Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 663 Die Namenlose Zone
Kerker der Ewigkeit von Peter Terrid
Die Flucht aus...
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Atlan - Die Abenteuer der SOL Nr. 663 Die Namenlose Zone
Kerker der Ewigkeit von Peter Terrid
Die Flucht aus der Namenlosen Zone
Es geschah im April 3808. Die entscheidende Auseinandersetzung zwischen Atlan und seinen Helfern auf der einen und Anti‐ES mit seinen zwangsrekrutierten Streitkräften auf der anderen Seite ging überraschend aus. Die von den Kosmokraten veranlaßte Verbannung von Anti‐ES wurde gegenstandslos, denn aus Wöbbeking und Anti‐ES entstand ein neues Superwesen, das hinfort auf der Seite des Positiven agiert. Die neue Sachlage ist äußerst tröstlich, zumal die Chance besteht, daß auch in der künstlichen Doppelgalaxis Bars‐2‐Bars nun endgültig der Friede einkehrt. Für Atlan jedoch ist die Situation alles andere als rosig. Der Besitz der Koordinaten von Varnhagher‐Ghynnst, ohne die er nicht den Auftrag der Kosmokraten erfüllen kann, wird ihm nun ausgerechnet durch Chybrain vorenthalten. Ob er es will oder nicht, der Arkonide wird verpflichtet, die Namenlose Zone aufzusuchen. Inzwischen schreibt man den Juli 3808, und für Atlan und seine Gefährten wird die Zeit knapp. Der Junk‐Nabel, der allein aus der Namenlosen Zone ins normale Universum hinausführt, ist wirksam verriegelt – und die endgültige Schließung des Nabels steht unmittelbar bevor. Damit sieht es aus, als sei Atlans Expedition gefangen im KERKER DER EWIGKEIT …
Die Hauptpersonen des Romans: Atlan ‐ Der Arkonide gerät in Zugzwang. Tina St. Felix ‐ Kommandantin der DRONIA. Insider ‐ Der Extra spielt seine Findigkeit und Schläue aus. Kleckel ‐ Der Roboter, der das Erbe seines Herrn bewahrt. Shamryk ‐ Ein Verstyrer wird überlistet.
1. »Die Zeit arbeitet für uns«, stellte 271‐Page fest. Das Schweigen seiner Gefährten wertete er zunächst als Zustimmung. Die Antwort von 133‐Page allerdings bewies das Gegenteil. »Das Gewicht der Kräfte hat sich verschoben«, erklärte 133‐Page. »Und zwar erheblich. Unsere Sache hat an Substanz verloren. Die Aktivitäten des Gegners haben zum Teil geradezu verheerende Wirkung.« »Das ist durchaus richtig«, gestand 271‐Page zu. »Aber das ist nur eine einseitige Wertung der Tatsachen. Ebenso sicher steht fest, daß die Gegenmaßnahmen Erfolg gezeigt haben.« »Welchen?« fragte 88‐Page. »Der Faktor, der eine weitere Verschiebung zu unseren Ungunsten bewirken könnte …« »Die Vulnurer?« »Genau die. Sie sind wirkungslos gemacht worden.« »Und das Gigantenschiff?« 271‐Page gab einen Laut der Zufriedenheit von sich. »Auch dieser Faktor wird in absehbarer Zeit wirkungslos sein, dafür ist gesorgt.« 133‐Page und 88‐Page gaben mit Zeichen zum Ausdruck, daß sie die Nachricht begrüßten – die Unterschwingungen der Skepsis aber waren nicht zu übersehen. »Es bleibt noch das gefährliche Individuum mit seinen Begleitern«,
mahnte 88‐Page. Wieder tat 271‐Page seine Zufriedenheit kund. »Dieser Faktor ist daran gehindert, die Namenlose Zone zu verlassen, mitsamt seiner Ausrüstung.« Eine Zeitlang schwiegen 133‐Page und 88‐Page, dann ergriff wieder 88‐Page das Wort. »Ich begrüße deine Mitteilungen. Sie bedeuten, daß die Verschiebung der Kräfte zu unseren Ungunsten gestoppt worden ist. Aber sie machen nicht deutlich, wie die bereits eingetretenen Verschiebungen wieder ausgerichtet werden könnten.« »Das ist zutreffend«, antwortete 271‐Page. »Zu diesem Zweck benötigen wir eine zusätzliche Kraft. Wir müssen einen Beschluß fassen, ob diese Kraft aktiviert werden soll.« Die drei Pagen schwiegen lange Zeit. Sie kannten den Namen, unter dem diese dritte Kraft geführt wurde. Man nannte sie die Alternativ‐Toten, und selbst die Pagen schauderten ein wenig bei dem Gedanken, diesen Faktor ins Spiel zu bringen. »Ich stimme der Aktivierung zu«, sagte schließlich 133‐Page. »Die Zeit ist reif dafür.« Von den beiden anderen kamen Zeichen der Zustimmung. Der Einsatz der Alternativ‐Toten war damit beschlossen. Die Folgen dieser Aktivierung würden in jedem Fall weitreichend sein, darüber waren sich die drei Pagen einig. »Es bleibt noch zu klären, ob der bisher aufgestellte Zeitplan in dieser Form in Kraft bleiben soll.« »Eine weitere Verschiebung der Kräfte könnte unser Vorhaben gefährden«, erinnerte 133‐Page. »Nicht wenn wir die bisher aufgetauchten adversiven Faktoren durch die dritte Kraft ausgleichen und sogar übertreffen werden«, erklärte 88‐Page. »Das wird der Fall sein«, lautete der Kommentar von 271‐Page. »Ich schlage vor, das geplante Vordringen in das Kontinuum zurückzuhalten, bis ein wichtiges Ereignis endlich eingetreten ist –
die endgültige Schließung des letzten Nabels.« Die beiden anderen gaben ihre Zustimmung. Auch diese Entscheidung war damit klar – der Countdown für das Chaos hatte begonnen. * Ich hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und sah hinauf zur Decke. Es galt eine Entscheidung zu treffen. Im Augenblick standen die Dinge gut – so sah es jedenfalls aus. Uns standen drei Schiffe zur Verfügung, bemannt mit gut eingespielten Besatzungen. Als Stützpunkt diente uns die Basis des Ersten Zählers, deren technische Einrichtung uns zur Verfügung stand. Allerdings half uns das wenig weiter. Das vordringliche Problem war immer noch ungelöst. Nach wie vor war der Junk‐Nabel nicht passierbar, nicht einmal mehr sichtbar. Wenn die Berechnung stimmte … Sie stimmt, kommentierte der Logiksektor. … dann waren von den 100 Tagen, die der Junk‐Nabel noch bestehen würde, bereits 77 Tage verstrichen. Nicht einmal zwei Wochen blieben uns, das Geheimnis des Verschwindens zu lüften und den Nabel wieder passierbar zu machen. Gelang uns das nicht, saßen wir für alle Ewigkeit in der Namenlosen Zone fest, ein Gedanke, der nicht nur mir Grauen bereitete. Nicht nur unseres eigenen Schicksals wegen, sondern auch in Sorge um die Völker im Universum. Die Lichtquelle leuchtete mit mäßiger Helligkeit, hüllte sich aber in Schweigen. Sie warteten auf das Erscheinen der Vulnurer, so hatte ich es beim letzten gedanklichen Kontakt erfahren. Was konnten wir in dieser wenig aussichtsreichen Lage tun? Einfach abzuwarten und die Hände in den Schoß zu legen, war
nicht meine Art und entsprach auch nicht der Mentalität der Solaner. Folglich mußte ich dafür sorgen, daß die Solaner etwas zu tun hatten. Deren Intelligenz aber verbot eine simple Beschäftigungstherapie. Etwas mußte getan werden, und zwar etwas, das einen Sinn ergab. Schon nach relativ kurzer Zeit hatte ich eine Idee. Ich stellte eine Verbindung zu den Kommandanten der Schiffe her. »Wir werden ein paar Erkundungsflüge unternehmen«, schlug ich vor. »Und zwar in die Nähe der Funkboje, die den Junk‐Nabel markieren sollte. Irgend etwas werden wir dort wohl finden – völlig verschwunden sein wird der Junk‐Nabel wohl nicht. Vielleicht haben wir eine Chance, ihn zufällig zu finden, wenn wir die Gegend gründlich absuchen.« Wajsto Kölsch, der die Funkboje hatte aussetzen lassen, nickte. »Auf die gleiche Idee war ich auch gekommen«, sagte er ruhig. »Wie hast du dir die Aktion vorgestellt?« »Wir nehmen für die Suche alles, was wir haben«, bestimmte ich. »Auch die Basis. Wir müssen unseren Leuten klarmachen, daß wir ernsthaft und gründlich suchen – und daß diese Suche für uns alle eminent wichtig ist, also nicht nur reiner Zeitvertreib.« »Wird gemacht«, stimmte Kölsch zu, und auch die Kommandantin in der DRONIA war mit dem Plan einverstanden. Eine Stunde später waren wir bereits unterwegs. Die Funkboje war leicht zu finden, aber das war leider auch alles. Mit Meßinstrumenten durchforschten wir den Kosmos, die Buhrlos versuchten es mit ihrer Sonderbegabung – ohne faßbares Ergebnis. Es sah aus, als sei der Nabel förmlich vom Nichts verschluckt worden. Wir trennten uns. Mit je einem Lichtjahr Abstand bildeten wir eine Suchkette und leiteten eine kurze Linearetappe ein. Am Ziel setzten wir die Suche fort, Stunde um Stunde. Das Suchen ermüdete, zumal es nach wie vor ohne Ergebnis blieb. Die Solaner starrten sich die Augen wund, aber kein Resultat wollte
sich einstellen. Wir fanden eine Menge kosmischen Staubs, ein paar winzige Kleinkörper, die langsam durch den Raum drifteten, einmal ein völlig ausgeglühtes Raumschiffbeiboot einer unbekannten Rasse, seltsame Energiewirbel, die uns einen halben Tag lang narrten und foppten – aber kein Hinweis auf den Junk‐Nabel. Als ich drei Tage nach der Suche in meine Kabine zurückkehrte, konnte ich an den Augen der Solaner ablesen, daß sie deprimiert waren. Eine junge Frau stellte sich mir in den Weg. »Immer noch nichts gefunden?« fragte sie, einen leisen Unterton der Schärfe in der Stimme. Ich war müde und gereizt, aber ich beherrschte mich und versuchte ein Lächeln zu zeigen. »Kein Ergebnis – bisher«, antwortete ich. »Aber das ist kein Grund zum Verzweifeln.« »Wer hat das zu entscheiden?« fragte die Frau verbittert und ging weiter. Ich murmelte eine Verwünschung. Die Frau konnte nichts dafür – diese Stimmung breitete sich mehr und mehr an Bord aus. Überall fanden sich verdrießliche oder mürrische Gesichter. Der allgemeine Aggressionsspiegel stieg an. Die Gespräche wurden schärfer im Tonfall, bei einigen Paaren kriselte es, über das Essen wurde so lautstark und hartnäckig gemeckert wie seit langem nicht mehr. Andere stürzten sich in Tätigkeitsorgien. Nie zuvor war an Bord des Kreuzers soviel repariert, wiederhergestellt, geflickt, geputzt und gescheuert worden. Unternehmungswütige fanden Räume, die seit Generationen kein Lebewesen mehr betreten hatte, säuberten sie und räumten sie auf. Aggregate wurden auseinandergenommen und wieder zusammengebaut. Es war Leerlauf, und jeder wußte es. Eine Nachfrage in der Medo‐Sektion verschaffte mir die Kenntnis, daß die Zahl der Schlafpräparate, die angefordert worden waren, seit Tagen stieg. Ich wußte, daß ich dagegen nichts unternehmen konnte – die
Stimmung hatte einen derartigen Tiefpunkt erreicht, daß jeder Versuch, dagegen anzukämpfen, die Laune nur noch weiter absinken lassen konnte. Keine Spur vom Junk‐Nabel, kein Zeichen von den Vulnurern, keine Botschaft von Chybrain. Die Langeweile an Bord wurde unerträglich. Es war fast eine Erleichterung, als ein Space‐Jet‐Pilot in seiner Aufregung beim Hangaranflug einen Unfall baute und erheblichen Schaden anrichtete. Die Rettungsaktion gab Gesprächsstoff für einen Tag, die angerichteten Schäden hielten Techniker und Robots zwei Tage lang beschäftigt. Zum Glück hatte es keine Verletzten gegeben. Am Abend des achten Tages lag ich wieder auf meinem Bett. Die Idee hatte sich als richtig erwiesen – nur geholfen hatte das Verfahren nicht. Die Reibereien der Besatzungsmitglieder untereinander wurden mit jedem Tag härter und hitziger – wenn das noch lange andauerte, war keines der Schiffe mehr richtig einsatzklar. Ich stieß einen Seufzer aus und wandte den Kopf. Er sah mich versonnen an. Gekommen war er auf die bei ihm übliche Art und Weise – er war einfach da, als gäbe es weder ein mehrfach gestaffeltes System von Schutzschirmen oder Stahlpanzerungen. »Du hast mir gerade noch gefehlt«, schnauzte ich Parzelle an. Ich hielt inne, als mir bewußt wurde, daß ich mich von der ruppigen Stimmung an Bord hatte anstecken lassen. »Das freut mich«, antwortete die Parzelle. Ich hatte nur wenig Hoffnung, von ihm etwas Genaues zu erfahren – seine Antworten würden höchstwahrscheinlich so ausfallen, daß die Pythia von Delphi dagegen wie eine Computeranalyse wirken mußte. »Kannst du mir sagen, wo der Junk‐Nabel zu finden ist?« Parzelle wiegte den Kopf. »Von den Wassern der ewigen Zeiten weggespült?« fragte er, als mache er einen Vorschlag. »Untergegangen im Strudel des Nichts?«
Er hätte utopischer Poet werden sollen, dachte ich bitter. Auf diese Weise war wohl nichts aus ihm herauszubekommen. »Was führt dich her?« wollte ich wissen. »Gründe«, antwortete Parzelle mit entwaffnender Logik. »Oder Absichten?« »Mein Wunsch jedenfalls nicht«, schnauzte ich ihn an. »Weißt du wenigstens, was los ist?« »Du wirst es mir sagen.« Ich klärte ihn über die Sachverhalte auf. Parzelle hörte mir freundlich zu und schnitt dabei ein Gesicht, als begreife er keinen meiner Sätze. »Erst in der absoluten Not kann man seine absoluten Fähigkeiten erspüren«, kommentierte er dann. »Und was sind deine Fähigkeiten?« Parzelle legte den Kopf ein wenig schief. »Bin ich in Not?« fragte er. »Warum beantwortest du heute jede Frage mit einer Gegenfrage?« »Darf ich das nicht? Was stört dich daran?« Es war aussichtslos. Aus ihm konkrete Informationen herausholen zu wollen, entsprach dem Bemühen, einem orthodoxen Psychoanalytiker die genaue Uhrzeit ablocken zu wollen – beides konnte man getrost unterlassen, denn eine brauchbare Antwort bekam man nicht. »Kannst du mir wenigstens sagen, wo Chybrain steckt?« Es war mein letzter Versuch – und überraschenderweise bekam ich eine konkrete Antwort. »Ich kenne niemanden dieses Namens«, antwortete Parzelle, lächelte freundlich und war verschwunden. Ich schickte ihm einen bitterbösen Kommentar hinterher, dann streckte ich mich auf dem Bett aus und versuchte zu schlafen. Es gelang mir für knapp vier Stunden, dann wurde ich geweckt. Es war das Alarmsignal, das mich aus einem konfusen Traum riß. Hastig schlüpfte ich in meine Kombination und suchte die Zentrale
auf. »Was gibt es?« fragte ich ohne Umschweife. »Wir haben ein Schiff verloren«, lautete die Antwort. Im ersten Augenblick war ich völlig entgeistert. Seit Tagen suchten wir diesen Bezirk ab und hatten nichts gefunden, absolut nichts – am wenigsten eine Gefahr für eines unserer Schiffe. »Wie konnte das geschehen?« »Wir haben eine Linearetappe eingeleitet«, antwortete mir Wajsto Kölsch. Er wirkte verlegen. »Und als wir wieder im normalen Raum auftauchten, war die DRONIA verschwunden.« Kommandantin der DRONIA war Tina »Catfish« St. Felix, eine Buhrlo‐Frau mit Verstand und Erfahrung. Außerdem war noch Insider an Bord – und diese beiden würden mit Sicherheit ihr Schiff in keine Katastrophe hineinsteuern, wenn es sich vermeiden ließ. »Irgendwelche Spuren?« »Das ist es ja – nicht die geringsten«, sagte Kölsch ein wenig kläglich. »Wir haben keine Explosion oder etwas Ähnliches angemessen, keine Wrackteile geortet, keinerlei Signal bekommen. Das Schiff ist schlichtweg verschwunden.« Was gab es an Erklärungen für dieses Phänomen? Eine technische Panne. Entweder entschieden zuviel Energie für das Lineartriebwerk, so daß die DRONIA Tausende von Lichtjahren abgetrieben sein konnte – aber in diesem Fall hätte sie uns per Hyperfunk erreichen können. Anders lag der Fall, wenn ein technischer Fehler keine Rückkehr in den Normalraum erlaubte, dann war das Schiff auf Nimmerwiedersehen verschollen. Extrem unwahrscheinlich, kommentierte der Logiksektor. »Vielleicht haben sie es geschafft«, vermutete Kölsch. »Möglicherweise haben sie, ohne es zu wollen, den getarnten oder versteckten Junk‐Nabel gefunden und durchflogen.« Ich schüttelte den Kopf. »Zweierlei spricht dagegen«, antwortete ich. »Zum einen die Größe des Nabels, verglichen mit dem Raumgebiet, das wir
durchstreifen. Zum anderen hätte Tina sofort danach ein Beiboot zurückgeschickt, um uns einen Hinweis zu geben. Wie lange liegt der Vorfall zurück?« »Fast eine Stunde – wir wollten erst sichergehen, bevor wir Alarm auslösten.« »In dieser Zeit hätte sich Tina mit Sicherheit bemerkbar gemacht«, antwortete ich. »Wie groß war die letzte Etappe?« »Sieben Lichtjahre, mehr nicht.« Unwillkürlich mußte ich lächeln. Ich hatte den vagen Verdacht, daß die DRONIA möglicherweise eine Schockfront durchquert hatte, die wir bisher nicht hatten entdecken können. Die Wahrscheinlichkeit war nicht sehr groß, aber es war noch die harmloseste der möglichen Erklärungen. Traf sie zu, standen wir nun vor der wenig erfreulichen Aufgabe, einen sieben Lichtjahre breiten Streifen nach einem versteckten Sonnensystem abzusuchen – angesichts der Tatsache, daß ein Sonnensystem mitsamt umhüllender Schockfront kaum mehr durchmaß als einige Lichtminuten, ein kaum lösbares Problem. Ich überschlug die Werte im Kopf. Zehn Lichtminuten Ausdehnung für Sonne, Planet und Schockfront, das ergab sechs auf eine Lichtstunde, mithin … Zirka 376.000, gab der Logiksektor durch. Ich stieß die Luft aus. Wenn wir das Schiff auf dem gleichen Weg wiederfinden wollten, auf dem es verlorengegangen war, dann hatten wir mehr als dreihunderttausend Möglichkeiten vorbeizufliegen, ohne es zu finden. Aber keinen Augenblick lang dachte ich an Aufgabe … 2. Das Heulen und Toben ebbte ab. In der Zentrale waren wieder
menschliche Laute zu hören, in der Regel Schreie und Angstrufe. Die letzten Minuten waren höllisch gewesen. Abrupt war das Schiff aus dem Linearraum gerissen worden und in das Normalkontinuum zurückgestürzt. Die Auswirkungen waren entsprechend – es hatte nicht viel gefehlt, und die DRONIA hätte sich in einen Schrotthaufen verwandelt. Aber auch so waren alle Aggregate bis an die äußerste Belastungsgrenze strapaziert worden, und mit Sicherheit hatte es Schäden gegeben. Manch ein Besatzungsmitglied hing halb ohnmächtig in den Gurten – für ein paar Augenblicke waren die Andruckabsorber nicht mitgekommen und hatten ein Dutzend g durchschlagen lassen. Tina St. Felix stieß ein Ächzen aus. »Was zum Teufel ist das gewesen?« stieß sie hervor. Ein erster Blick auf den Panoramaschirm zeigte, daß etwas schiefgegangen sein mußte. Auf der Darstellung hätte der Leerraum zu sehen sein müssen und darin die begleitenden Schiffe. Von den Freunden war nichts zu sehen – wohl aber ein fremdes Sonnensystem, eine fahlgelbe Sonne mit einem Schwarm von Planeten. Tina St. Felix zögerte keinen Augenblick. Sie ließ die Maschinen der DRONIA hochfahren. Das ganze System roch geradezu nach Falle, und eine erste Messung hatte ergeben, daß die DRONIA allein in diese Falle hineingetappt war. Das Schiff nahm Fahrt auf, beschleunigte mit höchstmöglichen Werten. »Raumtorpedo klarmachen!« bestimmte Tina St. Felix. Den Sinn dieses Manövers brauchte sie keinem klarzumachen. Der Torpedo sollte testen, ob die Schockfront auf diese Weise von innen her passierbar war – die Kommandantin wollte nicht mehr riskieren, das Schiff an einem Hindernis zerschellen zu lassen. Der Raumtorpedo jagte davon. Seine Beschleunigungswerte lagen
noch ein Stück über denen der DRONIA, der Abstand zwischen den beiden Körpern vergrößerte sich rasch. Tina St. Felix, stieß eine Verwünschung aus, als vor dem Bug der DRONIA eine grellweiße Feuerkugel entstand. Der Raumtorpedo hatte das Hindernis nicht überwinden können. Die DRONIA beschrieb eine Kurve und entfernte sich wieder von der Schockfront. Auf diese Weise war kein Entkommen möglich. »Jetzt gibt es nur eins, was wir tun können«, stellte Insider fest. Tina St. Felix nickte. Die Lösung lag auf der Hand. Ein solches Schirmfeld hatte nur wenig Sinn, wenn die Projektoren zu seiner Erzeugung außerhalb lagen. Folglich wurde es irgendwo im System selbst produziert. Gelang es, diese Anlagen zu finden und zu zerstören, war der Weg frei – vorausgesetzt, niemand widersetzte sich diesen Absichten. »Nimm den dritten Planeten!« schlug Insider vor. Energieorter hatten herausgefunden, daß auf dieser Welt mit hochwertiger Technik gearbeitet wurde; die unvermeidlichen Streustrahlungen waren angemessen worden. Tina und Insider wechselten einen raschen Blick. Technik dieser Art kam selten allein vor – höchstwahrscheinlich gab es auf dem Planeten Leben – und nach allen Erfahrungen in der Namenlosen Zone war dieses Leben Besuchern vermutlich nicht eben freundlich gesinnt. Die DRONIA flog die dritte Welt an. Nach den Meßergebnissen handelte es sich um eine Welt, die genügend nahe an der Sonne stand, um intelligentes Leben in einer vertrauten Form hervorzubringen. Die Taster hatten freien Sauerstoff und genügend Wasser angemessen, die Fernanalyse der Lufthülle ergab Werte, die der Zusammensetzung der Atemluft an Bord der DRONIA entsprachen. »Ich bin gespannt, was wir vorfinden werden«, murmelte Tina. In der Funkzentrale wurden Bemühungen unternommen, sowohl mit den anderen Schiffen in Kontakt zu kommen als auch mit den
Bewohnern des Planeten. Beides mißlang. Von der Basis und den anderen Schiffen war nichts zu hören, und von dem Planeten gab es ebenfalls kein Signal. »Man hüllt sich in Schweigen«, stieß Tina hervor. Das war kein gutes Zeichen. Entweder lauerte man dort unten auf das anfliegende Schiff, oder die unbekannten Fremden hatten Angst vor der DRONIA und ihrer Besatzung. In beiden Fällen würde es nicht einfach sein, sich mit den Fremden zu verständigen. »Noch immer kein Piepser«, klang es aus der Funkzentrale. »Nur Hintergrundgeräusche, dazu Kodesprüche, die wir nicht entschlüsseln können.« Kodierte Funksendungen waren der nächste Beweis dafür, daß es auf dem Planeten intelligentes Leben gab. Wie intelligent dieses Leben war, zeigte sich wenig später. Die Energiemissionen waren eindeutig – auf dem Planeten starteten gerade Raumschiffe. »Wie viele?« fragte Tina, sobald sie die Nachricht bekam. »Zwanzig, und von der abgewandten Seite des Planeten kommen noch mehr!« Wenig später waren die Schiffe auf den Planeten zu sehen – insgesamt siebenundvierzig, eine gewaltige Übermacht. »Platsch‐uuh!« stieß Insider hervor. »Das wird ernst.« Die Schiffe der Fremden waren annähernd kegelförmig, etwas über einhundert Meter lang, und ihre Beschleunigungswerte waren denen der DRONIA vergleichbar. Das ließ auf eine ähnlich hochstehende Technik schließen, wahrscheinlich auch, was die Bewaffnung anging. In der Zentrale der DRONIA wurde es ruhig. Ungefähr fünfzig Personen gab es an Bord, und sie alle konnten das Geschehen auf den Bildschirmen verfolgen. Einige kannten sich in diesen Dingen aus – die Kegelschiffe bildeten eine Angriffsfront. Es sah nicht danach aus, als suchten sie einen friedlichen Kontakt.
»Hyperfunk, was ist los? Bekommt ihr Kontakt?« »Negativ. Wir funken sie auf den Standardfrequenzen ständig an, aber sie reagieren nicht. Und wir bekommen nur kodierte Sendungen zu hören, die die Schiffe untereinander austauschen.« Wieder murmelte Tina St. Felix eine Verwünschung. Mit der DRONIA war sie den Fremden hoffnungslos unterlegen. Auf der anderen Seite dachte sie nicht daran, sich einfach zu ergeben. Die DRONIA entfernte sich von den Kegelschiffen. Aus dem Kollisionskurs wurde eine Aufholjagd. Mit Absicht hielt Tina die DRONIA ein wenig zurück – zum einen, um weitere Kontaktversuche ermöglichen zu können, zum anderen um die Gegner über die wahre Stärke der DRONIA zu täuschen. »Sie holen langsam auf«, bemerkte Insider. Tina nickte. Die DRONIA war kampfklar, und ob die Fremden ein Abwehrmittel gegen die Transformkanonen besaßen, war zweifelhaft. Gegen eine solche Übermacht half aber auch der Einsatz von Transformkanonen nichts – er konnte aus dem Kampf nur ein fürchterliches Gemetzel machen und das Ende der DRONIA lediglich hinauszögern. Tina überlegte noch ihre nächste Reaktion, als der erste Treffer der Fremden in die Schirmfelder der DRONIA einschlug. Es war kein Schuß vor den Bug gewesen, keine Aufforderung zum Halten – es war die Eröffnung eines Kampfes. »Belastung sieben Prozent«, bekam Tina beim nächsten Treffer zu hören. Das war nicht viel, aber wenn mehr als vierzig Einheiten ihr Feuer konzentrierten, genügte das vollauf, um die DRONIA zu vernichten. »Setzt ihnen einen Transformschuß vor den Bug – als Warnung!« Sekundenbruchteile später bildete sich in Flugrichtung der Kegelschiffe der Glutball des detonierenden Transformgeschosses. Drei der Kegelschiffe konnten nicht mehr ausweichen und rasten in die Feuerkugel hinein. Eines wurde aus dem Kurs getrieben, die
anderen setzten ihren Angriff fort. »Sie haben es auf uns abgesehen«, kommentierte Insider trocken. Tina St. Felix preßte die Lippen aufeinander. Es gab natürlich eine Möglichkeit, diesem Katz‐und‐Maus‐Spiel eine Ende zu bereiten – eine sehr gefährliche Möglichkeit. Aber angesichts der unerbittlichen Hartnäckigkeit der Angreifer blieb der Kommandantin keine andere Wahl. Die DRONIA beschleunigte und setzte sich ab. An der Schockfront mußte diese Flucht notwendigerweise ein Ende finden – auch der Gegner schien das genau zu wissen. Er strengte sich nicht sehr an. Wieder beschrieb der Kreuzer einen weiten Bogen. Die Verbände des Schiffes ächzten und kreischten. Tina mußte das letzte aus den Anlagen herausholen, um ihr Ziel erreichen zu können. »Linearmanöver!« bestimmte sie. »Wir müssen ganz in der Nähe des dritten Planeten herauskommen.« »Patsch‐uuh!« stieß Insider hervor. Solche Mini‐Linearetappen waren möglich, aber außerordentlich gefährlich – zum einen für das Schiff, zum anderen für den angeflogenen Planeten und seine Bevölkerung. Bei der Überlichtgeschwindigkeit im Linearraum konnte der kleinste Rechenfehler zur Katastrophe führen. »Jetzt!« schrie Tina. Für einen Sekundenbruchteil drang die DRONIA in den Linearraum vor und kehrte sofort wieder in den Normalraum zurück. »Gelungen?« rief Tina. Die DRONIA verzögerte mit Höchstwerten, um ein Aufschlagen auf dem Planeten zu vermeiden. Die Reserven waren groß genug, das Manöver mußte gelingen. »Versucht, eine große Stadt zu finden!« bestimmte Tina. Jetzt erst begriff Insider den Plan der Kommandantin. Sie wollte die DRONIA über einer großen Stadt des Planeten anhalten; deren Bewohner wären dann zu Geiseln der Solaner geworden, dem Feuer der Transformkanonen wehrlos ausgeliefert.
Es war ein niederträchtiger Trick – aber wahrscheinlich der einzige, der funktionierte. Wenn er gelang, kam es wenigstens zu einem Patt im Raum – zwar nicht sehr angenehm, aber einer Vernichtung der DRONIA bei weitem vorzuziehen. Und wenn die Fremden nicht herausbekamen, daß die Solaner ihr Erpressungsmittel niemals anwenden würden, hatten sie in den Verhandlungen eine gute Hoffnung. »Zeit gewinnen«, sagte Tina über die Schulter hinweg. »Die anderen werden uns suchen und finden.« »Hoffentlich«, murmelte Insider. Er hatte eine ähnliche Berechnung angestellt wie Atlan und war zum gleichen niederschmetternden Ergebnis gekommen. Für weitere Spekulationen blieb Insider allerdings keine Zeit mehr. Er spürte nur noch, wie sich der Boden unter seinen Füßen ruckartig hob, dann wurde er hart gegen die Gurte seines Sitzes geschleudert. Chaos in der Zentrale – der Panoramaschirm detonierte und sprühte einen Hagel von Trümmern durch die Zentrale, in der schlagartig das Licht ausfiel. Durch das Dunkel klangen Schreie. Wieder ein Treffer, der die DRONIA erneut aus dem Kurs hämmerte. »Schirmfeld zusammengebrochen!« gellte eine Stimme. Jetzt wäre es an der Zeit gewesen, den Beschuß zu erwidern, aber niemand dachte daran. Selbst mit Hilfe der Positronik wäre ein genaues Zielen unmöglich gewesen. Fehlschüsse in den Raum hätten nichts geholfen, und Treffer auf dem Planeten nur Verwüstungen angerichtet und möglicherweise die Leben von Zivilisten gefordert. Die DRONIA wirbelte herum. Treffer auf Treffer schlug in das Schiff ein. In dem Durcheinander wurde nur langsam klar, woher diese Schüsse kamen – aus getarnten Forts auf dem Boden, die nur darauf gewartet hatten, daß ihnen die DRONIA so einladend vor die Mündungen flog.
Die Gegner setzten kleinere Geschütze ein. Offenbar wollten sie das Schiff nicht mit einem Schlag zerstören. Teile der Hülle der DRONIA waren durchschlagen, andere glühten rot nach, wo Treffer eingeschlagen hatten. Nur wenige der Außenbordbeobachtungsinstrumente funktionierten noch – sie zeigten das Feuer vom Boden und wenig später eine Reihe von Kegelschiffen, die vom Raum aus angriffen. »Fertigmachen zur Landung!« klang Tinas Stimme aus den Lautsprechern. Sie hatte den Regler weit aufdrehen müssen, um sich in dem Lärm überhaupt verständlich machen zu können. Nach der ersten Sekunde der Panik verhielten sich die Solaner so kaltblütig und besonnen, als handle es sich lediglich um eine Simulatorübung. Jeder wußte, daß sein Leben und das Leben der Gefährten davon abhing, daß auch in dieser extrem kritischen Lage der Dienst ausgeführt werden mußte. Jeder Handgriff saß, nirgendwo war Hektik oder gar Panik zu spüren. Einen Feuerschweif hinter sich ziehend, tauchte die DRONIA in die Atmosphäre des Planeten ein. Die Luft rieb sich an der Hülle der DRONIA und heizte sie auf, nach wenigen Minuten begannen die Temperaturen im Innern anzusteigen. Teile der Hülle standen in Rotglut. Mit einem letzten Schub stieß Tina St. Felix das Schiff noch einmal in die Höhe. An Entkommen dachte sie nicht, sie wollte nur die Eintauchgeschwindigkeit herabsetzen, damit das Schiff in der Atmosphäre nicht verglühte. Erbarmungslos drosch der Gegner mit kleineren Geschützen auf das Wrack ein. Beiboothangars wurden zerstört, einer platzte auf, spie ein Beiboot aus, das zwei Sekunden danach in einem Volltreffer explodierte. Insider sah es und stieß einen Fluch aus. Wieder tauchte die DRONIA in die Lufthülle ein. Es war eine Meisterleistung, aus der Verzweiflung geboren, daß Tina St. Felix überhaupt noch Einfluß auf die Bewegungen der DRONIA hatte. Als zwei Triebwerke ausfielen und das Schiff zur Seite kippte, schaffte sie es sogar, diese Bewegung auszusteuern.
»Kontakt in weniger als zwei Minuten!« Trotz der Hektik hatten die Solaner inzwischen Raumanzüge angelegt. Jeder war an seinem Platz angegurtet. Ob das half, den Aufschlag zu überstehen, mußte sich zeigen. »Aufpassen, eine Stadt!« Auf dem einzigen noch intakten Schirm konnte Tina eine Stadt sehen, und genau dort würde die DRONIA vermutlich abstürzen. Mit letzter Maschinenleistung trieb Tina das Schiff noch einmal an. Die Absturzkurve wurde dadurch flacher, aber auch schneller – mit erheblich größerer Geschwindigkeit als zuvor würde das Schiff auf dem Boden auftreffen. Dann war es soweit. Insider hatte das Gefühl, er werde auf Zentimetergröße zusammengestaucht, als die DRONIA aufschlug und über den Boden zu rollen begann. In der Zentrale erloschen die letzten Lichter, die Solaner waren mit sich und ihrer Angst allein. In dem Kreischen und Schmettern gingen die Schreie der Menschen unter. Gegenstände flogen durch die Luft, überschlugen sich. Entladungen zuckten aus geborstenen Schaltkästen und tauchten jeweils für Sekundenbruchteile die Zentrale in grelles Licht, das alle Konturen hart und deutlich erkennen ließ. Aus dem unteren Teil des Schiffes waren die Geräusche von Detonationen zu hören, vermutlich die Selbstzerstörungsanlage der Transformkanonen, deren Konstruktionsgeheimnisse auf diese Weise geschützt wurden. Dann gab es noch einmal einen harten Schlag, das Schiff kam zum Stillstand. Ächzen und Stöhnen war zu hören, ein ersticktes Schluchzen. Das Krachen und Donnern aus dem Innern des Wracks mischte sich in das Knistern der Brände. In dieses Chaos erklang die Stimme von Tina »Catfish« St. Felix. »Aussteigen! Verlaßt das Schiff, und nehmt alle Verletzten mit!« Dieser Hinweis war überflüssig. Als die Notbeleuchtung anging und die Zentrale in ein gespenstisch fahles Licht tauchte, sah
Insider, daß der Boden schräg lag. Die künstliche Schwerkraft war ausgefallen, die Solaner mußten zusehen, wie sie sich auf der Schräge bewegten. Einige hatten ihre Gurte gelöst und waren dabei, Verletzten zu helfen. »Schadensmeldung!« forderte Tina. Daß das Schiff ruhig liegen blieb, bewies, daß der Gegner das Feuer eingestellt hatte. Dennoch war es angebracht, sich zu sputen – jeden Augenblick konnten weitere Aggregate hochgehen und das Schiff vollends zerstören. Die Meldungen klangen nach einem mittelgroßen Wunder – Knochenbrüche, Prellungen, Schock und eine Menge kleinerer Verletzungen, hauptsächlich Schnitt‐ und Schürfwunden. Kein Schwerverletzter, kein Toter – Insider stieß einen Seufzer aus. Er befreite sich von den Gurten und arbeitete sich zu Tina vor. »Ich weiß nicht, was sie vorhaben«, sagte er laut. »Aber ich schlage vor, daß wir uns in gewisser Weise trennen. Ich werde mir Handschellen verpassen lassen und mich als euren Gefangenen ausgeben – bei meinem Aussehen wird man mir das glauben.« »Einverstanden«, sagte Tina und gab die Nachricht weiter, damit die anderen Insiders Plan nicht versehentlich gefährden konnten. Die Flucht aus der brennenden DRO‐NIA war ein Abenteuer besonderer Art. Die Außenhülle war völlig zerstört, teilweise sogar geschmolzen. Die Solaner konnten sich nur an der Hitze orientieren, die ihnen entgegenschlug – mühsam bahnten sie sich einen Weg zu den Teilen der Hülle, die passierbar waren. Die Raumanzüge erwiesen sich einmal mehr als Lebensretter – ohne diesen Schutz hätte keiner die Gluthölle der Außenbezirke überstehen können. Auch so war es schwierig genug. Die Wärme im Innern der Anzüge wurde bald unerträglich, die Absorber kamen mit dem Schwitzwasser nicht mehr nach, die Scheiben beschlugen und machten die Sicht schlecht. »Hier entlang!« bestimmte Tina. Bei dem Gefecht war der Gang förmlich in sich verdreht worden,
eine heiße, scharfkantige Korkenzieherwindung, durch die sich die Solaner auf allen vieren schlängeln mußten. Zu allem Überfluß fiel dann auch noch das Licht aus. Mit den behandschuhten Händen mußte sich Tina den Weg suchen. Sie fand ihn, und als sie dicke Tropfen auf dem Helmvisier auftauchen sah, wußte sie, daß ein kalter Wind über ihren Anzug strich. Zwei Minuten danach waren die Solaner im Freien. Und im gleichen Augenblick waren sie gefangen. 3. Die Sonne stand hoch am Himmel, als Kleckel erwachte. Er registrierte es beiläufig, denn das eigentlich Wundersame an seiner Entdeckung war die Tatsache, daß er überhaupt ins Leben zurückkehrte. Er konnte es an seinen Gedankengängen spüren. Sie waren langsam und unbeholfen, gerieten mitunter sogar in Widersprüche, die es genaugenommen gar nicht geben durfte. Immerhin – er funktionierte noch. Nicht mit altgewohnter Präzision, diese Zeit lag Äonen zurück, aber noch hinreichend zuverlässig; so verwirrt und unlogisch waren seine Gedanken nicht, daß er aus diesem Grund zur Selbstdesaktivierung gezwungen gewesen wäre. Vorsichtig begann Kleckel seine Glieder zu bewegen. Die Gelenke waren steif geworden, ein Teil der Hydraulikflüssigkeit in einem unangenehm pastösen Zustand. Auch die Leitfähigkeit einiger Kabel ließ zu wünschen übrig, an anderer Stelle hingegen gab es zuviel Energie. Ziemlich verwundert betrachtete Kleckel das Funkenbündel, das jedesmal zwischen seinen Fingern entstand, wenn er sie zu nahe aneinanderbrachte. »Was für ein Leben«, seufzte Kleckel. Das erste Problem, das er zu lösen hatte, war vergleichsweise
einfach – er mußte seine Funktionsfähigkeit wiedergewinnen. Die zweite Aufgabe war dann, genau herauszufinden, an welchem Ort und in welcher Zeit er erwacht war. Das dritte und eigentlich wichtige Thema war die Frage nach dem Grund seines Erwachens. Kleckel beschloß methodisch vorzugehen, wie es seiner Art entsprach. Er richtete sich auf. Der Anblick ringsherum war trostlos. Vergeblich versuchte sich Kleckel daran zu erinnern, wie er ausgerechnet hierhergekommen sein mochte – auf einen in Vergessenheit geratenen Robotfriedhof. Der Zustand der Kollegen war noch um einiges erbärmlicher als der Kleckels. Wohin er auch sah – es waren Bilder des Schreckens. Rostbedeckte Gliedmaßen, geborstene Sehorgane, verkrümmte Leiber, dazwischen Einzelgliedmaßen, aus denen die Kabelstränge hervorsprossen. Der Haufen desaktivierter Roboter war ein paar Dutzend Meter hoch, und es sollte möglich sein, in diesem Sammelsurium die Ersatzteile zu finden, die Kleckel brauchte, um wieder voll funktionstüchtig zu werden. Er machte sich an die Arbeit. Sein Äquibrilistiksensor war defekt, das merkte Kleckel beim ersten Schritt, als er zur Seite fiel und den Abhang hinunterpolterte. Dabei brach dann auch noch ein Akustiksensor ab, so daß Kleckel auf dem linken Ohr taub wurde. Unten angekommen, blieb er zunächst einmal liegen. Kleckel wußte, daß etliches an ihm reparaturbedürftig war. In seine Gedankengänge schlichen sich syntaktische Elemente ein, die bei einem Hochleistungsrobot nichts zu suchen hatten. Vor allem handelte es sich um Begriffe aus der irrationalen Semantik, wie sie üblicherweise von Lebewesen verwendet wurden, wenn sie über jene irrealen Abstrakta redeten, die sie Gefühle nannten. Derlei konnte es bei einem streng logisch und rational konditionierten Robot nicht geben. Leider gab es solche Dinge, denn Kleckel empfand ziemlich viel Betrübnis beim Anblick seines lädierten Körpers; einen anderen
zerebralen Aggregatzustand seiner Positronik identifizierte Kleckel sogar als Angst. Kleckel ließ sich davon nicht lange behelligen. Er stand wieder auf und suchte nach passenden Ersatzteilen. Es war eine harte und unangenehme Arbeit, brauchbare Kollegen aus dem Wust herauszuzerren und in Einzelteile zu zerlegen. Nach und nach bekam Kleckel zusammen, was er brauchte. Ein Teil hier, ein anderes dort, und zu seiner großen Erleichterung fand er nach geraumer Zeit sogar einen Wartungsrobot, der seine Werkzeuge bei sich hatte – verbogen und angerostet, aber durchaus brauchbar. Kleckel kam zu der Schlußfolgerung, daß er sich die Arbeit erheblich leichter machen konnte, wenn er zunächst den Wartungsrobot instand setzte und sich danach von dem wieder aktivierten Kollegen helfen ließ. Der Technikerrobot war auf dem Schrott gelandet, weil sein Sprachzentrum gestört war – beim Einsatz an einer Erntemaschine hatte ein Blitz den Robot getroffen und zeitweilig völlig außer Gefecht gesetzt. Versuche, ihn wieder zum Arbeiten zu bringen, waren gescheitert, und so war er auf dem Schrott gelandet. Aber das konnte Kleckel nicht wissen. Unverdrossen machte er sich an die Arbeit. Er brauchte etwas mehr als eine Stunde, dann begann sich der Kollege zu regen. »Kannst du mich verstehen?« fragte Kleckel. Seine Stimmerzeugung hatte ebenfalls gelitten bei dem Sturz – Kleckels Stimme klang wie die eines kleinen Mädchens. »Ich erwarte deine Anweisungen«, antwortete der Techniker. Kleckel empfand Erleichterung. Jetzt war der Rest eine Kleinigkeit. Kleckel erklärte genau, welche Arbeiten der Techniker durchzuführen hatte, und der Kollege schien genau zu verstehen. Kleckel empfand ein wenig Empörung, daß jemand einen so qualifizierten Robot ausgesondert hatte, andererseits war er
erleichtert, eine so nützliche Hilfe gefunden zu haben. Willig streckte er sich auf dem Boden aus und ließ den Kollegen gewähren. Doch schon nach kurzer Zeit gewann Kleckel den Eindruck, mißverstanden worden zu sein. Er verwarf den Gedanken. Mißverständnisse konnte es unter Lebewesen geben, unter Robotern niemals. Dennoch erinnerte er sich deutlich, daß er dem Techniker aufgetragen hatte, etwas an seinen Füßen zu verändern, Nun, vielleicht war dem Wartungsrobot etwas aufgefallen, das Kleckel übersehen hatte – er ließ ihn gewähren. Zehn Minuten später hatte Kleckel dann Gewißheit, daß etwas mit dem Kollegen nicht stimmte. Da aber war es bereits zu spät. Der Techniker machte einen Griff, und Kleckels Positronik bekam keinen Strom mehr. * Wie lange der Ausfall gedauert hatte, konnte Kleckel nicht feststellen, wohl aber, daß sich in seinem Innenleben einiges verändert hatte. Zum einen besaß Kleckel jetzt einen Ultraschallsensor, den er vorher nicht gehabt hatte. Seine Sehorgane funktionierten anders und lieferten recht unterschiedliche Bilder; während er mit dem rechten Auge eine unglaubliche Menge von Details wahrnehmen konnte, ohne sie aber mit einem Begriff zusammenfassen zu können, sah er mit dem linken Auge einen Roboterfriedhof, konnte aber kaum Einzelheiten wahrnehmen. Nun, vielleicht ließ sich diese Tatsache einmal ausnützen. »Was hast du mit mir gemacht?« fragte Kleckel. »Auftrag ausgeführt«, erklärte der Techniker. Der Ultraschallsensor empfand seine Stimme als bemerkenswert schrill, und wenn Kleckel mit dem linken Auge auf den Kollegen starrte, konnte er dessen defektes Innenleben geradezu sehen – irgend
etwas an der Gestalt wirkte verzerrt und verschoben. »Was hast du mit meinem Sprachmodulator gemacht?« wollte Kleckel wissen. »Er war defekt, ich habe ihn ausgetauscht.« »Das ist gar nicht wahr«, erklang eine Stimme in Kleckels Positronik. »Er hat deinen Sprachmodulator entfernt und dafür mich eingebaut.« Kleckel erstarrte. Rasch prüfte er seine Schaltkreise durch. Das Ergebnis war entsetzlich – der Techniker hatte ganz einfach ein komplettes Bauteil ausgetauscht. Aber statt Kleckel einen Sprachmodulator zu verpassen, der seinem Typ angemessen war, hatte er ganz einfach die komplette Positronik eines anderen Robots mit Kleckel verbunden. Mit Abscheu registrierte Kleckel, daß es sich bei dieser Positronik um das Gehirn eines Robots handelte, der in einer Großmetzgerei beschäftigt gewesen war. Obendrein war diese Positronik dem Regen der letzten Jahrhunderte ausgesetzt gewesen und alles andere als normal. Der Gedankensalat, den Kleckel beim Nachspüren entdeckte, handelte von Tätigkeiten, mit denen Kleckel nichts zu tun haben wollte. Obendrein war Kleckels Stimme jetzt vom Modulator des Metzgerrobots abhängig, und dessen Organ war scheußlich. »Nun gut«, sagte Kleckel. Hätte er die dazu nötigen Muskeln gehabt, wäre er beim Klang seiner Stimme erschauert. »Was hast du noch gemacht?« Der Techniker zählte auf, und die Liste wurde ziemlich lang. Offenbar hatte er nach Lust und Laune an Kleckel herumgebastelt und sich an Ersatzteilen gegriffen, was gerade zur Hand war und der Größe nach paßte. Wie das Ergebnis dieser Herumwerkelei in der Praxis aussah, mußte sich erst noch herausstellen. Um weitere Gefährdungen Ahnungsloser zu unterbinden, legte Kleckel den Kollegen lahm und sorgte dafür, daß er nie wieder zu gebrauchen sein würde. Dann machte er sich auf den Weg. Es war Abend geworden, die
Dunkelheit senkte sich über diesen Teil von Verst. Kleckel hätte gern gewußt, wo er sich befand – in jedem Fall weitab von der nächsten bewohnten Siedlung. Einmal begegnete ihm ein Transportgleiter, der weitere Roboter zur Deponie schaffte, vorsichtshalber wich Kleckel dem Gefährt aus – er hatte keine Lust, aufgegriffen zu werden. Unterwegs überprüfte er seine Gedanken und Wahrnehmungen. Was ihn geweckt hatte, war nun eindeutig identifiziert. Kleckel hatte dank der Reparatur Zugang zu seinen Speichern gefunden und erinnerte sich nun. Was Kleckel geweckt hatte, mußte die Geburt eines neuen Emulators sein – nur darauf hatte Kleckels Innenleben angesprochen. Er hätte gern gewußt, auf welchem Weg er von dieser Geburt erfahren haben mochte – schließlich vollzogen sich solche Vorgänge so, daß ein mehrere Kilometer entfernter Roboter schwerlich auf einem naturwissenschaftlich erklärbaren Weg davon hätte erfahren können. Immerhin – er wußte es nun, auf welchem Weg auch immer. Und Kleckel wußte auch, daß für ihn jetzt die Zeit des Handelns gekommen war. So lautete der letzte Befehl, den der große Irrandhan ihm erteilt hatte, der letzte Emulator auf Verst. Kurz vor seinem Ende hatte Irrandhan Kleckel angewiesen, auf die Geburt des neuen Emulators zu warten und ihm so treulich zu dienen wie ihm. Bei der Erinnerung an diese Szene empfand Kleckel Verwirrung – es galt als bekannt, daß ein Emulator nur sterben konnte, wenn der Nachfolger bereits feststand – folglich hätte Kleckel niemals jahrhundertelang auf einem Robotfriedhof rosten dürfen. Der Belag auf seinem Körper bewies aber, daß wenigstens ein paar Jahrzehnte seit Irrandhans Tod vergangen sein mußten. Kleckel empfand es nicht als notwendig, diesen Widerspruch zu klären. Es genügte ihm, daß es einen neuen Emulator gab – und daß er ihn erspürt hatte.
Ein wenig Zweifel empfand Kleckel nur bei dem Gedanken, ob er in seiner jetzigen Beschaffenheit tatsächlich geeignet war, einem Emulator zu dienen. Auf einer Anhöhe blieb Kleckel stehen. Weit voraus dehnte sich ein Lichtermeer. Im Hintergrund landete gerade ein Raumschiff. Verstelyn, erkannte Kleckel. Es mußte die Hauptstadt des Planeten sein, und das landende Raumschiff bewies, daß es noch Leben auf dem Planetoiden, gab. Auch die Ausstrahlung des Emulators war deutlicher geworden. Kleckel erinnerte sich an Irrandhan. Die Ausstrahlung war die gleiche gewesen, aber wesentlich schwächer. Wenn die neue Strahlung tatsächlich die Geburt eines neuen Emulators ankündigte, dann mußte er unglaubliche Fähigkeiten besitzen. Vielleicht gelang ihm, was Irrandhan vergeblich versucht hatte – Frieden zu stiften. Nicht nur daß das Alltagsleben der Verstyrer von Feindseligkeiten untereinander gekennzeichnet war, sie lebten auch in Unfrieden mit dem Rest des Universums, von dem sie nur wußten, daß es existierte. Langsam stieg Kleckel den Weg zur Stadt hinab. Er fürchtete sich ein wenig vor der Begegnung mit der Wirklichkeit. Immer deutlicher wurde ihm gewahr, daß er nicht in Ordnung war. Die irrationalen Elemente in seinen Gedanken wurden immer stärker; der Schaden schien weitaus größer und umfassender zu sein, als Kleckel vermutet hatte. Um den inneren Ärger komplett zu machen, wurde nun auch die Positronik des Metzgereirobots davon angesteckt. Kleckel entdeckte es, als aus dem Dunkel der Nacht ein Tier in seinen Gesichtskreis geriet und dann flüchtete. Während Kleckel den Vorgang teilnahmslos registrierte, geriet der Metzgereirobot in Eifer, schliff in seinen Gedanken die Messer und sehnte sich danach, aus dem lebenden Tier eine Ansammlung von verwertbarem Fleisch zu machen. Offenbar neigte dieser neue Teil von Kleckels Innenleben dazu, alles Lebende nur unter dem Gesichtspunkt zu
betrachten, ob es sich zu Braten, Siedefleisch oder Dauerwurst verarbeiten ließ. Kleckel konnte nur hoffen, daß sein unfreiwilliger Partner nicht eines Tages die Handlungen des Körpers bestimmen konnte. Nach drei Stunden Marsch erreichte Kleckel die Randzone der Hauptstadt. Die Lichterflut hatte sich vermindert, die meisten Verstyrer lagen in ihren Betten und schliefen. Kleckel wüßte, daß er aufpassen mußte. Wenn man ihn erwischte, würde es ihm übel ergehen. Entweder hielt man ihn für einen zufällig wieder aktiv gewordenen Schrott‐ Roboter und brachte ihn kurzerhand dorthin zurück, wo er erwacht war. Oder man erkannte ihn als den Leibroboter des letzten Emulators – in beiden Fällen würden die Verstyrer dafür Sorge tragen, daß Kleckel unwiderruflich desaktiviert wurde. Die Ausstrahlung des neuen Emulators war äußerst stark. Was Kleckel verwunderte, war der Umstand, daß diese Strahlung aus vielen Richtungen zu kommen schien. Eine genau identifizierbare Quelle dieser Emulatoraura ließ sich nicht feststellen. Kleckel wußte nicht, was er davon halten sollte. »Vielleicht ist der neue Emulator zerlegt worden?« vermutete der Metzger arglos. Kleckel blieb stehen. Zum einen entsetzte ihn die bloße Vorstellung, die der Metzgerrobot angedeutet hatte. Zum anderen wurde ihm bewußt, daß der Metzger offenbar in der Lage war, Kleckels Überlegungen wahrzunehmen. Er wußte nun, daß Kleckel nach einem Emulator suchte – und dieses Wissen konnte für Kleckel sehr gefährlich werden. Andererseits war der Metzgerrobot viel zu grobschlächtig angelegt, um mit dem Begriff Emulator etwas Rechtes anfangen zu können. Kleckel beschloß, auf der Hut zu sein. Der Zufall wollte es, daß Kleckel die Stadt ausgerechnet in einem Nobelviertel betrat.
Wohlhabende Verstyrer hatten dort ihre prunkvollen Häuser errichtet, umgeben von Robotern und Sklaven, die für alle Annehmlichkeiten des Lebens zu sorgen hatten. Der Reichtum des Besitzers drückte sich sowohl in der Größe seines Hauses aus als auch in der Weitläufigkeit seines Grundstücks. Entsprechend gering war die Bevölkerungsdichte in diesem Stadtbezirk. Kleckel spürte, daß ein Teil des Emulators in der Nähe sein mußte. Die Ausstrahlung war stark und deutlich – allein dieser Teil hätte für einen Emulator vollauf genügt, aber die Hintergrundaura verriet, daß er auch an anderen Orten zu finden war. Kleckel beschloß nachzusehen. In den Garten einzudringen, war nicht weiter schwierig. Die Zierhecke war niedrig, damit jeder Passant – und vor allem natürlich die Nachbarn – einen Blick auf die prachtvollen Beete und Zierteiche werfen konnten. Als überaus unangenehm erwies sich allerdings der Wachdrache. Fast einen Kopf größer als Kleckel, mit einem riesigen zahngespickten Kiefer, vier krallenbewehrten Pranken, einem langen Schlingschwanz und einem pechschwarzen Schuppenpanzer, stellte er sich Kleckel in den Weg. Kleckel wich langsam zurück. Sich mit diesem Monstrum anlegen zu wollen, war Wahnsinn – ein einziger Prankenhieb konnte Kleckel zu Schrott schlagen. Aber darauf war der Drache wohl nicht dressiert – er kannte wahrscheinlich keine ungebetenen Roboter, die das Grundstück seines Herrn bei Nacht betraten. Eine unangenehme Situation. Kleckel versuchte einen Schritt zurück zu machen, aber der Drache riß das Maul auf und spie ihm eine Wolke feuerheißen Atems entgegen. Einem Verstyrer hätten sich dabei die Haare gekräuselt. Kleckel stellte nur fest, daß ein wenig von seinem Rost abblätterte. Zurück konnte er nicht, nach vorne auch nicht. Und irgendwann würde jemand nach dem Drachen sehen und die beiden finden. »Guter Drache«, versuchte es Kleckel. Aber das rauhe Organ
seines neuen Sprachmodulators strafte den einlullenden Text Lügen. Der Drache reagierte auf den Klang, nicht auf den Inhalt der Stimme. Kleckel schickte einen wütenden Impuls in die Gedankengänge seines inneren Gefährten, aber der schwelgte längst wieder in Schnitzel‐ und Fonduegedanken. Immerhin … Kleckel schaltete sich in die Gedanken hinein. In der beschränkten Begriffswelt des Fachrobots hatte sich der bedrohliche Wächter längst in eine kompakte Masse von Muskeln, Sehnen, Knochen und Nerven verwandelt, und der Metzger versuchte gerade durch Nachdenken herauszufinden, wie man wohl am besten einen Drachen filettierte. Ein wenig beschäftigte er sich auch mit dem Problem, wie diese Art Schlachtvieh wohl fachgerecht zu töten sei – und das gab die Lösung für Kleckels Problem. Mit einem Angriff hatte der Drache wohl nicht gerechnet. Kleckels Hieb traf ihn völlig unerwartet und streckte ihn im Bruchteil einer Sekunde ins Reich der Dunkelheit. Präzise hatte Kleckel den Nervenknoten getroffen, der den Drachen blitzartig betäubte. Der Metzgerrobot frohlockte. »Nichts da«, gab Kleckel zu verstehen, »wir haben anderes zu tun.« »Aber später doch wohl …?« »Das wird sich zeigen«, antwortete Kleckel. Wenn er seine Gedanken nur formulierte und von einer positronischen Bahn in eine andere leitete, hatte seine Stimme wieder einen anderen Klang. Auch die innere Stimme seines Zwangsgefährten klang so gänzlich anders – auf seltsame Weise friedlich und sanft. Kleckel ließ den Drachen auf dem Rasen liegen und marschierte weiter. Er versuchte, den Ort der Aura aufzuspüren, und das erwies sich mit jeder Minute als schwieriger. Im Haus war es dunkel, die Besitzer schliefen wohl schon. In
einem Nebengebäude wurde noch gearbeitet. Kleckel schlich hin und fand einen verstyrischen Sklaven damit beschäftigt, Gartengeräte zu reparieren. Die Aura stammte nicht von ihm. Kleckel suchte weiter. Sein Spürsinn sagte ihm, daß der Emulator in jenem Seitenbau zu finden war, in dem üblicherweise die Sklaven schliefen. Kleckel fand das nicht weiter verwunderlich – Emulatoren verabscheuten Gewalttaten und liefen daher immer Gefahr, sich in Schwierigkeiten zu bringen. Kleckel pirschte sich an das Gebäude heran. Den Robot an der Tür zu desaktivieren, war nicht schwierig, der Bursche war völlig außerstande, in Kleckel eine Gefahr zu sehen, und wartete gemütlich, bis Kleckel ihn mit einem Handgriff stillegte. Danach war der Weg frei. Kleckel öffnete die Tür. Was er sah, ließ seine Positronik für ein paar Sekunden aussetzen. Er sah etwas, das es gar nicht geben durfte – Fremde. 4. Es war unglaublich, und Kleckel hatte große Mühe, die Informationen zu verarbeiten, die auf ihn einstürzten. Für diese Beanspruchung war sein Gehirn nicht programmiert. Es gab die vage Möglichkeit einer Informationslücke, aber das erschien Kleckel überaus unwahrscheinlich. In seinen Speichern waren Daten über fast alle wichtigen Lebensformen im System enthalten – nicht aber Informationen über diese Geschöpfe. Ein kurzer Kontakt mit seinem zweiten Ich bestätigte den Verdacht; auch der Metzgerrobot kannte diese Lebewesen nicht, allerdings entwickelte er bereits einen Plan, wie sie zu verarbeiten seien. Kleckel überließ seinen Partner seinen positronischen Träumereien und studierte die Geschöpfe.
Sie ähnelten Verstyren, aber das traf nur auf den Grundaufbau des Körpers zu, die Gliederung in Arme, Beine, Rumpf und Kopf. Die Fremden waren sehr hochgewachsen, wahrscheinlich größer, als irgendein Verstyrer jemals gewesen war, zudem von erschreckender Magerkeit. Auch ihre Kopfbehaarung entsprach nicht dem verstyrischen Standard, sie war entschieden dunkler. Die beiden Gestalten starrten Kleckel an. Sie begannen untereinander zu sprechen, und Kleckel machte sich sofort an die Arbeit, ihre Sprache zu ergründen. Es war ein verzwicktes Problem. Und Kleckel mußte seine Bemühungen zunächst einmal ordnen. Als erstes galt es die Sprache zu lernen, damit er sich mit den beiden verständigen konnte. Das zweite Problem bestand darin, daß es gar keine Fremden geben durfte. Wie hätten sie das Verst‐System finden und erreichen sollen, und von wo überhaupt. Aber noch weit erschütternder für Kleckel war die unbestreitbare Tatsache, daß diese beiden Lebewesen die unverkennbare Emulatoraura besaßen. Beide – Kleckel konnte es nicht begreifen. Es widersprach allem, was er gespeichert hatte, und war doch offenkundig wahr. Langsam begann Kleckel die Sprache der beiden zu verstehen. Er hatte das Idiom nie zuvor gehört. »Der Blechkerl hilft uns auch nicht weiter«, sagte die Person, die Kleckel nach verstyrischem Standard als männlich identifizierte. »Uns kann überhaupt niemand mehr helfen«, antwortete die Frau. »Selbst wenn wir versuchen würden zu fliehen – wohin?« »Wer seid ihr?« fragte Kleckel in der Sprache der Fremden. Der Mann machte ein niedergeschlagenes Gesicht. »Sklaven«, stieß er hervor. »Das kannst du doch wohl sehen, oder?« »Das meine ich nicht«, versuchte sich Kleckel verständlich zu machen. Es war schwierig, mit diesen Wesen zu reden. Die Art, in der der Mann seiner sachbezogenen Antwort einen emotional
eingefärbten Nachsatz angehängt hatte, verriet eine beachtliche Portion Aggressivität, zudem völlig unbegründet, da Kleckel am Sklavenstatus der beiden nicht kausal beteiligt war. Das machte Kleckel zu schaffen – zu seiner Vorstellung von einem Emulator paßte solches Gebaren nicht, schon gar nicht gegenüber einem Unbeteiligten. »Zu welchem Volk gehört ihr?« fragte Kleckel weiter. »Was interessiert dich das?« fragte der Mann zurück. Kleckel äußerte einen Laut der Ratlosigkeit. Mit diesen Fremden zu kommunizieren, versprach ein hartes Stück Arbeit zu werden. Offensichtlich war, daß die Fremden die Kommunikation als komplementär ansahen – nicht symmetrisch unter Gleichgestellten, sondern als Gespräch zwischen Sklavenhalter und Sklaven. Ebenso offensichtlich lehnten sie diese Art der Kommunikation ab. Kleckel beschloß, auf die Ebene der Meta‐Kommunikation auszuweichen. »Ich bin Kleckel«, stellte er sich vor, »Ich bin ein Roboter mit einem wichtigen Auftrag. Ich bin nicht euer Herr, auch nicht euer Feind. Ich bemerke Feindseligkeit in euren Botschaften. Diese Feindseligkeit steht meinem Bedürfnis nach weiteren Informationen über euch im Wege.« »Ach du lieber Himmel«, antwortete die Frau. »Ein kleiner Kommunikationstheoretiker.« »Zutreffend«, bestätigte Kleckel. »Ich bin an einem Informationsaustausch interessiert.« Die beiden Fremden sahen sich an. »Bekommen wir Informationen von dir?« erkundigte sich die Frau. »Soweit es mein Programm zuläßt«, antwortete Kleckel. »Das ist eine ungenaue Antwort.« »Die präziseste, die ich geben kann«, antwortete Kleckel. »Was soll der Unsinn«, erregte sich der Mann. »Ich begreife, daß dieser Bursche nicht zum Haushalt unseres Sklaventreibers gehört. Auf dem Weg, auf dem er hereingekommen ist, können wir
möglicherweise abhauen. Und du willst wohl Meta‐Kommunikation betreiben.« »Wenn wir überhaupt eine Chance haben wollen, brauchen wir vordringlich Informationen«, gab die Frau zurück. »Dann sprich mit ihm«, stieß der Mann hervor und wandte sich ab. Die Frau sah Kleckel an. »Wir gehörten zum Volk der Solaner«, eröffnete sie die Unterhaltung. »Ich bin ein verstyrischer Roboter«, erwiderte Kleckel. »Das ist keine neue Information. Bist du berechtigt oder in der Lage, etwas an unserem Sklavenstatus zu ändern?« »Ich müßte dabei gegen geltende Gesetze verstoßen«, gab Kleckel zu bedenken. »Es sind Umstände vorstellbar, unter denen ich dazu bereit wäre.« »Hörst du es, er kann uns vielleicht helfen!« Der Mann winkte ab. »Ein Robot, der gegen geltendes Gesetz verstößt, ist ein Unding«, antwortete er. »Redet leise, ich will schlafen. Morgen wird man uns wieder zur Arbeit zwingen.« »Willst du dich aufgeben?« fragte die Frau. »Nein«, antwortete der Mann gereizt. »Ich sehe nur ein, daß wir nichts machen können. Fünfzig Leute, auf einen ganzen Planeten verteilt, ohne technische Hilfsmittel, ständig bewacht und belauert – was können wir schon unternehmen. Ich warte nur darauf, daß Atlan hier erscheint und uns herausholt.« Kleckel ließ die beiden reden und filterte die Sachinformationen heraus. Es gab also ein Etwas – vielleicht ein Lebewesen –, das Atlan hieß und von dem sich die Sklaven eine Statusänderung versprachen. Des weiteren ging aus den Botschaften hervor, daß die beiden Hilfe von außerhalb des Systems erwarteten. »Und inzwischen willst du resignieren?« »Ach, laß mich in Ruhe!«
Die Frau setzte die Unterhaltung mit Kleckel fort. »Welcher Grund hat dich zu uns geführt?« wollte sie wissen. Kleckel zögerte. Wenn er etwas von der Emulatoraura erwähnte, verstieß er gegen Grundsätze seines Programms. Auf der anderen Seite waren die beiden als Emulatoren befugt, alle Informationen und Hilfe zu bekommen, die sie verlangten. Reizbare und aggressive Emulatoren aber gab es in Kleckels Programm nicht – Kleckel empfand es als ungeheuer schwierig, zu einer Entscheidung zu finden. Unter normalen Umständen hätte er für dieses Dilemma keine Lösung gefunden, aber dank der Schäden seiner Positronik fand er einen Ausweg – er log. »Ich habe gehört, daß Fremde als Sklaven verkauft worden sind«, sagte Kleckel. »Ich war neugierig.« Die Frau bewegte den Kopf. Kleckel wertete es als Zeichen für Einverständnis. Nachdem die grundsätzlichen Fragen geklärt waren, begannen die beiden einander auszufragen. Während Kleckel seine Informationen tröpfchenweise preisgab, lieferte ihm die SOL‐Frau eine Fülle von Daten, die Kleckel im höchsten Maß erstaunten. Es sah ganz danach aus, lautete seine innere Schlußfolgerung, daß es sich bei den Solanern um ein Volk handelte, das möglicherweise jene Aufgaben lösen konnte, an denen die Emulatoren gescheitert waren. Offenbar gab es eine mehr oder minder stark ausgeprägte Emulatoraura bei fast jedem Individuum – vor allem bei jener Person, die Atlan genannt wurde und auf deren Erscheinen die Solaner sehnsüchtig warteten. Der Rest der Geschichte interessierte Kleckel nur am Rand. Daß die Solaner in das Verst‐System hatten einfliegen können, ließ den Schluß zu, daß dies auch anderen gelingen konnte – und daß dieser Prozeß möglicherweise umkehrbar war. »Wie sieht es aus, kannst du uns helfen?« fragte die SOL‐Frau zum Schluß. Ihr Gefährte lag auf einer Pritsche und gab Laute von sich,
deren kommunikatorischer Gehalt Kleckel unverständlich war. »Ich will es versuchen«, versprach Kleckel. »Meine Programmierung zwingt mich, verschiedene Pläne zur gleichen Zeit zu verfolgen, und einige dieser Pläne sind nach der Bedeutung euren Bedürfnissen übergeordnet.« Die Frau machte ein enttäuschtes Gesicht. »Wir haben nicht viel Zeit«, stieß sie hervor. »Zu uns gehören auch einige Buhrlos. Ich habe dir erklärt, was es mit diesen Menschen auf sich hat – sie werden sterben, wenn sie nicht bald wieder den freien Raum aufsuchen können.« »Ich habe diese Tatsache in meiner Konzeption berücksichtigt«, antwortete Kleckel. »Zuvor aber muß ich mich anderen Aufgaben widmen. Habt ihr Kontakt zu euren Gefährten?« Die Frau nickte. »Gelegentlich«, erklärte sie. »Der Nachbar unseres Herrn hat einen Gefährten von uns gekauft.« »Wie heißt dieser Nachbar, und wie heißt der Gefährte?« »Shamryk ist der Nachbar, und unser Freund wird Insider genannt.« »Unterrichtet Insider von diesem Gespräch. Versucht auch, die anderen zu informieren. Ich werde zusehen, wie ich euch helfen kann.« »Du wirst uns verlassen?« Kleckel machte eine Geste der Zustimmung. »Ihr werdet dieses Leben noch eine Zeitlang führen müssen«, bedauerte er. »Und laßt euch nichts anmerken – es könnte gefährlich für euch werden.« Kleckel zog sich zurück. Es gab jetzt eine Menge zu tun. * Insider ahnte, daß seine Freunde mit Resignation zu kämpfen
hatten. Es wunderte ihn nicht, die Lage sah wirklich hoffnungslos aus. Insider selbst dachte nicht daran, aufzugeben; es entsprach überhaupt nicht seinem Naturell. In dieser Notlage war es wichtig, seine Nerven zu behalten und sich nicht selbst durch Wehleidigkeit außer Gefecht zu setzen. Auf einen regelrechten Sklavenmarkt verschleppt und dort öffentlich verschachert zu werden, hatte auch Insider geschmerzt. Es war die schlimmste Demütigung seines Lebens gewesen. Aber er hatte die Gelegenheit auch dazu genutzt, sich umzuhören. Sklaven galten bei den Verstyren als Prestigeobjekt und wurden in der Regel zwar schlecht behandelt, aber nicht so, daß ihr Marktwert darunter gelitten hätte. Eine echte Gefahr für Leben und Gesundheit gab es also nicht – auch wenn es außerordentlich schwierig war, man konnte Pläne schmieden und versuchen, sie auszuführen. Ein Problem allerdings brannte Insider auf den Nägeln – die Buhrlos. Den Verstyrern hatte man nicht klarmachen können, daß die Buhrlos Aufenthalte im freien Raum lebensnotwendig brauchten; leider ging auch auf Verst Kommerz vor Wissenschaft – keinem der Forschungsinstitute war es gelungen, einen der Sklaven zu Studienzwecken aufzukaufen. Die Buhrlos hatten daher keine Chance, daß irgendein Forscher ihre metabolischen Besonderheiten entdeckte. Insider hatte sich bereits einen Plan zurechtgelegt – entschlossen, wie es seine Art war, hatte er sich bereits an die Ausführung dieser Pläne gemacht. Da Insider sich aufgrund seines Äußeren von den anderen Sklaven stark unterschied, hatte er bei der Versteigerung besonders viel gekostet – und entsprechend wohlhabend und angesehen war der Verstyrer, der ihn schließlich erstanden hatte. Dementsprechend gut wurde Insider behandelt – daß immer wieder Besucher Shamryks vorbeikamen, um Insider zu bestaunen, steigerte diesen Wert noch. Auf dem Grundstück Shamryks konnte sich Insider erstaunlich frei bewegen. Robots und die Wachdrachen paßten auf, daß keiner
der Sklaven entwischen konnte – und Insider hatte auch nicht vor, wegzulaufen. Er wußte, daß die Verstyrer für diesen Zweck ein perfektes Jagdsystem entwickelt hatten. Zudem fanden nur entlaufene verstyrische Sklaven eventuelle Unterstützung bei ihren Artgenossen, die Solaner mit Sicherheit nicht. Insider betrachtete die Ampulle in seiner Hand. Er lächelte zufrieden. Wenn das nicht half, wollte er nicht länger Insider heißen. »Warte, Shamryk«, murmelte Insider. »Du wirst eine Überraschung erleben.« In einem entfernten Winkel des Gartens, ausschließlich von Robotern bewacht, gab es einen Baum mit prachtvollen Blüten, blauschwarz gemustert. Die Robots hatten strikte Anweisung, keinen der Wachdrachen in die Nähe zu lassen – die Drachen naschten gern an den Blüten, aber deren Säfte hatten eine verheerende Wirkung auf die Drachen. Sie wurden dann tollwütig und schnappten nach allem, was sich bewegte. Insider hatte sich Blüten dieser Art gesucht, den Saft herausgepreßt und konzentriert. Die Ampulle enthielt eine gehörige Portion dieses Psychogifts. Insider verließ das weitläufige Haus Shamryks, einen Flachbau aus weißglänzendem Marmor, das prunkvollste Gebäude in weitem Umkreis. Im Garten war Shamryk damit beschäftigt, seine Blumen zu pflegen, auch sie eine Zierde seines Anwesens. Er sah kurz auf, als Insider erschien. Insider deutete eine Verbeugung an. Er hatte die Möglichkeit gehabt, sich durch Unterwürfigkeit anzubiedern oder durch geistreiche Frechheiten zu imponieren – und er hatte sich für das zweite Verfahren entschieden. Die Wahl war richtig gewesen – Insider genoß inzwischen den Ruf eines Hofnarren, da er seine spitzen Bemerkungen meist auf Kosten der Shamryk‐Gäste anbrachte.
»Überlegst du dir neue Bosheiten?« fragte Shamryk. »Die brauche ich nicht zu überlegen«, antwortete Insider trocken. »Meine Umgebung liefert mir Anlässe genug.« »Auch ich?« fragte Shamryk. »Mitunter«, gab Insider trocken zurück. »Hüte deine Zunge, mein Freund, es könnte dich in die Arena der Kampfspiele befördern, wenn du mich reizt.« »Dort trifft man sicher geistreichere Gesprächspartner als in diesem Haus«, konterte Insider dreist. »Wahrscheinlich ist das auch der Grund für deine Selbstgespräche.« Shamryk grinste. »Was hast du vor?« »Mich nach Fluchtmöglichkeiten umsehen«, antwortete Insider. »Wundert es dich?« »Bei einem Frechdachs deines Schlages nicht«, antwortete Shamryk. »Laß dich warnen – wenn du wegläufst und gefangen wirst, kann ich nichts mehr für dich tun.« Insider zuckte mit den Schultern. »Kette ist Kette«, sagte er. »Ob aus Gold oder Stahl.« »Du weißt, was man mit entlaufenen Sklaven macht?« »Wenn ich den Einfallsreichtum der Verstyrer richtig einschätze – töten vermutlich.« »Dein Kopf sitzt so locker wie deine Zunge«, warnte Shamryk. »Nimm dich in acht, ich würde ungern meinen Spaßmacher verlieren.« »Und ich ungern den Gegenstand meiner Späße«, erwiderte Insider. Wieder lachte Shamryk, dann wandte er sich wieder seinen Blumen zu. Insider trabte weiter. Hinter dem Haus wurden um diese Zeit die Drachen gefüttert, das hatte Insider bereits in Erfahrung gebracht. Es würde leicht sein, dem Futter das Psychogift beizumischen – wenigstens einem der Tiere.
Eine Zeitlang sah Insider dem Schauspiel zu. Roboter mußten die Fütterung übernehmen, denn bei dieser Beschäftigung brach die wilde Natur der Drachen trotz aller Dressur immer wieder durch, so zuverlässig sie sonst auch waren. Insider paßte einen günstigen Augenblick ab und ließ den Inhalt der Ampulle über ein Fleischstück fließen. Wenig später war der Brocken verschwunden – bis die Wirkung eintrat, mußten knapp zehn Minuten vergehen. Gemächlich trottete Insider zu Shamryk zurück. Sorgfältig sah sich Insider um. Er hatte die Szene gründlich vorbereitet, und das war auch nötig. Insider wußte, daß er mit seinem Leben spielte. Die Drachen waren gefährliche Gegner, vor allem, wenn sie in Wut gerieten. Es durfte keine Panne geben, sonst war Insider verloren. »Langeweile?« fragte Shamryk. »Keineswegs«, antwortete Insider. Er setzte sich auf den sorgsam gestutzten Rasen. Langsam nahm er die kleine Schaufel zur Hand, mit der Shamryk den Boden in der Nähe seiner Lieblingspflanzen aufgelockert hatte. In jedem Augenblick konnte der Drache auftauchen. »Ihr seid ein merkwürdiges Volk«, sagte Shamryk. »Es hat in der Geschichte von Verst des öfteren Sklaven gegeben, aber keine so widerborstigen, wie ihr es seid.« »Vielleicht liegt es daran, daß wir Sklaverei in jeder Form verabscheuen«, erwiderte Insider. Auch der Gartenschlauch aus reißfestem Plastikmaterial lag bereit. Insider hatte die Stärke und Belastbarkeit des Materials geprüft. »Wie …?« Shamryk kam nicht dazu, seine Frage auszusprechen. Hinter dem Haus erklang ein wütendes Fauchen, und im nächsten Augenblick war die Gefahr zu sehen. Die friedfertigen Drachen stoben auseinander, der tollwütige hinter ihnen her. Mit einer heftigen Bewegung seiner Pranken
schleuderte er einen Robot zur Seite, der sich ihm in den Weg stellen wollte. »Vorsicht!« rief Insider. Der Drache schien einzusehen, daß er seine Artgenossen nicht erreichen konnte, um seine Wut an ihnen auszutoben. Er wandte den Kopf, fixierte Shamryk und Insider und preschte los. Insider schnellte nach vorn. Er bekam Shamryk zu fassen und warf ihn auf den Boden, dann schoß Insider wieder hoch. Mit einer heftigen Bewegung schleuderte er dem Drachen die sandgefüllte Schaufel entgegen. Der Trick klappte, wie Insider es gewollt hatte. Der Drache wurde geblendet, blieb stehen und wischte sich mit den Pranken über die Augen. Insider packte den Gartenschlauch und rannte los. Die Zeit reichte exakt aus. Als der Drache wieder sehen konnte, war Insider bei ihm. Mit zweien seiner Arme hielt Insider den Schlauch, mit den anderen beiden Händen versuchte er den Drachen kampfunfähig zu machen. Insiders Hiebe trafen genau ins Ziel, aber die erhoffte Wirkung blieb aus. Die Treffer auf bestimmte Nervenknoten sollten den Drachen teilweise lähmen, aber seine aufgeputschte Wut ließ die Schläge wirkungslos werden. Jetzt war Insider in höchster Gefahr, und er wußte es. Hastig packte er zu, schlang den Gartenschlauch um den Oberkörper des Drachen und schnürte ihn zu. Das Tier schnappte zu, und nur knapp brachte Insider seine Kehle in Sicherheit. Der Feueratem streifte ihn und ließ einen lanzengleichen Schmerz durch seinen Körper jagen. Mit den freien Händen packte Insider das nächste Stück Schlauch und setzte die Fesselung fort. Immer enger wurden die Schlingen, die den Drachen hielten. »Nicht schießen!« schrie Insider, als er aus den Augenwinkeln heraus sah, daß Shamryk seine Waffe gezogen hatte. Entsetzlich lang dauerte das Ringen, es war nur eine Frage der
Zeit, bis einem von beiden die Luft ausgehen mußte. Insider war einer Ohnmacht nahe, aber dann spürte er, wie der Körper in seinen Armen schlaff wurde. Der Drache hatte die Besinnung verloren. Jetzt war es ein leichtes, ihn gründlich zu fesseln und unschädlich zu machen. Insider knickte ein. Er hatte sich völlig verausgabt. Langsam sank er hintenüber und blieb schwer atmend auf dem Rücken liegen. Shamryks Gesicht beugte sich über ihn. »Du hast mir das Leben gerettet«, sagte der Verstyrer. Insider versuchte zu grinsen. Es mißlang. Dann verlor er die Besinnung. 5. Insider lehnte sich zurück und nippte an dem Getränk. Er war äußerst zufrieden mit sich selbst. Sein gewagter Trick hatte funktioniert. Shamryk, von der Rettungstat gebührend beeindruckt, hatte Insider gleichsam zu seinem Freund erklärt. Und er war mitteilsam gewesen. Insider wußte nun Bescheid über die Geschichte des Verstyrers. Seit undenklichen Zeiten lebten sie hinter der Schockfront, die für sie unpassierbar war. Dieses Gefangenendasein hatte sie im Lauf der Zeit noch grimmiger und unerbittlicher gemacht, als sie es ohnehin schon waren. Vor allem in den führenden Kreisen des Planeten war der Wunsch stark, sich endlich wieder einmal austoben zu dürfen, wie man es beschönigend nannte. Insider konnte sich sehr gut ausrechnen, was sich hinter dieser Formulierung verbarg – Kriegsgelüste. Ihre hochentwickelte Technik – der SOL‐Technik teilweise überlegen – machte die Verstyrer zu sehr gefährlichen Feinden für jeden, mit dem sie sich anlegten. Nach unglaublich langer Zeit hatte sich nun für die Verstyrer ein
Hoffnungsschimmer gezeigt. Sie hatten erfahren – wie, das vermochte Shamryk nicht zu berichten – daß es eine Macht gab, die den Verstyrern wieder zur Freiheit verhelfen wollte. Diese Macht wurde von Shamryk die »Pagen« genannt. Er selbst wußte nicht, was sich dahinter verbarg – Insider hatte da schon genauere Vorstellungen. Die Pagen hatten den Verstyrern die Freiheit unter einer ganz bestimmten Bedingung versprochen. Sie mußten verhindern, daß ein Raumschiff, gleich welcher Konstruktion, einen bestimmten Raumsektor durchkreuzte. Gelang es den Verstyrern, dies bis zu einem bestimmten Datum durchzuführen, war die Bedingung erfüllt. Beiläufig erkundigte sich Insider nach dem Datum, und er war keineswegs überrascht, als er bei der Umrechnung auf SOL‐Zeit feststellte, daß es sich um den 20. Juli handelte. In gewisser Weise war so aus dem Fehlschlag der DRONIA ein überraschender Erfolg geworden. Wenn es gelang, diese Nachrichten nach draußen zu befördern, wußten Atlan und seine Freunde endlich, von welcher Stelle aus der Junk‐Nabel unpassierbar gemacht worden war. Leider half Insider diese Information herzlich wenig – aus dem Schockfrontgefängnis gab es für die Solaner so wenig ein Entkommen wie für die Verstyrer. »Ich merke, daß du gewisse Erwartungen in mich setzt«, sagte Insider, dem der leicht lauernde Blick von Shamryk nicht entgangen war. Shamryk grinste breit. »Ich bin zwar prominent und habe Einfluß«, eröffnete er Insider. »Aber es genügt mir nicht. Ich will weiter nach oben.« »Und dabei soll ich dir helfen?« Shamryk nickte. »Einmal abgesehen von den derzeitigen Umständen gibt es ein Problem, das schon seit langem gelöst sein sollte, aber leider niemals gelöst worden ist.«
»Und das wäre?« »Es hat hier früher Anführer und Rebellen gegeben, die Emulatoren genannt wurden. Sie waren ziemlich einflußreich und gefährlich, haben die Leute aufgewiegelt und ähnliches gemacht.« »Jetzt gibt es keine Emulatoren mehr?« »Meines Wissens nicht. Aber es geht das Gerücht, daß der Leibrobot des letzten Emulators noch existiert und aktiv ist.« »Hm«, machte Insider. »Wie kann ein einzelner Robot einem ganzen Planeten gefährlich werden?« Shamryk wiegte den Kopf. »Manche Gedanken sind gefährlicher als Waffen«, sagte er und nahm einen tiefen Schluck aus dem Glas. »Außerdem heißt es, der letzte Emulator habe diesen Roboter Kleckel so verändert, daß er Teile der Emulatorpsyche aufgenommen hat, gleichsam den Geist des Emulators. Es ist ein Geist der Aufruhr und Rebellion. Ich will ganz ehrlich sein …« Insider verkniff sich ein Lächeln. Er traute Shamryk nicht recht über den Weg, und solche Formulierungen waren wenig dazu angetan, Vertrauen zu fördern. »Ich bin gespannt«, sagte Insider. »Wenn dieser Kleckel, so heißt der Roboter, ausgerechnet jetzt, in dieser kritischen Phase aktiv werden sollte, wäre das eine große Gefahr für unsere Zukunft.« »Und der Mann, der diese Gefahr beseitigt, hätte eine um so leuchtendere Zukunft zu erwarten.« Shamryk grinste breit. »So ist es. Ich verspreche mir viel davon, wenn es mir gelingt, Kleckel zu finden und zerstören zu lassen.« Insider zuckte mit den Schultern. »Warum sollte er ausgerechnet jetzt aktiv werden? Wie lange habt ihr nichts mehr von ihm gehört?« »Kleine Ewigkeiten«, sagte Shamryk. Er blinzelte. »Das Wichtige an der Sache ist, daß Kleckel offiziell nicht desaktiviert oder zerstört
worden ist. Ob er aktiv ist oder in Einzelteile zerfallen – offiziell existiert er noch, und wenn er nicht als brandgefährlich angesehen wird, dann nur, weil er sich lange nicht mehr gerührt hat. Verstehst du?« Wieder mußte Insider einen Lachanfall unterdrücken. Shamryk hatte genau den gleichen Plan im Kopf, den Insider bereits praktiziert hatte – eine Gefahr erst heraufzubeschwören, nötigenfalls mit kräftiger Nachhilfe, sie dann wirkungsvoll beseitigen und den Lorbeer kassieren. »Ich verstehe. Du willst Kleckel finden, wenn es geht den echten. Wenn nicht, irgend einen anderen Roboter, der sich als Kleckel betätigen kann. Diesen Robot wirst du dann zerstören und dich dafür belohnen lassen.« »Genau das habe ich vor. Kann ich auf deine Mithilfe rechnen?« »Unter gewissen Bedingungen«, antwortete Insider. In Shamryks Augen blitzte Ärger auf. »Bedingungen?« »Nicht viele«, gestand Insider sofort zu. »Außerdem liegen sie in deinem Interesse.« »Laß hören!« Shamryks Stimme verriet Mißtrauen. »Zunächst einmal wird niemand glauben, daß Kleckel ausgerechnet jetzt aktiv wird, nachdem er sich so lange nicht gerührt hat. Auch die Zukunft, von der du sprichst, hat bisher nichts an seiner Untätigkeit geändert. Wenn es also einen Faktor gibt, der ihn ermuntern könnte, dann muß dieser Faktor neu sein, sehr neu sogar.« »Das hört sich vernünftig an. Aber woher nehmen wir diesen Faktor?« »Er ist bereits da«, sagte Insider lächelnd. »Wir, die Solaner. Wir werden uns zusammentun, um Kleckel zu finden – in der aberwitzigen Hoffnung, daß er uns helfen kann, von hier zu entfliehen.« Der Keim zur bösen Saat war gelegt, und er ging augenscheinlich
sofort auf. Shamryk sprang sofort darauf an. Insider konnte ihm ansehen, wie er diese Anregung nach allen Seiten hin durchdachte. »Punkt eins«, zählte Insider auf. »Kaufe noch ein paar von meinen Freunden. Allein werde ich es nicht schaffen, und eine Gruppe würde unsere Spielthese wirkungsvoller aussehen lassen.« Shamryk nickte. Das leuchtete ihm ein. »Zweitens. Zu einem genau bestimmten Zeitpunkt werden die Buhrlos unter meinen Freunden eine Straftat begehen, ein fürchterliches Verbrechen. Ich bin sicher, daß dir etwas einfallen wird.« Shamryk grinste boshaft. »Ich könnte mir derlei vorstellen«, sagte er gedehnt. »Ich habe nämlich ein paar Feinde, die über mir stehen.« »Wunderbar«, meinte Insider. »Kann ich noch etwas haben?« Shamryk schnippte mit den Fingern. Ein verstyrischer Sklave erschien wenig später und brachte auf Befehl ein Glas für Insider. Der Verstyrer machte ein teilnahmsloses Gesicht, als er Insider bediente, aber in den Augen des Sklaven glomm Haß, das konnte Insider deutlich sehen. »Du wirst dafür sorgen, daß die Buhrlos zum Tode verurteilt werden – und zwar zum Raumtod. Sie werden im Weltraum ausgesetzt.« »Du willst deine Freunde töten?« »Zimperlich?« fragte Insider zurück. »Ernsthaft – ich will sie nicht töten. Im Gegenteil, ich will ihnen das Leben retten. Es ist nicht nur so, daß sie im Weltraum leben können – sie müssen ihn auch immer wieder aufsuchen, um überhaupt leben zu können. Du wirst sie anschließend auffischen lassen, und dann stehen uns ein paar sehr dankbare Buhrlos zur Verfügung, die nirgendwo mehr offiziell registriert sind.« Und deren anschließendes Verschwinden niemand bemerken wird, setzte Insider den Gedankengang im Kopf fort. Freund, glaube nicht, daß du mich täuschen kannst. Wenn wir dir geholfen haben,
wirst du uns ermorden lassen. Aber ich tue so, als wüßte ich das alles nicht. »Wir werden dann Kleckel suchen – und wir werden ihn finden. So oder so, verstehst du?« Shamryk nickte. Insiders Plan begann ihm augenscheinlich zu gefallen. »Wir werden Kleckel aktivieren und seine Wühlarbeit beginnen lassen. Und dann wirst du Ziel eines Mordanschlags werden.« Shamryk sprang auf. »Nichts da«, rief er. »So weit geht das Vertrauen nicht.« Insider winkte ab. »Kleckel wird es versuchen, und du wirst ihn publikumswirksam vernichten. Damit bist du der Held des Tages. Unterdessen werden meine Freunde und ich unter deiner strengen Herrschaft leiden. Es darf keinen Zweifel daran geben, daß wir dich hassen – um so weniger wird es jemand glauben, wenn wir insgeheim in deinem Sinn tätig werden. Muß ich dir schildern, welche Art von Tätigkeit ich meine?« Shamryk schüttelte den Kopf und setzte sich wieder. »Mit unserer Hilfe wirst du es schaffen, der mächtigste aller Verstyrer zu werden.« Shamryks Blick bekam wieder etwas Lauerndes. »Wo ist der Vorteil für dich und deine Freunde?« wollte er wissen. Insider lächelte kalt. »Ich rechne mit dir darauf, daß die Verstyrer eines Tages ihre Freiheit zurückbekommen werden. An diesem Tag wirst du uns freilassen. Wir sind wenige und keine Gefahr für dich, und für deine wirklich großen Pläne wirst du uns wohl nicht brauchen. Du siehst, wir sind in jedem Fall in deiner Hand.« »Das klingt gut«, murmelte Shamryk. Er lächelte. »Und du bringst mich auf eine vorzügliche Idee.«
* Der Druck saß unter dem rechten Schulterblatt, und er war nicht sehr stark. Immerhin war er spürbar, und er erinnerte Insider stets daran, daß sein Leben in jedem Augenblick von Shamryks Laune abhing. Irna Lodon und ihr Freund Polnor Harrd waren noch betäubt. Sie hatten die Operation gerade erst hinter sich. Vor zehn Stunden waren sie auf dem Anwesen von Shamryk eingetroffen, Shamryk hatte sie seinem Nachbarn abgekauft. Und als erstes hatte er jedem der drei Solaner einen eigroßen Körper in den Rumpf pflanzen lassen – eine Sprengladung, die er jederzeit aus der Ferne aktivieren konnte. Insider wußte, daß Shamryk keinen Augenblick zögern würde, zu diesem Mittel zu greifen, wenn es dem Verstyrer angebracht erschien. Mochte sich Shamryk auch manchmal freundlich und jovial geben, mochte er auch dafür bekannt sein, daß er seine Sklaven gut hielt und niemals mißhandelte – das änderte nichts daran, daß er kalt, machtbesessen und absolut skrupellos war, wenn es darum ging, seinem Ehrgeiz zu frönen. Insiders neue Gefährten rührten sich. Langsam tauchten sie aus der Narkose in die Wirklichkeit. Insider hatte ein anregendes Heißgetränk besorgt und flößte es ihnen ein. »Was hat man mit uns gemacht?« fragte Irna ächzend. Insider klärte die beiden auf und beruhigte sie, als sie in Wut ausbrachen. Den unmittelbar darauf einsetzenden Schock des Entsetzens vermochte er aber nicht abzumildern. »Hört mit dem Lamentieren auf«, sagte Insider schließlich. »Wir müssen uns beeilen, die Zeit wird knapp.« »Für wen, für dich oder für uns?« fragte Irna giftig. »Für uns alle«, stieß Insider hervor. Er hatte den Verdacht, daß im Innern des Schamryk‐Hauses jedes Wort abgehört wurde, daher wagte er nicht offen zu sprechen. »Es tut mir leid, wenn ich so scharf
fragen muß, aber für lange Diskussionen haben wir keine Zeit. Ich habe einen Plan, der uns allen helfen wird. Diesen Plan kann ich nur mit eurer Hilfe durchführen und nur dann, wenn ihr mir vertraut. Tut ihr es nicht, können wir die Sache vergessen – die SOL dann übrigens auch. Also, vertraut ihr mir?« Die beiden Solaner sahen sich an. »Bleibt uns etwas anderes übrig?« fragte Polnor. »Ich habe eine Antwort gefordert, keine Gegenfrage. Vertraut ihr mir?« Die beiden nickten. »Gut, dann ans Werk. Wir sollen einen Roboter finden, der einem früheren Emulator gehört hat. Er heißt Kleckel.« Insider sah, wie sich auf den Gesichtern der beiden Verblüffung breitmachte. Insider reagierte sofort. Er legte einen Finger über die Lippen und deutete Ohren an. Dazu machte er ein fragendes Gesicht. Irna und Polnor sahen sich kurz um, dann nickten sie. Sie hatten verstanden. Insider machte noch immer ein fragendes Gesicht. Er deutete mit den Händen einen Robot an. Irna nickte. Insider deutete in Richtung des Nachbargrundstücks, wieder nickte Irna. Die beiden hatten also einen Robot namens Kleckel gesehen. »Wo soll man so eine Maschine suchen?« fragte Polnor laut. »Vielleicht auf einem Robotfriedhof? Wahrscheinlich hält er sich da versteckt.« Insider versuchte die Botschaft zu analysieren. Es gab viele Möglichkeiten, und Insider entschied sich dafür, daß Polnor seinen Verdacht oder sein Wissen ausgedrückt hatte, woher Kleckel kam. Der leichte sarkastische Unterton sollte möglicherweise andeuten, daß Kleckel dort nicht mehr zu finden war. »Es ist gleichgültig, wo wir anfangen – wir müssen nur jetzt mit der Suche beginnen.« Insider führte die beiden aus dem Haus. Er trug seit kurzer Zeit
einen giftgrünen Anzug, der ihn als Sklaven erster Ordnung auswies – dazu berechtigt, sich im Auftrag seines Herrn in der Öffentlichkeit frei zu bewegen und Geschäfte geringeren Umfangs zu tätigen. Das gab Insider den Freibrief, den er für seine Suche nach Kleckel brauchte. Shamryk hatte ihm einen schnellen Gleiter zur Verfügung gestellt, den die drei Solaner bestiegen. In einem Fach fand sich sauber zusammengestelltes Informationsmaterial über Verst, alles was Insider brauchte, um sich zurechtzufinden. Einige Wegminuten von Shamryks Haus entfernt ließ Insider den Gleiter halten. »Ihr habt Kleckel also gesehen …« * »… gesehen«, erklang es aus dem Lautsprecher. Die Stimme war ein wenig verzerrt, aber gut erkennbar. Shamryk lächelte zufrieden. Er war sicher, daß keiner der drei Sklaven ahnte, daß die Eikörper eine Doppelfunktion hatten. Zum einen waren sie tatsächlich fernzündbare Sprengladungen, zum anderen übertrugen sie jede Unterhaltung der drei – allerdings nur den Eigenanteil eines jeden. Die Verzerrung rührte davon her, daß der Schall vom Knochengerüst abgezapft, verstärkt und zu Shamryk gefunkt wurde. »Haben wir. Er hat sich als Kleckel vorgestellt. Und er …« »Später. Als erstes müssen wir ihn finden. Habt ihr einen Verdacht?« »Seine Füße waren dreckig, also hat er keinen Gleiter benutzt«, sagte nun Irna. »Und seinem Aussehen nach zu schließen, muß er lange Zeit auf einem Roboterschrottplatz verbracht haben. Er sah reparaturbedürftig aus. Vielleicht ist er auch jetzt dort zu finden.« Die Stimmen in den Lautsprechern wurden leiser. Shamryk
konnte Insider murmeln hören. »Hier ist Shamryks Haus, das Heim unseres Wohltäters …« Shamryk kicherte in sich hinein. Diese Narren. »… hier habt ihr gelebt. Wenn Kleckel den kürzesten Weg genommen hat, was robotischer Logik entspricht, dann muß dieser Roboterfriedhof hier zu finden sein. Wir fliegen hin.« Jede Bewegung Insiders war deutlich hörbar. Shamryk kannte sich mit dieser Art Beobachtung aus, er wußte, daß Insider den Gleiter lenkte. Es dauerte geraume Zeit, bis die Geräusche verstummten. Die Solaner hatten wohl wenig Lust miteinander zu reden. Während der Fahrt waren sie sehr schweigsam gewesen. Shamryk hatte Geduld. Er hörte sich die vergeblichen Bemühungen der drei an, Kleckel zu finden, ihre erbitterten Kommentare, die leisen Seufzer und das unterdrückte Fluchen. Dann war ein Ruf hörbar. »Dort ist er!« Das war Irnas Stimme. Shamryk merkte, daß seine Hände feucht vor Erregung wurden. Laute Schrittgeräusche klangen aus dem Lautsprecher, dann hörten sie abrupt auf. »Kleckel!« Wieder Irnas Stimme, maßlos entsetzt und angsterfüllt. Ein Knirschen war zu hören, dann ein dumpfer Schlag. Shamryk griff zum Schalter und stellte die Verstärkung höher ein. Die Herzschläge der drei waren jetzt deutlich zu hören. Sie klangen ruhig und gleichmäßig. Verletzt waren sie nicht, das hätte Shamryk hören können. Sie waren wohl von Kleckel betäubt worden. Er hielt sich die Hand an die Ohren, als ein neues, gräßlich lautes Knirschen zu hören war. Zweimal wiederholte sich der Laut, dann war es sehr still. Die Herzschläge waren verstummt.
6. »Das hast du vorzüglich gemacht«, gab Kleckel an seinen inneren Lebensgefährten durch. »Ohne deine Hilfe hätte ich das nicht schaffen können.« »Es freut mich, daß ich dir helfen konnte«, ließ sich der Metzger hören. Nachdenklich betrachtete Kleckel die drei Gestalten auf dem Boden. Sie waren noch betäubt, aber die Wirkung mußte in wenigen Minuten abklingen. Wahrscheinlich würden die drei zunächst einmal erschreckt und sehr wütend sein – immerhin hatte Kleckel sie beim Zusammentreffen ohne jedes Zögern mit einer Betäubungswaffe niedergestreckt. Eine andere Handlungsweise war Kleckel nicht übriggeblieben – er hatte die Störung in der Emulatoraura der drei sofort bemerkt, und sein rasch arbeitender Verstand hatte ihm gesagt, daß dieser Fremdkörper eine Gefahr darstellte. Jetzt waren diese Fremdkörper herausoperiert und zerstört. Kleckel hatte die Überreste analysiert – der Inhalt dieser Implantate hatte aus einer kleinen Sprengladung bestanden, aus einem Mikrophon und einem Sender, der nicht nur jedes gesprochene Wort übertrug, sondern auch einen Peilton ausschickte. Wer immer diese Implantate eingepflanzt hatte – er wußte, wo sich die drei Solaner aufhielten. Es wurde Zeit, mit ihnen zu verschwinden. »Was zum Teufel hat das zu bedeuten?« fragte der Grünhäutige, der als erster erwachte. Er griff sich an die Schulter, dann fiel sein Blick auf die zerstörten Körper auf dem Boden. Der Grüne war ein Mann von rascher Auffassungsgabe. »Das hast du gemacht?« fragte er knapp. Seiner Mimik entnahm Kleckel, daß er Schmerzen hatte, sie aber zu ignorieren versuchte. Ganz gelang es ihm nicht, wie die ab und zu zuckenden
Mundwinkel verrieten. »Es war auch ein Peilsender dabei«, gab Kleckel bekannt. Der Solaner mit den vier Armen und der grünen Haut stand rasch auf. »Nimm du den Mann, ich nehme das Mädchen«, sagte er und packte sich die Bewußtlose auf die Schulter. »Und dann nichts wie weg von hier!« Was Kleckel in sich selbst spürte, war die Empfindung eines Schauderns. Bei dem Grünen war die Emulatoraura besonders stark ausgeprägt, und dessen Entschlußkraft beeindruckte Kleckel in starkem Maß. Er nahm den Mann auf und trabte mit ächzenden Gelenken hinter dem Grünen her. Die beiden packten die langsam aufwachenden Solaner in den Gleiter; der Grüne übernahm das Steuer und ließ den Gleiter losrasen. »Ich fürchte, daß auch das Fahrzeug einen Peilsender enthält«, gab Kleckel zu bedenken. »Ich bin sicher, daß es so ist«, antwortete der Solaner. »Ich heiße ZwZwko, aber man nennt mich allgemein Insider. Laß Shamryk uns nur nachspionieren, er wird eine Überraschung erleben.« Mit höchster Geschwindigkeit fegte der Gleiter über die Landschaft. An einer Mulde ließ Insider das Fahrzeug anhalten. »Aussteigen, Freunde«, sagte er. Die beiden Erwachten stöhnten leise, als sie den Gleiter verließen. »Was hast du vor, Insider?« fragte Irna. »Wartet es ab«, antwortete Insider. Er beugte sich über den Rand des Fahrzeugs und schob mit einem Ruck den Beschleunigungshebel nach vorn. Der Gleiter setzte sich rasch in Bewegung und jagte führerlos davon. »Es wird eine Zeit dauern, bis sie ihn gefunden haben«, bemerkte Insider trocken. »Bis dahin sind wir vom Erdboden verschwunden.« Kleckel hob die Hände. »Woher weißt du das?« fragte er.
Insider zuckte mit den Schultern. »Eine Ahnung«, sagte er grinsend. »Und manche Ahnungen sind richtig.« * »Da ist es«, erklärte Kleckel. Insider betrachtete kopfschüttelnd das Ding. Ein Kleinraumschiff war zu sehen, präziser gesagt das Wrack eines Kleinraumschiffs. Es mußte vor langer Zeit in der Felsenhöhle versteckt worden sein, und der Zahn der Zeit hatte an ihm ebenso genagt wie an Kleckel. Beide boten einen eher erbarmungswürdigen Anblick. Immerhin, wenn das Schiff so präzise funktionierte wie Kleckel, konnte man damit allerlei anfangen. »Es hat meinem früheren Herrn gehört«, berichtete Kleckel stolz. »Und was hast du damit vor?« fragte Insider. »Starten«, antwortete Kleckel. »Wir werden es leider instand setzen müssen, damit es starten kann.« Insider musterte den Flugkörper skeptisch. Eine zwölf Meter lange Zigarre, deren Innenraum wahrscheinlich zu neunzig Prozent vom Antrieb eingenommen wurde. Wahrscheinlich hatte das Ding nur Platz für den Piloten. »Und wer soll damit starten?« fragte Insider weiter. »Ich«, antwortete Kleckel ohne Zögern. »Ich weiß nicht, ob es mir möglich sein wird, die Barriere zu durchdringen, die ihr Schockfront nennt, aber wenn es jemand schaffen kann, dann ich. Ihr würdet den Versuch nicht überstehen.« Insider blieb hartnäckig. »Und was willst du tun, wenn du die Schockfront durchstoßen hast?« Kleckel legte ihm die Hand auf die Schulter. Er hatte dem Gestenrepertoire der Solaner entnommen, daß diese Geste
Vertrauen und Verbundenheit ausdrückte. »Ich werde euren Freund Atlan suchen und ihn auffordern, euch zu helfen«, erklärte Kleckel. Insider leckte sich die Lippen. Das Angebot klang verführerisch. Es stellte den einzigen Lichtblick in einer sonst nebelgrauen Wirklichkeit dar. Insider erinnerte sich an das Schicksal der DRONIA. Sie hatte sich gegen die Schiffe der Verstyrer kaum wehren können. Schlimmer noch, sie war außerstande gewesen, die Schockfront von innen durchbrechen zu können. Es war leicht möglich, daß eine eventuelle Hilfsexpedition unter Atlans Führung das gleiche Schicksal erlitt – dann hätten alle Solaner im Verst‐System festgesessen. »Was meint ihr?« fragte er und trug seine Bedenken den beiden anderen vor. »Es ist Atlans Sache zu entscheiden, was er unternimmt, wie immer diese Entscheidung auch ausfallen wird. Und selbst wenn er uns mit Rücksicht auf die anderen einstweilen hier zurückläßt – beispielsweise, um die SOL zu Hilfe zu holen – er muß in jedem Fall wissen, wo wir stecken. Und nur so können wir verhindern, daß er ungewollt in die Falle geht.« Polnor nickte bei Irnas Worten. »Ich bin der gleichen Meinung«, sagte er. »Einverstanden«, erklärte Insider. Er spuckte sich in die Hände. »Ans Werk!« »Ich freue mich, euch getroffen zu haben«, sagte Kleckel gerührt und er schämte sich ein wenig, da er als Roboter solche Gefühle eigentlich gar nicht haben durfte. Eine erste, oberflächliche Inspektion des Kleinraumschiffs ergab, daß alle wesentlichen Einrichtungen funktionierten. Am meisten gelitten hatte die Hülle, die an einigen Stellen schlichtweg durchgerostet war. Diese Stellen mußten ausgebessert werden, das Gerät dazu fand sich im Innern des Schiffes. An den meisten Lecks half ein Rostwandler, eine Chemikalie, die
die Eisenatome des verrosteten Stahls aus ihren Verbindungen zwang und neu zusammenfügte. Übrig blieb dabei ein schmieriger Film, der häßlich stank und an den Händen klebte. Wurde er abgezogen, kam darunter wieder blankes Metall zu Vorschein. Allerdings hatten diese Flickstellen bei weitem nicht die Stabilität des ursprünglichen Materials; der Rostwandler vermochte zwar das Eisen aus seinen neuen Verbindungen mit Wasser, Luft und Säuren zu lösen, aber er schaffte es nicht, das Kristallgefüge des hochverdichteten Stahls zu rekonstruieren. Immerhin, die Lecks mußten nach dieser Prozedur eigentlich raumfest sein. Es blieben aber auch ein paar Löcher, die der Rost gefressen hatte – hier gab es kein Eisen mehr zum Umwandeln. In mühevoller Arbeit besorgten sich die Solaner Metallflächen aus dem Schiffsinnern, meistens Verkleidungsbleche. Danach mußten die Bleche mit Hämmern der äußeren Form der Schiffshülle angepaßt werden, eine Arbeit, die viel Kraft kostete. Erst danach konnten die Bleche mit einem Kleber an der Außenhülle befestigt werden. Auch diese Verbindung sollte vakuumfest sein – das garantierte jedenfalls der Hersteller des Klebers auf der Verpackung. Insider mißtraute solchen Sprüchen. »Wir müssen es einfach darauf ankommen lassen«, sagte er während er mit einem Spachtel den zähflüssigen Kleber gleichmäßig auf der Hülle des Schiffes verteilt. Das Zeug stank noch widerlicher als der Schleim, den der Rostwandler hinterließ. Außerdem war der Kleber in einer leicht flüchtigen Chemikalie gelöst, die rasch verdunstete und auf Kleckel eine sehr eigentümliche Wirkung hatte – er hockte sich plötzlich in eine Ecke der Felsenhöhle und begann ein Lied zu singen. Insider, der die Sprache der Verstyrer am besten kannte, identifizierte das Lied als einen uralten Schlachtgesang. Eine ziemlich merkwürdige Verhaltensweise für einen Robot, fand Insider. »Werden wir es schaffen?« fragte Irna nach Stunden und lehnte sich gegen den porösen Fels.
»Das wird ganz von Shamryk abhängen«, antwortete Insider. »Er wird uns jagen – und ich hüte mich davor, diesen Burschen zu unterschätzen.« * Shamryk lehnte sich in den Polstern seines Gleiters zurück. Daß ihm die drei Solaner entlaufen waren, ärgerte ihn nur wenig – er wußte, daß er sie zurückbekommen würde, sogar mit Kleckel als Draufgabe. Ein wenig ärgerte ihn die Tatsache, daß er die drei würde töten lassen müssen – ein arger Wertverlust, wie Shamryk fand. Er wurde allerdings dadurch wettgemacht, daß Shamryk Kleckel in seine Hand bekam, zu seiner großen Freude sogar den richtigen Kleckel, den echten Leibrobot des früheren Emulators. Genüßlich malte sich Shamryk die Verwunderung seiner Vorgesetzten aus, wenn sie Kleckel verhörten und nach eingehender Prüfung zu der Überzeugung kamen, daß es sich tatsächlich um den echten Aufrührer und Rebellen handelte. Und er, Shamryk, hatte diese Gefahr beseitigt … Dies war auch der Grund, weshalb Shamryk seine Suche nach Kleckel und den Sklaven nicht mit großer Energie betrieben hatte. Die vier mußten noch Zeit bekommen, irgend etwas anzustellen, bevor sie gestellt wurden. Daß sie einfach auf Verst herumliefen, genügte Shamryk nicht, das gab für seine persönliche Propaganda nichts her. Unter diesem Gesichtspunkt hatte sich Shamryk sogar über den Verlust eines seiner Gleiter gefreut. Das Wrack des Gleiters war im Gebirge gefunden worden, natürlich ohne Spuren von den Insassen. In Shamryks Augen bewies das, daß die vier bereits Pläne schmiedeten. »Dieser Insider ist ein echter Glücksfall für mich«, murmelte Shamryk und rieb sich die Hände.
Dieser Insider war kein Sklave der üblichen Art, die stumpf herumsaßen, ihr Schicksal mehr oder minder bejammerten und sich zu keiner Aktion aufraffen konnten. Da war der Grünhäutige von anderem Schlag – immer rege, ständig aktiv, ein gerissener Pläneschmied, der immer neue Einfälle ausbrüten konnte und niemals aufgab. Genau der richtige Partner für ein publikumswirksames Katz‐und‐Maus‐Spiel. Shamryk sah auf die Uhr. Er hatte den vieren achtzehn Stunden Vorsprung gelassen, das mußte genügen. Shamryk war nicht selbstgefällig genug, um in Insider nicht einen wirklich gefährlichen Gegner zu sehen. Wenn man diesem Burschen zuviel Zeit ließ, wurde er womöglich zu einer echten Gefahr und heckte einen Plan aus, den er womöglich durchführen konnte. Nein, achtzehn Stunden war genau richtig. »Vorwärts!« bestimmte Shamryk. Die Kolonne setzte sich in Bewegung. Das Ziel stand bereits fest – ein Winkel im Ausläufer des Gebirges, in dem sich die vier versteckt hatten. Shamryk hatte sich keineswegs nur auf ein Ortungssystem verlassen. Daß eines der Implantate versagte, konnte ihn nicht stören, auch die Tatsache nicht, daß die Flüchtigen den Sender im Gleiter vielleicht entdeckt hatten. Den kaum handtellergroßen Robot jedoch, der die ganze Zeit über die vier aus der Luft überwacht hatte, eingehüllt in ein Deflektorfeld, den hatten die Sklaven nicht bemerkt. Er hatte die Spur verfolgt und zog jetzt über der Schlucht seine Kreise. Die vier hatten sich von dort nicht wegbewegt – wahrscheinlich gab es dort eine geheime Unterkunft, vielleicht ein Versteck des letzten Emulators. Auch das paßte sehr gut in Shamryks weitreichende Pläne. Er hatte zwei Transportgleiter mit Robots und verstyrischen Sklaven bemannt, das mußte genügen, um die vier aufzustöbern
und festzunehmen. Die Sklaven waren nur mit Schockwaffen ausgerüstet, die Robots hatten zusätzlich moderne Hochenergiewaffen. Shamryk selbst war in seinem Fahrzeug vor allen Überraschungen sicher; es gab einen Schutzschirmprojektor an Bord, eingebaute Waffen und in einem Fach steckte eine Handfeuerwaffe für Shamryk. Sollte jemand es wagen, seinen Privatgleiter zu beschießen, so wurde von einer Automatik sofort die nächste Polizeistation angerufen und um Hilfe gebeten. Dies war einer der vielen Vorzüge, die Shamryk als Mitglied der herrschenden Klasse genießen konnte. Die drei Fahrzeuge näherten sich dem Ziel. Ungefähr fünfhundert Meter von dem Versteck entfernt ließ Shamryk die Gleiter anhalten. Die Mannschaften sprangen ab. »Vormarsch«, bestimmte Shamryk. Er war kein Feigling, aber er scheute überflüssige Risiken, daher blieb er im Gleiter sitzen und ließ sich über Funk vom Fortgang der Aktion berichten. Er hatte Anweisung gegeben, die vier lebend einzufangen. Ganz besonders sollte Kleckel schonend behandelt werden – der Robot war für Shamryk entschieden wichtiger als die entlaufenen Sklaven. Seine Truppe rückte vor. Die Robots marschierten vorneweg. Wahrscheinlich war die ganze Aktion in wenigen Minuten vorbei. Shamryk rechnete nicht mit großem Widerstand, selbst wenn die Flüchtigen es inzwischen geschafft haben sollten, sich Waffen zu besorgen. »Wir haben den Eingang zu einer Höhle gefunden«, berichtete der Leiter des Robotkommandos. »Es sind Infrarotspuren zu sehen.« »Vordringen«, ordnete Shamryk an. Er wählte sich aus den Vorräten seines Luxusgleiters ein erfrischendes Getränk. Die Mikrophone übertrugen die Geräusche des Vordringens, das schwere Schreiten von Robotfüßen auf dem steinigen Boden, ab und zu Schleifgeräusche, wenn ein Robot an einem Felsen schrammte.
Dann war die Stimme des Führungsrobots zu hören. »Ergebt euch. Jede Gegenwehr ist sinnlos, ihr seid umstellt.« Eine Sekunde danach war das Zischen eines Strahlschusses zu hören. »Stoßen auf Widerstand!« gab der Führungsrobot an Shamryk durch. »Niederkämpfen«, befahl der Verstyrer. »Nach Möglichkeit die Gegner lebend gefangennehmen.« Shamryk hatte einige Mühe damit, den Verlauf dieser Auseinandersetzung nur anhand der Geräusche zu rekonstruieren. Immerhin konnte er zwei Schußgeräusche voneinander deutlich unterscheiden – das dumpfe Blaffen der Schockwaffen, mit denen die Roboter befehlsmäßig kämpften, und das scharfe Zischen der Hochenergiewaffen, die sich die Flüchtigen wohl beschafft hatten. Ergrimmt mußte Shamryk feststellen, daß seine Widersacher sich verbissen und erfolgreich wehrten. Da die Roboter den Befehl hatten, die Gefangenen lebend zu stellen, hatte in ihrem Handeln das dritte Robotgesetz – Sicherung der eigenen Existenz – Vorrang vor dem Befehl, die Flüchtigen zu stellen. Die Lage der Eingeschlossenen war ohnehin hoffnungslos, daher gingen die Robots mit erstaunlicher Vorsicht vor. Es half ihnen nicht viel. In selbstmörderischen Vorstößen streckten die Solaner einen der Robot nach dem anderen nieder. Sie schossen schnell und gut gezielt, die Ausfälle häuften sich. Shamryk murmelte einen Fluch, dann zog er die Robots zurück. Es war sinnlos, kostbares Material zu opfern. Shamryk schickte die Sklaven vor. Sie waren nur mit Betäubungswaffen ausgerüstet, scheinbar also noch übler dran als die Robots. Indessen zeigte sich, daß Shamryk die verweichlichte Psyche der Rebellen richtig eingeschätzt hatte – sie dachten nicht daran, auf die zaghaft vorrückenden Sklaven ein gezieltes Wirkungsfeuer zu eröffnen. Sie versuchten, die Sklaven zurückzudrängen, ohne sie zu verletzen oder gar zu töten.
Natürlich dauerte es nicht lange, bis die Angreifer das merkten – und sie wußten hinter sich Shamryks Wut, wenn sie den Auftrag nicht erfüllten. Beherzter als beim ersten Mal drangen sie vor. Shamryk spürte, wie durch seinen Gleiter ein Vibrieren ging. Verblüfft starrte er auf den Boden. Das Geräusch verstärkte sich, und jetzt konnte Shamryk die Schwingungen des Bodens sogar sehen. Shamryk erstarrte. Er kannte diesen Effekt. Er trat beim Start von Raumschiffen auf. Sollten die Flüchtigen …? In der Tat, das Unglaubliche wurde Wirklichkeit. Die Flanke des Berges flog in die Luft, ein Steinhagel ging auf die Roboter und Shamryks Gleiter nieder, dann schob sich aus den wolkenumlagerten Loch die Spitze eines kleinen Raumschiffs. Fassungslos vor Staunen, die Fäuste vor Grimm geballt, sah Shamryk zu, wie das Schiff Höhe gewann und mit aberwitziger Beschleunigung im Himmel verschwand. Shamryk preßte die Zähne aufeinander. Gleich mußte das Schiff detonieren. Es war einfach unmöglich, daß die Abwehrforts den Flugkörper nicht erwischten. Die Explosion blieb aus. Shamryk schüttelte den Kopf. Er starrte immer noch nach oben. Aus den Augenwinkeln heraus sah er, wie die Sklaven die Gefangenen herbeiführten. Es waren die drei – der Roboter fehlte. Jetzt wußte Shamryk auch, wer das kleine Raumschiff gesteuert hatte, und ihn beschlich der entsetzliche Gedanke, einen Fehler gemacht zu haben. 7. Der Stumpfsinn ging jedem auf die Nerven, auch mir. Tag um Tag, Stunde um Stunde, durchkämmten wir den
Raumsektor, in dem die DRONIA verschwunden war. Bisher hatten wir noch nicht die geringste Spur vom Schiff gefunden. Für uns stand inzwischen fest, daß die DRONIA ungewollt eine Schockfront durchstoßen hatte und nicht in unser Kontinuum zurückgekehrt war. Auch vom Junk‐Nabel fehlte jede Spur. Ratlosigkeit und Verzweiflung hatten sich nun breitgemacht. Die Besatzungsmitglieder liefen mit mürrischen Gesichtern durch die Gänge, überall wurde gemeckert und geklagt. Private Streitigkeiten wurden mit verbissener Hartnäckigkeit ausgefochten. »Du siehst mutlos aus«, sagte Tyari. Ich nickte. Ihre Diagnose traf zu. In diesem Augenblick war ich tatsächlich verzagt. Die Zeit zerbröselte unter unseren Fingern, wir kamen keinen einzigen Schritt weiter. Die Frist wurde immer kürzer, und damit stieg die Spannung. Das war das Gräßlichste von der ganzen Angelegenheit – stumpfsinnigen Tätigkeiten ausführen zu müssen, während das Verhängnis über unseren Köpfen anzuschwellen schien zu einer alles mitreißenden Lawine. »Ortung! Fremder Flugkörper!« Ich fuhr erschreckt hoch. So sehr auch ich auf eine solche Meldung gewartet hatte, jetzt war ich verblüfft, und den anderen ging es ähnlich. »Kommt langsam näher. Bewegungen unsicher. Scheint beschädigt zu sein.« »Ort des Erscheinens genau anpeilen!« bestimmte ich. Das Schiff konnte nach meiner Einschätzung nur aus jenem Raumbezirk kommen, in dem die DRONIA verschwunden war. Endlich eine verwertbare Spur. »Freue dich nicht zu früh«, warnte Tyari. Das fremde Schiff erschien auf den Bildschirmen. Es war klein – die Besatzung konnte höchstens zwei Köpfe stark sein. Der Kurs des Schiffes war mehr ein Schlingern als ein Flug, hilflos torkelte der
Körper durch den Raum. »Traktorstrahl!« befahl ich. Ich wollte das Schiff in jedem Fall ansehen. Die Projektoren der Basis traten in Tätigkeit. Der Kurs des fremden Schiffes stabilisierte sich und führt genau auf uns zu. Der Energietaster verriet, daß vor ein paar Augenblicken der Antrieb dort drüben ausgefallen sein mußte. »Keine erkennbare Explosionsgefahr!« wurde durchgegeben. Ich bestimmte, an welchem Platz das fremde Schiff angedockt werden sollte, dann verließ ich mit Tyari zusammen die Zentrale. Langsam wurde das Fremdschiff in den Hangar gezogen, in dessen Weite es seltsam verloren aussah. »Kannst du Leben an Bord erspüren?« fragte ich Tyari. Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau«, sagte sie. »Es ist eine Spur Leben da, ich kann ein seltsames, stark gefühlshaltiges Denken orten – aber keine Person.« »Hm«, machte ich. Vielleicht war der Fremde besinnungslos. »Ich glaube nicht«, beantwortete Tyari meine stille Frage. Der Flugkörper setzte auf dem Boden des Hangars auf. Die Tore wurden geschlossen, der Hangar geflutet, bis die Luft für uns atembar war. An der Hülle des Schiffes wurde ein Spalt erkennbar – jemand schickte sich an, das Schiff zu verlassen. »Keine feindseligen Gedanken«, informierte uns Tyari. Einige Hände, die bereits an den Kolben der Waffen gelegen hatten, wurden wieder zurückgezogen. Die Schleuse öffnete sich ganz. Die Gestalt, die in der Lücke erschien, war kein Mensch, auch wenn ihre äußeren Formen annähernd dem Grundmuster eines Menschen entsprachen. Es war unverkennbar ein Roboter, ein uraltes, rostiges Modell mit klappernder Mechanik, stämmig und gedrungen, wahrscheinlich dem Ebenbild seiner Erbauer nachgeformt. Der Robot schlingerte unsicher durch den Hangar und kam auf
mich zu. »Bist du Atlan?« fragte er. Eine derartige Robotstimme hatte ich noch nie gehört; sie erinnerte mich an die Organe alter kneipenerfahrener Seemänner, rauh und tief und im Unterton von ruppiger Freundlichkeit. »Ich bin Atlan«, antwortete ich. Der Robot stand jetzt genau vor mir, leicht auf einem Bein eingeknickt, die beiden Augen in unterschiedliche Richtung blickend. Eines dieser Augen schien Tyari anzustarren. »Das möchte ich einmal zerlegen«, sagte der Robot. »Er ist irre«, entfuhr es Tyari. »Ich bitte um Entschuldigung«, sagte nun wieder der Robot mit einer leicht verändert klingenden Stimme. »Ich muß diesen Körper mit der Positronik eines Fleischverwertungsrobots teilen, der mitunter meine Sprache beeinflußt. Ich bin Kleckel, und ich komme, um deine Hilfe für deine Freunde zu gewinnen.« Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Wo sind sie, und wie geht es ihnen?« fragte ich ohne Umschweife. »Sie sind auf Verst«, antwortete die seltsame Maschine. »Und jetzt sind sie vermutlich tot.« * »Das wollt ihr wirklich tun?« fragte Kleckel. »Es ist unser Plan«, erklärte ich ihm. »Und dazu gehört, daß wir dich technisch verbessern.« »Ich kann es kaum glauben«, antwortete Kleckel. »Auf der anderen Seite wundert es mich nicht – deine Emulatoraura ist unglaublich stark.« Kleckel hatte uns über die Vorgänge im Verst‐System informiert. Wir wußten nun, wo wir nach der Lösung unserer Probleme zu
suchen hatten. Unsere Aufgabe war gewaltig. Das Problem – wie kamen wir in das Verst‐System hinein? Die Schockfront war geschlossen, von außen wie von innen nahezu unpassierbar. Kleckel hatte es nur mit Mühe und Not geschafft, sie zu durchdringen; wahrscheinlich hatte er es nur geschafft, weil er – zum Teil – noch etwas von der Emulatoraura seines früheren Herrn besaß, zum andern, weil er ein Robot war. Für uns war diese Sperre unüberwindlich. Selbst wenn wir es schafften – unsere Mittel waren viel zu schwach, als daß wir uns lange kriegerische Auseinandersetzungen mit den Verstyrern hätten erlauben dürfen. Obendrein konnten sie unsere Freunde jederzeit als Geiseln gegen uns benutzen; in diesem Spiel hatte der Gegner scheinbar alle Trümpfe in der Hand, und obendrein auch noch das bessere Beiblatt. Selbst wenn es uns gelang, hineinzukommen und die Solaner von der DRONIA an Bord zu nehmen, hatten wir noch mehr als genug zu tun. Es galt, die Schaltstelle für den Junk‐Nabel zu finden und die Sperre des Nabels aufzuheben. Mit großer Wahrscheinlichkeit hatte der Gegner alles darauf vorbereitet, solche Pläne zu vereiteln; auch dort mußten wir mit erbittertem Widerstand rechnen. Und zu guter Letzt blieb noch die Frage, wie wir aus dem Verst‐ System wieder herauskamen – auch auf diese naheliegende Frage fehlte uns jede Antwort. All diese Risiken waren bekannt – wir hatten die Diskussion offen geführt. Ein wahnwitziges Unternehmen wie dieses konnten wir nur wagen, wenn die Besatzungen damit einverstanden waren. Es konnte leicht zu einer Einbahnstraße ins Verderben werden. Die Entscheidung war eindeutig – eine ungeheure Mehrheit der Solaner stimmte zu, jeden nur denkbaren Versuch zu unternehmen, die DRONIA‐Besatzung in Sicherheit zu bringen.
Ich hatte den starken Verdacht, daß an dieser Einhelligkeit der Meinungen die Langeweile der letzten Tage schuld war – wahrscheinlich erschien die Aussicht auf weiteren Stumpfsinn der Besatzung weit erschrecklicher als die ungeheuren Gefahren dieses Unternehmens. »Wir werden dich auf den bestmöglichen technischen Stand bringen, der uns möglich ist«, versprach ich Kleckel. »Dabei werden wir natürlich deine Persönlichkeit nicht antasten. Möchtest du deine innere Stimme wieder loswerden?« Kleckel zögerte nicht mit der Antwort. »Ich habe mich daran gewöhnt«, sagte er. Seine Robotermimik produzierte eine Grimasse, die nach einem Grinsen aussehen sollte. Da in Kleckels Kunstgebiß ein paar Vorderzähne fehlten oder angerostet waren, sah es eher schauerlich aus. »Auch dein Schiff werden wir komplett überholen. Wir können einen neuen, erheblich kleineren Antrieb einbauen. Den restlichen Platz werden wir für unser Spezialmaterial benötigen.« »Ich bin damit einverstanden«, sagte Kleckel. »Allerdings weiß ich nicht, ob es mir möglich sein wird, die Schockfront ein zweites Mal zu durchbrechen.« »Ob es geht, erfahren wir nur, wenn du es versuchst«, hielt ich ihm vor. »Ich werde es versuchen«, versprach Kleckel. »Und was soll ich an Bord nehmen?« »Roboter«, antwortete ich und führte ihm eines der Modelle vor. Sie waren kaum handtellergroß, diskusförmig und entstammten der Technik der Siganesen – sie waren also klein und technisch höchstwertig. »Davon werden wir vier Dutzend an Bord bringen«, erklärte ich. »Jeder dieser Roboter ist auf die Individualdaten eines DRONIA‐ Besatzungsmitglieds eingestellt. Die Roboter werden die Solaner auf dem Planeten aufspüren und ihnen wichtige Informationen weitergeben. Alle Solaner sollen versuchen zu fliehen und sich an
einem Ort des Planeten treffen. Dort werden sie kollektiven Selbstmord begehen.« Kleckel stieß einen Laut des Entsetzens aus. »Keine Sorge«, beruhigte ich ihn. »Diese Robots werden ihnen ein sogenanntes Scheintodpräparat zuspielen. Die Wirkung hält ungefähr drei Tage an. Die Verstyrer sollen glauben, daß sie ihre wertvollen neuen Sklaven verloren haben.« »Sie werden sich neue Sklaven beschaffen wollen«, warnte Kleckel. »Sie könnten euch in das System locken.« »Das sollen sie auch«, antwortete ich. »Das ist ja gerade unser Plan. Nur werden wir schon vorher wissen, was uns erwartet, und entsprechend vorbereitet sein.« Diese Vorbereitung sah so aus, daß die Besatzung der MJAILAM um jeden entbehrlichen, kampftauglichen Mann der anderen Einheiten erweitert wurde. Zusätzlich sollten zwei Space‐Jets der EMRADDIN an Bord der MJAILAM stationiert werden. Was wir nur an Kampfrobotern zusammenkratzen konnten, sollte ebenfalls in der MJAILAM den Flug nach Verst mitmachen. Die EMRADDIN sollte sich nach diesem Plan mit der Basis absetzen und aus sicherer Entfernung die Vorgänge beobachten. Außerdem sollte Kleckels Schiff mit einem hochwirksamen Ortungsschutz versehen werden. Was sich technisch nur machen ließ, wollten wir einsetzen, um der DRONIA‐Besatzung zu helfen. »Ich bin ganz und gar damit einverstanden«, erklärte Kleckel begeistert. * In den Stunden nach dieser Unterhaltung gab es für keinen an Bord mehr auch nur einen Augenblick der Ruhe. In fieberhafter Eile mußten die Vorbereitungen für den Einsatz getroffen werden. Überall wurde gearbeitet. Ein Trupp überholte Kleckels Schiff. Die
notwendigen Arbeiten kamen fast einer Neukonstruktion des kleinen Flugkörpers gleich. Die Hülle war beschädigt worden, der Antrieb war defekt, und beim Passieren der Schockfront war ebenfalls etliches zu Bruch gegangen. Immerhin hatten uns die Schäden eine erste Vorstellung davon gegeben, welche technologischen Schäden beim Durchbrechen einer solchen Schockfront zu befürchten waren – an Bord der MJAILAM wurden diese Geräte doppelt und dreifach gesichert, Ersatzbausteine an Bord genommen und einsatzbereit gehalten. Auch Kleckel wurde gründlich überholt. Der Robot war schon zu Lebzeiten seines Besitzers eher ein robotisches Kuriositätenkabinett gewesen – auch die Vorgänger des letzten Emulators hatten an Kleckel herumgebastelt und improvisiert. In dieses Durcheinander von Mechanik und Positronik wieder eine leidliche Ordnung hineinzubringen, erwies sich als ungeheuer schwierig. Noch am einfachsten war es, Kleckels Sprachmodulator umzurüsten – er entschied sich für ein Modul, das ihm eine sonore Baßstimme verlieh. Hage Nockemann und Blödel kamen mit der Entwicklung des Scheintodgiftes noch gerade zurecht – das Medikament war in diesen Mengen normalerweise nicht vorrätig. Auch die Diskusroboter wurden noch einmal gründlich überprüft – es durfte keinen einzigen Ausfall geben. Währenddessen wechselte ich zwischen der MJAILAM und der Basis hin und her, um überall nach dem Rechten zu sehen. Die Besatzung arbeitete wie besessen, und obwohl der Schweiß in Strömen floß und immer wieder lauthals geflucht wurde – die Stimmung hätte nicht besser sein können. Kurz bevor Kleckel startete – der Zeitplan wurde zur allgemeinen Verwunderung um drei Stunden unterschritten –, suchte ich die Lichtquelle auf. Die erste Reaktion bestand in hartnäckigem Schweigen. Auf mein Hilfeersuchen bekam ich keine brauchbare Antwort. Erst nach und
nach ließ sich die Lichtquelle dazu herab, mir wenigstens zuzuhören. Meine Bitte um Unterstützung wurde wieder mit Schweigen beantwortet. Als ich jedoch hartnäckig blieb, bekam ich eine Hilfe, die ich in dieser Form nicht erwartet hatte. Die Lichtquelle rückte einen winzigen Brocken Jenseitsmaterie heraus. »Was soll ich damit?« fragte ich verwundert. Mir war nicht klar, was ich in diesem Einsatz mit dem Material anfangen sollte. Wieder war Schweigen die Antwort. Schließlich zuckte ich mit den Schultern und ging. Ich war mir sicher, daß uns die Jenseitsmaterie noch einmal gute Dienste leisten würde – auch wenn ich mir zu diesem Zeitpunkt nicht recht vorzustellen vermochte, wie dieser Dienst aussehen konnte. * »Start!« Kleckels Schiffchen schoß los. Jetzt bot es einen erheblich besseren Eindruck als bei seiner Ankunft. Mit hoher Fahrt entfernte sich der Flugkörper. Auf den Bildschirmen verfolgten wir seinen Flug. Es war mehr als zweifelhaft, ob es Kleckel gelingen würde, ins Verst‐System zurückzukehren. Außerdem stand zu befürchten, daß er dort bereits erwartet wurde – seine Flucht aus dem System war keineswegs unbemerkt geblieben, wie er uns berichtet hatte. Kleckels Schiff raste davon, von den Tastern und Ortern der Basis präzise angepeilt. »Hoffentlich geht alles gut«, murmelte Tyari neben mir. Ich nickte. Es war ein aberwitziges Vabanquespiel, das wir eingingen. Die Aussichten standen tausend zu eins gegen uns. Alle logischen
Ü
berlegungen sprachen gegen einen solchen Einsatz – aber alle menschlichen dafür, und das hatte den Ausschlag gegeben. Allmählich mußte Kleckel mit seinem Schiff die Schockfront erreicht haben. Eine grafische Darstellung zeigte sich uns auf dem Bildschirm. Aus Kleckels Angaben hatten wir die innere Größe der Schockfront rekonstruieren können. Da sie ziemlich genau kugelförmig war und wir zumindest einen konkreten Anhaltspunkt hatten – jenen Ort, an dem Kleckel in unser Kontinuum eingedrungen war –, ließ sich der kosmonautische Ort des Verst‐ Systems zumindest rechnerisch ermitteln. Für alle Fälle hatten wir eine Funkboje ausgesetzt, in der diese Daten gespeichert waren, bezogen auf die kosmonautischen Werte, die wir von anderen Systemen bereits hatten. Sollte später einmal diese Boje aufgefischt werden, von der SOL oder von wem auch immer, waren die Finder vor den Gefahren des Verst‐Systems wenigstens gewarnt. Uns hingegen blieb nur eins übrig – abzuwarten und unser Glück zu versuchen. »Kontakt!« erklang es von der Ortung. Kleckels Schiff mußte in diesem Augenblick die Grenze der Schockfront erreichen. Alle Meßinstrumente waren auf diesen Ort gerichtet. Vielleicht ließ sich meßtechnisch irgend etwas in Erfahrung bringen, was uns weiterhalf, vielleicht sogar zu einem Mittel, die Schockfront zu durchbrechen oder das Geheimnis ihrer Unsichtbarkeit zu lüften. Im nächsten Augenblick zuckte eine Entladung über die Bildschirme. Kleckels Schiff hatte die Grenze erreicht. Die Ortung arbeitete rasch und präzise. »Er muß den Durchbruch geschafft haben«, hieß es. »Die Energiemengen, die wir angemessen haben, sind zu klein, um von der Zerstörung des Schiffs stammen zu können. Außerdem sind sie dimensionsmathematisch anders konstruiert.«
Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Kleckel hatte es also geschafft, sein Schiff war nun wieder im Verst‐System. * Kleckel beschleunigte mit höchsten Werten, und sein Raumschiff folgte den Schaltbefehlen mit großer Zuverlässigkeit. Auf dem Bildschirm konnte der Robot die heranjagenden Einheiten der Verstyrer sehen. Selbstverständlich hatten sie die energetischen Entladung angemessen, die Kleckel beim Durchstoßen der Schockfront erzeugt hatte. Jetzt war die Frage, ob sie trotz des Ortungsschutzes auch das Schiff selbst anpeilen konnten. Kleckel entfernte sich so rasch wie möglich vom Ort des Eindringens – während die Verst‐Schiffe ihren Kurs beibehielten. Kleckel stieß einen Laut aus, der einem Seufzer entsprach. Das erste Ziel des Planes war gelungen. Auf kürzestem Weg flog Kleckel Verst an. Er wußte, daß seinen Freunden die Zeit auf den Nägeln brannte – allen voran den Buhrlos, die so schnell wie möglich wieder einen Aufenthalt im Weltraum brauchten. Auf seinem Bildschirm konnte Kleckel sehen, daß sich die Abfangraumer der Verstyrer versammelt hatten und die Gegend in der Nähe seines Erscheinungsorts untersuchten. Mochten sie, sie würden ihn nicht finden. Verst kam näher. Kleckel spürte Aufregung. Inzwischen wußte er auch, daß er keineswegs nur ein normaler Robot war – die Solaner hatten bei den umfangreichen Instandsetzungsarbeiten in ihm energetische Strömungen nachweisen können, die sich jeder exakten Messung entzogen hatten. Deutlich war nur, daß diese Energien mit Kleckels Positronik in Verbindung standen und über sein Denken auch sein Handeln beeinflußten.
Beim Überfliegen von Verst konnte Kleckel den Krater sehen, den der Start seines Raumschiffs hinterlassen hatte. Dort waren die Solaner mit Sicherheit nicht mehr zu finden – wahrscheinlich hatte man sie längst gefangengesetzt, möglicherweise sogar getötet. Kleckel traute den Verstyrern alles zu. Er landete sein Schiff in einem engen Tal, das nur selten besucht wurde. Dort war das Schiff vorläufig vor einer Entdeckung sicher. Außerdem gab es in der Nähe eine geräumige Felsenhöhle, in der sich die Solaner verstecken konnte, bis Hilfe kam. Kleckel verließ das Schiff. Es war Nacht in diesem Teil von Verst, und Kleckel sah hinauf in den Himmel. Irgendwo dort oben lauerten die Schiffe der Verstyrer – und irgendwo dort draußen wartete die Hilfe für die Solaner. Kleckel öffnete die Luke seines Raumschiffs. Er nahm einen Diskuskörper zur Hand und aktivierte ihn. Ein leises Summen ertönte, dann wurde der Körper unsichtbar. Auch das Geräusch verstummte. Kleckel konnte nicht sehen, ob sich der Diskus auf den Weg zu einem der Solaner machte. Er konnte nur hoffen … 8. Shamryk sah Insider finster an. »Ich gebe dir die Zeit«, sagte er schließlich. »Noch stellst du einen gewissen Wert dar, und ich will diesen Wert nicht mindern. Wenn du aber nicht sehr bald mit allen Informationen herausrückst, die du hast, wird es mir sehr gleichgültig sein, ob dein Wert erhalten bleibt oder nicht.« »Ich werde es mir überlegen«, sagte Insider freundlich. Shamryk hatte sich erstaunlich zurückgehalten, obwohl er eine üble Niederlage hatte einstecken müssen. Ein großer Teil seiner Privatarmee von Robotern war schrottreif, und auf seine verstyrischen Sklaven hatte es sichtlich Eindruck gemacht, daß sich
die gefährlichen Verbrecher ihnen kampflos ergeben hatten. In einigen Gehirnen waren Zweifel aufgetaucht, ob die Solaner wirklich solche Schurken waren, als die sie allgemein dargestellt wurden. Shamryk entfernte sich. Irna stieß einen leisen Seufzer aus. »Dem Himmel sei Dank, er läßt uns in Ruhe«, stieß sie hervor. »Es fragt sich nur, wie lange es dauern wird«, gab Insider zu bedenken. »Kleckel wird es geschafft haben«, vermutete Irna. »Wäre er nicht durchgekommen, hätte Shamryk uns sicher hohnlachend davon berichtet. Und wenn Kleckel durchgekommen ist, wird Atlan uns zu Hilfe kommen.« Insider gab keine Antwort. Besser als jeder andere konnte er die Risiken einschätzen, und er ahnte, daß Hilfe von außen es sehr schwer haben würde, wenn die gefangenen Solaner nicht von sich aus etwas unternahmen, um ihre Lage zu bessern. Immerhin – für die Buhrlos hatte es eine Erleichterung gegeben. Shamryk hatte während Insiders Flucht einen aufkaufen und im Weltraum aussetzen lassen. Die Tatsache, daß der Buhrlo dieses Aussetzen nicht nur überstanden hatte, sondern sich danach auch noch erheblich besser gefühlt hatte als zuvor, hatte Shamryk dazu bewogen, alle Buhrlos zu erstehen. Insider ahnte, daß er sie später für seine eigenen Zwecke einsetzen würde, wenn es ihm erst gelungen war, sich die Solaner gefügig zu machen. Insider wußte zwar nicht genau, was in Shamryk vorging, aber er vermochte sich ein ungefähres Bild davon zu machen. Shamryk war zweifelsfrei ehrgeizig, er machte auch keinen Hehl daraus. Außerdem war er skrupellos, nicht nur gegenüber seinen Untergebenen; er würde vor keinem Verbrechen zurückschrecken, das seiner Karriere dienlich war – vorausgesetzt, das Risiko hielt sich in Grenzen.
Die Solaner boten sich als geheime Hilfstruppe geradezu an. An Insider und seinen Begleitern hatte Shamryk studieren können, wozu die Solaner imstande waren. Vor allem hatte er die entscheidende Schwäche der Solaner erkannt – ihre Bereitschaft, extreme persönliche Risiken einzugehen, um Artgenossen in Gefahr zu helfen. Einem Verstyrer wäre es niemals eingefallen, eine fünfzigprozentige Gefahr für das eigene Leben einzugehen, um das neunundneunzigprozentige Ende eines anderen Verstyrers abzuwenden. Solaner jedenfalls halfen einander in Notlagen, und sie waren äußerst geschickt, kaltblütig und tapfer – und darauf fußte Shamryks Plan. Daß er Insider mit Irna zusammengesperrt hatte, paßte ebenfalls ins Konzept – und sie verriet sogleich den fatalen Denkfehler, den Shamryk machte. Offenkundig hielt er die Solaner bei aller zweifelhaften Wertschätzung für eigentümliche Tiere; ein Solaner‐Männchen mit einem Solaner‐Weibchen zusammengesperrt, mußte wohl nach seiner Ansicht zwangsläufig zu Paarungsverhalten führen; rechnete man diese Erwartung mit dem bereits beobachteten Hilfsverhalten der Solaner zusammen, so ergab sich daraus die logische Falle, in die Insider tappen sollte. Shamryk wollte ihn mit Irna als Geisel erpressen. »Ich könnte diesem Burschen den Hals umdrehen«, stieß Irna hervor. Insider sah Irna an, beide grinsten, und in diesem Augenblick war Insider sicher, daß die kluge Frau mit ähnlichen Gedankengängen wie er zur gleichen Schlußfolgerung gelangt war. »Sein Plan wird nicht aufgehen«, antwortete Insider. Der Kerker hatte ein Fenster, mehr eine Art Sehschlitz. Irna stellte sich auf Insiders Schulter und spähte hindurch, als er sie dazu aufforderte. »Ich kann zwei von unseren Freunden sehen«, stieß Irna aufgeregt hervor. Insider grunzte zufrieden.
Shamryk verhielt sich im Rahmen seiner Denkstruktur logisch – systematisch kaufte er alle Solaner‐Sklaven auf, die sich nur finden ließen. Da bei solcher Nachfrage der Preis für einen Solaner zwangsläufig steigen mußte, setzte Shamryk einen erheblichen Teil seines Privatvermögens ein. Insider, der sich besser auskannte, als es Shamryk lieb sein konnte, kam nach einer kurzen Überschlagsrechnung zu dem Ergebnis, daß Shamryk hasardierte – der Ankauf aller Solaner und die materielle Vorbereitung seiner Operationen würde Shamryk so viel kosten, daß er bei einem Fehlschlag in jedem Fall ein ruinierter Mann war, von der Gefahr zu schweigen, daß er für seine verbrecherischen Pläne vermutlich mit dem Leben würde bezahlen müssen, wenn man ihm auf die Schliche kam. Insider grinste zufrieden. »Patt!« murmelte er. Die Lage war, auch wenn Shamryk das vermutlich nicht wahrhaben wollte, ausgeglichen; der Verstyrer brauchte die Solaner insgesamt so nötig wie sie ihn. Es kam nur darauf an, die Trümpfe geschickt zu nutzen – Insider hatte genug Vertrauen in sich selbst, um dieses Spiel aufzunehmen. Einen Vorteil allerdings hatte Shamryk, den er weidlich hätte ausnutzen können, wenn er ihn gekannt hätte – er war nicht wie die Solaner darauf angewiesen, rechtzeitig den Junk‐Nabel zu passieren. Die Zeit arbeitete für ihn und seine Pläne, und Insider wußte das. Irna stieg wieder von Insiders Schultern. »Was machen wir jetzt?« fragte sie ratlos. »Abwarten«, erklang eine tiefe Stimme. Insider zuckte zusammen und suchte den Raum ab. »Faßt euch in Geduld. Hilfe ist unterwegs.« Mit beiden Händen griff Insider zu. Er hatte den Ort der Schallquelle identifiziert. »Sieh an«, murmelte der Solaner, als er den noch immer unsichtbaren Körper in seinen Händen abtastete. »Ein Minirobot in
Diskusformat.« »Er stammt von der Basis«, ließ sich wieder die dunkle Stimme vernehmen. »Er soll euch weiterhelfen.« »Wer spricht?« wollte Insider wissen. Das Organ kam ihm unbekannt vor. »Kleckel mit einem neuen Stimmodulator«, lautete die Antwort. Wenig später wurde der Diskusrobot sichtbar. »Donnerwetter«, staunte Irna. Insider nahm nicht nur die Ampulle mit dem Scheintodpräparat an sich, er förderte aus dem Innern des Diskuskörpers auch eine Waffe mit frisch geladenem Magazin zutage. Wenig später erschien ein zweiter Körper mit der gleichen Ausstattung für Irna. Währenddessen frischte Kleckel den Nachrichtenstand der Gefangenen auf. »Ihr müßt euch beeilen«, drängte Kleckel. »Je eher die Solaner scheinbar sterben, um so eher werden die Verstyrer die Schockfront öffnen, um sich neue Sklaven zu verschaffen. Sie wissen ja, daß es außerhalb der Schockfront weitere Schiffe gibt – sie werden versuchen, diese Chance zu nutzen.« Insider nickte. »Hast du auch Kontakt mit den anderen Robots?« fragte er. Kleckel antwortete sofort. »Ich stehe mit allen in Verbindung. Gerade werden die letzten eurer Gefährten bei Shamryk angeliefert. Die Zeit ist reif.« Insider stieß ein zufriedenes Brummen aus. »Wir werden sofort handeln«, gab er bekannt. Mit Hilfe von Kleckel stellte er die Verbindung zu den anderen Gefangenen her. Der Einsatzplan war rasch besprochen, es gab keinerlei Opposition. Die Solaner, ausgelaugt, müde und enttäuscht, waren zu jeder Handlung bereit, die ihnen Hilfe versprach. »Wie wirkt das Mittel genau?« wollte Insider von Kleckel wissen. »Ihr müßt die ganze Dosis einnehmen«, lautete Kleckels Anweisung. »Danach werden Symptome wie Übelkeit, blasse Haut,
erhöhte Schweißabsonderung und eine starke Erweiterung der Pupillen auftreten. Etwa eine Stunde danach überzieht sich der ganze Körper mit roten, auffälligen Pusteln, die ziemlich scheußlich aussehen, und eine halbe Stunde später tritt scheinbar der Tod ein.« »Hm«, machte Insider. »Und wenn ich nur die Hälfte der Dosis schlucke?« »Bleibt es bei den Symptomen, und sie werden sehr unangenehm ausfallen«, meinte Kleckel. »Nur der Scheintod tritt nicht ein. Nach der Reaktivierung verschwinden die Symptome sehr rasch, in weniger als einer Stunde.« »Wie lange dauert die Schlafphase?« »Einen Tag, auf die Stunde genau«, antwortete Kleckel über den kleinen Lautsprecher des Diskusrobots. »Machst du mit, Irna?« fragte Insider. Die Frau nickte. Während in den benachbarten Räumen die zusammengesperrten Solaner den Inhalt der Ampullen schluckten, nahmen Irna und Insider ebenfalls das Gift – letzterer allerdings nur die Hälfte der Dosis. Danach blieb den Solanern nichts anders übrig, als geduldig zu warten. * Shamryk stieß einen wütenden Fluch aus. Mit vielem hatte er gerechnet, aber nicht damit, daß eine geheimnisvolle Seuche seine wertvollsten Sklaven binnen kurzer Frist dahinraffte. Auf seinem Tisch häuften sich die Verlustmeldungen. Den Berichten waren bemerkenswert scheußliche Farbaufnahmen beigefügt. Es schien dem Fotografen geradezu ein Vergnügen gewesen zu sein, die unappetitlichen Aspekte dieser Sache möglichst detailgetreu abzubilden. Shamryk stand auf.
Er hatte den starken Verdacht, daß Insider hinter dieser Sache steckte – das Ganze roch förmlich nach einem Plan dieses überaus gewitzten Solaners. Shamryk beschloß, sich den Burschen vorzuknöpfen. Als er die Zelle betrat, in der er Insider zusammen mit der Solaner‐ Frau eingesperrt hatte, sah er sofort, daß auch Insider von der Seuche befallen war, desgleichen die Frau. Sie lag röchelnd in einer Ecke der Zelle. Insider, bei dem die widerlichen Pusteln in einem hellen Gelbton zu sehen waren, schwankte und stützte sich gegen die Wand, um nicht umzufallen. »Was hat das zu bedeuten?« schnauzte Shamryk. Insider sah ihn aus schrecklich geröteten Augen an. Insider grinste Shamryk an. »Wir haben Pech gehabt, alter Freund«, sagte er. »Es wird wohl aus unseren gemeinsamen Plänen nichts mehr werden.« »Wir haben keine gemeinsamen Pläne«, stieß Shamryk wütend hervor. Sichtlich war auch Insider vom Tod gezeichnet, der schon mehr als zwei Drittel der Solaner dahingerafft hatte. Shamryk wurde durch diese Entwicklung langsam, aber sicher dem Ruin zugetrieben. »In meinen Eingeweiden brennt es wie Feuer«, ächzte Insider. Shamryk kannte sich inzwischen mit dem Mienenspiel und der Gestik der Solaner aus, er hatte auch eine Witterung für Stimmungen. Insider simulierte nicht, das war offenkundig. »Auch aus deinem Plan, mir eigenhändig die Gurgel zuzudrücken, wird nichts werden«, stöhnte Insider. Es sah ihm ähnlich, daß er noch bissige Scherze machte, wenn er mit einer Hand bereits die Pforte des Todes berührte. »Ich kann das sofort nachholen«, grollte Shamryk, er wußte nicht, ob er wütend oder besorgt sein sollte. »Streng dich nicht an«, gab Insider zurück. Er richtete sich auf und sah Shamryk beschwörend an.
»Hör zu«, sagte er rauh. Seine Stimme war mehr ein Krächzen, auch seine Stimmbänder schienen angegriffen. »Ich fürchte, von uns wird kein einziger überleben. Da mein Metabolismus stabiler ist als der meiner Gefährten, werde ich noch etwa einen Tag durchhalten können. Ich habe eine Bitte an dich. Erfüllst du sie mir, werde ich dir mit einem guten Ratschlag danken.« Sharmyk kniff die Augen zusammen. »Rede. Du hast mein Wort, ich schwöre es.« Insider nickte. Es gab ein paar Gebiete des Lebens, auf denen auch so abgebrühte Verstyrer wie Shamryk vor Frevel zurückschreckten – eines davon war das Ehrenwort eines Verstyrers. »Sobald meine Gefährten tot sind, laß sie wegschaffen. Suche einen Ort, an dem ich sie würdig bestatten kann. Das ist wichtig für das Heil unserer Seelen. Andernfalls, und das schwöre ich, werden unsere Bewußtseinsinhalte auf Verst herumirren, und das wird dir einigen Ärger bereiten.« »Einverstanden. Und dein Ratschlag?« »Begleite uns auf unserem letzten Weg. Sieh der Zeremonie zu, und merke sie dir genau. Danach, wenn auch ich gestorben sein werde, vollzieh den Ritus an mir. Und wenn du damit fertig bist – sorge dafür, daß von unseren Leichen nicht ein Molekül übrigbleibt. Die Pest, die uns töten wird, könnte auch auf Verstyrer übergreifen – und das wäre in doppeltem Sinne dein Tod.« Shamryk begriff sofort – nur wenn er die Leichen der Seuchentoten selbst gründlich beseitigte, konnte er selbst nicht als möglicher Überträger dieser Seuche identifiziert werden – auf Verst hätte das seine sofortige Exekution bedeutet. »Vielleicht bin ich längst angesteckt«, stieß Shamryk erschreckt hervor. Insider knickte ein. Seine Beine schienen den Körper nicht länger tragen zu können. »Unwahrscheinlich«, ächzte er. »Es liegt an der besonderen Atmosphäre in unseren Schiffen. Da können sich Spezialbakterien entwickeln, die es unter anderen Umständen nicht geben kann, weil
sie beispielsweise auf einem Planeten gar nicht erst lebensfähig wären. Aber mache das der Gesundheitsinspektion deiner Leute klar …« Shamryk stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. An diese fatale Möglichkeit hatte er gar nicht gedacht – daß man ihn rein prophylaktisch verschwinden lassen würde, um so einer mutmaßlichen Infektion entgehen zu können. »Ich werde es tun«, sagte Shamryk. »Beeile dich. Wir haben nicht mehr viel Zeit. Nimm nur zuverlässige Robots, ältere Modelle, die du später ohne Aufsehen einschmelzen lassen kannst. Wir müssen völlig ohne Spuren verschwinden, verstehst du? Und Positroniken kann man befragen.« Shamryk nickte. Um sein Seelenheil zu retten, hatte sich der Solaner offenbar überaus gründlich mit dem Problem beschäftigt. Augenscheinlich betrachtete er die Sache mehr aus Shamryks Blickwinkel denn aus eigener Sicht – ausgenommen sein Wunsch, nach dem Ritus seines Volkes bestattet zu werden. Eine Stunde nach diesem Gespräch machte sich Shamryk auf den Weg. Auf der Ladefläche eines großen Transportgleiters lagen die reglosen Körper der Solaner. Einzig Insider war noch am Leben, aber sein Anblick war so scheußlich, daß Shamryk ihn kaum anzusehen wagte, weil ihm sonst flau im Magen wurde. Drei robuste Arbeitsroboter hatte Shamryk aufgeladen, sie sollten die Hauptarbeit bei dem Bestattungsritual übernehmen. Auch einen passenden Ort hatte Shamryk bereits gefunden – eine geräumige Felsenhöhle, die er später atomar ausbrennen und zusammenstürzen lassen konnte. Das Gelände war für diesen Zweck geradezu ideal. Der Zugang zur Höhle war eng und niedrig, das Innere recht geräumig. Eine einzige Sprengung würde genügen, um alles einstürzen zu lassen. »Ladet sie ab und legt sie in Reihen auf den Boden. Kreisförmig,
mit den Köpfen nach innen«, bestimmte Insider. Die Robots führten den Befehl aus. In der Mitte dieser Ringe blieb ein freier Platz übrig. Dort baute Insider eine Metallschale auf, die er sorgsam auf Felstrümmer bettete. Er häufte wohlriechende Harze in die Schale und entzündete sie. Beißender Qualm stieg langsam in die Höhe. Insider stand vor dem knisternden Brand. In dieser Beleuchtung sah er aus, als sei er die Inkarnation aller Sternenteufel. Aus Taschen seiner Kleidung förderte er kleine Flaschen zu Tage, die er unter beschwörenden Gesängen in die Flammen schüttete. Farbige Feuerschleier wirbelten auf. Shamryk hielt sich in geringer Entfernung, er wollte jedes Detail dieses seltsamen Kultes genau studieren. Mit Insider ging es zu Ende. Immer wieder gaben seine Knie nach, aber immer wieder rappelte er sich auf und setzte den Ritus fort. Schließlich hielt er inne. »Jetzt kommt der letzte Teil«, sagte er. Jäh durchzuckte Shamryk der Schrecken. An Insiders Aussehen hatte sich nichts geändert – aber seine klare kraftvolle Stimme paßte überhaupt nicht zu dem todkranken Aussehen, noch weniger paßte dazu die Waffe, die er plötzlich in der Hand hielt. Drei blitzschnelle Bewegungen, drei Schüsse aus der Waffe, dann waren die Arbeitsroboter außer Gefecht gesetzt. »Nun zu uns beiden«, sagte Insider. Er lächelte höhnisch. Shamryk stand starr vor Schreck. Er hörte das Pochen seines Herzens, ein wildes Rauschen in den Ohren. Das Knistern des Räucherbrands, und sehr weit entfernt einen anderen Klang. Insider schien ebenfalls etwas wahrzunehmen. »Was ist das?« fragte er. »Raumalarm«, stieß Shamryk hervor. Er war bleich. Insider seufzte zufrieden. »Endlich!« stieß er hervor.
9. Wären wir nicht vorbereitet gewesen – wir hätten die ersten Augenblicke danach schwerlich überstanden. Wie eine Meute hungriger Geier fielen die Verstyrer über uns her. In höchster Fahrt rasten ihre Schiffe heran. Wir setzten Ihnen Salven aus unseren Transformkanonen vor den Bug, und wir gingen weniger behutsam vor, als die Besatzung der DRONIA. Ein halbes Dutzend Verstyrerschiffe schied schwer beschädigt aus dem Passiergefecht aus und suchte das Weite. Der Rest aber genügte völlig, uns zu hetzen, zu stellen und zu vernichten, wenn wir nicht höllisch aufpaßten. Die Besatzung der MJAILAM reagierte hervorragend. Es machte sich auch bemerkbar, daß einige Posten doppelt und dreifach besetzt waren, daß wir alle technischen Geräte sorgfältig gewartet hatten – weder personell noch technisch gab es die kleinste Panne. Vor allem hatten wir die Bordpositronik darauf vorbereitet, uns mit Miniatur‐Linear‐Etappen immer wieder in Sicherheit zu bringen. Die Daten, die uns Kleckel übermittelt hatte, erwiesen sich dabei als unschätzbare Hilfe. Außerdem war ein beträchtlicher Teil der Verstyrer‐Flotte noch an dem Ort konzentriert, an dem Kleckel in sein Heimatsystem zurückgekehrt war. Natürlich nahmen diese Einheiten sofort Fahrt auf, um sich an der Hatz auf uns beteiligen zu können. Wir durchkreuzten dieses Vorhaben. Ehe sichʹs die verdutzten Verstyrer versahen, tauchte die MJAILAM mit einem gewagten Linearsprung mitten in dem Pulk von Schiffen auf, feuerte aus allen Rohren und brachte sich wieder in Sicherheit. Die Verstyrer, von diesem Angriff völlig überrascht, verloren zwei Dutzend angeschlagener Schiffe, die restlichen Besatzungen gerieten in Panik und suchten ihr Heil in der Flucht. Ein Kommandant war dabei so durchgedreht, daß er sogar die
Schockfront rammte und so den Totalverlust seines Schiffes herbeiführte. Die anderen Verstyrer kamen glimpflicher davon. In ihrer Aufregung vergaßen die Funker des öfteren, die Raffer und Zerhacker zwischenzuschalten, so daß wir den Funkverkehr abhören konnten. Verluste an Leben hatte es bisher bei den Verstyrern nicht gegeben, wohl aber Totalverluste in Gestalt schrottreifer Raumschiffe. Dementsprechend verbittert und verbissen setzten die Verstyrer die Jagd auf uns fort. Unsere Absicht konnte es nicht sein, mit den Verstyrern eine lebensgefährliche Balgerei im Weltraum abzuhalten, zumal wir dabei nur den kürzeren ziehen konnten. Ziel unserer Aktion war Verst, und wir wußten, daß dort die Kanoniere hinter den Energiegeschützen nur auf unser Auftauchen warteten. Die Falle, in die die DRONIA getappt war, stand auch für uns weit offen. »Fertig für Aktion Bombensplitter?« fragte ich an. »Einsatzklar!« Die Meldungen aus den einzelnen Stationen kamen schnell und zügig. Der gewagteste Teil des Unternehmens hatte begonnen. Linearetappe nach Verst. Die MJAILAM tauchte im Orbit um den Planeten auf, gerade außer Reichweite der verstyrischen Geschütze, aber binnen weniger Augenblicke nahe genug, um getroffen werden zu können. »Los!« Die Hangars flogen auf, sämtliche Beiboote stießen in den Raum vor. Auch an Bord der Beiboote waren sämtliche Schleusen offen. Die Schiffe explodierten förmlich. Aus dem kompakten Gebilde der MJAILAM wurde binnen weniger Augenblicke ein wild durcheinanderschwirrender Schwarm von Beibooten und Jägern aller Typenklassen. Ich stellte mir vor, wie die Kanoniere auf dem Boden jetzt fluchten und so rasch wie möglich die neuen Ziele anpeilten.
Eines dieser Ziele war unsere Space‐Jet. Wir hatten den Antrieb geschwächt zugunsten eines hochwirksamen Ortungsschutzes. Gelang der dreiste Bluff? Es sah danach aus. Während die Boote der MJAILAM ebenso wie das Mutterschiff so schnell wie möglich den Schußbereich der verwirrten Verstyrer verließen, sank unsere Space‐Jet, im Trubel offenbar unbemerkt, langsam dem Boden der Verst näher. Mit zusammengebissenen Zähen starrte ich auf die Bildschirme. Ein Gewirr von Strahlschußbahnen spann sich durch den Raum – gegen die turmdicken Strahlen hatten die kleinen Boote der MJAILAM keinerlei Chancen. Wir hatten Glück, abenteuerliches Glück. Es lief alles so günstig, wie es nur laufen konnte. Zwar bekam die MJAILAM Dutzende von Treffern ab – aber die stammten in der Regel von schwachkalibrigen Geschützen, deren Treffer von den Schutzschirmen verkraftet werden konnten. Ein paar der großen Geschütze hatten sich die Beiboote zum Ziel genommen, aber die flinken Boote waren zum größten Teil bereits außer Reichweite, und die paar, die das noch nicht geschafft hatten, flogen so verrückte Bahnen, daß die Verstyrer keinen einzigen Treffer anbringen konnten. Die ganze Aktion dauerte nur knapp fünf Minuten. Während die Space‐Jet eine Höhe von fünftausend Metern über Grund erreichte, nahm die MJAILAM ihren Mückenschwarm wieder an Bord und schoß mit Höchstfahrt davon. »Gut gemacht«, lobte ich über Hyperkom. »Und jetzt bringt euch in Sicherheit, Freunde!« »Wird gemacht!« erklang es aus dem Lautsprecher. Es war verabredet, daß sich die MJAILAM sofort zurückzog, sobald wir uns abgesetzt und Verst erreicht hatten. Das Schiff sollte sich in der Korona der Sonne verstecken; völlig unsichtbar wurde es dadurch nicht, aber die Verstyrer würden die größten
Schwierigkeiten haben, das Schiff in dieser Gluthölle zu entdecken. Es war ein altbewährter Trick, und er funktionierte sogar dann, wenn er vor den Augen der Verfolger praktiziert wurde. Zwar konnten auch die Verstyrer‐Schiffe tief in die Sonnenatmosphäre eindringen, aber dort waren sie taub und blind, und die MJAILAM hatte gute Gelegenheit, in dem dort tobenden Energiegewitter zu verschwinden. Ich war sicher, daß die erprobte Besatzung diese Aufgabe würde lösen können. Die Verantwortung für den weiteren Fortgang der Aktion lag jetzt bei uns. * Shamryk lehnte an dem Fels und starrte Insider böse an. »Das wirst du bereuen«, zischte er giftig. Insider wölbte nur die Brauen. Vor wenigen Minuten war Kleckel vereinbarungsgemäß in dem Felsversteck aufgetaucht, mit ihm ein Schwarm von Diskusrobotern. Nun, da der Plan aufgegangen war, konnte den Bewußtlosen das Gegenmittel verabreicht werden, das die Wirkung des Scheintodpräparats in kurzer Zeit komplikationslos ausklingen ließ. »Wenn du glaubst, uns entkommen zu können, hast du dich geirrt«, knurrte Shamryk. »Wir werden nicht mehr sehr lange deine Gäste sein«, antwortete Insider. Den Bewegungen von Shamryks Augen entnahm er, daß der Verstyrer nach einer Möglichkeit suchte, entweder durch blitzschnelle Flucht zu entkommen oder aber sich auf Insider zu stürzen und ihm die Waffe abzunehmen. Insider war auf beides vorbereitet, daher hatte Shamryk keine Chance. »Das wird sich zeigen«, gab Shamryk zurück. Er grinste boshaft. »Ihr werdet uns nicht entkommen, und die Narren, die euch zu Hilfe kommen wollen, werden das gleiche Schicksal erleiden. Ihr
werdet die Schockfront nicht durchbrechen können, wenn wir es nicht wollen.« »Kleckel ist durchgekommen, also werden wir es auch schaffen«, antwortete Insider gelassen. Die ersten Solaner begannen sich zu bewegen. Das Gegenmittel wirkte offenbar rasch und zuverlässig. »Selbst wenn«, höhnte Shamryk weiter. »Ich glaube es nicht, aber selbst wenn ihr es schafft – ihr werdet für immer in der Namenlosen Zone bleiben müssen.« »Auch das wird sich zeigen«, erwiderte Insider. Er tat unbeteiligt, obwohl ihm ganz anders zumute war. Er ahnte, daß Shamryk dabei war, sich gründlich zu verplappern. »Wir regulieren nämlich den Nabel, wir, die Verstyrer. Und wir werden ihn gesperrt halten, bis die Frist abgelaufen ist. Danach werden wir uns in der Namenlosen Zone frei bewegen können, und ich schwöre dir – wir werden euch finden, wo immer ihr euch verstecken wollt. Und dann werdet ihr uns dienen, wie wir wollen.« »Pah«, machte Insider, begleitet von einer nachlässigen Handbewegung. »Leeres Gerede. Daß ihr Verstyrer den Nabel kontrolliert, wissen wir schon lange. Warum, glaubst du, sind wir hier eingedrungen. Wir werden die Kontrolle über den Nabel an uns reißen, ob es euch gefällt oder nicht.« Shamryk stieß ein hohes Gelächter aus. »Das werdet ihr niemals schaffen. Die Festung auf dem äußersten Planeten ist absolut unüberwindlich, das haben wir mehr als einmal erprobt.« Insider verkniff sich ein Lächeln. Endlich wußte er definitiv, wo die Kontrollstation für den Junk‐ Nabel lag – auf dem äußersten der Verst‐Planeten. Shamryks Gerede von der Unüberwindlichkeit dieser Station glaubte Insider nicht. Zu oft hatte in den letzten Jahren der Gegner – wer immer es auch war – sich selbst durch seine maßlose Überheblichkeit außer Gefecht gesetzt. Selbstüberschätzung war bei solchen Auseinandersetzungen der sicherste Weg ins Verderben.
»Atlan an Kleckel«, erklang es in diesem Augenblick aus Kleckels Lautsprecher. Der Emulator‐Robot gab den Wortlaut des Funkverkehrs so weiter, wie er ihn empfing. »Erbitten Landehinweise.« Kleckel gab die nötigen Informationen. Insider sah dabei Shamryk an. Der Verstyrer hatte Angst, das war kein Wunder, schließlich zielte Insiders Waffe auf ihn. Er wirkte wenig überdreht, aber er trug sehr gut versteckt ein Selbstbewußtsein zur Schau, das Insider ganz und gar nicht gefallen wollte. Es sah so aus, als verfüge Shamryk über eine Information, die nur er alleine kannte und die das Bild der Lage von Grund auf ändern konnte. Was konnte das für eine Information sein, überlegte Insider. Atlan tauchte im Eingang auf. Neben ihm erschien Tyari, dahinter Ticker. Insider stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Er drehte sich ein wenig um. Aus den Augenwinkeln heraus sah er Shamryk. Der Verstyrer verzog das Gesicht zu einem triumphierenden Grinsen. »Kleckel, komm bitte her!« Insider zögerte keinen Augenblick. Er griff nach seiner Betäubungswaffe und streckte den verblüfften Shamryk mit einem Schuß zu Boden. »Untersuche ihn!« bestimmte Insider. Atlan warf einen Blick auf den Verstyrer, als er an ihm vorbei auf Insider zuging. »Was ist mit ihm?« fragte er. »Ich vermute, daß er den gleichen Peilsender im Leib trägt, den er uns hat einpflanzen lassen«, stieß Insider wütend heraus. »Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich nicht daran gedacht habe und ihn rechtzeitig untersucht habe.« »Deine Vermutung stimmt«, gab Kleckel bekannt. »Er trägt einen solchen Sender. Soll ich ihn herausholen und zerstören?« Insider winkte ab. Dazu war es längst zu spät.
»In jedem Augenblick können hier verstyrische Truppen auftauchen«, sagte er. »Und es wird die Elite der Kampfverbände sein, darauf können wir uns verlassen.« Er stieß einen Fluch aus. Atlan legte ihm die Hand auf die Schulter. Insider sah ihn an. »Wenigstens etwas habe ich erreicht«, sagte der Extra ein wenig kläglich. »Auf dem äußersten Planeten gibt es eine Station, angeblich hervorragend gesichert. Von dort aus wird der Junk‐ Nabel reguliert.« Atlan stieß einen Seufzer aus. Er griff zum Minikom. »Atlan an MJAILAM!« sprach er in das winzige Mikrophon. Die Nachricht ging von dort zum wesentlich leistungsfähigeren Sender der Space‐Jet, die den gerafften und zerhackten Spruch zur MJAILAM hinaufschickte. Atlan konnte nur hoffen, daß die Sendung im multidimensionalen Energiewirbel in der Sonnenatmosphäre noch verständlich war. »MJAILAM an Atlan, wir hören dich!« Die Verbindung war jämmerlich und schlecht. Trotz aller Filtersysteme war die Sendung stark verrauscht und wurde immer wieder von Knacken und Prasseln gestört. Immerhin, der Text war leidlich verständlich. »Die Regelstation für den Nabel liegt auf dem äußersten Planeten. Seht zu, was ihr tun könnt.« »Verstanden. Wir melden uns nach Abschluß der Aktion wieder. Ende!« Atlan stieß einen leisen Seufzer aus. Der erbarmungslose Wettlauf gegen die Zeit ging in die letzte und entscheidende Runde. * Der Tonfall klang nach kühler Geschäftsmäßigkeit.
»Transformkanonen einsatzklar!« Jeder an Bord der MJAILAM wußte, daß dies die kritische Phase des ganzen Unternehmens war. Es ging um den ganzen Einsatz – für die Solaner um die Möglichkeit, ins Normaluniversum zurückzukehren, für die Verstyrer darum, daß die Pagen ihr Versprechen einlösten und die Schockfront wieder öffneten und durchlässig machten. Für beide Völker war es eine Existenzfrage. Die Solaner wollten unter allen Umständen das Schicksal vermeiden, in der Namenlosen Zone eingeschlossen zu sein, in einem zwar riesigen, aber undurchdringlichen Käfig. Jeder an Bord konnte sich ausrechnen, daß die Verstyrer alles daran setzen würden, ihre Aufgabe zu erfüllen. Davon hing ihre künftige Existenz ab – gelang es den Solanern, den Junk‐Nabel zu passieren, blieben die Verstyrer für alle Zeiten in ihrem System eingeschlossen. »Vollschuß!« Ein Argument sprach für die MJAILAM und ihre Besatzung – die Verstyrer würden vermutlich nicht mit einer solchen Vorgehensweise der Solaner rechnen. Für die Verstyrer hatte die MJAILAM nach dem ersten Gefecht das Weite gesucht und sich versteckt. Ein solcher Vorstoß der Solaner würde sie überraschen – die einzige Trumpfkarte in diesem aberwitzigen Entscheidungsspiel. »Unternehmen cornered rat läuft.« Die Kodebezeichnung für dieses Unternehmen hatte praktisch in der ersten Sekunde festgestanden, es war darüber nicht diskutiert worden, obwohl fast alle wissen mußten, was mit dieser Anspielung gemeint war. To fight like a cornered rat. Die Redewendung aus dem Englischen bezog sich auf das Kampfverhalten einer Ratte, die in die Enge getrieben war. Obwohl normalerweise eher zur Flucht neigend, griffen Ratten in solchen Fällen in ihrer Verzweiflung Gegner an, die ihnen haushoch überlegen waren. Die MJAILAM stieß aus der Sonnenatmosphäre vor, und sobald
die ersten gegnerischen Einheiten ortbar waren, jagten die Tranformkanonen ihre Ladungen heraus. Eine Kette atomarer Detonationen legte sich zwischen die MJAILAM und ihre Jäger, die habichtgleich auf das SOL‐Schiff zustürzten. »Dauerfeuer!« Die MJAILAM hatte nichts zu verlieren, jeder an Bord wußte es. Jeder wußte auch, daß auf beiden Seiten im Grunde Opfer standen, kämpften und möglicherweise auch fielen. Daß die Gegner antraten und sich wechselseitig mit atomarem Feuer zusetzten, hatte nichts mit privater Feindschaft zu tun – es ergab sich fast zwangsläufig aus den skrupellosen, lebensverachtenden Machenschaften jener Mächte, die die Namenlose Zone und ihre Völker manipulierten. »Linearsprung!« Für einen Sekundenbruchteil verschwand die MJAILAM aus dem normalen Kontinuum und tauchte dann wieder auf. Für die Beobachter an Bord der Verstyrer‐Schiffe mußte es wie ein verzweifelter Fluchtversuch aussehen, und diesen Eindruck sollte das Manöver auch erwecken. »Raumtorpedos los!« , Die Körper fegten aus den Schächten, die sofort nachgeladen wurden. Zwanzig, dreißig, fünfzig – immer mehr Torpedos wurden verschossen, beschleunigten und suchten ihre Ziele. Die positronische Auswertung der Flugbahnen durfte den Verstyrern keinerlei Schwierigkeiten machen. Sie mußten nach wenigen Sekunden erkennen, daß der mörderische Bombenschwarm die beiden inneren Planeten und sämtliche Monde zum Ziel hatten. Das Abwehrfeuer begann. Die Verstyrer machten Jagd auf die fast lichtschnellen Torpedos – selbst bei dieser Geschwindigkeit brauchten die Flugkörper etliche Minuten, bis sie ihre Ziele erreichen konnten. Zeit genug für die Verstyrer, sie anzupeilen und abzuschießen.
»Erste Trefferwirkungen!« Die MJAILAM überließ die Torpedos sich selbst. Einer der Körper explodierte ohne Feindeinwirkung und wurde aus dem Kurs gerissen. Auf dem Schirm der Energieortung erlosch das Signal des deutlich anmeßbaren Antriebssystems dieses Torpedos. An Bord der MJAILAM hielten die Beobachter den Atem an. Fielen die Verstyrer auf den primitiven Trick herein? Sie taten es. Der Torpedo driftete ab – er mußte irgendwo weit abseits von Verst gegen die energetische Wandung der Schockfront prallen und dort vergehen. Daß er unterwegs – nach langen Minuten eines antriebslosen, aber fast lichtschnellen Fluges – die Bahn des äußersten Planeten schnitt, blieb den Verstyrern verborgen. An den Umgang mit Hochleistungspositronik gewöhnt, vergaßen sie bei der Kalkulation raumfahrttechnischer Probleme solche Vorgänge, die sich nicht in Schaltungen von Nanosekunden erschöpften. Vor allem konnten sie nicht wissen, daß der Torpedo kurz vor Erreichen der äußersten Umlaufbahn noch einmal für sehr kurze Zeit einen Zusatzantrieb aktivieren würde und damit alle Kalkulationen über den Haufen warf. Der Torpedo würde sein Ziel treffen, den äußersten Planeten – und damit war das Ende der Nabel‐Sperre nicht mehr aufzuhalten – eine Arkon‐Bombe, erst einmal gezündet, war in ihrer Wirkung nicht mehr zu stoppen. Das Ende des äußersten Planeten war damit eingeläutet – aber es würde noch einige Zeit auf sich warten lassen. Zeit, die unter den gegebenen Umständen unglaublich kostbar war. 10. »Aktion abgeschlossen. Zielzerstörung eingeleitet. Nach unseren Berechnungen noch knapp vier Stunden. Ende.«
Nach dieser Nachricht war von der MJAILAM nichts mehr zu hören. Noch tiefer als beim ersten Mal hatte sie sich in den Ortungsschatten der Sonne verkrochen. Ich schaltete den Minikom aus. Knapp vier Stunden. Zweihundertvierzig Minuten. Eine entsetzlich lange Zeitspanne, auch für mich. Die Lage war trostlos bis verzweifelt. Die Elitetruppen der Verstyrer waren aufmarschiert. Vier Divisionen hielten uns umkesselt. Ein eindrucksvoller Aufmarsch – sehr viel Ehre für uns Feinde, daß man uns mit solcher Übermacht auf den Pelz rückte. Sie wollten uns lebend, und das war unsere einzige Chance. Aber auch sie war zeitlich begrenzt. »Was können wir tun?« lautete die allgemeine Frage. Ich sah mich um. Etwa mehr als fünfzig Männer und Frauen, die zum ersten Mal seit langer Zeit wieder einen Funken Hoffnung hatten. Sie waren bewaffnet und konnten selbst etwas zur Verbesserung ihrer Lage tun, auch wenn es jämmerlich wenig zu sein schien. »An die rebellischen Sklaven!« Die Stimme kam von allen Seiten zugleich. Offenbar setzten die Verstyrer den ganzen Fels in Schwingungen und übertrugen so die Schallinformationen. Damit konnten sie natürlich auch das ganze Gewölbe zum Einsturz bringen. Schon jetzt regnete Kiesel auf uns herab. »Werft eure Waffen weg und kommt einzeln heraus.« Natürlich dachten wir nicht daran, dieser Aufforderung zu folgen. Mochten sie uns versprechen, was sie wollten – wir wußten, daß sie sich daran nicht halten würden. Ich zog Tyari und Insider zu mir. Shamryk, inzwischen nur noch halb betäubt, lag zwei Schritte entfernt am Boden und stellte sich tief bewußtlos. Ich bewegte die Augen in Richtung des Verstyrers. Tyari und Insider nickten. Sie hatten mich begriffen – dieser Wortwechsel war
für Shamryk bestimmt. »Was sollen wir tun?« fragte Insider besorgt. Tyari machte ein verzweifeltes Gesicht. Ich zuckte mit den Schultern. »Kampflos ergeben wir uns nicht«, stieß ich hervor. »Lieber bringen wir uns um.« »Richtig«, tönte Insider. »Lieber tot als Sklave. Aber vergiß nicht, wir haben nicht viel Zeit. Du weißt, daß das Gegenmittel nur für ein paar Stunden wirkt. In sechs bis sieben Stunden werden wir wieder hier herumliegen, ohne auch nur ein Glied rühren zu können. Dann brauchen sie uns nur noch einzusammeln.« »Verhandeln«, schlug Tyari vor. Man konnte förmlich hören, wie Shamryk die Ohren spitzte. »Ich schlage vor, daß wir Shamryk hinausschicken. Er soll mit seinen Leuten verhandeln. Alles, was wir brauchen, ist Zeit. In zwölf Stunden werden wir von hier abgeholt, so lange müssen wir durchhalten.« In dieser Art und Weise führten wir das unsinnige Gespräch weiter. Shamryk bekam zu hören, was er seinen Vorgesetzten später präsentieren sollte. Ich rechnete damit, daß sie uns natürlich lieber lebend als tot eingesammelt hätten. Unser Spiel hatte nur den einen Zweck, uns ein paar Stunden Luft zu verschaffen, in denen man uns einigermaßen ruhig gewähren ließ. Der Plan ging auf, zum Teil wenigstens. Wir »weckten« Shamryk auf, erzählten ihm allerlei Unsinn und schickten ihn dann zu seinen Leuten hinüber. Tatsächlich zogen sich daraufhin die verstyrischen Divisionen ein paar hundert Meter zurück. Immerhin wußten sie, daß wir in einer Falle steckten, aus der es kein Entkommen zu geben schien. Wir verfolgten unterdessen einen anderen Plan. Mit Hilfe der Diskusroboter wollten wir einen Stollen graben, der uns in die Freiheit führen sollte. Die Arbeit ging rasch und zügig voran, auch die Solaner halfen
eifrig mit. Eine rohe Schätzung ergab, daß wir bei Mobilisierung aller Kräfte knappe sechs Stunden brauchen würden. Ab und zu sah ich mich nach Ticker um. Der Adlerähnliche hockte auf einem Felsvorsprung und bewachte dort das Stück Jenseitsmaterial, das wir von der Lichtquelle bekommen hatten. Zwei Stunden waren vergangen, als wir wieder etwas von den Verstyrern zu hören bekamen. Der Posten, den wir aufgestellt hatten, berichtete uns, daß die Divisionen sich noch weiter zurückzogen. Ich sah Tyari an … Sie nahm sofort telepathischen Kontakt mit Shamryk auf. Ich sah, daß sie blaß wurde. »Der Torpedo der MJAILAM hat sein Ziel gefunden«, berichtete Tyari mit leiser Stimme. »Der äußerste Planet wird durch einen Atombrand zerstört, die Kontrollstation für den Nabel ist bereits vernichtet. Die Verstyrer haben gerade davon erfahren, und jetzt wollen sie uns aus dem Raum vernichten. Schiffe sind im Anflug, sie sollen uns beschießen.« Ich schluckte. Gegen einen Angriff dieser Art waren wir völlig wehrlos. Es gab nur noch eines, was wir tun konnten, um wenigstens das nackte Leben zu retten – wir mußten uns auf Gnade oder Ungnade ergeben. Tyari, die meine Gedanken erfaßt hatte, schüttelte den Kopf. »Sie wollen nicht verhandeln«, sagte sie schwach. »Sie wollen nur noch eins – uns töten.« * Shamryk preßte die Kiefer aufeinander. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, die sich berührten – Shamryk war gefesselt. Sein Spiel war verloren, und er wußte es.
Es war seine Schuld, daß die Fremden außerhalb die Kontrollstation für den Nabel hatten vernichten können. Damit konnte der Auftrag der Pagen nicht erfüllt werden, das Schicksal der Verstyrer war damit besiegelt. Daß die Niederlage Shamryk den Kopf kosten würde, lag auf der Hand; Shamryk machte sich da keinerlei Illusionen mehr. Nur eine Gnade hatte er sich noch ausbedungen – er wollte zusehen, wie die verstyrischen Raumschiffe die Solaner in ihrem Versteck vernichteten. Der Wunsch war ihm gewährt worden. Shamryk stand, von zwei Posten mit entsicherten Waffen sorgfältig bewacht, auf einem Felsplateau und starrte hinüber zum Eingang der Felshöhle. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Raumschiffe kamen und die Brut vernichtete, die dort versammelt war. Shamryk knirschte mit den Zähnen, er konnte es kaum mehr erwarten. Haß erfüllte seine Gedanken, und als er das Brausen der Triebwerke hörte, begann er boshaft zu lächeln. Nur noch ein paar Augenblicke … Das erste Schiff schwebte heran, dann ein zweites. In der nächsten Sekunde begannen die Geschütze zu sprechen. Die Strahlen trafen den Fels und zerschmolzen ihn. Glutflüssiges Gestein spritzte auf. Weitere Schiffe tauchten auf und beteiligten sich an der Aktion. Es konnte nur noch ein paar Sekunden dauern, bis die Felshöhle zusammenbrach. Einen Herzschlag später riß Shamryk fassungslos die Augen auf. Während mit ohrenbetäubendem Getöse das Gestein zusammenstürzte, wölbte sich aus den Trümmern ein leuchtendes Gebilde hervor – ein hellrot und hellgrün schimmernder Schutzschirm, der scheinbar mühelos dem Beschuß aus zahlreichen Geschützen standhielt. »Bringt Verstärkung her!« brüllte Shamryk, als habe er den Oberbefehl.
Von allen Seiten schossen die verstyrischen Raumer heran und eröffneten das Feuer. Ein Schirmfeld, das diesem Beschuß standhielt, konnte es einfach nicht geben. Es kam noch schlimmer … Entsetzt mußte Shamryk erkennen, daß das geheimnisvolle Feld nicht nur die Wirkung der Beschießung klaglos überstand – es war auch in der Lage, die auftreffende Energie zu reflektieren. In der verstyrischen Flotte gab es die ersten Ausfälle, eines der Schiffe trudelte aus dem Kurs, schlug einige Kilometer entfernt auf und explodierte, kaum daß sich die Besatzung hatte in Sicherheit bringen können. »Bei allen Sternenteufeln«, knirschte Shamryk, im Gesicht weiß vor Wut. Aus der Vernichtungsaktion wurde eine Katastrophe. Die verbissene Wut, mit der die Verstyrer nach alter Gepflogenheit jedem Feind zu Leibe rückten, wurde ihr Verhängnis. Anstatt zu erkennen, daß sie machtlos waren gegen dieses Schirmfeld, setzten die Kommandanten ihre Angriffe verbissen fort und verloren ein Schiff nach dem anderen. Und dann tauchte am Himmel eine neue Sonne auf, und Shamryk wußte sofort, daß es sich um die Explosion des äußersten Planeten des Verst‐Systems handelte. Die Auswirkung dieser Explosion erreichte auch Verst. Tektonische Beben schüttelten den Planeten, überall brach Panik aus. Nur der Haß ließ Shamryk ruhig bleiben und nicht die Flucht ergreifen, wie es die anderen taten. Die Niederlage konnte nicht vollständiger sein. Ein Teil der Raumschiffe drehte ab. Überall auf Verst herrschte Chaos, die Schiffe wurden dringend gebraucht, um bebenbedrohte Städte zu evakuieren und Hilfsgüter zu transportieren. Der Rest der Flotte setzte den hoffnungslosen Angriff fort. Shamryk sah, wie eines der Schiffe nach dem anderen durch die
Reflektion der eigenen Waffen zerstört wurde. Und dann griff ein neuer Feind an – aus dem Himmel schoß das fremde Raumschiff heran, das sich im Ortungsschatten der Sonne Verst versteckt hatte und das allgemeine Chaos nutzte. Zornestränen erschienen in Shamryks Augen, als er sah, wie das fremde Schiff die letzten verstyrischen Einheiten aus dem Feld schlug, neben dem Energiedom aufsetzte und die Schleusen öffnete. Das Schirmfeld brach zusammen. Es war niemand mehr da, der die Solaner daran hätte hindern können, in wilder Flucht in das gelandete Schiff überzusetzen. Der ganze Vorgang nahm nur zwei Minuten in Anspruch, und Shamryk mußte mit höchstem Grimm feststellen, daß es auf der Seite der Feinde keinen einzigen Verlust gegeben hatte. Das fremde Schiff stieg auf. Die Impulsströme aus seinen Triebwerken ließen den Boden glutflüssig werden, als es in die Höhe stieg und sehr schnell im Blau des Himmels verschwand. Wieder ballte Shamryk die Fäuste. Er hatte nur eine Hoffnung, – daß die Fremden an der Schockfront zerschellen würden. Aber er ahnte dumpf, daß sie auch mit diesem Hindernis fertig werden konnten. Aber das würde Shamryk nicht mehr erleben – er sah den Kampfrobot auf sich zuschreiten, die Waffe schußfertig auf Shamryk gerichtet … * Ich stieß einen Seufzer aus. Das abenteuerliche Unternehmen war vorbei, und es war ein voller Erfolg gewesen. Die Schockfront lag hinter uns, vor uns war der nun wieder offene Junk‐Nabel zu erkennen. Zwei Umständen hatten wir dieses Wunder zu verdanken. Zum einen dem Stück Jenseitsmaterial, aus der Ticker in buchstäblich
letzter Sekunde das rettende Schirmfeld geschaffen hatte. Der andere war Kleckel. Er hatte sich geopfert, um uns den Weg durch die Schockfront zu bahnen. Der Emulatorgeist in ihm hatte bei der Selbstzerstörung eine Strukturlücke in der Schockfront geschaffen, durch die wir zeitlich wie räumlich sehr knapp hatten durchschlüpfen können. Ich sah Tyari an. Zum ersten Mal seit geraumer Zeit hatten wir wieder Grund zum Lächeln. Hinter uns blieb die Basis zurück. Nach dem Willen der Lichtquelle sollte die Basis in der Namenlosen Zone bleiben. Die MJAILAM und die EMRADDIN stießen zum Junk‐Nabel vor. Die Abenteuer in der Namenlosen Zone waren vorüber – vorläufig jedenfalls. Ob es noch Überraschungen für uns gab, mußte die Zukunft zeigen. Ich hatte den Verdacht, daß noch weitere Aufregungen und Gefahren auf uns lauerten. Der Gegner im dunkeln gab so leicht nicht auf; jederzeit mußten wir mit weiteren Aktionen rechnen. »Ich bin gespannt, was sich in der Zwischenzeit auf der SOL abgespielt hat«, murmelte ich. »Breckcrown Hayes wird es uns sagen«, meinte Tyari. Der High Sideryt konnte mit uns zufrieden sein. So beklagenswert auch unsere Verluste waren – angesichts der Gefahren, die wir hatten meistern müssen, waren sie erstaunlich gering ausgefallen. Dennoch – jeder Tote war einer zuviel, und an Bord der SOL wogen Menschenleben noch mehr als anderswo, zumal in der angespannten Lage. Wahrscheinlich würden wir von etlichen Solanern bittere Vorwürfe zu hören bekommen. Das Bordchronometer zeigte den 17.7.3808 an, es war früher Morgen, als wir in das Normaluniversum zurückkehrten. Ein paar Augenblicke lang war die Stimmung an Bord der beiden Schiffe noch sehr angespannt gewesen – viele hatten insgeheim befürchtet, der Durchgang durch den Nabel könne trotz aller Erfolge von außen
noch manipuliert werden. Die Sorgen hatten sich als unbegründet erwiesen, der Durchgang vollzog sich ohne die geringste Panne. Sobald wir in unser Kontinuum zurückgekehrt waren, brach an Bord eine fieberhafte Tätigkeit aus. Während die Wissenschaftler den Nabel untersuchten, versuchten die Funker die SOL zu erreichen. Die ersten Ergebnisse lagen sehr bald vor. »Einundachtzig Stunden«, wurde mir erklärt. »Danach wird der Nabel endgültig in der Sonne Junk verschwunden sein. Damit ist er dann ein für allemal unpassierbar.« Ich sah Tyari an. Einundachtzig Stunden – wir hatten den Wettlauf mit der Zeit gewonnen, sehr sehr knapp. Ein paar Stunden länger, und wir hätten größte Schwierigkeiten selbst mit dem noch offenen Nabel bekommen – die Nähe einer Sonne wie Junk machte die Astronavigation außerordentlich schwierig. »Und was ist mit der SOL?« Die Antwort bestand aus einem Achselzucken. »Kein Kontakt, so sehr wir uns auch bemühen. Unsere Anrufe werden nicht beantwortet. Wir haben keine Ahnung, wo die SOL steckt.« Ich unterdrückte den Wunsch zu fluchen. Die Freude über unsere Rückkehr hatte nicht lange gewährt. Eine Reihe von Problemen hatten wir lösen können, dafür war ein neues aufgetaucht. Daß die SOL nicht aufzufinden war, würde die Besatzungen hart treffen. Vor allem die SOLANER, die zur DRONIA‐Besatzung gehörten, waren davon betroffen – der Verlust ihres Schiffes war schwer zu verwinden und konnte psychologisch nur wettgemacht werde, wenn die Besatzung sich wieder an Bord der SOL einlebte. Dazu gab es jetzt keine Gelegenheit – statt dessen mußten die Männer und Frauen weiter als Gäste an Bord der MJAILAM und der
EMRADDIN leben, willkommen zwar, aber in gewisser Weise doch Gäste. Mit der SOL als Rückendeckung waren diese beiden Schiffe hervorragende kampfkräftige Einheiten. Auf sich alleine gestellt, sah die Sache anders aus. Einmal mehr wurde mir deutlich, wie wichtig die SOL für ihre Bewohner war – die langen Gesichter in der Zentrale der MJAILAM machten das offenkundig. Seltsamer Widerspruch – die SOL war in erster Linie ein Raumschiff, genau wie die MJAILAM und die EMRADDIN. Für die Solaner aber war sie weit mehr, nicht nur der ungeheuren Größe wegen. Die SOL war ihre Heimat. MJAILAM und EMRADDIN waren Schiffe, die man bestieg und wieder verließ – die SOL war ein Ort, zu dem man zurückkehrte, wo sich die Solaner heimisch fühlten. Wahrscheinlich fühlten sie jetzt ähnlich wie vor langen Jahren die Terraner, als sie nach dem Verschwinden von Erde und Mond im Mahlstrom der Sterne im Sonnensystem keine Heimat mehr vorfanden. Ich sah auf den großen Panoramaschirm. Das Junk‐System war darauf zu erkennen, auch der Nabel, der unaufhaltsam auf die Sonne zuwanderte. In wenigen Stunden war er praktisch unpassierbar. Im Hintergrund war das Funkeln der Sterne zu erkennen. Es gab Tausende von Welten dort draußen, Planetensysteme, die Leben trugen. Milliarden von Lebewesen, von deren Existenz wir noch gar nicht wußten. Und irgendwo dort draußen war die SOL, unsere Heimat. Ich wußte, daß jeder an Bord fest entschlossen war, die SOL zu finden und zu ihr zurückzukehren. Falls es die SOL überhaupt noch gab ENDE
Dem Kerker der Ewigkeit entronnen, ist Atlan mit seinen Kreuzern ins Normaluniversum zurückgekehrt. Da er nahe dem Junk‐Nabel keine Spur des Mutterschiffs vorfindet, macht er sich auf die Suche. Er ahnt es nicht, aber die SOL ist gestrandet auf Zerberus … GESTRANDET AUF ZERBERUS – unter diesem Titel erscheint auch der nächste Atlan‐Band. Autor des Romans ist Horst Hoffmann.