kann ein Geschenk gebrauchen«, sagte Cashin. »Ist lange her, dass mir jemand ein Geschenk gemacht hat.« »Lebendig sein ist ein Geschenk«, sagte Rebb. »Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute.«
A
m späten Nachmittag ging Cashin mit den Hunden raus. Die ersten Hasen scheuchten sie gleich in der Nähe des Hauses auf, die Tiere waren während ihrer Abwesenheit über mütig geworden. Anschließend, auf der Wiese, störten sie eine Kaninchenversammlung. Die Hunde hetzten bis zur Erschöp fung durch die Gegend, bekamen aber keinen Fetzen Fell zwi schen die Zähne. Am Bach strebten die Hunde ins Wasser, wurden bis zu den Schultern nass, gerieten in Löcher, rappelten sich wieder raus, erschrocken. Auch Cashin wurde bis zu den Knien nass, be kam Wasser in die Stiefel. Es störte ihn nicht, er stapfte den Hügel hoch und überlegte, was er tun sollte. Schließlich wurde ihm die Entscheidung abgenommen, weil er sah, wie sie den Hang vor ihrem Haus herunterkam. Sie trafen sich am Eckpfosten, Rebbs Eckpfosten, sagten hallo. Sie sah dünner aus, sah besser aus, als er in Erinnerung hatte. »Sie sind erschöpft«, sagte sie. »Was hast du mit ihnen ge macht?« Er sammelte Speichel im Mund, um zu sprechen. »Außer Form«, sagte Cashin. »Zu dick, zu langsam. Verwöhnt. Das w i r d sich ändern.« »Wie geht's dir, Joe?« »Gut. M i r geht's gut. Fleischwunde. Außerdem bin ich echt tapfer und beklage mich nie.« Helen schüttelte den Kopf. »Eigentlich wollte ich dich im
Krankenhaus besuchen, aber ich dachte... na ja, ich weiß nicht, was ich dachte. Ich dachte, du wärst bestimmt von deiner Familie und befreundeten Polizisten umgeben.« Die Hunde machten sich aus dem Staub, Gerede ödete sie an, sie wollten Action. »Da hast du den Nagel auf den Kopf getroffen«, sagte Cashin. »Genauso war's nämlich, Tag und Nacht. Sie haben an meinem Bett eine A r t Schichtdienst eingerichtet, Verwandte, Cops, Verwandte.« »Blödmann. Hast du Bobby Walshe im Fernsehen gese hen?« »Nein.« »Er sagte, du und Dove, ihr hättet jeder einen Orden ver dient.« »Wegen Blödheit? Ich befürchtete, dafür vergeben sie nichts.« Helen schüttelte den Kopf. »Und die Neuigkeiten über die Ferienanlage?« »Nein.« »Erica Bourgoyne hat entschieden, das Companions-Camp doch nicht an Fyfe zu verkaufen. Sie schenkt es dem Bundes staat, damit es Teil des Küstenschutzgebiets wird. Es gibt also keinen Zugang zur Mündung, damit ist das gesamte Projekt gestorben.« Cashin dachte an den Sitz im Saal der Companions, an Erica in ihrem Büro, an die Tränenspuren auf ihrer cremefarbenen Seidenbluse, an ihr Schluchzen. »Das ist gut«, sagte er. »Da kannst du dich darauf konzen trieren, die Wahl zu gewinnen.« »Ich rechne fest damit, dass ich die Stimme mindestens eines Polizisten kriege.« »Da müssten dann einige Dinge zusammenkommen. Aber wir Cops dürfen nicht über Politik reden.« »Dürft ihr was trinken?«
»Meine Leber ist wieder fast wie neu. Sie war wochenlang unbeschäftigt.« Sie sahen einander an, er sah wieder weg, betrachtete die Abenddämmerung im Bachtal, die schwankenden Baumwipfel auf dem Hügel. »Was ich dich schon immer mal fragen wollte. Wann ist dein Vater gestorben?« »1988. Er ist auf der Küstenstraße in einer Kurve geradeaus gefahren. Im Jahr nachdem wir mit der Schule fertig waren. Wieso?« »Nur so. Er hat den Totenschein für Bourgoynes Frau aus gestellt.« »Vermutlich hat er Hunderte ausgestellt.« »Stimmt.« »Also. Kommst du auf 'n D r i n k mit rauf? Ich könnte dir was zu essen machen.« »Meinst du Party-Pies?« »Beim letzten Mal sind wir nicht dazugekommen.« »Zuerst muss ich diese wilden Tiere füttern«, sagte er. »Dann komme ich zurück.« »Pass auf, dass dir keine Wegelagerer auflauern«, sagte sie. »Wegelagerer. Das Wort habe ich noch nie einen Menschen sagen hören.« »Du bist noch in der Ausbildung«, sagte sie. »Stell dich schon mal auf mehr neue Wörter ein.« Er machte sich auf, den Hang zu seinem Haus zu erklim men, die Beine schwer wie Blei, pfiff nach den Hunden, sah sich um, und sie hatte sich nicht bewegt, sah ihm nach. »Geh nach Hause«, rief er. »Warum gehst du nicht schon mal nach Hause und machst die Party-Pies warm.« Als er aufwachte, lag er auf der Seite. Über der Jalousie am Fenster war ein rauchfarbener Streifen Tageslicht zu sehen. Er spürte ihre Wärme an seinem Körper, und dann bewegte sie sich, und er fühlte ihren Atem auf der Haut zwischen seinen
Schulterblättern; dann berührten ihre Lippen sein Rückgrat, und dann presste sie die Lippen an ihn und küsste ihn. Die Welt öffnete sich, der Tag begann, er spürte, dass er wieder lebte, ihm war vergeben.
J
oe?«
»Ja. »Carol Gehrig. Zu früh für Sie?« »Nein.« »Joe, es ist zwar lächerlich, aber gestern Abend, nach ein paar Glas Wein, kam es mir plötzlich in den Sinn.« »Was?« »Ein paarmal lagen Einwickelpapiere von Schokoriegeln im Mülleimer. Zweimal.« »Und?« »Tja, er aß so was nicht«, sagte Carol. »Im ganzen Haus nichts Süßes. Er tat nicht mal Zucker in seinen Tee.« »Sie haben Schokoriegelpapierchen im Küchenmülleimer gesehen?« »Nicht in der Küche. In der großen Mülltonne draußen. Ich sah sie, als ich den anderen Müll reinwarf. Mars oder so 'n Zeug.« »Waren denn Übernachtungsgäste da?« »Nein. Damals nicht.« »Zweimal?« »Ich kann mich an zwei erinnern. Vergeude ich Ihre Zeit mit irgendwelchem Quatsch?« Rebb kam in Sicht, war auf dem Heimweg von Dens Kü hen, einen Hund an jeder Seite; beide sahen sich um wie Leib wächter, für den Fall, dass sich Attentäter im Gras versteck ten.
»Ganz und gar nicht«, sagte Cashin. »Wann könnte das ge wesen sein?« »Das eine Mal weiß ich genau, Kirstie hatte am Tag davor Geburtstag, und ich hatte so ein... egal, der Tag. Ein Montag, der dreiundzwanzigste Juli, und zwar 1988. Das ist absolut sicher. Ja.« Der 23.7.1988. »Interessant«, sagte Cashin. »Denken Sie auch über das zweite Mal nach. Ein Monat würde schon helfen, oder welches Jahr. Sogar, ob Winter oder Sommer.« »Ich denke drüber nach.« Sie verabschiedeten sich, und er blieb, wo er war, sah vor sei nem inneren Auge Bourgoynes neun Töpfe, die einzigen Exemplare, die der Perfektionist für aufhebenswert befunden hatte. In den Boden des einen war ein Datum eingeritzt: 11/6/88. War er an diesem Tag gemacht worden? Konnte man einen frisch geformten Tontopf dieser Größe umdrehen und ein Da tum in den Boden ritzen? Oder passierte das später? Er ging zum Telefon, betrachtete es eine Weile und dachte daran, wie er oben in dem alten Backsteingebäude in The Heights gewesen war, sich umgedreht und den Riegel an der Schlafzimmertür bemerkt hatte. Wenn man in einer Nacht, in der der Brennofen in Betrieb war, den Hügel hinaufging, würde man den Ofen hören, bevor man ihn sah - es war bestimmt ein lautes Geräusch, ein Vibrie ren und Scheppern. U n d wenn man den Holzstapel umrun dete, sah man die glühend heißen Feuerlöcher, die die Lichtung erhellten, und dann spürte man im Gesicht die Kraft des See winds, der in die Öffnung des Brennofens wehte. Er wählte die Durchwahlnummer. Es klingelte mehrmals, ehe Tracy sich meldete. Ihre Begrüßung klang eher wie ein Tadel. »Hier ist Joe«, sagte er. »Tu mir einen Gefallen, Trace. K i n
der, die im Juni, Juli 1988 als vermisst gemeldet wurden. Jungs.« »Es nimmt kein Ende«, sagte sie. »Nicht auf dieser Welt.« Ein sonniger Morgen auf dem runden winterlichen Hügel, darüber Wolkenfetzen, die in Richtung Binnenland jagten; und der Wind über dem langen Gras, das er zauste und zupfte. Ein Bellen an der Tür, ein zweites, drängenderes, die Hunde wechselten sich ab. Er ließ sie rein, sie umdrängten ihn, und er war froh, dass er sie hatte und am Leben war.