Geister-
Krimi � Nr. 24 � 24
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Geister-
Krimi � Nr. 24 � 24
Andreas Hathaway �
Kalter Tod durch � heiße Flocken �
2 �
Die blauschwarzen Wolken hingen wie ein bleierner Sargdeckel über dem Tal von Kilroy. Die steil ansteigenden Berge bildeten die Seitenwände des ›Sarges‹. Die Wolken fielen in das Tal ein der Deckel klappte zu. Die fünfhundert Einwohner von Kilroy saßen in der tödlichen Falle. Ein lauer Junitag verwandelte sich in eiskalten Winter. In dichtem Gestöber schwebte der Schnee auf die grüne Erde herunter. Die Menschen liefen aus ihren Häusern und staunten über die Laune der Natur. Sie breiteten die Arme aus und hoben die Gesichter zum Himmel, um die überraschende Winterpracht aufzufangen. Eine zartgebaute junge Frau schrie auf. Einige Dutzend Menschen fielen in ihr Schreien mit entsetztem, heiserem Gebrüll ein. In Sekundenschnelle wurde aus eben noch fröhlichen, durcheinander rufenden Männern und Frauen ein Haufen zuckender, sich auf dem Boden windender Körper. »Zurück in die Häuser!« schrie der Wirt, dick und stämmig und rund. »Rettet euch in die Häuser!« Die meisten schafften es, und sie beobachteten mit leichenblassen Gesichtern durch die Fensterscheiben die wenigen ihrer Mitbürger, die zu schwach gewesen waren, um den Schutz der Gebäude zu erreichen. Sie wurden von den riesigen Schneeflocken eingehüllt und zersetzt. Wie schärfste Säure fraßen sich die Flocken in die Haut der Opfer, verätzten Gesichter, schmolzen Gliedmaßen weg. Auf der Dorfstraße floß Blut, vermischte sich mit dem Weiß des grauenhaften Schnees und verdampfte. Ein Mann streckte hilfesuchend seine Hand gegen das Gasthaus aus. Eine tellergroße Schneeflocke senkte sich lautlos auf seinen Unterarm. Der handlose Stumpf ragte anklagend aus dem bis auf die Knochen aufgelösten Rumpf. 3 �
Eine Frau wollte fliehen. Sie geriet an eine Stelle, an der kniehoch Schnee lag. Sie watete hinein und wankte auf der anderen Seite auf den Oberschenkeln wieder heraus. Die Beine waren bis auf die Knie hinauf weggeätzt. Die Frau verlor das Gleichgewicht, stürzte nach vorne und stützte sich auf die Hände. Zischend schmolz der Schnee unter ihr und mit ihm ihre Arme. Der arm- und beinlose Rumpf löste sich in wenigen Sekunden in Nichts auf. Als von den Menschen im Gasthaus die Erstarrung abfiel, ging ein Aufstöhnen durch die Versammelten. »Das muß dieser Teufel mit seinem Leben bezahlen!« knirschte ein bulliger Mann. »Richtig, er muß sterben, dieser Masters«, schrie sein Nachbar und griff nach einem scharfen Messer. »Rick Masters muß sterben!« * Zwei Tage nach diesen Ereignissen saß Rick Masters in seinem Wohnbüro. Es befand sich oberhalb des ältesten Cafes von London in demselben Gebäude wie das Lokal. Nur durch einen sehr günstigen Zufall hatte der junge Londoner Privatdetektiv diese Wohnung in der City vor wenigen Jahren bekommen können, und er hatte sie in seinem ganz persönlichen Stil eingerichtet geschmackvoll, aber durch eine geplante Unordnung gemütlich gemacht. Es war zehn Uhr abends. Die Fenster der Wohnung standen weit offen und ließen den lauen Frühsommerwind ins Zimmer. Die Gardinen bewegten sich leicht unter dem Lufthauch, mit dem Gesprächsfetzen von den Gästen des Cafes hereindrangen. Doch Rick Masters achtete nicht darauf, was die Leute auf der Straße besprachen. Wahr4 �
scheinlich beschäftigten sie sich mit demselben Thema, das auch ihn seit 24 Stunden brennend interessierte. Schließlich sprach in ganz Großbritannien kein Mensch mehr von etwas anderem, und auch in den übrigen Ländern hatten die schrecklichen Vorfälle im Tal von Kilroy Panik ausgelöst. Die einen sprachen von einem katastrophalen Ausmaß an Luft- und Wasserverschmutzung, die normalen Schnee bereits in lebensgefährliche Säurekristalle verwandelte. Die anderen meinten, es wären Auswirkungen von Atomversuchen, Atomreaktoren und anderen Dingen, die breiten Kreisen der Bevölkerung unheimlich erschienen. Rick Masters, einen der Sonderberichte über Kilroy vor sich auf dem Schreibtisch, wußte, daß keines der beiden Phänomene in Frage kam. Dazu kannte er sich zu gut in diesen Dingen aus. Seiner Meinung nach konnte es sich nur um wissenschaftliche Versuche, möglicherweise militärischer Natur, handeln, die schiefgelaufen waren. Man hätte sicherlich nicht absichtlich die Zivilbevölkerung einer Gefahr ausgesetzt. In seiner Ansicht, daß geheime Stellen dahinterstecken, wurde Rick Masters durch einen besonderen Umstand bestärkt. Seit einigen Jahren wurde er von Scotland Yard und Secret Service zur Aufklärung geheimnisvoller Fälle herangezogen, bei denen entweder bisher nicht bekannte Phänomene auftraten, oder bei denen das Wirken einer übernatürlichen Kraft vermutet wurde. Das traf offensichtlich in Kilroy zu, und doch hatten sich weder Scotland Yard noch Secret Service bei ihm gemeldet. Rick Masters strich sich durch die widerspenstigen, blonden Haare und schaute nachdenklich aus dem Fenster. Sollte er vielleicht auf eigene Faust Untersuchungen in Kilroy anstellen? Im Augenblick lag kein dringender Fall an, und diese sonderbaren Schneeflocken, die den kalten Tod brachten, interessierten ihn, aber… Der junge Privatdetektiv wurde in seinen Überlegungen durch 5 �
das melodiöse Anschlagen des Türgongs gestört. Seufzend stand er auf, zerstieß seine Zigarette in dem schweren Onyxaschenbecher und ging zur Tür. Eine seltsame Frau stand Rick gegenüber. Sie war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet Der Figur nach zu schließen war sie noch jung, sehr jung sogar, und auch ihre Bewegungen wirkten jugendlich kraftvoll und geschmeidig, als sie, ohne auf eine Aufforderung zu warten, Ricks Wohnbüro betrat. Der Detektiv schlug die Tür zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Erstaunt musterte er seine Besucherin. Ihr Kleid, das sich eng um die Hüften spannte, reichte nur bis zu den Knien. Darunter trug sie schwarze Strümpfe. Um den Oberkörper hatte sie ein großes dreieckiges Tuch geschlagen, unter dem sie die Hände verborgen hielt. Den Kopf bedeckte ein breitkrempiger Hut, der beinahe schick gewirkt hätte, wäre der Schleier nicht gewesen. Der Schleier! Rick hatte schon bei vielen Frauen, die Trauer trugen, einen Schleier gesehen, aber noch bei keiner einen so dichten. Er konnte durch den mehrfach gelegten hauchdünnen Stoff hindurch nichts von ihrem Gesicht erkennen. Es erleichterte ihn nur, daß er eindeutig eine Frau vor sich hatte. Wäre ein Mann auf gleiche Weise in seine Wohnung eingedrungen, hätte das sicherlich Ärger bedeutet. »Wollen Sie mir nicht erklären, was das alles soll?« fragte der junge Privatdetektiv endlich ein wenig ungeduldig, als die Fremde schweigend einige Schritte von ihm entfernt in der Zimmermitte stehen blieb. Er fühlte ihren Blick auf sich gerichtet, obwohl er ihre Augen nicht sehen konnte. »Sie müssen doch selbst zugeben, daß Sie sich nicht an die allgemeinen Spielregeln für Besucher nach zehn Uhr abends halten, Madam.« »Natürlich sollen Sie alles erfahren, Mr. Masters«, sagte eine 6 �
helle, klare Stimme, die einer sehr jungen Frau gehörte. Er hatte sich also in seiner Einschätzung nicht geirrt. »Es wundert mich, daß Sie so überrascht sind. Eigentlich hätten Sie mich oder einen anderen von uns längst erwarten müssen.« Masters ging die drei Stufen, die von der Eingangstür in das kleine Büro führten, hinunter, bis er dicht vor dem Mädchen stand. Ihre linke Hand tauchte unter dem Tuch auf. Sie steckte in einem schwarzen Handschuh. Mit einem Ruck riß sie den Schleier vom Gesicht. Rick Masters taumelte mit einem Aufschrei zurück. Er starrte in ein entstelltes, vollkommen zerfressenes Gesicht, das mit einem menschlichen Antlitz keine Ähnlichkeit mehr hatte. * Scotland Yard hatte sich bereits am Tag nach dem tödlichen Schneefall in die Untersuchungen in Kilroy eingeschaltet. Das war ein Fall, der weit über die örtlichen Dienststellen hinausreichte und alle für das öffentliche Wohl verantwortlichen Ämter alarmierte. Als erste Maßnahme hatte Chefinspektor Kenneth Hempshaw, der persönlich die Ermittlungen leitete, eine totale Sperre über das Tal verhängt. Polizeieinheiten aus dem Umkreis und aus den benachbarten Städten riegelten den Eingang zum Tal hermetisch ab, was insofern sehr leicht war, als es nach Kilroy nur eine Zufahrtsstraße gab. Auch zu Fuß konnte man das Tal nur an einer Stelle verlassen, nämlich durch eine Schlucht, durch die auch die Straße verlief. Die das Tal umgürtenden Felswände waren zwar nicht hoch, aber so steil, daß sie nur von einem geübten Bergsteiger überklettert werden konnten. 7 �
Da man sich einem bisher noch nie dagewesenen Phänomen gegenübersah, wurde beschlossen, die Opfer des mysteriösen Schnees nicht in öffentliche Krankenhäuser zu überführen. Für die Behandlung der Einwohner von Kilroy wurden Ärzte und Schwestern herangebracht. Eine Pioniereinheit schlug Zelte auf, die innerhalb weniger Stunden in modernste Krankenstationen und Labors verwandelt wurden. Allerdings es gab nichts zu behandeln. Chefinspektor Kenneth Hempshaw hatte Dr. Sterling, seinen langjährigen Mitarbeiter, Arzt der Mordkommission, mitgebracht. Sie saßen an diesem Abend gegen zehn Uhr in dem einzigen Pub des Dorfes, zwei Gläser mit Schwarzbier vor sich auf dem kleinen Tisch. »So unwahrscheinlich es klingt«, sagte Dr. Sterling und warf dem Chefinspektor einen scharfen Blick über den oberen Rand seiner Brille zu, »aber wir Ärzte können für die Verletzten absolut nichts tun.« Hempshaw schüttelte verständnislos den Kopf. »Begreife ich nicht«, gab er zu. »Menschen mit schwersten Verätzungen liegen in den Zelten. Manchen fehlen ganze Gliedmaßen. Und für diese Leute können Sie nichts tun?« »Es stimmt.« Dr. Sterling zuckte ratlos die Schultern, was selten vorkam bei seiner reichen Erfahrung. Normalerweise wußte er immer einen Rat. »Die Verletzungen sind vorhanden, wirken sich aber nicht so aus, wie sie es müßten. Die Menschen haben keine Schmerzen, die Wunden bluten nicht, wir haben nichts zu tun.« »Dieser Mann mit dem einen Bein…« »Ist von unserem Standpunkt aus völlig gesund.« Dr. Sterling schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Gläser tanzten und sich der dicke Wirt erschrocken hinter der Theke duckte. »Die Beinwunde schmerzt nicht, blutet nicht, er ist nicht geschwächt. 8 �
Wenn wir ihm eine Prothese anschnallen, kann er sofort damit gehen.« Chefinspektor Hempshaw schwieg einige Minuten, in denen er düster in sein Glas starrte. Dann hob er ruckartig den Kopf. Sein kantiges Gesicht hatte einen harten Zug angenommen. »Keine Fabriken mit schädlichen Abgasen oder Abwässern in der Nähe«, sagte er so laut, daß der Wirt mithören konnte. »Keine Labors, keine Atomreaktoren, keine außer gewöhnlichen Vorkommnisse: Und doch schneit es in dieser gottverlassenen Gegend heiße Flocken.« Er verwendete den Ausdruck, den die Zeitungen für den tödlichen Schnee in Kilroy geprägt hatten. »Dr. Sterling, ich glaube, daß dies wieder mit einem Fall zu tun haben, der nicht mit gewöhnlichen Mittel geklärt werden kann.« Der alte Arzt verzog sein faltiges Gesicht zu einem breiten Grinsen, als er begriff, worauf der Yardmann hinaus wollte. »Sie denken an eine ganz bestimmte Person, nicht wahr?« fragte er erfreut. Er mochte den jungen Detektiv. »Allerdings«, bestätigte Chefinspektor Kenneth Hempshaw, »Das ist ein Fall für Rick Masters.« Hinter der Theke zerschellte mit ohrenbetäubendem Klirren eine Whiskyflasche. Der Wirt hatte sie fallen gelassen. * »Kein schöner Anblick, nicht wahr?« sagte die junge Frau. Ihre helle Stimme hatte plötzlich einen scharfen, schneidenden Ton angenommen. Rick Masters kämpfte um Fassung. Er hatte schon viele durch Unfälle oder Krankheiten entstellte Merischen gesehen und wußte, wie sehr sie Unter dem Erschrecken und dem Abscheu anderer Menschen litten. Immer hatte er sich beherrscht und sich 9 �
darauf eingestellt, so daß ihm nichts anzumerken war, aber dieses Gesicht war zu schrecklich gewesen. Gesicht? Das war kein Gesicht! Die Haut war vollständig weggebrannt oder – geätzt worden. Das rohe Fleisch lag offen. Jede Ader konnte man erkennen und auch, wie die Wände der Arterien und Venen pulsierten. Die unförmige, rötliche Masse, die einmal ein Gesicht gewesen war, schimmerte feucht von der ausgeschiedenen Wundflüssigkeit. Das Fleisch warf Blasen und Falten und verformte die Züge so stark, daß die bizarrste Phantasie nicht ausreichte, um sich dieses Gebilde des Grauens vorzustellen. Gleichsam dem entstellten Gesicht zum Trotz, funkelten inmitten der ekligen Masse zwei helle, leuchtende, tiefblaue Augen, in denen eiserner Wille und scharfer Verstand zu erkennen war. Weiche, fein geschwungene Lippen umrahmten zwei Reihen makelloser Zähne, die wie Perlen schimmerten. Jede Frau hätte sie um diese Augen, die Lippen und die Zähne beneidet, aber… Rick mußte die Hände zu Fäusten ballen, um das Zittern seiner Finger zu unterdrücken. Kurz entschlossen ging er zu seinem Schreibtisch und riß eine Zigarette aus der Packung. Er besann sich und hielt der jungen Frau die Zigaretten entgegen. Langsam, mit wohlberechneten Bewegungen, streifte sie den linken Handschuh ab. Rick glaubte es nicht länger aus zuhalten. Glatte Fingernägel waren das einzige, das von der Hand erhalten geblieben war. Die Finger, der Handrücken, das Gelenk die gleiche wunde Masse wie das Gesicht. Was immer diese Frau auch durchgemacht hatte, es mußte mehr gewesen sein, als ein Mensch bei klarem Bewußtsein ertragen konnte. Wer immer für diesen Unfall oder für dieses Säureattentat oder was es auch gewesen war verantwortlich gemacht 10 �
wurde, er mußte von dieser Frau wie die Pest gehasst werden. Langsam griff sie nach einer Zigarette, steckte sie zwischen die gesunden Lippen und ließ sich von Rick Masters Feuer geben. Das Streichholz zitterte in der Hand des Detektivs. Sie war Nichtraucherin, Rick erkannte es sofort. Bereits nach dem ersten Zug begann sie zu husten. Der Verdacht keimte in Rick auf, daß sie die Zigarette nur angenommen hatte, um unter einem Vorwand den Handschuh ausziehen zu können. Sie wollte ihm ihre Verstümmelungen zeigen. Aber warum? »Setzen Sie sich«, sagte er lahm, um die unerträgliche Stille zu unterbrechen. Dabei zeigte er auf die Ledergarnitur im angrenzenden Wohnraum. Sie deutete an, er solle vorausgehen. Rick wandte der Frau den Rücken zu. In der Glasscheibe eines Bücherschranks sah er, wie die hinter ihm stehende Frau mit der Hand unter das große Tuch fuhr, das sie um ihre Schultern trug. Als sie die Hand zurückzog, hielt sie ein langes, spitzes Messer umklammert. Rick Masters fühlte den Luftzug, als sie sich gegen ihn warf. * »Schade um den guten Whisky!« rief Dr. Sterling dem Wirt zu, der mit einem Gesicht hinter der Theke stand, als wäre der Teufel persönlich in seinem Pub erschienen. »Sie sollten etwas für Ihre Nerven tun.« »Merkwürdig«, murmelte Chefinspektor Hempshaw. Er stand auf und ging zur Theke hinüber. »Passiert es oft, daß Sie eine Flasche Whisky fallen lassen?« fragte er scharf. Der dicke Wirt zuckte zusammen. Er wischte sich die schweißnassen Hände an der Schürze ab. »Ist doch kein Wunder«, flüsterte er. »Nach dem, was sich bei 11 �
uns abgespielt hat…« »Das meine ich nicht.« Chefinspektor Hempshaw hatte Verdacht geschöpft. »Sie ließen die Flasche fallen, als ich einen Namen nannte. Erinnern Sie sich noch?« »Ich muß in die Küche!« rief der Wirt gequält. ' »Die Küche ist um diese Zeit bereits geschlossen.« Hempshaw ließ nicht locker. »Ich erwähnte Rick Masters.« Er sah wie sich das Gesicht des Wirts verfärbte. »Kennen Sie Masters?« »Ich?« Der Mann zeigte mit unkontrolliert zitternden Fingern auf seine Brust. »Woher sollte ich ihn kennen? Wieso denn? Ich habe ihn nie gesehen. Er ist…« Hempshaw wurde in seiner Befragung unterbrochen. Ein Konstabler stieß die Tür auf und salutierte vor dem Chefinspektor. »Sie fehlt!« stieß er keuchend hervor. Ungehalten über die Störung, warf Hempshaw dem Konstabler einen strafenden Blick zu. »Was soll das heißen, sie fehlt!« fauchte er. »Machen Sie ordentlich Meldung! Ich bin Kriminalist, kein Hellseher, Mann!« »Jawohl, Sir!« Der Konstabler holte tief Luft, dann berichtete er: »Eine junge Frau aus dem Dorf fehlt, Sir. Sie lag in einem der Sanitätszelte, ist aber heimlich ausgerückt.« »Dann muß sie noch im Tal sein«, kombinierte Hempshaw. »Durch die Sperren kommt sie nicht.« »Sie ist schon durch«, berichtigte ihn der Konstabler. »Sie wurde gesehen, als sie sich zwischen zwei Posten hindurchschlich, aber sie blieb nicht stehen, als sie angerufen wurde.« »Na und?« brüllte Hempshaw los. »Wozu haben die Leute Beine? Um zu laufen und verdächtige Personen einzuholen!« Der Konstabler lief rot an im Gesicht. »Es ging nicht, Sir. Als die Posten die Frau verfolgen wollten, fiel so dichter Nebel ein, daß sie nicht einmal die Hand vor den Augen sehen konnten. Sie mußten die Suche abbrechen.« 12 �
»Nebel?« Der Chefinspektor trat an das Fenster des Pubs und blickte hinaus. »Dr. Sterling, sehen Sie eine Spur von Nebel? Ich jedenfalls nicht.« »Der Nebel erschien auch nur am Eingang des Tals, Sir«, behauptete der Konstabler. »Unmöglich«, mischte sich der Wirt ein. »Dort unten an der Schlucht hat es noch nie Nebel gegeben.« »Sie hören es.« Chefinspektor Hempshaw baute sich vor dem unglücklich dreinschauenden Polizisten auf. »Waren Sie einer der Posten? Ja? Melden Sie sich morgen früh mit den anderen Männern, die für diese Schweinerei verantwortlich sind, bei mir! Ich garantiere Ihnen eine strenge Untersuchung dieses Vorfalls.« Aufgeregt lief er in dem kleinen Pub auf und ab. »Name und Beschreibung!« Der Konstabler zog sein Notizbuch hervor. »Sie heißt Amy Sulkin, Sir, ist zweiundzwanzig Jahre alt und wurde bei dem Unglück schwer verletzt. Ihr Gesicht und ihre Hände wurden vollständig verätzt.« * Rick Masters tat das einzig Richtige in seiner bedrohlichen Situation. Er ließ sich einfach fallen. Aus dem Mund der jungen Frau erscholl ein schriller Schreckensschrei, als er sich so plötzlich duckte und auf den Teppich rollte. Sie konnte ihren Angriff nicht mehr aufhalten. Auf dem Boden liegend, sah Rick Masters das Messer, das über seinen Körper hinweg in die Luft stieß. Es hätte sich in seinen Rücken gebohrt und sein Herz getroffen, hätte er nicht im Glas des Bücherschranks gesehen, was sich hinter ihm abspielte. Das Mädchen wurde durch den eigenen Schwung ein paar Schritte vorwärts gerissen. Sie stieß gegen ihn, taumelte und 13 �
stürzte neben ihm auf den Teppich. Sofort schnellte Rick hoch. Seinen inneren Ekel überwindend, packte er ihr Handgelenk und entwand ihr das Messer, das sie bei dem Sturz nicht fallen gelassen hatte. Er brauchte keine Gewalt anzuwenden. Mit dem Angriff, der zu seinem Glück fehlgeschlagen war, war jede Kraft aus dem Körper der Frau gewichen. Reglos lag sie auf dem Boden, fast wie tot. Sie war aber nicht einmal ohnmächtig. Ihre leuchtenden Augen verfolgten jede von Ricks Bewegungen hasserfüllt. Rick bückte sich, hob die Frau hoch und legte sie auf den breiten gepolsterten Sessel. Sie aber schwang die Beine auf den Boden und richtete sich in sitzende Stellung auf. Ihre verkrallte Hand streckte sich ihm entgegen, als wollte sie die Luft zerreißen, die sie beide trennte. »Sie Scheusal!« schrie sie. »Sie Teufel! Sie Mörder!« Rick Masters war überzeugt, eine Wahnsinnige vor sich zu haben. Während er krampfhaft überlegte, wie er sich am besten verhalten sollte, legte er das Messer auf den Bücherschrank, wo sie es nicht erreichen konnte, dann ging er zur Hausbar und schenkte zwei Whisky ein. Den einen stellte er vor ihr auf den Glastisch, den anderen trank er in kleinen Schlucken. Das Mädchen rührte den Whisky nicht an. »Eigenartig«, sagte er nach einer Weile leise, um sie nicht zu erschrecken. »Sie kommen hier herein, ich kenne Sie nicht, und plötzlich gehen Sie mit einem Messer auf mich los. Jetzt bezeichnen Sie mich sogar als Mörder.« Ihre starre Haltung fiel in sich zusammen. Erschöpft sank sie auf dem Sessel zurück. Ein trockenes Schluchzen drang aus ihrer Kehle. »Machen Sie sich nur über mich lustig«, rief sie unterdrückt. »Sie haben kein Gewissen. Natürlich nicht, sonst hätten Sie nie so etwas gemacht.« »Was hätte ich nicht gemacht?« Ich sollte die Polizei anrufen, 14 �
damit dieses arme Geschöpf in die Irrenanstalt zurückgebracht wird, aus der es ausgebrochen ist. »Sie scheinen mich zu verwechseln, Miß… Wie ist Ihr Name?« »Amy Sulkin. Doch das ist Ihnen wohl gleichgültig. Ich bin jedenfalls eines Ihrer Opfer, das Sie mit Ihren Experimenten ins Unglück gestürzt haben.« Rick Masters drohte die Geduld zu verlieren. »Von welchen Experimenten sprechen Sie?« rief er. »Und von welchen Opfern?« »Heuchler!« gellte es ihm entgegen. »Ich meine die Opfer von Kilroy Ihre Opfer!« * »Glauben Sie wirklich, daß Ihre Posten den Nebel nur erfunden haben, um eine Entschuldigung zu haben?« fragte Dr, Sterling, als er sich wieder mit Chefinspektor Hempshaw an den Tisch gesetzt hatte. Sie sprachen jetzt so leise, daß der Wirt nicht mithören konnte, obwohl er lange Ohren machte. »Auf den ersten Blick scheint es so.« Der Chefinspektor wiegte unschlüssig den Kopf. »Allerdings habe ich in der letzten Zeit so viele unnatürliche Dinge erlebt, daß ich mir meiner Sache nicht mehr so sicher bin. Außerdem habe ich nur zuverlässige Leute an den Ausgang der Schlucht gestellt.« Der Arzt deutete unauffällig auf den dicken Wirt. »Er weiß etwas, da bin ich sicher. Sie versuchten doch vorhin, etwas über Rick Masters aus ihm herauszuquetschen. Probieren Sie es noch einmal. Meine Menschenkenntnis…« »Bleiben Sie mir mit Ihrer Menschenkenntnis vom Leib«, stöhnte Hempshaw in gespieltem Entsetzen. »Ganz Scotland Yard spricht darüber. Und woher beziehen Sie Ihre Menschen15 �
kenntnis? Von Leichen!« Dr. Sterling arbeitete als Pathologe für den Yard. Er war gleichermaßen wegen seines Könnens und wegen seiner spitzen Zunge verschrien. Hempshaw hielt große Stücke auf ihn, was allein schon dadurch bewiesen wurde, daß er ihn zu dieser heiklen Untersuchung mitgenommen hatte, obwohl ihm ein Dutzend erfahrener Spezialisten von der Regierung beigegeben worden war. »Meine Kenntnis der Leichen«, versetzte der Arzt ungerührt, »ist deshalb so passend für die Lebenden, weil sie sich früher oder später alle in Leichen verwandeln, von denen ein ziemlich hoher Prozentsatz sogar auf meinem Tisch landet. Auf Sie warte ich auch schon seit längerer Zeit, Hempshaw.« Der Chefinspektor verzog angewidert das Gesicht. »Ich habe nicht die Absicht, Ihnen diesen Gefallen zu erweisen, Verehrter. Es sei denn, ich bekomme eines Tages einen Herzinfarkt, weil ich mich über Zyniker im Yard ärgern muß.« Er gab sich einen Ruck, stemmte sich von dem harten Holzstuhl hoch und schlenderte zur Theke. Hinter sich hörte er das hohle Kichern des alten Pathologen. Der Wirt blickte dem Yardmann mißtrauisch entgegen. »Möchten Sie noch etwas trinken?« fragte er knapp. Am liebsten wäre er in den nach hinten liegenden Privaträumen seines Hauses verschwunden, das konnte man ihm nur zu deutlich ansehen. »Ein Whisky wäre nicht schlecht«, sagte der Chefinspektor. »Zum Aufwärmen. Kühler Abend heute. Glauben Sie, daß es wieder schneien wird?« »Schneien?« Der Wirt riß entsetzt die Augen auf. »Sie glauben, daß noch einmal…?« Das Grauen ließ den Satz unvollendet in der Luft hängen. Hempshaw zuckte gleichmütig die Schultern. 16 �
»Warum denn nicht?« fragte er harmlos. »Schließlich wissen wir nicht, was oder wer dahintersteckt.« Schlauer alter Fuchs, dachte Dr. Sterling und grinste in sich hinein. Dieser Hempshaw verstand schon sein Handwerk. Er nutzte die Angst des Mannes aus, um sich Informationen zu verschaffen, mit denen größeres Unheil verhindert werden konnte. Der Wirt wurde kreideweiß im Gesicht. Seine Hände begannen wieder zu zittern. »Ein zweites Mal halte ich das nicht aus«, stammelte er. Dicke Schweißtropfen liefen über sein Gesicht. »Nein, alles, nur das nicht.« »Dann reden Sie endlich!« fuhr ihn der Chefinspektor hart an. »Sie wissen etwas, das Sie mir nicht sagen wollen! Wenn Sie ein zweites Unglück verhindern möchten, packen Sie aus jetzt und hier!« Der Wirt starrte den Yardmann einige Sekunden lang an, dann nickte er. »Also gut, ich werde reden. Vielleicht können Sie diesen Teufel unschädlich machen, bevor er ein zweites Mal zuschlägt.« »Von welchem Teufel sprechen Sie eigentlich? Sie müssen mir schon konkrete Anhaltspunkte geben, wenn Sie wissen, wer den tödlichen Schnee erzeugt hat.« »Alle in Kilroy wissen es, Sir, alle, aber wir haben Angst. Wir fürchten, daß er sich an uns rächen wird, wenn wir ihn verraten. Und wozu er imstande ist, das haben Sie selbst gesehen. Gehen Sie hinaus in die Sanitätszelte. Wozu sind sie gut? Dazu, daß die höchsten Wissenschaftler des Landes fassungslos den Kopf schütteln können, weil sie keine Ahnung haben, womit sie es zu tun haben. Aber wir haben eine Ahnung.« Die Worte waren nur so aus ihm herausgesprudelt, und er mußte tief Atem holen, bevor er weitersprechen konnte. »Vor einigen Monaten ist er hierher gekommen und hat ein altes verfallenes Haus gemietet. Er hat sich uns unter dem 17 �
Namen Kinber vorgestellt, aber der war so falsch wie der ganze Mann. Alle haben ihn gesehen, wenn er ins Dorf kam, um Lebensmittel zu kaufen. Und alle haben sich vor ihm gefürchtet, weil er so unheimlich war. Ein junger Mann, ja, aber mit dem Auftreten und der Stimme eines Alten.« »Wer ist dieser Kinber?« Chefinspektor Hempshaw gab Dr. Sterling einen unauffälligen Wink, er sollte sich Notizen machen. »Können Sie ihn näher beschreiben?« »Und ob ich das kann! Blond, krause Haare, schlank und groß, elegant, wenn auch ein wenig salopp gekleidet. Hellbraune Augen und ein kantiges Gesicht.« Hempshaw und Dr. Sterling tauschten kurze Blicke. Sie wußten, auf wen diese Beschreibung zutraf. »Was hat dieser Kinber getan? Erzählen Sie schon, lassen Sie sich nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!« »Getan? Nichts, das wir Dorfleute hätten sehen dürfen. Zuerst dachten wir, er wäre irgendein Verbrecher, der seine Beute in dem alten Haus versteckt, aber dann hat ihn der alte John gesehen. Kinber hatte geheimnisvolle Apparate bei sich, die er sofort versteckte, als er John bemerkte. Wir haben schon immer gefürchtet, daß er Unheil über unser Dorf bringen wird, aber wir wagten nicht, etwas gegen ihn zu unternehmen.« »Wo liegt das Haus, von dem Sie gesprochen haben?« Der Wirt zuckte die Achseln. »Irgendwo im Wald. Niemand von uns geht gerne dorthin. Es ist eine verwunschene Stätte. Ein Fluch lastet darauf.« »Aberglaube, das am besten gepflegte Volksgut«, bemerkte Dr. Sterling spöttisch. »Vor einigen Tagen haben wir diesen Kinber in einer Londoner Zeitung gesehen. Da war ein Bild von ihm, und seither kennen wir seinen richtigen Namen.« Chefinspektor Kenneth Hempshaw glaubte, vor Ungeduld zu 18 �
platzen. »Dann rücken Sie endlich heraus damit! Wer ist Kinber in Wahrheit?« Der Wirt beugte sich über die Theke und flüsterte dicht am Ohr des Chefinspektors: »Er ist in Wirklichkeit Privatdetektiv, wohnt in London und heißt Rick Masters!« »Das ist doch Unsinn!« fuhr Chefinspektor Hempshaw auf. »Das kann ich einfach nicht glauben.« »Nein?« Der Wirt bückte sich und holte unter der Theke eine fleckige, zusammengefaltete Zeitung hervor. Er breitete sie auseinander und schob sie Hempshaw hin. »Sehen Sie sich das Bild genau an, und dann lassen Sie sich Kinber von allen Leuten hier im Dorf beschreiben.« Hempshaw schob die Zeitung beiseite. »Ich kenne Rick Masters sehr gut«, sagte er ungehalten. »Und ich weiß, daß er für ein solches Verbrechen niemals in Frage kommt.« »Sie wollen uns also nicht helfen, wie?« Wut, Enttäuschung und Verzweiflung schwangen in der Stimme des Wirts mit. »Und da heißt es immer…« Der Chefinspektor erfuhr nicht, was es immer hieß. Die Posten am einzigen Zugang von Kilroy waren abgelöst worden, und sie wollten nicht bis zum Morgen warten, um sich von dem Verdacht einer Vernachlässigung ihrer Pflichten reinzuwaschen. Kenneth Hempshaw sah sich zehn zuverlässigen Mitarbeitern gegenüber, denen er ein Versagen nicht zutraute, die aber seinen Befehl nicht ausgeführt hatten. »Sir!« meldete sich der Rangälteste, ein Sergeant aus London. »Wir alle sind bereit, die Schilderung der Vorgänge unten an der Schlucht zu beschwören.« Hempshaw musterte einen nach dem anderen, dann nickte er. »Schildern, Sie alles ganz genau und lassen Sie kein Detail aus!« verlangte er. 19 �
»Wir erhielten über Funk die Verständigung, daß eine Frau, Amy Sulkin, aus dem Lazarettzelt verschwunden war. Sofort schalteten wir alle vorhandenen Scheinwerfer ein. Durch die dichte Wolkendecke war es bereits dunkel. Fünf Minuten später sahen wir die Frau, ganz in Schwarz gekleidet. Sie näherte sich unserer Postenkette. Als wir sie anriefen, sie solle stehen bleiben, begann sie zu laufen.« »Jutter, Parker und Morgan und ich«, erzählte einer der Konstabler weiter, »wir sind sofort auf sie zugerannt, sie konnte uns gar nicht entkommen, Sir. Doch plötzlich hat sich aus dem Wald Nebel gesenkt, so dicht, daß wir die Hand nicht vor den Augen sehen konnten, obwohl die starken Scheinwerfer brannten. Es war wie eine weiße Wand, die jemand dicht vor unseren Augen aufgebaut hatte. Aussichtslos, bei diesem Nebel etwas zu unternehmen.« »Derartiges habe ich nicht einmal in London gesehen, wenn der schlimmste Smog in der Stadt hängt«, sagte der Sergeant. »Ich machte noch einen Schritt und stieß gegen einen Baum.« »Man sieht es«, bemerkte Hempshaw trocken und spielte damit auf die blutige Nase des Mannes an. »Gut, ich will Ihnen glauben.« Er machte eine kurze Pause. »Immer wieder der Wald«, murmelte er. »Immer dieser verdammte Wald. Den muß ich mir genauer ansehen.« »Sir.« Der Sergeant zögerte und wußte nicht recht, wie er es sagen sollte. »Die Leute hier erzählen sich so merkwürdige Geschichten über den Wald.« »Von einem Fluch, nicht wahr?« Dr. Sterlings Augen funkelten hinter den dicken Brillengläsern. »Wohl auch etwas von einer herumspukenden Ahnfrau?« Der Sergeant wurde rot, aber er nickte. »Allerdings, auch von einer Ahnfrau.« »Unsinn!« fuhr Hempshaw dazwischen. »Schon etwas von 20 �
Rauchbomben gehört?« »Man roch nicht…« »Wer künstlichen Schnee herstellen kann, der Menschen zerfrisst und auflöst, der kann auch geruchlosen Rauch oder Nebel oder solches Zeug basteln.« Hempshaw blickte auf die Uhr. »Sobald es in einigen Stunden hell wird, sehen wir uns diesen Geisterwald genauer an. Ich möchte ein Jahresgehalt darauf verwetten, daß wir nichts Übernatürliches finden.« »Die Wette wird angenommen.« Der Chefinspektor drehte sich erstaunt um und musterte den unerwarteten Partner bei der Wette. Dr. Sterling legte den Kopf schief. Um seine Mundwinkel zuckte wieder dieses unergründliche Lächeln, das er immer zeigte, wenn er jemanden aufs Glatteis führen wollte. »Sie wetten dagegen?« fragte Hempshaw und zog seine Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. »Warum nicht?« Der Arzt steckte sich eine Zigarette an. Über die Glut hinweg grinste er Hempshaw zu. »Sagten Sie nicht vor kurzer Zeit, das hier wäre ein Fall für unseren Rick Masters?« »Aber…« »Kein ›Aber‹! Holen Sie ihn her, bevor noch größeres Unheil geschieht!« * »Nun mal langsam, Miß Sulkin!« Rick Masters begann zu begreifen, worum es sich drehte. Dieses Mädchen war offensichtlich durch den ätzenden Schnee von Kilroy entstellt worden, hatte durchgedreht und glaubte aus irgendeinem Grund, er wäre für das Unglück verantwortlich. »Miß Sulkin, ich habe von Kilroy in den Zeitungen gelesen, aber ich habe nicht das geringste damit zu tun.« 21 �
»Lügen Sie nicht!« Amy Sulkin schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte trocken. »Jeder in Kilroy kennt Sie. Jeder weiß über Sie Bescheid, aber die anderen haben alle Angst vor Ihnen. Keiner wagte es, sich an Ihnen zu rächen, aber ich habe keine Angst. Sehen Sie mich an!« Das Mädchen stand auf und streckte ihm die entstellten Hände entgegen. Heftig deutete sie auf ihr zerfressenes Gesicht. »Sehen Sie mich an und sagen Sie mir, ob ich mich vor irgend etwas fürchten muß! Sie schweigen? Dann sage ich es: Ich brauche keine Angst mehr zu haben, weil mich nichts Schlimmeres mehr treffen kann. Verstehen Sie jetzt?« Anklagend streckte sich ihre Hand ihm entgegen. »Solange ich noch atme und noch ein Funke Kraft in mir ist, werde ich alles daransetzen, um Sie zu töten, Mr. Masters!« Der junge Detektiv sah ein, daß er mit Vernunft bei diesem Mädchen nicht weiterkam. Sie mußte sich erst einmal beruhigen. Die schrecklichen Ereignisse der letzten Tage hatten sie völlig durcheinander gebracht. Er ging an den Gläserschrank, holte zwei geschliffene Cognacschwenker heraus, zog die kostbare Flasche mit altem französischem Cognac hervor und goss ein. Amy Sulkin griff gierig nach ihrem Glas und kippte den Cognac auf einen Zug hinunter. Rick schnalzte missbilligend mit der Zunge, weil es eine Sünde war, das ölige Getränk mit dem vollen Bouquet wie Wasser zu schlucken, aber er verkniff sich eine Bemerkung und schenkte ihr nach. »Für heute haben Sie Ihr Ziel, mich zu töten, nicht erreicht, Miß Sulkin«, sprach er das Mädchen leise an. »Und ich kann Ihnen versichern, daß Sie es weder heute noch in der nächsten Zeit erreichen werden.« »Ich lasse nicht locker!« Das klang jedoch schon wesentlich zahmer und beherrschter. Amy nahm sich eine Zigarette, und Rick Masters reichte ihr Feuer. 22 �
»Nehmen Sie einmal an, Amy, daß Sie sich irren. Nein«, rief er schnell und hob abwehrend die Hand, als ihm das Mädchen ins Wort fallen wollte, »lassen Sie mich aussprechen, Sie verlieren dabei nichts. Nehmen wir also an, daß Sie mich verwechseln. Sie halten mich für den Schuldigen, weil mir der eigentliche Verbrecher täuschend ähnlich sieht.« »Das ist ausgeschlossen«, zischte Amy Sulkin hasserfüllt. »Ich habe Ihnen von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden, als Sie im Laden meiner Eltern einkauften, aber heute erkennen Sie mich natürlich nicht mehr.« »Ich war nie in einem Laden in Kilroy, ich war überhaupt noch nie in diesem Ort.« »Lüge! Erst einen Tag vor dem Unglück haben Sie bei uns Lebensmittel eingekauft.« »Einen Tag vor dem »Schneefall« Rick überlegte blitzschnell. »Dann kann ich Ihnen beweisen, daß Sie sich irren.« »Ich werde Ihnen kein Wort glauben.« »Mir nicht, aber vielleicht dem Premierminister.« Amy Sulkin starrte ihn aus großen, hellgrauen Augen an. »Was hat der Premierminister damit zu tun?« fragte sie erstaunt. »Abwarten! Also, wann soll ich im Laden Ihrer Eltern eingekauft haben? Die genaue Zeit!« »Das war am Donnerstag letzter Woche, gegen drei Uhr nachmittags.« Amy Sulkin nickte bestätigend. »Sie irren sich nicht?« »Nein, ganz bestimmt nicht.« Rick Masters grinste zufrieden. »Okay, dann nehmen Sie sich jetzt das Telefonbuch und suchen die Privatnummer des Premierministers heraus.« »Sie bluffen!« Die grauen Augen blitzten eiskalt. »Diese Nummer steht nicht im Verzeichnis.« Rick Masters schlug sich an die Stirn. 23 �
»Wie zerstreut von mir. Ich kenne die Nummer auswendig. Ich schalte den Raumlautsprecher dazu, vielleicht glauben Sie mir, wenn Sie die Stimme hören. Kennen Sie seine Stimme?« Als Amy nickte, zog Rick Masters das Telefon näher an sich heran, wählte und bekam den Privatsekretär an die Strippe. Ricks Ñame genügte, um den Premierminister sofort an den Apparat zu holen. Er war zuerst sehr erstaunt, um diese Uhrzeit von Masters gestört zu werden, doch noch erstaunter war er, als er Ricks Bitte hörte. Der junge Detektiv mußte sie wiederholen. »Ich möchte, Sir, daß Sie jetzt laut und deutlich sagen, wo ich am Donnerstag letzter Woche um fünfzehn Uhr gewesen bin! Ich kann Ihnen den Grund nicht erklären, Sir, aber Sie tun mir damit einen großen Gefallen.« Aus dem Lautsprecher, der das Telefongespräch deutlich für Amy Sulkin übertrug, drang ein leises Lachen. »Sie kommen doch immer wieder auf die verrücktesten Ideen, Mr. Masters«, sagte der Premierminister. »Es handelt sich wohl um eine Wette, die Sie mit Freunden abgeschlossen haben, und ich soll jetzt die Entscheidung fällen?« »So ungefähr«, erwiderte Rick Masters vage und dachte, daß auch der Premierminister nur ein Engländer war, dem man mit dem Wort »Wette« so ziemlich alles erklären konnte. »Gut, Mr. Masters, zum genannten Zeitpunkt befanden Sie sich in meinen Amtsräumen und erstatteten mir Bericht. Soll ich auch noch genau ausführen, worüber Sie berichteten?« »Nein, Sir, das ist nicht nötig. Vielen Dank!« Rick Masters verabschiedete sich von dem Premierminister, legte auf und drehte sich zu der jungen Frau um. »Zufrieden?« Amy Sulkin sah ihn lange schweigend an, dann nickte sie entgeistert. »Ja, ich habe die Stimme erkannt«, bestätigte sie. »Und ich glaube Ihnen jetzt. Aber dann muß es tatsächlich einen Doppelgänger geben, der Ihnen nicht nur täuschend ähnlich sieht, 24 �
sondern der auch genau Ihre Stimme, Ihre Sprechweise und Ihre Art, sich zu bewegen, hat.« Rick Masters kaute nachdenklich an den Knöcheln seiner linken Hand. »Jetzt bin ich geneigt zu sagen, daß ich Ihnen nicht glaube«, murmelte er. »So etwas gibt es nicht.« Amy Sulkin stand auf und trat mit zwei Schritten vor den jungen Privatdetektiv hin. Ihre Augen schimmerten feucht. Unsicher, als hätte sie Angst vor seiner Reaktion, hielt sie ihm ihre hautlose Hand entgegen. »Entschuldigen Sie, daß ich Ihnen nach dem Leben trachtete, sofern das überhaupt jemand entschuldigen kann«, sagte sie leise. Auch Rick zögerte, die Hand zu ergreifen. »Tut eine Berührung denn nicht weh?« fragte er verlegen. Sie schüttelte den Kopf. »Amy, machen Sie sich keine Gedanken mehr darüber, was sich in dieser Wohnung abgespielt hat.« Er nahm ihre Hand und drückte sie leicht. Ihre vollen Lippen verzogen sich zu der Andeutung eines Lächelns. Rick vermutete wenigstens, daß sie lächelte. In dem verunstalteten Gesicht konnte man das nicht erkennen. »Und ich schwöre Ihnen, Mr. Masters, daß es tatsächlich diesen Doppelgänger gibt.« Amy Sulkin setzte sich wieder. Ihre Hand, die den Cognacschwenker ergriff, zitterte leicht. »Ein Zwillingsbruder kann Ihnen nicht ähnlicher sein.« Rick nagte an seiner Unterlippe. Die Sache gefiel ihm überhaupt nicht. »Ich habe keinen Zwillingsbruder, Amy«, sagte er schleppend. »Ich glaube viel eher, daß eine Teufelei dahintersteckt, die darauf abgezielt ist, mich zu vernichten.« »Sie sind doch Privatdetektiv.« Das Mädchen versuchte offensichtlich, ihren Fehler durch Eifer gutzumachen. »In diesem Beruf schafft man sich bestimmt Feinde. Könnte nicht einer von 25 �
ihnen dahinterstecken?« Rick schaute sie zweifelnd ah. »Glauben Sie wirklich, daß irgend jemand so verrückt und bösartig sein könnte, daß er Dutzenden von Menschen die schwersten Verletzungen und Verstümmelungen zufügt und dabei in meiner Maske auftritt, nur damit man mich später für den Täter hält?« Er nahm einen Schluck von seinem Cognac und ließ das Aroma durch die Nase streichen. »Was sollte mir letztlich geschehen? Ich kann wegen Mordes im schlimmsten Fall wegen Mordes vor Gericht gestellt werden. Das erreicht mein Feind leichter dadurch, daß er eine einzelne Person tötet und die Beweise fälscht. Wozu also der Aufwand mit dem ätzenden Schnee?« »Darauf kann ich Ihnen keine Antwort geben, Rick.« Amy zuckte die Schultern und schaute hilflos zu Masters hoch, der sich auf die Kante eines klobigen Eichentisches gesetzt hatte. »Ich werde mir die Antwort selbst geben.« Masters stellte den Cognacschwenker hart auf den Tisch und straffte sich. »Ich werde nach Kilroy fahren und den Verbrecher entlarven.« Amy fuhr erschrocken von ihrem Sessel hoch. »Das dürfen Sie nicht!« rief sie. »Man würde Sie auf der Stelle umbringen!« »Wer würde mich umbringen? Laufen noch mehr so temperamentvolle Mädchen in Kilroy herum wie Sie?« »Rick, jeder Mensch in meinem Dorf wurde bei dem Unglück selbst verletzt oder hat einen Verwandten, der jetzt verstümmelt ist. In Kilroy wird kein Mensch auf der Welt so gehasst wie Sie, weil alle Sie schon einmal im Dorf gesehen haben – es wenigstens glauben«, verbesserte sie sich. »Rick, fahren Sie nicht!« bat sie mit weicher Stimme. Doch für den Detektiv gab es kein Halten mehr. War er schon vor Amy Sulkins Auftauchen halb entschlossen gewesen, die Vorfälle von Kilroy aufzuklären, so hatten ihn ihre Angaben in 26 �
seinem Entschluß bestärkt. »Wenn Sie Hunger haben, dann plündern Sie den Eisschrank!« rief er dem Mädchen zu, während er in den Büroraum hinüberging. »Ich habe noch einige Vorbereitungen zu treffen. In einer Stunde fahren wir los nach Kilroy!« * Auch ein Chefinspektor von Scotland Yard braucht Schlaf, wenn er seinen anstrengenden Dienst durchhalten soll, und da er während der Nachtstunden ohnedies nichts mehr erreichen konnte, zog sich Kenneth Hempshaw auf sein Zimmer im Gasthof des Dorfes zurück. Komfort gab es keinen, nicht einmal fließend Wasser. Auf einem wackligen Eisengestell hing eine Porzellanschüssel. Die Wirtin hatte ihm in einem Krug warmes Wasser gebracht. Seufzend wusch sich Hempshaw, fiel in seinen Kleidern auf das Bett und schlief augenblicklich ein. Er erwachte erst in der Morgendämmerung durch ein Klopfen an seiner Tür. Unausgeschlafen rieb er sich die Augen, gähnte herzhaft und rief »Herein!«. Der vor der Tür Stehende hatte seine Aufforderung offensichtlich nicht verstanden, also mußte der Chefinspektor selbst öffnen. Die Augen Dr. Sterlings funkelten hinter den dicken Brillengläsern so frisch wie immer. »Sie brauchen wahrscheinlich niemals Schlaf, Doktor, wie?« fragte Hempshaw und eröffnete eine Serie des Gähnens, die bei ihm selten früher als nach fünfzehn Minuten wieder abbrach. »Vermutlich haben Sie irgendein Geheimmittel entwickelt, daß Sie vierundzwanzig Stunden am Tag wach bleiben können, damit Sie anderen Menschen die Ruhe stehlen. Also, was ist?« Dr. Sterling zeigte zwei Goldzähne, als er seinen Mund zu einem breiten Grinsen verzog. »Mein Geheimnis lautet Konzen27 �
tration während des Schlafens, aber das ist Ihnen zu hoch. Ich wollte Sie daran erinnern, daß Sie den Wald durchsuchen müssen, sobald es hell wird. Das haben Sie zumindest gestern Abend gesagt.« »Stimmt«, stellte Hempshaw zwischen Gähnen fest. »Der Wald, der von einem Fluch überschattet ist, interessiert mich brennend.« »Man sieht es förmlich bei Ihnen brennen«, spottete der Arzt. »Ein starker Kaffee hilft Ihnen wieder auf die Beine,« »Kaffee!« Hempshaw schüttelte sich. »Dieses barbarische Getränk haben Sie sich auf dem Kontinent angewöhnt. Scheußlich!« Trotzdem trank er unten im Gastraum zwei Tassen von diesem »barbarischen Getränk«, ausnahmsweise auf seinen üblichen Tee verzichtend. »Ich habe mich im Dorf umgehorcht«, berichtete Dr. Sterling, der dem Chefinspektor Gesellschaft leistete. »Nach und nach habe ich die Leute zum Reden gebracht. Es scheint ganz so, als hielten sie tatsächlich unseren Rick Masters für den Schuldigen.« »Aber das ist doch Unsinn!« protestierte Hempshaw und verschüttete Kaffee auf dem Tischtuch. »Sie wissen genauso gut wie ich…« »Das schon, aber diese Leute hier nicht.« Dr. Sterling zuckte resignierend die Schultern. »Ihre Beschreibungen passen haargenau auf Masters. An Ihrer Stelle würde ich ihn sofort verhaften lassem« »Leiden Sie unter Verkalkung, Dr. Sterling, oder sind Sie einfach übergeschnappt?« Kenneth Hempshaw blitzte den Arzt wütend an. »Ich denke gar nicht daran…« »Vielleicht müssen Sie aber. Wenn fast fünfhundert Menschen einen Eid leisten, nützen Ihre persönlichen Gefühle nichts mehr.« 28 �
»Immer langsam!« Der Chefinspektor schlug mit den Fingern einen wilden Rhythmus auf der Tischplatte. »Einstweilen haben wir keine Beweise für diesen verätzenden Schnee. Er hat sich aufgelöst, und unsere Chemiker konnten keinerlei Rückstände feststellen. Wer weiß, was sich wirklich in Kilroy abgespielt hat.« »Die Überlebenden des Unglücks.« Dr. Sterling stand auf und ging zur Tür. »Aber wir wissen nicht, ob sie die Wahrheit sagen.« Er trat auf die Straße hinaus, und Hempshaw folgte ihm. »Ich habe inzwischen erfahren, in welchem Haus angeblich unser Freund Masters sein Quartier aufgeschlagen hatte. Es heißt »Anastasia, seltsamer Name. Man kann es mit dem Wagen erreichen.« »Wollen Sie mir ins Handwerk pfuschen?« fragte der Chefinspektor, »Ermittlungsarbeit fällt in mein Ressort.« »Sie dürfen dafür die nächste Leiche für mich sezieren«, versprach Dr. Sterling lächelnd. »Danke, ich verzichte.« Sie gingen zum Wagen Hempshaws. Der Chefinspektor winkte einigen seiner Leute, ihm in einem zweiten Auto zu folgen. Fünf Minuten später verließen die beiden Polizeiwagen das langsam erwachende Dorf. Zahlreiche Augenpaare beobachteten die Abfahrt der Autos. Zur gleichen Zeit näherte sich ein dunkelgrüner, offener Sportwagen der Absperrung am Eingang des Tals von Kilroy. * Das Haus ›Anastasia‹ wirkte auf den ersten Blick völlig unbewohnt, doch Kenneth Hempshaw stutzte, als sie den Rand der Waldlichtung erreichten, auf der die Villa lag. »Halten Sie!« rief er dem Fahrer des Polizeiwagens zu. Der zweite Dienstwagen bremste knapp hinter ihnen. Hempshaw stieg aus und ging langsam auf das Haus zu. 29 �
»Wilkins, kommen Sie rüber und bringen Sie den Gips mit!« rief der Chefinspektor. Sein Mitarbeiter von der Spurentruppe wußte Bescheid. Es galt, irgendeinen Abdruck sicherzustellen. Und tatsächlich deutete sein Chef auf den Boden, als er neben ihn trat. »Reifenspuren«, sagte Hempshaw zufrieden. »Sehr deutlich und klar. Auf dem weichen Boden hat sich das Profil so gut eingegraben, daß wir darauf stoßen mußten. Als wäre es für uns gemacht«, fügte er hinzu. Wilkins goss die Spur aus. »Ein sehr seltenes Profil, Sir«, erklärte er. »Wird nicht schwer sein, es zu identifizieren.« »Dazu müßten wir erst einmal den Wagen haben, auf dem die entsprechenden Räder montiert sind«, bemerkte der Chefinspektor trocken und näherte sich dem Haus. Die Vordertür hing schief in den Angeln, in den Fenstern fehlte der größte Teil der Verglasung, und im leichten Morgenwind schlug ein Fensterladen klappernd gegen die Hauswand. Nebel zog aus dem Wald heraus und strich um das hohe, verzierte Dach des ehemaligen Adelsgutes. »Ein echtes Gespensterhaus«, rief Dr. Sterling, der dem Chefinspektor gefolgt war. »Wenn das eine reiche Amerikanerin sieht, kauft sie es auf der Stelle, Gespenster im Preis inbegriffen.« »Vorerst wird sich das Haus ›Anastasia‹ mit Scotland YardLeuten begnügen müssen.« Hempshaw winkte Wilkins zu sich, »Nehmen Sie überall im Haus Fingerabdrücke!« Er stieß die Eingangstür auf und seufzte verzweifelt. »Das wird eine fürchterliche Arbeit geben. Fingerabdrücke sind hier bestimmt ausreichend vorhanden.« Auf dem Fußboden der Halle und des angrenzenden Salons zeigten dunkle Stellen an, daß offene Feuer angezündet worden waren, vermutlich von Vagabunden und lichtscheuem Gesindel, das dieses Haus als Zufluchtsort benutzt hatte, weil es von den 30 �
Dorfbewohnern gemieden wurde. »Durchsuchen!« befahl Chefinspektor Hempshaw. »Wer auch nur einen Quadratzoll unbeachtet läßt, wird zum Kreuzungsdienst in der Antarktis abkommandiert.« Auch ohne diese nicht sehr leicht durchführbare Drohung hätte Hempshaw sicher sein können, daß seine Leute perfekt arbeiteten. Nicht umsonst war Scotland Yard für seine Erfolge bekannt. »Wer immer den tödlichen Schnee herstellte«, überlegte Hempshaw laut, »benötigte dafür ein Laboratorium und umfangreiche technische Apparaturen. Dieses Haus wäre ein ideales Versteck dafür.« »Sir!« Wilkins winkte den Chefinspektor zu sich. »Ich habe Fingerabdrücke gefunden. Ich kann es nicht beschwören, aber sie sind so charakteristisch, daß ich mir ihr Bild ungefähr gemerkt habe.« »Wissen Sie, von wem die Abdrücke stammen?« fragte Hempshaw elektrisiert. Wilkins, der Spurenmann, nickte. »Bei einem Fall, in dem er uns half, nahm ich seine Fingerabdrücke, damit es keine Verwechslung geben kann. Sie haben ein Muster, das man alle hundert Jahre vielleicht einmal findet.« »Von wem sprechen Sie?« Chefinspektor Kenneth Hempshaw hielt den Atem an. Er glaubte, die Antwort schon im voraus zu kennen. Und er sollte sich nicht täuschen. Wilkins senkte betreten den Blick. »Es sind die Fingerabdrücke von Rick Masters!« * Der Mann, von dem in dem verfallenen Haus ›Anastasia‹ die � Rede war, stritt zur gleichen Zeit mit einem der Posten, die dafür � 31 �
sorgen mußten, daß niemand in das Tal von Kilroy gelangte und auch niemand herauskam. Die Flucht von Amy Sulkin in der letzten Nacht hatte den Polizisten einen scharfen Verweis eingebracht, so daß sie sich jetzt doppelt streng an die Vorschriften hielten. »Tut uns leid, Sir«, erklärte der Beamte streng, »aber wir dürfen keine Ausnahme machen. Befehl von Chefinspektor Hempshaw.« »Genau zu ihm wollen wir ja!« rief Rick Masters wütend. »Sprechen Sie wenigstens mit ihm.« »Hören Sie!« Jetzt wurde auch der Polizist wütend. »In der vergangenen Nacht ist eine Bewohnerin von Kilroy durch diese Sperre gekommen. Was glauben Sie, wie groß die Zigarre war, die uns der Chefinspektor verpasst hat?« In diesem Moment mischte sich Amy Sulkin ein. Sie saß dicht verschleiert neben Rick Masters. Während der Fahrt hatte sie ihm geschildert, auf welche Weise es ihr möglich gewesen war, die Absperrung zu durchbrechen. Per Autostop war sie dann nach London gekommen. Jetzt griff sie nach ihrem Schleier und schlug ihn zurück. Beim Anblick ihres entstellten Gesichts schrie der Polizist entsetzt auf und taumelte ein paar Schritte zurück. Rick Masters nutzte die Überraschung und den Schreck des Mannes aus. Er gab Gas, kurvte um die Straßensperre herum und verschwand zwischen den Bäumen. Im Rückspiegel sah er, wie zwei Polizisten zu ihren Motorrädern liefen, während sich ein dritter ans Funkgerät hängte. »Wenigstens diesmal war mein Gesicht zu etwas gut«, sagte Amy Sulkin bitter. »Allerdings werde ich nicht immer so zufrieden sein wie jetzt, daß die Menschen schreiend vor mir davonlaufen.« »Amy«, setzte Rick verlegen an, »das dürfen Sie nicht sagen. 32 �
Sie müssen…« »Ich muß stark sein, nicht wahr? Das wollten Sie doch sagen.« Sie lachte hart auf. »Das haben die Ärzte auch gesagt.« »Es gibt Hauttransplantationen.« »Sinnlos.« Sie schüttelte den Kopf und nahm ihre ganze Willenskraft zusammen, um ruhig weitersprechen zu können. »Das Fleischgewebe ist vollkommen abgestorben. Nie mehr kann darauf Haut wachsen. Mir bleibt nur mehr eine Gesichtsmaske.« Rick schwieg erschüttert. Er mußte sich auf die Straße konzentrieren, weil er hinter sich die Sirenen der Polizeimotorräder hörte. Er trat das Gaspedal immer weiter durch, bis der Morgan, ein offener Sportwagen im alten Stil, durch die Kurven der engen Waldstraße schleuderte, daß die Reifen quietschten. Amy Sulkin klammerte sich ängstlich an dem Haltegriff fest. Rick fuhr, als wäre der Teufel hinter ihm her, aber er wollte sich nicht einholen und abweisen lassen. Er mußte mit Chefinspektor Hempshaw sprechen. Die Motorräder rückten immer näher. Er biss die Zähne zusammen. Auf dieser Straße waren ihm die Polizisten weit überlegen. Kreischend schlitterte der Sportwagen um die nächste Kurve. Jetzt kam ein gerades Straßenstück, und am Ende des Waldes tauchten die ersten Häuser von Kilroy auf. Hinter Rick Masters gellten die Sirenen, doch sie fielen ein Stück zurück. Auf der geraden Strecke konnte er alles aus dem 150 PS starken Motor seines Roadsters herausholen. Der Wagen sprang und stieß in der Federung. Die Häuser schienen ihnen entgegenzufliegen. »Rick!« schrie Amy Sulkin durch das Röhren des Motors. »Zum letzten Mal! Gehen Sie nicht nach Kilroy! Es wird Ihr Tod sein!« 33 �
Der Detektiv gab keine Antwort. Entweder hatte er das Mädchen gar nicht gehört, oder er kümmerte sich nicht um die Warnung. Wahrscheinlicher war jedoch, daß er sich auch dann nicht von dem Fall zurückgezogen hätte, wenn ihre Worte nicht in dem Lärm untergegangen wären. Der junge Detektiv gab nie auf. Der Morgan verlor an Geschwindigkeit, als Rick Masters den Fuß leicht vom Gaspedal zurücknahm. Er konnte sich erlauben, die letzten Kurven am Dorfeingang in normalem Tempo zu nehmen, weil die verfolgenden Polizisten aufgehalten wurden. Aus einem Waldweg war ein Polizeiauto aufgetaucht, und der Fahrer hatte den Männern auf den Motorrädern durch Hupen zu verstehen gegeben, daß sie die Jagd abbrechen sollten. Rick Masters grinste erleichtert. Er hatte Chefinspektor Kenneth Hempshaw erkannt, der in wenigen Minuten alles aufklären würde. »Sie dürfen nicht nach Kilroy, Rick«, sagte Amy und legte ihm ihre Hand auf den Arm. Durch den dünnen Stoff seiner leichten Jacke fühlte Rick, daß sie zitterte. Außerdem waren ihre Finger eiskalt. »Ich bin doch schon in Kilroy, Amy«, rief er in scherzhaftem Ton, bremste den dunkelgrünen Sportwagen vor dem Gasthof, stellte den Motor ab und stieg aus. Wäre Rick nicht bereits durch Amys Schilderung auf das Kommende vorbereitet gewesen, hätte er sich einem unerklärlichen Phänomen gegenübergesehen. Vor dem Gasthaus hielten sich zahlreiche Dorfbewohner auf, Männer und Frauen. Kinder sah man nirgendwo auf den Straßen, sehr ungewöhnlich für ein normales Dorf. Aber seit dem tödlichen Schnee war Kilroy eben kein gewöhnliches Dorf mehr. Die Menschen reagierten unterschiedlich. Während die Frauen laut schreiend und kreischend davonliefen und Zuflucht in den 34 �
Häusern suchten, bildeten die Männer in Sekundenschnelle einen Halbkreis um die Vorderfront des Hauses und schlossen Rick Masters ein. Drohende Worte flogen dem Londoner Detektiv entgegen, und angesichts dieser Übermacht überlegte Rick zum ersten Mal, ob Amys Warnungen nicht doch begründet gewesen waren. Offensichtlich hatte er den Hass und die Erbitterung dieser Menschen gegen ihren vermeintlichen Todfeind weit unterschätzt. Er verzichtete darauf, irgendwelche Erklärungen zu geben, sondern verließ sich auf Amy, der er in London bereits einen Beweis seiner Unschuld geliefert und sie damit auch überzeugt hatte. Sie würde am ehesten ihre Nachbarn und Freunde beruhigen können. Und in einiger Entfernung tauchte auch der Wagen von Hempshaw auf. Bis zur Besänftigung der Gemüter wollte sich Rick zurückziehen, um jeden Aufruhr zu vermeiden, und betrat das Pub. Er öffnete die Eingangstür und fand sich in einem kleinen, aber sehr nett eingerichteten und sauberen Flur wieder. Im Hintergrund führte eine Treppe hinauf zu den Fremdenzimmern, links verkündete ein Schild, daß man hier in die Public Bar gelangte. Die Lounge befand sich wahrscheinlich hinter der Public Bar, in der Bier und andere Getränke meistens stehend verzehrt werden. Rick stieß die Tür auf und zuckte unangenehm berührt zusammen. Er hatte Schwierigkeiten aus dem Weg gehen wollen, und nun sah er diese Schwierigkeiten in etwa dreißigfacher Ausführung vor sich in Gestalt der Gäste des Lokals! Die Anwesenden, ausschließlich Männer, drehten beim öffnen der Tür gewohnheitsmäßig die Köpfe. Als sie sahen, wer in dem Türrahmen stand, verstummten augenblicklich die Gespräche. Eisiges Schweigen, gehässig funkelnde Augen und ein dichtes Zusammenrücken kündeten die nahende Auseinandersetzung 35 �
an. »Guten Morgen, Gentlemen«, sagte Rick Masters freundlich und versuchte, sich seine Besorgnis nicht anmerken zu lassen. Er wollte die kritische Situation überspielen. »Für mich ein Stout und eine Lokalrunde!« rief er dem dicken Wirt hinter der blinkenden Theke zu. Der Versuch schlug fehl. Zwar machten ihm die Männer Platz, so daß er ungehindert die Theke erreichen konnte, aber hinter ihm schloß sich die Gasse zu einer undurchdringlichen Masse feindlicher Menschen. Rick fühlte ein Ziehen in der Nierengegend und ein Kribbeln im Genick. Jeden Moment konnte ihn ein Schlag oder gar ein Stich treffen. Er verstand, daß diese Leute denjenigen töten wollten, der ihnen das Schreckliche angetan hatte, und er war sich der Gefahr bewußt gewesen, als er nach Kilroy kam. Aber er hatte sich sein erstes Zusammentreffen mit den Einwohnern des Ortes ganz anders vorgestellt, unter Polizeischutz und mit der Aussage Amy Sulkins und dem Zeugnis von Chefinspektor Hempshaw im Rücken. Und jetzt stand er allein dreißig möglichen Mördern gegenüber, deren gemeinsames Opfer Rick Masters hieß. Rick drehte sich gelassen um und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Theke, die Ellbogen auf der Haltestange, die als Stütze dienen sollte, wenn einer zu viele Gläser im Bauch hatte. Seine hellbraunen Augen fixierten die Nächststehenden, als versuchten sie, einen Akt der Raubtierdressur durchzuführen. Unangenehm war nur, daß er in seinem Genick den heißen Atem des Wirts fühlte. »Leute«, sagte Rick leise aber energisch. »Amy Sulkin kam nach London, um mich zu ermorden. Sie hielt mich für den Schuldigen.« Mit Erleichterung stellte er fest, daß ihn keiner tätlich angriff. Alle horchten angespannt und auch ein wenig ängst36 �
lich, wie es schien, auf seine Worte. »Amy hat mich nicht ermordet. Im Gegenteil, ich konnte ihr beweisen, daß mich keine Schuld trifft. Deshalb bin ich mit ihr nach Kilroy gekommen, um hier…« Er konnte nicht zu Ende sprechen. Instinktiv hatte er die Bewegung in seinem Rücken gespürt. Seinen Griff an der Haltestange ausnutzend, warf er sich zur Seite. Ein hölzerner Knüppel, der wahrscheinlich hinter der Theke verborgen gehalten wurde, um damit handgreifliche Meinungsverschiedenheiten unter angetrunkenen Gästen bereinigen zu können, knallte dicht neben Rick auf die Theke und hinterließ eine tiefe Einbeulung in der Metallplatte. Der Vertiefung nach zu urteilen, war der Schlag von dem Wirt mit so großer Wucht geführt worden, daß er Masters den Schädel hätte zertrümmern müssen. Diesem Angriff war der junge Detektiv zwar entkommen, aber die anfänglich beruhigende Wirkung seiner Worte war durch diese Gewalttat verwischt worden. Die Meute war losgelassen. Mit heiserem Geschrei stürzten sie sich auf den Fremden. Gläser schwirrten durch die Luft, die Stühle in der Public Bar gingen innerhalb weniger Augenblicke in Trümmer, und die Stuhlbeine und Lehnen dienten als Waffen. Rick Masters wehrte sich verzweifelt gegen die erdrückende Überzahl. Seine harten Fäuste arbeiteten wie Dampfhämmer. Zwei, drei Messerklingen blitzten. Einer der Männer zerschmetterte sein Glas an der Theke und behielt in der Hand nur den Griff mit einem rasiermesserscharfen Glasscherben. Rick reagierte instinktiv. Er warf sich nach hinten und vollführte eine Rolle rückwärts über die Theke. Daß dabei seine Schuhe ziemlich unsanft mit dem Gesicht des dicken Wirts in Berührung kamen, der ständig versuchte, ihm doch noch mit dem Holzknüppel den Schädel 37 �
einzuschlagen, störte ihn nicht sonderlich. Die Theke zwischen sich und der wütenden Menge, schlug er dem Wirt den Knüppel aus der Hand, hob blitzschnell die auf den Boden gefallene Waffe auf und schwang sie waagerecht hin und her, sich auf diese wirkungsvolle Weise die anderen vom Leib haltend. Trotzdem wäre der Detektiv überwältigt und zumindest sehr schlimm zugerichtet worden, wäre nicht in diesem Augenblick die Tür der Public Bar aufgestoßen worden. Rick Masters hatte nichts gegen die Polizei, im Gegenteil, er arbeitete oft mit ihr zusammen. Aber sehr oft freute er sich überhaupt nicht, wenn er die dunklen Uniformen auftauchen sah, weil es meistens eine Störung seiner privaten Ermittlungstätigkeit bedeutete. Jetzt glaubte er jedoch, noch nie einen so schönen Anblick vor Augen gehabt zu haben wie den einer englischen Polizeiuniform. Und der Genuss des Anblicks wurde durch die große Zahl von Uniformen noch gesteigert. Die Polizeipfeifen schrillten und übertönten das Geschrei der aufgebrachten Dorfbewohner. Die Schlagstöcke der Beamten waren nicht nötig, um die Ruhe innerhalb einer Minute wiederherzustellen. Dazu trug nicht zuletzt das Erscheinen eines massigen Mannes mit graumelierten Haaren und einem kantigen Gesicht bei Chefinspektor Kenneth Hempshaw. Die Leute kannten ihn als den für die Untersuchung verantwortlichen höchsten Kriminalisten von Scotland Yard und hatten absolutes Vertrauen zu ihm. Erwartungsvoll wichen sie zurück, die Stellen reibend, an denen sie von den kräftigen Fäusten der Polizisten getroffen worden waren. Ihre Blicke wanderten ständig zwischen Hempshaw und Masters hin und her. Rick Masters hatte erwartet, der Chefinspektor werde jetzt einige aufklärende Worte sagen und das gewaltsame Vorgehen der Dorfbewohner scharf verurteilen, aber als Kenneth Hemps38 �
haw zu reden begann, war die Überraschung perfekt. »Rick Masters«, sagte Hempshaw kühl und unpersönlich, wobei auch seinem Gesicht nicht abzulesen war, was er in diesem Moment dachte. »Ich verhafte Sie unter dem dringenden Verdacht, für die tödlichen Säureflocken verantwortlich zu sein, durch die zahlreiche Bewohner von Kilroy tödliche oder schwere Verletzungen und Verstümmelungen erlitten! Folgen Sie mir widerstandslos! Draußen wartet ein Wagen, der Sie schnellstens vor den Untersuchungsrichter bringen wird.« * Ein beifälliges Murmeln lief durch die Menge. Rick war im ersten Augenblick so vor den Kopf gestoßen, daß er keine Erwiderung wußte. Auf einen Wink des Chefinspektors traten zwei baumlange Polizisten neben den jungen Detektiv, packten ihn an den Armen und drängten ihn mit Nachdruck aus der Public Bar. Vor dem Gasthaus hatte sich eine große Ansammlung gebildet. Fast das ganze Dorf schien auf den Beinen zu sein, um die Verhaftung des Todfeindes von Kilroy des Teufels von Kilroy, wie ihn manche bereits nannten mitzuerleben. Zehn Uniformierte hatten Stellung bezogen und deckten Rick Masters, als er unter den ›Hängt-ihn-auf‹-Rufen der Menge zum Wagen geführt wurde. Die beiden kräftigen Konstabler stießen ihn in den Fond des Polizeiautos, und mit Sirenengeheul wendete der Wagen. Rick Masters saß schweigend neben dem Chefinspektor. Er konnte nichts sagen, weil ihn das Verhalten seines alten Bekannten, den er beinahe als seinen Freund bezeichnen konnte, erschüttert hatte. Wie konnte Chefinspektor Hempshaw ihn für den Schuldigen halten und ihn vor aller Augen abführen wie einen gemeinen Verbrecher? 39 �
War er nur nach Kilroy gekommen, um diese Niederlage einzustecken? Zu Ricks Überraschung verließ das Polizeifahrzeug nicht das Tal von Kilroy, sondern bog auf einen Waldweg ein. Der Fahrer stellte den Motor ab. »Jetzt wollen .wir einmal vernünftig miteinander reden, Rick«, begann Hempshaw das Gespräch. »Ich wüsste nicht, was wir noch zu besprechen hätten«, versetzte Rick kühl. »Ihr Verhalten zeigt deutlich…« Der Chefinspektor sah den jungen Detektiv erstaunt an. »Sie scheinen nicht begriffen zu haben, was ich tat!« rief er verblüfft. »Sie haben mich verhaftet, Kenneth.« »Unsinn!« Hempshaw winkte heftig ab. »Ich hätte Sie für klüger gehalten.« »Ich bin nicht Ihr Gefangener?« »Rick, Sie enttäuschen mich. So gut sollten Sie mich mittlerweile bereits kennen. Aber haben Sie das Kräfteverhältnis gesehen? Fast fünfhundert zu allem entschlossene Menschen gegen eine Handvoll von unbewaffneten Polizisten. Ich wollte und mußte einen Aufruhr vermeiden, bei dem es möglicherweise Tote gegeben hätte.« Rick Masters grinste über das ganze Gesicht. »Entschuldigen Sie mein Misstrauen, Kenneth. Das war wirklich nicht sehr klug von mir. Doch wie soll es weitergehen?« Chefinspektor Hempshaw strich sich ratlos durch sein graues Haar. Er zuckte die Schultern und machte einen ziemlich hilflosen Eindruck. »Offen gestanden, ich weiß es nicht«, sagte er. »Nach Aussage der Leute hielten Sie sich im Tal von Kilroy in einem alten verfallenen Landhaus auf, das den fast poetischen Namen ›Anastasia‹ trägt.« Dieser Name berührte eine Saite in Ricks Erinnerung, und 40 �
zwar eine sehr schlechte. Aber dieser Gedanke verblasste sofort wieder. Er konnte nichts mit den heißen Flocken von Kilroy zu tun haben. »Vor dem Haus fanden wir einen Reifenabdruck«, fuhr der Chefinspektor fort. »Während Sie in das Gasthaus gingen, verglichen wir den Abdruck mit dem Profil der Reifen Ihres Morgans.« »Sagen Sie bloß nicht, daß die beiden Profile übereinstimmen!« fuhr Rick auf. Hempshaw nickte. »Doch, Rick, sie stimmen überein. Das ist aber noch nicht das Verrückteste. In dem Haus ›Anastasia‹ stellten wir Fingerabdrücke sicher. Auch die haben wir in der Zwischenzeit verglichen.« Masters war bereits auf alles gefaßt. »Meine?« fragte er leise. »Ihre«, bestätigte Hempshaw. »Nach kriminaltechnischen Grundsätzen ist bewiesen, daß Sie sich in diesem Haus aufhielten.« »Ich war aber noch nie in Kilroy«, protestierte Masters. »Das glaube ich Ihnen aufs Wort, Rick. Aber kein Gericht der Welt wird Ihnen das abkaufen. Ihre Anwesenheit in diesem Tal ist bewiesen, außer…« »Außer? Sprechen Sie weiter, Kenneth!« forderte Rick Masters den Yardmann auf. »Sie zögern?« »Kommen Sie!« Hempshaw stieg aus und ging ein Stück abseits, Rick folgte ihm. Hier konnte ihr Gespräch von den anderen Polizisten nicht mitgehört werden. »Außer, es sind wieder übernatürliche Kräfte im Spiel«, vollendete der Chefinspektor seinen angefangenen Satz. »Es wundert mich«, versetzte Rick Masters, »daß Sie als alter Skeptiker diesmal von allein damit anfangen.« »Meine persönliche Meinung ist unwichtig in diesem Fall. Sie müssen die Wahrheit herausfinden, dabei bekommen Sie von 41 �
mir Rückendeckung. Das heißt, daß Sie jetzt fliehen müssen.« »Ich soll fliehen?« fragte Rick verständnislos. »Masters! Ich brauche einen Schutz gegen meine Vorgesetzten, sonst verliere ich meinen Posten. Also, Sie fliehen in den Wald. Niemand wird Sie verfolgen, aber lassen Sie sich nicht wieder vor den Dorfbewohnern sehen. Ich kann für nichts garantieren. Offiziell wird bekannt gegeben, daß Sie während des Transports in die Stadt entkamen. Stellen Sie Untersuchungen an, forschen Sie nach, aber informieren Sie mich nicht! Ich darf von nichts wissen, sonst komme ich mit dem Gesetz in Konflikt. Haben Sie mich jetzt verstanden?« Rick Masters nickte… »Kenneth«, fragte er mit einem undurchsichtigen. Lächeln, »wissen Sie eigentlich, daß ich mich schon ein paar Mal bei einem von uns beiden gemeinsam bearbeiteten Fall über Sie geärgert habe?« Hempshaw sah ihn verblüfft an. »Ja, natürlich weiß ich das. Wieso bringen Sie das jetzt zur Sprache?« Rick grinste jungenhaft über das ganze Gesicht. »Weil mir dadurch das Nachfolgende leichter fällt.« Seine Rechte zuckte hoch und versetzte dem Chefinspektor einen leichten Haken an die Kinnspitze, der genügte, daß Hempshaw das Gleichgewicht verlor und ein paar Schritte zurücktaumelte. »Ist nur wegen der Tarnung!« rief Rick ihm noch zu, dann drehte er sich um und hetzte in den Wald hinein. Hinter ihm. schlugen die. Büsche des Unterholzes zusammen. Aus Rick Masters, dem erfolgreichen Londoner Privatdetektiv, war Rick Masters, der gehetzte Verbrecher geworden. Rick, war entschlossen, denjenigen zur Verantwortung zu ziehen, der ihm diese Suppe eingebrockt hatte Mensch oder Geist! * 42 �
»Masters!« Der scharfe Zuruf ließ Rick herumwirbeln. Er hatte einen Fußmarsch von einer halben Stunde hinter sich und mußte sich bereits wieder in der Nähe von Kilroy befinden. Ein Polizist konnte hier nicht auf der Lauer liegen, weil Hempshaw ihm versichert hatte, seine Leute würden sich nicht um ihn kümmern. Also konnte es nur ein Dorfbewohner sein, und das bedeutete Ärger. Doch dann erkannte Rick den rothaarigen, massigen Mann mit dem Durchschnittsgesicht, und er wußte nicht, ob er sich darüber freuen sollte, daß er den Mann persönlich kannte, oder nicht. Bei »Red«, wie Rick diesen Mann nannte, ließ er immer die Möglichkeit »oder nicht« offen. Schließlich hatte schon oft das Zusammentreffen mit Red, seinem Kontaktmann zum Secret Service, für den er Fälle mit übernatürlichem Hintergrund klärte, Ärger bedeutet. Das hatte auch dazu beigetragen, daß zwischen ihnen kein so herzliches Verhältnis entstehen konnte wie mit Chefinspektor Hempshaw. »Masters, leisten Sie mir ein wenig Gesellschaft«, forderte ihn Red auf, der sich auf einen Baumstumpf gesetzt hatte. Er mußte sehr gut über die Ereignisse in Kilroy informiert sein, sonst hätte er Rick nicht so sicher den Weg abschneiden können. »Spielen Sie jetzt Waldgeist, Red?« fragte Masters und näherte sich vorsichtig dem Geheimdienstmann. »Oder wollen Sie die Ameisen zählen, diese arbeitsamen, fleißigen Tierchen?« Red überhörte den Spott in Ricks Worten. Er verzog keinen Muskel in seinem Durchschnittsgesicht, auf das fast jede Beschreibung paßte. »Masters, wir wissen, daß alle kriminalistischen Anzeichen dafür sprechen, daß Sie entgegen Ihren Behauptungen bereits früher in Kilroy waren.« 43 �
»Das stimmt nicht«, fuhr Masters auf. »Kann sein kann nicht sein.« Red zuckte die breiten Schultern, »Die Tatsachen sprechen gegen Sie, Masters!« Bei dem kalten Blick aus seinen harten Augen fröstelte Rick. »Sie haben einige Fälle für uns gelöst, in denen Wissenschaftler Erfindungen gemacht hatten, die großen Schaden anrichten konnten.« »Zur vollen Zufriedenheit des Secret Service gelöst«, gab der Detektiv zu bedenken. »Ja, natürlich, die Täter wurden gefaßt. Aber was geschah mit ihren Erfindungen, an denen einflussreiche Männer aus Politik und aus Militärkreisen interessiert waren?« »Sie spielen wohl darauf an, daß ich jeweils die Unterlagen von gefährlichen Erfindungen, aus denen man neue Waffen hätte bauen können, vernichtete?« Rick Masters grinste. Seine Mitarbeit war so wichtig gewesen, daß es der Secret Service sogar geschluckt hatte, wenn er entgegen einer Anweisung Papiere verbrannte, die das Militär um jeden Preis in die Hand bekommen wollte. »Sie behaupten, daß Sie die Unterlagen vernichteten!« Jetzt klirrte die Stimme des Kontaktmannes wie blankes Eis. »Aber niemand garantiert dafür, daß Sie nicht heimlich Unterlagen auf die Seite schafften.« »Das ist eine Unverschämtheit!« schrie Rick wütend. Er sah rot. »Das ist eine Tatsache«, konterte Red. »Ihre Fingerabdrücke, die Spuren Ihres Wagens hier im Tal von Kilroy, in dem die heißen Flocken Menschenleben kosteten und zahlreiche Personen zu Krüppeln machten ist das Ihre Menschlichkeit, Mr. Masters?« »Sie halten mich allen Ernstes für den Schuldigen?« Rick Masters trat einen Schritt auf Red zu und baute sich drohend vor ihm auf. »Meine persönliche Meinung ist nicht ausschlaggebend«, erwiderte Red ungerührt. »Aber wenn es Sie interessiert: die führen44 �
den Stellen des Secret Service sehen in Ihnen den Urheber der heißen Flocken.« Rick zitterte vor Wut. Das hatte er sich noch nie bieten lassen, aber er wußte gleichzeitig sehr gut, daß er im Moment keine Gegenbeweise in der Hand hielt. »Red!« Die Worte zischten gepresst aus seinem Mund durch die zusammengebissenen Zähne. »Red! Ich werde den wahren Schuldigen entlarven und Ihnen und Ihrem lächerlichen Idiotenverein beweisen, daß Sie mir Unrecht tun.« Er ballte die Hände zu Fäusten. »Und lassen Sie sich etwas gesagt sein, Red, wenn Sie mir dabei in die Quere kommen, wird es ungemütlich für Sie! Glauben Sie nicht, daß Sie mit ein paar Schecks das Recht gekauft haben, mich einen Verbrecher zu nennen.« Da stand auch Red auf. Er reichte Masters nur bis zum Kinn, aber er war viel breiter als der schlanke Detektiv gebaut. »Wir werden sehen«, sagte der Geheimdienstmann mit einem knappen Kopfnicken. »Es gibt für Sie nur zwei Möglichkeiten, Masters: entweder landen Sie am Ende dieses Falles auf Lebenszeit hinter Gittern, oder Sie erhalten von der Regierung einen vierstelligen Scheck.« »Die Gitter schlagen Sie sich aus dem Kopf!« fauchte Rick Masters unbeherrscht. »Und den Scheck stecken Sie sich sonst wo hin!« Damit ließ er den Agenten stehen und rannte in Richtung Kilroy davon. * Im Tal von Kilroy kannte jeder jeden. Fremde, die sich in diese Einöde verirrten, wurden schnellstens taxiert, besprochen und beurteilt. Keiner der Polizisten, Kriminalisten, Ärzte und Wissenschaftler, die sich mit dem Phänomen der heißen Flocken 45 �
beschäftigten, konnte dem Scharfblick der Dorfleute entgehen auch Red nicht, der Geheimdienstagent. Ihn hatten die Dorfbewohner allerdings als einzigen nicht einstufen können, und so übte er eine überdurchschnittliche Faszination auf sie aus. Wer wollte es den so schwer geprüften Menschen verübeln, daß sie den Agenten ständig unter Beobachtung hielten, weil sie fürchteten, daß ihnen von ihm neues Unheil drohen könnte? Der Geheimdienstmann hatte den Schatten, der ihm auf Schritt und Tritt folgte, längst bemerkt. Solange er sich mit Ermittlungen beschäftigte, die allgemein bekannt werden konnten, störte ihn der Verfolger nicht, doch vor seinem Gespräch mit Rick Masters hatte er den Mann durch einen ganz einfachen Trick abgehängt, damit aber das Misstrauen der Dorfleute gesteigert. Das war ihm gleichgültig. Wichtig erschien ihm nur, daß er ungestört mit Rick Masters sprechen und daß Masters auch hinterher unbeobachtet herumlaufen konnte, weil das Verhalten des Detektivs möglicherweise Aufschluss über seine Beteiligung an der Produktion der heißen Flocken geben konnte. Red hatte allerdings nicht mit »König Zufall« gerechnet. Dieser ebenso launische wie despotische Herrscher verhinderte, daß sein Zusammentreffen mit Masters unbeachtet blieb. Zwar suchte Reds Beschatter noch immer in der Nähe des Pubs nach dem rothaarigen Fremden, der ihn mit einem Rückzug durch das Toilettenfenster an der Nase herumgeführt hatte, aber ein einsamer Wanderer wurde durch laute Stimmen angelockt und näherte sich vorsichtig einer von Büschen umrahmten Lichtung des Waldes. Er sah den Rothaarigen und den Teufel von Kilroy! Atemlos kam der Mann im Dorf an. Zehn Minuten später wußten alle, daß der »Teufel« der Polizei entkommen war und sich in den Wäldern herumtrieb. Wiederum zehn Minuten später 46 �
stellten die als Beobachtungsposten im Dorf zurückgebliebenen Konstabler fest, daß sich die Männer in kleinen Gruppen entfernten, anscheinend über alltägliche Dinge plaudernd. Die Ruhe täuschte. Sie war nur eine Maske, die man den Polizisten zeigte, um ungestört den eigentlichen Zweck des Spazierganges verfolgen zu können: ein Femegericht. Wie ihre Vorfahren in grauen Vorzeiten, so versammelten sich die Einwohner von Kilroy nur die Männer auf einem eine halbe Stunde vom Dorf entfernten Kahlschlag zu einer Verhandlung über Rick Masters. Den Vorsitz führte der Dorfälteste. Niemand hatte diesen Leuten beigebracht, wie sie sich in einer solchen Situation verhalten sollten. Ihr Vertrauen in die Polizei war erschüttert, und ihr Todfeind lief frei herum. »Wahrscheinlich wird er sich jetzt an uns rächen wollen!« rief der Wirt, der sich immer wieder in den Vordergrund spielte. »Schließlich haben wir ihn der Polizei überliefert.« »Bei so vielen Polizisten im Tal kann er es gar nicht wagen, etwas gegen uns zu unternehmen.« Der Sprecher arbeitete als Metzger in Kilroy. »Die Polizei würde ihm sofort das Handwerk legen.« »Wer heißen Schnee erzeugt, der hat noch mehr Teufeleien auf Lager!« schrie der Wirt erregt. »Wäre er der Polizei ausgerückt, um sich in Sicherheit vor den Behörden zu bringen, dann wäre er doch schon längst aus dem Tal verschwunden. Statt dessen trifft er sich mit diesem rothaarigen Kerl, der ebenfalls wie ein Verbrecher herumschleicht und überall seine Nase hineinsteckt. Weiß einer von euch, wer er ist?« Er blickte fragend in die Runde, erhielt aber keine Antwort. Ein Beweis für die gute Arbeit des Geheimdienstmannes. »Wir haben nur mehr eine Möglichkeit, wie wir unsere Haut retten können.« Die Versammelten rückten näher, um sich kein einziges Wort entgehen zu lassen. Sie alle waren von Todesangst gepackt, seit 47 �
sie mit angesehen hatten, wie ihre Verwandten, Freunde und Bekannten im tödlichen Schneeschauer gestorben waren. »Wir müssen diesen Rick Masters töten so schnell wie möglich!« * Chefinspektor Kenneth Hempshaw hatte mit allen Mitteln verhindern wollen, daß in der Presse bekannt wurde, wer nach Meinung der Dorfleute hinter dem heißen Schnee von Kilroy stand. Hempshaw wußte nur zu gut, daß sich der hervorragende Ruf, den Rick Masters in Großbritannien genoß, in kürzester Zeit ins Gegenteil verwandeln konnte, wenn er in den Zeitungen als Mörder und skrupelloser Experimentemacher hingestellt wurde, auch wenn sich später herausstellte, daß er unschuldig war. Je höher einer stand, desto tiefer fiel er. Und wo ein Rauch, da ist auch ein Feuer. Das waren zwar zwei sehr alte Sprichwörter, aber sie besaßen ohne Einschränkung Gültigkeit, was die öffentliche Meinung betraf. So gut Hempshaws Absichten auch waren, sie ließen sich nicht verwirklichen. Gleich nach Bekannt werden der Vorfälle im Tal von Kilroy waren Reporter aus allen Teilen des Landes angereist und hatten sich wie ein Bienenschwarm auf eine blühende Wiese in das Tal stürzen wollen. Die Polizei war ihnen mit ihren Absperrungen zuvorgekommen. Einige ganz Schlaue hatten versucht, sich durch die Sperrzone zu schleichen, aber es war ihnen sehr schlecht bekommen. Zum Teil wurden sie »aus Sicherheitsgründen und wegen möglicher Ansteckungsgefahr«, wie es offiziell hieß, noch immer in irgendeiner Polizeistation in einem der umliegenden Dörfer festgehalten. Oder ihre Zeitung hatte einen Anruf erhalten, der sie veranlaßte, ihren eigenen Mann fester an 48 �
die Leine zu nehmen und ihm Eigenmächtigkeiten zu verbieten. In diesem Fall ließen die Behörden nicht mit sich spaßen. Aber niemand konnte es den Reportern verbieten, ihrerseits einen breiten Sperrgürtel um den Eingang zum Tal von Kilroy zu ziehen. Und diese Möglichkeit schöpften sie voll aus. Keine Maus konnte ungesehen hinein- oder herausgelangen. Ständig zuckten die Blitzlichter der Fotografen, surren die Filmkameras, wenn sich ein Wagen der Polizeisperre näherte ganz gleich, von welcher Richtung er kam. Der Chefinspektor konnte später nicht mehr feststellen, wer nicht dichtgehalten hatte. Zu viele Menschen waren an der Untersuchung des Falles beteiligt, und einer von ihnen hatte eine Bemerkung über die Verhaftung und die anschließende Flucht von Rick Masters gemacht. Als sich Hempshaw nach einigen Stunden auf der Fahrt in die nächste Stadt durch die Reporterzone wagte, wurde sein Wagen angehalten. Die Fragen prasselten wie Hagelkörner auf ihn nieder. »Kein Kommentar«, war das einzige, das der Chefinspektor mit gutem Gewissen erwidern konnte. Nahm er Rick in Schutz, stellte er sich vor seihen Vorgesetzten bloß und konnte seinem Freund überhaupt nicht mehr helfen. Gab er aber Einzelheiten an die Presse weiter, war der Detektiv erledigt. Sein knapper Kommentar genügte jedoch, um binnen kürzester Zeit zu den wildesten Gerüchten Anlass zu geben, die sich in entsprechend sensationellen Artikeln niederschlugen. Bei seiner Rückkehr nach Kilroy brachte der Chefinspektor die neuesten Ausgaben mit und las sie gemeinsam mit Dr. Sterling durch. »Sieht nicht gut für Rick aus«, bemerkte Hempshaw düster. »Hier wird er sogar öffentlich als Täter hingestellt.« Er schlug mit der flachen Hand auf ein Blatt der Boulevardpresse. »Wenn er da wieder heil herauskommen will«, sagte Dr. Ster49 �
ling besorgt, »genügt es nicht, wenn Sie oder der Secret Service den wahren Schuldigen finden. Masters selbst muß den Fall klären, und das so spektakulär wie möglich.« »Leichter gesagt als getan«, knurrte der Chefinspektor, der schwärzester Laune war. »Haben Sie mit Masters schon gesprochen?« Dr. Sterling schüttelte den Kopf. Er hatte eine heikle Aufgabe erhalten. Rick mußte sich bis zum Abschluß des Falles in den Wäldern verborgen halten und hatte keine Möglichkeit, sich mit dem Nötigsten zu versorgen, so daß Dr. Sterling einen Treffpunkt alle fünf Stunden aufsuchte, um dort Ricks Wünsche entgegenzunehmen. »Masters hat sich noch nicht blicken lassen«, erklärte der alte Arzt. »Aber eine andere Sache, Hempshaw. Hier im Dorf braut sich etwas zusammen, ich spüre das. Fragen Sie Ihre Konstabler. Die Leute sind unruhig, bemühen sich aber, uns von der Polizei das nicht merken zu lassen. Zwei oder drei stecken immer die Köpfe zusammen, zeigt sich aber eine Uniform, dann gehen sie mit Gesichtern auseinander, als hätten sie sich einen guten Witz erzählt.« »Es gärt in Kilroy.« Mit dieser knappen Feststellung stand der Chefinspektor auf und trat an das kleine Fenster. Sein besorgter Blick suchte den Himmel ab, der blau und freundlich leuchtete. »Erwarten Sie, daß es noch einmal schneit?« fragte Dr. Sterling und stellte sich neben den Yardmann. »Unvorstellbar, oder?« »Unvorstellbar, da haben Sie recht«, stimmte ihm Hempshaw zu. »Aber nicht unmöglich.« * Erregt von seiner Auseinandersetzung mit Red, dem Mann vom � Secret Service, lief Rick Masters durch den Wald. Das hatte er � 50 �
nun davon, daß er mehr als einmal Kopf und Kragen für den Geheimdienst riskiert hatte, um die Kastanien aus einem Feuer zu holen, das anderen Leuten viel zu heiß war, als daß sie ihre Pfoten hineingesteckt hätten. Er konnte sich nun wirklich nicht über die Schecks beklagen, die er für die Erledigung der heiklen Aufträge erhalten hatte, aber ein wenig Anerkennung anstelle der Beschuldigungen wäre ihm lieber gewesen, besonders in seiner jetzigen Situation. Rick verlangsamte seine Schritte und versuchte, sich zu orientieren. Sein Ziel war das Haus ›Anastasia‹, dessen Name unangenehme Erinnerungen in ihm ge weckt hatte. Sein Doppelgänger hatte sich dort aufgehalten oder befand sich sogar noch in dem Gebäude, auch wenn es der Polizei nicht gelungen war, eine Spur von ihm zu entdecken. Rick konnte seine Unschuld nur beweisen, wenn er der Öffentlichkeit den Mann zeigte, der so perfekt in seine Maske geschlüpft war, daß er sogar die gleichen Fingerabdrücke hinterließ und die gleichen Reifenabdrücke erzeugen konnte. Nach einem Fußmarsch von einer halben Stunde Rick war bereits ordentlich müde, da er nicht mehr an lange Wanderungen gewöhnt war, schimmerte das Dach eines alten Hauses durch die Zweige der Bäume. Das Dach war reich verziert und geschwungen, weshalb Rick Masters keinen Augenblick lang daran zweifelte, daß er den richtigen Weg eingeschlagen hatte. Die Beschreibung durch den Chefinspektor war sehr genau gewesen. Büsche teilend, trat Rick auf die Lichtung, an deren Rand das dunkle Gemäuer des Hauses sich gleichsam haltsuchend gegen die hohe Wand des Waldes lehnte. Es mußte schon lange unbewohnt sein. Kletterpflanzen rankten sich an den rohen Steinwänden hoch. Die Fenster glotzten wie tote, ausgestochene Augen zwischen den Blättern hervor. 51 �
Hier waren alle Geräusche des Waldes, die Rick auf seinem langen Weg bisher begleitet hatten, erstorben. Kein Lufthauch bewegte einen Baum oder einen Strauch, kein Tier huschte davon, vor dem Eindringling in den Frieden der Wildnis flüchtend, kein Vogel sang. Tot das war der richtige Ausdruck für die Waldlichtung und das Haus ›Anastasia‹. Rick war unter den letzten Bäumen stehen geblieben. Dann gab er sich innerlich einen Ruck und überquerte die Wiese. Sein Blick hing unverwandt an dem Gebäude, als hätte er einen persönlichen, lebenden Feind vor sich, der sich jeden Moment auf ihn stürzen konnte. Vor dem Haupteingang, zu dem etliche Stufen emporführten, stockte Ricks Fuß. Hier hatte die Polizei den Reifenabdruck ausgegossen und als Beweismittel gegen ihn festgehalten. Der junge Detektiv fühlte die Nähe eines Feindes, der ihn beobachtete und über seine unwirksamen Bemühungen bösartig grinste. Rick kam sich vor wie eine Maus, die nach einem Ausgang aus einer Flasche sucht, vor deren Öffnung die Katze sitzt und wartet. Wieder schaute Masters an der Vorderfront des Hauses hoch. Soweit er bis jetzt hatte feststellen können, würde er auf keinen menschlichen Feind treffen. Er trug zwar wie immer seine 38er Automatik bei sich, aber sie würde ihm nicht viel nützen. Wichtiger waren seine Kenntnisse der Schwarzen Magie und der verschiedensten übernatürlichen Erscheinungen, die er sich im Laufe seiner Arbeit für Scotland Yard und Secret Service angeeignet hatte. Daheim in London waren die Wände seines Wohnbüros mit Bücherregalen überladen, in denen sich alles fand, was sich in irgendeiner Weise mit Übernatürlichem beschäftigte, von der ältesten Pergamentrolle bis zum modernsten Fachbuch. Rick hatte dank seines beinahe fotografischen Gedächtnisses den Inhalt der Schriften ständig auf Abruf in seinem Gehirn bereit. 52 �
Er hoffte nur, daß er auch diesmal noch genügend Zeit haben würde, um in seiner geistigen Bibliothek nachschlagen zu können, wenn es gefährlich wurde. Knarrend schwang die Tür auf. Beim Anblick der Halle sank Ricks Mut auf den Nullpunkt. Falls hier überhaupt jemals eine interessante Spur zu finden gewesen war, so bestand nun nicht mehr die geringste Chance, eine bedeutende Entdeckung zu machen. Hier war offensichtlich eine Spurenkommission der Kriminalpolizei am Werk gewesen, und zu Ricks Bedauern mußte es sich um besonders gründliche Leute gehandelt haben, die aber auch keinen einzigen Quadratzoll ausgelassen hatten. Rick kannte diese »Handschrift« von Chefinspektor Hempshaws Leuten. So erfolgreich sie bei der Klärung eines normalen Kriminalfalles auch sein mochte, diese Spurenkommission des Yard, so schlimm wirkte sich ihre Untersuchung bei dem Auftreten übernatürliche Phänomene aus. Das Unterste war nach oben gekehrt worden, an manchen Stellen hatte man sogar die wurmstichige Wandtäfelung gelöst, um dahinter nach Geheimfächern oder -gängen zu suchen. Das Ergebnis kannte Rick von Hempshaw. Es wunderte ihn nicht, daß die Leute des Chefinspektors nichts gefunden hatten. Rick war der Überzeugung, daß Schwarze Magie die Ursache für den todbringenden Schnee in Kilroy gewesen war. In diesem Falle hatte sich der Urheber bestimmt so gut abgesichert, daß ihn eine gewöhnliche Polizeitruppe nicht behinderte. Hätte es in diesem Haus etwas gegeben, das den Magier Rick wollte seinen unbekannten Gegner einstweilen so nennen gefährdet hätte, dann wäre den Polizisten bestimmt der Zutritt zum Haus ›Anastasia‹ verwehrt worden. Langsam ging Rick Masters durch die Halle bis an die Freitreppe, die hinauf in das Obergeschoß führte. Alles machte einen verwahrlosten Eindruck, obwohl die gesamte Einrichtung vor53 �
handen war. Der letzte Besitzer mußte das Haus ›Anastasia‹ Hals über Kopf verlassen haben. Der junge Detektiv wunderte sich, daß die zum Teil sehr kostbaren antiken Möbelstücke noch nicht gestohlen worden waren. Er führte das darauf zurück, daß das Tal von Kilroy sehr abgelegen war, und dieser Wald, der das Haus ›Anastasia‹ verbarg, schreckte viele Menschen ab. Man behauptet immer, Natur wäre stets schön, doch er selbst hatte festgestellt, welch unheimliche Atmosphäre in diesem Teil des Tales herrschte. Die Spurenleute des Yard waren wirklich gründlich gewesen, wie Rick Masters bereits in der Halle hatte eingestehen müssen, aber sie waren nicht unfehlbar. Vielleicht hatten sie auch aus irgendeinem Grund die Suche vorzeitig abbrechen müssen, jedenfalls hatten sie Brotkrumen übersehen. Sie waren frisch, konnten nicht älter als einen Tag sein und lagen unter einem Bett im Schlafzimmer des Obergeschosses. Rick trat ans Fenster und schaute hinunter auf die ebene Wiese. Von hier oben hatte man einen guten Blick nach drei Seiten, wenn man auf den kleinen Erker hinaustrat, und man konnte jederzeit feststellen, ob sich jemand dem Haus näherte. Vielleicht hatte das etwas zu bedeuten, vielleicht hatte sich hier jemand aufgehalten, der großen Wert darauf legte, nicht entdeckt zu werden. Die Brotkrumen konnten aber auch eine sehr harmlose Erklärung haben. Ein Wanderer hatte vor einem Unwetter Zuflucht im Haus ›Anastasia‹ gesucht und sich in diesem Zimmer ausgeruht. Der Fund gab Rick Masters neuen Auftrieb. Er nahm die Suche wieder auf. Schon wollte er auf einer engen Wendeltreppe hinauf unter das Dach steigen, als er wie zu Eis erstarrte. Die Nackenhaare stellten sich auf, und über sein Rückgrat lief ein eisiger Schauder, als hätte ihn die Hand des Todes berührt. Er kannte die Stimme, die ihn rief! 54 �
Es war eine lautlose Stimme, die man nicht hören konnte. Man mußte sie fühlen. Ein Wesen aus dem Jenseits versuchte, Kontakt mit ihm aufzunehmen und ihn zu führen. Der junge Detektiv hatte genug Erfahrung, um sich in dieser geheimnisvollen Situation richtig zu verhalten. Er versuchte, seinen eigenen Willen über die Bewegungen seines Körpers auszuschalten und sich darauf zu beschränken, zu verhindern, daß ihn der Geist ins Verderben führte. Dann ließ er sich leiten. Mit mechanischen Schritten ging er die Treppe hinunter, quer durch die Halle und in den rückwärtigen Teil des Hauses. Seine Hand hob sich von allein und stieß eine Tür auf. Er betrat die Küche. Und in diesem Moment löste sich der Kontakt aus dem Jenseits. Aufatmend wischte sich Rick über die Augen. Hierher also hatte ihn der Geist geleitet, in die Küche. Er ließ seinen Blick durch den großen Raum und die mit einer dicken Staubschicht überzogenen Gegenstände gleiten. Dann sah er das Messer! Ein riesiges, blitzendes Schlachtmesser steckte in dem massiven Holztisch in der Mitte des Raumes. Rick trat näher. Das Messer hatte sich durch ein Bild gebohrt. Das Bild zeigte – ihn selbst! * Die Sonne stand senkrecht über dem Tal von Kilroy und hätte eigentlich angenehme Wärme erzeugen müssen, aber Chefinspektor Kenneth Hempshaw wickelte sich enger in sein Sakko ein. »Hätte nicht gedacht, daß es so erbärmlich kalt sein könnte«, 55 �
bemerkte er zu dem neben ihm gehenden Dr. Sterling. »Es tut mir beinahe leid, daß ich keinen Wintermantel mitgenommen habe.« »Hier scheint es nicht mit rechten Dingen zuzugehen«, erwiderte der Arzt des Yard und deutete auf den Hintergrund des Tals. »Das sieht nach einem Gewitter aus, aber die Kälte paßt nicht dazu.« Aus dem Talkessel zogen finster drohende Wolken auf Kilroy zu. Mit atemberaubender Geschwindigkeit bedeckte sich der Himmel. Die Sonne verblasste und wurde schließlich ausgelöscht. Das Licht reichte gerade noch, um die Hand vor den Augen erkennen zu können. Hempshaw erbleichte. Hätte er nicht bereits geahnt, worum es sich handelte, so hätten ihn die schrillen Schreckensschrei, der Menschen überzeugt. »Der Schnee!« gellte es durch das kleine Dorf. »Der heiße Schnee kommt! Rettet euch!« Eine weiße Wand rückte auf das Dorf zu der heiße Schnee! »Schnell! Weg hier!« rief Dr. Sterling, packte den Chefinspektor am Arm und zerrte ihn in das nächste Haus hinein. Ängstlich drängten sich etwa zehn Personen im Wohnraum zusammen. Aus angstgeweiteten Augen starrten sie hinaus ins Freie. Mit dem Näherrücken der Schneewand wurde Kilroy in ein bleiches Schimmern getaucht, das keine Schatten warf und alle Gegenstände mit unnatürlicher Schärfe abzeichnete. Kein Lebewesen befand sich mehr auf den Straßen. Aus den Häusern drang das Wimmern und Stöhnen der Verängstigten. Die Schneewand hatte den Rand des Hauptplatzes erreicht. Da geschah das Entsetzliche. Chefinspektor Hempshaw stieß einen heiseren Schrei aus. Auf der gegenüberliegenden Seite des Platzes öffnete sich eine 56 �
Haustür ein wenig. Ein kleiner Hund schlüpfte heraus und lief in die Mitte des Platzes. Und dem Hund folgte ein Junge von etwa vier Jahren! »Teddy!« rief der Junge. »Teddy, komm her! Bleib stehen!« Die weiße Wand aus tödlichen Flocken verschlang bereits ein Viertel des Platzes. Der kleine Hund tollte herum und rannte geradewegs in die Schneewand hinein. Hempshaw würgte die Übelkeit hinunter, die in seinem Hals hochstieg, als er sah, wie innerhalb weniger Sekunden das Fleisch des Hundes zerfressen wurde. Es zerbröckelte, löste sich auf, und zurück blieb das blanke Skelett. Der kleine Junge stand wie angewachsen. Durch die Totenstille drang sein bitterliches Schluchzen über den Tod seines vierbeinigen Freundes. Die tödliche Schneewand war nur mehr wenige Schritte von dem Kleinen entfernt. * Chefinspektor Hempshaw überlegte nicht. Offensichtlich fand niemand den Mut, dem Jungen zu helfen. Er konnte das keinem übel nehmen, wenn er an die Verstümmelungen der Opfer von Kilroy dachte. Aber er durfte im Moment nicht daran denken. »Hempshaw!« schrie Dr. Sterling erschrocken auf, als der Chefinspektor zur Tür stürmte, sie aufriss und auf den Platz hinauslaufen wollte. »Stehen bleiben!« Dr. Sterling hatte mit einem einzigen Blick erkannt, daß dem Chefinspektor noch genügend Zeit blieb, den Jungen vor den Flocken zu erreichen, doch er konnte den Kleinen und sich selbst nicht mehr in Sicherheit bringen. Die Schneewand schnitt ihm nämlich dann den Rückzug ab und trieb ihn auf der Straße gegen den Ausgang aus dem Tal zu, wo es keine Häuser mehr 57 �
gab, in denen er Zuflucht suchen konnte. Hempshaws Tat wäre also völlig sinnlos gewesen und hätte anstatt einem sogar zwei Opfer verursacht. Der Chefinspektor achtete nicht auf die Rufe des Arztes. Er packte die Klinke der Haustür und drückte. Doch in dem Augenblick, als sein Fuß die Schwelle des Hauses berührte, schlangen sich von hinten kräftige Arme um ihn. Zwei Männer, die den kühlen Kopf bewahrt und ebenfalls die Aussichtslosigkeit seines Unternehmens erkannt hatten, packten ihn und rissen ihn zurück. Hempshaw wehrte sich aus Leibeskräften, aber gegen diese bärenstarken Kerle hatte er keine Chancen. »Das ist ein Verbrechen an einem Kriminalbeamten!« brüllte der Chefinspektor, vor Zorn hochrot im Gesicht. Er hätte sicherlich noch weitergeschrien, hätte sich nicht die allgemeine Aufmerksamkeit dem einsamen Jungen auf dem Platz zugewandt. In den wenigen Sekunden, die Hempshaw bereits im Keim erstickter Rettungsversuch gedauert hatte, war die Schneewand noch näher an den Jungen herangekommen. Eine Frau schrie spitz auf. Die Tür des Hauses, aus dem das Kind gekommen war, flog krachend auf. »Die Mutter!« hauchte jemand neben Hempshaw. »Mein Gott, die Ärmste! Muß mit ansehen, wie ihr Kind…« Doch die Frau wollte es nicht mit ansehen. Sie lief, wie Kenneth Hempshaw noch nie in seinem Leben einen Menschen hatte laufen gesehen. Die Frau erreichte ihr Kind gleichzeitig, mit den todbringenden Schneeflocken. Doch sie versuchte nicht, mit ihrem Kind zu fliehen. Sie wußte, daß dann beide, rettungslos verloren gewesen wären. Die Frau war bereit, ihr Leben zu opfern. Sie warf sich auf den Jungen, riß ihn um und wälzte sich über ihn. Das Kind wurde vollständig unter ihr begraben. 58 �
Im nächsten Augenblick senkte sich der heiße Schnee über die beiden Menschen. * Rick Masters starrte auf sein von dem Schlachtmesser durchbohrtes Bild. Es war ein Foto aus einer Zeitung, die öfter über den erfolgreichen und bekannten Londoner Privatdetektiv berichtete. Schon bei vielen Gelegenheiten waren gegen Rick Morddrohungen ausgestoßen worden, und um eine solche handelte es sich auch, hier offensichtlich. Aber sie hatten ihn nicht erschrecken können. Es war ein Risiko seines Berufes, daß er mit der Rachsucht von ihm überführter Verbrecher rechnen mußte. Doch dieses zerstochene Bild schockierte ihn. Nicht das Messer machte den Anblick so schaurig, sondern die Linien und Buchstaben, die auf das Papier gemalt waren. Ein uneingeweihter Betrachter hätte sich gewundert, was diese Zeichen zu bedeuten hatten, doch Rick wußte es sehr genau. Er hatte die im sechzehnten Jahrhundert von Anhängern der Schwarzen Magie benutzten Geheimsymbole studiert und verstand ihren Sinn. Der auf dem Bild dargestellten Person wurde ein fürchterlicher Tod vorausgesagt. Rick zuckte zusammen. Die Zeichen vor seinen Augen wurden immer undeutlicher. Obwohl es Mittag war, senkte sich eine Dunkelheit wie am späten Abend über das Tal. Er lief zum Fenster und warf einen Blick zum Himmel, der sich vollständig mit schwarzen Wolken überzogen hatte. Sekunden später schwebten bereits die ersten etwa handtellergroßen Flocken zur Erde. Die heißen Flocken! Rick Masters schüttelte sich. Er war froh, daß er sich im sicheren Schutz dieses Hauses befand, das sich aus einer Bedrohung in eine Zufluchtstätte verwandelt hatte, und«er hoffte, daß sich 59 �
niemand mehr im Freien befand. Seine Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Während sich das Gestöber verdichtete, hörte er Keuchen und das Knacken von brechenden Zweigen. Er strengte seine Augen an, um in dem Dämmerlicht etwas erkennen zu können. Am Waldrand tauchte die Gestalt eines Mannes auf. Er war vom Schnee überrascht worden und wollte sich in das Haus retten. Der Mann stutzte, als er Rick an der Haustür erkannte, doch dann setzte er sich wieder in Bewegung. Er kam nicht weit. Noch hatte er nicht die Mitte der Waldlichtung erreicht, als der vernichtende Schneefall mit voller Kraft einsetzte. Der Mann brüllte auf, blieb stehen und neigte sich wie ein Baum, dessen Stamm angesägt worden war, zur Seite. Mit Grauen erkannte Rick, daß der Schnee den rechten Fuß des Mannes fraß, dann den Unterschenkel. Der Fremde hielt sich noch einige Sekunden auf dem linken Bein aufrecht. Das bis zum Knie fehlende rechte Bein baumelte hilflos in der Luft. Dann stürzte der Mann. Er schlug um sich, fuhr mit den Händen durch die Luft, bis auch sie zerfressen waren und abfielen. Der Todeskampf dauerte nicht länger als eine Minute. Dann bezeichnete nur mehr ein Häufchen Stoffreste die Stelle, an der eben noch ein Mensch gelegen hatte. Rick Masters drehte sich zitternd um. Sein Blick fiel auf das durchbohrte Bild. Hatte er soeben den ihm selbst drohenden Tod miterlebt? * Red, der rothaarige Kontaktmann Rick Masters zum Secret Service, war nach seiner Besprechung mit dem jungen Detektiv � nach Kilroy zurückgekehrt. Das Misstrauen der Menschen störte � 60 �
ihn nicht. Er hatte sich schon seit langer Zeit daran gewöhnt, daß er bei der Ausführung seiner Aufträge nur selten auf Sympathien stieß. Die Dorfbewohner interessierten Red nicht sonderlich. Rick Masters mußte überwacht werden, so lautete seine Anweisung. Red hatte keine Angst, daß Masters entkommen könnte. Er hatte sich persönlich davon überzeugt, daß die Polizeisperren am Eingang des Tals absolut dicht waren. Nach der zweimaligen Durchbrechung ihrer Linien hatte die Polizei den Sperrgürtel noch dichter gezogen. Falls Rick Masters tatsächlich schuldig war, würde er sich früher oder später selbst verraten, davon war Red überzeugt. In der Zwischenzeit wollte er sich noch in Kilroy umhören, die Menschen beobachten und ihre Reaktionen auf seine Fragen prüfen. Als die dunkle Wolkenwand aufzog, befand sich Red gerade auf einem Rundgang. Die weiße Schneewand rückte so rasend schnell auf den Ort zu, daß er keine Zeit mehr fand, sich in einem Haus in Sicherheit zu bringen. Verzweifelt sah er sich nach einer Möglichkeit um, das Gestöber heil zu überstehen. Wie ein gehetztes Tier lief er vor der Schneemauer her, stolperte, wäre beinahe gestürzt, erlangte sein Gleichgewicht wieder und raste weiter. Ein alter Lastwagen rettete ihn vor dem sicheren Tod. Als Red an der Klinke der Fahrertür riß, Schwang die Tür quietschend auf. Mit einem Sprung war er in der Fahrerkabine, quetschte sich hinter das Steuer und schlug die Tür zu. In der nächsten Sekunde setzte der dichte Schneefall ein. Red schaltete die Scheibenwischer an, um sehen zu können, was draußen vor sich ging. Erst in diesem Moment bemerkte er, daß der Lastwagen am Rand des Hauptplatzes stand. Er drehte den Kopf nach links und erschrak. Red wußte nicht, wie es dazu gekommen war, aber er sah 61 �
noch, wie sich eine Frau auf ein Kind warf und es mit ihrem Körper gegen die tödlichen Flocken schützte. Der Geheimdienstmann hatte die Leichen und die Verstümmelten gesehen. Es war klar, daß die Frau dieses Gestöber nicht überleben konnte, und auch für das Kind waren die Chancen gering. Gewohnt, rasch Entscheidungen zu treffen und jede Kleinigkeit auszunutzen, erkannte Red, daß es für ihn eine Möglichkeit gab, helfend einzugreifen. Groß waren seine Aussichten nicht, aber er mußte es auf jeden Fall versuchen. Der Zündschlüssel steckte nicht. Das hatte er schon beim Einsteigen in den alten hochbeinigen Lastwagen gesehen. Aber der Hauptplatz von Kilroy verlief leicht schräg geneigt, und das Fahrzeug stand am oberen Ende. Der Fuß des Agenten rammte das Kupplungspedal nieder. Mit einem blitzschnellen Griff löste er die Handbremse. Am liebsten wäre er aus dem Führerhaus gesprungen und hätte angeschoben, aber das hätte niemandem geholfen. Quälend langsam setzte sich der schwere Lastwagen in Bewegung, aber nachdem er einmal den toten Punkt überwunden hatte, ging es immer schneller. Es war ein gefährliches Spiel, das der Agent des Secret Service spielte, doch der Einsatz war hoch genug: zwei Menschenleben. Rumpelnd rollte der Lastwagen auf die auf dem Boden hegende Frau zu. Jetzt erreichte sie die Front der ätzenden Flocken. Wenn ihre Kleider wenigstens noch für ein paar Sekunden die fürchterliche Wirkung des heißen Schnees aufhalten konnten! Es wäre viel sicherer gewesen, wenn Red langsam die beiden Menschen hätte ansteuern können, aber dann wäre zuviel Zeit vergangen. Er mußte den Lastwagen mit voller Geschwindigkeit ganz dicht heranrollen lassen und durfte erst im letzten Augenblick bremsen. Dabei konnte er nicht vorausberechnen, ob das 62 �
schwere Fahrzeug schleudern, aus der Bahn geraten und Mutter und Kind zerquetschen würde. Die Frau merkte nichts von dem heranrollenden Lastwagen. Sie preßte sich so flach wie möglich über ihren Sohn. Red hatte sich blitzschnell ausgerechnet, daß die Achsen des Lastwagens hoch genug angebracht waren, um die Frau nicht zu verletzten. Noch eine Wagenlänge noch eine halbe. Der Agent trat vorsichtig auf die Bremse und verstärkte innerhalb von Sekundenbruchteilen den Druck. Der Wagen blieb in der Spur, aber die Räder blockierten. Ungebremst rutschte das schwere Fahrzeug ein Stück. Red riß den Fuß von der Bremse, trat mit voller Wucht zu, lockerte, trat zu. Stotterbremsung! Der Lastwagen stand. Gang einlegen, Handbremse anziehen. Jetzt blieb nur mehr die Hoffnung, daß die beiden Menschen keinen Schaden durch den heißen Schnee erlitten hatten und nicht von dem Lastwagen verletzt worden waren. Die Minuten tropften zäh dahin. Red fühlte, wie ihm der kalte Schweiß über Gesicht, Hals und Rücken lief. Er schüttelte sich wie ein nasser Hund. Seine Hände krampften sich um das Lenkrad des Lastwagens, daß die Knöchel scharf weiß hervortraten. Dann war das vernichtende Schneetreiben vorbei. Der Agent sprang aus dem Wagen. Mit bebenden Händen zog er die Frau und das Kind unter dem schweren Fahrzeug hervor, das sie nicht einmal gestreift hatte. Beide lebten. Die Frau hatte einige Verätzungen auf dem Rücken erlitten, die aber nicht gefährlich waren. Der Junge war unverletzt. Der Geheimdienstmann lehnte sich tief aufatmend gegen das kühle Metall des Wagens. Innerhalb von Sekunden war er von einer schreienden, begeisterten Menschenmenge umringt. Wortlos bahnte sich Red einen Weg. Er mußte jetzt allein sein. 63 �
Der gefährlichste Kampf gegen feindliche Agenten hätte ihn nicht so mitgenommen wie das nun Erlebte. * Chefinspektor Kenneth Hempshaw und Dr. Sterling hatten alles vom Fenster des Hauses aus verfolgt, in das sie sich geflüchtet hatten. Es war viel schneller abgelaufen, als man es mit Worten beschreiben kann, so daß es Sekunden, fast schon Minuten dauerte, bis Hempshaw begriff, daß die Frau und das Kind gerettet waren, Der Chefinspektor lief mit den anderen Menschen hinaus auf den Platz. Im Gegensatz zu ihnen wußte er, wer der Retter war. Es gab aber noch einen Unterschied zwischen dem Yardmann und den Einwohnern von Kilroy. Sobald der heiße Schnee eingesetzt hatte, waren die Menschen in heller Panik in die Häuser gelaufen. Kaum wußten sie sich in Sicherheit, als das Gefühl der Angst umschlug in Hass gegen den Mann, den sie für den Schuldigen hielten. Gegen Rick Masters, den Privatdetektiv aus London. Seit er nach seiner Verhaftung durch den Chefinspektor »geflohen« war, hatten ihn zahlreiche Einwohner von Kilroy gesucht. Hopkins, der Uhrmacher, hatte Glück gehabt und Masters gesehen, als er mit dem rothaarigen Fremden sprach. Er war sofort ins Dorf gelaufen, um die Neuigkeit zu verbreiten. Bis zur endgültigen Erstellung eines Planes, wie man den Feind vernichten könnte, wurde Hopkins wieder hinter Masters hergeschickt, um jeden seiner Schritte zu überwachen. Und jetzt steckte Hopkins irgendwo da draußen im Wald, war von dem tödlichen Schnee überrascht worden und gab kein Lebenszeichen von sich. Die Unruhe unter den Einwohnern von Kilroy stieg. Sie wußten, daß Hopkins hinter Rick Masters her war, daß er vermisst wurde und daß ein Mordplan gegen Masters bestand. 64 �
Chefinspektor Kenneth Hempshaw wußte das alles nicht, und das war der große Unterschied zwischen ihm und den Menschen, in deren Mitte er sich befand. Selten hat ein Kriminalist die Möglichkeit, ein Verbrechen zu verhindern. Meistens muß er sich mit der Aufklärung begnügen, wenn dem Opfer nicht mehr zu helfen war. Jetzt hätte er die Chance gehabt, ein Menschenleben zu retten, und konnte sie nicht wahrnehmen, weil er sich einer Mauer des Schweigens gegenübersah. »Irgend etwas stimmt hier nicht«, bemerkte der Chefinspektor zu Dr. Sterling. »Die Leute sind zu ruhig und friedlich.« Der alte Polizeiarzt zuckte die Schultern. »Seien Sie doch froh darüber. Oder wäre es Ihnen, lieber, wenn hier alle verrückt spielten?« »Trotzdem ist etwas faul«, beharrte Hempshaw auf seiner Meinung. »Versetzen Sie sich doch in die Lage dieser Leute. Zum zweiten Mal sind sie nur mit knapper Not dem Tod oder der Verstümmelung entkommen. Sie glauben, den Urheber dieser Katastrophen in Reichweite zu haben, und trotzdem laufen sie im Dorf herum, als wäre nichts geschehen.« »Sie meinen, daß es nur eine Fassade ist, die für die Polizei gedacht ist?« »Allerdings. Seit der Schlägerei sind etliche Konstabler im Ort verteilt, die mir Meldung machen sollen, sobald sich etwas ereignet. Glauben Sie vielleicht, daß niemand bemerkt hat, welche Aufgabe meine Leute haben?« »Es weiß doch niemand, wo Masters steckt«, gab Dr. Sterling zu bedenken. »Sind Sie sicher?« Der Chefinspektor gefiel sich im Augenblick als Skeptiker, und er behielt recht. Er stand mit dem Polizeiarzt vor dem Pub, von wo aus sie den Hauptplatz mit seinen kleinen, sauberen Fachwerkhäusern überblicken und alles beobachten konnten, was im Zentrum der klei65 �
nen Ortschaft geschah. Aufgefallen war ihnen aber nur, daß sich im Moment weniger Menschen auf den Straßen aufhielten als vor etwa einer halben Stunde. Daran war nichts Ungewöhnliches, weil sich die erste Aufregung über die Rettung der Frau und ihres kleinen Sohnes gelegt hatte. Doch das friedliche Bild wurde jäh durch eine schwarzgekleidete Gestalt gestört. Hempshaw kniff die Augen zusammen, als er die junge Frau erkannte. Es war Amy Sulkin, die mit Rick Masters aus London gekommen war. Der Chefinspektor wußte nicht, was sie dort getan hatte, weil Rick zu keinem Menschen über den Mordversuch gesprochen hatte. »Sie scheint es ziemlich eilig zu haben«, sagte er zu Dr. Sterling, der ebenfalls bereits das Mädchen mit dem verunstalteten Gesicht und den verkrüppelten Händen entdeckt hatte. »Für meinen Geschmack hat sie es sogar zu eilig.« Amy Sulkin erreichte die beiden Männer und lehnte sich keuchend gegen die Hauswand. »Kommen Sie schnell!« stieß sie gepresst hervor. »Sie wollen ihn ermorden!« »Masters?« Chefinspektor Hempshaw zuckte erschrocken zusammen. Amy nickte. »Ja, Masters! Sie glauben, daß er die Schuld an dem neuerlichen Schneefall hat.« »Wissen sie denn, wo er sich aufhält?« »Hopkins, der Uhrmacher, hat Masters gesehen, als er mit dem rothaarigen Fremden sprach, der vorhin Mrs. Petersen das Leben gerettet hat. Masters ging in der Richtung auf das Haus ›Anastasia‹ weiter. Hopkins sollte ihn überwachen, ist aber seit mehr als einer Stunde vermisst. Jetzt wollen etwa fünfzig Männer zu dem einsamen Haus gehen. Wenn sie Masters dort finden, ist er verloren. Sie werden ihn töten, kaltblütig abschlachten!« 66 �
Hempshaw nagte nachdenklich an seiner Unterlippe. Dr. Sterling schwieg. Das war Sache der Polizei, in die er sich nicht einmischen wollte. Außerdem war er überzeugt, daß der Chefinspektor das Richtige tun würde. »Miß Sulkin«; sagte Hempshaw nach einer Weile. »Laufen Sie, so schnell Sie können, zum Haus ›Anastasia‹! Wenn Masters dort ist, dann warnen Sie ihn! Er soll sich im Wald verstecken. Ich werde versuchen, mit meinen Leuten die Menge aufzuhalten. Vielleicht hören sie auf mich oder haben Angst vor den Folgen. Das Auftauchen von Uniformen könnte auf diese Menschen beruhigend wirken. Ich komme dann nach.« Amy nickte, drehte sich um und lief davon. Hempshaw sah, wie sie im Wald verschwand, dann setzte er sich ebenfalls in Bewegung. Auf die schrillen Pfiffe seiner Signalpfeife versammelten sich neun Konstabler innerhalb weniger Minuten um ihn. Er erklärte ihnen die Situation, und in einer geschlossenen Formation liefen sie los. »Ich verstehe nicht, Sir«, rief ein Sergeant, der neben Hempshaw auf den Wald zuhetzte, »daß die angeforderte Verstärkung noch nicht eingetroffen ist.« »Die Bürokratie ist nicht mal in einem Fall wie diesem auszuschalten«, erwiderte der Chefinspektor grimmig. »Aber sparen Sie sich die Puste, Sie werden noch mehr Atem brauchen, als Ihnen lieb sein wird.« Er behielt recht. Nach zehn Minuten hörten sie Stimmen durch den Wald. Sie kamen von rechts. Hempshaw hielt darauf in einem spitzen Winkel zu, um die Leute aus Kilroy zu überholen und ihnen den Weg zu verlegen. Sein Manöver gelang. Die Gruppe der Männer aus Kilroy hielt an, als sie die Polizisten vor sich sahen. Alle waren mit irgendwelchen Gegenständen bewaffnet mit Knüppeln, Flaschen und auch Messern. 67 �
Kenneth Hempshaw löste sich von seinen Männern und ging auf den Mob zu. Sein sicheres Auftreten verfehlte seine Wirkung nicht. Er baute sich in der Mitte des Weges auf, die Hände in die Hüften gestemmt. »Keiner geht auch nur einen Schritt weiter!« rief er mit lauter Stimme. »Was ihr vorhabt, ist glatter Mord. Wollt ihr ins Zuchthaus? Die Polizei übernimmt euren Schutz! Ich dulde keine Lynchjustiz!« Ein grobknochiger Mann trat vor. Er überragte den Chefinspektor um einen ganzen Kopf. In den schwieligen Fäusten hielt er eine zolldicke Eisenstange. »Aus dem Weg!« grollte er. »Sonst schlage ich Ihnen den Schädel ein. Niemand kann uns mehr aufhalten!« * Tatenlos hatte Rick Masters zusehen müssen, wie sich der Mann in dem Gestöber der tödlichen Säureschneeflocken auflöste. Seine Hände verkrampften sich. Die Waldlichtung wirbelte vor seinen Augen. Fassungslos taumelte er zu einem Stuhl und ließ sich dar auffallen. Minutenlang starrte er zu Boden. Nach diesem grauenhaften Vorfall konnte er sich die Erbitterung der Einwohner von Kilroy gegen ihn vorstellen. Er begriff, daß sie ihn, den vermeintlichen Urheber, wie die Pest hassten und daß er sich in Lebensgefahr befand, solange er sich im Tal von Kilroy aufhielt. Trotzdem durfte er jetzt nicht fort, weil er sonst keine Möglichkeit gehabt hätte, sich jemals wieder zu rechtfertigen. Auch Personen, mit denen er bereits lange zusammenarbeitete, zeigten Misstrauen gegen seine Ehrlichkeit, zum Beispiel Red, sein Kontaktmann zum Secret Service. Endlich raffte sich Rick Masters wieder auf. Sein Bild, das mit 68 �
magischen Zeichen versehen und von einem Messer durchbohrt worden war, steckte er in die Innentasche seiner Jacke. Die Verbindung des Namens ›Anastasia‹ mit den magischen Symbolen ließ interessante Schlussfolgerungen zu, doch erschienen sie Rick einstweilen noch zu vage und zu verrückt, als daß er ihnen ernstlich nachgegangen wäre. Er beschränkte sich darauf, das Haus noch einmal vom Keller bis zum Dachboden zu durchsuchen ohne Ergebnis. Auch in den unter der Erde liegenden Räumen hatte er keine Hinweise entdeckt, die ihm weitergeholfen hätten. Ein wenig ratlos trat er hinaus auf die Wiese und ging langsam um das alte Haus herum. An der Hinterseite angekommen, stutzte Rick. Die Hausmauer war dicht mit Efeu bewachsen, das in langen Ranken von der Erde bis unter das Dach reichte. Es war fast nicht möglich, auch nur einen Quadratzoll Wand zu sehen. Und doch erschien es Rick, als hätte der Untergrund hinter diesem grünen Vorhang an einer Stelle eine andere Farbe. Er trat näher und teilte die Ranken… Der junge Detektiv spannte sich. Er hatte sich nicht getäuscht. In der Mitte des Hauses war eine schwere Metalltür angebracht, die ganz sicher erst in jüngster Zeit eingebaut worden war. Das Metall glänzte noch wie neu, und das Merkwürdigste an dieser Tür war, daß sie keine Klinke und kein Schloß hatte. Sie führte in Kellerräume, die von innen nicht zu betreten waren. Rick hatte nämlich bei seinem Rundgang im Untergeschoß des Hauses keine Tür gefunden, durch die man ins Freie gelangen könnte. War er auf das Geheimnis des alten Hauses gestoßen? Verbarg sich hinter dieser Tür der Schlüssel zu dem Grauen des Tales von Kilroy? Rick Masters streckte seine bebende Hand nach dem Metall aus. Seine Finger stießen, noch in der Luft schwebend, gegen einen Widerstand. Mutlos ließ er die Hand sinken. Die Tür war 69 �
durch eine geheimnisvolle Kraft gesichert, weshalb auch ein Schloß überflüssig war. Der junge Detektiv trat einen Schritt zurück und überlegte, was er gegen diese, Sperre unternehmen konnte. Sehr rasch kam er zu dem Schluß, daß er sich für den Augenblick damit abfinden mußte, nicht in die Sperrzone des Hauses eindringen zu können. Aber er wollte ein Experiment versuchen. Wenn es klappte, war er einen großen Schritt weitergekommen. Er ging so dicht wie möglich an den Sperrschild heran, drückte seinen Körper und sein Gesicht dagegen und konzentrierte sich. Er lenkte alle seine Gedanken auf das Haus und auf das Wesen, das diese Sicherung errichtet hatte. Die Welt um ihn herum versank. Der Wald wich zurück. Die Tür vor ihm löste sich auf. In dem leeren Raum erschien die Gestalt einer Frau. Das Gesicht verschwamm in einem bläulichen Nebel, aber Rick konnte das Kleid deutlich erkennen. Er verstand zu wenig von der Mode vergangener Jahrhunderte, aber es war klar, daß es schon lange einige hundert Jahre her sein mußte, daß sich die Frauen so anzogen. Das Gewand war aus kostbaren Stoffen gefertigt. An den Fingern der Frau blitzten funkelnde Ringe mit wertvollen Edelsteinen. Die Erscheinung schwebte auf Rick Masters zu. Krallenartige Finger streckten sich nach ihm aus. Rick fühlte das Böse, das von dieser Frau ausging. Er ahnte, daß sie seine Todfeindin war, daß sie auf seine Vernichtung sann. Dicht vor ihm löste sich die Gestalt auf. Benommen schüttelte Rick den Kopf. Er sah wieder die Stahltür, die Hausmauer und den Wald. Jemand rief seinen Namen. Er drehte sich um. Amy Sulkin kam quer über die Wiese auf ihn zugetaumelt. *
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Das Mädchen war völlig außer Atem. Sie hatte kaum mehr die Kraft, ihre Beine zu heben. Wenige Schritte vor Rick Masters stolperte sie und wäre gefallen, hätte er sie nicht in seinen Armen aufgefangen. »Ist ja gut«, redete er beruhigend auf Amy ein. Er vermutete, daß der Schneeschauer einen Schock bei ihr ausgelöst hatte. Schließlich war sie beim ersten Mal so grauenhaft entstellt worden, daß ihr Gesicht nur mehr eine rohe, fleischige Masse bildete. »Kommen Sie, ruhen Sie sich erst aus!« Er führte die Zitternde in das Haus und ließ sie auf ein breites verstaubtes Sofa gleiten. Amy hatte nicht die Kraft, sich dagegen zu wehren, obwohl sie sich vor diesem Haus fürchtete. In Kilroy hatte man sich immer wieder die schrecklichsten und schauerlichsten Geschichten über das einst herrschaftliche Landhaus erzählt, so daß es kaum jemanden aus dem Ort gab, der sich freiwillig hierher gewagt hätte. Doch ihre Angst war gar nicht so groß, stellte sie erstaunt und überrascht fest. Die Nähe des sympathischen jungen Mannes wirkte vertrauenerweckend auf sie. Die Geister, die nach den Legenden in diesem Haus spuken sollten, waren plötzlich nicht mehr gefährlich oder bedrohlich. Nach den Aufregungen der letzten Stunden und der Anstrengung des weiten Weges von Kilroy bis hierher, auf dem sie sich nicht ein einziges Mal ausgeruht hatte, überkam Amy jetzt eine bleierne Müdigkeit. Sie schloß die Augen, und ihr Kopf sank auf ihre Brust. Rick lächelte zufrieden, aber im nächsten Moment schreckte das Mädchen hoch, schaute verwirrt um sich und fuhr mit einem leisen Schreckensschrei von dem Sofa hoch. »Mein Gott, Mr. Masters!« rief sie und packte Rick an den Aufschlägen seiner Jacke. »Sie müssen sich in Sicherheit bringen! Schnell, kommen Sie! Fliehen Sie!« 71 �
Verständnislos blickte Rick auf die aufgeregte Frau hinunter. »Amy«, sagte er eindringlich, »kommen Sie zu sich! Hier kann Ihnen nichts geschehen!« »Ich spreche doch nicht von mir«, sagte sie ungeduldig und versuchte, ihn zur Tür zu zerren. »Fünfzig bewaffnete und zu einem Mord entschlossene Männer kommen her. Man will Sie töten, Mr. Masters.« Endlich begriff Rick. »Man glaubt, daß ich…« »Ja«, unterbrach sie ihn. »Der Chefinspektor von Scotland Yard hat mich zu Ihnen geschickt, um Sie zu warnen. Er möchte versuchen, mit seinen Konstablern die Leute aufzuhalten, aber ich fürchte, daß ihm das nicht gelingen wird. Sie sollen sich im Wald verstecken, bis die Wut der Leute wieder verraucht ist.« Rick Masters überlegte nicht lange. Die schlechten Erfahrungen im Pub waren noch zu deutlich in seinem Gedächtnis. Mit fünfzig Männern, die ihr Leben und das ihrer Angehörigen zu verteidigen glaubten, konnte er sich auf keinen Kampf einlassen. »Kommen Sie, Amy!« Jetzt zog er das Mädchen zur Tür. »Sie dürfen auch nicht bleiben. Wenn man Sie hier findet, wird man Sie wie eine Verräterin behandeln.« Amy Sulkin erbleichte. Sie hatte bisher noch nicht an die Folgen ihrer Tat gedacht. Sie begann wieder zu zittern und leistete keinen Widerstand, als der Detektiv sie am Arm packte und mit ihr zur Hinterseite des Hauses lief. Sie wunderte sich nur, als Masters unerwartet stehen blieb. »Schnell doch«, drängte sie. »Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich weiß nicht, wie dicht mir die anderen auf den Fersen sind. Ich bin zwar wie eine Verrückte gelaufen, aber es kann nicht lange dauern, bis sie hier sind, wenn der Chefinspektor sie nicht aufhalten konnte.« Rick lauschte angestrengt. Über dem Wald lastete noch immer 72 �
drückende Stille. Er nickte Amy lächelnd zu. »Keine Angst, ein paar Minuten bleiben uns auf jeden Fall. Oder meinen Sie vielleicht, daß fünfzig Leute, die jemanden lynchen wollen, heimlich, still und leise angerückt kommen? Sie werden einen ganz schönen Wirbel veranstalten, den wir schon von weitem hören können.« Er zog Amy zu der Efeuwand hin. Das Mädchen verstand nicht, worum es ging, und Rick sagte es ihr absichtlich nicht. Er wollte etwas ausprobieren. »Amy, hinter diesen Schlingpflanzen liegt eine Eisentür. Öffnen Sie sie!« »Aber, wir haben jetzt keine…« »Bitte, Amy, es ist wichtig.« Sie zuckte die Schultern und machte einen Schritt auf den Efeu zu. Schon streckte sie ihre Hand nach den Ranken aus, als sie sie wieder sinken ließ und sich zu Rick umdrehte. »Hier gibt es keine Tür«, sagte sie mit Bestimmtheit, obwohl sie die durch die Blätter verdeckte Mauer gar nicht hatte sehen können. Rick hielt angespannt den Atem an. Falls ihm das Mädchen keine Komödie vorspielte, um so schnell wie möglich von hier fortzukommen, trat genau das ein, was er vorausgesehen hatte. »Sie haben überhaupt nicht nachgesehen, Amy«, drängte er. »Versuchen Sie es!« »Wie Sie meinen.« Mit einem nochmaligen Achselzucken vollführte Amy in der Luft eine Handbewegung, als wollte sie die Ranken teilen, obwohl sich ihre Hand noch mehr als einen ganzen Schritt von den Pflanzen entfernt befand. »Sehen Sie«, sagte sie triumphierend. »Wie ich schon sagte, nichts als nackte Mauer. Sie sehen langsam Gespenster, Mr. Masters.« »Schon gut.« Rick hörte Stimmengewirr und aufgeregte Rufe 73 �
durch den Wald hallen. »Wir sollten doch lieber zusehen, daß wir von hier verschwinden.« Die geisterhafte Erscheinung, diese Frau in den altertümlichen Gewändern, hatte also die Tür nicht nur in der Weise gesichert, daß niemand sie berühren konnte. Vielmehr war es so, daß normale Menschen diese Tür überhaupt nicht sahen. Das festigte in Rick die Überzeugung, daß sich dahinter das Geheimnis der tödlichen Schneeflocken von Kilroy verbarg. Er selbst zählte sich übrigens mit Recht nicht zu den normalen Menschen. Durch seine zahlreichen und langwierigen Forschungen auf dem Gebiet der Schwarzen Magie hatte er die Fähigkeit erworben, übernatürliche Kräfte teilweise auszuschalten. Nur so war es auch zu erklären, daß er an die Tür hatte herankommen können und nicht, wie Amy Sulkin, bereits vor der Efeuwand zurückgestoßen worden war. Empörte Rufe drangen aus nächster Nähe zu Rick Masters. Die ersten Männer aus dem Dorf tauchten zwischen den Bäumen am Lichtungsrand auf. Chefinspektor Hempshaw befand sich mitten unter ihnen und redete beschwörend auf sie ein, hatte aber keinen Erfolg. Die Konstabler hielten sich ein wenig ratlos abseits. Rick Masters packte Amys Arm und lief um sein Leben. * Nachdem sie zehn Minuten über den weichen Waldboden gerannt waren, wurde Amy Sulkin immer unruhiger. »Haben Sie vergessen, daß Sie ermordet werden sollen?« fragte sie, ohne stehenzubleiben. »Wie könnte ich?« gab Rick grimmig zurück. »Aber…« Jetzt wollte sie doch anhalten. Rick lief einfach weiter, und es blieb dem Mädchen nichts anderes übrig, als mit ihm 74 �
gleichen Schritt zu halten. »Mr. Masters! Sie kommen auf diesem Weg nach Kilroy!« Rick wendete seinen Kopf und zeigte Amy sein jungenhaftes Lächeln. »Natürlich!« rief er über die Schulter zurück. »Ich bin nirgendwo so sicher wie in Kilroy. Alle, die mir an den Kragen wollen, sind bei dem alten Landhaus, und niemand rechnet damit, daß ich mich in die Höhle des Löwen wagen werde.« Ganz so sicher, wie er tat, war Rick Masters nicht, aber er wollte das Mädchen nicht noch mehr ängstigen. Amy merkte, daß er vorsichtiger wurde, als sie sich dem Dorf näherten. Der Detektiv duckte sich hinter den letzten Stämmen der mächtigen Bäume und spähte vorsichtig nach einer Deckung aus, in deren Schutz er sich ungesehen der Ansiedlung nähern konnte. Ein zufriedenes Grinsen lief über sein angespanntes Gesicht. »Wir müssen dort entlang«, sagte er zu Amy und deutete auf einen zu beiden Seiten von Büschen gesäumten Weg, der zu der Kirche führte. »Sie kennen doch sicher den Geistlichen von Kilroy.« »Reverend O'Brian ist ein guter Bekannter meiner Familie«, versicherte Amy Sulkin, während sie versuchte, mit Ricks langen Beinen Schritt zu halten. »Er kennt mich noch von der Wiege her.« »Na fein«, freute sich der junge Detektiv. »Das wird helfen.« Amy blickte überrascht hoch. »Wollen Sie den Reverend vielleicht besuchen?« »Nicht nur vielleicht, sondern ganz sicher. Ich brauche einige Auskünfte von ihm, die mir weiterhelfen könnten.« Amy senkte den Kopf. Es sah so aus, als bedrückte sie etwas. Nach einer Weile klang es leise zwischen den über ihr zerstörtes Gesicht gefallenen Haaren hervor: »Reverend O'Brian ist ebenfalls überzeugt, daß Sie der Täter sind, Mr. Masters. Er wird Sie nicht sehr freundlich empfangen.« 75 �
»Das ist nicht wichtig.« Rick blickte lauernd um sich, damit sie nicht zufällig überrascht wurden. »Die Hauptsache ist, daß ich die nötigen Informationen bekomme. Und Ihr Reverend wird nicht so streitsüchtig wie der Wirt sein, daß er mit einer Holzkeule auf mich losgeht.« »Da bin ich nicht so sicher.« Amy lächelte. Rick vermutete es zumindest. In ihrem formlosen Gesicht verzog sich keine Miene, aber in ihren Augen stand ein belustigtes Funkeln. Zehn Minuten später wußte Rick Masters, was Amy mit ihrer Bemerkung gemeint hatte. Reverend O'Brian, ein Ire aus dem Bilderbuch mit seinen roten Haaren und der blassen Haut, dem breiten Körperbau und den Fäusten wie Kartoffelsäcke, wirkte ganz so, als würde er den Glauben manchmal auch mit »handfesten« Argumenten unterstützen, wenn es nötig war. Er fuhr von dem Stuhl in seiner einfach eingerichteten Wohnung hoch, als hätte er darunter eine Klapperschlange entdeckt. »Sie wagen es, sich hier zu zeigen?« donnerte er los. Die riesigen Hände ballten sich zu Fäusten, mit denen er im Boxring ein Vermögen hätte verdienen können. Amy Sulkin stellte sich zwischen die beiden Männer und erklärte dem Geistlichen in hastigen Worten, daß Rick Masters ermordet werden sollte. Das ließ die Stimmung O'Brians augenblicklich umschlagen. »Die sollen nur kommen und es wagen, jemanden anzutasten, der unter meinem Schutz steht!« Seine blauen Augen schossen Blitze. »Jeder Mensch in Not ist bei Father O'Brian in guten Händen.« Rick warf einen Blick auf die guten Hände und mußte anerkennend nicken. Er zog es allerdings vor, nicht in diesen guten Händen, sondern in einiger Entfernung von ihnen zu sein. »Ich bin ebenso wie Sie daran interessiert, Reverend, die mysteriösen 76 �
Vorgänge von Kilroy aufzuklären«, sagte er. »Und Sie können den Beitrag dazu leisten, wenn Sie mir die nötigen Auskünfte geben.« »Schießen Sie los, junger Mann!« polterte der Reverend. »In der Zwischenzeit wird Amy Tee für uns kochen. Du kennst dich in der Küche aus, mein Kind. Und vergiß den Rum nicht!« rief er hinter ihr her. Er bot Rick Masters einen Stuhl an und setzte sich seinem unerwarteten Besucher gegenüber. »Ich muß die Geschichte von Haus ›Anastasia‹ genauer kennen«, begann der junge Detektiv. »Der Name ist sehr ungewöhnlich, so daß ich einen Verdacht in einer ganz bestimmten Richtung hege, aber meine Idee ist noch zu unbestimmt, als daß ich sie verwenden könnte.« Reverend O'Brian zündete sich seine ausgegangene Pfeife wieder an und paffte Rauchwolken, an denen Rick zu ersticken glaubte. »Sie sind bei mir an den Richtigen gekommen, junger Mann«, rief er mit seiner dröhnenden Stimme. »In meiner kärglichen Freizeit beschäftige ich mich mit der Geschichte von Kilroy.« Rick wurde ungeduldig, aber er wollte den Geistlichen nicht drängen, weil er sonst vielleicht gar keine Auskünfte erhielt. »Das Haus ›Anastasia‹ heißt nach einer früheren Besitzerin so Lady Anastasia Glennmore.« Rick Masters saß wie betäubt da. Er hatte das Gefühl, als wäre ihm die Zimmerdecke auf den Kopf gefallen. Obwohl er insgeheim angenommen oder vielmehr befürchtet hatte, was der Reverend jetzt aussprach, traf ihn die Bestätigung seines Verdachtes doch wie ein Keulenschlag. Der Geistliche bemerkte die Bestürzung seines Besuchers. »Scheint Sie ja umgehauen zu haben, junger Mann. Nehmen Sie erst mal einen kräftigen Schluck, dann kommen Sie wieder auf die Beine.« 77 �
Amy brachte aus der Küche ein Tablett mit Tassen, Teekanne und einer Flasche Rum. Vater O'Brian hielt nichts davon, den guten Teegeschmack durch Alkohol zu verderben. Er goss in jede der Tassen einen kräftigen Schuß Rum, dann hob er seine Tasse und prostete den beiden zu. In die geleerten Schalen erst wurde Tee gegossen. Rick fand dieses Verfahren in der augenblicklichen Situation sehr angenehm. Tatsächlich half ihm nämlich das scharfe Getränk, den Schock leichter zu verwinden. »Haus ›Anastasia‹ hieß früher Glennmore Manor«, fuhr Reverend O'Brian fort. »Im sechzehnten Jahrhundert das weiß ich aus der Chronik von Kilroy ereignete sich in der Nähe des Landhauses eine Bluttat, die schreckliche Folgen für das Geschlecht der Glennmores hatte. Genaues ist nicht bekannt.« Rick Masters starrte in seine Tasse. Vor seinem geistigen Auge erschien wieder die Frau in der altertümlichen Tracht. Lady Anastasia Glennmore! Seine Gedanken wanderten zurück. Schon einmal hatte er mit dem Geist dieser im sechzehnten Jahrhundert verstorbenen Adeligen gekämpft und war damals Sieger geblieben. Sieger allerdings nur für kurze Zeit, wie sich jetzt herausgestellt hatte. Der heiße Schnee von Kilroy, der Menschenleben forderte und schreckliche Verstümmelungen an den Lebenden hervorrief – sein Doppelgänger, der die Einwohner von Kilroy in Angst und Schrecken versetzte –, das alles war die Rache der Lady Anastasia Glennmore. Lady Anastasia war im sechzehnten Jahrhundert hingerichtet worden, nachdem sie wegen einiger Morde verurteilt wurde, die sie aus Machtgier begangen hatte. Aber auch im Grab hatte sie keine Ruhe gefunden und durch die Jahrhunderte hindurch versucht, ihre Machtgelüste, die sie zu Lebzeiten nicht hatte verwirklichen können, in die Tat umzusetzen. 78 �
Es war ihr gelungen, sich des Körpers einer Nachfahrin zu bemächtigen, eines Kindes, das später einmal durch ihre Kräfte herrschen sollte. Rick Masters war beauftragt worden, eine Serie Schrecken erregender Erpressungs- und Mordfälle aufzuklären. Im Laufe seiner Ermittlungen war er auf dieses Kind gestoßen und hatte den Geist der Lady Glennmore aus dem Körper vertrieben. Bevor sie hatte weichen müssen, hatte Lady Glennmore ihrem Feind ewige Rache geschworen. Daß sie ihr Wort hielt, bewiesen die entsetzlichen Ereignisse von Kilroy. Lady Anastasia Glennmore hatte Rick Masters eine Falle gestellt, die ihn fangen und vernichten sollte. Und wie es im Moment aussah, war er hilflos dem Geist der Mörderin ausgeliefert. * »Ich habe Sie gefragt, ob Sie sich nicht gut fühlen, Mr. Masters«, drang Amy Sulkins besorgte Stimme in Rick Masters Bewußtsein. Er hob den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. »Alles in Ordnung«, versicherte er, obwohl das Gegenteil der Fall war. »Ich sollte jetzt lieber wieder von hier verschwinden, bevor meine möglichen Mörder zurückkommen und mich finden.« »Unsinn!« protestierte Reverend O'Brian. »In meinem Haus sind Sie sicher, sicherer auf jeden Fall als unter Polizeischutz. Vor dem alten O'Brian haben die Leute aus Kilroy mehr Respekt als vor einer Polizeiuniform.« »Dieser Respekt kommt sicherlich auch davon«, meinte Rick und deutete auf die schaufelartigen Hände O'Brians. Der Geistliche nickte und lächelte gutmütig. »Bleiben Sie hier, bis alles aufgeklärt und ausgestanden ist«, lud er den jungen Detektiv noch einmal ein. 79 �
Rick erhob sich von seinem harten Stuhl. »Vielen Dank, Reverend, aber es ist nicht meine Art, nur einfach herumzusitzen und darauf zu warten, daß die anderen für mich die Kastanien aus dem Feuer holen. Es geht schließlich um die Menschen in diesem Tal. Und vergessen Sie nicht, daß ich als der Urheber ihres Unglücks hingestellt werde. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen.« Reverend O'Brian hielt Rick Masters seine Hand hin, die der Detektiv unvorsichtigerweise ergriff. Im nächsten Augenblick bereute er es, weil er das Gefühl hatte, in einen Schraubstock geraten zu sein. Jetzt konnte er vollkommen verstehen, wieso der Reverend sein Haus als wirklich sicheren Zufluchtsort anzubieten vermochte. »Freut mich, junger Mann!« rief O'Brian mit Donnerstimme. »Ich mag Menschen, die nicht den Herrgott einen guten Mann sein lassen und die Hände in den Schoß legen. Selbst ist der Mann!« Noch ein Druck des »Schraubstocks«, daß die Knochen knirschten, dann stand Rick Masters an der Tür. Er drehte sich um und warf Amy Sulkin einen besorgten Blick zu. Immerhin konnte es sich im Dorf herumsprechen, daß sie ihn gewarnt hatte. Dann würde sie einen schweren Stand haben. Reverend O'Brian verstand offensichtlich die stumme Frage und Bitte in Ricks Blick. »Amy bleibt bei mir, bis alles vorüber ist«, entschied er. »Ich passe auf sie auf.« »Dann bin ich beruhigt.« Rick seufzte erleichtert. »Nochmals vielen Dank, Reverend.« Als Rick Masters das Haus des Geistlichen verließ, hatte er das gute Gefühl, unter den Einwohnern von Kilroy bereits zwei aufrichtige Freunde gefunden zu haben. Ob das aber genügte, um dem Hass Lady Glennmores zu ent80 �
gegen? � *
Brüllend und schreiend umringten die aufgebrachten Männer das alte Landhaus. Chefinspektor Hempshaw gab seinen Leuten einen Wink, sie sollten den Dorfbewohnern zuvorkommen, doch gegen die Übermacht hatten sie keine Chance. Die beiden Eingänge und die Fenster des Hauses wurden von den mit Stöcken bewaffneten Männern besetzt, die jedem Polizisten den Zutritt verwehrten. Die Konstabler hatten auch mit ihren Schlagstöcken nichts ausrichten können. Hempshaw fluchte innerlich über die langsam arbeitende Bürokratie, die ihm bisher die angeforderte Verstärkung verweigert hatte, und darüber, daß die Polizisten keine Schusswaffen trugen. Es wäre ihm nicht einmal im Traum eingefallen, auf diese Leute hier schießen zu lassen, aber allein der Anblick eines Revolvers oder einer Pistole und gar erst der Knall eines Schusses hatten schon manchen Tobenden besänftigt. Schweißgebadet wartete Hempshaw darauf, aus dem Inneren des Hauses die Geräusche eines Kampfes zu hören, und er atmete erleichtert auf, als nach zehn Minuten die zu einem Lynchmord bereiten Männer enttäuscht wieder auf dem Platz vor Glennmore Manor erschienen. Ohne ein Wort zu verlieren, zogen sie ab. Vorsichtshalber ließ der Chefinspektor das Haus noch einmal von den Konstablern durchsuchen, doch bald war er sicher, daß Amy Sulkin den Detektiv rechtzeitig gewarnt hatte und er sich nicht mehr in der Nähe verborgen hielt. »Das wird Masters hoffentlich eine endgültige Warnung sein«, sagte der Chefinspektor zu Dr. Sterling, der wegen seines Alters nicht mit dem großen Haufen hatte mithalten können und erst 81 �
vor wenigen Minuten bei dem Landhaus eingetroffen war. »Wenn Masters klug ist, verschwindet er schnellstens aus dem Tal und läßt sich nicht mehr blicken.« »Schätzen Sie unseren guten Rick nicht falsch ein?« Dr. Sterling fixierte den Chefinspektor über den Rand seiner dicken Brillengläser. »Bisher habe ich noch von keinem Fall gehört, in dem Masters aufgegeben hat.« »Ich leider auch nicht«, seufzte Chefinspektor Hempshaw. »Gehen wir zurück nach Kilroy. Wenn mich nicht alles täuscht, haben wir in den nächsten Stunden mit keiner Wiederholung dieses Versuches zu rechnen, den alten Wilden Westen hier in England neu auferstehen zu lassen. Ein Galgenbaum in Kilroy das wäre ja noch schöner.« Chefinspektor Hempshaw hätte nicht so bestimmt gesprochen, wenn er als unsichtbarer Zuhörer die Gespräche der heimkehrenden Männer aus Kilroy hätte belauschen können. »Aus dem Tal hinaus kann er nicht«, behauptete einer von ihnen. »Dort stehen die Posten der Polizei. Also muß er sich hier versteckt halten. Er glaubt wohl, daß wir kein zweites Mal zu dem alten Haus gehen werden.« »Du meinst«, fragte ein anderer, »daß er zurückkommt?« »Natürlich«, antwortete der erste Sprecher. »Darauf kannst du dich verlassen. Und dreimal darfst du raten, wer ihm dann einen Besuch abstatten wird.« Die Männer tauschten verständnisvolle Blicke. Ihre Hände umspannten fester die Knüppel aus hartem Holz und die Eisenstangen, die dazu bestimmt waren, ihren Todfeind ihren ums Leben gekommenen Angehörigen nachzuschicken. * Die Sonne stand bereits so tief, daß Rick Masters leicht abschät82 �
zen konnte, wie gering die Möglichkeiten waren, noch an diesem Tag genauere Nachforschungen anzustellen. Er hatte keine Ausrüstungsgegenstände, die für Untersuchungen bei Nacht nötig gewesen wären. Es fehlte ihm sogar eine einfache Taschenlampe, und er wagte es nicht, sich an den Chefinspektor um Hilfe zu wenden. Reverend O'Brian besaß keine Taschenlampe und brauchte auch keine. Er kannte in Kilroy jeden Stein. Wo sollte Rick die Nacht verbringen? Die Frage beantwortete sich von selbst. Er mußte sich so viel wie möglich in Glennmore Manor aufhalten, um Kontakt mit Lady Glennmore oder wenigstens einen Anhaltspunkt zu finden, der ihn bei der Klärung des Falles weiterbrachte. Dabei dachte er auch an die geheimnisvolle Eisentür, die jeden Menschen zurückstieß und die eine wichtige Rolle spielen mußte. Zwar kalkulierte Rick Masters die Möglichkeit ein, daß die Einwohner von Kilroy ein zweites Mal versuchen könnten, ihn in Glennmore Manor zu stellen und sich dort an ihm zu rächen, aber er mußte und wollte dieses Risiko eingehen. Immerhin steckte noch unter seiner linken Achsel die 38er Automatik im Schulterhalfter. Damit würde er die Angreifer abschrecken oder wenigstens so lange aufhalten können, bis Hilfe kam. Das hoffte er zumindest. In den schräg einfallenden Strahlen der untergehenden Sonne wirkte Glennmore Manor noch verlassener und unheimlicher als bei Tag. Zumindest kam es Rick Masters so vor, doch konnte dieses Gefühl auch dadurch hervorgerufen werden, daß er jetzt wußte, welche Bewandtnis es mit diesem Haus hatte. Was hatte Reverend O'Brian gesagt? In der Nähe von Glennmore Manor hatten sich im sechzehnten Jahrhundert schreckliche Dinge abgespielt, die zum Untergang der Familie geführt hatten? Möglicherweise gab es irgendwo im Wald einen Anhaltspunkt, etwa ein Kreuz, eine Gedenktafel oder eine 83 �
Kapelle, die an diese Vorfälle erinnern sollte. In einem so abgelegenen Tal wie diesem war die Adelsfamilie Glennmore damals etwas Ähnliches wie Götter gewesen, weshalb sich Rick nicht vorstellen konnte, daß alle Zeugnisse verloren gegangen waren. Daß noch niemand eine Spur entdeckt hatte, konnte daher kommen, daß der alte Volksglaube über diesem Teil des Waldes einen Fluch vermutete und sich niemand gerne hierher wagte. Rick suchte die nähere Umgebung ab, hatte aber keinen Erfolg. Im letzten Schein des Tageslichtes betrat er Glennmore Manor. Die drückende Stille des Todes zerrte an seinen Nerven. Nicht einmal altes Gebälk knackte. Kein Nagetier huschte durch die Räume, in denen seit langer Zeit alles Leben erloschen war. Rick setzte sich in einen knarrenden Schaukelstuhl, nachdem er die dicke Staubschicht weggeblasen hatte. Mit bleichem Schimmern verabschiedete sich der Tag. Das Silberlicht des Mondes zeichnete die Baumwipfel in gezackter Linie gegen den schwarzen Himmel wie das aufgerissene Gebiss eines riesigen Raubtieres, das jeden Moment seine Beute verschlingen wollte. Rick Masters saß in der Dunkelheit des Raumes. Er fühlte, wie ihn die Rache des Geistes immer mehr gefangen nahm, als würde eine Monsterspinne ihren klebrigen Faden um die in ihrem Netz zappelnde Spinne weben. * Diesmal verhielten sie sich still. Nur ab und zu knackte ein Zweig unter dem derben Schuh eines dahinschleichenden Mannes. Ansonsten hätte niemand, der sich in dem drohend schwarzen, unheimlichen Wald von Kilroy aufhielt, geahnt, daß dieselben fünfzig Männer sich ihr vermeintliches Recht verschaffen wollten, das sie am Nachmittag nicht erreicht hatten. Sogar auf Taschenlampen hatten sie während des beschwerlichen Mar84 �
sches verzichtet, um sich nicht durch die Lichtkegel zu verraten. Wenn manchmal ein paar Strahlen des Mondlichtes durch die Bäume drangen, brachen sie sich auf metallenen Rohren Gewehre! Der Chefinspektor hatte sich gründlich bei der Einschätzung der Lage geirrt. Er hätte allerdings nicht viel verändern können. Zwar hatte ihm seine vorgesetzte Dienststelle mittlerweile die angeforderte Verstärkung zugesagt, aber sie war bisher nicht eingetroffen. Den Grund dafür hatte der Chefinspektor über Funk erfahren. Die beiden Mannschaftswagen waren mit einem unerklärlichen Motordefekt liegen geblieben, obwohl: beide Wagen fast neu und tadellos in Schuß wären. Eine unsichtbare Macht wollte verhindern, daß irgend etwas zur Rettung von Rick Masters geschah. Sein Untergang war beschlossen, und nichts durfte sich dem teuflischen Plan in den Weg stellen. Die schweigsamen Männer blieben stehen, als sie die Waldlichtung erreichten. Alles verlief nach einem vorher genau abgesprochenen Plan. Die Rächer schwärmten nach beiden Seiten aus, nahmen das einsame Landhaus in die Zange und bildeten einen Ring, durch den es kein Entrinnen mehr gab. Wenn sich Rick Masters innerhalb ihrer Absperrung befand, dann war er verloren. * Die Stunden schlichen träge dahin. Trotz der Anstrengungen des Tages verspürte der junge Detektiv keine Müdigkeit. Die Spannung, ob es ihm gelingen würde, sich mit Lady Glennmores Geist in Verbindung zu setzen, hielt ihn wach. Rick konzentrierte sich ausschließlich auf sein Ziel. Gerne hätte er auf die Armbanduhr gesehen, um die Zeit festzustellen, doch 85 �
nicht einmal das erlaubte er sich, um die Gedankenarbeit nicht zu unterbrechen. Er hatte daher keine Ahnung wieviel Zeit vergangen war, als der Schaukelstuhl plötzlich begann, leicht vor und zurück zu wippen, ohne daß er selbst sich bewegt hätte. Ein Lufthauch strich durch das Zimmer, obwohl alle Fenster und Türen fest verschlossen waren, und sich draußen kein Sturm erhoben hatte. Lady Glennmores Geist war im Raum! Jetzt kam es darauf an, wer die Oberhand gewann, wer den anderen beherrschen konnte. Rick wendete alle Möglichkeiten an, einen Geist zu beschwören, die er aus den alten Folianten seiner Bibliothek gelernt hatte. Und tatsächlich gelang es ihm, Lady Glennmore zu zwingen, sich in ihrer wahren Gestalt zu zeigen. Dieselbe Frau in den alten Gewändern aus kostbarem Stoff erschien. Diesmal verhüllte kein Nebel das Gesicht. Klar und deutlich konnte Rick Masters jede Linie der feinen Züge erkennen. Er war betroffen von der Schönheit dieser Frau. Unwillkürlich dachte er, daß sie weltweit gefeiert würde, falls sie in der heutigen Zeit lebte. Der unpassende Gedanke hatte sofort böse Folgen. Die Gestalt wurde undeutlich, begann zu zerfließen und sich aufzulösen. Rick machte seinen Fehler sofort wieder wett, indem er jede Nebenüberlegung ausschaltete. Seine ständigen Yogaübungen halfen ihm dabei. Die Materialisation festigte sich und gewann wieder an Form und Deutlichkeit. Eine hochgewachsene, stolze Frau von etwa dreißig Jahren. Wahrscheinlich war sie in diesem Alter hingerichtet worden. Die straff nach hinten gekämmten Haare unterstrichen die Härte in ihrem Gesicht, die jedoch erst auf den zweiten Blick zu bemerken war. Auf den ersten Blick sah man nur die Schönheit der edlen, hohen Stirn, der geschwungenen Brauen, der kühlen, aber kristallklaren blauen Augen, der geraden, 86 �
schmalen Nase und des vollen Mundes. Nur das Kinn störte ein wenig den Gesamteindruck dieses Antlitzes. Es war zu kräftig, zu energisch und ergab gemeinsam mit den vorstehenden Backenknochen einen Hauch von verborgen schlummernder Skrupellosigkeit und Gewalttätigkeit, die bei der kleinsten Gelegenheit zum Ausbruch kommen mußten, wenn sich etwas der Herrschsucht dieser Frau in den Weg zu stellen wagte. Rick Masters hielt Zwiesprache mit dem Geist von Lady Glennmore, doch nicht durch laute Worte. Sie verstanden einander, ohne ihre Gedanken ausdrücken zu müssen. Lady Glennmores Geist wehrte sich verzweifelt dagegen, einem Sterblichen antworten zu müssen, doch Ricks Macht war stärker als der Wille des Geistes. »Ich muß Euch vernichten«, übermittelte der Geist Rick Masters, »um wieder einen Menschen zwingen zu können, meinen Befehlen zu gehorchen.« »Warum tötet Ihr mich nicht einfach?« stellte Rick in Gedanken die in der gleichen altertümlichen Ausdrucksweise gehaltene Frage. »Ihr habt sicherlich die Möglichkeiten dazu.« »Jeden anderen Menschen könnte ich töten, aber gegen Euch bin ich machtlos. Ihr habt durch Euer Wissen über unsere Welt und unsere Magie, einen Bann über uns gelegt.« Rick unterdrückte die aufkeimende Freude über diese Mitteilung, um sich nicht ablenken zu lassen. »Ihr hattet vor langen Jahren eine sterbliche Hülle, den Körper einer wunderschönen Frau, Lady Anastasia Glennmore. Warum habt Ihr diesen Körper verloren?« »Er wurde mir von Menschenhand genommen. Der Henker trennte den Kopf durch einen einzigen Streich vom Körper.« »Ist dieser Tod der Grund für Euer rastloses Herumirren?« Ein Schatten der Angst flog über das schöne Gesicht des Geistes. »Nein, er hätte mir die Ruhe nicht verwehrt. Die Schuld an 87 �
meinem jetzigen Dasein trifft Sir Gordon, den mein Vater…« Ein blendend greller Blitz zuckte vor Ricks Augen. Mit einem fürchterlichen Aufschrei fuhr er aus dem Schaukelstuhl hoch. Es war, als hätte ihm ein heimtückischer Mörder den Todesstoß versetzt, als hätte ein glühendes Schwert seine Brust durchbohrt. Röchelnd griff er sich an das Herz. Mit einem letzten Schrei, wie ihn nur Menschen in höchster Gefahr ausstoßen, brach er zusammen. * Amy Sulkin war so starr, als hätte man sie in ein eisiges Gewässer getaucht. Sie konnte keinen Finger bewegen, nicht einmal Atem holen. Jede Kraft war aus ihrem verkrampften Körper gewichen. Schon oft hatte sie erlebt, wie jemand heftig erschrak, aber etwas Derartiges war noch nie vorgekommen. Sicher, es war nicht angenehm, unerwartet aus tiefem Schlaf geweckt zu werden, wenn man sich noch dazu in einem solch unheimlichen Haus befand. In der Dunkelheit hätte Rick Masters sie nicht einmal erkennen können, wenn er schon durch ihre leisen Rufe aufgewacht wäre, bevor sie ihn leicht an der Schulter berührt hatte. Trotzdem begriff sie seine Reaktion nicht. Kaum legte sie ihre Hand vorsichtig auf seinen Körper, fuhr er hoch, als hätte ihn ein schwerer elektrischer Schlag getroffen. Fassungslos starrte sie auf die reglose Gestalt auf dem Boden vor dem Schaukelstuhl. Der Stuhl wippte noch von dem Stoß, den er bei Ricks Aufspringen erhalten hatte, knarrend vor und zurück. Amys Lähmung löste sich langsam. Sie wollte schreien, um die ganze Qual loszuwerden, die ihr auf der Seele lastete, aber sie wußte, daß sie es nicht durfte. Sie war gekommen, um den jungen Detektiv zu retten und nicht durch ihre eigene Unbe88 �
herrschtheit seine Häscher anzulocken. Ihre Beine bebten, und sie hatte ein Gefühl, als wären ihre Knie aus Gummi. Sie hielt sich am Schaukelstuhl fest und ging in die Hocke. Zögernd streckte sie ihre Hand nach Rick Masters aus, der wie tot dalag und kein Lebenszeichen von sich gab. Amy konnte ein trockenes Schluchzen nicht unterdrücken. Wenn er sich zu Tode erschreckt hatte, würde sie das ihr Leben lang nicht verwinden können. Und sie hatte bereits mehr Lasten zu tragen, als einem Menschen zugemutet werden konnten. Besonders jetzt bekam sie zu spüren, was mit ihrem Gesicht und ihren Händen in dem ätzenden Schneesturm vor sich gegangen war. Jeder andere Mensch hätte nämlich nach dem Puls des Reglosen fühlen können, nicht aber Amy. Ihre Hände ließen sich zwar gebrauchen, so daß sie die alltäglichen Handgriffe ausführen konnte, aber sie hatte jedes Gefühl verloren. Die Tränen flossen ungehemmt über ihr Gesicht. Schluchzend warf sie sich über die starre Gestalt. Plötzlich zuckte sie in freudigem Schreck zusammen. Er lebte! Sie erahnte an ihren Lippen, die sich nahe an seinem Mund befanden, einen schwachen Hauch. Er atmete! Amy rüttelte den Ohnmächtigen. »Rick!« rief sie unterdrückt. »Rick! Um Himmels willen, schnell, wachen Sie auf! Es geht um Leben oder Tod!« Aber der Mann bewegte sich nicht. Der schwache Atem war das einzige Anzeichen, daß er lebte, sonst nichts. Amy sprang auf und lief ans Fenster. Sie begann, heftig zu zittern. Da standen sie nur wenige Schritte vom Haus entfernt. Wie eine schweigende, todbringende Meute hungriger Wölfe hatten sie sich aufgebaut, die Männer aus Kilroy. 89 �
Sie waren gekommen, um Rick Masters zu töten. Jetzt wußten sie, daß er im Haus war. Sie zögerten nicht mehr, zum Angriff überzugehen. Den Schrei, den sie gehört hatten, erklärten sie sich als Ausdruck der Angst einer menschlichen Bestie, die keinen Ausweg mehr sah. Amy ballte verzweifelt ihre verstümmelten Hände zu Fäusten. Rick Masters lebte, aber was half es, wenn er in wenigen Augenblicken doch sterben mußte. Abgeschlachtet in einem Spukhaus? In diesem Moment wünschte sich Amy Sulkin, an der Stelle dieses lebenslustigen jungen Mannes dort auf dem Boden hegen zu können. Ihr lag nichts mehr am Leben. Die Männer rückten näher. Krachend flog die Haustür auf und knallte gegen die Wand. Eine Taschenlampe flammte auf. Das Licht traf die starren, gebrochenen Augen Rick Masters. * »Ich habe ihn getötet!« Amys Schrei gellte durch die Nacht. Schluchzend sank sie vor dem reglosen Körper des jungen Detektivs zu Boden. Das Entsetzen und die Verzweiflung schüttelten ihren schlanken Körper. Die Männer, die noch vor wenigen Augenblicken in Mordstimmung waren und ihren Todfeind am liebsten bei lebendigem Leib in Stücke gerissen hätten, waren still. Mit gesenkten Köpfen standen sie an der Tür und vermieden es, Masters und die Unglückliche anzuschauen. Diejenigen, die noch vor dem Haus standen, wußten zwar nicht genau, was sich da drinnen ereignet hatte, aber sie ahnten, daß etwas Fürchterliches geschehen sein mußte. Zuerst die Schreie, dann diese unheimliche Totenstille. 90 �
Plötzlich merkten sie auch, wie bedrückend dieser Ort war. Am liebsten wären sie auf der Stelle umgekehrt. Und als vom Waldrand der Ruf »Polizei!« erschallte, gab es kein Halten, kein Zögern mehr. Die Taschenlampe, die ihr Anführer auf Masters und das Mädchen gerichtet hatte, fiel zu Boden. Klappernd rollte sie über die Bretter und verlöschte. Die Dunkelheit kehrte wieder zurück in das verfluchte Haus, und Amy Sulkin war froh darüber, nicht mehr die gebrochenen Augen des Mannes sehen zu müssen, den sie vermeintlich getötet hatte. Die Dorfbewohner stoben nach allen Richtungen auseinander. Chefinspektor Kenneth Hempshaw und seine Konstabler, die in letzter Minute gemerkt hatten, was hier gespielt wurde, sahen nur mehr Schatten forthuschen und zwischen den Bäumen verschwinden. Es sah aus, als hätten Elfen oder Faune oder Kobolde einen überirdischen Reigen vollführt, der von uneingeweihten Menschen gestört worden war. Glennmore Manor hätte nicht lebloser den Polizisten mit seinen leeren Fensterhöhlen entgegenglotzen können, wenn es eine ausgebrannte Ruine gewesen wäre. Die Konstabler zögerten ängstlich. Hempshaw konnte es ihnen nicht verdenken, da er selbst gegen ein leises Grauen ankämpfen mußte. Im Laufe seiner Zusammenarbeit mit Rick Masters hatte er oft genug die Kräfte von Magiern und Geistern zu spüren bekommen. Dennoch mußte er seinen Leuten mit gutem Beispiel vorangehen. Er hatte sich dem Haus bis auf wenige Schritte genähert, als er das Schluchzen hörte, das aus der Halle drang. Und er hörte noch etwas ein schmerzliches Stöhnen. Das Schluchzen kam aus einer Frauenkehle, das Stöhnen hingegen aus dem Mund eines Mannes. 91 �
Sollte Rick Masters noch leben? * Die Lichtexplosion hatte eine eigenartige Wirkung auf Rick Masters. Sie lähmte zwar seinen Körper und seinen Willen, nicht aber seine Gedanken. So wußte er augenblicklich, wodurch dieser fürchterliche Schock ausgelöst worden war. Die Verbindung, die er mühsam zwischen sich und dem Geist von Lady Glennmore hergestellt hatte, war unterbrochen worden. Er kannte dieses Phänomen von einer Seance, bei der die Teilnehmer einander die Hände reichen mußten. Einer der Beteiligten hatte einen Hustenanfall erlitten und während der Beschwörung des Geistes den körperlichen Kontakt des Kreises unterbrochen. Das Medium, das die Verbindung zu der anderen Welt ermöglicht hatte, war innerhalb weniger Sekunden gestorben… Rick erkannte sofort, daß ihn diese Unterbrechung nicht das Leben kosten würde. Das verhinderten wahrscheinlich die Fähigkeiten, die er sich durch das genaue Studium seiner Fachbücher erworben hatte. Aber der Schock bewirkte, daß seine letzte Frage an Lady Glennmores Geist unbeantwortet blieb, daß er wie vom Blitz getroffen zusammenbrach und gleichsam scheintot auf dem Fußboden von Glennmore Manor liegen und alles ansehen und hören mußte, ohne etwas tun zu können. Nun begriff er auch, daß die Leute aus Kilroy offensichtlich wieder einen Anschlag gegen ihn planten, daß Amy Sulkin davon erfahren und den Schutz des Hauses von Reverend O'Brian verlassen hatte, um ihn vor der drohenden Gefahr zu warnen. Daß sie durch diese Warnung beinahe das Gegenteil erreicht hätte, nämlich daß sie ihn durch die körperliche Berüh92 �
rung fast getötet hätte, konnte ihr niemand vorwerfen. Woher sollte sie auch wissen, daß der junge Detektiv Kontakt zur anderen Welt aufgenommen hatte? Rick bereute es, daß er Amy nicht eingeweiht hatte, als er in Reverend O'Brians Haus die Gewissheit erlangt hatte, wer hinter dem heißen Schnee von Kilroy zu suchen war. Doch er hatte das Mädchen heraushalten wollen. Es hatte bereits zuviel gelitten und sollte nicht durch ihn noch mehr erdulden müssen. Rick Masters erlebte fürchterliche Sekunden und Minuten, als die Männer in das Haus einbrachen. Er glaubte sich verloren, sah keine Rettungsmöglichkeit mehr. Amys Überzeugung, der Schreck über ihr unerwartetes Auftauchen hätte ihn getötet, kam ihm zu Hilfe. Dann hörte er auch noch deutlich den Ruf, die Polizei käme, und von einem Augenblick zum anderen war der Spuk wieder vorbei. Das Licht ging aus. Amy schluchzte, und er hätte sie gerne getröstet, hätte ihr sagen wollen, daß sie sich keine Vorwürfe machen sollte und ihm nichts Ernstliches geschehen war. Rick hörte ein Stöhnen, ohne sich zuerst darüber klar zu werden, woher es kam. Schließlich entdeckte er, daß es aus seinem eigenen Mund drang. Sofort schöpfte er neue Hoffnung, sehr bald von der quälenden Lähmung befreit zu werden. Amys Schluchzen verstummte. Erschrocken hob sie den Kopf, doch ihre Angst verwandelte sich sehr schnell in Entzücken. Sie warf sich über Rick Masters, rief immer wieder seinen Namen und konnte sich in ihrer Freude nicht beherrschen. Kräftige Hände packten das Mädchen an den Schultern und zogen es hoch. Chefinspektor Hempshaw wußte nicht, was vorgefallen war, als er Glennmore Manor betrat, aber er sah Rick auf dem Boden hegen und glaubte, die Dorfleute hätten ihn zusammengeschlagen und er würde dringend ärztliche Hilfe brauchen. 93 �
»Liegen lassen«, stöhnte Rick Masters, als sich Hempshaw über ihn beugte. »Was ist geschehen?« fragte der Chefinspektor das Mädchen, und Amy Sulkin schilderte ihm in ein paar Worten aus ihrer Sicht, wie es zu Ricks Zusammenbruch gekommen war. Der Chefinspektor schöpfte sofort Verdacht, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zuging. »Was war wirklich los, Rick?« fragte er dicht am Ohr des jungen Detektivs. »Stimmt es, was Amy sagt?« »Nein«, hauchte Masters. »Geist… Beschwörung… Kontakt gestört… Schock…« Die Worte mußte Hempshaw erraten, weil sie so undeutlich waren. Doch er konnte sich ungefähr vorstellen, wie sich alles abgespielt hatte. »Was soll ich tun?« fragte er. »Nichts… Etwas Ruhe… Geht vorbei…« Rick Masters hatte recht. Nach einer Stunde hatte er sich soweit erholt, daß er sich mit der Hilfe von Kenneth Hempshaw und Amy aufsetzen konnte. Nach einer weiteren halben Stunde berichtete er den beiden die Konstabler waren hinausgeschickt worden in stockenden Sätzen, wie sich alles abgespielt hatte. »Glauben Sie, Rick«, fragte der Chefinspektor abschließend, »daß Sie damit fertig werden? Ich meine, Sie haben schon viele Erfolge in Fällen gehabt, in denen übernatürliche Kräfte auftraten, aber dies hier ist doch anders.« »Ich brauche vor allem Ruhe, damit ich ungestört arbeiten kann«, erklärte Rick. »Alles weitere wird sich finden. Lassen Sie die Leute in Kilroy in dem Glauben, Amy hätte mich getötet. Amy bleibt einstweilen bei mir, wenn sie möchte. Dadurch, daß sie sich in die Erscheinung von Lady Glennmores Geist eingemischt hat, könnte sie auch in Gefahr kommen, von Lady Glennmore vernichtet zu werden. Da ist sie sicherer bei mir.« 94 �
»Ich habe keine Angst, Rick«, sagte das Mädchen erleichtert. »Das wichtigste für mich ist, daß Sie leben und daß ich Ihnen keinen ernstlichen Schaden zufügte. Ich bleibe bei Ihnen, weil ich Ihnen vielleicht auch helfen kann.« Masters nickte und zwang sich zu einem Lächeln, das noch ein wenig verkrampft ausfiel. »Das ist also abgemacht. Kenneth, Sie gehen jetzt zurück ins Dorf. Verkünden Sie, daß Amy Sulkin wegen des Mordes an mir verhaftet und weggebracht wurde. Und machen Sie einige unheimliche Andeutungen über meine Leiche. Etwa so, daß ich mich in Luft aufgelöst habe. Dann wird die Angst vor dem Fluch, der auf Glennmore Manor lastet, noch größer sein, so daß sich niemand aus dem Dorf mehr hierher wagt.« Hempshaw erhob sich von seinem Sitz und legte Rick die Hand auf die Schulter. »Kann ich Sie jetzt schon allein lassen?« erkundigte er sich besorgt. »Sie sind noch nicht auf dem Damm.« »Ich habe doch eine gute Pflegerin bei mir«, sagte Rick und grinste verschmitzt. »Gehen Sie, Kenneth, und überlassen Sie alles mir! Es wird schon schief laufen.« »Hals- und Beinbruch«, wünschte der Chefinspektor und verließ Glennmore Manor. Die Zurückgebliebenen hörten, wie er seine Männer zusammenrief und sich mit ihnen entfernte. »Sie sollten sich hinlegen, Rick«, schlug Amy vor. »Ich helfe Ihnen auf das alte Sofa am Fenster.« Lächelnd ließ Rick sie gewähren und streckte sich behaglich aus. Er fühlte sich wirklich schon recht gut und schätzte, daß er in einer Stunde nichts mehr von dem Schock verspüren Würde. »Um etwas unternehmen zu können, brauche ich noch zahlreiche Informationen, Amy«, begann Rick seine Befragung, Der Chefinspektor hatte ihnen eine Taschenlampe und Ersatzbatterien zurückgelassen, so daß Rick jetzt sehen konnte, wie das 95 �
Mädchen aufmerksam den Kopf hob. »Weiß irgend jemand, woher die Wolken kommen, aus denen der tödliche Schnee fällt?« Die Augen des Mädchens verdüsterten sich. Amy schwieg einige Minuten, dann gab sie sich einen innerlichen Ruck. »Ich selbst weiß es«, sagte sie mit bebender Stimme. »Sehen Sie nur mein Gesicht und meine Hände an. Ich war im Wald, als es zum ersten Mal schneite. Nur notdürftig konnte ich unter dichten Bäumen Zuflucht finden, sonst wäre ich aufgelöst worden.« »Schildern Sie mir genau, wie es sich abgespielt hat«, Verlangte Rick Masters schnell, um keine traurige Stimmung aufkommen zu lassen. »Haben Sie etwas Ungewöhnliches beobachtet?« Amy nickte. »Die Wolken zogen nicht wie normal von einer Richtung über die Berge heran, sondern stiegen aus dem Wald hoch.« »Etwa wie Rauch?« warf Rick ein. »Genau, Rick. Zuerst glaubte ich auch jemand hätte ein großes Feuer aus nassem Holz angezündet, das diesen starken Rauch erzeugte. Es war aber kein Rauch. Der Nebel stieg kerzengerade zwischen den Bäumen gen Himmel, breitete sich aus und überzog das ganze Tal. Wenige Minuten später begann es, die heißen Flocken wie eine Decke über alles Lebende zu streuen.« »Das ist sehr gut«, freute sich Rick, fügte aber gleich hinzu: »Verstehen Sie mich nicht falsch, Amy. Ich meine nur, daß die tödliche Gefahr offensichtlich von einem einzigen Punkt ausgeht. Wenn wir diesen Punkt finden und ausschalten, kann nichts mehr geschehen. Beschreiben Sie mir genau, wo die Wolken herkamen!« »Das hätte keinen Sinn«, lehnte das Mädchen ab. »Sie kennen sich in der Gegend nicht aus, und es gibt hier im Wald keine Anhaltspunkte. Aber sobald es hell wird, führe ich Sie an die Stelle.« 96 �
Der junge Detektiv überlegte kurz, dann nickte er. »Gut, machen wir es so. Ein paar Stunden bleiben uns noch, in denen wir uns ausruhen können. Nebenan habe ich ein Bett gesehen, dort können Sie sich hinlegen.« »Nein, Rick«, sagte Amy Sulkin. »Nach diesen Aufregungen kann ich kein Auge zutun. Ich werde hier wachen, während Sie schlafen. Noch einmal sollen Sie nicht in tödliche Gefahr geraten.« Rick schlief mit der Hoffnung ein, daß sieh ihr Wunsch erfüllen würde. * Ein grauer Lichtschimmer, der in den großen Wohnraum von Glennmore Manor fiel, weckte Rick Masters. Als er die Augen öffnete, sah er Amy Sulkin am Fenster sitzen. Die gnadenlose Helligkeit des jungen Tages hob scharf jede Linie ihres grauenhaft entstellten Gesichts hervor. Nur ihre Augen schimmerten so schön, wie es Rick selten bei einer Frau gesehen hatte. Sie hörte das leise Geräusch, als er sich auf dem Sofa aufsetzte, und drehte ihm den Kopf zu. »Sie haben tief und gut geschlafen, Rick«, sagte sie mit ihrer weichen Stimme. »Ich habe es mir auch verdient, Bescheidenheit beiseite«, grinste Rick, um den Schmerz zu überspielen, den er jedes Mal verspürte, wenn er Amy vor sich sah. »Da in diesem feudalen Hotel kein Frühstück ans Bett serviert wird, sollten wir uns gleich auf den Weg machen und die Stelle suchen, an der Sie den Nebel aufsteigen sahen.« »Es wird nicht schwer sein«, versicherte Amy und folgte ihm hinaus vor das Haus. »Schließlich bin ich in diesen Wäldern groß geworden.« 97 �
Rick blickte in die Runde, konnte aber niemanden entdecken, der sich im Wald versteckte und sie belauerte. Außerdem hatte er noch immer seine 38er Automatik im Schulterhalfter stecken für alle Fälle. Also konnte er sich relativ sicher fühlen. Amy Sulkin übernahm die Führung. Während sie vor ihm herging, bewunderte er ihren geschmeidigen, sicheren Gang, der ihn an ein in der Wildnis aufgewachsenes Kind erinnerte. Nach einer Wanderung von etwa einer halben Stunde blieb Amy stehen. »Dort vorne war es«, deutete sie an, »Glauben Sie an einen Zufall, Rick?« »Ich hoffe, daß es kein Zufall war«, antwortete er. »Dann hätten wir nämlich die Möglichkeit, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Halten wir uns nicht auf.« Sie begannen mit ihrer Suche, wobei sie sich trennten, um weniger Zeit zu brauchen. Ein Ruf holte Rick Masters zu Amy. Das Mädchen hatte bereits nach weniger als einer halben Stunde Glück gehabt. »Ein Grabstein!« rief Rick erstaunt aus, als er sah, worauf Amys Hand zeigte. Es war eine verwitterte Steinplatte, die halb im Waldboden vergraben lag. Sie hatte die Länge eines menschlichen Körpers und konnte ohne weiteres die letzte Ruhestätte eines im Wald Verstorbenen darstellen. Rick kniete nieder. »Sehen Sie diese Spuren hier, Amy?« fragte er und schob Tannennadeln zur Seite. Es sah aus, als hätte hier ein kleines Feuer gebrannt. Nadeln, Moos und Zweige waren verschmort, es fehlten aber Rückstände wie Asche. »Haben wir die richtige Stelle gefunden?« Die Stimme des Mädchens vibrierte. Rick beugte sich über die Steintafel und überflog rasch die Inschrift. Dann nickte er bedeutungsvoll. »Allerdings, Amy, das ist die richtige Stelle.« 98 �
Mit bloßen Händen legte er die Tafel frei und räumte Erde, Torf und Nadeln weg. Mit seinem Taschentuch säuberte er den Stein und stellte erleichtert fest, daß die Verwitterung noch nicht so weit fortgeschritten war, daß die Inschrift unleserlich geworden wäre. Trotzdem bereitete sie ihm große Schwierigkeiten, weil sie in einer altertümlichen Form abgefasst war. Rick Masters kramte alle seine Kenntnisse hervor. »Ich kann nicht wörtlich vorlesen, was hier steht, aber dem Sinn nach lautet die Inschrift so: Hier liegt ein Mordopfer begraben, Sir Gordon.« Er erinnerte sich daran, daß Lady Glennmores Geist von diesem Sir Gordon gesprochen hatte. »Der Vater Anastasia Glennmores ermordete Sir Gordon hier an dieser Stelle. Im Sterben verfluchte das Opfer das Geschlecht der Glennmores auf ewig. Hören Sie, Amy, dieser Satz hier ist rätselhaft. Ruhe vor der Verfluchten findet nur, wer ehrt das Gold in meinem Grab. Seltsam, nicht wahr?« Amy kauerte sich neben den jungen Detektiv. »Irren Sie sich nicht, Rick?« fragte sie gespannt. »Ich selbst könnte, die Namen ausgenommen, nicht ein einziges Wort der Inschrift verstehen. Es ist eine so ungewöhnliche Sprache.« »Nein, Irrtum ausgeschlossen«, versicherte Masters. »Wer ehrt das Gold in meinem Grab… Soll das auf einen Schatz anspielen?« »Welches Grab kann wohl gemeint sein?« »Diese Steinplatte sieht ganz so aus, als sollte sie eine Grabstätte darstellen und nicht nur ein Mahnmal an die Mordtat sein. Nehmen wir also an, Sir Gordon liegt hier unter diesem Stein. Dann muß sich das Gold unterhalb der Platte befinden.« »Was soll es bedeuten, daß man das Gold ehren muß?« Rick stand auf und klopfte die Tannennadeln von seiner Hose. »Es hat keinen Sinn, wenn wir lange Überlegungen anstellen«, sagte er. »Wir müssen das Grab öffnen, nur so kommen wir dem 99 �
Geheimnis auf die Spur.« Er schaute abschätzend auf die Steinplatte hinunter. »Das Ding ist zu schwer, als daß man es einfach hochheben könnte. Wir brauchen eine Brechstange oder etwas Ähnliches. In Glennmore Manor könnte es ein solches Werkzeug geben.« Schnell gingen sie zurück, fanden auch nach kurzer Suche eine lange Eisenstange, die sich für ihre Zwecke eignete, und standen wenig später wieder vor dem einsamen Grab im Wald. Die Eisenstange traf mit einem hellen Klang auf Stein. Als Rick Masters seine ganze Kraft hinter den Hebelgriff legte, stellten sich seine Nackenhaare auf. In wenigen Minuten würde er wissen, was das Grab des Ermordeten verbarg. * Die Spitze der Eisenstange grub sich in das lockere Erdreich, schrammte über die Seitenfläche der Steinplatte und glitt tiefer. Endlich fand sie Halt. Lange widerstand die Platte allen Bemühungen, doch endlich erklang ein satt saugendes Geräusch. Der Stein hob sich um einen Zoll, lockere Erde fiel nach. »Klemmen Sie Steine darunter!« rief Rick Amy zu. Das Mädchen sammelte rasch einige Felsstücke ein und schob sie unter die angehobene Platte. Jetzt konnte Rick die Brechstange tiefer schieben und neu ansetzen. Sie arbeiteten über eine Stunde, bis sie die schwere Steinplatte zur Seite gerückt hatten. Modrig riechende schwarze Walderde in einem Viereck, das genau der Größe eines Sarges entsprach, lag offen da. »Wir hätten an eine Schaufel denken sollen«, stöhnte Rick, auf seine zerschundenen Hände schauend. »Jetzt kann ich auch noch die Erde mit meinen Fingern aufgraben.« »Soll ich zum Haus laufen und eine Schaufel holen?« bot sich 100 �
Amy an. Rick winkte ab. »Nicht nötig, vielleicht muß ich nicht tief gehen.« Er machte sich an die Arbeit. Das lockere Erdreich bot keinen großen Widerstand, so daß er es unter Zuhilfenahme eines harten Holzstückes schaffte, sich langsam tiefer zu buddeln. Plötzlich stockte er. Seine Finger waren auf einen Widerstand gestoßen, doch konnte es sich um keinen Stein oder ein Holzstück handeln. Vorsichtig, um nichts zu zerstören, legte Rick die Stelle frei. Amy stieß einen Schrei aus. Sie griff sich ans Herz und taumelte einige Schritte zurück. Aus der schwarzen Erde war ein weit aufgerissenes menschliches Auge aufgetaucht. * »Bin ich verrückt geworden?« stammelte Amy Sulkin mit blutleeren Lippen. »Das kann nicht wahr sein. Rick«, stöhnte sie und wankte. »Sagen Sie, daß ich mich irre!« Rick schaute ernst zu ihr hoch. »Tut mir leid, daß ich Ihnen diesen Anblick nicht ersparen konnte, Amy«, sagte er leise. »Aber ich ahnte nicht, daß die Leiche von Sir Gordon mumifiziert und so gut erhalten wurde.« »Das ist doch nicht normal«, wandte das Mädchen ein. »Ich habe Menschen gesehen, die in Lehmgräbern zu Mumien verwandelt wurden, aber sie sahen nicht so lebendig aus.« »Wahrscheinlich hat es etwas mit dem Fluch zu tun, den der sterbende Sir Gordon über die Familie Glennmore aussprach«, mutmaßte Rick. »Wir dürfen uns hier nicht an normale Maßstäbe halten.« Er überlegte kurz, dann deutete er auf einen Baumstumpf. »Setzen Sie sich dorthin, Amy! Ich muß die Mumie 101 �
ausgraben, bis ich hinter den Sinn der Inschrift gekommen bin.« »Sie glauben, daß dieses Grab Gold enthält?« »Wer ehrt das Gold in meinem Grab«, zitierte Rick die Inschrift. »Falls es nicht gestohlen wurde, muß es noch hier sein. Allerdings kann es lange dauern, bis ich es finde. Entweder trägt es die Mumie an sich, oder es ist noch tiefer vergraben.« »Dann wäre es doch gut, wenn ich Ihnen eine Schaufel besorge«, schlug Amy vor, der es offensichtlich sehr daran gelegen war, aus der Nähe der unheimlichen Stätte zu kommen. Rick Masters konnte sie gut verstehen. »Gehen Sie zurück zu Glennmore Manor«, sagte er. »Geben Sie aber acht, daß sie nicht entdeckt werden. Sollten Sie unterwegs zufällig den Chefinspektor oder Dr. Sterling treffen, dann richten Sie aus, daß sie so schnell wie möglich herkommen sollen. Erwähnen Sie aber zu niemandem, was wir hier entdeckt haben, auch nicht zu Reverend O'Brian. Es würde sich schnellstens herumsprechen, und dann könnten wir nicht mehr in Ruhe weiterarbeiten.« Amy versprach zu schweigen und lief wie von Furien gehetzt davon. Rick schaute ihr nach, bis sie zwischen den Bäumen verschwunden war, dann machte er sich wieder an die Arbeit. Zuerst legte er den Kopf Sir Gordons frei. In der Stirn klaffte eine tiefe Wunde, die von einem scharfkantigen Gegenstand herrührte, wie der heutige Polizeibericht melden würde. Wahrscheinlich war Sir Gordon mit einem Schwert erschlagen worden. Rick schauderte, als er die stummen Zeugen einer längst vergangenen Bluttat vor sich liegen sah. Und doch waren diese Zeugen nicht so stumm, wie man meinen sollte. Wenn der Hinweis der Inschrift stimmte, dann enthielt dieses Grab etwas, das ein Gegenmittel gegen Lady Glennmores Kräfte darstellte. Das Gesicht der Mumie hatte die Farbe von Leder angenommen und war auch so hart und zäh geworden. Aber es strahlte 102 �
eine erschreckende Lebendigkeit aus, so als könnte sich jeden Moment der eingefallene Mund öffnen, als würde Sir Gordon zu sprechen beginnen. Das Gold in meinem Grab! Nicht einmal an den Kleidern des Toten war festzustellen, daß er schon seit vierhundert Jahren in der Erde lag. Sie waren so frisch, als hätte man Sir Gordon vor wenigen Tagen verscharrt. Nur am Schnitt konnte man die Zeit erkennen, in der sich die grausigen Geschehnisse im Tal von Kilroy abgespielt hatten, die so tief greifende Folgen für die Gegenwart hatten. Der Hals, faltig aber zäh, dann die breite Brust, endlich die Schultern und die Arme. Rick grub die linke Hand aus. Seine Erwartung, hier Gold in Form eines Armreifs oder eines Ringes zu finden, wurde enttäuscht. Bebend vor Ungeduld, machte er sich an die rechte Hand, und hier hatte er schließlich Erfolg. An dem verkrümmten Zeigefinger der rechten Hand funkelte ein herrlicher Ring aus massivem Gold. Fast körperlich konnte der junge Detektiv die Anwesenheit des Geistes von Lady Glennmore fühlen, als er nach dem Ring griff, ihn der Mumie abzog und an seinen eigenen Finger steckte. »Hier bin ich wieder!« Amys helle Stimme überraschte ihn vollkommen. Er hatte sich ganz auf seine Arbeit konzentriert, und der weiche Nadelteppich verschluckte das Geräusch der Schritte vollständig. Rick erschrak, fing sich aber schnell wieder und stand auf, um dem Mädchen den Blick in das halb geöffnete Grab zu verwehren. Es hatte keinen Sinn, wenn Amy sich noch mehr aufregte. »Haben Sie Erfolg gehabt?« fragte Amy gespannt. Als Antwort hielt Rick ihr seine Hand entgegen. »Ich glaube nicht, daß ich vorläufig noch nach anderen goldenen Gegenständen suchen sollte«, dachte er laut. »Lady Glennmore weiß, daß ich dem Geheimnis auf der Spur bin, das sie vernichten kann, 103 �
und sie wird alles tun, um mich vorher zu vernichten, auch wenn sie mich nicht direkt töten kann.« »Denken Sie an etwas Bestimmtes?« »Und ob ich das tue!« Rick Masters nickte grimmig. »Ich bin überzeugt, daß es noch nicht zum letzten Mal im Tal von Kilroy heiße Flocken geschneit hat.« Sofort schaute Amy Sulkin angstvoll um sich, doch Rick legte ihr beruhigend seine Hand auf die Schulter. »So schlimm wird es schon nicht wer den«, versuchte er die Zitternde zu trösten. »Wir gehen jetzt zurück nach Glennmore Manor. Sie bleiben dann im Haus, damit Sie auf jeden Fall geschützt sind, und ich muß mir dort noch etwas anschauen.« Er dachte an die Stahltür, die ihm den Zugang zu unterirdischen Räumen des Landhauses verwehrt hatte. Wenn das Gold des Grabes von Sir Gordon Schutz vor Lady Glennmores Geist versprach, half es vielleicht, diese Tür zu öffnen. Rick fieberte dem Augenblick entgegen, in dem er die Wirkung des Ringes ausprobieren konnte. Gleichzeitig befiel ihn ein Grauen, wenn er sich vorstellte, welche Kräfte er auf diese Weise freilegen konnte Kräfte, von denen kein Sterblicher eine Ahnung hatte und die alles Leben im Tal von Kilroy auslöschen konnten. * Als sie auf die Waldlichtung hinaustraten und Glennmore Manor drohend vor ihnen aufragte, ging Amy Sulkin ohne Widerrede in das Haus, um sich auszuruhen. Die Entdeckung der Mumie, die Rick Masters wieder mit Erde bedeckt und durch die Steinplatte geschützt hatte, war ihr doch sehr nahe gegangen. Rick sah, daß sich das Mädchen nur mehr mit letzter Kraft auf den Beinen hielt, als es die Treppe hinaufwankte und die Haustür aufstieß. 104 �
Als er sicher war, daß Amy nicht mehr sehen konnte, was er tat, umrundete er das Haus und näherte sich erwartungsvoll der Rückseite. Die Efeuranken bewegten sich unter einem leichten Lufthauch und gaben die Sicht auf die Stahltür frei. Die glatte Fläche ohne Loch und ohne Klinke zog den jungen Detektiv mit magischer Gewalt an. Wie ein Traumwandler ging Rick auf die Tür zu. In einem plötzlichen Anfall ohnmächtiger Wut zerriss er den Blättervorhang und schlug mit der geballten Hand gegen die Tür. Es dröhnte dumpf, als die Faust das Metall traf. Rick erschrak freudig. Der Ring Sir Gordons hatte die Sperre, die Lady Glennmore vor der Tür errichtet hatte, aufgehoben. Er konnte jetzt das Metall betasten, und auf einen kräftigen Druck wich die Tür nach innen zurück. Vom grellen Licht des Mittags geblendet, konnte Rick Masters nicht erkennen, was sich hinter der Öffnung befand, aber es gab für ihn kein Überlegen und kein Halten mehr. So knapp vor dem Ziel steckte er seine Absichten nicht auf, weil er sich einem neuen Risiko aussetzen mußte. Er wurde sich der Gefahren, die in den unterirdischen Räumen auf ihn lauern konnten, gar nicht richtig bewußt. Das Jagdfieber hatte ihn gepackt und trieb ihn vorwärts. Kaum hatte der junge Detektiv den Raum betreten, als hinter ihm mit ohrenbetäubendem Dröhnen die Stahltür vor die eben noch freigegebene Öffnung fiel. Er wirbelte herum und versuchte, sie zur Seite zu schieben. Nichts! Er tastete mit fliegenden Fingern über das kühle Metall, um nach einem Riegel oder einem anderen Öffnungsmechanismus zu suchen. Wieder nichts! Er war gefangen. Erst jetzt dämmerte ihm, daß Lady Glenn105 �
more die Sperre möglicherweise nur aufgehoben hatte, um ihn in diese Falle zu locken. Doch gleich darauf wurde er eines Besseren belehrt. Als er sich wieder umdrehte, wurde der Raum von einer Sekunde auf die andere in helles Licht getaucht. Er mußte die Augen zukneifen, um nicht geblendet zu werden, doch sobald er sich an den Lichtunterschied gewöhnt hatte, glaubte er diesmal, verrückt geworden zu sein. Er befand sich in einem Labor, das den modernsten technischen Anforderungen entsprach. Rick konnte in der Schnelligkeit die einzelnen Apparate nicht ihrem Verwendungszweck nach einstufen, aber er war überzeugt, daß in den fortschrittlichsten wissenschaftlichen Labors des Landes keine besseren Geräte stehen konnten. Ringsum an den Wänden füllten Behälter mit verschiedenfarbigen Flüssigkeiten und Pulvern die Regale. Drei lange und breite Tische waren voll gepackt mit Glaskugeln, Reagenzgläsern, Destillierapparaten, Mikroskopen und anderen Gegenständen, deren Bedeutung Rick nicht im mindesten erraten oder auch nur erahnen konnte. Dafür mußte man schon eigens ausgebildet sein. Das Schrecklichste in diesem Labor waren die an der Hinterwand übereinander gestapelten Käfige. In diesen Behältern huschten Wesen herum, die nur mehr entfernte Ähnlichkeit mit Kleintieren der verschiedensten Gattungen hatten. Ratten, Meerschweinchen, Hasen und Vögel bewegten sich hinter den Gitterstäben, aber ihnen allen war eines gemeinsam: sie waren auf grauenhafte Weise entstellt und verstümmelt. Rick Masters zweifelte keine Sekunde lang, daß er sich in dem Labor desjenigen befand, der den tödlichen Schnee von Kilroy hergestellt und angewendet hatte. Und er mußte auch gar nicht lange raten, wer diese Person war. 106 �
Sie stand nämlich hinter einem der mächtigen Versuchstische. Es war er selbst, Rick Masters! * Bei dem jungen Detektiv brannte eine Sicherung durch. Sein Verstand sagte ihm, daß er sich einem Trugbild gegenübersah, einer perfekten Kopie seiner eigenen Person, die ihren Ursprung in der bösen Seele der Lady Glennmore hatte und daher nicht mit normalen Mitteln bekämpft werden konnte. Der Geist der Lady mußte seine Hand im Spiel haben, anders war es nicht möglich. Kein Mensch konnte ein so perfektes Abbild eines anderen Menschen schaffen, und Rick Masters konnte die Identität sehr gut beurteilen. Schließlich sah er sich selbst jeden Tag im Spiegel. Auch die Bewegungen seines Doppelgängers stimmten haargenau mit seinen eigenen überein. Er wußte also, daß er es mit Geisterwerk, mit Blendwerk zu tun hatte. Und doch packte ihn unendliche Wut. Der heiße Zorn trieb ihn vorwärts. In diesem Moment sah er nur jemanden vor sich, der seinen Namen und sein Aussehen dazu missbraucht hatte, anderen Menschen unermessliches Leid zuzufügen. Und mit dieser Person wollte Rick Masters abrechnen. Sein Doppelgänger blieb hinter dem Labortisch stehen, als sähe er die Gefahr nicht, die auf ihn zukam. Rick schnellte sich mit einem Panthersatz auf seinen Gegner zu, griff über den Tisch und packte den anderen an der Hemdbrust. Er riß den falschen Masters über den Tisch zu sich herüber und wollte ihm den Hals zudrücken. Doch sehr schnell mußte er einsehen, daß er tatsächlich eine hundertprozentige Kopie vor sich hatte, so als wäre sein Spiegelbild zum Leben erwacht. Der falsche Masters beherrschte die gleichen Kampftechniken wie der echte, so daß er jeden Judo107 �
griff und jeden Karateschlag entsprechend parieren und erwidern konnte. Rick Masters begriff, daß er seinem Gegner auf diese Weise nicht beikommen konnte. Sie würden sich schlagen, bis sie beide gleichzeitig vor Erschöpfung zusammenbrachen. Sobald er die ersten harten Schläge hatte einstecken müssen, war seine anfängliche blinde Wut verraucht. Statt dessen überlegte er, während er sich gegen die Angriffe seines Doppelgängers wehrte und selbst versuchte, einen günstigen Augenblick für eine Gegenattacke abzuwarten. Rick sollte sich nicht täuschen, als er annahm, daß Lady Glennmores Geist seinem Geschöpf zu Hilfe kommen würde. Es dauerte auch nicht lange, dann erschien nebelhaft das Gesicht Lady Glennmores im Raum. Ihre Anwesenheit verlieh Ricks Gegner plötzlich vermehrte Kräfte. Rick erhielt einen fürchterlichen Stoß, der ihn gegen die Wand schleuderte. Der Anprall war so heftig, daß dem jungen Detektiv die Beine unter dem Körper wegknickten. Benommen lag er auf dem Boden, aber das nun Folgende gab ihm seine Kräfte blitzartig zurück. Sein Double ergriff einen dunklen Gegenstand, der Ähnlichkeit mit einer Handgranate hatte. Rick fühlte die Gefahr, die von diesem schwarzen Ding ausging. Er dachte an Amy Sulkins Worte, die Schneewolken hätten sich aus Nebel gebildet, der von einem bestimmten Punkt aufstieg. Wie war es, wenn dieser Nebel aus einer solchen Granate stammte, wie sie sein Gegner in der Hand hielt? Wenn diese Granate ein hochkomprimiertes Gas enthielt, das im Zusammenwirken mit dem in der Luft enthaltenen Sauerstoff die todbringenden Schneeflocken bildete? Das wäre eine logische Erklärung gewesen. Bevor Rick Masters einschreiten konnte, lief sein Doppelgänger auf die Stahltür zu, die vor ihm zurückschwang. Rick war auf 108 �
den Beinen und jagte hinterher. Die Tür rollte zurück, doch bevor sie den Ausgang aus dem unterirdischen Labor verschließen konnte, zwängte sich Rick durch den verbliebenen Spalt ins Freie. Die Sonne und die frische Waldluft erschienen ihm wie das schönste Geschenk, das es überhaupt geben konnte, doch seine Aufmerksamkeit richtete sich gleich wieder auf den vor ihm laufenden falschen Masters. Der Mann hetzte in der Richtung auf Sir Gordons Grab davon. Sosehr Rick sich auch anstrengte, er konnte ihn nicht einholen. Die Erklärung war denkbar einfach. Auch in der Schnelligkeit waren die beiden vollkommen gleich. Rick spürte, wie nach einiger Zeit seine Kräfte nachließen, aber auch der von ihm Verfolgte wurde langsamer. Er erreichte Sekunden vor Rick Masters das Grab des Ermordeten. Während Rick die letzte Strecke zurücklegte, sah er, wie sein Double den Abzug der Granate auslöste. Es erfolgte keine Explosion, wie Rick vermutet hatte. Also war es keine gewöhnliche Handgranate. Die weitere Wirkung konnte Rick nicht mehr beobachten, weil er sich auf seinen Gegenspieler warf, ihn zu Boden riß, seine Arme um ihn schlang und versuchte, dem Kampf ein schnelles Ende zu bereiten. Ineinander verkrallt rollten die beiden Kämpfenden, die wie eineiige Zwillinge aussahen, auf dem feuchten Waldboden umher. Sie keuchten, schlugen, würgten und traten jeweils nach ihrem Gegner, aber wieder konnte keiner von ihnen die Oberhand gewinnen. Bis Rick Masters endlich die rettende Idee kam. Er fühlte den Druck der Steinplatte in seinem Rücken, und er erinnerte sich an die Inschrift auf Sir Gordons Grab. Wer das Gold… Der Ring! Er hatte Rick den Zugang zu dem unterirdischen Labor ermög109 �
licht, obwohl der Geist eine Sperre davor errichtet hatte. Vielleicht verlieh er Rick auch diesmal einen Vorteil. Sein Feind blutete wie er selbst auch bereits aus einigen leichten Wunden. In eine dieser offenen Verletzungen preßte Rick den reich verzierten Goldring Sir Gordons. Kaum hatte das Blut von Ricks Double das Gold des Ringes berührt, als der falsche Masters in sich zusammenfiel, als hätte er einen tödlichen Schlag erhalten. Er war zwar nicht tot, wie Rick an dem heftigen Keuchen feststellte, aber er konnte sich nicht mehr wehren. Ebenfalls völlig außer Atem, richtete sich Rick Masters auf und schaute auf seinen besiegten Gegner hinunter, Es war ein eigenartiges Gefühl, sozusagen sich selbst von seinen eigenen Händen außer Gefecht gesetzt auf der Walderde liegen zu sehen. Ein scharfes Zischen lenkte Ricks Aufmerksamkeit auf sich. Er wendete den Kopf nach links und blickte auf den Gegenstand, der das Geräusch verursachte. Das Entsetzen lähmte ihn. Seine Zähne klapperten in blanker Todesangst aufeinander. Kalter Schweiß brach an seinem Körper aus. Der Granate entströmte, ganz wie er es sich vorgestellt hatte, ein bleistiftdicker Strahl schwarzen Dunstes, der sich in einer Säule zum Himmel erhob, sich ausbreitete und drohende Wolken bildete, die sich innerhalb von Bruchteilen von Sekunden über den ganzen Himmel bis an die das Tal begrenzenden Berge hin erstreckten. Für Rick Masters stand fest, daß er verloren war. Die ersten Flocken des tödlichen Schnees schaukelten bereits durch die Luft. Rick sah, wie ein handtellergroßer Kristall auf ihn zutrieb, direkt auf sein Gesicht. Er war unfähig, eine abwehrende Bewegung zu machen oder auszuweichen. 110 �
Er fühlte die Kälte, als die ätzende Flocke sein Gesicht berührte. * Diesmal sah Chefinspektor Kenneth Hempshaw als erster die Anzeichen des drohenden Schneefalls. Er hatte seine Gedanken ordnen und seine nächsten Schritte überlegen wollen, hatte einen ruhigen Platz gesucht und war auf einen kleinen Hügel vor dem Dorf Kilroy gestiegen. Während er dahinschlenderte, fiel sein Blick zufällig auf einen Punkt des Waldes, an dem sich eine schwarze Rauchsäule gegen den Himmel erhob, der sich gleich darauf mit dunklen Wolken überzog. Kenneth Hempshaw kannte diese Anzeichen. Er lief, so schnell er konnte, zurück in das Dorf. Den Leuten, denen er auf seinem Weg begegnete, brüllte er eine Warnung zu, dann war er auf dem Hauptplatz angelangt. Von dem tiefer gelegenen Dorf aus würde man die Wolken erst in einigen Minuten sehen können, und diese Minuten konnten über Menschenleben und Schicksale entscheiden. Der Chefinspektor warf sich in seinen Dienstwagen, startete den Motor und schaltete gleichzeitig den auf dem Dach montierten Lautsprecher ein. Über Verstärker gab er seine Warnung mit voller Lautstärke durch. Seine Stimme hallte durch das Tal, während er durch Vor- und Rückwärtsfahren sein Fahrzeug in alle Himmelsrichtungen drehte, damit die Durchsage in jeden Winkel dringen konnte. Jetzt liefen die Menschen schreiend und weinend auf die festen Steinhäuser zu, verkrochen sich in Autos und Silos, schlüpften wie verängstigte Tiere in Höhlen und Abflussrohre. Innerhalb von zwei Minuten war das Dorf wie ausgestorben. Chefinspektor Hempshaw blieb in seinem Wagen sitzen. Er 111 �
wußte, daß ihm nichts geschehen konnte, solange er die Fenster geschlossen hielt und er nicht ausstieg. Mit finsterem Gesicht zündete er sich eine Zigarette an, als die ersten Schneeflocken auf die Windschutzscheibe fielen und augenblicklich schmolzen. Diesmal dauerte der Schneefall besonders lange, und Kenneth Hempshaw fürchtete bereits, der unbekannte Feind hätte es auf die völlige Vernichtung von Kilroy abgesehen. Doch dann lichteten sich die Wolken und kündeten damit das Ende der Katastrophe an. Die Zigarette entfiel Hempshaws Fingern und brannte ein Loch in seine Hose, ohne daß er etwas davon merkte, so sehr bannte ihn der Anblick, der sich ihm durch die Windschutzscheibe des Polizeiwagens bot. Er schaltete die Scheibenwischer ein, um einen besseren Ausblick zu haben. Durch das noch immer anhaltende Schneetreiben wankten zwei Gestalten. Beide sahen völlig gleich aus. »Ich habe doch nichts getrunken!« keuchte der Chefinspektor und wischte sich über die Augen. Doch das Bild blieb. Es war keine Einbildung. Zweimal Rick Masters! Das konnte es nicht geben! * Die beiden Gestalten waren inzwischen bis auf wenige Schritte herangekommen. Die eine von ihnen ging aufrecht, straff und kräftig, die andere taumelte, als wäre sie todkrank. Beide wiesen die Spuren einer schweren Schlägerei auf. Hempshaw riß die Wagentür auf und wollte herausspringen, um Masters entgegenzulaufen, als der Kräftige ihm zubrüllte: »Tür zu! Im Wagen bleiben!« Hempshaw erschrak. Er hatte nicht mehr an die gefährlichen 112 �
Flocken gedacht. Er warf sich zurück auf den Fahrersitz und schlug die Tür zu. Der kalte Angstschweiß brach ihm auf der Stirn aus, als er an die Folgen seiner unüberlegten Handlung dachte, vor denen ihn Rick Masters bewahrt hatte. Hempshaw stutzte. Wieso schadeten die Flocken Masters nicht? Hatten sie allgemein ihre Wirkung verloren? Oder war er immun gegen dieses Teufelszeug? Die Erklärung lieferte der junge Detektiv, indem er durch die geschlossene Seitenscheibe des Polizeiwagens rief: »Ich bin geschützt gegen den Schnee, aber sonst niemand. Also keine Unvorsichtigkeiten! Warten Sie im Wagen das Ende ab, dann können Sie den wahren Schuldigen in Empfang nehmen!« »Wo haben Sie denn diese schöne Kopie gefunden?« rief Hempshaw zurück. Rick winkte ab. »Erzähle ich Ihnen später. Rufen Sie jetzt über Funk die vor dem Eingang zum Tal lauernden Reporter herein! Sie müssen groß über mein Double berichten, damit ich von jedem Verdacht reingewaschen werde.« Chefinspektor Hempshaw begriff Masters' Verlangen. Nur durch Fotos und durch handfeste Beweise, daß es eine zweite Person gab, die das Aussehen des Detektivs missbraucht hatte, konnte der gute Ruf von Rick Masters wiederhergestellt werden. Er griff bereitwillig zum Funkgerät und gab seine Durchsage an die Posten am Taleingang weiter. »Alarmiert die Jungs von der Presse!« lautete seine Anweisung. »Sie sollen ihre Bleistifte spitzen und ihre Kameras ölen. Aber laßt vorläufig noch niemanden herein. Bei uns ist wieder einmal die Hölle los. Ich melde mich, sobald die Luft rein ist.« Zehn Minuten später war die Luft rein, wie sich der Chefinspektor ausgedrückt hatte, und die Meute der Reporter ergoss 113 �
sich in das Tal von Kilroy. Es war das erste Mal seit dem Auftreten des tödlichen Schnees, daß die Presse Zutritt fand, und sie nutzte diese Gelegenheit reichlich aus. Dann kam Dr. Sterling, der Ricks Doppelgänger untersucht hatte, mit einem sehr ernsten Gesicht zu Chefinspektor Hempshaw, der sich mit dem jungen Detektiv unterhielt. »Das ist mir in meiner ganzen Praxis noch nicht untergekommen«, sagte Dr. Sterling, auf alle bissigen Kommentare verzichtend, für die er bei Scotland Yard bekannt und gefürchtet war. »Der Mann lebt zwar und reagiert auch wie ein normaler Mensch, wenn man ihn anspricht oder ihm eine Injektion gibt, aber er ist klinisch tot.« »Tot?« fragten Masters und Hempshaw wie aus einem Mund. »Wie ich schon sagte, er atmet, spricht und reagiert auf Schmerzen. Er hat aber keine Herzschläge, keinen Puls, keinen Blutkreislauf, keine Gehirnströme. Er ist klinisch tot, obwohl er lebt.« Der Chefinspektor warf Rick einen Seitenblick zu. »Sie haben bestimmt wieder eine Erklärung bereit«, sagte er mit einem gespannten Unterton. »Gehen wir zu meinem Doppelgänger«, schlug Rick vor, ohne auf die Frage Hempshaws zu antworten. Sie betraten eines der Zelte, in denen die wissenschaftlichen Untersuchungsstationen eingerichtet worden waren. Neben Ärzten und einigen Polizisten war auch Red, Ricks Kontaktmann zum Geheimdienst, anwesend. Red war verlegen. Er trat von einem Fuß auf den anderen, was gar nicht zu seinem sonstigen selbstsicheren Auftreten paßte. Endlich überwand er sich, trat auf Rick Masters zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Entschuldigen Sie, was ich gesagt habe.« Rick schlug ein. 114 �
»Im Grunde genommen kann ich es niemandem übel nehmen, wenn er mich verdächtigte«, erklärte er. »Die Beweise waren erdrückend und hätten bei jedem Gericht der Welt für einen Schuldspruch ausgereicht.« Dann wurde die allgemeine Aufmerksamkeit auf den auf einem Untersuchungstisch liegenden falschen Masters gelenkt. Der Mann atmete flach. Rick begann zu argwöhnen, daß die Berührung mit dem Ring Sir Gordons die Kräfte zum Schwinden gebracht hatte, die dieses seltsame Wesen am Leben erhielten. Derselbe Ring hatte ihn auch vor der zerstörenden Kraft, der tödlichen Schneeflocken gerettet, verfügte also über eine ungeheure Macht. Rick Masters hatte sich nicht getäuscht. Einer der Reporter, die sich hinter Hempshaw und dem Detektiv in, das Zelt gedrängt hatten, schrie erstickt auf, als mit dem auf dem Tisch liegenden Double Ricks eine fürchterliche Veränderung vor sich ging. Innerhalb weniger Minuten erloschen alle Anzeichen von Leben. So sehe ich einmal als Leiche aus, dachte Rick schaudernd. Doch die Verwandlung war noch nicht abgeschlossen. Von Sekunde zu Sekunde verlor die Leiche jede Ähnlichkeit mit Rick Masters. Die Totenmaske zeigte einen alten, weißhaarigen Mann mit tief in den Höhlen liegenden Augen und einem breiten, schmallippigen Mund, der Energie und Tatkraft ausdrückte. Die hohe fliehende Stirn wies auf große Intelligenz hin. »Callahan!« schrie der Reporter auf. Für Sekunden starrten alle in dem Zelt versammelten Personen auf ihn. Rick Masters glaubte, den Namen Callahan vor einigen Jahren in der Zeitung gelesen zu haben, doch das mußte nichts zu bedeuten haben, weil er nicht gerade selten war. »Das ist James D. Callahan!« fuhr der aufgeregte Reporter fort. »Das ist vielleicht ein Ding! Callahan, Biochemiker, auf geheimnisvolle Weise ums Leben gekommen. Das war 1969 in London. 115 �
Das hier ist Dr. Callahan, darauf verwette ich meinen Kopf.« Da wurde Rick Masters alles klar. Lady Glennmore hatte sich, um ihre Pläne verwirklichen zu können, des Körpers Dr. Callahans bemächtigt. Auch das in seinem Gehirn gespeicherte Wissen hatte sie eingesetzt, um einen menschlichen Roboter aus einer Leiche zu schaffen. Es würde ewig ein Geheimnis bleiben, wie sie das geschafft hatte, aber Dr. Callahan, dem sie die äußere Gestalt Rick Masters' gegeben hatte, war der Erfinder des tödlichen Schnees gewesen. Die äußere Hülle diente nur dazu, Masters in Verdacht geraten zu lassen und ihn auf diese Weise zu verderben. Der junge Detektiv hatte während seiner Überlegungen blicklos zur Spitze des Zeltes hinaufgestarrt. Als er seine Augen wieder auf den Behandlungstisch richtete, hatte sich die Leiche Dr. Callahans in ein Skelett verwandelt, um das sich pergamentartige Haut spannte. Ein augenloser Totenschädel grinste ihnen mit gefletschtem Gebiss entgegen. * »Ich glaube, daß wir uns jetzt einen Drink verdient haben«, hatte Dr. Sterling erklärt, nachdem sich das Rätsel des Doppelgängers von Rick Masters wenigstens zum Teil gelöst hatte. Als sie in dem Pub in der Lounge beisammensaßen und schweigend an ihren Whiskygläsern nippten, fiel dem alten Arzt das Funkeln des Ringes auf, den Rick Masters noch immer am Finger trug. »Eine wunderschöne Arbeit!« rief Dr. Sterling begeistert aus. »Woher haben Sie das herrliche Stück? Dafür würden Sie Tausende bekommen.« Rick Masters wollte den Ring abziehen, damit Dr. Sterling ihn genauer betrachten konnte, als ihm eine Unregelmäßigkeit an 116 �
der fein ziselierten Goldplatte auffiel, in die das Monogramm Sir Gordons eingraviert war. Die Deckplatte hatte sich verschoben und verriet, daß der massiv wirkende Ring in Wirklichkeit hohl war. Ricks Neugierde erwachte. Er ließ sich von dem Wirt eine Nadel geben, mit deren Hilfe er den Ring ganz öffnete. Ein winziges Stück Pergament fiel heraus, nicht größer als der Nagel des kleinen Fingers. Es war mit Schriftzeichen bedeckt, die jedoch so klein waren, daß man sie mit bloßem Auge nicht lesen konnte. »Doktor!« rief Masters wie elektrisiert. »Besorgen Sie mir schnellstens ein Mikroskop! Rasch!« Der alte Arzt fragte nicht viel. Er lief hinaus und kam nach fünf Minuten, die Rick wie eine Ewigkeit erschienen waren, mit dem Mikroskop zurück. »Wunderbar«, murmelte der junge Detektiv, während er das Pergamentstückchen zwischen zwei Objektträger legte, diese in das Mikroskop klemmte und die Schärfe einstellte. »Damals konnte man schon so klein schreiben, als wäre es ein Mikrofilm.« Dr. Sterling konnte seine Ungeduld kaum mehr bezähmen. Und auch Chefinspektor Hempshaw, der sich schweigend verhalten hatte, rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. »Was steht denn auf dem Ding?« fragte der Arzt und wollte selbst einen Blick in das Mikroskop werfen, doch Rick Masters stieß ihn unsanft zurück. »Das ist nur für meine Augen bestimmt«, erklärte der junge Detektiv kurz angebunden. »Ich danke für Ihre Mithilfe, meine Herren.« Er ließ das Pergament in seiner Brieftasche verschwinden, stand auf und verließ überstürzt das Pub. Der Chefinspektor und Dr. Sterling starrten ihm entgeistert nach. Sie konnten auch nicht wissen, daß die alte Schrift genaue Anweisungen enthielt, wie Lady Glennmores ruheloser böser 117 �
Geist für immer gebannt werden konnte. * Niemand folgte dem jungen Detektiv, als er in den Wald lief und die Richtung auf Sir Gordons Grab einschlug. Masters vergewisserte sich genau, weil er ahnte, daß eine Einmischung eines Fremden in die Beschwörung seinen augenblicklichen Tod zur Folge haben konnte. Sir Gordon, der von Lady Glennmores Vater ermordet worden war, hatte sich an der Sippe der Glennmores gerächt. Er hatte es auf eine grausame Weise getan, indem er den Angehörigen dieser Familie die letzte Ruhe durch seinen Fluch verwehrte. Lady Glennmore war die letzte Nachfahrin in direkter Linie gewesen. Der Fluch hatte also nur auf sie Wirkung gehabt. Sir Gordon mußte aber auch ein sehr weiser Mann gewesen sein. Wahrscheinlich hatte er die lebende Anastasia Glennmore und ihren bösen, verdorbenen Charakter gekannt. Für den Fall, daß ihr Geist seine Fähigkeiten zum Schaden der Menschheit einsetzen sollte, hatte Sir Gordon vorgesorgt, indem er einen Hinweis auf den magischen Ring in seinem Grab in seine Grabinschrift hatte einmeißeln lassen. Rick konnte es sich nur so erklären, daß der Schlag, den Sir Gordon von seinem Mörder erhalten hatte, nicht sofort tödlich gewirkt hatte, so daß der Unglückliche noch Anweisungen hatte erteilen können. Bei Ricks Kampf mit seinem Ebenbild mußte sich das Geheimfach des magischen Rings geöffnet haben, so daß Rick nunmehr über das nötige Wissen verfügte, um Lady Glennmore zu bannen. Rick wurde zwar nicht verfolgt, er war aber doch nicht allein, wie er glaubte. Amy Sulkin hatte seine Abwesenheit bereits zu lange gedauert. Sie hatte sich in Glennmore Manor von ihrem 118 �
Schrecken erholt und den Anblick der Mumie Sir Gordons verwunden. Dann war der neuerliche tödliche Schneefall gekommen, und Rick war noch immer nicht zurückgekehrt. Zwar hatte er ihr strengste Anweisung gegeben, sie müßte in Glennmore Manor auf ihn warten, aber sie hielt es in dem alten, muffigen Haus nicht mehr aus. Sie machte sich auf die Suche nach Rick Masters, und sie entdeckte ihn, als er sich der Grabstätte im Wald näherte. Rick war mit der Schaufel versehen, mit der sie Sir Gordon hatten ausgraben wollen, die sie aber dann nicht gebraucht hatten. Was wollte er mit dem Werkzeug? Amy erinnerte sich an die unerwarteten schrecklichen Folgen für den jungen Detektiv, als sie ihn in Glennmore Manor in der vergangenen Nacht gestört hatte. Ein zweites Mal wollte sie diesen Fehler nicht mehr begehen, weshalb sie sich versteckte und Rick in einem großen Abstand folgte. Hinter Büschen verborgen beobachtete sie, wie er begann, das Grab Sir Gordons zu öffnen. Diesmal begnügte er sich nicht damit, einen Teil der Leiche von der Erde zu befreien. Er schaufelte mit kräftigen Handgriffen eine Grube, bis sie tief genug war, daß er hineingreifen und die steife Mumie aus ihrer Ruhestätte herausholen konnte. Rick schleppte die bräunlich verfärbte Leiche zu einem allein stehenden Baum, einer mächtigen Tanne, lehnte sie gegen den Stamm und band sie mit Stricken fest, daß sie nicht mehr umfallen konnte. Es war ein makabrer Anblick, Sir Gordon, einen Edelmann aus längst vergangenen Zeiten, mitten im Wald aufrecht stehen zu sehen, einerseits frisch wie zu Lebzeiten, andererseits jedoch vom Tod gezeichnet und entstellt. Die tiefe Stirnwunde klaffte hässlich vom Haaransatz bis zur Nasenwurzel. Amy würgte, preßte jedoch beide Hände vor den Mund, um Rick nicht bei seiner Beschwörung zu irritieren und dadurch in Gefahr zu bringen. Der junge Detektiv griff nach dem Gesicht 119 �
des Toten. Einen Moment lang schwebte seine Hand unschlüssig in der Luft, dann öffneten seine Finger die Augen Sir Gordons. Da zog Rick Masters den funkelnden Goldring von seinem Finger, küsste ihn und steckte ihn dem Toten an. Kaum hatte er das getan, als er sich umdrehte und auf die Büsche zulief, hinter denen sich Amy versteckt hielt. Masters lief um sein Leben. Hinter ihm erwachte die Leiche des Ermordeten zum Leben. * Bis hierher hatte Rick Masters alle Anweisungen des alten Pergaments gewissenhaft befolgt. Es hatte ihn große Überwindung gekostet, die Leiche aus dem Grab zu holen und zu dem allein stehenden Baum zu tragen. Wieso es nicht irgendein Baum sein durfte, war ihm nicht klar, aber er fragte nicht viel. Sir Gordon mußte gewußt haben, was er tat, als er die Aufzeichnungen anfertigte. Das öffnen der Augen der Mumie war fast zuviel für Rick Masters gewesen, aber er hatte die Beschwörung des Geistes von Lady Glennmore begonnen und mußte sie zu Ende führen, ohne auf persönliche Gefühle Rücksicht zu nehmen. Der letzte Satz der Anweisung lautete, er sollte den Ring dem Toten wieder an den Finger stecken, von dem er ihn abgezogen hatte. Dann sollte er sich so schnell wie möglich in Sicherheit bringen, es ginge um sein Leben. Während Rick noch über den weichen Waldboden auf eine Buschgruppe zulief, fühlte er, wie die Erde zu beben begann. Hinter ihm krachte eine gewaltige Explosion. Die Druckwelle schleuderte den Detektiv nach vorne. Er landete mit dem Gesicht in dem Nadelteppich. Rick wälzte sich auf dem Boden herum und beobachtete faszi120 �
niert, wie die Leiche Sir Gordons zu leben begann. Die welke Haut straffte sich, die Augen sprühten Blitze. Von dem goldenen Ring ging ein Strahlen aus, als würde er aus glühendem Eisen bestehen. Um den einzeln stehenden Baum breitete sich ein bläuliches Leuchten aus. Grelle Strahlen zuckten, Donnerschläge hallten durch den Wald und ließen die Erde zittern. Außerhalb des bläulichen Lichtkreises bildete sich ein Nebelschleier, der wie heiße Luft über der Wüste flimmerte und durcheinander wirbelte, sich verdichtete, bald wieder zerfloss. Die Blitze aus Sir Gordons Augen konzentrierten sich auf den Nebel, als wollten sie einen Befehl erteilen, gleich einem Hypnotiseur, der einen anderen Menschen willenlos machen möchte. Unter den gebündelten Strahlen aus den Mumienaugen formte sich der Nebel zu einer Gestalt. Rick Masters hielt den Atem an. Er sah sie wieder vor sich, die betörend schöne Frau, die so viel Unheil zu Lebzeiten angerichtet hatte, daß sie hingerichtet wurde, und die auch nach ihrem Tode keine Ruhe hatte finden können. Jetzt trafen sie zusammen, das Opfer und die Angehörige der Sippe, die diesem Opfer den Tod gebracht hatte. Es war die große Auseinandersetzung zwischen zwei Wesen, die zueinander standen wie Wasser und Feuer. Lady Glennmores Geist hatte sich materialisiert. Sie versuchte, vor dem blauen Schein zurückzuweichen, als könnte sie sich daran verbrennen. Doch diese Augen, diese fürchterlichen zwingenden Augen ließen sie nicht mehr los und zogen sie immer stärker in ihren Bann. Lady Glennmore kam mit dem blauen Bannkreis Sir Gordons in Berührung. Sie zuckte zurück, schrie auf, doch nichts half mehr. Sie wurde aufgesogen in das blaue Licht und wand sich wie ein Mensch, der inmitten eines Flammenmeeres stand. 121 �
Zoll für Zoll schwebte Lady Glennmores Geist auf Sir Gordons Mumie zu. Ihre Körper waren nur mehr eine Handbreit voneinander entfernt. Rick fühlte die ungeheure Spannung, die zwischen diesen beiden Wesen herrschte und die sich innerhalb von wenigen Sekunden entladen mußte. Die Berührung! Die beiden Körper verschmolzen miteinander. Für den Bruchteil einer Sekunde überlagerte Lady Glennmore die Mumie, dann wurde sie von Sir Gordons Leiche völlig aufgesogen. Und gleich darauf begriff Rick Masters, warum Sir Gordon vor seinem Tode angeordnet hatte, man sollte seine Leiche an einen allein stehenden Baum binden. Die Energie, die durch die Vereinigung der beiden entstand, entlud sich in einer mächtigen Stichflamme, die brüllend gegen den Himmel scholl und den Baum wegschmolz wie ein Flammenwerfer einen Eiszapfen verdampft. Gleichzeitig dröhnte eine zweite Explosion durch den Wald. Von Glennmore Manor wälzte sich eine schwarze Rauchwolke empor. Mauerteile, Holzbalken und Trümmer von Einrichtungsgegenständen wirbelten durch die Luft und ergossen sich über Rick Masters und Amy Sulkin, die sich nicht aus ihrem Versteck weggerührt hatte. Als sich die Wirkung der Detonationen abgeschwächt hatte, hob Rick langsam den Kopf, den er in die Walderde gepresst und mit beiden Armen geschützt hatte. Der Baum war bis auf einen bizarr zerfetzten Stumpf abgebrannt. Nur mehr rauchende Holzspäne zeugten davon, daß hier Lady Glennmores böse Macht gebannt worden war. Sie war verschwunden, mit ihr hatte sich Sir Gordons Leiche in Nichts aufgelöst. Rick hörte hinter sich die leichten Schritte einer Frau. Er wendete den Kopf und sah Amy Sulkin, die sich aus ihrem Versteck 122 �
hervorwagte und zögernd auf ihn zutrat. Er war Amy nicht böse, daß sie sich nicht an seine Anweisungen gehalten hatte, im Gegenteil. Wäre sie in Glennmore Manor geblieben, hätte er sich jetzt ihres Todes wegen Vorwürfe machen müssen. Amy trat neben den jungen Detektiv und lehnte sich schutzsuchend gegen ihn. Rick Masters legte seinen Arm beruhigend um das zitternde Mädchen. Es ist vorbei, Rick, nicht wahr?« fragte sie nach einer Weile leise. »Ja, Amy, der Alptraum ist vorbei.« »Sie haben Lady Glennmores Fluch gebrochen, Rick.« Sie wendete ihn ihr zerstörtes Gesicht zu, diese Masse aus offen liegendem Fleisch und pulsierenden Adern. »Sie ist an meinem Zustand schuld«, fuhr das Mädchen kaum hörbar fort. »Mit ihrer Vernichtung…« Es schmerzte Rick Masters, aber er durfte Amy keine falschen Hoffnungen machen, die sich später doch nicht erfüllen würden. Dann wäre es für sie nur doppelt schwer gewesen. »Amy, Sie müssen sehr tapfer sein. Bereits angerichtetes Unheil kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.« »Das heißt, daß ich bis an mein Lebensende…?« Durch den Wald klangen die Stimmen von Chefinspektor Hempshaw und Dr. Sterling, die nach Rick Masters riefen. Der junge Detektiv strich dem Mädchen sanft über das Haar. »Ohne Sie wäre ich nicht mehr am Leben, Amy«, sagte er lächelnd. »Sie sind ein wunderbarer Mensch. Und das werden Ihnen noch viele sagen.« Sie wendeten der Stätte des Grauens den Rücken zu und gingen langsam zurück. Und Amy wußte, daß sich sehr bald ihre Wege wieder trennen mußten… ENDE 123