Authentisch, ungeschminkt und engagiert erzählt Jack Unterweger von der Einsamkeit und Verzweiflung des Häftlings, von ...
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Authentisch, ungeschminkt und engagiert erzählt Jack Unterweger von der Einsamkeit und Verzweiflung des Häftlings, von Entfremdung und der ungestillten Sehnsucht nach Freiheit und Liebe, aber auch von Ignoranz und Zynismus der Justizorgane, die das Ausgestoßensein des »Kriminellen« in jedem Fall zu einem endgültigen machen. »Kerker« klagt an, rüttelt an den Grundfesten des Strafvollzugs, der Sinnhaftigkeit seiner Praxis und trifft den Nerv eines der großen, ungelösten Probleme unserer Gesellschaft.
JACK UNTERWEGER
EDITION WIEN
Umschlagphoto: Strafanstalt Stein, Fassade © Johann Klinger
2. Auflage 1992 ISBN 3-85058-058 © Copyright 1990 by J&V Edition Wien Verlagsges.m.b.H. Wien © Copyright 1992 by J&V • Edition Wien • Dachs-Verlag Ges.m.b.H. Wien Alle Rechte, insbesondere das des auszugsweisen Abdrucks und das der photomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Umschlag: Bruno Wegscheider Satz: Tau-Type, Bad Sauerbrunn Druck und Bindung: M. Theiss, A-9400 Wolfsberg
Inhaltsverzeichnis
ENTLASSUNG MIT RÜCKFAHRKARTE.................... 7 BESUCHSEMPFANG................................................. 132 KERKER ...................................................................... 142 Benommen vom Vergangenen .................................. 142 Sechs bis sieben Uhr dreißig...................................... 149 Sieben Uhr dreißig bis elf.......................................... 161 Ich werde vorgeführt ................................................. 172 Mittag....................................................................... 177 Dreizehn Uhr............................................................ 185 Nachmittag ............................................................... 191 Abend ....................................................................... 197 Irgendeine Nachtstunde ............................................ 201 DIE BESTRAFTE ZEIT .............................................. 204 DER AUTOR .............................................................. 232
ENTLASSUNG MIT RÜCKFAHRKARTE Ich war 23 und gierte nach Leben, Lust, Hot Love! In den Gedanken: Agression, Wut, Ohnmacht und Allmacht. Das Erwachen vermischt mit wilden Gefühlen in der Zeit zur Morgendämmerung. An diesem Morgen, dieser späten Nachtstunde, kreischten meine Nerven und verhinderten ein weiteres Bettspiel. Später ertönte die Sirene dreimal, grell, Gänsehaut erzeugend und befehlend: Tagwache! Für mich wieder einmal zum letzten Mal. Für diesmal. Ich erwartete meine sechste Entlassung, die bereits nachts, in den Pausen zwischen einem unruhigen Schlafen, begonnen hatte. Mein Körper, verschwitzt und von drei kratzenden Decken der Justizverwaltung bedeckt, als Person ohne Eigentum, lag gerädert und doch zu nüchtern im Bett. Gegen Mitternacht, zum dritten Mal in dieser letzten Zuchthausnacht, onanierte ich, um müde zu werden. Und nicht zu nervös am Morgen, beim Anblick der ersten Weiblichkeit nach mehr als zwei Jahren. Es gab keine Vorbereitung auf die Freiheit, in wenigen Minuten läuft der Vorgang ab: von der totalen Verwahrung in die Hektik des Lebens. Vorgestern. Gestern. Heute, wie lange noch? Der Sprung ins eiskalte Wasser: Friß oder verreck in der Abwandlung: Steh’s durch oder kehr’ wieder! Ich hatte Erfahrung und glaubte keinen Worten mehr. Die Wut war Begleitung. Als Ablenkung dienten Träume. DA CAPO! Lähmend. Abgenützt und dann wieder gepflegt wie der berühmte Strohhalm Hoffnung. Das Leben könnte anders ver7
laufen, anders werden und dann das Wissen, die Erkenntnis im Eisberg. Viehisches Dasein durch die Zeit, eingeschlossen im eigenen Satanskreis aus Reaktionen, Wildheit und Sehnsucht nach Inhalten. Wenige Tage, Nächte, manchmal nur Stunden, waren es, in denen Frau, in Kopfbildern, als Zukunftsstern, nicht als Hauptrolle und Komparsin spielte. Eine kam öfter vor. Aus Erinnerung das Traumbild gezeugt. Abgetrieben aus der Vergangheit. Mit ihr im Hirn Entspannung gesucht und an die andere gedacht. Erfundene Zukunftsträume. Pascha und Wolf und Frierender. Herkules und Schwächling. Irreale Vorstellungen in den Nachstellungen, um nicht mit dem Kopf voran gegen die gelblichschmutzige Mauer zu rennen. Tobend. Mit Schaum im Hirn und vor dem Mund. Der Kampf gegen das teuflische Ego, um nicht das Hirn als Schleimmasse von der Wand scheren zu müssen. Liebeslust reduzierte sich in den Handreibungen zur Lustliebe. Danach, beim Suchen nach Wärme, das Gefühl, in den Handflächen die Venus. Der lange Hunger giert. Leere. Scheingierigkeiten. Dann die klebrige Nässe im Handtuch. Zum wievielten Mal? Wer zählt, quält sich masochistisch durch die Kälte. So vergeht die Lust beim anschließenden Weg zum Waschbecken. Händewaschen. Kaltwasser. Ekel vor sich selbst. Niemals in den Spiegel blicken, hinterher … Liebe und Sehnsucht im Hunger nach Berührungen. Sexualität und Leidenschaft ist den strafenden Behörden peinlich. Verdrängen. Ich fand keine Öffnungen. Verkümmern oder sich im Alleintrieb durch die Kerkerzeit retten. Irgendwie. Mittelwege sind ausgeschlossen und oft als Dummheit 8
im Ergebnis. Niemanden kümmert das. Wer nicht betroffen war und ist, schweigt oder aktiviert sein nazistisches Dagegensein. Verbrecher haben kein Recht, Probleme und vielleicht auch noch menschliche Bedürfnisse, Sehnsüchte und sexuelles Innenleben zu haben … Meine Zeit war vorbei. Endgültig. Das System mit seinem lügenden Machtgefüge war mir gleichgültig geworden, wie ich es ihnen in der ganzen Zeit meiner Haft war. Die Ohnmacht, die hassende Wut aus ihr, war zu kräftig entflammt, um noch einmal in den Kanal der Nachgiebigkeit, einsehend und kleinwerdend, eingelenkt zu werden. Fünfmal hatte ich den schönwörtlichen Neubeginn ohne ihre Hilfe versucht, ernstlich allein, und die Vergangenheit blieb stärker. Irgendwer sorgte immer dafür, daß der, der einmal im Dreck gelandet ist, nicht mehr den Weg ans Licht findet. Jene, die die Macht haben, um andere wegzusperren, auszuschließen, zu isolieren, haben Angst, daß der aus dem Abseits, dem Dreck, zu viel vom Liegen im sozialstaatlichen Kot, den die Regierenden wegleugnen und vor Wahlzeiten mit hohlen Phrasen verschönern, erzählen könnte. Die Mächtigen und ihre Gesellschaft brauchen den Spucknapf. Ich kannte die Folgen und hatte keine Lust mehr, müde zu werden, bevor mein Hunger nicht gestillt wäre. Jetzt nicht mehr, sagte ich allen. Scheißdrauf! Kein primitiver Grunzer, nein, ganz deutlich langsam, buchstabenbetonend langsam: SCHEISSDRAUF! »Kommst wieder, wie alle«, sagten sie in ihrer Uniform und lachten. 9
Begleitende Gleichgültigkeiten. Die Tage mußten vergehen. Irgendwie. Für sie. Für mich. »Idiot!« sagte ich, mehrmals wiederholend, nahe der Hysterie. Schreie, um den Haß freizulassen. Einer von ihnen zählte mit. Viermal. »… muß ich Sie zu zwei Tagen Absonderung abstellen lassen, weil Sie sich zum wiederholten Male aufsässig, frech, ungebührlich aufgeführt haben«, sagte der Referent der Strafabteilung. Ich hatte nur noch vier Tage bis zur Entlassung, er durfte mir nicht mehr als zwei, die ich im Keller unter dem Zellenbau, in einem nassen, inventarlosen Raum verbringen mußte, geben. »Könnt mich alle!« sagte ich. »Meine Zeit ist abgelaufen!« »Raus! Abführen!« Der Referent brüllte mit hervortretenden Venen an den Schläfen. Und leiser: »Schade, daß Sie schon im Abgang sind, daß nicht mehr Bunker möglich ist! Sie hätte ich auch noch kleingekriegt.« Ich nickte. Seine Worte waren Wahrheit. Der Sinn der Strafzeit lag immer noch bei Kleinkriegen durch Kleinmachen und im Zerstören der letzten Eigenheiten der Person. Im Bunker, in der normalen Zelle war es selten anders, sie lehnten mich ab, ich sie schon lange, eine Gegenseitigkeit mit paritätischen Auflauerungen, vertrieb ich die Zeit mit Gymnastik, dem Zusammensetzen alter, zerrissener Zeitungsreste, und bei etwas Glück fand ich ein erhalten gebliebenes »SeiteFünf-Mädchen«. Lockende Schönheiten auf dem porösen Betonboden und alte Neuigkeiten aus dem Schnee von vorgestern … 10
Dies war Vergangenheit. Und noch sechzig Minuten Gegenwart. Ich träumte von einer Frau, der ersten nach Ewigkeiten. Mein Ziel war Angriff. Neu anzufangen. Auf die andere Art. Ich wußte nicht, was ich wollte, ich wußte nur, was ich nicht mehr wollte. Der Entschluß stand fest: nicht mehr aufund auf keinen Fall mehr nachzugeben. Va Banque! Das Leben auskosten. Zukunftsgläubigkeit war längst erstarrt. Um sechs kamen sie. »Und nun zur Polizei!« sagte der Wortführer. Uniformierter Triumph. Mein schabloniertes Grinsen, in Erwartung des schwarzen Humors, verklemmte sich. »Oder hast Geld?« Aha. Das Hirn begann zu begreifen. Polizeiverwaltungsstrafe als Zusatz zur Gerichtsstrafe. Dort aber ohne Richter und Anwalt und Verteidigungsmöglichkeit, von einem Polizeiverwaltungsbeamten. Österreichisch: »Mia wearn kan Richta brauchn! Weana Gmüat zwischen Saubraten, Knödel, Gamsbart und Frostschutzwein ein wenig Ignoranz. Nur kane Well’n schloag’n!« »Wieviel?« »Dreihundert oder drei Tage Ersatzarrest wegen Verstoß gegen das Meldegesetz …« »Soviel liegt in der Kassa.« »Pech«, sagte er und grinste, »mit diesem Geld kannst das nicht zahlen, das bleibt versiegelt bis zur letzten Minute.« »Meine Zeit ist doch zu Ende!« 11
»Ja, von hier, vom Gericht, aber ganz entlassen bist erst, wenn’s die Polizei dann macht, und bis dahin bleibt alles versiegelt.« Die vier lachten um die Wette. Guter Witz um sechs Uhr Früh und ohne Faschingszeit, ihr Narren! »Scheiße!« »Also?« »Wahlgang für einen stimmlosen Kandidaten …« Im Transportwagen, Marke VW-Klapperbus, ein Zellenwagen für Kurztransporte, fensterlos, vergittert, nur mit einem Guckfenster zum Fahrer vor, freundete ich mich, süßlich in seinen Mastdarm kriechend, mit dem ältlichen Begleiter an. »Hast die Dreihundert nicht?« »Im Depotsack, der neben Ihnen liegt.« Seine wäßrigen Augen wanderten vom Fahrer zu mir und dann zum Depotsack. »Normal geht’s nicht«, sagte er leise, fast im Flüsterton, »aber, naja, von mir aus …« Und nach einer Fahrt über drei weitere Kreuzungen: »Wartet sie schon, äh …« Ich nickte, verdrehte die Augen gegen das Autodach. »Nach mehr als zwei Jahren …« Und alles war Lüge und Verrücktheit, mit dem ich ihn zum Komplicen gegen die Vorschriften gewann. Auf mich wartete niemand. Er schob seine Mütze noch weiter ins Genick. Vor meinen Augen kauerte und quakte eine Kröte: »… von mir aus, hab’ ohnehin schon sieben Leute unten.« Im Arrest angelangt, den Koffer hatte ich hinter die Tür gestellt, öffnete er das versiegelte Kuvert der Strafvollzugsanstaltskasse. »Sind aber nur zwei Tausenderscheine«, sagte er mit Enttäuschung in der Stimme. »Da geht nichts, ich hab’ 12
kein Wechselgeld und um die Zeit kommt kein Hund zum Strafzahlen.« Es war kurz nach sechs. Nacht noch. Winternacht. Anfang Jänner ohne Silverstererlebnis. »Gegen acht könnte ich in einem Geschäft …« Er schüttelte den Kopf. »Da löst mich Humbert ab, und der spielt da nicht mit, du müßtest schon jetzt umwechseln können.« »Bei einem Bäcker, in einem Hotel …« »Aber kein Fersengeld, he!« Angstarschiges Denken. Ich konnte nicken und war froh, wegzukommen. Meinen Koffer mußte ich zurücklassen. Die Übergabe des Geldscheines begleitete er mit heftigem Augenzwinkern. »Und komm zurück, bevor mich Humbert ablöst!« Ich ging. Nickend. Wütend, überzeugt, in kurzer Zeit frei zu sein … Der Bäcker wechselte nicht. »Kann nicht«, sagte er und ich war überzeugt, er wollte nicht, weil ich in meiner Hastigkeit auf eine Kundenrolle vergessen hatte. Im Hotel ohne Portier kam, nein, trippelte eine kurzberockte Blondine die Treppe herunter. Serviererin im schwarzen Rock und weißer Spitzenschürze. »Suchen Sie jemanden?« sagte sie und ihre Blicke schätzten mich ungeniert ein und ab. Von den Haaren bis zu den Schuhen. Aus meiner Überraschung, Verlegenheit quälte sich ein verzerrtes Lächeln, einschließlich treuschwerem Augenaufschlag. Hirn und Sinne landeten orkanartig in den Lenden. 13
»Später!« sagte ich und rasselte mit der linken Wimper nach zweideutigen Varianten in diesem Später. »Jetzt brauche ich Erste Hilfe!« Ich war fremd in dieser Stadt. Das Landesgericht hatte mich hierher abgeschoben, um meine Zeit zu erschweren. Die Besuchsreisen von Angehörigen, die es für mich nicht mehr gab, wären zu Problemfahrten geworden. Mich hat niemand besucht. Das Unbekanntsein war jetzt Vorteil. »Ich komme von der Polizei und die warten auf mich …« Sie lächelte, die Augen lauerten. Ich legte meine Hände, die Innenflächen vom Schweiß verklebt, auf ihre Schultern. Irgendetwas lag in unserem ersten Blick. Sie lächelte weiter und in den Augen tanzten Punkte und Fragen. Ich zog sie an mich, langsam, dann fester, wilder, unbeherrscht. Ihr Lächeln blieb, wurde breiter. Der erste, zaghaft begonnene, stürmisch fortgesetzte Kuß, nach mehr als zwei Jahren Eis auf den Lippen! Jahresanfang. Frische von Leben und Freuden. Freiheit. Liebeslust und der kleine Sieg in den Berührungen unserer Zungen … Ihr weicher Körper an meinem … »Das reicht«, sagte sie und entwand sich mit einer Körperdrehung aus der Umarmung, die eine Umklammerung geworden war. Affenartig. Besitzergreifend. Sie lächelte wieder. »Ich hab’ noch Frühstücksgäste, die warten!« »Warten habe ich geübt …« 14
Ich litt durch den Druck der entflammten Leidenschaft. »Mist!« »Wieso so stürmisch?« »Das und noch was anderes. Die Polizei sitzt auf meinen Sachen und wartet.« »Für wie lange?« Ich lachte mich in die Befreiung aus einer inneren Sperre. Umwandlung der Unsicherheiten. »Jetzt nicht mehr«, sagte ich aufklärend, »diese Zeit ist vorbei, aber ich muß denen noch Dreihundert bringen, sonst werden es noch weitere drei Tage.« Schäfchenwolken trübten ihr Gesicht, die Augen bekamen asiatische Züge und ihr lockendes Lächeln begann zu trocknen. Schnell nestelte ich den Tausenderschein aus der, durch den lustvollen Gefechtssturm eng gewordenen Hosentasche. »Kein Trick, ehrlich!« Ihr Gesicht wechselte in den Sonnenaufgang. »Die können nicht wechseln und so …« »Wechseln kann ich auch nicht«, sagte sie und nahm ihre schwarze Kellnerbrieftasche unter der Spitzenschürze hervor, »aber wenn du mir versprichst, daß du um zehn hier bist …« Sie gab mir drei Hunderter. Ich nickte und stotterte und mußte keine Worte in dieses Versprechen investieren. Die Finger berührten sich, während ich das Geld übernahm, als erstes und dann folgte die Explosion in einer Spontanitätsreaktion … »Aus!« Sie atmete schwer, hastig, riß sich los und rannte die Treppe hinauf. Minuten, Sekunden in einem relativierten Schwebezustand, waren zu Ende. Ich blickte ihr nach, bückte mich, um mehr 15
von den langen Gleisen zu sehen, die in einem traumhaften Hauptbahnhof enden mußten … Am oberen Treppenabsatz angekommen, wandte sie sich um, lachte mit erhitzten, rotgefleckten Wangen. Sie biß sich in die Unterlippe, ich ertappte mich, wie meine Zunge die eigene Unterlippe streichelte … Mein Blick strömte aus Glotzaugen. Sie nickte, lächelte, winkte und entschwand durch eine Glastür, rechts der Treppe. Jede Faser in mir glühte und ich streckte mich, straffend, wie im Kerker, wenn die Zeit ungünstig war und begann, alleingelassen vor einer unbesetzten Rezeption, mit Kniebeugen. Trainierte Lusttötung. Irgendwann kehrte ich zur Polizei zurück. »Ich dachte, du wärst abgehauen!« sagte der Glatzkopf und trocknete seine Hände am Hinterteil, links und rechts der Uniformhose. Mein Koffer lag vor ihm am Tisch und daneben ein begonnenes Aufnehmen ins Effektenverzeichnis. »Ich wollte eben anfangen!« Meine Sachen waren durchwühlt und lagen zum Teil schon auf der Tischplatte. Ich schwieg und dachte: Schweinskerl! Nachdem er meine Dreihundert an sich genommen, in eine Liste ein- und aus einer anderen ausgetragen hatte, ordnete ich, ganz langsam, die Mundwinkel zu einem Grinsen verzogen, meine Kleider. Er schwieg, ließ mich gehen. Wortlos. Er wollte nur seine Ruhe und ich endlich frei sein! Mein Hunger galt nicht einem Steak, Wildbraten oder etwas vom Grill und auch Alkohol blieb noch vergessen, dafür gierte alles in mir nach Leben, Liebe und Lust! 16
Augenblicke wurden von Fragen besetzt und ich gab ihnen keine Berechtigung mehr. Mehr als zwei Jahre hatten sie mich kreaturenhaft gehalten, ich war bereit, gegen meine anderen Gedanken, ihnen allen das durch ihr System gezüchtete Tier zu präsentieren. Handlungen wurden zur Reaktion auf die Vergangenheit, zu Antworten auf Zustände. »Nur wenn’s sein muß!« Sie ging vor mir, führte zielgerichtet. »Der Chef ist kein Trottel, zumindest ein Einbettzimmer mußt nehmen, sonst reagiert er sauer, wenn du jetzt im Gästezimmer herumsitzt und auf mich wartest!« Ich blickte auf die Uhr, ging hinter ihr und bewegte mich unbewußt im Takt ihrer Hüften. Der Flur hatte Richtungsänderungen, und ich fluchte leise über die Langsamkeit des Fortkommens. Endlich im Zimmer. Ich stellte meinen Koffer ab, zog sie aus der halboffenen Tür nach innen, preßte sie mit meinem Körper dagegen und schloß ab. Die Gier hatte zu lange auf das Fressen warten müssen. Der alte, neue, vertraute, in vielen einsamen Stunden ersehnte Duft, erdrosselte Verstand und Umgebung. »Muß es … jetzt schon … kannst nicht … zumindest eine kurze Zeit no …« versuchte sie ihren Zeitdruck in Aussagen zu kleiden, die ich mit meinen wilden Zungenspielaggressionen zerhackte. Der Koffer stand uns im Weg und ich torkelte längst im Unzurechnungsfähigkeitsstadium. »… So warte doch …, nicht so …, ich muß noch zu meinen Gästen …, die werden warten …« sagte sie in den Luft17
schnappausen und ich verstand die Bedeutung nicht mehr. »… gleich, sojanichtgleichdoch …« Ich gab keine Antworten. Sie war aufbereitet, geübt und hatte wenig Zeit. Das Zimmer hatte kaum die Größe einer Zuchthauszelle, und wir stürzten aus unserem Paarlauf aufs Bett. Ihre Hände, ihr Mund aktivierten meine Jetzt-Zeit mit aller Vergessenheit, vom Hirn bis zu den Zehen. Die Welt: sie war einmal! Die Menschen: wie banal in solchem Glücksempfinden. Ich donnerte durch die Flugbahn und wollte in ihr verharren bis zum letzten Atemzug. Festhalten. Anhalten und dann war es zu spät. Vorbei. Vergangenheit. Nüchternheit kehrte zurück. Unwiderruflich in der grellen Kühle. Ohne Bedenkzeit und Einspruchsfrist. Alles war, und sie saß vor mir an der Bettkante, überrascht und mit Täuschungsschatten in den Augen. Ihre Haare waren zerzaust wie die Kleidung durcheinandergeraten war bei der Entdeckungsgrabung durch meine raffenden Hände. Namenloses Geschehnis lag zurück. Ohne Gemeinsamkeit, entstanden aus einem ersten Blick und keine Frage mehr, wer der andere ist. Ich rollte vom Rücken in die Seitenlage und fühlte die Peinlichkeit in der Leere. Die Hitze war zu stark, die Brandwunden brachten noch keinen Tod. Alles war so rasch, unbeherrscht verloren gegangen. Der Unterschied zur letzten Nacht lag jetzt nur darin, daß sie statt mir zum Waschbecken und Spiegel ging … »Scheiße!« sagte ich und wurde von erschreckten, traurigen Blicken getroffen. »Nein, nein! Bist nicht du gemeint, du kannst nichts dafür!« Ich erzählte ihr von den Vorbereitungen der letzten Nacht. »Und was ist jetzt? Alles umsonst. Kein Training scheint zu wirken, es liegt allein an mir.« 18
Sie lächelte wieder. Nickte, spülte den Mund, wusch sich das Gesicht und brachte die Haare und Kleidung in solide Ausstrahlungskraft. »Ich muß jetzt gehen!« Zwei Blusenknöpfe gehorchten nicht ganz freiwillig, der Drang des Inhalts, den sie beschützen sollten, schien zu gewichtig. »Aber wie gesagt, gegen Zehn hab’ ich frei!« »Ich bleibe hier!« Es blieben noch knapp mehr als neunzig Minuten. Ein Wink zweier Hände, ein darauf gehauchter und zum anderen geschickter Kuß beendete das erste Zwischenspiel. Als sie, leicht verspätet, kam, hatte ich den Raum mit Sehnsüchten gefüllt und die Vorhänge vor den grauen Tag gezogen. In meiner meditativen Akrobatik war es ein Kampf gegen das Schwachwerden in den Gestaltungen für die kommende Zärtlichkeitsstunde. Die Reihenfolge hatte keinen Plan, es entsprang dem Wissen der Wünsche, für die vorangegangene, egobezogene Kurzdarbietung eine Rehabilitation anzubieten. Mit Inhalten und Langzeitbereitschaften … »Und jetzt?« Irgendwann kommt immer das Danach. Es war romantische , nebelgraue Mittagszeit. Sie setzte sich auf, rückte etwas von mir ab, und dann sah ich die ankommenden Eisschollen im Strom des Gehabten zwischen uns. »Du … –, wie soll ich’s dir jetzt sagen …, schau, ich bin nicht immer allein …, mein Freund und ich gelten hier im Haus als verlobt …« »Gusch!« Und ein wenig schwächer: »Sei still, sag nichts 19
mehr!« Der Brand aus dem Feuer bekam den Gestank der kalten Asche aus der Angst. Chaos. Lüge und Wahrheit, und alles traf voll. Die Gier war gestillt, wollte ich mehr? Mit wenigen Grad Fahrenheit über dem Gefrierpunkt. Davor, fast nur zum Glück für Hinterher, wäre eine sentimentale Herzmusik zum Siedepunkt gelangt. Ihre Beichte, so kurz danach, noch vor Beseitigung der Spuren, bestätigte mir die Unerreichbarkeit des bürgerlichen Beziehungslebens. Sie war verlobt, und ich ohne festen Wohnsitz unterwegs. »Gehen wir in ein Café« Sie nickte. Wir standen nebeneinander beim Waschbecken und halfen uns bei der Reinigungszeremonie, ohne den Namen des anderen zu kennen. Ich lauschte nach innen und hörte das Bersten von brechendem Eis. »Enttäuscht?« Ich blickte sie an. »Himmelhochjauchzend!« »Ihr seid alle gleich!« Sie traf meinen wunden Punkt in der Verallgemeinerung. »Ich bin nicht alle!« Sie begann zu lächeln wie am frühen Morgen, und doch fand ich nicht mehr die gleiche Schönheit in ihrem Gesicht. »Mein Verlobter ist Baggerfahrer …« »Bist du Mimose oder Masochist?« Die Antwort kroch aus meinen Augen. »Stimmt ja«, sagte sie, »brauchst gar nicht so zu schauen! Zuerst wollt ihr nur schnell ins Bett kommen, und wenn wir Frauen dann den Spieß umdrehen, werdet ihr Männer immer gleich penetrant und beleidigte Eitelkeiten!« 20
»Versuch’ einmal aus der Mehrzahl eine Einzahl zu bauen, dann könnten wir uns gut unterhalten und sag’ ruhig deine eigene Meinung, nicht diese Emanzenphrasenschlägerei!« »Spielst auf zynisch, was, um als guter Sieger abzutreten. Sieh doch mal den Hintergrund an: ich geh’ dir …, na, du weißt schon, das vor und wenn alle Antennen stimmen, spiele ich nicht lange herum, aber dafür will ich dann auch die Regeln bestimmen …« Ich spielte gähnende Müdigkeit. Ihr Mund verzog sich zu einem, nicht mehr so selbstbewußten Lächeln. »Du suchst sicher eine, die für dich auf’n Strich anschafft!« Ihre Augen suchten mich mit Hilfe des Spiegels, vor dem sie stand und ihre Brüste trocknete. Daran, daß ich mich als Parasit weiblicher Lustverkäufe betätigen könnte, hatte ich noch nie gedacht. Ihre Worte aber waren Feststellungen und ich wollte ihre, wahrscheinlich in miesen Gaunerfilmen angeeignete Personenkenntnis nicht zerschlagen. »Eine? Davon kann ich mir nicht einmal ein Fahrrad kaufen, ich suche drei bis vier, und wenn du Laune dazu hast, kannst als Hauptdame an meine Zügel kommen! Du siehst gut aus, dumm bist auch nicht …« Jetzt grinste ich wie ein Haifisch beim Anblick der Beute, und sie speicherte meine Ironie als ernste Fragestellung. »Hab’ ich mir schon am Morgen gedacht, weißt, als Frau fühlt man sofort, wer der Mann ist …, aber ich bin nicht für so was!« Ihr Urteilsvermögen ärgerte mich. »Dein Klugscheißertalent kotzt mich an!« Sie hatte sich angezogen, trat zwei Schritte zurück. 21
»Zuhälter prügeln ihre Frauen!« sagte ich und setzte nach: »Aber das tun auch Familienväter, die sind da nicht immer zimperlich, wenn es darum geht, zu zeigen, wer der Herr im Haus ist!« Ruhiger: »Gehst auch in die Kirche? Erste Reihe und mit Augenaufschlag die Sünden bereuen, danach in den Park zum vorehelichen Ge… « »Hör auf!« Sie schrie und preßte die Hände auf die Ohren. »Mußt du so gemein sein?« »Der Anfang kam nicht von mir.« Der Raum bekam zuviel Enge. »Gehen wir in ein Café und unterhalten wir uns in Ruhe, was sich ergibt, wird sich herausstellen!« »Mein Verlobter wird bald …« »Jaja, schon gehört von ihm!« Das Eis war nicht mehr zu sehen, und wir verließen das Zimmer mit Vorsichtsabstand. Die Wortsalven hatten die animalischen Anziehungspunkte in uns nicht beseitigen können. »Aber kein Satz mehr zum Strich!« sagte sie, und ich überlegte, warum sie das Thema immer wieder erwähnte. »Und kein Wort über deine Existenzsicherung!« Sie blickte mich fragend an. »Welche Existenz?« Ich lächelte. »Ist er mehr als das?« »Dummkopf!« sagte sie, und ihre Augen spielten den Verrat zu mir herüber. Wir erreichten die Treppe, ein Mädchen im blauen Arbeitskittel und Kopftuch versperrte uns, bewaffnet mit einem Eimer Wasser und Putzlappen, den Weg. »He, brav bleiben!« Die Blondine zog mich, an der Hand haltend, weiter die Stufen abwärts, während ich mich umwandte und die graue 22
Putzsklavin näher betrachtete. »Warte, bis ich mehr Zeit habe!« Ich begleitete diese zweideutige Drohung mit gestrecktem, in die Höhe gehaltenem Mittelfinger. Sie mußte Siebzehn sein, dachte ich und ließ meine Augen durch die Arbeitskleidung, über den kleinen, üppig ausgestatteten Körper, den festen Waden an den sonst eher kurzen Beinen gleiten. Sie stand als Putzfrau auf halber Höhe der Treppe und die langen Haare waren als Pferdeschweif unter das Kopftuch vergewaltigt worden. Ihre Alltagsrolle verringerte die übliche Fremdheit beim ersten Aufeinandertreffen. Gegenüber der Dienerin agiert der Urtrieb herrischer, primitiver als sonst, oder auch nicht. Vielleicht war in meinen Handlungen nur das schlummernde, verdrängte Tier am Werk. Das Vieh ohne Kinderstube und ausgerichtet auf Objekterfassung, ungeachtet der Wandlungen, hingeführt zur eigenen Tränke und überladen mit einer kalten Wut der letzten Minuten. Wer war sie schon, die Kleine mit dem Putzlappen? Ich sah nur ihre Augen, den Busen und hörte im Hirn die feinen Herrschaften, wie die solche versklavten Weiblichkeiten kommandierten, für sich benützten. Sie lachte laut und stellte sich aufrechter in Präsentation. »Ich denk’ ja nur«, sagte sie und blickte zur Blonden neben mir, herausfordernd in Blicken und Tonfall, »weil ihr aus einem unbesetzten Einzelzimmer kommt!« Bevor die Blonde oder ich reagieren konnten, fügte sie hinzu: »Soll ich neue Bettwäsche überziehen?« »Du irrst, wie immer«, sagte meine Begleitung, »das Zimmer habe ich für ihn eingetragen, und außerdem kümmer’ 23
dich um deinen eigenen Dreck!« Blondinchen tippte an die Stirn und sagte zu mir: »Gehen wir, die spielt immer die Neiderplatte ab!« Nachdem mich die Blonde mehr gezogen, als daß ich freiwillig gegangen war, aus dem Hotel, auf der Straße hatte, fragte ich, innerlich irritiert vom Anblick und unzufrieden mit der Art, wie die Kleine von ihrer Kollegin abgetan worden war: »Wer ist sie?« »Trampel für Alles!« »Nicht zu verachten«, sagte ich, »hat schöne Augen und auch sonst.« »Täusch’ dich nicht, in einer halben Stunde weiß jeder im Hotel, daß ich bei dir war.« »Sieht gar nicht so mies aus!« »Du kennst sie eben nicht«, sagte sie, blieb stehen und leise fügte sie, mich wieder, wie am frühen Morgen und mit geschlitzten Augen abschätzend, hinzu: »aber ein großer Busen und stramme Beine genügen wohl, daß dein Hirn steht!« Sie begann schneller zu gehen. Im Café angekommen, bestellten wir Tee mit Milch und Nußtorte. »Geht dir nicht aus dem Kopf, was?« Ich blickte mich um, suchte das Ziel ihrer Fragestellung. »Nein, nein! Nicht hier«, sagte sie, nachdem sie meine Augen auf der rothaarigen, mit einer Rubens-Figur bestallten Kellnerin parken sah, »ich meine unser Putzweib. Die wäre sicher gut geeignet für deine Pläne …, na, und so schwer ist die sicher nicht zu haben.« Sie tippte wieder an ihre Stirn. »Da drinnen fehlt ihr ein wenig was!« 24
»Schmeckt ausgezeichnet«, sagte ich und meinte das Tortenstück, von dem ich viel zu große Bissen in den Mund stopfte, um nicht sofort eine Antwort geben zu müssen. »Weil du vom Leicht-zu-Haben sprichst, scheint das Hirn keine Rolle zu spielen …« »Wie meinst das?« »Na, bei dir hatte ich nicht gerade viel Mühe …« »Schwein!« Ich hatte ihre Eitelkeit getroffen, die schon wieder Ausdruck einer Dummheit war. »Nur keine Szene«, sagte ich, »was ich war oder bin, spielt keine Rolle, aber wie du die Kleine von euch behandelst, sie mir als Billigware, ein williges, dummes Pferdchen angeboten hast, ist nicht gerade die feine Art!« Zuerst schwieg sie, dann: »Ich dachte an dich, wollte dir helfen.« »Erstens suche ich mir meine Ware selbst aus und zweitens scheiß’ ich auf deine Gedanken, von wegen, mich oder meine Pläne zu kennen. Nichts kennst! Du langweilst, schimpfst und kaufst!« »Warum so gemein?« »Wenn du jetzt noch heulst, vermittle ich dich zum Film, dort sucht man perfekte Schauspielerinnen!« Ihr Teint entwickelte sich zum Sonnenbrand. »Und dann dein Baggerfahrer, die große Liebe und Treue …« »Ekel!« »Ich liebe Blumen! Ist doch so: alle tun es und träumen davon, aber niemand war es dann, wenn es peinlich wird.« 25
Sie wurde nervös, ich beobachtete sie und die Richtung ihrer Blicke, zeigte ihr aber nichts davon und stellte mich unwissend. Sie sah durch das große Fenster auf die Straße, dann auf die Uhr … »Er kommt!« »Wer?« »Meine langweilige Platte!« Ich lachte. Wir feierten wortlose, innere, durch Strömungen verursachte Wiedervereinigung. Pluralistisch und ehrlich wie in der Politik. Ich stand auf, ging, sagte noch: »Soll ich ihm ein Foto von mir überreichen?« »Geh’ jetzt! Bitte! Sonst spinnt er wieder.« »Und wenn wir uns im Hotel sehen?« »Wenn er nicht dabei ist, kein Problem, du Scheusal!« »Küßchen!« Ich verbeugte mich. »Ach, hau doch ab!« Ihre Worte hatten keine Einigkeit mit Stimme, Augen und Lachen. Im Vorbeigehen, wir trafen uns in der gläsernen Schwingtür, wandte ich mich hinter seinem Rücken um und warf ein Kußhändchen zu ihr zurück, das sie mit geballter Faust erwiderte, die sie, wie zufällig, da er sie bereits ansteuerte, beobachtete, auf die Nasenspitze preßte. Ich lachte laut auf, verließ das Café endgültig, verstand ihr Verhalten und ging zurück zum Hotel, wo ich nicht mein Zimmer als Ziel hatte, sondern die Kleine, wie ich sie in Gedanken festgesetzt hatte. Meine Schritte wurden schneller, eckiger gemacht durch die neugierige Erregung, die sich in mir ausgebreitet hatte … »Geht’s oben?« Ich begleitete meine Frage mit einer Kopfbewegung. Die Kleine war immer noch mit dem Reinigen der 26
Treppe beschäftigt, wir standen uns in Berührungsnähe gegenüber und hatten beide fragende Augen, das Gesicht von einem Lächeln umrahmt. »Oder ist die Zeit zu knapp?« »Reicht Silvia nicht?« Ich zuckte die Schultern und hatte keine Lust für ein Spiel mit Gegenfragen statt Antworten. »Silvia? Ich kannte nicht einmal ihren Namen. Sie sitzt jetzt im Café und neben ihr ein Baggerfahrer, dem sie die Treue ins Ohr singt oder sonstwohin.« »Deshalb die freie Zeit für mich …, einfach so dazwischen!« Ich fand das Wortspiel als Zeitverschwendung, blickte ihr in die Augen, sah keine Verneinung und zog sie, umarmend, küssend an mich und genoß die Weichheit ihres Körpers in einem, die Herzfrequenz hochjagenden Siegestaumel. »Bis sechs hab’ ich Dienst«, sagte sie danach, »der Chef läßt mich kaum früher los!« »Warten hab’ ich mir längst als Hobby angeeignet.« »Und wo?« »Nach deinen Wünschen!« »Bei dir?« Ich nickte , küßte ihre Nasenspitze. »Ich komme gegen sieben, wir können dann ausgehen, tanzen …« Der nächste Kuß versprach mehr aus dem Reich der Innigkeiten, ihre Zunge kreiste langsamer, fester, anhänglicher, mit Hingabe und im Kribbeln übertrug sich mehr Inhalt. Gleichklang. Sehnsucht. »Was wirst bis zum Abend unternehmen?« »Polizei?« Wir lachten. »Spaziergang durch die Stadt, ich war noch nie hier.« 27
»Wie lange warst drinnen?« Ich wurde verlegen, rot und ärgerte mich. »Von wo?« »Silvia hat’s beim Frühstück gesagt, daß einer aus dem Knast ein Zimmer gemietet habe …« Ich nickte. Silvia hatte mich vor der Kleinen gewarnt und längst die Marktschreierin gespielt. »Etwas mehr als zwei Jahre.« »Mich stört das nicht«, sagte sie und blickte zu Boden, hinein in den Eimer. »Mein Vater war schon öfter drinnen, kurz nur und auch mein letzter Freund sitzt …« Ich fragte nach Namen, bekam sie und kannte die beiden Männer. Ihr Freund war für einige Wochen in meiner Zelle. »Dein Vater hat nur drei Monate, und Fred müßte in den nächsten Tagen erscheinen!« Sie nickte mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Vati ist ein Depp, stiehlt immer so einen Mist, den niemand brauchen kann, diesmal eine Motorsäge und muß dann für einige Monate hinein.« »Kommt Fred zu dir?« »Wenn schon, der kann mich …, er ist selbst schuld, warum erzählt er der Polizei soviel Blödsinn, die sind zu mir gekommen und haben mein ganzes Zimmer auf den Kopf gestellt.« »Soll vorkommen«, sagte ich, um irgendetwas zu sagen. »Wirst auf mich warten?« »Warum so traurig?« »Silvia …, wenn sie wieder Zeit hat …« Ich küßte ihre Stirn, streichelte dabei ihren Nacken, dort, wo die feinen Haare wachsen … »Ehrenwort! Wir werden heute noch ordentlich feiern.« 28
Ihre Chefin kam mit Gästen aus dem Speisesaal, und als die Kleine deren Stimme erkannt hatte, schlüpfte sie aus der Umarmung, weg vom Kuß und begann das Pult der verlassenen Rezeption abzustauben. »Die würd’ ich am liebsten vergasen!« »So böse?« »Fünf Minuten Klo sind der zuviel, den ganzen Tag schafft sie mir nichts als Putzereien!« Ich ging in mein Zimmer, zog mich aus, um mich am ganzen Körper kalt zu waschen, umzuziehen und vor allem mußte ich daran gehen, das Chaos in meinem Hirn zu ordnen. Mein Problem, das gab dem Hirn die Klarheit über die Zukunft, lauerte im finanziellen Bereich. Ich verließ das Zimmer. Die Unruhe tief innen als Begleitung. Beim Suchen weigerte ich mich, die Antworten zu erkennen, die ich kannte und die ich nicht noch einmal überprüfen wollte, um den Schweinehund in mir zu beruhigen. Der Köter jaulte nach seinem Fressen. Noch verlief das Fletschen seiner Reißzähne ohne Maulkorb. Mein erstes Ziel war das Sozialamt. Ich beantragte eine Unterstützung für die nächsten Tage. »Füllen Sie das hier erst einmal aus und vergessen Sie nicht, die Gründe anzugeben!« Die Dame überreichte mir einige Dokumente, die ich an einem Nebentisch bearbeitete und ihr dann zurückbrachte. Sie begann zu lesen, stockte mit immer längeren Pausen, zog die Augenbrauen hoch und ließ immer öfter die Blicke zwischen den Papieren und mir wandern. »Haben Sie eine Haftbestätigung?« Ich übergab ihr den Schein. 29
Sie ging in ein Nebenzimmer, ließ die Verbindungstür offen und blickte, während eine andere Frau meine Angaben auf den Formularen überprüfte, immer wieder zu mir herüber. Mißtrauen durchflutete Blicke und Raum, und ich spürte die Kotze in meinem Hals, weil ich mich, entgegen dem flauen Gefühl im Magen, in dieses Büro verirrt, mich als Bittsteller degradiert hatte. Sie kam zurück, gab mir den Entlassungsschein und behielt alles andere. »Kommen Sie morgen vorbei, der Herr Amtsrat ist heute nicht mehr erreichbar und ohne ihn darf ich in solchen Fällen nichts unternehmen!« »Von was soll ich bis morgen leben? Das Essen und die Zimmermiete bezahlen?« Meine Stimme vibrierte in aggressiven Nuancen, weil mich die Frau nicht einmal mehr ansah beim Sprechen. »Parteienverkehr ist nur am Vormittag!« »Parteienverkehr nur am Vormittag«, äffte ich nach, »und was ist mit einem Lustverkehr, he!« »Verschwinden Sie! Hauen Sie ab!« sagte sie, nachdem sie sich aus einer kurzen Errötungsphase erholt hatte, mit kippender Stimme. Und sie sagte dann noch mehr, was ich nicht mehr hören, verstehen konnte und wollte. Ich ging. Laut lachend. Es war ein erzwungenes Lachen, das den Panzer um mich herum durchbrechen sollte, bevor er mich erwürgen konnte. Die Straße war die Trennung zwischen Sozialamt und Arbeitsamt. Wieder suchte und fand ich das für mich in Frage kommende Büro. Die Begrüßung hatte Freundlichkeiten auf beiden Seiten in sich und auf mein lächelnd gesprochenes En30
tree-Getue kam das anbiedernde Beamtenangebot, was man denn für mich tun dürfe … »Ich suche Arbeit!« »In welcher Sparte, junger Mann?« »Im Gastgewerbe, und wenn es da nicht geht, ist es egal wo und was, wichtig ist allein, ich kann sofort und bei Kost und Quartier beginnen!« Der Mann im weißgelblichen Hemd und den ledernen Ellbogenschonern begann in den Karteikarten zu suchen, fragte nebenbei nach meinen Papieren und bisherigen Arbeitsplätzen. Ich überreichte ihm als Referenz den Entlassungsschein der Haftanstalt. Seine suchenden Hände und Augen erstarrten, fanden natürlich nichts und in den Blicken erschienen Vorwürfe. »Warum sagst das nicht sofort!« Vorbei war die Freundlichkeit, das Dienende und auf jeden Fall die Sprechzeit für so »… ein G’sindel!« Ich schwieg, weil ich noch keine Sprache gefunden hatte in diesem raschen Stimmungsverfall. Er wechselte in den sanfteren, jovialen Du-Ton: »Wie stellst dir das vor?« Eine Stimmlage, die sie alle anschlagen, wenn sie ihren gutgenährten und zukunftsabgesicherten Arsch von ihrem Stuhl erheben müssen und einem gegenüberstehen, der im Kot ihrer Ausschußgesellschaft sitzt oder saß. »Ich bin froh, wenn ich die anderen unterbringe, die noch nie im Zuchthaus waren! Nein, für dich habe ich wirklich nichts in den Vormerkungen!« Ich wiederholte die Frage, die im Sozialamt zum Kontaktende geführt hatte. Auch hier blieb alles amtlich. Weisungs31
gebundene Marionetten mit sicherer Existenz für ein Heute und alle Ewigkeit Amen, als Dank für ihr opportunistisches Beamtendasein, konnten sie richten und vernichten. Rechtlich alles abgedeckt, der Spielraum größer als das Staatsgefüge. »Laß dir etwas einfallen, bist noch jung genug«, sagte er, kam näher, und als wir die halboffene Tür erreichten, knallte er die Tür so zu, daß ich einen Schritt zurückspringen mußte, um einem Nasenbluten zu entgehen … Ein Ventil, grollend im Bauch gelagert, begann zu zischen und öffnete sich. Ich trat gegen die Tür. »Und wenn ich dich ausraube! He! Dann tobt ihr Klugscheißer wie die Irren und schreit nach härteren Strafen und Rübe-ab, was!« Die Ohnmacht in mir war zum Haß entladen und suchte sich den Weg über eine hysterisch gewordene Stimme. Ich trat und schlug gegen die Tür, die er von innen abgeschlossen hatte und war unfähig aufzuhören. Er war das Ziel als einer der Köpfe aus der heuchlerischen Gesellschaft, die sich erregte über Untaten, die aber einen geknebelten Mund, blinde Augen und taube Ohren hat, wenn es darum geht, die Hand zu reichen, nicht, um zu führen, sondern anzubieten für einen selbstgesuchten Neubeginn. Vor meinen Augen kreisten die Bilder dieser Homosapiens-Spezies, wie sie in den Tageszeitungen, in den Cafés, die diversen Verbrechensberichte verfolgte und ihr Geist lustvolle Tatwiederholungen durchexerziert. Morde ohne Folgen. Und wie sie die Prozesse verfolgen, bei dem alle göttlich scheinen wollen und dabei den Angeklagten entkleiden, vernichten …, sich auf ihren Stühlen geilwetzen bis zum Urteilsspruch. Ich sah den Geifer aus ihren eingebildeten Heiligenscheinen in neuen Häßlichkeiten hervorbrechen. 32
Ich wurde ruhiger, fragte den Dicken hinter der Tür: »Und was, wenn ich dich niederschlage und die Tür eintrete?« Ohne seine Antwort abzuwarten, verließ ich den Platz vor der Tür, den Flur und das Arbeitsamt. Benommen kehrte ich auf die Straße zurück. »Sie geben mir keine Chance, also nehme ich die, die ich mir selbst gebe!« Ich sprach leise, dann lauter, und als sich andere zu mir umwandten, schrie ich ihnen diesen Satz entgegen. Ihre erste Reaktion war Kopfschütteln, dann tippten sich einige an die Stirn, machten einen Vorsichtsabstandsbogen um mich herum, und ich deutete abwechselnd an meine Schläfe und Geschlecht und zeigte die Zunge, wenn ich nicht gerade ausspucken mußte. Die Suche nach Provokation blieb ohne Erfolg, und ich spürte die Verachtung, die mir entgegenströmte, nahm sie an, gab sie zurück und sagte ihnen, daß ich nichts schuldig war, weil mir noch nie jemand etwas geschenkt hatte! Der Wildheit folgte die kühl berechnende Ruhe und Entschlossenheit zur Entscheidung. Scham über meine Gefühlseruption zwang mich, die Straße, den Stadtteil zu wechseln. Die Kleine, das Mädchen mit dem Putzlappen kehrte in die Erinnerung zurück und mit ihr das Wissen über den Grund meines Ausflugs in die Stadt. Ich träumte von einer schmiegsamen Nacht mit ihr, von Tanz und Liebe, Einatmen von Leben und daran, daß ich kein Geld mehr besaß. Acht Stunden nach der erhaltenen Freiheit tauchte ich ein in die alte Verruchtheit in den Handlungen und kämpfte mit dem Ja und Nein in den Unsicherheiten, die ich jedoch verdrängen konnte, als die Frau aus dem Sozialamt und der Beamte aus dem Arbeitsamt meine Hirnzellen besetzten. Sie hat33
ten mich arbeitslos, mittellos, zukunftslos weggeschickt. Ihre Unschuld war Recht. Meine Unschuld war die Überzeugung aus dem Resultat des Zusammentreffens mit ihnen. Die Suche begann schon vor dem Eingang zum Supermarkt. Die Hausfrauentaschen blieben ausgenommen. Das Interesse galt den vier Kassen beim Ein- und Ausgang … Ich dachte an Roulette und wußte, hier wäre der Einsatz schon vor dem Ausrollen der Kugel verloren. Die schnelle Handbewegung bewegte sich zu sehr im Bereich von Glücksoder Pechgriff. Der rationale Gewinn wurde von Zufall abgelenkt. Ich verzichtete. Im angeschlossenen Restaurant, einem Selbstbedienungsbetrieb, suchte und fand ich einen Platz, von dem aus eine ungesehene, weitgreifende Beobachtung möglich war. Bevor ich meinen Heringsalat verspeist hatte, umflügelte ein Grinsen die Mundwinkel. Ich kniff die Augen zusammen, preßte mit der Faust kurz gegen mein Geschlecht, um zu wissen: ist es eine Fata Morgana meines Wunschdenkens oder Wirklichkeit? An der Ecke des Verbindungsflurs zwischen Ausgabe und Küche stand ein hüfthoher Schrank. Die Kassiererin an der Kasse legte, geübt, ohne sich umzuwenden und hinzusehen, die größeren Geldscheine von Zeit zu Zeit in die oberste der Laden. Links davon war ein freier Raum, dann eine Biegung und dahinter, mit Hinweistafeln angeführt, der Personaleinund ausgang. Es herrschte dort kein reger Betrieb, aber die wenigen, die aus- und eingingen, zeigten mir, die Tür war nicht verschlossen. Ich begann zu warten, nicht zu lange, um nicht aufzufallen und doch lange genug, um das Ablegen weiterer Geldscheine 34
miterleben zu können. Die Platte mit dem benützten Teller, Besteck und Cola-Glas trug ich zum Schalter, wo alles von einem Südländer übernommen und ins Wasser gelegt wurde. Anschließend schlug ich den Weg zum Schrank, in Richtung Toiletten ein. Im toten Winkel zwischen Küche und Restaurant wandte ich mich um und bewegte mich, als würde ich aus der Küche zurückkommen, die Augen auf den Rücken der Kassiererin geheftet, zog, beim Schrank angekommen, mit der linken Hand die Lade zügig auf, um kein Geräusch zu machen, und griff mit der rechten nach der großen KellnerBrieftasche … Die Lade ließ ich offen, stopfte die Brieftasche unters Hemd und verließ hinter einer Frau im blauen Arbeitskittel den Supermarkt. Unterwegs zum Hotel entnahm ich der Tasche das Geld, warf sie in einen Kanal und kehrte in mein Zimmer zurück. Zuchthausgefühl durchströmte für einen Moment die Gedanken. Der Raum hatte zu viele Ähnlichkeiten mit der Zelle. Nur die Fenster waren gitterlos, und die Tür konnte ich von innen öffnen, abschließen. Sonst? Kälteströme. Einsamkeit. Angezogen, lachend, kniete ich mich aufs Bett und begann das Geld zu zählen. Nicht viel, aber genug für den Traum in eine Zukunft, fortzukommen aus der Stadt, diesem grauen Winter, hinein in den Süden. In der Sehnsucht die Ferne, Weite, Meer. Heimat, die ich nicht kannte. Ich blickte auf die Uhr. Die zehnte Stunde Freiheit hatte begonnen. An Erleben dachte ich und träumte später vom Tod, weil es nicht gelang, das Leben zu bekommen. Irgendwo in einer der Traumzellen erschien das Bild einer Frau, die ich nicht kannte … 35
Ich wartete seit zwei Stunden, saß im Nebenraum vor der Glotzkiste und war wütend auf die Kleine, die nicht kam. Silvia bediente die Gäste mit Getränken und mich mit spöttischem Augenzwinkern. Sie spielte die Rolle der Schwerarbeiterin perfekt. Ihre Augenwinker und hundsgemeinen Vorbeistreichberührungen im Vorübergehen, die in meinem Hirn wie Blitze wirkten, für sie eines ihrer sättigenden Spiele zu sein schienen, führten dazu, daß ich mich immer öfter dabei ertappte, wie ich mir die Lippen leckte … Mit halboffenem Mund starrte ich auf die nüchtern-sterile Ansagerin am Bildschirm. XY-ungelöst, erster Teil. »Setz’ dich zu mir, oder ich schlag den Kasten in Scherben!« sagte ich zu Silvia, als sie wieder einmal mit animierendem Hüftschwung, wobei ihre Taille meinen Oberarm streichelte, vorbeikam, vorbeilaufen wollte. Ich hielt sie fest. Kniff ihr, seitlich, von hinten, für die anderen im abgedunkelten Raum nicht erkennbar, hoch oben, innen, dort wo die Weichheit am feinsten fühlbar wird, in den Schenkel … »So wart’ doch!« Sie revanchierte sich mit einem kurzen Anhalten, An-mich-Drücken, Öffnen der Beine, um dann meine Hand zwischen ihre Oberschenkel zu klemmen. »Na, läßt dich Manu sitzen?« »Wie lange hast du Dienst?« »Vergiß nicht meine Existenz! Sie wird bald erscheinen, mich abholen, wie jeden Abend. Wir wohnen zusammen und gehen gemeinsam ins Bettchen …« »Scheiße!« »Geh’ doch zu ihr rüber!« »Ah geh’! Und wohin, bitte?« 36
»Fünfzehn!« Bevor ich antworten konnte, lief sie weg, hinüber zu einem neuen Gast. Ich legte mir die Handfläche, die für wenige Flüsterminuten zwischen ihren Beinen festgehalten worden war, über den Mund, die Lippen, küßte ihren Duft von meinem Handballen … Ohne mich von Silvia zu verabschieden, stand ich auf und ging hinüber zum Flur, der zu den Zimmern führte. Nummer fünfzehn war zum Ziel geworden. Vorsichtig, langsam und mit gleichmäßigen Bewegungen drückte ich die Klinke der weißen Holztür nach unten. Sie war unversperrt, der Raum lichtlos. Auf den Fußballen auftretend, trat ich in ihr Zimmer. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, das Fenster geschlossen und davor ragte die graue Fläche der gegenüberliegenden, keinen Meter entfernten Mauer des Nachbarhotels. Sie verhinderte einen Blick zum Horizont, nur eine Etage tiefer, als enger Durchgang erkennbar, sah ich einen Lichtschimmer, der aus dem Gästezimmer blinzelte. Ich schloß die Tür von innen, lehnte mich mit dem Rücken dagegen und begann ganz flach zu atmen, mit offenem Mund. Die Augen gewöhnten sich an die Dunkelheit und langsam tauchten aus dem grauen Nichts Konturen, Schatten auf, die Inhalte bekamen. Ich befand mich in einem typischen Personalzimmer, das zu klein war, um es Gästen zuzumuten und doch etwas größer war als eine Abstellkammer. Von rechts drang ein kurzes Seufzen. Ein kitschiger Perlvorhang trennte die Schlafstelle vom übrigen Raum. Manu lag wie ein Embryo, angezogen mit einer weißen Bluse und schwarzer Hose, im Bett. Davor standen kniehohe, schwarze Stiefel. 37
Zärtlichkeit mischte sich zur Erregung. Ich kannte jetzt den Grund für mein Warten und war ihr nicht mehr böse, weil sie verschlafen hatte. Ich verharrte regungslos und konnte mich nicht so recht entscheiden, was ich tun sollte. Schakal und Kuscheltier. »Du!« Manu erwachte und traf eine Entscheidung, bevor ich zu einem Ergebnis kommen konnte. Ich knipste die kleine Lampe neben ihrem Bett an, setzte mich zu ihr aufs Bett, zog sie in meine Arme … »Gehen wir tanzen?« Ich spürte wenig Lust, diese Atmosphäre zu verlassen. »Muß das sein?« Manu nickte. »Wir kommen ja wieder zurück.« Ich nickte, hob sie aus dem Bett und half ihr beim Anziehen der Stiefel. Wir verließen ihr Zimmer und das Hotel. Die Kälte der Jännernacht, ihren Wind, spürten wir kaum, zu sehr wärmten wir uns durch unsere Küsse, Umarmungen. Der Weg bis zur Bar war nicht weit und doch benötigten wir eine lange Zeit, in der wir anhielten, schmusten, engumschlungen die Welt vergaßen, verliebt und erhitzt, wortlos, wild und traurig … Lange nach Mitternacht, ich hatte im Lokal nichts zur Unterhaltung beigetragen, weil ich zurückkehren wollte, kamen wir in ihr kleines Zimmer zurück. »Peter hätte heute kommen sollen …« »Äh, Peter?« Manu gab mir eine genauere Personenbeschreibung. Er war einige Wochen in der Nebenzelle … Ich fragte sie und ihr Nicken war die Bestätigung. »Er hat einige Zeit hier im Hotel gewohnt.« 38
Ich wollte nichts mehr hören, reden und noch weniger die Lebensläufe ihrer anderen Freunde erfahren. Mit der Leidenschaft im Spiel begann ich zu drängen. Manu ließ sich verführen und führen … »Du …, sei nicht traurig …, ich kann heute nicht so …« Ich dachte an Peter und verschloß ihren Mund mit meinen Lippen. »Nein, nicht wegen ihm«, sagte sie und leiser: »Es geht nur nicht richtig, ich hab’ die Tage …« Ich wußte jetzt, wie Keulenhiebe wirkten. Es war, als hätte sie in meine Hitzewelle hinein nach dem Busfahrplan gefragt. Meine Finger begannen mit dem kurzen, blauen Faden zu spielen … Manu schmiegte sich an mich. »Heute hab’ ich schon den dritten Tag, morgen ist’s vielleicht vorbei …, geh, schau nicht so …, bitte …, ich kann nichts dafür …, wenn du magst, es geht auch anders …« Ich sank auf den Rücken, sprachlos, unfähig zu denken, leer und heißgelaufen. Im Hirn erschienen die letzten vierundzwanzig Stunden. Auch der Beginn in der Zelle, das vergebliche Handspiel zur Vorbereitung auf die Freiheit mit ihren Trieben. Manu unterstützte ihre Hand mit dem Mund und dann war es die Müdigkeit, der Schlaf oder die Enttäuschung, die ein erlebtes Finale ihrer Mühen verhinderte … Zurückgekehrt in die Stadt, die einmal Wohnort, aber niemals Heimat war, wanderte ich ziellos durch die Straßen. Die Vergangenheitsbilder brachten das Chaos im Hirn zurück und nach der Kälte jagten mich Hitzeschauer, fieberhafte 39
Ausweglosigkeit bei den Versuchen, den geraden Weg zu finden. Als Ablenkung diente die Beobachtung der anderen, vor dem Ego war mir der Gestank noch zu stark, die Feigheit in den Komplexen diente als Verhinderung. Eintauchend in die Gebiete der Bürgerlichkeit, in deren Gassen und Straßen, versuchte ich mich an ihren Erlebnissen zu orientieren. Frauen, Männer, Kinder gingen, liefen zielgerichtet an mir vorbei, wie aufgezogen, programmiert und dann sah ich deren Gesichter, zuckte zurück vor dieser Leere, Verbissenheit und fand kein Leben in diesen Fassaden. Ich erlauschte ihre Dialoge, die ich nicht hören wollte, weil in ihnen abschreckende Banalitäten verborgen lagen. Vor allem in den Gesprächen unter vier Augen erschien das Schlechtmachen, Vernichten eines nicht anwesenden Dritten … Ich fand kein Ziel für mich und verließ das Zentrum, wanderte hinaus in die Vorstadtstraßen, um allein zu sein und wurde nicht fertig mit meiner Einsamkeit. Das Wissen um die verlorene Gegenwart erstickte mich. Aus vielen Fenstern drang bläulichflimmerndes Licht. Die Weltgeschehnisse kamen ins traute Heim und sorgten dafür, daß die Menschen ihre Sprachlosigkeit perfektionierten. Statt sich anzuschreien, sich anschwiegen. Hingestreckt im Sofa oder Bett, beziehungslos, erlebten sie die Grausamkeiten: Hinrichtungen und Kriege in allen Varianten der mächtigen Perversen. Angeekelt von den emotionalen Berichterstattungen und dem schweigenden Komplicentum der sattgefressenen und kommentierenden, vergönnenden und nicht gönnenden, katalogisierenden, mit ausgestreckten Fingern zeigenden und auf 40
ihr Spiegelbild vergessenden Zuseher und -hörer, verließ ich ihre Siedlung. Sie sahen, wie privilegierte Angehörige der weißen Rasse Schwarze niederknüppeln ließen, wie charakterfeste Schwarze einen Stammesangehörigen wegen Verrat an den eigenen Leuten, um den Hals einen benzingetränkten Autoreifen, lebend verbrannten … Dreißig Minuten bildliche Weltnachrichten, und was aus Chile kam, regte niemanden mehr auf. Und dann das Entsetzen, die wütende geifernde Trauer: in Deutschland war ein Diplomat von adeliger Herkunft erschossen worden! In die Welt projiziert in Bild und Ton. Diesmal war es kein Bild eines geprügelten Kindes, einer gequälten Frau, eines Arbeiters, eines politisch Verfolgten, der unter Folterqualen sterben mußte, nein, diesmal hatten die Kugeln in den sensiblen Bereich der Mächtigen getroffen, die rechte, diktatorische Systeme erhalten, mit Waffen und Finanzen versorgen und bestimmen, was wertvoll und was ohne Werte zu sein hat. Diese Meldung löschte die Erinnerung an alle anderen aus. Dann gingen sie ins Bett, versuchten Liebe zu machen und hatten eine Ausrede für ihren Egoismus, ihr Versagen, das den Partner lebend vertrocknen ließ … Bei diesen Gedankenbildern beruhigte ich mich. Die Sehnsucht nach dieser verlogenen Existenz war nicht mehr so ziehend. Ich gehöre zu denen, auf die sie zeigen, denen sie Ketten an die Füße und abgeschnittene Geschlechtsteile gönnen, weil ich mich nicht von ihnen vereinnahmen lasse, mich nicht, ebenso schweigend wie sie, neben sie setzen kann beim Anblick der Erniedrigungen jener, die sich nicht 41
wehren können. Und ich bin zu schwach, um ihnen einen Führer abzugeben. Einen, der mit starker Hand dirigieren kann, wo es lang zu gehen hatte, wenn möglich: Rechts um, marsch! Zackig: JAWOLL! Die Herde kennt nur diese beiden Gruppen, die selbständigen Mittelwege sind ihnen unbekannt. Sie trottet blökend hinter wenigen, die führen. Auch zur eigenen Schlachtung. Ich war weder noch. Die vom eigenen Leben Enttäuschten benützen mich als Blitzableiter, ohne mich zu kennen, ich gehöre nur zu denen, die sie verdammen, auf die sie hinunterspucken können. Geordnet nach Gut und Böse und Sünde und Gusch da unten! Mein Dasein ist weniger als ihres in ihren Augen. Ich habe das Recht verloren, zu einer ihrer politischen Irreführungswahlen zu gehen. Herkunft bestimmte die Kindheit, Jugend und die endete im Zuchthaus. Unbedingte Haftstrafe, weil ein Apfel nicht weit vom Stamm zu fallen hat, sagte der Ankläger. Wohin und was sonst tun mit den Protektionskindern, die unter sich zu bleiben haben, dort, wo die Gruppe den Einzelnen kontrolliert und jeder einzelne zur Gruppe gehört … Es kann nicht sein, was nicht zu sein hat! Ich lachte laut und schrie wie Tarzan nach seiner Jane, und es war nur aufgestaute Wut. Humorlos. Hart und schrill, weil ich an die Wahlen dachte und froh war, nicht mehr wählen zu dürfen im Lande der ausgereiften Verdrängung. In einem Lande, in dem die höchste Kunst noch immer die Intrige ist. In einem Lande, dessen Menschen millionenfach, wie schon 1938, diesmal nur umgekehrt, aus Adolf Hitler, unser aller, einen Deutschen machten, nachdem ihr einstiger Jubel der 42
Beginn seiner Niederlage war. Es war ihr Versuch, sich reinzuwaschen vor dem Mitverschulden, rechte Hand waagrecht erhoben, mit Kind und Frau am Straßenrand, als der, unser aller österreichische TEUTSCHE, heimkehrte in sein Geburtsland und es als sein Eigentum übernahm. Natürliche Folge der Symbiose aus Grausamkeiten. Ein Sieg heiligt jedes Mittel. Leider mußte unser aller Adolf verlieren, seine Mittel waren so zum Satanswerk geworden. Für Momentaufnahmen denke ich, pervers grinsend, was, wenn Hitler nicht verloren, sondern gesiegt hätte … Nach der Niederlage begann für viele das eklige Versteckspiel und sie bestritten eifrig, ungefragt oft, den einstigen Jubelempfang und sie alle waren immer schon dagegen, nur ein Opfer des nicht mehr als unser aller, sondern des aus Deutschland kommenden Adolf Grausam, geltenden, kleinen, braunblütigen Mannes. Vorher und während seiner Führung waren sie alle, wie später dagegen, DAFÜR! Aus Angst sagen sie heute, einige von ihnen, die überführt werden konnten, und die anderen waren brutaler: sie nennen sich ahnungslose Pflichterfüller! So führen sie ihren Krieg in die Zukunft, als Ohrfeigen gegen die, die ihre Pflicht im Widerstand gegen den Führer erfüllt haben. Millionenfacher Mord als Pflichtübung! Viele von den Pflichterfüllern kamen nach wenigen Jahren zu neuen Ehren und Ämtern und Reichtum. Praktizierende Katholiken fanden im Vatikan Gehör und neue Dokumente, mit denen sie in Übersee neu beginnen konnten. Sie wurden geschulte Berater der meuchelnden Diktatoren in Latein- und Südamerika. Sie errichteten in den Sümpfen des Urwaldes neue KZ’s, und wo 43
sie wieder einmal ihre Pflicht erfüllten, verschwanden wieder Menschen, die sich nicht versklaven lassen wollten. Einige der Pflichtgetreuen beherrschten die Akrobatik, sich nach allen Seiten gleichzeitig zu verbeugen. Sie blieben im Heimatland und erreichten höchste politische Ämter, von denen aus sie dafür zu sorgen hatten, daß niemand Fragen nach dem Gestern stellen würde. Durch katholischen Hostienempfang bekamen sie, die sich 1938 dem Adolf anvertrauten, für den sie, gezwungen natürlich, kämpften und vernichteten, die Absolution und neue Ehren. Verdrängt und vergessen, und es war einmal, die Zeit hat endlich zu ruhen, alle hätten gelitten, die einen hungrig und die anderen vollgefressen und niemand hat zu fragen, wer wohl mehr: die Umgekommenen oder die Pflichterfüller! Ich war noch zu jung, um selbst erlebt zu haben, was sie so erschütterte, entzweite, was sie krampfhaft wegleugneten, und ich las in den Zeitungen die Wortgefechte, Lügen und Anklagen, hörte im Radio die schleimigen Rechtfertigungen, die die Beschuldigten von monotonen Nachrichtensprechern verkünden ließen, und ich wurde müde und hassend beim Anblick der trottenden Herde, die zuhörte und schwieg und sich nicht dagegenstemmte. Der Versuch, 1938 in die Gegenwart zurückzuholen, um zu erfahren, wie würde die Herde reagieren, käme unser aller Adolf Hitler Grausam noch einmal …, wieviele sich wieder als Opportunisten zur Verfügung stellen würden, um an die Macht zu kommen, mißlang mir. Die, die hingerichtet, vernichtet, entmachtet und enteignet wurden, weil sie keinen arischen Stammbaum hatten, waren 44
selbst schuld, das war der Krieg, auch gegen unliebsame Zivilisten, die im Wege standen, zu kritisch waren, warum sind sie geblieben: die Sterneträger und die mit dem rosa Winkel, die vielen anderen, die Denunzierten oder sonstwie und irgendwem von der Obrigkeit im Wege Stehenden … Meine Schritte wurden raumgreifender, aggressiver, unbewußt beschleunigte ich die Rückkehr in die Stadt. In Bahnhofsnähe, irgendwann und noch vor Mitternacht, kam die Lust auf Besoffensein. Ich begann zu trinken und saufen und konnte die überspannte Nüchternheit nicht beseitigen. Zu vieles in mir war zynisch, kalt, chaotisch. Es wurde ein wahlloser Suff zwischen Bier, Wein und Korn. Ich steckte später, über einem Rinnsal stehend, den Finger in den Hals, um die Übelkeit auszukotzen. Mein Körper fühlte sich an wie eine festgezurrte Saite … In den engen, vertrauten Gassen fühlte ich mich zu Hause, geborgen, sicher und die Augen entspannten sich an der lichtmatten Gegend. Der Atem befreite sich von den Pressungen der vorangegangenen Gefühle. Hier war alles nackt, ehrlicher, nicht von der lackierten Lebenslüge verzerrt. Biedermänner kamen in diese Gassen und Häuser, als Kunden, weil sie hier für ihr Geld bekamen, was sie, bei Tageslicht und im Chor mit den Gattinnen, zu Hause und in den Büros, verdammten und zum Teufel wünschten. Die Dame als Hure sagt ihren Preis, verbunden mit ihrem Angebot, und handelt ehrlich. Ohne sie wäre das sexuelle Sozialgefüge dieser Gesellschaft längst verlorengegangen. Sekretärinnen begleiten ihre Chefs auf den Geschäftsreisen, spielen Anständigkeit und mit Liebe für einen Pelzmantel … 45
Ich kannte einige Frauen, die hier dienten und sie grüßten mich nach meiner Rückkehr. Sie wußten, wo ich gewesen war, und das galt bei ihnen als Eintrittspreis. Unter ihnen fror ich nicht mehr so kleingemacht. Später feierte ich mit Lore, an die naßkalte Mauer einer Kellertreppe gelehnt, alles um mich vergessend, die Rückkehr ins lustvolle Leben. Nach rastlosen Nächten und verschlafenen Tagen, mußte ich die Entscheidung treffen: bleiben oder gehen, umkehren, anfangen oder alles abbrechen? Für alles andere, Mittelwege, fehlte mir die Kraft, die Lust und das Geld. Der Wolf im Magen hatte sich längst entschieden, die Erinnerung an das Sozial- und Arbeitsamt erleichterte die Entscheidung. Ich mußte abreisen. Irgendwohin. Ich wollte nicht länger allein sein. In der Zukunft suchte ich die Partnerschaft zwischen erfüllten Sehnsüchten und erträumtem Leben. Ich suchte eine Frau als Begleiterin. Keine Vergangenheit mehr sehen, spüren, leben müssen und keine Angst mehr im Hirn vor einem schattenhaften Überholmanöver. Angie war bereit und wollte mitkommen. »Endlich fort aus dieser vermieften Stadt«, sagte sie und bastelte an meinen Reisefäden. Ich hörte ihr zu, schwieg und wußte, sie war nichts für mich, für diese Verrücktheiten. Wir hatten zu viele Gemeinsamkeiten, die uns zerstört hätten. »Meine Mutter wollte zuerst abtreiben, aber dann ist sie von solchen Moralaposteln überredet worden«, sagte sie mir einmal, »mich zu bekommen. Nur gab es dann, als ich da war, nirgends die angeblichen lieben Eltern, und entgegen aller Zusagen kam ich ins Heim.« 46
Sie trocknete ihre Tränen mit dem Unterarm aus den Augen. »Und niemand hat Mutti dann geholfen, nicht einmal der Pfarrer. Alle meine Geschwister waren schon in verschiedenen Heimen untergebracht.« Angie trank an dieser Stelle einen kräftigen Schluck Wein. »Die Sau war mein Vater und wenn er da war, vergriff er sich an uns Kindern, bis sie ihn wieder einsperrten …« Die Folgen waren vorgezeichnet und ich kannte sie aus eigener Erfahrung. Heim und wieder Heim und niemals Eltern. Eine Abtreibung war erfolgreich verhindert worden, für das Ergebnis hatte sich selbst die Kirche für nicht mehr zuständig erklärt. Manu? Ich hatte sie verlassen, ihr versprochen, zuückzukehren, wenn ich die Erledigungen in der Stadt, die es nicht gab für mich, abgeschlossen hätte. Unsere Trennung war begleitet von ihren Tränen, Kreislauf von Vorstellungen. Traumbilder, die ich aus der Zuchthauszelle geschleppt hatte. Luftschlösser meines von Haß und Sehnsucht zerfressenen Gehirns, die jetzt wie Seifenblasen zerplatzten. Eines nach dem anderen. Alleinsein war erfolglos geworden. Die Zeit mit Angie war Abwechslung, keine Erfüllung. Unsere Gespräche Klagelieder aus Selbstmitleid. Kreislaufsystem. Ihre Arbeit am Straßenrand war routiniert und die Wartezeit dazwischen zu mühsam für mich. Immer wieder die Unsicherheit: kommt sie zurück? Wann kommt sie zurück? Hat sie einen guten Kunden? Oder ist es ein perverses Schwein? War der Wagen von der Polizei? Im Hinterkopf die Verbrechen an den Liebesdamen. Ihr Lustlohn, den sie mit mir teilte, war angenehm und eine Abwertung meines Stolzes. 47
Ich verließ sie und die Stadt ohne Abschied, um nicht von ihren Tränen umgestimmt zu werden. Sie suchte Geborgenheit wie ich und das war die Belastung, die ich fürchtete. Ich mußte gehen. Endgültig und ohne das Versprechen: zurückzukehren! Manu freute sich über meine Rückkehr. »Ich will nicht in diesem Hotel bleiben!« Ich nickte. »Das besprechen wir am Abend.« »Ich werde dem Chef heute die Kündigung übergeben!« Während sie ihren Zimmerdienst absolvierte, ging ich spazieren, um ein Zusammentreffen mit Silvia, die im Speisesaal arbeitete, zu vermeiden. Gegen Mittag, vor dem Hotel, ich wollte zum Essen und ging in die Passage, in der der Hoteleingang war, traf ich auf Fred, Manus früheren Freund und ehemaligen Zellenkollegen von mir. Ein Günstling der Aufseher und Vorarbeiter im Betrieb. Er war kräftiger und einiges größer als ich, aber langsamer in den Reaktionen. Ich blieb vor ihm stehen, bevor er etwas sagen konnte und verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Da ich den Grund für seine Aufstellung vor dem Hotel ahnte, legte ich die rechte Hand um den Griff des geschlossenen Klappmessers, das ich in der Gesäßtasche hatte. »Is’ was?« Fred wurde rot, dann weiß, und ich wußte nicht, was in den letzten Tagen geschehen war. Hatte Manu ihn getroffen, gab es zwischen ihnen die alte Liebe in neuer Form, und hatte sie es mir verschwiegen? 48
»Ich weiß Bescheid«, sagte er leise und kam einen Schritt näher, »laß die Finger von Manu!« Ich grinste mit breitgezogenen Lippen. »Im Knast warst Chef, hier kaum!« Leise, mit dem alten Haß: »Chef im Arschkriechen!« Seine Hand zuckte, seine Sicherheiten offerierten sich in den Muskeln. Hirnlos dreinzuschlagen war seine Stärke. Ich drückte auf den kleinen, verzinkten Knopf des Messers. Das Aufschnappen der Klinge, für Vorbeikommende unhörbar, unsichtbar zwischen unseren Körpern, stoppte seine Angriffslust. Wir standen still, duellierten uns mit den Augen. »Laß’ sie in Ruhe!« Fred erstickte fast an seiner Wut. Ich hielt die Hand locker nach unten und zielte mit der Messerspitze gegen seine Lenden. »Dein Ausgang dauert nur drei Tage, was willst!« »Mieses Messerschwein!« Wieder zuckte seine linke Hand nach hinten. Ich blickte ihn an. Lächelnd. Die Hand spielte mit dem Messer. »Ich erwisch’ dich!« »Ich weine gleich …« »Ohne Messer bist …« Fred schnippte mit den Fingern und ich wurde rasend, weil ich nicht zugeben konnte, daß er recht hatte. Ohne Messer war ich nicht mehr als eine lästige Fliege für ihn, und er hatte es in der Zelle mehrmals ausgespielt. »Ohne Aufseher bist du ein Haufen Scheiße!« Ich stieß mit dem Messer etwas vor, gegen ihn, ohne ihn zu berühren, aber 49
es reichte, er sprang zurück. »Und wegen ihr, laß Manu doch selbst entscheiden …« Sie kam aus dem Hotel. Blieb stehen und ich erkannte, sie sah Fred jetzt zum ersten Mal, seit er festgenommen worden war. »Erfreut ist sie ja nicht bei deinem Anblick«, sagte ich zu Fred, und sie kam zu mir, hängte sich ein … Wir verließen die Passage, und Fred blieb allein zurück. Dieser Sieg entschädigte mich für alle erlittenen Niederlagen in seiner Zelle. »War er schon bei dir?« Manu schüttelte den Kopf. »Ich dachte, er hat noch zwei oder drei Wochen Knast!« »Hat er auch, aber wie alle Dickdarmakrobaten da drinnen, bekam er einen Dreitageausgang.« » Gehen wir«, sage Manu und führte mich durch die Stadt, »Mutti ist sicher noch in der Firma, und Vati muß noch drei Monate sitzen.« »Ist es weit?« »Nein. Es ist das Haus der Großeltern, aber die hören nichts mehr, und mein kleiner Bruder spielt sicher beim Nachbarn. Ich habe gekündigt und bekomme noch einen ganzen Monatslohn!« »Geld gibt es überall«, sagte ich, »ich möchte gerne südlich reisen …« »Ich komme bestimmt mit!« In Momentaufnahmen kehrte der Grund für meine letzte Zuchthausstrafe zurück. Ich schüttelte den Kopf. »So einfach geht’s nicht!« 50
»Warum?« »Du wirst erst in einigen Monaten Achtzehn!« »Geht ja niemanden was an!« »Doch! Bei Gericht heißt es dann: Entführung aus dem Machtbereich des Erziehungsberechtigten! Das gibt für mich, da ich es schon einmal hatte, zwei Jahre!« »Wieso? Ich hab’ meinen Paß und Mutter zeigt dich bestimmt nicht an.« »Das sagte Chris damals auch!« »Vergiß sie, nimm mich!« Ihr Kuß wärmte meine Wangen. Sie stampfte mit dem Fuß auf. Trotzig. Entschlossen. »Ich will! Ich habe lange genug den Dreck anderer geputzt, vom Staub bis zur benützten Binde, mir reicht’s!« Ich nickte und blickte zum Taxi, das vorbeikam und in dem Fred, das Gesicht extrem auf die andere Seite haltend, saß. »Depp!« Manu lachte. Der Wolf im Magen rebellierte, und ich hörte nicht auf ihn. Die ziellose Reise war mein Plan, und Manu als Begleitung lockte wie überreife Früchte. Ihre eigene Entscheidung beruhigte mich. Ich dachte nicht mehr daran, daß in jedem Beginn schon weder das Ende lauert. Sie war begeistert davon, endlich, aus diesem Winter heraus, in den Süden aufzubrechen. Ohne Dreckputzpflichten. Die freie Welt! »Wir haben nicht viel Geld, so einfach wird’s nicht laufen«, sagte ich und erwartete, entgegen meiner Hoffnung, sie würde ihre Reisefreude zurückziehen. »Ich bin kein Milchmädchen«, sagte sie, »meine Mutter hat ein verdammt hartes Leben geführt, und Vati war immer schon ein feiger Arsch.« 51
»Du Clyde, ich Bonny«, sagte ich scherzend und zog sie an mich. »Fred wollte damals auch, daß ich für ihn aufn Strich gehe«, sagte sie nach dem Kuß, »ich hab’s nur einmal versucht, bei einem Vertreter, der bei uns im Hotel abgestiegen ist und ganz gut bezahlt hat.« Immer wieder, dachte ich. »Verrückt!« »Was?« »Nichts, ich mein’ nur, es beginnt immer auf die gleiche Tour. Aber einen Zuhälter möchte ich nicht spielen!« »Sag’ ich ja auch nicht, aber wenn es einmal ganz hart ist, so als Notlösung, dann kannst dich auf mich verlassen!« Wir erreichten das Haus, standen im kleinen, ungepflegten Vorgarten und wurden von einem Polarhund begrüßt. »Sag’ Mutti aber nichts, wenn sie kommt!« Ich knickte und kraulte den Hund im Nacken. Im Parterre verriet der Geruch die Wohnung der alten Leute. Die kleine Wohnung im ersten Stock war vollgestopft mit Kartons, aus denen Kleidungsstücke ragten, die Einrichtung bestand aus einem provisorisch zusammengeflickten, flachen Wohnzimmertisch, einem Schrank, aus dessen offenen Türen ebenfalls Wäsche hing, einem alten Ofen für Sägespäne und zwei alten Sofas, die als Bett für den Bruder und die Mutter dienten. Links und rechts zweigten offene Türen in Räume ab, die so klein und von der Dachschräge eingeengt waren, daß ein aufrechtes Stehen kaum möglich war. Nur ein einziges Zimmer hatte normales Aussehen, dafür aber ein vergittertes Fenster. »Leider schlägt Vati alles kaputt, wenn er spinnt oder betrunken ist«, sagte Manu aufklärend, nachdem sie meine ab52
schätzenden Blicke entdeckt hatte. »Meistens streitet er mit Mutti, weil sie ihn kaum noch ins Bett läßt und wenn, dann nur mit einem Gummi. Ich höre das immer, weil er dann wütend wird, sich anzieht und zur Fritsch ins Lager geht.« Alte Geschichten neu, überall. Nur die Personen haben andere Namen. Ihre Lebensläufe sind die gleichen. Der Nachttopf stand neben der Küchentür. »Hier oben gibt’s kein Klo, und hinuntergehen wollen wir auch nicht immer.« Sie ging zu Mutters Couch, setzte sich, begann zu wippen und nahm unter dem Kissen ein Nachthemd hervor, griff in die einzige Tasche und zeigte mir lachend das unbenutzte Präservativ … »Für mich ein sicheres Mittel zur Impotenzförderung«, sagte ich, ging zu ihr, hob sie auf meine Arme und trug sie in den Nebenraum, in dem der große Spiegel dominierte. Zeit und Raum verlor jede Bedeutung … Kurz vor Mitternacht erreichten wir, müde, mit wenig Geld und von der langen Bahnfahrt ungepflegt, verschmiert, hungrig und unausgeschlafen, den Hauptbahnhof der grenznahen Stadt. Manu lehnte sich, nachdem wir die Bahnhofshalle verlassen hatten, an mich. Irgendwie hilflos. Wir hatten schöne, freie Tage und Nächte hinter uns. Wir lebten sie, als würde es kein Morgen mehr geben. Alles galt dem Jetzt und Sofort. Das Geld wurde knapp und beendete unsere Feier, den Ausbruch aus allen Nüchternheiten. Ohne ihre Mutter zu verständigen, waren wir abgereist. Unser Gepäck bestand aus drei prall gefüllten Koffern. »Das Spiel beginnt!« 53
»Was beginnt?« Ich zuckte die Schultern. »Du hast einen König ohne Land!« »Wir haben noch etwas von meiner Abrechnung!« »Morgen können wir noch einmal essen und dann fliegen wir mit dem Pleitegeier.« »Ich verzichte auf mein Essen, und mieten wir uns lieber ein Zimmer!« Manu sollte ihr Bett und Zimmer bekommen, alles weitere schwamm in meiner Gleichgültigkeit. »Komm!« Sie nahm den kleinen Koffer, ich die anderen, und ihren Protest ließ ich nicht laut werden, als sie sah, daß ich den Taxistandplatz vor dem Bahnhof ansteuerte. Die Straßen waren leer, und die Fahrt zum Hotel dauerte keine fünf Minuten. Die Frage des Fahrers hatte ich mit einem: »In ein Hotel!« beantwortet. Vor dem Hotel angekommen, blickte er sich um und sagte: »Die Fahrt kostet heute nichts!« Manu bedankte sich und ich stieg aus, stellte die Koffer auf den schneebedeckten Bürgersteig und betrat die Rezeption. Ein älterer Portier in Phantasieuniform nahm uns freundlich in Empfang. Während ich die Koffer und Manu ins Hotel holte, übertrug er die Daten aus unseren Reisepässen in die Meldeformulare. »Nummer fünfzehn, zweiter Stock!« Er zwinkerte in Manus Richtung. Im Zimmer angekommen, fiel Manu angezogen aufs Bett und schlief, bevor ich sie entkleiden konnte. Ich ging ins Bad, duschte heiß, kalt, heiß, kalt und blickte dann in die Nacht hinaus. Die Gedanken kreisten, die Augen 54
suchten einen Weg aus diesem Zimmer, dem Hotel, ohne bezahlen zu müssen. Ich dachte an eine frühe Morgenstunde und an die nahe Grenze … Es gab keinen Weg. Ich kannte die Stadt aus Kindertagen und spielte mit dem Plan, eine Tour zur Geldbeschaffung zu starten, wissend, ich war zu müde. Am frühen Morgen spielte ich Liebe und erfuhr später, beim Frühstück, von Manu: »Ich hab’ nichts bemerkt!« »Niemand ist neugieriger als Portiere«, sagte ich erklärend, »und da wir schon kein Geld mehr haben, um die ganze Rechnung zu bezahlen, ging ich vorhin zum Telefon und wählte irgendeine Nummer, wartete, bis abgehoben wurde, und redete dann schnell von unserer Verlobung. Aber so laut, daß er es hören mußte an seinem Platz.« »Verzeihung, die Herrschaften«, sagte eine Frau, »wie lange wollen sie bleiben?« »Vier Tage!« Sie nickte, und Manu trat gegen mein Schienbein. Ich lachte. »Wer nichts arbeitet, soll zumindest gut essen!« Wir genossen das Frühstück, das auf die Zimmerrechnung geschrieben wurde. Wieder im Zimmer, fragte Manu: »Soll ich’s versuchen?« Sie saß an der Bettkante, und ich stand beim Fenster. »Gehen wir in die Stadt!« Ich ging in Cafés, Restaurants und fand nirgends eine unbeaufsichtigte Handtasche. Unsere Chance lag in Manus Talent, und als wir uns trafen, lehnte sie sich weinend an meine Brust. Es gab keine Erfolge. 55
»Kein Grund für Tränen!« »Einer hat mich zu einem Glas Wein eingeladen, und dem konnte ich einen Schein klauen.« Ich küßte ihre Tränen von den Wangen. »Bist du noch müde?« »Ein wenig schlafen wäre nicht schlecht.« »Dann tu’ es!« »Warum?« »Damit du ausgeschlafen bist, wenn wir noch heute die Grenze passieren!« »Die haben unsere Namen und werden sicher die Mutter verständigen.« Ich machte eine wegwerfende Handbewegung. Wieder im Hotelzimmer, gab ich ihr den geklauten Geldschein. »In zwei oder drei Stunden hol ich dich ab!« »Und du?« »Ich geh’ zum Bahnhof, schau die Fahrpläne durch und dann sehen wir weiter.« Ich sagte ihr nichts davon, daß ich noch andere Absichten hatte. Ohne Geld und mit einem Magen, in dem nur ein Frühstück verarbeitet wurde, läßt sich kaum ein Gedanke an Zukunftsfeste erzeugen. Wir hatten unsere ganzen Sachen, mit einem Hinweis auf Manus Mutter, zurückgelassen und fuhren mit dem Abendzug nach Tarvis. Die Zöllner blickten kurz in unsere Pässe, dann ins Gesicht. Wortlos. Den Plan, ohne Gepäck und als Touristen in einem Hotel zu nächtigen, verwirklichten wir nicht. Nach einem längeren Fußmarsch, bei dem wir immer schweigender, müder geworden waren und wir uns in engen Umarmungen gegenseitig 56
gewärmt hatten, in der Nähe von Malborgetto, stoppte ein deutscher Fernfahrer seinen Transporter und lud uns zur Mitfahrt ein. »Bis Udine könnt’ ihr mitkommen!« Wir bedankten uns, und ich erzählte ihm von unserer Reise nach Rom. »Früher war ich nur so unterwegs«, sagte er und wandte sich an Manu: »Wenn du magst, kannst in die Schlafkoje!« »Dann verschlafe ich alles«, sagte sie und kletterte nach hinten. Später erinnerte ich mich nur mehr an die Ortstafeln: Càrnia und Osoppo, an das monotone Motorengeräusch und die Dunkelheit der durchfahrenen Nacht. Am Morgen, die Kabinenfenster waren vom Tau und Frost gezeichnet, erwachte ich mit einem verspannten Körper und fror. Manu hatte mich geweckt. Sie kniete neben mir. Mit einer Decke um den Körper. Darunter nur den Slip. In meinem Kopf tauchten Bilder auf, die mir den Fahrer und Manu zeigten … »Und er?« Manu zuckte mit den Schultern. »Ich hab’ bis jetzt geschlafen.« Sie rutschte auf meinen Schoß, strich mir die langen, strähnig aussehenden Haare aus dem Gesicht. »Steifgefroren!« Manu begann eine kleine Massage an meinem Nacken. Ihr Körper fühlte sich weich und warm an. Die beiden Decken des Fahrers hatten gute Dienste geleistet. »Dabei hab’ ich fest damit gerechnet, daß er in die Koje kommen wird!« 57
Ich sog ihre Frische mit tiefen Atemzügen ein und spürte, wie sich mein Körper entspannte. »Jetzt noch den Mundgeruch wegbringen und ein gutes Frühstück«, sagte ich und lachte, als wir wieder aus der Koje und auf den Beifahrersitz zurückrutschten. »So eine harte Pritsche hat auch Vorteile«, sagte Manu und biß in mein linkes Ohr … Wir zogen uns an und öffneten eines der Seitenfenster. Der Wagen parkte auf einem Parkplatz im Stadtzentrum. Der Fahrer kam frisch rasiert, ausgeruht zurück. »Ich schlafe in Udine immer bei einer Freundin.« Meine Augen hatten sich an dem Paket in seinen Händen festgeklebt und verraten. »Is’ für euch«, sagte er, »hat Angela für euch zubereitet.« Er ließ uns wieder allein und wir machten aus dem Frühstück eine festliche Stunde. Anschließend ordnete Manu die Koje und übergab mir einen Hundertmarkschein. »Den fand ich in den Decken.« Ich glaubte ihr nicht. »Wie hast ihn gezogen?« »Der lag wirklich nur so lose in der Decke.« Sie bekam eine beleidigte Nase. Ich küßte sie und gab ihr den Geldschein. »Sag’s ihm, wenn er kommt!« »Er weiß doch nichts und wir haben kein Geld mehr …« Ich schüttelte den Kopf. »Gauner sein spielt mir keine Rolle, aber ich bin kein mieses Arschloch! Der Typ war okay zu uns, hat uns allein gelassen, vertraut …« Wir schwiegen, frühstückten und warteten auf seine Rückkehr. 58
Manu zeigte und reichte ihm das Geld. »Kindchen, behalt’ ihn! Mir gehört er nicht, und wenn er von Jörg ist, ist’s sein Bier, wäre er mitgefahren statt in München herumzusitzen.« Wir setzten die Fahrt fort. Manu kniete zwischen uns auf dem Motorschutz. An der A3 mußten wir aussteigen. »Hier findet ihr bestimmt jemanden, der euch ein Stück näher an Rom heranbringt.« Bevor wir danken konnten, fuhr er an und weg, und wir standen wieder an einem fremden Straßenrand, mit wenig Geld und einer unbekannten Zukunft. »Ihr seid ausgerissen!« sagte der Bierbauchträger und Fahrer des Sattelschleppers, ohne uns anzusehen. Er hatte an der Auffahrt zur A3 angehalten, uns einsteigen lassen und sich als steirischer Österreicher vorgestellt. Ich wurde nicht klug aus seinem Verhalten. War er Moralprediger, Wichtigmacher oder gehörte es zu seinem Spiel, bei Mädchen einen Beschützereindruck anzubringen, um sie , wenn er gewann damit, für sich zu haben, zu benützen in einer väterlich getarnten Gebrauchsliebe. »Dann fahr’ zur Polizei!« Mich ärgerten seine Klugscheißerparolen. Irgendwann waren wir auf die A4 nach Mestre abgebogen. Manu saß zwischen uns. Ihr Kopf lehnte an meiner Schulter. »Laß ihn doch reden«, sagte sie leise in mein Ohr, »Hauptsache, wir kommen weiter!« Der Mann hinter dem Lenkrad verwendete in seinen Reden manchmal Feststellungen, die mich mißtrauisch werden 59
ließen. Ich suchte nach einer Zeitung, irgendetwas, was mir bestätigt hätte, daß er zumindest die halbe Wahrheit kannte. »Du wirst sie in Rom sicher auf’n Strich schicken«, sagte er und zu Manu zugewandt, »aber wenn du willst, ein Wort genügt, ich nehm’ dich mit nach Hause!« »Null-zweiundvierzig-zweiundfünfzig-acht-acht und einhundertdreiundzwanzig«, sagte Manu langsam, betonend, »das ist Muttis Telefonnummer, ruf sie an!« »Sollte ich auch! Sollte ich wirklich!« »Sie weiß, wo ich bin!« Manu begann zu lügen und trat gegen mein Schienbein. »Er wird dich zur Hure machen!« »Nie!« Sie rammte mir den Ellbogen gegen die Rippen. »Ich halte jede Wette!« Er trank aus einer halbgeleerten Bierflasche. »Saufen beim Fahren kann sauteuer kommen«, sagte ich. Er wischte mit dem Unterarm über die Lippen und lachte: »Kannst ja aussteigen!« »Nur gemeinsam!« Manu preßte sich fest an meine linke Körperseite. »In einer halben Stunde sind wir in Padova, dann kannst mit ihm gehen oder mitfahren.« »Aussteigen!« »Schad’ um dich, Mädchen!« Er wandte sich direkt an mich, wobei ich nicht feststellen konnte, war er wütend, enttäuscht, besorgt. »Ihr schmierigen Zuhälter holt euch immer die schönsten Mädchen!« Ich reagierte ohne Absicht. »Hast eine hübsche Tochter …« 60
»Halt’s Maul!« Seine Lippen waren zu einem Strich zusammengepreßt, die Augen blickten starr, enggeschlitzt auf die Fahrbahn. Tochter, Strich und Zuhälter, ich begann ihn zu verstehen und schwieg. Manu stieß mich immer wieder mit dem Ellbogen. Lächelnd, zwinkernd. Ich verstand ihre Fröhlichkeit nicht. Nördlich von Padova bog er ab, fuhr aggressiver als bisher. »An der Auffahrt zur Strada A13 laß’ ich euch aussteigen, ich fahr’ weiter nach Abano.« Zu Manu: »Du kannst es dir noch überlegen!« »Ich hab’ einen Papi zu Hause und brauche kein Kindermädchen«, sagte sie, das Wort »Papi« betonend, und bevor ich etwas sagen konnte, trat sie gegen mein Schienbein. »Begreif doch«, sagte er, »der macht dich zur Hure!« »Kannst als Kunde jederzeit kommen!« Ich mußte etwas sagen, um nicht an der Peinlichkeit zu ersticken. »Ich werde die österreichische Polizei nach euch fragen …« »Schöne Grüße nicht vergessen!« »Und hier schreib’ ich die Telefonnummer auf, Mutti wird sich freuen!« Manu kritzelte die Nummer, die es in ihrem telefonlosen Elternhaus nicht gab, auf einen abgerissenen Notizzettel. Manu drängte zum Aussteigen, kaum daß der Wagen stand. Es gab keinen Abschied, kein Danke, nichts war an Gemeinsamkeit geblieben. Das Halten an den Mautstellen der Autostrada war verboten, und so ging alles sehr schnell. Als der Sattelschlepper an der Abfahrt nach Abano verschwand, drückte mir Manu heimatliche Geldscheine in die Hand. 61
»Er hatte sie in einer großen Tasche hinter dem Sitz!« »Der geht sicher zur Polizei!« Manu zuckte mit den Schultern. »Wir bestreiten alles und erzählen, daß er von mir was wollte und daß die Anzeige nur ein Racheakt sei …« Ich nickte. Was ich verschwieg: bei meinen Vorstrafen würde jede Anzeige gegen mich Erfolg haben. Manu bückte sich, zog mir das linke Hosenbein in die Höhe und hauchte auf jeden der beiden blauen Flecke ein Küßchen. »Für jeden Griff in seine Tasche, gab ich dir einen Tritt …« »Romantische Liebe!« Ich tastete meine Rippen ab. Spaß und Geld und Schmerzlinderung als küssende Tröstung. »Hoch lebe Marquis de Sade!« Das relativierte Zeitverbrauchen in den Langsamkeiten der Tagesabläufe und Geschehnisse verhinderte die Flucht aus den Gegebenheiten. Auf der Fahrt von Padova bis Ferrara lernten wir unseren ersten Italiener kennen. Die Unterhaltung zwischen uns verlief in der internationalen Gestensprache und in Wortverschleuderungen. Während eines Tankstopps lud er uns ins angrenzende Restaurant ein. »Cappuccino« wurde das erste Wort, das wir verstanden und sprechen konnten. In einem Selbstbedienungsladen kaufte sich Manu neue Kleidung, und in dem Duschraum, neben den Toilettenanlagen, erfrischte kaltes Wasser unsere Körper. Am Nachmittag waren wir Fahrgäste eines älteren Ehepaares aus Hamburg. Mit ihnen erreichten wir Bologna. Schwei62
gend. Sie stellten keine Fragen, und während die Frau am Beifahrersitz in einer deutschen Illustrierten las, blickte der Fahrer konzentriert auf das Betonband der Autobahn. Mit dem Abend kam die Dunkelheit und in ihr die Unsicherheit, gezeugt aus dem Wissen, zu wenig Geld und Kenntnisse über Sprache und Land zu besitzen. Engumschlungen, um Nähe zu spüren, spazierten wir, umgeben von der Atmosphäre der Großstadt, durch Straßen und Gassen, in denen wir schneller gingen, flüsterten statt laut sprachen, damit uns niemand als unterstandslose Touristen entlarven konnte. Wir umgingen die Standplätze der Huren, die auf Kunden warteten, und hielten den Atem an, wenn wir eine Gasse querten, in denen kein Licht die langen Schatten erhellte. Irgendwann erreichten wir den Bahnhofsvorplatz. »Meine Füße …«, sagte Manu und zog einen Stiefel aus, hielt sich an mich gestützt und massierte mit der freien Hand die Fußsohle. Es war kurz vor Mitternacht. Eine Nacht im Bahnhofswartesaal? Unser Geld hätte für eine Nacht in einem Hotelzimmer gereicht. Und der nächste Tag? Ich überlegte und war überzeugt, in der Bahnhofshalle wären wir bald entdeckt, aufgegriffen und zurückgeschickt worden. Zur Autobahn? Ich konnte mich nicht darauf verlassen, einen Fahrer zu finden, der uns sein Kojenbett zur Verfügung stellen würde. »Wir hätten uns einen Schlafsack besorgen sollen«, sagte Manu und setzte sich auf eine Begrenzungsmauer. Ich klatschte mir die flache Hand gegen die Stirn. Das war die Lösung: ein Schlafsack! Ich hatte nie daran gedacht, weil in 63
keinem Kästchen meiner Träume eine Reise als Tramper vorhanden gewesen war. In den Luftschlössern, die ich in der Zelle gebaut hatte, brodelte volles Leben und nie die Frage nach der Finanzierung. Die Idee erzeugte Ideen. »Komm!« »Wohin?« Ich lächelte als Antwort auf ihre müde Piepsstimme. »Wir müssen uns bewegen, nicht so ziellos herumstehen und die Augen offenhalten!« In der großen, winkeligen, trotz der Nachtstunde stark bevölkerten Bahnhofshalle fand ich sehr schnell die Räume der Gepäcksaufbewahrung. Vollbeladene Gepäckswagen fuhren zu den Bahnsteigen, kehrten zurück und Reisende gaben ihr Gepäck beim Schalter ab, andere holten sich ihres und verließen die Halle. Wir standen, schmusend, verliebt, neben den beiden Fotographierautomaten und ich beobachtete durch Manus nicht mehr ganz fettfreies Haar die Personen vor und um die Gepäcksaufbewahrung. Zwei beladene Wagen standen neben dem großen Tor, das zu den Bahngleisen hinausführte. Auf einem lagen zwei Rucksäcke und an sie angebunden jeweils ein Schlafsack oder Schlafdecke. Ich zeigt Manu, was ich gefunden hatte. »Du bleib’ hier, beobachte mich und wenn es gelingt, kommst sofort hinaus zu der kleinen Mauer, wo wir vorhin waren.« »Ich kann dir helfen …« »Nein! Wenn etwas danebengeht, laß’ ich alles fallen und laufe einfach weg und wir treffen uns auch dort, aber wenn wir zu zweit unterwegs sind, erwischen sie dich bestimmt.« Ich gab ihr das ganze Geld, das wir hatten. »Und für den Fall der Niederlage, kauf eine Fahrkarte nach Hause!« 64
Bevor Manu reagieren, mitkommen konnte, lief ich weg. Ohne Kuß und Abschied. Sie mußte stehenbleiben, beobachten, warten. Ich verließ die Halle und bewegte mich, als wäre ich zu Hause, hinüber zum großen, offenstehenden Tor. Ein Eisenbahner blickte mich, wie ich mir einbildete, zu lange an, ich steckte eine Zigarette in den Mund, bot ihm eine an und bat um Feuer. Als ich beim Tor ankam, fuhren drei andere Wagen heraus und ich mußte weitergehen, umkehren und wieder von vorne beginnen. Beim vierten Annäherungsversuch hatte ich Glück: ein Uniformierter war mit der Ausgabe von Gepäckstücken am vorderen Schalter beschäftigt, während zwei andere beim Beladen eines Wagens fluchten, und vollgefüllte Regale verdeckten ihnen die Sicht bis zu mir, dem Tor und so auch zum Wagen, den ich ansteuerte und ihn um die beiden Rucksäcke erleichterte. Einen hängte ich mir auf den Rücken und den anderen zog ich mehr am Boden schleifend als tragend hinaus auf den Vorplatz. Manu holte mich ein, lachte und half beim Schleppen der Beute. Im nahen Park, beim Kinderspielplatz, verdeckt von einem Klettergerüst und Sträuchern, durchsuchten wir die Sachen. Baumwollhemden, Pullis und Shirts, Socken und Jeans, Verbandskissen und Eßgeschirr … »Alles für Herren und das für Riesen!« sagte Manu und legte mir eines der Hemden um die Schultern. Es reichte bis zu den Knien. Wir behielten nur eines der Verbandskissen, zwei Pullover und die vier Schlafdecken. Die Rucksäcke mit den restlichen Sachen stellte ich vor das Parktor. Im giebelartigen Zwischen65
raum von Dach und Decke einer abseits stehenden Hütte fanden wir genug Platz für unser Quartier. Wir konnten uns gebückt bewegen, und im Schein der Feuerzeugflamme bauten wir, ganz hinten, ein Nest aus den Decken und die Pullover dienten als Kissen. »Ein Himmelbett!« sagte Manu und ließ sich, am Rücken liegend, Hände und Füße von sich gestreckt, entspannt, mit dem Kopf auf meiner Brust, von meinen streichelnden Händen verwöhnen … Wir verlebten, verträumten, bei Regen oder Sonnenschein, ausgefüllte Tage und Stunden mit abendlichen Erlebnissen. Wir kamen nie vor Mitternacht in unser Dachquartier aus Schlafdecken zurück. Am Morgen mußten wir noch vor den Parkreinigern und den ersten Besuchern das kostenlose Quartier verlassen. Die wenigen Schlafstunden vergingen schnell und traumlos. In einer öffentlichen Bad- und Toilettenanlage konnten wir gegen geringen Kostenaufwand unsere Körper kultivieren. Zwischen der alten Reinigungsfrau und uns entstand bald eine humorvolle Freundschaft, in der viel gelacht und wenig geredet wurde, weil wir einander nicht verstehen konnten. Sie brachte mit der Seife auch noch ein kleines Frühstück in unsere Duschkabine und lieh uns einen Föhn für Manus Haarpflege. Wir verbrachten bis zu drei Stunden in der Anlage. Ungestört. Zeitlos. Beschützt. Den Tag, den Abend, die ersten Nachtstunden trinkend und verliebt erwartend, ohne Gedanken an ein Morgen. Es war nach etwa zehn Tagen, gegen Mittag, starker Regen zwang uns zu einer frühzeitigen Rückkehr in den Park, als wir, 66
fast zu spät, den Wagen der Carabiniere entdeckten, der neben der Hütte stand. »Verfluchte Scheiße!« Manu wußte nicht, warum ich sie am Arm, mit mir, ohne auf den Regen zu achten, hinter ein schützendes Gebüsch und eine Reklamewand zurückriß. »Was hast denn?« Ich zeigte zum Polizeiauto, und wir beobachteten die Vorgänge. Ein Polizist, dirigiert von zwei anderen, war gerade damit beschäftigt, unsere geklauten Sachen herunterzugeben. Eine Frau redete und gestikulierte und wurde von den drei jungen Beamten ignoriert. »Das war’s!« Manu schmiegte sich an mich. »Zum Glück habe ich die wichtigsten Sachen in meiner Handtasche.« Der kleine, in einem Café entdeckte und mitgenommene Regenschirm schützte uns nicht ausreichend genug und so kamen wir durchnäßt bis auf die Haut zu unserer Freundin und Klofrau, die unsere Kleider mit dem Föhn trocknete, während wir in der Badewanne saßen und dem verlorenen Heim nachtrauerten. »Die Nächte sind noch ziemlich kalt«, sagte Manu und ich war mit meinen Gedanken längst den Träumen nach Rom gefolgt. »Ob uns wer gesehen hat?« »Das ist jetzt egal, wir haben wieder einmal verloren.« Nach einem Kuß sagte ich: »Auf nach Rom!« Am späten Nachmittag gingen wir, immer den Hinweistafeln folgend, zur A1. Bevor wir die Mautstelle erreichten, hatte Manu ein Problem: »Ich muß mal!« Wir wußten, Zivilpersonen durften sich an den Mautstellen 67
der italienischen Autobahnen nicht aufhalten. »Tu’ dir keinen Zwang an«, sagte ich und deutete mit dem Kopf die Böschung hinunter, »ich warte hier.« Und dachte: Idiot, was sonst! Manu rutschte aus und krallte sich an Grasbüscheln fest. Auf halber Höhe, noch sichtbar für die vorbeikommenden, neugierig starrenden Autoinsassen, verloren wirkend, wütend und verlegen, in tragikomischer Schrägstellung, versuchte sie, die freie Hand für eine knappe Entkleidung benützend, das Natürliche mit Gefühlen der Peinlichkeit zu erledigen … Als sie zurückkam, wußte ich nicht, wie und was ich sagen oder tun konnte, um die vorangegangene Unbeschwertheit wieder zu finden. Schweigend, mit Speichel und Papiertaschentüchern, wie Katzen, standen wir am Straßenrand und putzten uns gegenseitig Hände und Manus Beine, die vom Ausflug verschmutzt worden waren. Sie frisierte mich, ich sie und dann versuchten wir, mit einem aufgesetzten Lächeln im Gesicht, den Daumen in Richtung Süden, unsere Reise fortzusetzen. Mit einem Schweizer fuhren wir bis Calenzano. Er stellte keine Fragen, und wir lehnten sein Angebot, uns ins Zentrum von Firenze mitzunehmen, dankend ab. Wir wollten nach Rom und in kein anderes Stadtzentrum mehr. »Rom ist noch ein ziemlich langes Stück Weg!« Ich nickte, als wäre ich erfahren. »Wir werden erwartet.« Meine Ortskenntnisse las ich von den Straßenschildern. Immer öfter erschien der Name ROMA! Ich wollte die Stadt endlich erreichen, erleben und Bilder aus meinen Träumen verwirklichen. Alles in meinem Hirn war von den Klatschberich68
ten der Zeitungen gesteuert. Aus ihnen nährte ich in meiner Zelleneinsamkeit die Zukunftsabsichten. Hirnprojizierungen als Fluchtversuch vor dem stumpfen Zuchthausalltag. Der Schweizer warnte uns vor der kommenden Nacht. »So spät findet ihr nur schwer jemanden, der euch einsteigen läßt!« Seine Sorgen fegte ich mit einer Handbewegung aus dem Gesprächsinhalt. »Was geht ihm unser Leben an!« dachte ich und verbarg meine Unsicherheit mit übersteigerter Selbstsicherheit, deren Arroganz nur leere Hülse statt Kopf mit Hirn war. »Wir können nichts mehr verfehlen«, sagte ich, »und mit etwas Glück, wenn wir auf der A1 bleiben, können wir schon mit dem nächsten Wagen bis Rom kommen.« Manu schlief im Fond, bis war an der Mautstelle, Ausfahrt Calenzano, aussteigen mußten. Wir hatten Glück und konnten nach einer knappen halben Stunde ins nächste Auto einsteigen. Ein dicker, mit blauem Arbeitsmantel bekleideter Gemüsehändler lud uns ein, von seinem nicht verkauften Obst zu essen, soviel wir wollten. Er befand sich auf der Heimfahrt von irgendeinem Markt. Seine Heiterkeit war ansteckend, und obwohl er merkte, daß wir nicht Italienisch verstanden, redete er ohne Unterbrechung und schlug sich, das Lenkrad loslassend, klatschend auf die Schenkel. Manu lachte mit Tränen und ich lauerte wie ein sprungbereites Raubtier, um, sollte es nötig sein, sofort zum Lenkrad greifen zu können, wenn … Wir hatten Hunger und aßen Obst, bis wir nicht mehr konnten. Der Händler hatte seinen Spaß mit uns, und wir waren alle ein wenig traurig, als die Fahrt zu Ende war. Er gab uns noch zwei, mit Obst gefüllte Plastiktüten und verließ uns an der Abfahrt nach Lucignano. 69
Die Autos wurden weniger, die Nacht kälter und kälter. Ich wechselte immer öfter und entgegen aller Vorsicht von der Auffahrt hinüber zur Autobahn, auf der ein Anhalten verboten war. Tauchte auf einer der Fahrspuren ein Scheinwerferpaar auf, rannte ich dem entgegen. Irgendwann, ich hatte die Hand wieder einmal auf der Hauptfahrbahn winken lassen, stoppte ein Wagen, Opel Rekord, älteres Baujahr und mit deutschem Kennzeichen. Fahrer und Beifahrer waren zwei junge Männer, langhaarig, in Jeans und ungepflegt. Ihre Erscheinung gab mir Sicherheit, und unser gemeinsames Ziel hieß: Roma! In den frühen Morgenstunden, Manu schlief neben mir auf dem Rücksitz, hielten wir an einer Tankstelle an. »Bis Mittag sind wir in Rom«, sagte der Beifahrer, »wenn ihr wollt, könnt ihr jetzt zu einem Frühstück mitkommen!« Ich nickte in den Rückspiegel, da sich keiner der beiden nach uns umwandte. In der Raststation erfrischten wir uns innen und außen. Handtücher und Seife bekamen wir vom Fahrer des Wagens. Die Weiterfahrt verlief ebenso schweigend wie die Nachtfahrt, und als wir gegen Mittag Rom erreichten, fragte mich der Fahrer: »Wohin soll’s gehen?« Manu saß seit der Rast auf dem Beifahrersitz und der zweite Mann neben mir. Ich suchte in meinen Taschen nach einem Zettel, fand einen und tat, als würde ich das Geschriebene nur schwer lesen können. »Via Marsala!« Es war ein Straßenname aus der Erinnerung an einen Film von und mit Pier Paolo Pasolini. Ich wußte nur noch, die Straße war in der Nähe des Hauptbahnhofes und der Via Veneto. Beide Gebiete sollen die Lebensadern von Roma 70
darstellen, hatte ich einmal in einem der gierig aufgesogenen Berichte gelesen. »Das kommt gut hin«, sagte der Fahrer, »wir müssen ohnehin zur Tante in die Via Nazionale, das ist nicht weit von eurem Ziel entfernt!« Nickend spielte ich wissend den Unwissenden und war stolz auf die gelungene Täuschung. Wir erreichten den Platz vor dem Bahnhof und parkten in einer engen Seitengasse. Wir trennten uns, und die beiden Männer sprachen wieder vom Besuch bei der Tante und zwinkerten sich grinsend zu. »Ziemlich fragwürdiger Bau«, sagte ich zu Manu und deutete zum gelblichgrauen Backsteinhaus mit den von innen verhängten Fenster, in dem die beiden verschwunden waren. Wir gingen zum Bahnhof. »Giftler!« Manu gab mir, eingerollt in Alufolie, plattgewalzt, einige Röllchen in die Hand. Ich öffnete einen der Folienstreifen, schnupperte und wußte jetzt, warum es im Wagen diesen süßlichen Geruch gegeben hatte. »Scheint Marokkaner zu sein!« »Ich kenn’ das von Tommy«, sagte Manu, »ist eine gute Ware! Ich hab das im Handschuhfach gefunden, als ich neue Papiertaschentücher suchte. Es lagen noch mehr dort.« Ich verfluchte meine Dummheit. »Die sehen uns nie wieder«, sagte Manu, weil sie meine Worte falsch verstanden hatte. »Das ist es ja! Hätte ich’s früher gewußt, wäre es vielleicht eine gute Gelegenheit zur Einkommensfrage geworden. Vielleicht wäre es gut gewesen, zu ihrer Tante mitzukommen.« 71
»Ich hab’s einmal probiert und mag’s nicht«, sagte Manu und rollte die Folie wieder zu. »Ich denk ja nicht an Eigengebrauch, sondern an Verkauf!« Wir gingen in die Gasse zurück. Der Wagen stand nicht mehr vor dem Haus. »Das bringt auch etwas Geld«, sagte Manu, »und wir können wieder für einige Tage in ein Hotel, in ein richtiges Bett!« »Suchen wir Käufer«, sagte ich, »aber nur solche, die deutsch sprechen, sonst geraten wir doch nur an die falschen.« Es waren Tage, Nächte mit schillernden Aufstiegen und dunkelgrollenden Abstürzen. Einer Nacht im Hotel, mit Bad, TV und Frühstück, folgten Nächte im Park der Villa Borghese, um dann, durch Glücksfälle, wieder in ein Hotel umziehen zu können. Wir lebten unsere Verrücktheiten, ohne an danach zu denken. Im Versuch, Träume zu leben, statt das Leben zu verträumen, taumelten wir durch die Zeit, die ohne Begriff für uns war. An einem frühen Abend, wir waren auf dem Weg in unser Parkquartier, gerieten wir in eine Polizeikontrolle ohne Folgen. Unsere Präsentation als Schlafsacktouristen mit wenig Geld hatte Erfolg. Kaum im Park, weinte Manu. Ich blickte sie an, sah ihre schmutziggraue Gesichtsfarbe und spürte die fiebrige Hitze auf ihrer Stirn, im Nacken und am Hals. »Ich muß ins Bett!« Ich nickte. Sie versuchte stark zu sein. »Wir haben fast kein Geld mehr.« 72
»So viel immer noch«, sagte ich und wußte, die Summe würde nur für eine Nacht reichen. »Die kennen uns inzwischen und werden sicher nicht voraus kassieren.« »Kann es vom Gift sein?« Wir hatten, gemischt aus Neugier und Feigheit, in den kühlen Nachtstunden im Park, das Haschisch in selbstgedrehten Zigaretten geraucht. Ich schüttelte den Kopf, ohne sicher zu sein. »Gehen wir!« »Die Tage der roten Tante auch noch …« Ich küßte ihr die Tränen von den Wangen und lachte, ohne lachen zu können, aber ich mußte mich selbst vom Druck befreien, um nicht aufzugeben. Nachdem ich Manu ins Zimmer geführt und sie – die Besitzerin hatte ihren Zustand erkannt und mit Tabletten ausgeholfen – auf meiner flachen Hand liegend, eingeschlafen war, verließ ich den Raum und das Hotel. Zum ersten Mal, aus einer der Auslandstelefonkabinen im Bahnhofspostamt, sprach ich mit ihrer Mutter. »Wir sind in Rom.« Schweigen. Rauschen in der Leitung. Dann: »Wie geht’s ihr?« »Sie schläft im Hotel.« »Muß sie …, geht sie auf’n Strich?« »Nein!« »Von was lebt ihr?« »So lala und Zufälle …« »Eure Koffer habe ich bekommen und die Hotelrechnung bezahlt. Solltet ihr sie …« »Danke. Wir melden uns wieder und sagen dann, wohin die Koffer geschickt werden können.« 73
»Wie geht’s weiter?« »Südlicher und dann zurück«, sagte ich spontan, planlos, unbewußt, »vielleicht in die Schweiz, dort kann ich als Kellner gut verdienen.« »Manu soll mich anrufen!« »Ich werd’s ihr sagen und …« Die Leitung knackte, war unterbrochen, tot. Die Postbeamtin lächelte mir schulterzuckend, durch die Trennscheibe, zu. Ich bezahlte, und dann blieb mir gerade noch genug, um die Miete dieser einen Nacht begleichen zu können. Während unserer vielen Spaziergänge zwischen der Villa Borghese, Via Vittorio Veneto und der US-Botschaft, der Via Nazionale und der Umgebung des Hauptbahnhofes, hatte ich nach geeigneten Plätzen und Möglichkeiten gesucht, wo ein Geldverdienen möglich gewesen wäre. Manu als dienende Lustschwalbe aufzustellen, war zu gefährlich und kam nicht in Frage. Neben kleinen Lagerfeuern, Autos mit und ohne Fahrer, Wohnwagen und provisorisch aufgestellten Brettverschlägen, die einem Hasenstall ähnlich sahen, standen, saßen, warteten die römischen Nutten auf ihre Kundschaft. Ich fühlte mich nicht stark genug für Einbrüche und Überfälle. Die kleinen Gelegenheitsdiebstähle waren auf Zufälle angewiesen und sicherten unser Einkommen. Außer einigen Worten und Satzfetzen blieb mir die Sprache fremd, und ich hatte kein Interesse, den römischen Kerker zu erleben. Kurz vor Mitternacht beobachtete ich junge Männer, die auf einer Bank vor einer Bar neben dem Bahnhof einem Betrunkenen die Uhr und Brieftasche, Schuhe und Sakko abnahmen … 74
Rechts, ich stand vor dem Portal des Bahnhofs, führte die Via Marsala vorbei, verborgen von mittelalterlichen Säulen und an sie gelehnt: Strichjungen. Ich mußte achtgeben, keinem von ihnen zu nahe zu kommen, um weder als Kunde noch als Rivale angesehen zu werden. Mein Entschluß entsprang der Spontanität. Ich suchte selbst nach einem geeigneten Kunden. Lauernd wartete ich im Schutze einer alten Mauer. Ich trat vor, wenn ein Wagen, und es kamen viele, mit einem nicht italienischen Kennzeichen langsam, in suchender Fahrt in die Straße einbog. Mein Vortreten sah so aus, als würde ich zufällig vorbeikommen, die Straße zu überqueren … Ein Mercedes mit Hamburger Kennzeichen stoppte neben mir. Ich stieg ein, bevor mich die anderen, die warteten, wie ich gewartet hatte, erwischen konnten und spielte meine Rolle lächelnd, einladend und voller Ekel vor mir selbst, nährte damit die wütende Kraft, die ich für die nächsten Ereignisse benötigen würde. »Österreicher?« sagte der Mann, schlank und um Fünfzig. Managertyp, und sein süßliches Duftwasser trieb die Kotze bis zu Kehlkopf. »Münchner«, sagte ich, um abzulenken, »aber schon ziemlich lange in Rom, in Ausbildung sozusagen.« Er glaubte, mein begleitendes Lächeln zu verstehen. Wir fuhren stadtauswärts. »Ich fahre sonst nicht hierher.« Er suchte nach einer Rechtfertigung aus seiner Verlegenheit. »Warum die Analyse«, sagte ich ruhig und grinste, »jeder lebt nur einmal und zum Glück ist nicht jeder wie der andere und was ist schöner als zu lieben …« 75
»Aber gegen Bezahlung …« »Besorg’ mir einen Job mit deinem Gehalt und ich hör’ hier sofort auf!« Ich sprach heftig, erregt und nervös gemacht von diesem Moralisieren. Wieder beruhigt, bot ich an, was er nicht erwartet hatte. Der Endpreis war mir gleichgültig, mein Plan hatte ein anderes Fundament. »Zuerst Liebe und dann, wie in jedem Geschäft, können wir über den Preis verhandeln.« Mein Lächeln war sein schönstes Versprechen. »So einer also …«, sagte er und tastete zum ersten Mal nach meiner Hand, strich an ihr entlang bis zum Ellbogen, und ich hielt ihn mit Gegendruck bei Stimmung. Erst als seine Hand meine Schulter erreichte, statt zu streicheln, zu kneten begann, wurde ich unruhig und zum Gegenspieler. »Hier stehen sonst nur die Huren!« Ich schwieg und sagte ihm nichts von seinem Fehler, den er in seiner aufsteigenden Erwartung übersehen hatte: er gestand sein Wissen über diese Straße und das Profigeschäft. Von Mann zu Mann. Knaben für den Mann … In meinem Hirn und Traumbildern, hinter geschlossenen Augen, lebte Manu und andere Fraulichkeiten, die mir in Erinnerung kamen, um, bis wir das Ziel erreichten, ihm eine Mitspielfreude vorzuspielen, die er, jetzt in immer kürzeren Abständen suchte, abtastete … Ich rückte näher, um, wenn sein Zustand ihn nervös machte, wieder etwas abzurücken. Meine Absicht wurde gespeist von Vorstellungen. Er stoppte irgendwo in der Via Casilina, fern von der nächsten Ansiedlung, und verschloß die Türen von innen. Meine Zugriffe wurden stürmisch, gezielt, fordernd und verhinderten, daß er noch klare Gedanken bekommen 76
konnte. Seine Frage nach meinem Preis wiederholte sich, und ich schüttelte den Kopf. Nur keine Nüchternheit mehr zulassen, dachte ich und sagte: »Später, später!« Er arbeitete mit den Liegesitzen, es wurde geräumig und störte mich, weil ich die Enge suchte, in der ich den Zwang ausüben könnte. Es dauerte, für mich, viel zu lange, bis ich ihn hatte, um mich sicher zu fühlen. Ich kniete über ihn, seiner Nacktheit. »Mach’ mit mir, was du willst«, sagte er und traf die Wahrheit ohne Absicht. Ich rutschte etwas weiter nach unten und beugte mich über ihn, um sein Blickfeld einzuengen. Mein Hemd war geöffnet und diente mir jetzt als Vorhang zu seinen Augen, die er immer öfter schloß und in denen sich die Erwartung eines Pferdes, das auf den Reiter wartet, spiegelte … Ich griff zum Sakko, das neben mir auf der Konsole lag, zog mein Messer, drückte auf den verchromten Knopf am Griff und ließ die Klinge aufschnappen … Gesteuert von meinem Ekel, der Wut, dem Haß, preßte meine rechte Hand die Klinge gegen seinen Kehlkopf … Er zuckte. »Was …, was willst …« »Halt’s Maul!« Ich setzte mich auf seine Brust, drückte die Messerspitze fester gegen den Hals, als ich seine Handbewegung unter mir spürte. »Wenn du den Helden spielen willst, bitte!« »Das bringt dich für einige Jahre in den Knast!« Ich lachte laut und schrill. »Wenn sie mich erwischen! Jetzt bist du jedenfalls nicht in der Lage, um drohen zu können! Und nun dreh’ dich, ganz langsam, auf den Bauch!« 77
Er zögerte, und meine Messerspitze unterstrich die Forderung. Langsam, nach einem harten Augenkrieg, gab er auf und drehte sich auf den Bauch. Ich lockerte den Druck des Messers ein wenig, ließ aber die Spitze so am Hals entlang, seiner Bewegung folgend, mitgehen, daß kleine Blutstropfen aus der aufgeritzten Haut drangen. Drohend, aber nicht gefährlich. Ich fesselte seine Hände mit Schuhbändern auf den Rücken. Nachdem ich mich angezogen hatte, kurbelte ich den Fahrersitz in die Normalposition und setzte mich erleichtert, ausatmend hinters Lenkrad und rauchte zufrieden eine seiner Zigaretten. Immer bemüht, seine nackte Kehrseite nicht sehen zu müssen. »Was machst jetzt?« Ich hatte mir darüber noch keine Gedanken gemacht, schwieg und durchsuchte seine Taschen nach Geld. Alles andere ließ ich unberührt. »Nimm was du willst, aber fahr’ mich zurück in die Stadt!« Seine weinerliche Stimme wurde zum Reizmittel. Ich sah in ihm einen kompetenten Vertreter der heuchlerischen, verlogenen Gesellschaftsklasse, die mich ablehnte, die mich zu diesem Leben gezwungen hatte und von denen niemand auch nur einen Tag Hunger hatte, oder ohne Quartier dem nächsten Tag entgegenzittern mußte. Vor meinen Augen erschienen die Frau aus dem Sozial- und der Mann aus dem Arbeitsamt, wie sie sich, als sie meine Herkunft erfahren hatten, ihre Gesichtszüge verächtlich entstellt, von mir abwandten. Es wurde immer schwerer für mich, diese Wut aus der Erfahrung nicht in einem Racheakt enden zu lassen. 78
Ich fuhr die Via Casilina weiter, bis kein Haus mehr zu sehen war. Rundherum war Weite. Lichtlos. Hinter Büschen, auf einem Wiesenweg hielt ich an. »Endstation!« Ich zog die Sitzdecke, die ich für die Fahrt über ihn gebreitet hatte, weg. »Aufsitzen!« »Nie«, sagte er und seine Stimmlage kam nicht über ein Piepsen hinaus, als er sah, wo wir waren. Nachtnebel verhinderten eine weite Sicht. Mein Grinsen leuchtete aus der Fratze. »Raus!« Er suchte in meinen Augen und blieb erfolglos. »Hier bringst du mich nie …« Ich stieg aus, ging um den Wagen herum, öffnete die Beifahrertür und zog ihn ins Freie, hinein in die Nachtfrische. Er wollte sich wehren, spreizte die Beine und unterlag mit seinen gefesselten Händen. Sein Weinen brachte meine Wut zum Kochen. Es durfte kein Zurück mehr geben. Ich zog ihm, die an den Waden baumelnde Hose aus und warf sie verstreut, wie alle anderen Kleidungsstücke ins nahe Gebüsch. Aus mir brach hassender Zynismus. Ich spuckte und trat gegen ihn, unterbrochen von Haßtiraden … Mein Körper fühlte sich verspannt an, als wenn Ameisen in mir wären, und ich wollte ihm vieles sagen, was ich dann doch unterdrücken konnte, um mich nicht zu verraten. Ich bearbeitete ihn, ohne ihn zu sehen. Er war noch ein Objekt. Ich beobachtete mich in greller Schärfe, und die Bewegungen spielten im Zeitlupentempo irreale Ereignisse ab. Die zackigen Handgriffe wurden von schrillen Schreien begleitet, ich konnte mich nicht beruhigen. Ich hörte ihn und verstand nicht, was er sagte. Fast zu spät spürte ich den Druck der gefüllten Blase, erste 79
Nässe sickerte in die eigene Hose. Mit dem Rest spielte ich Köter und benutzte seinen nackten Leib als Baumstamm … Irgendwie kam irgendwann die nüchterne Überlegung zurück. Ich ließ seine Füße ungefesselt und fuhr allein, ohne ihn noch einmal anzusehen, nach Rom zurück. Als ich den Bahnhof erreichte, ohne sagen zu können, wie ich es ohne Unfall geschafft hatte, verringerte ich das Tempo und parkte in einer Seitengasse, um mein inneres Beben zu besiegen. Der Blick in den Rückspiegel zeigte Augen, die dem Wahnsinn entkommen waren. Ich stieg aus und versuchte mit Hilfe von Gymnastikübungen Ruhe in mich zu bringen. Für Augenblicke kehrten die Gedanken an den Mann zurück, und als ich mich befragte, weshalb ich mich so verloren hatte, fand ich keine Antwort. Ich dachte an Manu und verdrängte die aufgetauchte Idee, ihn zu holen, und die Hyäne in mir beruhigte mich mit der Tatsache, daß ich den Mann ohnehin nicht mehr finden könnte … Ich parkte vor dem Hotel. Wir mußten Rom noch vor dem endgültigen Erwachen des neuen Tages verlassen haben. »So eilig?« Manu stützte sich auf den Ellbogen und rieb sich den Schlaf, der sie vom Fieber befreit hatte, aus den Augen. Ich hatte sie unsanft, meiner inneren Unruhe angepaßt, geweckt und vermied es, zu nahe an sie heranzukommen, um nicht in ihren Armen in die Weichheit der Sehnsüchte zu verfallen. »Wir haben Geld, einen Wagen und müssen so schnell es geht wegkommen!« Manu blickte mich an, sah auf die Uhr, legte sich zurück und zog die Decke bis ans Kinn. 80
»Das ist kein Scherz, Kleines! Wir müssen verduften!« Ich ging ins ins Bad, zog mich aus und schrubbte meinen Körper mit kaltem Wasser. Als ich zurückkam, stand Manu beim Fenster, blickte hinaus. »Mach’ weiter! Ich erzähle dir alles.« Ihre fragenden Blicke schmerzten mich. »Solange das Benzin im Tank reicht, haben wir einen fahrbaren Untersatz.« Langsam begann sich Manu anzuziehen. »War es schlimm?« »Nein und ja …, ach was, es ist geschehen.« Ich trocknete mir die Haare. »Es war ein Deutscher …« »War, sagst du …« Ich konnte lächeln und beruhigen. »Nicht so, wie du es verstanden hast, Liebes! Er ist immer noch und passiert ist ihm auch nichts. War nur etwas peinlich.« Ich küßte ihre Nasenspitze. »Damit wir einen Vorsprung bekommen, habe ich ihn irgendwo vor der Stadt ausgesetzt.« Manu entspannte sich, wusch und schminkte sich für den kommenden Tag. »Nicht zu viel«, sagte ich und massierte ihren Nacken, »ich liebe die Natürlichkeit!« Ich klemmte einen Hundertmarkschein, deutlich sichtbar, an den Spiegel und schrieb mit Manus Lippenstift: BUENA SERA! Wir konnten das Hotel ungesehen verlassen. »Niemand wird nach einem Pärchen fahnden«, sagte ich, während ich den Mercedes startete und abfuhr, »sondern einen jungen Burschen, der sich sein Geld in schwulen Kreisen verdient.« »Du siehst aus wie Tausende um Zwanzig.« Manu legte ihre linke Hand auf meine Schulter. »Ob sie das Auto schon suchen?« 81
Ich folgte ihren Blicken und sah im Rückspiegel einen Wagen der Carabiniere mit eingeschaltetem Blaulicht, der, ohne Folgetonhorn, näherkam und uns überholte … Keiner der drei Uniformierten blickte zu uns. Mein Puls beruhigte sich. Wir fuhren die A2 in Richtung Neapel. An einer Raststätte parkten wir etwas abseits von den anderen und gönnten uns ein erfrischendes Frühstück. An der Tankstelle kaufte ich einen Reservekanister Benzin, da ich ein direktes Vorfahren zu den Zapfsäulen vermeiden wollte. Ein guter Tankwart ist über gestohlene Fahrzeuge bestens informiert. »So ein Wagen ist echt Spitze!« Manu begann zu schwärmen und machte es sich bequem. »Da wären wir alle Quartiersorgen los.« »Leider können wir nicht mehr lange damit herumkurven, denn ab acht Uhr früh geht die gezielte Fahndung sicher los.« Kurz vor Capua mußte ich zum zweiten Mal halten und den letzten Benzin aus dem Reservekanister nachfüllen. »Wenn du willst, kaufe ich an der nächsten Tankstelle neu ein!« Ich schüttelte den Kopf. »Jetzt nicht mehr, wir sind ohnehin schon zu lange unterwegs mit dem Auto, und wenn sie uns erwischen, gibt es zuviel Knast!« »Und wenn wir uns ein eigenes Auto kaufen?« Ich machte mit Daumen und Zeigefinger das internationale Geldzeichen. »Wie lange müßte ich anschaffen?« Mein Lächeln war ehrlich. »In Italien überhaupt nicht, und was einmal sein wird, kann ich dir noch nicht sagen.« »Kehren wir um, fahren wir in die Schweiz statt nach Süden.« 82
»Das wäre zu gefährlich, weil sie ganz sicher die nördliche Richtung nach dem Wagen absuchen. Auch die Mautstellen sind mir zu riskant.« »Wohin willst jetzt?« »Palermo«, sagte ich und dachte zum ersten Mal an diese Stadt, »wenn wir schon so weit sind, möchte ich nicht darauf verzichten, Sizilien kennenzulernen. Außerdem gibt es hier unten bereits schönes Frühlingswetter, nicht mehr so naßkalt wie in Bologna.« Der Zeiger der Benzinuhr zitterte an der roten Markierung. Ich verließ die A2 an der Abfahrt nach Capua und suchte eine geeignete Stelle, wo ich den Wagen verschwinden lassen konnte. An der Einmündung eines Feldweges blieb ich stehen. »Warte hier!« Manu nickte, stieg aus und stellte sich abseits der Straße an eine Scheune. »Damit niemand meint, ich würde auf ihn warten und möchte mitfahren.« Ich fuhr den Feldweg entlang und hielt im Innenhof eines verfallenen, abgebrannten Hauses, dessen Brandruine die Sicht zur nahen Autobahn verstellte. Die Autodecken zerriß ich in schmale Streifen, stopfte sie in den Tank und legte eine Zündstraße bis zu einer der Mauern. Meine fiebrige Hektik verlangte mehrere Streichhölzer, bis es mir gelang, einen Stoffrest in Brand zu setzen, den ich dann zu den benzingetränkten warf … Ich lief zu Manu zurück. »Nur eine kleine Stichflamme gab es«, sagte sie mir, und wir schmusten in enger Umklammerung. Zurückgekehrt zur A2 begann die Wartezeit auf eine Mitfahrgelegenheit. Noch immer waren Brandnebel zu sehen. »Warum das Feuer?« 83
»Ich hatte keine Handschuhe, und ein verkohltes Autogerippe gibt kaum Spuren ab!« Etwas weiter vorne stoppte ein kleiner Fiat und schlingerte auf den letzten Metern. Ich sah den Plattreifen, rechts hinten … Als wir hinkamen, wollte eine junge Frau gerade mit dem Reifenwechsel beginnen. Ich bot mich an und verwendete Gesten und einzelne Worte. Sie lachte. »Ich unterrichte die deutsche Sprache«, sagte sie erklärend, »und der Reservereifen ist im Kofferraum!« Zweimal kam ein Beamter der Mautstelle und mahnte zur baldigen Weiterfahrt. Er wußte nicht, daß wir nicht zum Fiat gehörten, blickte aber mehrmals hinüber zum alten Mauerwerk, aus dessen Mitte immer noch schwarzer Rauch aufstieg. »Können wir mitkommen?« Manu stellte die Frage für mich. Die Frau lud uns ein: »Ich fahre bis Neapel!« Endlich war der Reifen montiert, meine Hände verschmiert und zwei Fingernägel ab- und eingerissen. An der nächsten Tankstelle legten wir eine Rast ein. Ich konnte in der Waschanlage meine Hände reinigen. Etwas später kam es zu einer weiteren Pause, die wir bei einem gemeinsamen Mittagessen in einer Raststätte verbrachten. Diesmal war die Frau unser Gast, Geld war seit der letzten Nacht nicht mehr das große Problem. Unser täglicher Spaziergang begann beim Corso Vittorio Emanuele, führte vorbei am Park der Villa Floridiana und unbeschwert, losgelöst von der Vergangenheit passierten wir die Via S. Rosa, die Plätze um das Castel S. Elmo und Certosa de S. Martino … 84
Die Wanderungen mit vielen freien Stunden in Zeit und Gefühl führten uns zum Museum Nazionale und hinein ins Hafenviertel. Sorg- und angstlos erforschten wir die Gassen und Bars im Bereich der Via Caracciolo. Landeten wir, was selten geschah, nachts in der Via Partenope erzählte ich Manu meine Schulerinnerungen. Horrorgeschichten aus der Vergangenheit des Castel dell’Ovo erzeugten Gänsehaut. An der Ecke von der Via Della Marina und dem Corso Garibaldi endeten unsere Entdeckungsgänge. Täglich. Nächtlich. Wir waren verliebt und eingefangen von der neapolitanischen Atmosphäre. Die Gefühle erlebten ihre langgesuchte Freiheit. In einer kleinen, gemütlichen Pension hatten wir uns eingemietet. Alles, was uns begegnete war neu, ungewohnt und oft standen wir staunend und mit Kopfschütteln vor Türen, die aus dem mit spärlichen, braunen Gras überwucherten Boden zu kommen schienen. Inmitten von abgebrannten, zusammengestürzten Hausruinen, nummernlose Eingangstüren, mitten in der Stadt, aus denen Frauen, Kinder und Hunde kamen … In den Kellern lebten Familien ohne Zwang und Angst vor stupiden Vorschriften. Sie zählten nicht zu den Privilegierten und fühlten sich wohl in ihrem Freiheitsbesitz. Kinder bevölkerten die Straßen und Gassen und hingen wie Trauben und ohne Fahrschein an den Schienenbussen. Neben, vor und hinter ihnen rannten abenteuerlich aussehende Mischlingshunde, Köter, die niemals frei herumlaufen dürften in unserem so gepflegten und kontrollierten deutschen Kulturraum. Wer wohl wo glücklicher ist, dachte ich und schwieg. Manu spielte mit Kindern und Hunden. Von den Wirklichkeiten, die sich dahinter verbargen, wußte und ahnten wir nichts. Ge85
genwart ohne Zukunft. Für uns wurden die Tage und Nächte zur Traumerfüllung. Nur die dunklen, unförmigen Kleider der Frauen, die vor ihren Haustüren saßen, nähten, strickten, diskutierten, bedrückten unsere Stimmung. In ihnen lagerte etwas Gewesenes, Trauriges. »Bei uns würden Hundertschaften Polizei in Erscheinung treten«, sagte ich zu unserem Vermieter beim Anblick des florierenden Schwarzmarktes mit eingeschmuggelten Zigaretten, »wenn so ein freier Markt und noch dazu mit Kindern betrieben würde …« Der Mann nickte und zwirbelte seinen dünnen, langen Schnauzbart. »Deshalb ich nix in Deutschland bleiben. Alles ist Gesetz und verboten und niemand versteht den anderen. Hier in Neapel noch alle Familien zusammenhalten!« Ich konnte nicht widersprechen. In einfachen Worten hatte er demaskiert. Jede Vorschrift hat ihre Organe, die nur dazu existieren, um zu prüfen. Aus Prüfern werden Überprüfte. Immer nach unten, ab einer gewissen Stufe, nach oben gerichtet, bleibt die Kontrolle wirkungslos. Die an der Macht machen sich Gesetze, die sie haben müssen, nicht um die Gerechtigkeit zu pflegen, sondern um das möglich zu machen, rechtlich abzudecken, was sie machen wollen und um jene Ereignisse, ebenso rechtlich abgedeckt, zu verhindern, abzublocken, die sie stören. So bleibt alles angeordnet, um Anordnungen einzuhalten. Einzelkämpfer werden von Apparaten eingenommen, auf Posten gehoben und so zum Schweigen gebracht. Wer nicht mitspielt, wird ignoriert, durch Intrigen fertiggemacht, und rette sich wer kann vor der Psychiatrie. Viele müssen auswandern, um atmen zu können. 86
Ich begann den Hafen zu meiden, wanderte mit Manu ins Stadtzentrum, in den Parks verträumten wir, im Gras liegend, die Mittagsstunden. »Wie lange bleiben wir?« Palermo hatte ich vergessen. »Fahren wir in die Schweiz?« Ich nickte. »Bald!« »Mutti kann uns die Koffer dorthin schicken.« Ich küßte sie, strich ihr durch die Haare. »Ich möchte wieder einmal zum Friseur.« »Ich warte im Café gegenüber«, sagte ich und zeigte Manu Friseurgeschäft und Café, »und dann lassen wir einige Fotos für deine Mutter anfertigen, damit sie sieht, so dreckig geht’s uns nicht, wie sie vermutet.« Der Bahnhof blieb unser Ausgangspunkt zu allen Unternehmungen. Trennungen und Treffen fanden vor ihm statt. Die Pension war nur zwei Quergassen entfernt und in Sichtweite. Während Manu beim Figaro saß, vertrieb ich die Zeit mit Gedankenspielen und sprach dazwischen mit dem Kellner des kleinen Cafés. Er hatte sechs Jahre in einem deutschen Gefängnis verbracht, und seine Tips für das Leben in Neapel hatten uns etliche Vorteile verschafft. »Heute allein gekommen«, sagte er und deutete mit dem Kopf zu einem der kleinen Tische vor dem Lokal, »sonst immer blonde Mann mit.« Ich sah das Mädchen, seine dunklen Augen und wußte, was er wollte. »Du denkst, heute ist sie frei!« Ich lachte und schlug ihm auf den Rücken. 87
Er wiegte den Kopf. »Sie heute anders als sonst, wenn sie kommt, heute nichts reden, lacht nicht und sieht müde aus. Schon dritte Mal hier heute.« Sie sah gut aus, drehte das halbvolle Cola-Glas zwischen den Fingern und blickte irgendwohin in die Ferne. Im Gesicht spielten Nachtschatten Verräter. Ihre Beine waren wadenbetont, nicht schlank, auch nicht zu stämmig und während ich sie musterte, konnte sie keine Minute lang ruhig sitzen, die Beine wechselten von einer zur anderen Stellung. Sie wirkte angespannt, bereit, sofort aufzuspringen … »Amore mit Kummer«, sagte ich zu Giovanni. »Sie nix reden will mit mir!« Ich blickte ihn mit hochgezogenen Brauen an. Er nickte. »Habe es versucht, aber sie blickt immer in andere Richtung, sagt, sie mag nicht Papagalli …« Sie wollte sich erfrischen, frisieren, die Lippen nachstreichen und ich sah, wie ihre Hände zitterten. Ihr wogender Busen schien das Shirt bald zu durchbrechen. Sie mußte, warum auch immer, ziemlich erregt sein. »Du reden mit ihr!« Giovanni blickt mich treuherzig an. Ich lachte und dachte, daß sie seinen Stolz erwischt und verletzt hatte mit ihren Abweisungen. »Für dich?« Ich fragte, um Zeit für Überlegungen zu bekommen, Giovanni nickte, bewegte sich wie ein verliebter Gockel. »Sie schöne blonde Frau mit heller Haut …« Ich dachte an Manu und ihre Eifersucht. »Aber nichts ohne Gegenleistung!« Er hob die Augenbrauen in die Stirn. Ich machte mit der 88
Hand, symbolisch, einen Pistolenschuß. »Sehr leise, präzise und mit Zubehör!« »Das kein Problem, komm morgen Abend vorbei!« Er klopfte mir auf die Schulter, zwinkerte und stieß mich lachend zur Tür. »Haut doch endlich ab, ihr Geier!« Sie sprach leise, mit einem Beben in der Stimme und die freie Hand umklammerte die Tischkante, daß die Knöchel weiß durch die Haut schimmerten. Ich hatte dreimal gefragt, ob ich mich auf einen der drei freien Plastikrohrstühle setzen dürfte. In ihren Augen blitzte Krieg. Sie war keine Deutsche, wie Giovanni vermutete, sondern sprach mit österreichischem Akzent. »Warum so heiß?« Ich setzte mich mit dem Rücken zum Bahnhofsvorplatz. »Hat dich der Spaghettifresser geschickt?« Sie blickte mich an und ich sah hinter ihr Giovanni in der Tür stehen, der beobachtete. »Lüg nur ich hab’ euch längst gesehen, wie ihr zu mir herausgegafft habt!« Ihr Angriff machte mich wütend. »Ich kenn’ dich nicht, ich weiß nicht, was los ist mit dir und ich scheiß’ auf dich und deinen blonden Typen! Der Spaghettifresser heißt Giovanni und ist ein verläßlicher Kerl. Was mich angeht, ich bin mit einer Freundin hier, die jetzt beim Figaro sitzt, also spar’ dir die Luft oder was in dir sprudelt!« »Jetzt kommst dir besonders schlau vor, was!« Ich schluckte ihre Reaktion weg. Sie versuchte sich in der Schriftsprache und scheiterte daran. Um sie zu provozieren, sagte ich: »Jaja, verstehe, da fahren sie mit dem Lastwagen und hau’n des Zeig’l auf d’ Ladefläche!« 89
»Trottel!« Sie lachte zum ersten Mal. »Danke für die Blumen! Aus Salzburg, Linz oder Wien?« »Linz.« »Von wo?« Sie schwieg und wurde mißtrauisch. »Ich lebte einige Zeit dort.« »Nicht direkt, aus Rohrbach …« Ich lächelte. »Muh-Viertel!« Neues Eis klirrte zwischen uns. »Wir sind hier aber in Neapel und nicht im Mühlviertel, deshalb solltest lieber nicht Töne wie Spaghettifresser in die Gegend werfen!« Zuerst kamen Tränen, dann sprang sie auf, der Stuhl kippte um und rannte weg. Ich stellte den Stuhl auf, blickte, die Schultern hochziehend, abwechselnd zu Giovanni und zur Davonlaufenden. Er flehte mich an, ihr zu folgen und sie zurückzubringen. Ich rannte als Mitglied der Liebesarmee hinterher … In einer Gasse, im dämmrigen Winkel eines Torbogens, mit dem Gesicht, die Hände davor, gegen die Mauer gelehnt, stand sie und weinte hemmungslos. Ich wartete die Eruption ihrer Gefühle ab. Dann erst trat ich zu ihr, strich ihr sanft übers Haar, legte zwei Strähnen, die ihr ins Gesicht gefallen waren, nach hinten, klemmte sie hinter die Ohren und faßte das Mädchen um die Taille. Sie wehrte sich nicht mehr, und für Zuseher standen wir wie ein verliebtes Paar vor der Haustür. »Sage nur, was du sagen willst!« Sie nickte und ich half ihr beim Trocknen der Tränen. Als sie ihre Geschichte erzählte, mußte ich mich mehrmals knei90
fen, zu sehr glich sie der von Manu und mir. Nur saß ihr Freund bereits im Kerker von Neapel. »Wegen Autodiebstahl und weil er keine Papiere hatte, in Österreich im Fahndungsbuch steht, darf ich ihn nicht einmal besuchen.« »Und was hat das mit Giovanni zu tun?« »Wir waren jeden Tag bei ihm und er wußte, daß Jörg einen Wagen für die Rückfahrt stehlen wollte …, er hat seine Anspielungen deutlich genug gezeigt, wenn ich nicht mit ihm …« »Vergiß den Rest, es sind dumme Gedanken!« Ich führte sie, einen Arm um ihre Hüfte gelegt, zurück. Das Bild von Giovanni bekam in meinem Hirn andere Randungen. Wir setzten uns auf den alten Platz, und Giovanni fragte derart auffällig mit seinen Augen, daß ich nicht anders konnte, als ihm laut zuzurufen: »Warte noch etwas!« »Warum bist du wieder hierher …« »Weil ich mit Manu ausgemacht habe, hier zu warten, bis sie vom Friseur kommt.« »Und dann?« »Wir sind, wie ihr, abgehauen und wollen weiter in die Schweiz.« »Jörg redete auch immer von Rom und daß ich dort besser verdienen könnte als anderswo …« »Als Fremde, die noch dazu kaum Italienisch kann, hast du keine Chance. Ich war mit Manu dort und habe das Straßengeschäft beobachtet.« Wir saßen jetzt nicht mehr gegenüber, sondern nebeneinander, weil ich früh genug sehen wollte, wenn Manu über den Platz kommen würde. Es wurde spät und ich nervöser. Manu 91
hatte mich noch nie so lange warten lassen. Meine Blicke wechselten zwischen der Uhr und dem Friseurgeschäft, im Magen rumorte ein flaues Gefühl. »Sie wird doch keinem Giovanni in die Hände gefallen sein«, sagte Babs und trat verspielt gegen mein Schienbein. Ich schwieg und verfluchte meinen Magen, der mich in zehn Minuten dreimal zur Toilette zwang und es wurde nur flüssiger, brennender und nie befreiender … »Wartest hier oder kommst mit?« Manu hatte den Zimmerschlüssel und ich wollte nachsehen, ob sie dort war. Nach einem spöttischen Blick zu Giovanni sagte sie: »Ich komm’ mit!« Ich nickte. »Warte, ich muß ihm etwas sagen, damit er beruhigt ist, denn, wenn dein Verdacht stimmt, kann ich Jörg in seiner Zelle begrüßen.« »Weiß er was von dir?« »Nicht viel, aber genug und peinlich, wenn er es benützt.« Ich ging zu ihm. »Die hat dich noch nicht im Herzen, aber es kommt. Ich geh’ ins Hotel, hol’ Manu und dann kommen wir zurück.« Seine Augen verengten sich und die Fassade der Freundlichkeit bekam Sprünge. »Wann kommst du zurück?« Ich lachte, klopfte ihm wie immer auf den Rücken, zwinkerte ihm vertraulich zu und sagte leise: »Früh genug, damit du ein warmes Bett haben wirst, sie weiß nicht, wo sie schlafen könnte …« »Sie jetzt bleiben …« »Sie will aber noch nicht!« »Geht sie mit in deine Zimmer?« »Schön wär’s!« sagte ich und zeigte eine gezüchtete Fassade. »Nur wird Manu kaum mitspielen!« 92
»Ich warten!« Die Drohung war nicht zu überhören. »Die letzte Nacht hat sie im Freien verbracht, und sie wird froh sein, in ein ordentliches Bett zu kommen.« »Ehrenwort?« Ich gab keine Antwort mehr, um mich nicht zu verraten. Er konnte nicht anders, als mit seinem miesen Charakter denken und agieren, nur um den eigenen, gierigen Vorteil zu erlangen und ich glaubte Babs, daß er hinter der Festnahme Jörgs steckte. Er wollte ihren Körper als Ware, zuerst für sich, dann für seine Landsleute. Babs hakte sich ein, während wir den Platz überquerten und ich konnte nichts mehr erklären, die Zeit war zu lang geworden, und, je näher wir der Pension kamen, desto brutaler rebellierte mein Magen, weil er die Antwort kannte, die ich noch suchte. »Warte hier im Lokal«, sagte ich zu Babs und führte sie zu einem der freien Tische, nachdem ich mich abgesichert hatte, daß Giovanni uns nicht mehr beobachten konnte. »Ich bin gleich zurück!« »Wie lange …« »Hast du etwas vor?« Sie schüttelte den Kopf und war nahe an neuen Tränen. »Ich werde warten, was soll ich sonst unternehmen!« »Es gibt immer einen Weg!« Ich verließ sie und ging zur Pension. Ich durchquerte den Vorraum und wurde vom Besitzer, der ein Gemisch aus Deutsch und Italienisch verwendete, angerufen: »Da zu Telefon, Frau schon …«, und er hielt vier Finger in die Höhe, »… sisi, Quattro, sie immer dich verlangen!« 93
Ich nahm den Hörer. »Du Schwein! Schuft … hundsgemeiner Schuft du …!« Ich schluckte, stand mit gekreuzten Beinen und zusammengepreßten Arschbacken, in der schwitzenden Hand den Hörer. »Manu …, was is’, hast du getrunken …« Sie lachte schrill auf. »Sei still! Du Schwein …, ich hab’ alles gesehen!« In meinem Hirn das Bild von Babs, mein Arm um sie … »Manu, warte, komm her, laß dir alles erzählen …« Wieder erklang ihr hysterisches Lachen. »Ich hau’ ab! Du hast mich nur ausgenützt, sei froh, daß ich den Mund halte …« Ihre Stimme wurde von Tränen erstickt. Die Kleider klebten an mir und ich wußte nicht, was tun, um ihr zu zeigen, daß sie sich irrt. »Hör’ zu, Manu, laß mich einmal ausreden …« »Nein! Nie mehr …!« Ich fühlte jetzt, sie war mehr als ein Abenteuer geworden. »Wo bist du?« Wieder Schluchzen, dann die Stimme, unzugänglich, eisig. »Wir sehen uns nie mehr und komm nicht zu mir, such’ mich nie!« »Warum? Sag’ mir, was los ist, oder …« Sie lachte laut auf. »Es gibt kein Oder, ich hau ab! Nach Hause, Mutti weiß Bescheid und wartet auf mich.« Sie wurde ruhiger. »Ja, mir tut alles leid … ja, ich hasse dich!« Ich schwieg. »Das Geld habe ich mitgenommen, ich gehe nach Hause, begreifst du’s!« »Ich hol dich ab! Wo bist du …« »Du wirst mich nicht mehr finden!« Sie lachte und weinte und hatte verdammt recht. Ich konnte sie in Neapel nicht 94
mehr finden. Der Lärm im Hintergrund verriet zwar ihren Aufenthalt, es mußte ein Lokal sein, eines der unzähligen in dieser brodelnden Stadt … »Was willst du von mir hören?« »Ich hab’ alles gesehen!« »Was du gesehen hast, war doch nur …« »Du hast sie natürlich nur aus Mitleid umarmt und geführt, was!« sagte sie, lachte schrill und ahnte nicht, wie nahe sie der Wahrheit kam. »Hör mir nur fünf Minuten zu, dann …« »Schweinschwein! Nichts höre ich mehr, ich kehre um, geh’ nach Hause!« »Komm rüber und rede selbst mit Babs, sie sitzt im Café gegenüber und wartet, bis wir zu ihr kommen, gemeinsam, hörst du …« Sie lachte. »Lügner! Geh nur, nimm dir die Babsi …« »Manu!« »Aus!« »Manu!« Ich schrie und die Leitung war tot. Mit Tränen kämpfend, flüsterte ich noch mehrmals ihren Namen in die Muschel. Es war vorbei. Aus. Gewißheit. Der Besitzer blickte mich verlegen an, er hatte einige Worte verstanden und mein Zustand erzählte ihm den Rest. Ich mußte meinen Mund zu einem Grinsen vergewaltigen. Schulterzuckend. Männlich. Nur keine Trauer zeigen. Er verdrehte die Augen gegen die Decke und fast andächtig stammelte er: »La donna! La sventura!« Ich nickte. Qual und Hölle gehört zur Liebe. Später, allein im Zimmer, fand ich Manus letzte Botschaft, hingekritzelt auf ein Blatt Papier, zerknüllt und dann wieder 95
glattgestrichen, und wenn es keine Wassertropfen waren, die die Schrift verschmierten, dann Tränen. Schreiende Eifersucht hatte unsere Gemeinsamkeit erwürgt. Sie hatte alles mitgenommen. Nicht eine Mark hatte sie zurückgelassen. Egoismus? Strafe? Tatsache! Ich setze mich, den Kopf in die Hände gestützt, auf das ungemachte Bett. Kälte drang nicht nur durch das Fenster. Ich besann mit der Weigerung, an Liebe zu denken und Manus Bild einzubauen. Die Wegnahme des ganzen Geldes brachte nüchterne Enttäuschung und neue Probleme ins Geschehen. Ich ging wieder nach unten, um zu Babs zurückzukehren. Im Vorraum fragte der Mann: »La Stazioni, äh?« Idiot! Ohne zu antworten, begann ich zu laufen. So nah lag die Erkenntnis und ich hatte sie nicht gefunden. Heimreise und Bahnhof. Ich rannte, ohne auf die hupenden, kreuz und quer fahrenden Autos zu achten, über die Straße, den Platz und hinein in die Halle. Niemand konnte oder wollte mich verstehen. In der Auskunft dienten drei Frauen und fragten lächelnd: »Pariare Italiano?« Und eine überreichte mir einen Fahrplan mit den drei Weltsprachen. »L’orario ferrovario!« Ich begann zu suchen und fand ihn, den Zug nach RomaMilano mit Kurswagen nach Zürich und Wien … SIEBZEHNUHRFÜNFUNDZWANZIG! Es war Achtzehnuhrzehn. Es war einmal! Ich verließ die Auskunft und ging zum Postamt und ließ mir von der Telefonistin eine Auslandskabine zuteilen. »La telefonata«, sagte sie und nach einem weiteren Klicken hatte ich 96
Manus Mutter in der Leitung. »Ich weiß«, sagte sie, »es ist besser so, sie ist nichts für so ein Leben.« Ich bat sie, Manu die Wahrheit zu sagen, nichts sonst. »Sie muß wissen, daß ich sie nie benutzt habe oder gemein zu ihr war.« Ich spürte Tränen und bekämpfte sie mit meiner aufkeimenden Wut. »Wenn sie kommt, rede ich mit ihr«, sagte die Mutter und ich wußte, sie würde ihr nie etwas sagen. Ich hängte ein, ohne Abschied, und hatte kein Geld für die Bezahlung. Mit einem Lächeln ging ich wieder zur Dame und ließ mir eine neue Leitung nach Österreich geben, eine andere, erfundene Nummer. Während sie für mich die Verbindung herstellen wollte, lief ich davon, hinaus auf den Vorplatz, die Menschen und die abendliche Dunkelheit als Schutzschild benützend. Babs hatte gewartet. »Vorbei?« Ich erzählte ihr die Geschichte der letzten neunzig Minuten. »Ich habe kein Geld mehr«, sagte sie und wir hatten eine weitere Gemeinsamkeit. »Gehen wir!« »Wohin?« »In die Pension.« »Ohne Geld?« »Der Mann kennt mich, weiß, daß ich bisher alles bezahlt habe und wir müssen eben so auftreten, als hätten wir Geld.« Als wir eintraten, stand der Mann neben der Treppe, die zu den Zimmern hinaufführte. Sein Lachen beruhigte mich. »La camera a due letti?« Er wollte die Frage mit einem Zwinkern des linken Augenlids begleiten und verzog dabei sein Gesicht zu einer Grimasse, daß wir laut lachen mußten. Zu dritt. Jeder nach seinen Gedanken. 97
Ich nickte. Natürlich wollte ich das Zweibettzimmer behalten. Und vorher etwas essen. »Minestra in brodo, äh?« Er verbeugte sich einladend. »Spaghetti!« Der Mann rieb sich die Hände und schnalzte mit der Zunge. »Fuoriserie!« »Was meint er?« Ich lachte Babs zu. »So was wie Sondergericht oder Sonderanfertigung, keine Ahnung, Hauptsache, wir bekommen was in den Magen!« »Und alles ohne Geld …« Ich legte ihr den Finger auf die Lippen. »Wer über Geld redet, hat schon keines.« Nach dem Essen ließ ich alles auf die Zimmerrechnung notieren. »…äh, und colazione, äh, und la stanza, äh, uno conto!« Die Serviererin schrieb alles auf, und wir gingen zufrieden nach oben. »Und jetzt?« Ich legte meinen Arm, diesmal fordernd, um ihre Taille. »Warum an Probleme denken, die erst morgen auftauchen!« »Wie lange willst du hier bleiben?« »Vergiß Giovanni nicht, der auf uns wartet und das umsonst!« »Weiß er, wo du wohnst?« »Nicht genau, aber er kriegt es bestimmt ‘raus, wenn er will.« Babs fand Manus Abschiedsbrief, las ihn und spülte ihn ins Klo. »Und ewig lockt die Nacht!« Ich blickte aus dem Fenster, hinunter auf den Bahnhofsvorplatz und im Kopf die Bilder von Manu, neben denen von Babs, die sich im Bad auf die Nacht vorbereitet und eine Fremde blieb. Erwachend sprang ich auf, setzte mich schweißgebadet an den Bettrand, fröstelte. Das Bett neben mir war leer. Was war ge98
schehen? Ich fühlte mich gehetzt, verfolgt. Wahrheit und Lüge im Erkennen. Babs war nicht im Bad, nicht im Zimmer. Ich ging zum Fenster … »He! Babs!« Ich stand vor dem offenen Fenster und sah sie den Platz, in Richtung Bahnhof, überqueren. Sie blickte zurück, legte den Finger an den lächelnden Mund. Kußhändchen. »Am Tisch, ein Zettel!« Ich fand den Zettel. Las. War erleichtert. Der Körper verlor seine Spannung. Sie holte ihre Sachen aus den Schließfächern in der Bahnhofshalle. Das Bild aus dem Traum, der Entführung, blieb haften, quälte und lenkte die Gedanken in die Zentrifuge des Teufelskreises mit Schleudersitz. Ich dachte an den Superreichen und die Methoden, wie er und seinesgleichen ihr Vermögen verdienten, und versuchte die Gleichung ohne Mengenlehre zu den Gründen meiner Kerkerstrafen zu bringen … Babs kam zurück. Unser Beisammensein wurde zur Zweckgemeinschaft, die vieles erleichterte. Kismet oder so. Manu? Es war einmal. Auch Froschkönig war einmal ein Prinz, verwunschen eben. Ich schloß die Augen, sie fühlten sich wie tonnenschwere Bojen an. »Ich hab’ nur die wichtigen Sachen mitgenommen«, sagte sie, »wenn wir hier abhauen, wäre es blöd, auch noch die Koffer schleppen zu müssen. Sie sind drüben im Schließfach.« »Wir bleiben bis morgen früh!« »Soll ich’s versuchen?« »Nein! Denk an Giovanni.« »Ein wenig Geld hatte ich noch bei meinen Sachen, für ein oder zwei Essen reicht es.« 99
»Zuerst ein Bad«, sagte ich, »dann gehen wir hinunter, frühstücken, spielen hungrige Touristen und sagen ihm, daß wir noch eine Woche bleiben.« »Wir haben aber nicht mehr soviel …« Ich lächelte. »Wir schnippeln Papier in Geldscheingröße zusammen, legen es in die Brieftasche, daß jeder meint, alles wäre Geld …« Babs ging zum Fenster, wirkte überraschend hart. »Giovanni, das Schwein! Ich hätte ihn gestern angelockt, abgestochen …« Ich schwieg und ging ins Bad. Als sie kam, weinte, lachte sie und konnte nicht begründen, warum ihre Gefühle so wild explodierten. »Hunger!« sagten wir später im Chor zum Besitzer und legten die prallgefüllte Brieftasche absichtlich wie unabsichtlich neben Babs Handtasche. Er sah sie und beeilte sich, uns zu bedienen … »Wohin?« Babs rieb sich den Schlaf aus den Augen. Es war die Zeit zwischen Nacht und Morgen. »Schweiz!« »Und dort?« »Eine Lösung findet sich immer.« Ich stand auf, ging ins Bad und vermied, ihr zu nahe zu kommen. Wir trafen unsere Vorbereitungen im Dämmerlicht der hereinleuchtenden Straßenlaternen. Es war keine Liebe von tief innen, doch genügten Blicke, kleinste Berührungen, das Einatmen des Duftes, um dieses höllische, Vernunft raubende Feuer zu entfalten. 100
»Warst du schon ‘mal dort?« »Nur gelesen und gehört habe ich vom harten Schweizer Franken!« »Muß ich allein dafür sorgen?« »Gemeinsam geht alles leichter und gemacht wird alles, was Geld bringt.« Ich rechnete den Franken um, und das Traumschloß bekam den ersten Spatenstich. Ohne gesehen zu werden, verließen wir, die Rechnung unbezahlt, die Pension und holten im Bahnhof Babs Koffer. Wir gingen in Richtung Autostrada A2. Bei Casoria wurden wir von wartenden Huren, die in uns sicher eine Konkurrenz sehen mußten, mißtrauisch beobachtet, bis wir ihr Gebiet stadtauswärts verlassen hatten. Händchenhaltend passierten wir das Nuttenviertel an der Ausfallstraße Neapels. In einem Gebüsch durchsuchten wir ihren Koffer und die große Reisetasche nach den wichtigsten Sachen, alles andere ließen wir zurück. »Wie lange werden wir brauchen?« »Zwei bis drei Tage, wenn nichts dazwischen kommt. Auf jeden Fall machen wir keine Pause mehr, bis wir in der Schweiz sind.« »Hoffentlich krieg’ ich nicht Tantchen.« »Lieber jetzt, als in drei Tagen!« Wir lachten, und ich dachte an den Anfang in der Schweiz. »Stört sonst das Geschäft, was?« »Zwei Kunden garantieren den Beginn, ein Zimmer und neue Kleider!« »Denkst du nur mehr daran?« 101
Ich schüttelte den Kopf und wußte, ich würde nicht mehr nachgeben wie bei Manu. »Bevor ich auf der Straße friere, gehe ich lieber in den Knast!« »Abwarten!« »Kein Untergang mehr, wir müssen nur die Gelegenheiten besser ausnützen.« Ein Wagen stoppte. Der Fahrer, klein, schmächtig und mit Halbglatze, feminines Aussehen, etwa vierzig, gestikulierte, lächelte, lud uns ein. »Der erste Kunde!« Babs blickte zwischen dem Mann und mir hin und her. Ich nickte. »Das ist hier normal, daß Freier im eigenen Wagen bleiben und der Beschützer der Dame sich ans Steuer setzt, während er am Rücksitz …« Was ich sagte, plapperte ich Zeitungsberichten nach. Babs war einverstanden und setzte sich zu ihm auf den Rücksitz, während ich den Fahrer spielte, die Reisetasche stellte ich vor den Beifahrersitz, dessen Rücklehne vom Besitzer nach vorne gelegt wurde. »Napoli«, sagte er und legte seine Brille ins Handschuhfach. Ich schaute mich fragend um. Es war unmöglich, an dieser Stelle umzukehren. »Si, si! Napoli!« Er deutete einen Halbkreis, der hinausführte auf die A2 und irgendwo wieder zurück. Ich hatte einen anderen Plan. Nickte, startete und fuhr zur Autobahn. »Hinhalten«, sagte ich zu Babs, »spiel dem Idioten, solange es geht, was vor.« Zu ihm gewandt, schnalzte ich mit Daumen und Zeigefinger, blickte zu Babs und verdrehte die Augen gegen das Autodach. Sein Zustand konnte als fortge102
schritten angesehen werden und seine Hände begannen an Babs Kleider zu nesteln. »So günstig kommen wir nie mehr an ein Auto!« Er verstand meine Worte als Schönheitsversprechen, zwinkerte mir zu und wühlte mit einer Hand unter Babs Bluse herum. »Was hast vor?« »Richtung Norden, solange es geht!« Ich stellte den Rückspiegel so, daß ich das Geschehen am Rücksitz verfolgen konnte. »Und achte darauf, daß er nichts von der Umgebung zu sehen bekommt! Laß ihn einfach nicht zu sich kommen.« Babs beherrschte ihr Spiel und ihn mit Perfektion … Kurz vor der Mautstelle an der A2 klopfte ich ihm auf die Schulter und deutete in sein überhitztes Gesicht hinein das nüchterne Geldzeichen. Widerwillig gab er einige Lirescheine, begann zu jammern und zog sich an. Babs ordnete auch ihre Kleidung, die Unterbrechung durch die Mautstelle kam gerade richtig. »Besser kann’s gar nicht laufen«, sagte ich, und er lachte mit. »Der regt mich ganz schön auf mit seiner Knutscherei!« Ich beruhigte Babs. »Jetzt kühlt er ab und alles fängt von vorne an, wenn wir hier durch sind.« Der Beamte sprach mit unserem Kunden und verlangte dann nur einen kleinen Betrag, weil wir, soviel hatte ich verstanden, an der nächsten Ausfahrt nach Napoli zurückkehren würden … »Ich weiß nicht, wann diese verdammte Ausfahrt kommt, aber er darf sie auf keinen Fall sehen! Egal wie du’s machst, seine Augen dürfen nur an dir kleben.« »Wenn der Bastard noch einmal beißt …« 103
»Sagst mir Bescheid!« Die Ausfahrt kam und ich fuhr geradeaus, ohne das Tempo zu ändern. Babs kämpfte mit ihm, und als ihre »Au-Rufe« kamen, schlug ich kurz auf seinen Rücken. Sie preßte seinen Kopf fest gegen die Brüste, um ihm keinen Blick in die Umgebung zu ermöglichen. Ich war Fahrer, Voyeur, und konnte ein lautes Lachen kaum zurückhalten. Er lag seitlich, durch den Platzmangel mit abgeknickten Knien, sie hielt seinen Kopf an sich und im Rückspiegel wippte der nackte Arsch des Mannes … Kurz nach der Ausfahrt nach Teano bekam der Motor das Stottern. »Verfluchte Kiste!« »Was is’ los?« Babs hatte nicht mehr die ruhige Stimme von vorhin. »Die Karre verreckt!« Ich ließ den Wagen am Pannenstreifen ausrollen. »Dann kann er den Auspuff ficken!« Babs stieß ihn von sich, setzte sich und ordnete ihre Kleider. Benommen, mit glasigen Augen, schwerem Atem rappelte sich der Mann auf, sie hatte ihn zwischen Rück- und Vordersitz eingeklemmt. Halbnackt, lächerlich. Als er begriff, wo wir waren und daß ich nicht nach Napoli zurückgefahren war, begann er zu toben. Gestenreich. Ich lachte ihn an und deutete zum Motor, drehte den Zündschlüssel, und er verstand den Grund für unser Halten. Wütende Verzerrungen entstellten sein Gesicht. Er zog sich an, stieg aus und gemeinsam versuchten wir eine Lösung zu finden. Alles blieb ohne Erfolg, wir hatten einen kapitalen Getriebeschaden. 104
Babs stieg aus, stellte die Reisetasche vor das geparkte Auto. Er fluchte, was wir nicht verstanden, und tanzte wie ein Indianer um sein Auto. Aus dem Morgennebel, mit Blaulicht und ohne Folgetonhorn, kam ein Wagen der Carabiniere. Etwa zehn Meter vor uns hielten sie an, ein Beamter kam zurück. Babs lehnte sich an mich. »Keine Angst, vom Hotel können die noch gar nichts wissen und im schlimmsten Fall, weil wir kein Geld haben, schieben sie uns an die Grenze ab.« Gestikulierend und fluchend versuchte unser Kunde dem Polizisten die Lage zu schildern. Der Beamte blieb ernst, sah uns an und deutete seinem, im Wagen gebliebenen Kollegen, er würde das Mädchen zu ihm schicken … Babs begann zu zittern. »Du brauchst keine Angst haben, wir haben gültige Pässe und wenn wir nicht gesucht werden, ist alles nur eine Formsache.« Der zweite Beamte kam Babs entgegen, nahm sie am Oberarm und führte sie zum Polizeiwagen. Sie deutete auf die Reisetasche, er schüttelte den Kopf und zeigte auf mich. Lächelnd. Babs mußte an der Beifahrerseite einsteigen, das Blaulicht blieb in Betrieb. Ich konnte nicht erkennen, was im Polizeiwagen geschah, und es dauerte fast zehn Minuten, bis der Beamte zurückkam, mit seinem Kollegen kurz sprach und nachdem sie mich in die Mitte nahmen, mußte ich mitkommen. Ihre Gesichter blieben ernst, pflichtbewußt. Unser 105
Kunde rannte ein Stück hinter uns her, wurde aber von den Carabiniere ignoriert und alleingelassen. Ich mußte auf dem Notsitz, hinter dem Fahrer, Platz nehmen. Babs saß vorne, zwischen ihnen und sie lächelte mir zu, was mich irritierte, ärgerte. Hatte sie mich verraten? Zurück blieb ein schreiender Neapolitaner mit seinem nicht mehr fahrbaren Untersatz. Aus seiner lustvollen Erwartung war die Totalniederlage entstanden. Neben mir, wie achtlos hingeworfen, lag eine Maschinenpistole. Chaos im Hirn, Fluchtgedanken. Babs schien von allem unberührt, sie wechselte ihren Platz mehrmals zwischen dem Schoß des Beifahrers und einer gefährlichen Nähe zum Fahrer … Als ich erkannte, was vor mir lief, war alles wieder Vergangenheit. Bella Italia! Wir fuhren mit Blaulicht und Folgetonhorn auf der A2 zwischen Neapel und Roma! »Bello, biondo ragazza!« sagte der Beifahrer, als er mein Grinsen entdeckte. Ich deutete auf die Maschinenpistole neben mir und tippte an die Stirn. Der Fahrer lachte und zeigte mir das Magazin, welches er aus seinem Brustgürtel zog. Der Beifahrer trocknete sich, zufrieden schnaufend, den Schweiß von der Stirn, sein Dienst als Damensattel war beendet … »Die haben niemanden angefunkt«, sagte Babs danach, »und der«, wobei sie zum Fahrer deutete, »wollte nur ein Handspiel mit Fellatio!« Sie bekam dann, aus einem breitgelegtem Kuvert, einige Geldscheine in verschiedenen Währungen. Der Polizist stopfte ihr das Geld ins Busental … 106
An der Mautstelle Frosione mußten wir aussteigen, sie hatten ihre Bezirksgrenze erreicht und mußten umkehren. Bevor sie uns verließen, stoppten sie einen Wagen und redeten mit dem Fahrer, daß der uns bis Rom mitnehmen solle … Der Fahrer, ein alter Mann, bis zu den Hüften in eine Decke gehüllt, schwieg, nickte und nahm uns mit. »Nehmen wir uns ein Zimmer?« »Nicht in Rom«, sagte ich und hatte meine Gründe, die ich verschwieg, »aber du kannst in der Badeanstalt Körperpflege total betreiben. Ich kenn’ eine, nahe dem Bahnhof.« Ich verstand sie, sie war benützt worden, und ich schwieg, weil mich die Peinlichkeit ihrer Situation sprachlos machte. Nach drei Tagen und Nächten Leben auf und an der Autobahn, zitternd vor Kälte auf Ladeflächen und dazwischen kurze Erholungsphasen in Autos, erreichten wir Milano. Wir wünschten uns nichts mehr als ein Zimmer mit Bad und weichem Bett. Modena, Reggio und Parma, Piacenza und Milano mußten wir unerlebt zurücklassen. Wir standen an der Auffahrt zur A9 bei Sarono und warteten auf einen Fahrer, der uns bis Como oder Lugano mitnehmen würde … Es dauerte mehr als zwei Stunden, bis einer hielt und uns einstiegen ließ. Während der Fahrt entlang des Lago di Lugano, wir saßen im Fond, vom Fahrer ungesehen, begann Babs zu weinen. Sie kuschelte sich an mich und ich legte ihr langes Haar über das blasse Gesicht, um ihre Tränen zu verbergen. »Warum?« Babs zuckte mit den Schultern. »Nichts Bestimmtes«, sagte sie leise, »einfach alles und ich denk’, die Regel ist in Anmarsch.« 107
Erleichtert atmete ich durch. »Wenn’s nur das ist!« »Unser Geld ist schon wieder weg …« Ich lächelte ihr zu. »Wir sind in wenigen Minuten im Tessin, im Eldorado der Geldbonzen!« Ich sah wieder eine Zukunft in meinem Traumschloß. Die Grenze passierten wir problemlos, unser Fahrer war den Beamten bekannt, sie grüßten freundlich und kontrollierten weder seine noch unsere Pässe. Die Weite des Sees, links von uns, vermittelte Freiheit. Der Fahrer blickte in den Rückspiegel, nickte lächelnd dem eng aneinander geschmiegten Pärchen zu, das, so hatte ich es ihm geschildert, in Italien soviel Pech gehabt hatte: Zelt und mit ihm wurden uns alle Sachen, auch das Geld, gestohlen, weshalb wir auf diesem günstigen Wege nach Hause zurückkehren mußten. Ich war stolz auf die Wirkung meines Märchens. »Wo soll ich euch rauslassen?« Sein Deutsch war akzentfrei. Unserer Geschichte angepaßt, sagte ich: »Wir kennen uns hier nicht aus, aber wenn Sie uns an eine gute Stelle bringen, von wo aus wir die Fahrt fortsetzen können, wären wir ihnen dankbar.« Er nickte. »Wenn ihr über die Ostschweiz, St. Gallen und Buchs fährt, kommt ihr am schnellsten nach Österreich hinüber.« Babs drückte meine Hand und bedankte sich für die Aufklärung. Wortlos, bereits im Abfahren, nördlich von Lugano, schenkte uns der Mann, die Hand aus dem offenen Fenster haltend, wie zum Abschied, fünfzig Franken. Babs konnte sich zwei neue Slips und endlich Tampons besorgen, während ich Käse, Wurst und Fruchtsaft kaufte. Am 108
Ufer des Sees, in der frischen Brise des späten Nachmittags, machten wir uns eine gemütliche Stunde. Mit elf Franken in der Tasche und entschlossen stellten wir uns danach an den Straßenrand. Unser Ziel, von einer öffentlichen, die ganze Schweiz darstellenden Landkarte ausgesucht, war Basel … Ich erwachte und spürte die Wahrheit: wir saßen wieder einmal auf einer Ladefläche. Links und rechts der Straße lag Schnee, die Nacht hatte begonnen und verhinderte ein weiteres Blickfeld. Babs hockte neben mir, zusammengekauert und auf der anderen Seite an Kisten abgestützt, eingehüllt in zwei Decken. Auf den Knien robbte ich nach hinten und wünschte mir das richtige Auto als Verfolger, nicht diese schwarze Leere, in die ich mein Wasser, durch den Überdruck in kurzen, starken Schüben ablassen mußte … Der Fahrer, ein Bauer, hatte uns gesagt, als wir in Bellinzona auf seine Ladefläche durften: »Aber nur bis Biasca!« Wir hofften auf eine weite Strecke, wenn auch unbequem, kamen wir näher an unser Ziel heran. Wir hatten ein Gleichgültigkeitsstadium erreicht. Menschen und Welt und fast auch: wir uns selbst. Noch nicht ganz. Darin lag unser Überlebenstrieb. Gerade noch atmen, Vegetieren. Leben ist das keines mehr, dachte ich und hatte Mühe, mich nicht selbst anzupissen. Es war unser zweiter Tag in der Schweiz. Am Vortag hatten wir gerade die Strecke von Lugano nach Bellinzona geschafft. Frierend standen wir am Straßenrand, Autos fuhren vorbei, niemand hielt an. 109
»Wenn wir in Italien auch solche Arschlöcher gehabt hätten«, sagte Babs, »wären wir nie nach Neapel gekommen.« Sie weinte viel und die Blutung wollte nicht schwächer werden. Ihre Haare klebten vom tagealten Verschmiertsein ohne Waschgelegenheit. »Jetzt ist alles egal«, sagte ich beim Versuch, ihr und mir Mut einzureden, »bald sind wir in Basel und dann kann es losgehen!« »Die Tage …« »… vergehen!« Ich unterbrach, weil ich selbst nicht stark genug war, um Kräfte zu verteilen. »Mehr Kopfschmerzen bereitet mir dein Fieber!« »Das vergeht, wenn die Regel vorbei ist.« »Hoffentlich …«, sagte ich und stützte fast auf die eigene Nase, weil der Fahrer zu stark gebremst hatte. Babs lachte auf, zwischen ihren Tränen erschien für einen Augenblick die alte Lebenslust und bevor ihr Lachen zu Ende ging, brach sie zusammen … Der Fahrer hatte das Hindernis, ein abgestelltes Unfallauto, verlassen auf einsamer Straße, passiert und fuhr weiter. Ich trommelte gegen das kleine Fenster zum Fahrerhaus, mit der rechten Hand hielt ich Babs an mich gedrückt. Sein Blick fragte. Ich deutete auf Babs und legte die flache Hand auf die fieberheiße Wange … Er nickte und sprach: »Jaja, wir sind gleich in Biasca!« Ich las es von seinen Lippen und mein Verstehen entsprang einem Wunschdenken. 110
Babs konnte sich ein wenig erholen, bevor wir die Ladefläche verließen und ein Deutscher, der mit seinem 2 CV schon längere Zeit hinter uns gefahren war, lud uns ein, gleich zu ihm umzusteigen. »Wohin wollt ihr heute noch?« Sein Vollbart versteckte das Gesicht. »Basel«, sagte ich. »Bis Basel geht’s nicht, aber doch ein ziemlich gutes Stück könnten wir gemeinsam abspulen.« Babs, endlich in einem beheizten Auto, schlief, kaum hatte sie sich’s am Rücksitz bequem gemacht, sofort ein. Ich blieb neben dem Fahrer sitzen und kämpfte die Müdigkeit nieder. Er erfuhr von mir die gleiche Geschichte vom ausgeplünderten Liebespaar, wie der Mann aus Lugano, Tränenmärchen. Nur war die Heimat nicht mehr Österreich, sondern Basel. Nach der Biaschina-Schlucht begann die Schneefahrbahn. »Und ich hab’ Sommerreifen montiert, wegen Italien«, sagte der Mann und fuhr vorsichtig, langsam, mit immer öfter durchrutschenden Reifen. »Wenn wir bis Airolo kommen, geh’ ich auf den Autozug, denn über den Gotthardt habe ich keine Chance, da oben liegen zwei Meter Schnee!« »Ist dann Airolo Endstation für uns?« Ich hatte Angst, in einem fremden Bergort, mit der fiebernden Babs, aussteigen zu müssen. »Wir bleiben im Auto, und in Andermatt geht’s zurück auf die Straße.« Knapp vor Airolo stieg ich aus und stellte mich als Gewichtszulage auf die hintere Stoßstange. Wir waren nicht die einzigen mit diesem Problem, je näher wir Airolo kamen, de111
sto mehr gerieten wir in eine langsam, fast schon kriechende Kolonne. Am Straßenrand standen andere, deren Motor zu heiß geworden war. Während der folgenden Huckepackreise durch den Tunnel gelang es mir nur mit Mühe, zuerst als Unterhalter, dann als Zuhörer, wach zu bleiben, meinem Schlafhunger nicht nachzugeben. In Andermatt erwartete uns Regen und Kälte, die bis ins Wageninnere drang. »Ihr könnt entweder hier oder in Arth aussteigen«, sagte der Mann in der Nähe von Althof, »sonst habt ihr einen zu großen Umweg nach Basel.« Ich blickte in die Nacht. Noch immer klatschten Regen und Wind gegen die Scheiben, und Babs schlief zusammengekauert am Rücksitz. Um den Wagen nicht verlassen zu müssen, sagte ich: »Wir bleiben bis Arth« »Ich fahre über Rapperswil und Winterthur nach Schaffhausen und Singen.« »In Arth finden wir hoffentlich jemanden!« Er nickte und ich spielte kurz mit dem Gedanken, ihm die Wahrheit zu sagen. Mein Stolz verhinderte dann ein Geständnis. Der Urner-See tauchte auf und in der Ferne, das Schwarz der Nacht durchdringend, flackerten Lichtpunkte. Ich drehte mich um, streichelte Babs, bis sie erwachte. Ihr Fieber war nicht verschwunden und doch waren die fast vier Stunden Schlaf eine Erholung gewesen. Sie fand sich nur mühsam zurecht. »Wir müssen gleich raus!« Sie blickte in die Nacht, sah den Regen, ahnte etwas von diesem kalten Wind und hatte Gedanken, die auch meine wa112
ren. »Wir bleiben heute im Hotel«, sagte ich, »und fahren erst morgen weiter!« Bevor sie antworten konnte, legte ich ihr den Finger auf den Mund. Der Urner-See blieb links zurück. »Gleich sind wir in Arth«, sagte der Fahrer und verringerte das Tempo. Ich bastelte wieder an meiner Lügengeschichte und wußte, sie mußte ankommen, niemand durfte von uns Geld im voraus verlangen … »Arth am Zuger-See!« Er stoppte gleich nach der Ortseinfahrt, nach einer Kreuzung. Links führte die Straße nach Luzern, rechts ein Hotel. Ich stieg aus, nahm die Reisetasche und bedankte mich. Babs kam zögernd und zitternd. Bis wir den Holzschuppen, der als Garage für Ruderboote diente, erreicht hatten, waren wir naß bis auf die Haut. Die Straße war keine zehn Meter entfernt, gegenüber war das Hotel und in meinen Armen zitterte Babs und bekam die ersten Schwindelanfälle … Ich wußte, wie wir jetzt aussahen, würde uns niemand ein Zimmer vermieten, ohne vorher zu kassieren. Nur wer kein Geld besitzt, wird peinlich befragt, Geld würde alles im Nu erledigen … Babs wurde von Weinkrämpfen geschüttelt. Meine Augen hatten sich an einem Ziel festgesetzt. »Komm!« »Wohin?« »Du mußt in ein Bett, alles andere ist jetzt egal!« »Niemand läßt uns so ins Haus …« Ich nahm sie an der Hand, zog sie mit mir, vorbei am Hotel, einen schmalen Weg hinauf durch einen Garten, ohne 113
Rücksicht auf den Regen und Wind. »Ich will es wissen! Jetzt!« Und vor dem großen Haus angekommen, sagte ich: »Warte hier auf mich!« Ich führte sie in die breite Einfahrt. »Wie lange?« »Ich hoffe, es geht sehr schnell!« »Sonst?« »Ich komme auf jeden Fall und zwar bald, egal wie es ausgeht!« Ich ging in die Einfahrt, weil ich dort das eigentliche Haustor entdeckt hatte. Durch ein kleines Glasfenster sah ich die Treppe, die nach oben führte. Die Tür war verschlossen. Ich atmete noch einmal fest durch und drückte auf den Klingelknopf. Es war kurz vor Mitternacht … »Wer ist’s?« Ich hatte nur einmal auf den Knopf gedrückt, und es gab keine Wartezeit bis zur Reaktion. Ich nannte meinen Namen. Er kam die Treppen herunter, schloß auf und lud mich ein. »Kommen Sie ins Büro!« Ich gehorchte und trat nach ihm in ein rustikal eingerichtetes Pfarrzimmer. Er nahm hinter einem breiten Schreibtisch Platz und ich dachte: ein Riese mit mindestens Einsneunzig … Zu meinen Füßen entstand eine Wasserpfütze, und er lachte. »Dem Holzboden schadet Regenwasser nicht. Und wo brennt’s?« Ich erzählte unser Märchen. »Österreicher?« Ich nickte. »Meine Freundin auch.« »Vom Geldbetteln halte ich …« 114
Ich wurde aggressiv, ging mit zwei schnellen Schritten zu ihm, beugte mich über den Tisch. »Ich scheiß’ auf ihr Geld, Hochwürden, aber ich brauch ein Bett für meine Freundin, ich bleibe im Freien!« Von seinem Lächeln beruhigt, sagte ich noch: »Tut mir leid, aber ihr geht’s wirklich schlecht und ich komme sie morgen wieder abholen!« »Bei dem Regen!« Ich zuckte die Schultern. »Sie hat Fieber und wartet unten.« »Kann ich den Paß sehen?« Ich übergab unsere Pässe. Er sah sie durch und griff dann zum Telefon, wählte und wartete auf die Stimme am anderen Leitungsende. Ich dachte an die Polizei und blieb stehen, auch so würde Babs in ein Bett kommen … »… ja, richtig verstanden, ein Doppelzimmer«, sagte der Pfarrer, dessen erste Worte ich nicht verstanden hatte, »für ein oder zwei Tage. Die jungen Leute sind meine Gäste …« Er hörte zu und bestellte noch ein Essen auf seine Kosten. »Ich komme selbst hinunter und bringe sie gleich mit!« Ich wollte weglaufen, zurück zu Babs, ihr den Erfolg mitteilen, als mich der Pfarrer einholte und am Arm festhielt. »Im Hotel muß aber niemand die Wahrheit erfahren. Zimmer und Essen bezahle ich und ihr benehmt euch!« Ich sagte Dank und fühlte das Wort bis in eine Kammer, die ich längst als verschollen führte. Er gab mir die Pässe zurück, nahm einen Regenmantel vom Haken und ging mit mir zu Babs. »Sieht wirklich nicht gut aus«, sagte er, nachdem er sie kurz betrachtet hatte. »Und nach dem Essen einen heißen Tee und ab ins Bett!« 115
Er führte uns zum Hotel an der Kreuzung und ich war jetzt froh, nicht dem ersten Gedanken, gleich in diesem Hotel unser Glück zu versuchen, gefolgt zu sein. »Das sind unsere Leichtfüße«, sagte er bei der Ankunft zur Frau und übergab uns, »kommen direkt aus dem See, wenn man sie so ansieht!« Er lachte und zwinkerte uns zu. Die Frau führte uns in ein Zimmer im zweiten Stock. Straßenseite. »Habt ihr noch trockene Kleidung?« Ich öffnete die Reisetasche, und bevor ich suchen konnte, nahm sie mir die Frau ab und trug sie ins Badezimmer. Es gab kein Fleckchen trockenen Stoffes mehr. Sie verließ uns und brachte kurz darauf zwei Bademäntel und Trainingsanzüge aus dem Familienbesitz. »Kommt dann zum Essen, in einer halben Stunde ist alles fertig.« Beim Verlassen des Zimmers sagte sie noch: »So was kann jedem passieren.« Nachdem wir uns ausgezogen, gebadet und trockengerieben hatten, wollte Babs gleich ins Bett. »Es ist besser, wenn du mitkommst«, sagte ich und legte unsere nassen Sachen überall auf, wo ein freier Platz zum Trocknen war. »Bring’ mir den Tee herauf … ich will nur noch schlafen.« »Versuche die halbe Stunde, die wir zum Essen benötigen, durchzuhalten!« Es war Mitternacht und wir gingen, die fremden Trainingsanzüge am Körper, in den Speisesaal, wo uns der Pfarrer erwartete. »Euer Tisch ist ganz hinten«, sagte er und setzte sich zu vier anderen, drei Männern und einer Frau, die noch anwesend waren. Nur an ihrem und unserem Tisch brannten kleine Tischlampen. Nachtstimmung. Unser Gedeck lag bereit, und 116
eine Kellnerin servierte Schnitzel, Reis, Salat und heißen Tee mit Rum … Der Pfarrer winkte öfters zu uns herüber. Was an ihrem Tisch gesprochen wurde, konnten wir nicht hören. Es war seit Tagen unsere erste, richtige Mahlzeit. Wir aßen schnell, nicht gierig, um wieder ins Bett zu kommen … Babs verbrachte auch den nächsten Tag im Bett und bekam von der Hotelbesitzerin wirkungsvolle Tabletten gegen Grippe. Ich servierte mehrmals am Tag den Tee, und am Abend war das Fieber fast besiegt. Nach zwei Tagen und drei Nächten reisten wir ab. Außer der Serviererin trafen wir niemanden unserer Gönner. Weder die Frau vom Hotel, noch den Pfarrer. Wir schrieben einige Worte des Dankes auf Hotel-Briefpapier und verließen das Hotel und Arth. »Wenn alles klappt und meine Informationen zutreffen, müßten wir bis Mittag Basel erreichen.« Luzern, Olten, Basel! Ich hatte mir die Namen ins Hirn geschrieben. Es durfte zu keiner weiteren Nacht im Freien mehr kommen. »Spürst du noch etwas?« Babs schüttelte den Kopf. »Zweieinhalb Nächte in einem Ehebett, ohne …« »Trottel!« Sie küßte meine Wange. »Wirst schon nicht zu kurz kommen.« »Hm, das schmeckt nach mehr!« Wir gingen in Richtung Luzern, und Babs hielt den Daumen ausgestreckt, wenn ein Wagen näherkam. Nach viereinhalb Stunden Reisezeit erreichten wir Basel. Mit dem ersten Fahrer kamen wir bis Olten, und er über117
gab uns gleich einem Kollegen, der nach Basel fahren mußte. »Hunger!« Wir standen auf dem Platz vor dem Bahnhof, und ich spürte die Revolte meines Magens, als ich zu den umliegenden Restaurants sah und daran dachte, was in ihnen geschah. »Und kein Geld«, sagte Babs und ging, mit mir Arm in Arm verbunden, zur Fußgängerunterführung. Wir kamen in der Bahnhofsstelle wieder an die Oberfläche. »Wohin jetzt?« »Mahlzeit!« Ich lachte und ging mit ihr hinüber zu den beiden Restaurantseingängen. »Erste oder zweite Klasse?« »Ist doch egal!« »Zuerst essen wir und dann suchen wir einen, der bezahlt!« »Rasant unterwegs, mein Galan!« »Die Nacht kommt schnell genug.« »Ist die Reihe also an mir?« »Noch nicht, aber bald«, sagte ich und ging mit der störenden Reisetasche zu den Schließfächern. »Schon ein alter Spruch sagt: Zuerst das Fressen und dann die Moral!« Verruchte Gegenwart, der Hunger drängte. Für Fragen war immer noch Zeit. Danach. Später. Irgendwann. Jetzt nicht mehr. Babs verschwand in der Toilette. »Frischmachen für unser Essen und dann soll ich ja anderen gefallen.« Ihr Spott war zu ernst, um Lachen zu erzeugen. Ich schwieg und sie hatte recht. Es war einfach so. Beziehungsvolle Beziehungslosigkeit in einem Bündnis der Abhängigkeiten. »Gibt es heute ein Hotel?« Sie schmiegte sich an mich, ihr Duft erfrischte. »Sicher!« Ich war überzeugt davon. 118
Wir betraten das Restaurant zweiter Klasse, ein Rundblick genügte, hier mußte es beginnen und durfte zu keiner Niederlage mehr führen. Nahe der Theke war ein Tisch frei, wir setzten uns und bestellten wie Lottokönige. »Entweder oder!« Ich bestellte auch deshalb etwas mehr, damit wir länger Zeit hatten für unsere Absichten. »Und hier willst du einen finden?« Sie hatte sich umgeblickt. Ich nickte, weil ich die Glotzaugen der vielen Türken auf der anderen Lokalseite gesehen hatte. »Es geht nicht mehr um ein Wollen, sondern Müssen! Wenn wir kein Glück haben, geht’s von hier direkt ins Wachtzimmer und von dort zurück nach Österreich.« »Wir könnten in diesem Gedränge, wenn es notwendig wird, auch so verduften …« »Vergiß das und genießen wir das Essen!« Bevor wir das Dessert serviert bekamen, forderte ich Babs auf, sich mehr in Position zu setzen. »Weißt schon, Knie ein wenig freilegen und Brust raus …« »Für die Kanaken?« »Männer! Außerdem sehen mir die gepflegt aus, und ihr Ziel ist nicht anders gelagert als das der Einheimischen.« »Wo soll ich mit denen …« »Abwarten, jetzt brauchst mal nicht mehr zu tun, als mit Augen und Beinen zu spielen.« »Bei Kanaken habe ich kein gutes Gefühl!« »Das Werkzeug bleibt gleich!« »Was, wenn einer ‘rüberkommt?« »Hoffentlich, wer soll sonst bezahlen.« 119
»Der mit dem hellen Anzug stiert mich schon die ganze Zeit so komisch an …« Auch ich hatte ihn schon länger im Visier. »Scheint eine Art Wortführer zu sein. Und denke immer daran: alles ist reine Preisfrage und nicht nachgeben.« Ich verwendete Worte, die ich im Zuchthaus gehört hatte, Nachdem ich genickt hatte, kam der Türke zu uns, reichte uns die Hand, zuerst Babs, und jeder im Lokal, der uns beobachtete, sah, wie sich drei Menschen freundlich begrüßen. »Das deine Frau?« Seine Augen lauerten, der Mund wurde von einem Lächeln umrahmt, sein Schnurrbart war gepflegt. Ich nickte. »Deine Frau … äh, für halbe Stunde oder so, für mich als Schatzele zu haben … äh?« Er sprach leise, freundlich, unaufdringlich. Ich legte die Handflächen offen auf den Tisch und deutete mit dem Kopf zu Babs. »Wieviel?« Er hatte Erfahrung im Frauenkauf, fern seiner anatolischen Heimat. »Hundert!« Der Betrag, den ich nannte, stammte aus den Erzählungen anderer. »Türkische Lira?« Ich schüttelte den Kopf. »Schweizer Franken!« »Für Eli Lira andere Frau ganze halbe Stunde sikkisch machen …« »Das ist nicht mein Problem.« Ich spielte mit ernstem Gesicht und hoffte, er würde nicht aufgeben. Ging er ohne Ergebnis zu seinen Kollegen zurück, waren auch die verloren für uns. 120
»Wie lange deine Frau meine Schatzele?« »Einmal sikkisch machen«, sagte ich, sein Wort für die Sache verwendend, ohne sicher zu sein, das richtige auszuspielen. »Das nix viel!« Ich trank den Kaffee aus, bestellte ein Bier, um die Bezahlung aufzuschieben. Er wurde nervös und blickte immer gieriger auf Babs Busen. Sie hatte die oberen zwei Blusenknöpfe geöffnet und schenkte ihm einen vielversprechenden Einblick. »Ich erste Mann sein und einmal sikkisch machen, halbe Stunde«, sagte er und deutete mit der Hand zu den Kollegen, »aber nur Fünfzig zahlen …« »Wieviele Türkischmann?« Ich zählte in Mengen und war bereit, bei ihm, nur bei ihm, fünfzig Franken nachzulassen. Er zuckte die Schultern. »Fünf vielleicht sieben oder mehr Kollega, ich spreche mit ihnen.« »Einverstanden, wenn noch drei Kollega dabei sind, dann für dich Fünfzig, für die anderen Hundert.« Er ging zu seinem Tisch zurück. »Verrückt!« Babs trat mir gegen das Schienbein. »Um Hundert steigt doch keiner ein und dann gleich fünf oder mehr …« »In gut einer Stunde, im Schnellverfahren, was du selbst entscheidend beeinflussen kannst, ist alles vorbei und wir haben für die ersten Tage ausgesorgt!« »Depp!« »Bin ich laufend!« Der Türke kam zurück, strahlte bis zum Haaransatz. »Vier Kollega!« 121
»Vierhundertfünfzig!« Ich hatte beobachtet, wie er von den anderen das Geld kassierte. Er gab mir das Geld. »Du Zimmer?« Ich schüttelte den Kopf. »Nicht für sikkisch«, sagte ich, um ihm unsere Situation nicht anvertrauen zu müssen. »Du zu meine Haus kommen, nicht weit von Bahnhof.« Seine Augen begannen Babs zu fressen, ohne auch nur ein Wort mit ihr zu sprechen. Frauen waren für ihn Ware. Ich nickte. »Geh voran!« Nachdem wir bezahlt hatten, verließen wir mit den Türken das Lokal und folgten im Respektabstand. »Soviel auf einmal!« Babs freute sich über das schnell verdiente Geld. »Die Arbeit wartet noch!« »Schuft!« Wir drückten unsere Körper gegeneinander. »Optimist bleiben!« »Das sind aber mehr als vier Türken«, sagte sie und deutete auf die Männerrunde vor uns. »Ich bleibe dabei …« »Direkt?« Sie stieß mir den Ellbogen in die Rippen. »Kindskopf! Ich zahl’ auch nichts.« »Und wenn die Scheiße bauen?« »Der Anführer und vier andere haben bezahlt, und sonst kommt niemand dran, außer er bezahlt nach …« »Geier!« Sie lachte und entschärfte das Wort. In der Sempacherstraße betraten alle, bis auf den Anführer, ein Haus. Erwartete auf uns und bat um Ruhe beim Hinaufgehen … Die Wohnung hatte drei Räume, einer davon diente uns als 122
Wartezimmer, und in einem anderen diente Babs. Nach etwas mehr als zwei Stunden verließen wir die Wohnung. Aus vier waren sieben Kunden geworden. »Aus! Ende! Ich will eine Badewanne!« »Siebenhundertfünfzig Franken in zwei Stunden! Du bekommst das schönste Zimmer mit Bad!« »Ein gutes Argument und bis auf den einen Idioten, der dauernd biß, war es gar nicht so schlimm …« Ich gab ihr die Hälfte des Geldes. »Kauf dir, was du willst!« »Der Anfang ist Vergangenheit!« Das Traumschloß bekam bewohnbare Räume, eine Garage und einen eigenen Wagen … Nach drei Wochen kannten wir Basel und in der vierten mieteten wir uns ein Appartement. Unsere Werbung war die anatolische Mundpropaganda. Ein Kollega vermittelte uns den nächsten. Wir wurden angerufen und erhielten die Adresse, zu der wir kommen mußten, sollten und gerne kamen. Es war unser Einkommen, ihr Körper und meine Beschützerrolle. Manager der Liebeslust. Einige Taxifahrer kannten uns, ohne zu wissen, wer wir waren. Täuschungen festigten sich ohne unser Zutun. Es kam so, also war es so. Wir erzählten nichts und wurden verwöhnt. Nicht umsonst, wir bezahlten mit Trinkgeldern. Auch auf kurzen Strecken. Unsere Tage begannen gegen Mittag und endeten am Abend. Die Kunden warteten in modernen, kitschig eingerichteten Neubauwohnungen, in Bauwagen oder Baracken. Der Ablauf blieb immer gleich: Fließbandverfahren. Die Besitzerin unseres Appartements wollte nur Geld. Bar. Kaution und Miete. Sie stellte keine Fragen. Das Haus gehörte ihr, es war eines von mehreren, die sie in Basel besaß. Sie muß123
te über Siebzig sein und saß jeden Tag ab Mittag wie eine fette Qualle hinter ihrem kleinen Tisch im Vorraum, um zu kassieren, was noch unbezahlt war. Ich begann als Aushilfskellner in zwei Lokalen. Babs verdiente in zwei Abendstunden mehr als ich in zwei Wochen … Basler Fastnacht: vier Tage pausenloses Narrentreiben! Die ersten zwei Tage arbeitete ich ohne Schlaf, die Lokale hatten keine Sperrstunde. Babs blieb zu Hause, die Türken vergnügten sich in diesen Tagen anderswo, der Wortführer blieb unauffindbar und allein ließ ich sie nicht in die Türkenquartiere. Der als Hausmeister und Mädchen für alles fungierende Mann in unserem Haus biederte sich an und spielte den Starken. Er hatte einen Verdacht, und sein Wissen wurde zur Belastung. »Wir könnten gemeinsam etwas aufziehen«, sagte er zu mir, als ich am dritten Fastnachttag zum Umziehen nach Haus kam. »Nachher, in zwei, drei Tagen«, sagte ich und wußte, daß ich mit ihm nichts aufziehen würde. Irgendetwas an oder aus ihm warnte mich. In dieser Nacht, früher als sonst, weil mich starkes Fieber überrascht hatte, ich nicht mehr servieren und klar denken konnte, wollte ich nach Hause, diesmal sollte Babs als Krankenschwester tätig werden … Sie war nicht zu Hause. Es war dann mehr Zufall als erfolgreiches Suchen, daß ich am Tisch das leere Pillengläschen und den Brief fand. ICH BRING MICH UM, DU SCHUFT! 124
Fiebernd, wütend rannte ich aus dem Appartement, hinunter auf die Straße, ohne zu wissen, wo ich sie suchen sollte und warum sie diese Drohung aufgeschrieben hatte. Der Hausmeister wußte nicht, wo sie sein könnte … Auf der anderen Seite der Straße war ein kleiner Park, ein Bach, der mehr ein Kanal war und vom zoologischen Garten herunterführte. Ich fand sie nicht und suchte auch im Wasser, bis zum großen Gitter, wo der Kanal unter Beton verschwand. Nichts. Nach dem Etikett auf dem Pillenfläschchen handelte es sich um starke Schlaftabletten. »Drei Sterne!« Ich suchte weiter. Eine tote Babs, nach all dem Erlebten … Ich rannte bis zum Café am Heuwaagen-Platz, durchsuchte die beiden Tiefgaragen und das Gebüsch gegenüber des Hauses … Ein Wagen stoppte vor dem Eingang, Babs stieg aus, verabschiedete sich mit einem Wangenküßchen vom Fahrer! Ich rannte hinüber, erwischte sie im Vorraum, noch bevor sie in den Lift gehen konnte und schlug ihr ins Gesicht … Sie hielt still, weinte nicht und fuhr mit mir in die Wohnung. Meine Hand hatte sich in ihrem Oberarm verkrallt, meine Worte kamen wie gespuckt: »Wieso?« »Sei nicht so gemein!« Wieder schlug ich zu. Gemeine Ohrfeigen. Blut kam aus der Nase, ich zerrte sie ins Bad und holte das Pillenglas, den Brief vom Wohnzimmertisch. »Wieso?« Jetzt kamen ihre Tränen. Ich legte mich aufs Bett, und sie blieb im Bad. Später ging ich zu ihr, sie saß auf der Klobrille, ihre Augen hatten das Feuer verloren. Müde legte ich die fla125
che Hand auf ihr Haar und weigerte mich zuzugeben, daß ich sie liebte. »Warum nur?« »Kannst dich nicht erinnern?« Ich überlegte, schüttelte den Kopf. »Die Türken?« Sie verneinte. »Wieso dann?« Ihre neuen Tränen trocknete ich, vor ihr am Boden kniend, von den Wangen. »Sag’ es mir, damit ich weiß, warum es dazu kam!« »Ich wollte dich besuchen …, weil ich einsam war …, du hast so komisch geklungen am Telefon …, da sah ich, wie du ihr unter den Rock gegriffen hast!« »Dummchen!« sagte ich leise, den aufkeimenden Schwindel niederkämpfend. »Wärst du doch geblieben, dann hättest gesehen, es war nichts, nur Spaß. Sie ist verheiratet und weiß, daß ich mit dir zusammenlebe. Ihr Mann ist bei uns Koch.« »Ich hab’s gesehen und durchgedreht … ich wollte nicht allein sein …« Zwei Kinder feierten Versöhnung! Die Schläge konnten von der anschließenden Feier nicht mehr verdrängt werden. Die Täuschung der eigenen Person blieb Begleitung einer Zerrüttung, gegen die wir uns wehrten, sprachlos, weinend, es war einmal … »Razzia!« Wir hatten unser Appartement verlassen, wollten in die Stadt und wurden von der Stimme eingeholt. Ich sah die Frau im Morgenrock, am späten Nachmittag, und atmete aus, 126
dachte an einen Scherz, und sie näherte sich mit verschwörerischem Gehabe. Babs mochte die Frau nicht. »Ein Bekannter hat mich angerufen, die Polizei wird bald hier sein«, sagte sie, »er gehört selbst zur Einsatztruppe.« »Was hat das mit uns zu tun?« »Der Hausmeister ist doch öfter bei euch!« Intrigante Gerüchtesauerei. Wie immer. Überall. Ekelhaft klebrige Charaktere. »Und?« Die Polizei konnten wir nicht erwarten. »Wißt ihr nichts?« »Bitte in Klartext!« »Na, er ist doch Päderast …, Knabengeschichten!« Dieses Gerücht war nicht neu für uns und daher glaubwürdig. »Schon wieder?« Sie nickte. »Und wegen ihm kommen sie jetzt?« »Ein Schüler wird vermißt und der war öfter bei ihm hier!« Ich nickte ihr zu und drängte Babs zum Lift. Wir durften unseren Weg nicht ändern, solange sie uns sehen konnte. Unten angekommen, stiegen wir aus und liefen die Treppen hinauf. Wir mußten schnell handeln. Während ich ein Taxi bestellte, begann Babs unsere Sachen in drei neue Koffer und einige Kartons einzupacken. Die Stereo-Anlage mußten wir so zum Wagen tragen, sie am Rücksitz lagern und kaum verließen wir mit dem Taxi die Birsigstraße, bogen neutrale, aber erkennbare Polizeiwagen in sie ein. Nachdem wir unser Gepäck in der Aufbewahrung abgeben hatten, setzten wir uns ins Restaurant, diesmal in die erste Klasse, um niemanden von den Türken zu begegnen. Wir 127
mußten wieder einmal abhauen, diesmal mit dem Vorteil, daß wir Geld, Sachen und ein Ziel hatten. Dem Schaffner des Schlafwaggons mußten wir nur die Pässe überlassen, dann schloß er uns samt unseren Koffern, Kartons und Geräten ins Abteil. Ich taumelte zum unteren Etagenbett, mußte aufstehen, zur Toilette, kotzte und Babs spielte jetzt ihre Rolle als Krankenschwester. Mir war alles gleichgültig und hatte doch Angst, von den Grenzbeamten in den Fieberträumen überrascht zu werden. Das ich schrie und tobte, verschwieg mir Babs. Für sie ging die Fahrt nach Hause. Was sie dachte, wußte ich in meinen Fieberträumen nicht. Nur Bilder waren da, Ahnungen, die niemals täuschten, die das Schreien ausgelöst hatten. Als wir Babs Mutter erreichten, unsere Sachen in ihr Haus getragen hatten und ich noch müde war vom Fieber, kam die Polizei. »Eine alte Sache, nur einige Tage Polizeiarrest«, sagte der Beamte und legte mir das Verwaltungsurteil vor. Ich zuckte die Schultern, ein Einspruch war nicht möglich, und ich konnte mich an keinen Verstoß gegen das Landstreichergesetz in Österreich erinnern. »Hol’ mich Montag wieder ab!« Babs stand neben mir, ich küßte sie. Es war der letzte Kuß. Sie besuchte mich nicht, holte mich nach den drei Tagen nicht ab. Ich ging zu ihr, und sie kam mir im Garten ihres Elternhauses entgegen. Schweigend. Langsam. Unbeweglich lag sie in meinen Armen, meine Lippen trafen ihren kalten Mund. Keine Zunge kam mehr ins vertraute Spiel. Sie nickte und wandte sich ab. »In drei Tagen …?« 128
»Bitte versteh’ es nicht falsch …, Jörg ist schon länger zurück, die Italiener haben ihn abgeschoben, er hat auf mich gewartet …, ich wußte nichts davon …« »Gibt es keinen Weg …?« Sie schüttelte den Kopf. »Er weiß nichts von dir, von uns beiden …« »Gib mir meine Sachen!« Sie sagte nichts, ging langsam von mir fort. Rückwärts. Dann: »Du hättest mich nie schlagen dürfen!« »Es war dein Spiel mit dem Selbstmord …« »Nicht so laut …, geh bitte, geh!« »Meine Sachen!« Sie rannte zur Haustür, öffnete und bevor sie von innen abschloß: »Er hat alles verkauft!« Ich lief zur Tür, im Hirn tobten Gedanken von Feuer und Öl, als ich erkannte. Ich stand vor verschlossenem Tor und alles war verloren, sie und die Sachen … Später wandte ich mich ab, kehrte zurück in die Stadt. Ich hatte mich müde getobt. Es war vorbei. Mit dem nächsten Zug fuhr ich nach München, um ihr nicht mehr begegnen zu können. Ich wollte nicht allein, unbedeutend abtreten, erkalten. Irgendetwas mußte noch kommen, dachte ich und starrte durch das Abteilfenster in die Landschaft. Einsamkeit trieb im Strom von Hoffnungen. Das Einmannorchester, vom Dirigenten bis zum Streicher, war zu langweilig, stumpfsinnig, geworden, mit zu vielen Falschtönen versehen. Ich hatte kein Quartier in München und suchte in Bars nach ihr, mit Wohnung, Liebe und Frühstück sollte sie mich bedienen können … Kostenlos. 129
Der Alkohol gab die Sicherheit, der Zufall führte Regie. Meine Gedankenbilder halfen beim Schönmachen der Wirklichkeiten, auch im grellen Neonlicht, das ich sofort ausknipste, nachdem wir in ihr Zimmer traten. Der flackernde Kerzenschein, sanfte Musik und Berührungen von Haut füllten unser Schauspiel … Am Morgen, das Tageslicht wirkte wie ein Einbruch in die Schatzkammer und entblößte die Person neben mir, entdeckte ich mit fragenden Augen die fremden vier Wände, die umherliegenden Kleider am und vor dem Bett. Ich hatte Zeit zum Studium und kannte sie nicht. Es waren die Verzerrungen aus meinem Wunschdenken, weil ich das Erlebnis suchte, mit ihr nach Hause kam, irgendwie, benebelt … Ich suchte einen Weg, um fortzukommen, ohne mich von ihr verabschieden zu müssen. Wortlos. Blicklos. Der stramme Körper aus dem Lederanzug war nur mehr eine schwammige Masse Mensch. Gesichtslos. Grau in Grau und kein Verhalten mehr. Verfluchter Suff! Das Licht, ein Verräter! Ihre Haare waren am Abend noch schöne blonde, lange Haare, die mich an Babs erinnerten …, jetzt die braunen Strähnen und am Boden ihr unsauberer Slip …, gelbliche Zähne wurden sichtbar zwischen ihren halbgeöffneten Lippen. Der Irrtum hatte in den abendlichen Sehnsuchtsblicken gelegen. Sie erwachte nicht, als ich sie verließ, wie ich in ihr Leben getreten war: unerwartet, leise. Hatte sie mich benutzt, oder ich sie? Wer warf den Anker nach dem anderen? Diese Strandung! Ich hatte Hunger, kein Geld und ein großes Loch im rechten Socken. Mir kam alles so bekannt, vertraut vor. 130
In der Schillerstraße fiel die Entscheidung. Endgültig. So oder nicht mehr sein. Das war kein Leben mehr. Mit einem Tuch verdeckte ich mein Gesicht, in der Hand ein Klappmesser. »Ruhe, Schnauze, Geld!« Der Mann, etwa Fünfzig, wollte sich wehren, ich stieß ihn nach hinten, erreichte seine Geldlade … Ich rannte aus dem kleinen Geschäft und wußte nicht, was mit ihm passiert war. Er war von meinem Stoß nach hinten getaumelt, gestürzt und nicht mehr aufgestanden … Wieder auf der Straße, zog ich das Tuch vom Gesicht und umklammerte das Geld wie ein Ertrinkender einen Rettungsring. Nach etwa hundert Metern verfolgte mich sein Schreien. Menschen blieben stehen, suchten mich und zeigten der ankommenden Polizei den richtigen Weg. Ich rannte gegen mein eigenes Ende … Der Satanskreis begann sich zu schließen. Mein Beginn war Fortsetzung und Schlußpunkt geworden. Wieder einmal.
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BESUCHSEMPFANG Im Alltag ist das Leben ein vielstimmiger, oft drohender Orkan, der von Vorkommnissen getragen, das Leben ringsum mit tobenden Lauten oder auch einer ängstlichen Stille begleitet. Nahe an jenem Menschen aber, der nur noch Nummer ist, wird er wilder, drohender, niederschlagender, ein zweites Ich. Er ist stark, seine Kraft kennt kein unbezwingbares Hindernis, auch dort nicht, wo für die Person, den Menschen, die verwahrte Nummer, das aufgetürmt wurde, was Trennung, endgültige Trennung bedeutet: Mauern mit Draht obenauf, NATO-Draht aus Sicherheitsüberlegungen. Nichts ist von dieser Mitte heraus zu sehen, die Augen suchen und bleiben glanzlos, an drei Seiten nur das graugelbe Mauerwerk, an der vierten, in diesem Rechteck, ein Fleckchen Himmel, launisch mit Wolken verhangen, vom Orkan zerrissen, wieder zusammengetrieben wie eine Schafherde. Vor diesem kleinen Himmel, vor seinem Fenster, vor diesem Orkan, kann er manchmal etwas vom nahen Weinberg erkennen, jetzt werden die Reben und Sträucher vom Orkan gebeugt, alles ist herbstlich, auch seine Seele. Der Mensch, die Unperson, die verwahrte Nummer, er sieht es und sieht es nicht, draußen der Orkan, der alle Bilder zerfetzt, in ihm ein Sturm, der seine Träume in die Ferne treibt. Er hat es immer vor sich, in sich, neben sich, niemals hinter sich. Es ist von dauernder Anwesenheit, brennender Sehnsucht begleitet, und erscheint oft als greller Blitz vor seinen Augen. Huberts Augen sind jung vergreist schon, selten leuchtend, immer suchend. Hubert ist ganz mit sich allein. Er steht, manchmal geht er die wenigen Schritte hin und her in seinem 132
Raum, der ihn einengt, ihn nicht sich selbst sein läßt, nicht nur ihn, auch sein Ich ent-icht hat. Er blickt stumm, mit vertränter Seele innen, in die Ferne, hinaus in dieses Licht, das vom Orkan Schärfe erhielt. Er sieht die Kleinigkeiten, die er früher nie gesehen hat, ein flatternder Schmetterling erregt seine Aufmerksamkeit, er möchte sein wie er, auch in diesem Orkan. Die Weinberge sind mitten in die Einsamkeit des hügeligen Landes gewachsen, links und rechts sanfte Südhänge mit vollen Reben, obenauf ein Kreuz, eine kleine Kapelle, dort oben, im Herbst, zur Lesezeit, wird der beliebte Traubensaft geweiht. Er sieht alles und kann nicht hingehen, mitmachen, sich mitfreuen, mitfeiern, mittrinken, für ihn ist diese Welt greifbar nahe und doch Ewigkeiten, viele Jahre Kreisweg entfernt, was er hat, nicht immer, manchmal, viel zu selten, ist die Wortbrücke zu dieser, für ihn verschlossenen Welt. Er ist einsam, er weiß oft gar nicht mehr, daß er Hubert heißt. Von seinem Platz aus, sitzend weniger als stehend, liegend nur noch den Himmel, kann er das alles erkennen, ohne es wirklich erkennen zu wollen, weil mit diesen Bildern Ängste, Hoffnungen, Verzweiflungen auftauchen, die er nicht immer, nicht für immer, besiegen kann. Hubert kann nicht alles überschauen, weder da draußen in den Weinbergen noch in sich selbst, sein Blick ist viel zu trüb, fast schon stumpf, die Augen machten die Wandlung vom Leithammel zum Herdentier durch. Seine Blicke ertrinken in der Sehnsucht, und die kleinen, sehr stark vernarbten Wortwege liegen dazwischen wie Diamanten im Schrotthaufen. Hubert ist oft froh über das Wechselspiel der wenigen, von seinem Platz aus erkennbaren Wolken, er freut sich über ihre hastenden Gruppenbildungen, 133
ihr Durcheinander, ihr Auseinandergerissenwerden, da wird der Orkan zu seinem Freund. Das ist endlich ein Ereignis, welches seine Ruhe stört, Ruhe, die er nicht haben will, die ihm aufgezwungen wurde, über die er, sagen sie, noch froh sein sollte, und über die er manchmal weint, weil sie ihn so hilflos macht. Mehrmals übt Hubert die Kehrtwendung, einmal ungeniert, einmal nach Vorschrift: erhobener Kopf mit müden Gedanken und einmal mit der Hand, mit den zittrigen Fingern an den Händen, an den Hosennähten. Er blickt zu den Weinbergen. Die Mauern liegen dazwischen, aber er sieht über sie hinweg, durch die Berge hindurch, hinüber zu einem Haus, zu einem ganz bestimmten Fenster. Er sieht sie dort stehen, dahinter arbeiten, die Betten machen, er sieht, wie sie die Daunendecken zum Lüften hängt, wie sie sich, manchmal etwas nervös, mit vertrauter Gewohnheit, Haarsträhnen aus dem Gesicht streicht. Sie hat schönes, weiches, langes, sanftes, nach Veilchen duftendes, naturblondes Haar. Überhaupt, denkt Hubert, hat sie eine, nein, nicht eine, die zärtlichste Haut von allen, die er, Hubert, je mit seinen Fingern ertastet hatte. Er kann viele Stunden ruhig stehen oder liegen, er kann Tage, Nächte nur mit dem einen Gedanken an sie überleben. Nichts erreicht ihn in solchen Sekunden, Tagen, nichts, alles prallt dann von ihm ab, weil sie ihm Schönheiten zuflüstert, mit einem Flüstern, das niemand außer ihm hört –, nur manchmal, wie heute, wenn der Sturm in ihm so tobt, dann kann er auch sie nicht mehr hören, dann weint er, wird die Falte an der Nasenwurzel entlang zum salzigen Stromtal. Dann ist er müde, nur noch müde, seine sonst so breiten 134
Schultern zittern wie die eines Knaben, der im Einkaufszentrum seine Mutter verloren hat. Dann lauscht er immer wieder nach draußen, hinaus auf den Flur, in den Hof, immer mit der Hoffnung in der angehaltenen Stille, daß ihr Flüstern wieder zu ihm kommt, in Liebe … Hubert hat nur sie, er liebt sie, er lebt für sie, die anderen lachen ihn aus, in dieser Zeit noch Liebe! Verrückt, lachen sie, spielen die harten Kerle und weinen in ihren einsamen Nächten, er, Hubert, weiß das, er hat schon oft verhaltenes Schluchzen aus den Nebenbetten gehört, jetzt nicht mehr, jetzt lebt er allein in einem Raum. Und er liebt, er glaubt noch an die große Liebe, an die Liebe, die sich im Herzen abspielt und die im Körperkontakt den Höhepunkt erlebt, die aber in erster Linie eine geistige Verbundenheit darstellt, über Mauern hinweg, Berge überwindend, Stürmen trotzend, Gemeinsamkeiten stiftend. Wenn ihre Stimme die Entfernung, die Berge, die Mauern, nicht mehr überwindet, was manchmal vorkommt, was Hubert zu Boden reißt, dann verkriecht er sich in seiner Einsamkeit und hofft auf die nächste Sekunde, den nächsten Tag, auf ihren nächsten Brief, ihren Besuch. Die Frau ist sehr schön, sehr selbständig, sie hat es schwer mit ihm, die Trennung von ihr ist für ihn das Schlimmste in seiner Lage, und er ist stolz auf sie, ihre Liebe, sie macht ihn stark, so stark, daß er den zynischen Spott der anderen, der Superkerle und verbitterten Einsamen ertragen kann. Alle spotten, er, Hubert, lacht sie alle aus. Hubert mag nicht mehr an damals denken. Er lächelt. Er hat jetzt seine kleinen Freudengefühle, er hat sie immer in den Minuten, in denen er auf sie wartet. Er ist schon ein Mann mit grauen Schläfen, dabei 135
ist er erst zweiunddreißig, aber wenn er weiß, gleich wird sie da sein, dann lacht er, ist er vergnügt, schneidet sich lustige Grimassen im Spiegel. Er geht jetzt nicht mehr, er tänzelt durch den Raum, voller Erwartung. Er wippt auf den Zehenspitzen, er könnte schweben vor Glück. Er hört ihre Stimme wieder, ihr Duft kitzelt in seiner Nase, obwohl sie noch fern ist, kitzelt es so, daß er mit der Hand die Nasenspitze ribbeln muß, ja er, Hubert, ist verliebt! Alles in ihm gehört ihr, so zaubert er sie an seine Seite. Minute auf Minute wird Vergangenheit. Hubert ist lange schon ein einsamer, durch seine Situation stummer Träumer. Der Orkan über den Weinbergen, in ihm, wird ruhiger, Hubert ist jetzt in der Lage, aus den dichten Wolken, die Sonne hervorzulocken. Für ihn ist die Welt jetzt ein farbenprächtiges Paradies, auch er würde von ihr den Apfel nehmen. Vielleicht wird sie schon vorne warten, vielleicht fährt sie gerade zu ihm, vielleicht wird er schon zu ihr geholt. Sie wird wieder etwas verspätet zu ihm kommen, wie immer, wenn sie an einem Montag zu ihm kommt. Er wird sie in Empfang nehmen, ihre Hände in die seinen hineinlegen, sie festhalten, sie streicheln, ihr über die Haare streicheln, ihr einen Kuß auf die Augen, auf die Nasenspitze …, da angelangt, lacht Hubert, da zieht sie ihre Stupsnase so lieb in Falten, das kitzelt so, sagt sie immer, er macht es ihr immer so, dann erst würde er ihre Lippen suchen, seine auf ihre legen, zart, fest, verlangend voller Sehnsucht. Er will diesmal besonders zärtlich zu ihr sein. Sie soll gerne zu ihm kommen, ihm ihre Liebe bringen, ihm selbst überreichen … Die Verspätung, ihre Verspätung bringt Verwirrung. Gedanken fliegen ohne Ermüdung, immer im Kreis, immer um 136
sie, um die Zeit mit ihr. Sie befinden sich auf Schleichwegen. Seine Frau hat es schwer, sie ist nicht mehr jung, aber noch lange keine alte Frau, sie ist gerade voll erblüht, in wenigen Jahren kommt die Zeit der Fragen nach Lebensinhalt, nach dem Sinn als Frau, und er, Hubert, wird diese wenigen Jahre noch fern von ihr, hier in dieser Einsamkeit verbringen, wird ihr keine Selbstbestätigungen geben können. Wird sie diese Zeit durchhalten, zu ihm stehen, auf ihn warten, sich nach ihm sehnen, ihm glauben, wenn er sagt: »Warte, ich werde dich belohnen!«? Hubert weiß es nicht. Er glaubt an sie. Manchmal nicht. Nicht immer kann er daran glauben, wie jetzt, wo die Uhr nicht anhält und sie nicht erscheint. Sie ist schon viele Male zu ihm gekommen, auch so spät, sie muß noch viele Male zu ihm kommen, bevor er sie in die Arme nehmen kann. Es wird die Zeit sein, wo sie nichts mehr von dieser Traurigkeit wissen wird. Und die Tage werden vergehen, und alles wird wieder Vergangenheit sein, auch der Tanz, der noch so weit entfernt liegt, auch er wird einmal vergangene Zukunft sein. Der Nachmittag zergeht wie ein Stück Butter auf der Herdplatte. Hubert denkt daran, heute allein zu bleiben. Es ist schwer, solche Wahrheiten zu erkennen. Sie ist noch nicht da. Sie hat nur wenig Zeit. Aber endlich hört er die Stimmen vor seiner Tür. Er zittert, schwitzt, blickt zur Tür und hat Angst, sich geirrt zu haben. Aber er wird geholt, es fällt sein Name, auch ihrer. Endlich! Er geht zu ihr, in wenigen Minuten …, Sekunden …, endlich der lange Raum … 137
In der Mitte, wie ein riesiger Strom mit Untiefen, der breite, dunkelgrüne Tisch, dann die Barriere als zentrale Achse, ihre Hände können sich nur in der Flußmitte treffen. An manchen Tagen herrscht an den Ufern dieses hölzernen Stromes vielstimmiges Murmeln, Flüstern, Reden, Streiten, es vereinigen sich viele Sprachen zu einer einzigen Wortbrücke, von hier nach dort, flügellos wie alle Worte, die diesen Strom überqueren. Hubert bleibt stehen, er ist nicht groß, würde er sich hinsetzen, er könnte ihre Hände, Lippen, nicht erreichen. Er wartet stehend, sie kommt, lächelt, auch sie bleibt stehen, beugt sich vor, reicht ihm die Hand, neigt ihren Kopf unter seinen Liebkosungen, schenkt ihm ihre weichen Lippen … »Du kommst spät, Liebling!« Seine Stimme ist eine Mischung aus Freude und Vorwurf. »Hast Du nicht mehr gewartet?« »Ich warte immer! Wenn es so spät wird –, ich weiß nicht, dann habe ich Angst«, erwidert er. »Ist etwas geschehen?« Er ist voll Neugier auf ihr Leben, ihren Alltag, auf dieses Leben, an dem er nicht teilhaben kann. Sie zuckt nur die Schultern, es war nichts, sie war schon öfter um diese Zeit gekommen. In letzter Zeit wirkte er ungeduldig, egoistisch, dachte sie, ich habe doch ein Recht auf mein Leben. Sie bleibt stumm. Seine Augen sprechen Fragen, auch Urteile finden sich darin, das schmerzt sie. Er sieht ihre Unsicherheit. Sie lächelt, es ist nicht ganz frei. Sie hat ihn besucht, sie war wieder einmal gekommen, sie hat ihn noch nicht vergessen, er ist glücklich, innen, auch eifersüchtig, er will es vor ihr verbergen, ihr keine Vorschriften machen, er liebt sie, ehrlich, nur diese Entfernung, dieser hölzerne Strom zwischen 138
ihnen, diese langsame wachsende Entfremdung, seine Schuld, diese Mauern, diese Stürme, als ob ein Ende beginnen würde. Aber für Hubert ist Sonnenschein, nur kurz waren die Fragen über ihre Verspätung, jetzt war sie da, bei ihm, er hielt ihre Hand, auf seinen Lippen spürte er noch den Druck der ihren. Schönheit. Glühender Sonnenball als Herzersatz. Der Orkan ist zum Windchen geworden, Düfte setzen sich fest. Ihre Worte wehen in sein Ohr, ihr Atem streicht über Huberts Gesicht. Eine Erregung, die ihn ärgert, stürzt ihn in eine Verwirrung. Dieser Duft allein genügte, aber alles war sinnlos, weil er keine Gefühle leben konnte, durfte. Jede Erregung wird anschließend vergewaltigt, verdrängt, tabuisiert, entmenschlicht. Ihre Hand stellt eine Verbindung her, Wärme durchströmt ihn, überwindet den trennenden Fluß zwischen ihnen. »Ist es schwer?« fragt er. »Nicht schwerer als für dich!« sagt sie. »Doch«, widerspricht er, »du bist allen Versuchungen ausgeliefert, ich nicht, um mich ist nichts, kein Leben, nur Stürme, Leere, Einsamkeit –, bei dir ist es anders, lebendiger.« »Du redest dummes Zeug!« sagt sie, lächelt. »Komme ich sonst zu dir …, die Zeit ist schon lange, nicht mehr so lange wie bisher, wir werden es schon schaffen.« Er lacht, erlöste Ängstlichkeit, ihre Augen sind ehrlich. Er ärgert sich, weil er andere Gedanken hat. Nur die Liebe, Verzeihung als ihr Brot, Toleranz als ihr Wein, kann helfen, diese Zeit zu überstehen, ohne Schaden an sich und der Gemeinsamkeit zu erleben. »Ich kann dich nicht vergessen!« sagt er. Küßt dann mit salzigen Tropfen, hoch oben im Gaumen, ihre Fingerspitzen. 139
»Diesen Winter noch, dann noch zwei, es wird vergehen, wirst schon sehen«, tröstet sie ihn und hat selbst Angst, noch so lange allein zu sein. »Dann müssen wir alles schnell vergessen.« Hubert ist ein ungeschickter Tröster. Er kann seine Angst nicht mehr besiegen. Er wird sie doch noch verlieren. Die Hoffnungslosigkeit in seinem Gesicht breitet sich mehr und mehr aus. Er sieht zu ihr, auf ihre Finger, auf den dunkelgrünen, hölzernen Strom mit der nußbraunen Barriere in der Mitte. Langsam verschwindet alles in den schneller werdenden Fluten. Sein schöner Plan wird zum Spielball der Wellen. Als sie und er aufgerufen werden, darauf verzichten müssen, sich jetzt in die Arme zu nehmen, weiß er, die Zeit ist vorbei, verspielt, sie geben sich die Hände, ihre Finger umklammern seine, ängstlich, so, als wollten sie nicht loslassen, als hätten sie Angst, ohne den anderen ertrinken zu müssen. Der letzte Kuß ihrer zitternden Lippen … »Ich komme wieder, bald, sehr bald, zum nächsten Termin!« sagt sie. »Bitte!« erwidert er und hätte ihr am liebsten einen ganzen Roman zugeschrien, ihr nachgerufen, er spürt, es war das letzte Berühren in ihrem gemeinsamen Leben. Sie lächelt beim Hinausgehen, blickt zurück, schon anders als früher bei den gleichen Trennungen, in diesem Blick, jetzt, in diesem Augenblick, liegt die Bestätigung für seine Angst, was dahinter liegt, spricht niemand aus, und doch ist es da, unsichtbar, spürbar: die Trennung. Ein wenig später ist er wieder in seiner Zelle, sie ist fort, weit außerhalb der Mauern, sein Blick ist verschleiert. Er weiß 140
jetzt, worauf er zu warten hat: auf ihren letzten Brief! Der Kuß, die Liebe, alles war noch echt, aber sie waren beide an der Zeit, an der Situation, an seiner Schuld, an seiner Unfreiheit, seiner strafenden Gefängniszeit gescheitert. Daran konnte auch der letzte Rettungsversuch, an den Ufern des breiten Stromes im Besuchszimmer, der sie immer schon gestört, der sie immer schon ein Stück weiter auseinandergebracht hatt, nichts mehr ändern. Hubert wußte, was jetzt kam, und er dachte an den Tod und hoffte, daß er sich geirrt hätte. Er suchte in der Ferne, jenseits der Weinberge ihr Bild, er fand es nicht mehr, er lauschte in den Sturm und konnte ihr Flüstern nicht mehr verstehen. Nachts träumte er von Schäferhunden, die in ihr Haus eingedrungen waren, sie verschleppten, das war für ihn, am Morgen, nach dem Erwachen, schweißgebadet noch, die Überzeugung: ES WAR EINMAL! Was ihm, Hubert, bleibt, ist nicht mehr als ein graues Schweben, das sich zwischen Traum und Realität zu Tode schwingt, drüben im anderen Land, dort wo die Einsamkeit die Hauptstadt ist und Trennung die große Macht …
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KERKER Benommen vom Vergangenen Traum, berauscht von dessen Bildern aus Leben und Ferne, in konstanter Weigerung meiner Denkzentrale, gequält vom Druck in den Schläfen und unter den, sich wie Bleigewichte anfühlenden Pupillen werde ich vom natürlichen Ablauf der Zeit zum Erwachen gezwungen. Die Versuche, mich dagegen aufzulehnen, sind nichts als Hoffnungen, deren Inhalte ich nur in den Träumen erlebe. Ich habe Mühe, meine Umgebung zu begreifen, und in mir die Angst vor den Wänden, die meinen Raum begrenzen. Meine Gegenwart reflektiert sich im Grau der Morgennebel. Mein Bett befindet sich, parallel zur Wand stehend, unterhalb des Fensters. Entgegen den Vorschriften in der Hausordnung. Ich weigere mich, in jeder Sekunde, in der die Augen sehend sind, das erhöht angebrachte Fenster, die Gitter im Rahmen und den dahinter, in achtundzwanzig Rechtecken zerschnittenen Himmel anstarren zu müssen. Vom Bett bis zur klinkenlosen Eisentür, in einer Breite von zwei Meter zwanzig, sind es noch vier Meter achtzig, Die Wände sind graugelb gekalkt, Gitter und Tür müssen in einem Grün gestrichen sein, weil dies eine Farbe sei, die ruhigstelle, sagen die Psychologen, die nie in einer Zelle leben mußten. Meine Kotze hat sich längst grün gefärbt. Alles ist im Raum: Toilette, Tisch und Waschbecken, Spind und Einsamkeit. In den Nachtstunden, jetzt im Morgengrauen, weil es mir nicht gelingt, die Augen geschlossen zu halten, sehe ich ent142
lang der Längswand, hinüber bis zur Toilette, in verzerrter, surrealistischer Gegenwartskunst dargestellt, verursacht von den starken Sicherheitsscheinwerfern, an den Türmen und Außenmauern angebracht und gegen die Zellenfenster gerichtet, das Gitterraster meines Fensters. Vorhanglos. Bilder, die mir mein Zuchthausleben ins Hirn hämmern, sobald ich dem befreienden Schlaf entrissen werde. Vom ersten Blick nach dem Aufwachen bis zum letzten vor dem Einschlafen. Erbarmungslos. Tagsüber ist eine Flucht vor dieser Gegenwart unmöglich. Ich schließe die Augen, öffne sie wieder, und alles um mich herum verschwimmt in grauen, langen Schatten: das Fenster, die zu Ende gehende Nacht; die Welt mit ihrem pulsierenden Leben, jenseits der Scheinwerfer, bleibt für mich eine unerreichbare, unbekannte. Geschützt vor mir. Alles hinter dem künstlichen Lichtkreis ist Traum, und ich versuche Sterne zu finden. Meine Gedanken lauschen den hastenden Sehnsüchten nach. Es muß noch sehr früh am Morgen sein. Feuchte Nachtkühle verhindert, daß ich mich wohlfühle unter den groben, kratzenden (drei, schreibt die Hausordnung vor) Decken. Vom Hof, vom Flur, aus anderen Zellen dringen keine Geräusche, die mich erreichen könnten. Manchmal begleitet Vogelgezwitscher mein Erwachen. Junge Dohlen kreischen, Tauben gurren und ich schäme mich meiner Morgentränen nicht. Ich liege wie zum Sprung bereit, alles in mir ist explosive Spannung. Der Bogen ist aus Furcht, und die Sehne, in der ich mich befinde, ist aus der Frage: Wie lange noch? Mein Wachwerden wird vom geistigen Frost begleitet und ich fluche, weil es, wie so oft in letzter Zeit, viel zu früh pas143
siert war und sich meine Gedanken weigern, mich in Ruhe zu lassen, um neuen Schlaf, eine neue Flucht aus diesem Dasein wirksam werden zu lassen. Dann erinnere ich mich, in einem Dacapo aus wenigen Traumbildern, an ein Leben, welches schon lange verlorene Zukunft ist und nach dem ich mich sehne, von dem ich phantasiere und das mich im Wachzustand quält, wie es mir im Schlaf den Fluchtweg aus der Strafe zeigt. Das Haus, die kleine, behagliche Wohnung mit dir und deinem Duft, das Kitzeln deiner blondseidigen Haare und all die Umarmungen, wenn ich zu dir kam, und die Türen, die ich selbst öffnen und schließen konnte …, die langen Wege, auf denen ich nicht schon nach wenigen Schritten umkehren mußte … Ich spüre, wie ich, in diesen Erinnerungsbildern verweilend, lächle, mich für kurze Momente glücklich fühle und aus ihnen neue Kraft finde, die mir Hoffnung gibt, daß es wieder einmal so werden könnte. Nach meiner bestraften Zeit. Gedanken sind es, zerre ich sie näher heran, heraus aus dem Traum, an denen ich mich festhalte wie ein Schiffbrüchiger an einem Baumstamm. In mir tobt der Hunger nach Erleben, gurgelt die Sehnsucht nach Berührungen mit der Geliebten, schmerzt ziehend der Wunsch, die inzwischen zum Tween gewordene Tochter zu sehen, zu ihr eine engere Beziehung aufzubauen, mit ihr zu sprechen, und dann weiß ich: es darf nicht sein, um ihre Zukunft nicht mit meiner Vergangenheit zu belasten. Wird der Wunsch zu kräftig, verhindern die Gitter und Mauern eine Erfüllung. In der Erinnerung lebt die Schönheit, darin schwebe ich mit strahlenden Gedankenbildern und erkenne die Inhalte, die 144
das Jetzt bestimmen in einem Spiel der halbherzigen Versuche, Boden zu finden. Im Hirn und vor Augen die Bilder aus dem Leben der Kleinen, wie sie, unten am Strand, mit Kunststofftieren im Sand spielte …, während wir am Balkon unseres Zimmers die Lippen zusammenführten, mit geschlossenen Augen … Der Morgen war unsere Zeit, ein Miteinander der ausgeruhten Körper, mit erfrischtem Geist genossen wir, den Duft des anderen trinkend, den Sonnenaufgang … Es war einmal! Mit diesen Zärtlichkeiten bewältige ich meine Gegenwart und fühle, wie die Energiequelle zu versiegen beginnt. Die Zeit ist zu langatmig geworden, das Frieren unter Sonnenstrahlen zum Alltag und in den Nächten kettet mich die Fessel der Angst vor dem Irgendwann. Manchmal ertappe ich mich bei der brutalen Vernichtung früherer Schönheiten. In die sehnsüchtigen Zärtlichkeiten schwindelt sich eiskalte Masturbation. Das Bild von dir dient immer öfter als Objekt der Gierstillung. Heute, wie jeden Tag und unabhängig von der Uhrzeit beim Schlafengehen, ist der Körper ausgeruht, die Gedanken taumeln in schizophrenen Schüben. Aus der Sinnlichkeit in den Absichten wird eine solide Handarbeit und die Liebe darin zur speienden Lava. Was mir bleibt ist Leere und die Unmöglichkeit, den Augenblick zu vergessen. Alles befindet sich in einem Kreislauf. Fühle ich die warme Weichheit deines Körpers, deinen Atem, erinnert mich die Kälte meiner Einsamkeit an die Wirklichkeiten. Onaniervorgänge, geistige und körperliche, ersticken zum urinstinktiven, jedes Zivilisationsbild höhnenden 145
Zwangsritual. Strömt bei Beginn alles in prickelnden Erinnerungsspannungen, endet es, fast immer, noch vor den letzten Zuckungen, in wilder Enttäuschung. In der Mitte, in den erzeugten Verrücktheiten, irgendwo als Zielpunkt gedacht, als Rettungsring vor dem elenden Selbstmitleid, existiert die Schuld. Sie ist Eigentum und Fremdkörper. Mit Ablauf der Zeit, in den Anfängen der Verluste von Realbewußtseinseinbildung, wird aus ihr eine masochistische Opferrolle. Illusion bleibt als Zerrspiegel der Seele. Geschehenes bleibt bestehen, nichts läßt sich verschweigen und begleitet meine Zeit. Das Erwachen bleibt ein Taumelschritt. Im Kopf befinden sich sechs Gehirne im erbitterten Krieg. Denke ich, endlich gewinne eines von ihnen, lege ich mich auf diesen Sieg fest, beginne ich die Bilder des Kampfes zu vergessen, erscheint ein ungeahnter Gegner und zertrümmert alle Klarheiten. Was bleibt sind Fragezeichen. Antwortlos. Zurück bleibt die Angst vor den nächsten Minuten, vor dem neuen, nächsten Tag, der so beginnt und enden wird, wie die viertausendsechshundertzweiundachtzig davor. Eine relative Zeitfestlegung ohne Sicherheiten hält mich gefangen. Erste Feuer der Wut, die aus der Ohnmacht strömt, zeigen mir den Sieg über den Zustand, den ich nicht als gegeben annehmen kann und will. Ich führe Krieg gegen jene, die mir alles mit der Begründung des Gleichheitsgrundsatzes ablehnen, um mich in den stupiden, jede Kreativität tötenden Zuchthausalltag einzugliedern. Noch bin ich stark genug, um nicht von Teilen der Gesellschaft als Spucknapf dienender Lebensfurz vereinnahmt zu werden. Ich bin schuldig, aber nicht bereit, über das Leben 146
damit zu schweigen. Daß sich breite Teile der Menschheit und aus allen Bereichen nicht kümmern, ja, sich weigern, etwas über das Innenleben eines Gefängnisses zu erfahren, lasse ich nicht gelten. Die Berührungsängste, Ekel und bewußtes Ablehnen, Verstoßen von Häftlingen durch Leute, die aus einem machtgeilen Triumphgefühl jemanden isolieren, gleichgültig, aus welchen Motiven, ohne sich um Hintergründe zu kümmern, sind für mich alibihafte Scheuklappenaktionen. Triumphe für ihre komplexbeladene Selbstbestätigung. Sie operieren mit dem Begriff des Gleichheitsgrundsatzes nach dem Gießkannenprinzip und wissen, daß es nirgends eine reale Gleichheit geben kann, weil sie an den Fähigkeiten und Wünschen des Individuums so ganz vorbeifließt. Was mir bleibt, ist ein Luftschnappen in viel zu stickiger Umgebung. Schlaflos erhalten zu werden, ist Tollheit, alles gilt als vermißt: das DU und auch das ICH. Wie groß ist ein Grab? Eine Gruft? Ich sehe mich um, verfolge die langen Schatten in meiner Zelle und versuche zu lächeln, was zu einem Verzerrspiel der Gesichtsmuskeln ausartet. Endpunktsituation. Ich schließe die Augen, presse die Lider fest zusammen, kein Lichtstrahl, kein Grauschatten soll die Iris erreichen und keine Augenblicksaufnahme durch sie ins Gehirn vordringen. Die Augen schmerzen, ich öffne sie nicht, in den Schläfen pocht es stärker als zuvor, und so erwarte ich den Tag, den ich verschlafen möchte. Manchmal der Wunsch, die restliche Zeit der Strafe ohnmächtig zu verbringen, vielleicht und warum nicht, zu sterben, einfach einzuschlafen, nie mehr aufzuwachen zu müssen … Wünsche zerreißen meine Gedanken, mit den 147
Wirbelstürmen im Kopf und in der Brust gleite ich in den neuen, sich täglich wiederholenden Tag.
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Sechs bis sieben Uhr dreißig Sirene: zweimal zehn Sekunden. Schrill. Ein Weckruf, pünktlich um sechs Uhr. Gänsehaut erzeugend. Ich drücke das linke Ohr gegen das harte Kissen und die Faust auf das rechte. Sinnlose Versuche, dem Heulton zu entkommen. Anschließend durchdringt eine Amtsstimme im Bahnhofshallenton die Stille. Ich kann den Lautsprecher, wie auch beim zentralgesteuerten Rundfunkempfang, nicht abstellen und bin ihnen ausgeliefert. Sie allein entscheiden über das EIN oder AUS. Wer in der Zelle leben muß, hat sein Recht verwirkt, eigene Entscheidungen auszuleben. »Tagwache! Tagwache! Guten Morgen, alles aufstehen!« Vor meinen Augen erscheint das Bild des Beamten in der Zentrale, wie er müde auf seine Armbanduhr, die mir aus Sicherheitsgründen untersagt ist, blickt und hofft, daß sein Nachtdienst bald zu Ende sei. Kaltes Neonlicht, eine vierzig Watt-Röhre, die keine Schatten wirft, dringt schmerzlich grell in meine Augen. In mehr als vierhundert Zellen, fast tausend Leute erleben gleichzeitig den Weckvorgang. Ein Generalschalter sorgt für Gemeinsamkeit. Ab einundzwanzig Uhr ist die Nacht stromlos, nur unterbrochen von stichprobenartigen Durchleuchtungen. Funktioniert einmal das Licht in der Zelle nicht, schließt der Beamte die kleine Luke in der Türmitte auf, strahlt mit dem Handscheinwerfer durch den Raum und weckt mich durch seine Pflichterfüllung. »… kannst nicht schlafen? Ich auch nicht, ich hab’ Nachtdienst, hehe …« Danach schließt er, ohne meine Antwort abzuwarten, die Luke. 149
Am Morgen beginnt ein Warten, ohne zu wissen, auf wen, für wen, für was. Verdammter Leerlauf. Stumpfsinn. Ich muß meine Verfluchungen schlucken, werden sie zu laut, folgt eine Strafe wegen »ungebührlichen Benehmens«. Der Wärter muß seine Kontrollen durchführen, von seinem Verhalten, stehe ich vor dem Strafrapportleiter, spricht niemand mehr. Das Licht schmerzt, ich drücke das Gesicht ins Kissen und leide unter dem sehnsüchtigen Gedanken: könnte dies nicht die Haut der Geliebten sein … Langsam, täglich um die gleiche Zeit die gleichen Geräusche, fließt Leben in meine Umgebung. Klospülungen. Verrauchtes Husten und Flüche. Aus der Nebenzelle, in der ein Deutscher und ein Italiener einen völkerverbindenden Zwangssprachkurs durchleben müssen, höre ich Lachen. Und ich, allein, überwach, bin nicht in der Lage, nichts mehr zu hören. Eisentüren und dünne, jeder isolierenden Zielsetzung höhnende Fertigbetonwände sind keine Barrieren. Nicht für Kälte im Winter, Hitze im Sommer und nicht für Laute. Alles durchdringt sie. Nachts, selbst in einem Ersatzliebesspiel vertieft, beginne ich in der Frustration zu erstarren, wenn aus Nebenzellen Lust und Freude tönt. Ich bin zum Neider geworden. Die Schwulen rauben der Justiz zumindest den Liebesentzug zurück. Zu Beginn spielte ich mit Gedanken, mich in die Gefühle der Reserveliebschaften fallen zu lassen. Augen zu und mit dem Hirn bei der Geliebten … Ich fand nie die Ruhe zur Handlung, und dann kam der Ekel vor der eigenen Schwäche. Besuche der Geliebten bestätigten mir die Freude, den oberflächlichen Begierden nicht nachgegeben zu haben und die 150
Sehnsüchte mit Tiefgang im egoistischen Arbeitsablauf bewältigen zu können. Ich bin stolz, nicht so zu sein, wie die, die im Zuchthaus mit Schwulsein das Rückgrat befriedigen und dann zu ihren Frauen in den Besuchsraum gehen, den harten Kerl spielen. Gedanken sind es, jeden Tag die gleichen, hervorgerufen durch die täglichen Wiederholungen um mich herum, die mich einengen, meinem Reagieren schizophrene Züge geben. Die Normalität ist zur Fata Morgana geworden. Ich bin eine Nummer und verwahrt. Es gibt keine Verantwortung mehr, alles wird für mich vorgeschrieben und erledigt. Mir geht es gut, sagen die Verwahrer und verweigern mir die Möglichkeit, nicht in solcher, totaler Versorgung ersticken zu müssen. Am Flur, auf dem schmalen, mit Eisenplatten gelegten Steg nähert sich ein kontrollierender Beamter. Zwischen den Stegen ist ein breites Maschengitter gespannt. Keiner der so fürsorglich Verwahrten darf in die Tiefe fallen, sich hinunterstürzen. Peinliche Protokolle müssen vermieden werden. Die Eisenplatten sind zum Teil schlecht montiert und ich höre den Beamten beim Näherkommen. Täglich mehrmals das Ritual des neugierigen Lauerns, mit der Frage, wann wird er meine Tür erreichen …, dem Zählen seiner Schritte. Manchmal bleibt er stehen und schlägt mahnend mit seinem Schlüsselbund gegen eine Tür. »… aufstehen, aber dalli, dalli!« Ich bleibe im Bett und stelle mich schlafend. Es gehört zu meinen täglichen Abweichungen vom stupiden Herdenverhalten. 151
Der Wärter bleibt vor meiner Tür stehen, blickt durch das, mit Glas abgesicherte, eineinhalb Zentimeter große Guckloch und tritt verärgert mit dem Fuß dagegen. »… he! Aufstehen! Dalli dalli!« Ist wohl sein Lieblingsspruch, denke ich, weil er ihn immer wieder benützt. Ich bewege meine Füße und hebe die Decken etwas an. »… na, wird’s bald! Ist höchste Zeit. Wir sind in keinem Hotel.« Ich verlasse die Bauchlage, verharre am Rücken liegend. Provozierend. Die Stimme, das reizt mich, gehört einem der scharfen Hunde im Haus. »Wird’s bald?« Mein stiller Triumph gilt seiner Ungeduld. »Oder müssen wir ihn, wie so oft, wieder aus dem Bett holen?« Sein Zynismus ist eine Warnung. Ich kenne ihre Hilfe, diese ihre Hilfe und die Legimitation, die ein einzelner im Namen der Mehrzahl ausspricht. Ich setze mich auf. Langsam. Im Gesicht ein verzerrtes, heuchlerisches Grinsen und streiche mit dem Handrücken über die Wange. Der tagealte Bart erzeugt ein schabendes Geräusch. »Genügt’s?« Ich spüre den aufkeimenden Haß in mir, weil er mich immer noch durch den Türspion beobachtet. Im Hirn sammeln sich Worte und dann sage ich andere, weil ich für die gedachten zu feige bin. »Ist ja erst fünf Minuten nach Sechs!« »Von wo hat er die Uhr?« Ich schüttle den Kopf, zeige ihm meine beiden nackten Arme. »Die Sirene!« 152
»In fünf Minuten komme ich zurück!« sagt er drohend. »Bei meiner Kontrolle bleibt keiner im Bett, faul’s G’sindel!« In seiner Stimme liegt Befriedigung. Er ist wer, er steht über mir und kann mir befehlen. So einfach ist das. Das beginnt mit der Festnahme, lange vor dem juristischem Urteil hat die veröffentlichte Meinung den Stab gebrochen, und rechtfertigt seine Tritte nach unten, seine Nachurteile im gesetzlosen Raum. Jenseits der Mauern werden Familie, die Frau, die Kinder, alle, die mir als Verdächtigtem nahestehen, animiert von der medialen Information, mit nackten Fingern gebrandmarkt. Innerhalb der Mauern kann der Beamte mit mir machen, was er will. Meine Aussagen werden mit Verleumdung eingeklagt. Fast eine Stunde habe ich Zeit bis zum Frühstück. Morgenrapport. Fast sechzig Minuten, in denen nichts geschieht. Nur leeres Warten, und mir ist diese Zeit zu still und viel zu lang, ich finde mich in ihr nicht zurecht. Nur Herumlaufen, sieben Schritte hin und her, inhaltslos, das kann ich den ganzen Tag, zehn Stunden lang, bis die Erlaubnis kommt, ins Bett zu dürfen. Tagsüber ist die Benützung des Bettes verboten. Oft stehe ich müde, zerschlagen vom Nichtstun, neben dem Bett und weiß, lege ich mich hinein, werde ich bestraft. Alles ist aufgezwungen. Brutstätte des Hasses »So eine Schweinerei!« schreit der Beamte, der wieder vor meiner Tür steht und den ich, abgelenkt durch meine Gedankenjagd, nicht zurückkommen hörte. »Das kommt jetzt in die Meldung!« Ich setze mich wieder auf und bin enttäuscht, weil er nicht seine Kollegen geholt hat, um mir beim Aufstehen zu helfen. 153
Die Drohung mit der Strafmeldung erzeugt ein weiteres Grinsen um meine Mundwinkel, das die Augen nie erreicht. Resignierend stehe ich auf, blicke an mir hinunter und fühle mein Kleinwerden beim Anblick der zu großen, vom Nabel bis fast zu den Knien reichenden, blaugestreiften, kurzen Unterhose. Sie ist ein Teil der mir zugeteilten Kleidung und im Sinne des Strafens ein weiter Beitrag zum Selbsbewußtseinsverlust. »Verrückt, eine ganze Stunde sinnlos zu warten«, sage ich und gehe näher zur Tür, im Hirn der Wunsch nach Provokation und die Sehnsucht nach einer Stimme, einem Gespräch. Nachdem ich mir eine selbstgedrehte Zigarette zwischen die trockenen Lippen stecke, anzünde, versuche ich einen Beginn: »… niemand kommt hierher, ich muß auf nichts warten, auf gar nichts …« »Das ist allein Ihre Schuld«, sagt er vor der Tür, mich unterbrechend, »von uns sind Sie nicht gerufen worden!!« Ich spüre die Wut über diese, seine, jeden Tag oft wiederholte Meinung, auch von seinen Kollegen. »Ist doch eine Scheißansicht!« sage ich und habe Mühe, meine Stimme zu kontrollieren. »Ich bin nicht freiwillig hier.« »Nur keine Frechheiten! Reinigen Sie lieber Ihre Zelle und stehen’s früher auf!« Er läßt mit dem letzten Wort die Schutzklappe vor dem Spion fallen und geht. Unterwegs, an anderen Türen vorbeikommend, dagegen schlagend und Zitate aus dem Zuchthaushumor durch die eine oder andere Tür rufend, bekommt er im gleichen Ton Antworten. Jetzt hat der Mauernalltag endgültig begonnen, und ich ärgere mich, weil es mir, obwohl ich allein bin, immer noch peinlich ist, das freistehende Klo zu benützen. In den großen 154
Zellen, wo bis zu zehn Leuten und mehr nebeneinander, sich gegenseitig aufgezwungen, leben müssen, wird jetzt einer nach den anderen hingehen, den Geruch des Vorgängers in der Nase, und seine morgendlichen Bedürfnisse abwickeln … Die Toiletten sind in allen Zellen gleich: eine gußeiserne Muschel wird mit Hilfe einer spanischen Wand vom übrigen Raum abgedeckt. Der Spülkasten hängt am Flur. Je nach Körpergröße des Benutzers, zeigt er den anderen die Füße vom Knie abwärts und den Kopf. Da die Anlagen neben der Tür eingebaut sind, durchziehen die Gerüche den ganzen Raum, bis sie das Fenster erreichen, und wenn dann nach dem sechsten noch ein siebenter Mann seinen Darm entleert, wird selbst das stärkste Hungergefühl vergessen. Von den Anfeuerungsrufen der anderen, für den einzelnen, der gerade auf der Muschel sitzt, ganz zu schweigen. Ich ärgere mich. Was habe ich gesagt? Daß ich nicht freiwillig hier bin, nichts sonst. Und sie nennen das eine Frechheit. Schweigt ein Häftling, gilt er als brav und wird später doch als labil mit einem passiven Verhalten zum Strafvollzug beurteilt, womit eine vorzeitige Entlassung abgelehnt wird. Wer auch auf ihre dümmsten Aussagen antwortet, gilt als uneinsichtig, nicht sozialisierbar, womit eine vorzeitige Entlassung niemals in Frage kommt … In den ersten Jahren habe ich geschwiegen. Die Anpassung an das Gefängnisleben gelang mir nur zum Teil. Bei den Scheuklappenwitzen der Verwahrer lächelte ich verlogen und würgte an meiner Unfähigkeit, ehrlich zu sein. Hirn war Faust. Mein Wortschatz war für alle verständlich: Rülpsen, Grunzen, Scheißdrauf! 155
Als ich begann, Bücher zu lesen und Wörter zu begreifen, sie in meinen Fragen verwendete, erkannte ich: Hirn war jetzt im Kopf. Endlich fand ich Mut. Selbstvertrauen, und aus den grauen Schatten wurden Lichtflecken. Ich wurde zur Belehrung geholt: ich solle nicht so g’scheit daherreden, dazu sei ich am falschen Ort! Ich solle mir nur nichts einbilden und damit Unruhe ins Haus bringen … Ich drehe mir eine weitere Zigarette, zünde sie an und rauche hastig. Mich ärgert mein Nervössein, dieses innere Zittern, das ich nicht unterdrücken kann. Sie legten mir nahe, weniger klug zu reden, und ich begriff: Worte sind schwerer zu überwachen als primitive Muskelreaktionen, die sie, wenn es sein muß, mit ihrer Uniform und Übermacht bezwingen. Dafür sind sie ausgebildet, geschult, Problemgespräche, Ursachenforschung steht nicht im Programm ihrer Aufseherschule. Meine, aus der Schuld kommende Strafe ertrage ich, aber dieses Vegetieren ohne Freilauf für Einsichten und in der Zeugungstätte des Hasses, zerreißt mich. Alles wird abgenommen, jede Verantwortung, jedes Eigenleben. Die Unmündigkeit ist eine Folge dieser Zeit, und wer nicht in der Haft verreckt, kommt in die Freiheit zurück: unmündig, unreif, ausgehungert, gierig und vollgefüllt mit Phantastereien und Zerrspiegelungen des Lebens. Der totale Existenzentzug meiner Person raubt mir die Kraft, für mehr als den Augenblick zu agieren. Die täglichen Wiederholungen sind vorgeschrieben, überwacht und traditionell festgefahren in den Erlässen und Weisungen von oben nach unten. Ich kann nichts vergessen und habe Angst, später, 156
nach dieser Zeit, wieder als Selbstversorger atmen zu müssen. Im Zuchthaus werden mir alle Entscheidungen abgenommen, aus Sicherheitsgründen, wegen Beispielsfolgen, den präventiven Maßnahmen, und die Medien berichten von einem sanatorischen Aufenthalt … Mein Wunsch, eigene Entscheidungen zu treffen und nach denen eingestuft, beurteilt zu werden, nicht wie ich mich der Versorgung ergebe, ist ein Traum. Es ist paragraphiert angeführt, welche Kleidung ich wann zu tragen habe und an welchem Arbeitstisch ich sitzen muß, was ich essen darf und wann ich zu schlafen habe. Ich beginne mein Bett nach Vorschrift zu machen und entscheide dann spontan, einen weiteren Protest zu leben. Sie sollen sich ärgern, das ist meine Möglichkeit, eine eigene Entscheidung zu treffen. Ich lache laut auf. Mich würden sie niemals einbrechen, und ich schwöre es mit erhobener Hand. Der passive Widerstand ist meine einzige Waffe gegen sie und den verdammten Alltagstrott, vor dem ich mich fürchte. Ich will kein lallender Mauernpisser, rückgratloser Dickdarmakrobat, destruktiver Neider werden. Nur nie als Angepaßter, vielleicht noch Knastschwuler, durch die Strafzeit taumeln. Nie! Der Wunsch, verrückt, schizophren zu sein, erscheint manchmal in verirrten Suchspielen, wenn es darum geht, den Augenblick zu vergessen. Ich hasse diese Nüchternheit, diesen hechelnden Atem, wenn ich an die Freiheit denke und an das Lebensrauschen dort. Hier drinnen bin ich lebend begraben und wenn ich die Wände betrachte, an ihnen entlang sehe, schwindet jede Illusion. Ich gehe zum Spiegel, aus poliertem Blech und an die Wand über dem Waschbecken gehakt, suche mich darin und 157
versuche in einer immer zweifelnderen Selbstbetrachtung irgendetwas zu finden, das mich an Leben, an die Zeit vor der Strafe erinnert. Nichts. Ich fluche und versuche herauszufinden, warum ich diesen Tag schon weder mit wütendem Haß beginnen muß, frage mich, was ich habe, um nicht gleichgültiger, stumpfer zu sein. Nichts erwartet mich, nichts erwarte ich, es ist der Beginn eines stinknormalen Zuchthaustages, den ich erst begonnen und schon müde gedacht habe. Blitze im Körper und kein Koordinierungskonzept. Irrläufe. Querverbindungen zwischen Einsamkeit und wildem Zorn. Überall lauert die Rache, die Leermachung und Feuer umzüngelt mein erfrorenes Innen. Wütend reiße ich den Spiegel ab, schleudere ihn unters Bett und sein helles Scheppern hört sich an, als würde er mich verspotten. »Verfluchter Hund!« Ich schreie, zucke ängstlich zusammen. Schreien ist verboten. Leise rede ich Vorwürfe gegen ihn, warum er mir keine Lüge lasse, warum zeigte er mir mein wahres Gesicht, warum müsse er mir die Gemeinheit der einsamen Häßlichkeit gegenüberstellen! Ich ziehe die graue Drillichhose an, die mich vom ersten Hafttag an begleitet. Ein Tausch ist nur möglich, wenn sie zerrissen ist und dann kommen noch die Fragen nach dem Warum und Wieso … Als ich den Beamten der Kammer fragte, wie lange er seine Hose trage, wurde ich wegen ungebührlichen Benehmens bestraft. Seither erlebe ich das tägliche Ankleiden als Niederlage. Auf Waschen und Rasieren verzichte ich heute. Ich bin müde, aufgewühlt, unruhig und die Hände zittern. Für was 158
oder wen sollte ich mich schönmachen? Ich habe keinen Besuch. Mein Sich-Gehen-Lassen ist stiller Protest. So mache ich sie auf mich aufmerksam, sie kommen und stellen Fragen. Mit dem Gespräch vergeht die Zeit. Wer schweigt, sich anpaßt, bleibt vergessen und zählt zu den angenehmen Häftlingen. Von ihm ist keine eigene Meinung zu befürchten, keine Klagen, er freut sich über seinen vollgefüllten Teller, seine Zigaretten , Kaffee und wenn er schwul ist, über den Besitz eines Knaben … Diese Schweiger regen sich auf, wenn ich durch mein Verhalten die Aufmerksamkeit der Beamten auf unsere Abteilung locke. Ich kann nicht anders, weil ich ohne, wenn auch unerwünschten Kontakt, nicht leben kann. Für mich ist dort, wo Stille herrscht, die Hölle. Am Flur kommt neuer Lärm auf. Türen werden auf- und abgesperrt. Häftlinge werden zur Frühstücksverteilung geholt. Eisentüren. Befehlsstimmen. Die Freßluke, fünfzehn mal fünfzehn Zentimeter groß, in der Türmitte, wird aufgeschlossen. Die Tür bleibt verschlossen. Ich sehe den Bauch und Arsch des Beamten, der wortlos weitergeht. Kurz denke ich an die Tiere, und höre kein Gutenmorgen. Weitere Bäuche und Ärsche, in grüner Uniform die Beamten, in grauem Drillich Häftlinge, kommen an meiner Tür vorbei. Wie im Saustall: aufschließen der Freßluke und ich weiß manchmal nicht mehr, bin ich Vieh oder Mensch, lebend oder tot … Ich halte meinen Blechtopf wortlos durch die Luke. Jemand schöpft mir heißen Tee ein. Endlich kommt Heiner. Hausarbeiter und guter Geschäftsmann. Verläßlich. 159
»Hast Zeitungen?« Ich rede leise, die Lippen werden von den Buchstaben nicht verformt. Das ist wichtig. Wer die Knastsprache, reden ohne die Lippen zu bewegen, nicht beherrscht, wird früher oder später sich selbst verraten. Zu viele, Uniformierte und Gefangene, lauern auf einen Fehler eines anderen, um sich daran zu ergötzen. »Mittag muß ich aber alles zurückhaben«, sagt Heiner und gibt mir die Sachen durch das Freßloch. Ich nicke und muß mich daran halten. Heiner verleiht die Hefte im ganzen Haus. Sie sind begehrt und ein teurer Schwarzmarktartikel. Wichsvorlagen gegen Zigaretten oder Kaffee. Ich verstecke zwei der Pornohefte in zusammengelegten, unauffällig unter dem Waschbecken liegenden Putzlappen und die anderen, aus einzelnen Bildserien bestehenden lege ich unter die Bettdecken. Der Tee ist ungezuckert, in meiner Wut sehe ich ihn als eingefärbtes, heißes Wasser und leere alles ins Klo, spüle nach. Das war mein Frühstück.
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Sieben Uhr dreißig bis elf Mit dem Rücken zur Tür blättere ich in den Illustrierten und ärgere mich, daß ich die Frauenbilder in ihnen wie eine Geliebte betrachte. Gefühle. Ich ertappe mich dabei, wie ich an meiner Unterlippe nage. Berichte lese ich, den Inhalt verstehe ich nicht mehr, weil mir die Kraft zur Konzentration fehlt. Es ist meine Art, mir Informationen aus dem Leben in Freiheit anzueignen. Gedanken kreisen um Bilder, um die Beschämung, die Frau durch das Bild nur noch als Onaniervorlage anzusehen. Die Hausordnung verbietet auch diesen Ersatz. Beamte ziehen Zeitungen mit Nacktbildern ein, und der Besitz von Pornoheften zieht Strafe nach sich. Sie berufen sich auf Anordnungen vom Gesetzgeber und haben zu Hause ihre Frau, Freundin, oder beides, und ein Häftling darf kein Sexualleben mehr haben. Tabuisierte Thematik, Früchte der heuchlerischen Schablonen. Zu junge und zu alte Menschen, in Heimen, Altersheimen, Krankenhäusern und Gefängnissen, wer zu den Betroffenen zählt, hat keine Chance mehr, als vollwertiger, mit allen Stärken und Schwächen, Gefühlen und Sehnsüchten ausgestatteter Mensch zu gelten. Während viele Staaten dieses Problem durch Urlaubs- und Ausgangsmöglichkeiten im Ansatz erkannt und abzuschwächen versuchen, bin ich in Österreich mit Rechten versehen, die mich in Verbindung mit meinen Pflichten rechtlos stempeln. Geschlechtslos. Urlaubslos. Meinungslos. So soll ich sein, versuchen jene zu bestimmen, die noch keine Minute in einer Zelle verbringen mußten. Sie denken nicht daran, daß ein 161
Mensch, dem man ohnehin schon alles nimmt, nichts mehr besitzt, was man ihm nehmen kann. Verhalten wird nur mehr Reaktion. Die Sirene kündigt das nächste Tagesereignis an: einige Häftlinge dürfen zur Arbeit in ihre Betriebe ausrücken, die anderen werden für eine Stunde, von vierundzwanzig gleichgeschalteten, und bei Regen entfällt auch die eine, in den Hof zum ovalen Kreisgehen geführt. Manchmal der Zynismus in den Vorschriften: regnet es gerade in der, für den einstündigen Spaziergang vorgesehenen Zeit, entfällt er auch dann, wenn der restliche Tag durch Sonnenstrahlen umrahmt wird. Die Tür zu meiner Zelle wird aufgeschlossen. Ich erwarte die tägliche Durchsuchung, Gewohnheitsakt. Mein Abteilungsbeamter, nicht mehr jung, aber mit militärischer Zackigkeit auftretend, voller Komplexe, blickt beim Sprechen, was bei ihm immer im Befehlston geschieht, zu Boden, um mir nicht in die Augen sehen zu müssen. Er hat die Tür durch eine weitere Umdrehung des Schlosses gesichert und tritt ein. Ich drehe mich langsam um, blicke aber provozierend in die unverfängliche Tageszeitung, die bereits drei Wochen alt ist. Meine Abneigung soll ihn erreichen, denke ich und grinse versteckt, weil ich seine Feigheit kenne, wenn er allein in die Zelle kommt. »Was ist mit grüßen? Gibt’s keine Meldung mehr?« Kurz denke ich an einen Dackel, der sich beim Bellen einen heiseren Ton zugezogen hat. »Will er wieder eine neue Absonderung provozieren?« Er spricht mit Gefangenen nur im Konjunktiv, was ich verstehe, weil im Zuchthaus fast nur in dritter Person gedacht, geredet und aufgedeckt wird. 162
Ich zucke die Schultern. »Ich hab’ genickt, reden will ich nicht mehr, weil mir nur Frechsein vorgehalten wird.« Er wird, vom Hals über die Ohren ins Gesicht strömend, mit rötlichem Teint überzogen. »Keine Zellenordnung, das Bett gegen die Vorschrift gerichtet, und rasieren ist für ihn wohl ein Luxus, was?« Nach einer Luftholpause: »Nur so weiter, nur so weiter, die Strafe ist dann seine Schuld.« Er entdeckt jetzt den leeren Platz über dem Waschbecken. »Wo ist der Spiegel?« »Die Blechplatte«, sage ich gedehnt und deute mit dem Kopf zum Bett. »Herholen! Aufhängen! Das geht zu weit, die Meldung kann er sich selbst zuschreiben.« Ich gehe zum Bett, angle mit dem Fuß den Spiegel unter dem Bett hervor und hänge ihn an seinen Platz. »Zufrieden?« Er schweigt, geht zum Bett und reißt das Leintuch von der Matratze, die Decken fallen zu Boden, und die vorhin versteckten Hefte fliegen in losen Blättern vor seine Füße. Ohne Zeitverlust bückt er sich, springt fast von einem Bild zum anderen, betrachtet sie eingehend, auch die Rückseiten. »So eine Schweinerei! Aber das paßt zu ihm«, sagt er leise, drohend. »Nichts als pornografisches Zeugs im Kopf, das gibt eine ausführliche Stellungnahme.« Da er nur die üblichen Illustrierten und losen Bilder findet, sage ich: »Das sind normale Zeitungen und keine Pornohefte. Die kriegt jeder an jedem Zeitungsstand zu kaufen und …« »Das interessiert mich nicht!« sagt er und schneidet mir das Wort ab. »Ich schreibe das Auffinden dieser schweinischen Sa163
chen in die Meldung.« Er tritt vor die Zellentür, ruft einen Kollegen und kommt mit ihm zurück. »Um was geht’s denn wieder?« sagt er und blickt zwischen seinem Kollegen und mir hin und her. Der Kollege zeigt ihm die Bilder mit wichtiger Miene. »Nichts wie Wichsvorlagen, aber keine Zellenordnung!« »Na, wenn’s weiter nichts ist«, sagt der Dicke und schaut die Bilder und Zeitungen gar nicht an, obwohl sie ihm vom Kollegen fast ins Gesicht gedrückt werden. »Mein Bett war gemacht«, sage ich aufbegehrend, »und entmündigt bin ich auch nicht! Für meine Tat büße ich, aber Ihre Launen …« »Halte er endlich sein Mundwerk!« Er schreit. »Verboten ist so was und aus!« Der Dicke schiebt sich die Mütze ins Genick, kratzt seine Glatze und schüttelt den Kopf. »Die Hausordnung«, sagt der Abteilungschef, »beschreibe seine Rechte und Pflichten genau, nur halte er sich nie daran. Denken kann er, was er will, aber was er laut sage, muß er zuerst bedenken!« Er macht mir in klaren Worten meine nihilistische Existenz deutlich. »Sei ruhiger, dann vergeht die Zeit viel einfacher«, sagt der nicke im jovialen Du-Ton zu mir. »Früher war alles noch viel härter, aber heute …« »Ja, früher«, unterbricht der Zackige, »da war ein Dienstmachen noch sinnvoll! Heute ist alles viel zu lahm, alles ist solchem G’sindel schon erlaubt und sogar Forderungen soll man von denen akzeptieren!« 164
»Noch lebe ich, atme, zwar nur mehr sehr flach, aber noch«, sage ich, um den Druck im Kopf loszuwerden. Was für ihn ein weiterer Beweis seiner These ist. »Da, was sage ich immer«, sagt er zum Dicken, »nichts als freche, vorlaute Antworten und redet, ohne gefragt zu werden.« Der Dicke steht auf, geht zur Tür, zuckt die Schultern. »Ist nicht mein Fall, ich muß auf meine Abteilung.« Sie verlassen meine Zelle, schließen ab. Die Meldung wollte ich haben. Ohne sie wäre der Tag lautlos geworden. Jetzt werden sie mich vorführen lassen, befragen, bestrafen, und mehr darf ich nicht an Abwechslung erwarten. Hin und zurück zwischen Mauer und Mauer. Eisentür, klinkenlos. Fenster, vergittert. Sieben Schritte. Vorbei an Bett, Tisch, Stuhl und Waschbecken, Klo und Gegenwart. Endpunktsituation. Endlos, eckig, zackig, locker, müde und in den Augen der Haß neben der Sehnsucht beim Blick aus dem Fenster. Antwortlos. Ein wilder Tritt gegen die Tür erleichtert für einen Augenblick. Dann ein schnelles Abdrehen, die Angst bleibt in der Begleitung. Niemand darf mich dabei erwischen, ein Tritt gegen die Tür ist verboten. Er könnte ein Alarmsignal sein. Ein Ausbruchsversuch, eine Suizidankündigung … Nichts darf geschehen. Keine Abweichung von der Ruhe und Ordnung. Lebendes Totsein und nur keine Auferstehung der Gefühle. Überleben ist Vorschrift. Das WIE ist nicht die Frage. Mein Lachen ist Hohn und Selbstverachtung. Die Schritte über den kalten Asphaltboden spiegeln meinen Zustand. Zum Kampf bereit, wild entschlossen und dann wieder müde. Ich streite mit mir, verdamme meine Unentschlossenheit. Es gibt niemanden, mit dem ich mich unterhalten 165
könnte, den ich mir als Partner wünsche und ich lehne es ab, mit Beamten persönliche Gespräche zu führen, weil ich nicht in der Lage bin, ihre Meinung anzunehmen. Sie wollen ihre Ruhe, mehr fordern sie nicht von mir, aber diese, ihre Ruhe wäre gleichzeitig mein Schweigen, mein Annehmen dieser Stille, dieses langsamen Todes. Ich komme beim Spiegel vorbei, blicke kurz hinein, zeige mir die Zunge, halte an, gehe weiter und zeige mir bei meiner nächsten Konfrontation mit dem Spiegelbild den Vogel, Verwirrnis. Ich presse die Augen zu, haste vom Spiegel fort, immer sieben Schritte hin und zurück und hefte meine Blicke verbittert auf die gegenüberliegende Mauerseite, nur um mir selbst nicht mehr begegnen zu müssen. Ich soll nachdenken, sagen sie immer, mich befragen, die Hintergründe erforschen, an die Zukunft denken und an ihr arbeiten. Im Raum einer Anhaltung zur totalen Verblödung. Idiotie. Sieben Schritte hin und zurück zur perversen Entfaltung der satanischen Kräfte, Kreislaufsituation. Eine Fortbildung auf dem Weg der Ferndiagnostiker, hin zu einem schablonierten Bürger, soll hier ablaufen. In einem hin und zurück: lebend tot sein. Die Angst, bei der Selbstfindung, dem Erkennen der Schuld, den Tod als Freund zu erwarten, ist Bestand in allen Gedanken der Ausweglosigkeiten. Das Ego gegen sich selbst in der Arena des Wahnsinns. Auch der Stumpfsinn hat System. Meine Lebenszeit projiziert mir der Spiegel entgegen. Ich habe zu Beginn oft darum gebeten, eine Arbeit, eine Beschäftigung zu erhalten und wurde abgelehnt. Die Schuld spielten sie hinaus in die Freiheit: die Arbeitsämter, die Gewerkschaften, die Berufsinnungen und -kammern würden es immer 166
schwerer machen, Auftragsarbeiten der Privatwirtschaft ins Gefängnis zu bekommen … Tut uns leid, aber wir haben zu viele Leute für viel zu wenig Arbeitsmöglichkeiten. Lüge und Wahrheit liegt in dieser Aussage. Es kommt sicher immer weniger Arbeit ins Gefängnis, aber noch gibt es welche, und die teilen sie nicht Leuten wie mir zu. Das ist ihre Reaktion auf meine Bitte um Abwechslung. Einsamkeit zerstört. Erniedrigt. Zerbricht mich ohne Muskelkraft. Die Wunden bleiben unsichtbar, unbeweisbar. Dauerzustand: zerstreuungslos. Ich bat um Bücher und bekam drei. Für zwei Wochen. Nietzsche, Dostojewski, Via Mala. In jedem Buch fehlen einige Seiten. Mutwillig von irgendwem herausgerissen, und ich rechne damit, daß die Kontrolle bei mir stattfinden wird und ich zum Schadenersatz angehalten werde. Auch gegen meinen Widerspruch. Ich kann nicht beweisen, daß ich es nicht war, da ich nicht sagen kann, wer es war. Die Bücher bleiben ungelesen liegen, die Freude ist fort, die Inhalte zu schwer für meine Stimmung und die Ohnmacht gegen diese Struktur zu wütend. Was mir bleibt, ist die Bibel. Nur keine geistige Flucht aus der Sühnezeit. In ihr finde ich für jede Handlung, jedes Ereignis, von wem auch immer, das passende Zitat. Die moralischen Vertreter der Kirche fordern vehement das Schuldbekenntnis, Gehorsam, Bescheidenheit eines Täters. Ich finde zu viele Widersprüche zwischen den Predigten zur Liebe und den Wirklichkeiten in ihren Handlungen. Mea culpa, mea maxima culpa … Ich stehe dazu. Neben der Bibel liegt die Hausordnung, das verfassungsungebundene Gesetzbuch, dem Zuchthausleben vorgesetzt, vor 167
der Öffentlichkeit verborgen. Dieses unbekannte Paragraphenbuch bestimmt mein Heute. Sonst hat nichts mehr Gültigkeit. Darin finden sich die Ursachen zwischen der, von den Medien oberflächlich recherchierten, öffentlich gemachten Meinung und den Wahrheiten eines Zuchthauslebens, die dem vorgespielten, demokratischen Humanitätsgetue die Maske herunterreißen würden. Kritische Nachdenklichkeit ist gefährlich für meine Einsamkeit. Gefühlskreatur zu spielen ist Suizid im Gefängnis. Lieber ersticke ich an meinen Träumen, als gegen mich selbst zu leben, mit einer inhaltslosen Hülle als Körper. Ich drücke beide Handballen gegen die Ohren. Wieder heult die Sirene. Sonne scheint, die Ablenkung aus dem vertrottelnden Alltag beginnt. Eine Stunde lang darf ich zu anderen in den Hof, und sie beginnt mit dem Heulton, nicht erst im Freien. Die schweren, klobigen Schuhe drücken, ich muß sie anziehen. Vorschrift. Auch im Hochsommer. Zwischen Socken und Haut stecke ich die beiden Pornohefte. Sie haben, solange sie nicht zerrissen sind, einen bleibenden Wert und helfen mir, meine Zigaretten- und Kaffeeration zu finanzieren. Ein Beamter schließt die Tür auf, ich trete vor und muß die Hände seitlich vom Kopf in die Höhe halten. Er tastet mich ab, auch die Lenden, und ich habe Glück, er bückt sich nicht bis zu den Socken, die Hefte bleiben unentdeckt. Ich darf die Zelle verlassen, gelte in seinen Augen als sauber und lächle den anderen, die schon vor ihren Zellen stehen, zu. Das verbindet und ist doch nur Vorteilsdenken. In den Augen lauert bei allen die Frage: Hast du etwas für mich? Wer nichts geben, tau168
schen, verkaufen kann, wird ignoriert, nicht weiter angelacht. Die Freundlichkeit wandelt sich in Verachtung. Ich deute mit der Hand zu den Augen, dann ans Geschlecht und mache so verständlich, was ich diesmal auf den Markt bringe. Es gibt, außer Freiheit und echten Frauen, männliche Stricher bieten sich an, alles zu kaufen, zu mieten und ist allein eine Frage des Preises. Irgendwer bringt die Sachen ins Haus und verdient das Dreifache vom Ladenpreis. Reden und Rauchen am Flur ist verboten, und während wir die Treppe nach unten gehen, wird ausgetauscht, verkauft, verliehen und ich habe die Hefte weg, bevor wir den Hof erreichen. Kurt, ich kenne ihn aus gemeinsamen Heimtagen, hat seinen schwärmerischen Tag. Er ist noch nicht lange im Haus und hat noch Illusionen. Früchte aus den Berichten über unser Leben, die er noch in der Freiheit gelesen, in Filmen gesehen hat. »Spinnst«, sage ich, »wir sind in Österreich!« »Aber die zeigten doch den Sporthof …« Ich lache. »Den gibt’s auch, nur darf er nur von Mai bis September benützt werden und nur bei Schönwetter. Fast tausend Leute haben einen kleinen Hof. Rechne dir einmal aus, wie oft du drankommen kannst!« »Diese Woche haben wir Fernsehen …« Ich schüttle den Kopf. »Stimmt, aber es ist ein Film vom Video und nur einmal im Monat. Aktuelle Sachen dürfen wir nie ansehen.« »Dann lügen doch die alle!« Kurt ärgert sich, weil ich seine naiven Bilder zerstöre. 169
»Schau, auch beim Kino: alle drei Monate ein Film. Du kannst davon ausgehen: es gibt keine Freizeit hier. Alles, Kino, Fernsehen oder Sport, findet während des normalen Tages, für viele eben während der Arbeit statt.« »Aber bei dem Club 2 hat doch einer dauernd vom Referat für Freizeitgestaltung, Schulungen und vieles mehr erzählt.« »Stimmt ja, nur hat er nicht dazu gesagt, daß es im Grunde keine einzige Minute Freizeitgestaltung gibt, sondern nur Unterbrechungen von der Arbeitszeit in den Betrieben und wir, die wir keine Arbeit haben, dürfen an den halben Sachen ohnehin nicht teilnehmen.« »Wieso? Ich will ja arbeiten, und sie haben keine«, sagt Kurt protestierend, und ich lächle, weil ich dieses Spiel kenne, »warum werd’ ich dann dafür auch noch bestraft?« »Das wird jetzt noch viel schlimmer«, sage ich, »es gibt weniger Geld, überall muß gespart werden und die Beamten verlieren die Überstundengelder, weil sie keine mehr machen dürfen und gleichzeitig pauschalieren sie ihnen die Nebengebührensätze, so daß es egal wird, wie oft einer im Monat im Dienst ist, er bekommt das gleiche Geld, wie der Kollege, der jeden Tag hier ist. Und wir verlieren von den wenigen Lockerungen noch weitere.« »Scheiße!« Ich nicke. »Sind ja jetzt schon, eigentlich täglich, etwa dreißig Beamte von den dreihundert im Krankenstand, und wenn die Urlaubszeit kommt, während der Weinlesezeit, steigen die Krankenstände rapide an. Niemand kümmert das, nur wir verlieren. Immer weniger Beamte befinden sich laufend im Dienst, und so sperren sie auf Grund des Personal- und Si170
cherheitsmangels Besuchszeiten, Freizeitangebote und verweisen auf den Sparkurs der Regierung, des Justizministeriums. Siehst ja, hier bauen sie noch neue Freizeiträume und sagen gleichzeitig, daß diese niemals in Betrieb genommen werden könnten, solange das Ministerium nicht mehr Beamte in die Anstalt zuteilt.« »Dann ist ja das ganze Vollzugsgesetz außer Kraft gesetzt, und es gibt nur mehr ein Verwahrsystem wie vor zwanzig Jahren, bevor Broda * kam …« »Manchmal denke ich, die haben gewartet, bis Broda stirbt, um seine Ideen abzuwürgen, bevor sie sichtbare Erfolge bringen könnten.« Ich bin fast überzeugt davon. Wir reden belangloses Zeug und lachen, wo wir weinen sollten. So vergeht die Stunde im Hof. Täglich. Im Kopf ein Wissen, das mehr belastet als hilft.
*
DDr. Christian Broda, Justizminister von 1966–1968 und 1971–1982. 171
Ich werde vorgeführt Die Provokation am Morgen hatte Erfolg. Ich bin zufrieden, ich erlebe eine Abwechslung, erreiche endlich ein Gespräch. »Anziehen!« Ich gehorche dem Befehl des jungen Beamten. Er tastet mich ab, bevor wir die Zelle verlassen, obwohl er die Ankleidungszeremonie beobachtet hat. »Gehen wir!« Er stellt sich neben der Tür in Position, sein Gesicht erfüllt vom strengen Zug. »Wohin?« »Rapport!« »Wieso?« Ich stelle mich unwissend und will die Ernsthaftigkeit in seinem Auftreten reizen. Er kann mir keine Auskünfte geben, weil er nur für die Vorführungen eingeteilt ist und nichts über deren Hintergründe weiß. Sein Dienst besteht aus Pflichterfüllung. Kommentarlos. Hat er keine Vorführungen, muß er im Wachdienst dienen, Posten stehen, schweigend, allein, aufmerksam in einem der Türme an der Mauer, mit Pistole, Fernglas und Gewehr … »Wie soll ich’s denn wissen! Ich muß Sie nur hinbringen.« »Ich muß es wissen, wohin, damit ich weiß, ob ich etwas mitnehmen muß oder nicht«, sage ich, und er errötet. Verwende ich in den Gesprächen mehr als drei Worte, blicken die Beamten zuerst etwas ratlos, dann wütend. Er schweigt, geht zwei Schritte hinter mir und überholt immer an den Gittertoren, die er vor mir auf- und nach mir zuschließen muß und die den Zellenbau vom Bürogebäude trennen. Mehrere. Aus Sicherheitsgründen. Bei der Überque172
rung des Hofes rückt er nahe an mich heran. Sein Auftrag lautet: wachsam sein! Wir erreichen das Büro. Mein Begleiter köpft an, wartet das »Herein« ab und öffnet dann erst die Tür. Zwei Schritte vor dem großen, überladenen, von Wichtigkeit strotzenden Schreibtisch muß ich anhalten, der Beamte macht seine Meldung: »Melde mich mit dem Gefangenen zum Rapport!« »Er schon wieder«, sagt der Offizier und ich begegne seiner Heuchelei, weil ich überzeugt bin, er hat mich längst erwartet und kennt den Grund. »Um was geht es denn diesmal?« Ich schweige und warte, bis er die Meldung, die vor ihm, auf meinem aufgeschlagenen Akt liegt, noch einmal gelesen hat. »Wird er denn überhaupt nicht vernünftiger?« »Vernünftig?« Meine Lippen sind offen, und die Augen bestaunen das Leben vor dem Fenster: Straße, Menschen und Vögel kommen vorbei, und ich soll endlich vernünftig werden! Zynismus im Grinsen, rund um die Mundwinkel. »Ich muß um sechs Uhr aufstehen und dann steh’ ich da und weiß nicht, wie der Tag vergehen wird. Nach dem Frühstück kommt der Stockchef und reißt mein Bett auf …« »Wenn’s nicht ordentlich gemacht ist!« Der Offizier blickt auf die Meldung, dann aus dem Fenster. Ob er ahnt, was ich erlebe, denke ich. »Mist! Ich kann das Bett nie so machen, daß er es nicht wieder zerreißt. Wenn ich vom Spaziergang zurückkomme, ist das Bett aufgerissen – , und da soll ich vernünftig werden!« »Trotzdem …« Ich spüre die Wut in mir. »Was trotzdem? Ich hab’ nichts mehr, gar nichts, sogar die Zeitungsbilder nimmt er mir schon 173
ab und behauptet, das seien Pornosachen und Arbeit bekomme ich ohnehin keine! Wie ich leben muß, lebt kein Tier und jeder Tierschützer würde Anzeige erstatten, wenn es so wäre. Aber in den Zeitungen lese ich immer, ein Sanatorium soll das hier sein! Hier ist die totale Scheiße! Nichts sonst!« »Wennst dich beruhigt hast, reden wir weiter«, sagt er im anbiedernden Tonfall. Psychologischer Dreckeimer, denke ich und ersticke fast an dieser verlogenen Freundlichkeit. »So schlecht ist es auch wieder nicht. Schau, was fehlt dir hier? Essen hast ausreichend und die Wäsche wird immer gereinigt verteilt, ein Dach über’n Kopf hast und ich kann dir nur sagen, in Freiheit wären viele froh, wenn sie so unbesorgt leben könnten. Die Zeit vergeht ohnehin schnell, du darfst nicht alles so eng sehen. Daß du hier bist, ist nicht unsere Schuld.« Alles in mir tobt, schreit gegen diese Argumente an. »Sorglos leben, Herr Offizier«, sage ich und lache kurz auf, »ist nicht meine Sache, und hier muß ja auch das Hirn tot sein, um kein Leben, keine Sehnsüchte mehr zu spüren. Euch geht’s ja nur um eines: ruhigstellen, den Zuchthausalltag nur nicht störend beeinflussen, sich einschablonieren lassen, aber das kann ich nicht. Nie!« »Niemand behindere seine Entwicklung …« »Warum wird mir dann alles weggenommen, jeder Freiraum eingegrenzt? Dreiundzwanzig Stunden pro Tag sitze ich wie ein stupider Psychopath in der Zelle und wenn es regnet, sind es vierundzwanzig. Da soll mir nichts fehlen?« Ich beruhige mich etwas, der Überdruck ist in diesem kurzen Gespräch 174
abgelassen. »Diese totale Versorgung ist doch nur dafür da, mich zu kontrollieren, zu beherrschen. Für mich ist es eine Totalentmündigung. Was hat die Ordnung und Sicherheit mit eigener Kleidung zu tun? Das und vieles mehr, hundert Kleinigkeiten sind es, die es ausmachen!« Und weil es mich doch nicht ganz befriedigt, füge ich leise, zynisch hinzu: »Nichts, gar nichts, Herr Offizier, darf ich hier sein!« »Ich sagte schon, wennst wieder auf den Teppich kommst, könnten wir vernünftig miteinander reden!« »Warum wird denn alles unterbunden, was ein Menschsein ausmacht?« »Ich hab’ heute leider nicht soviel Zeit, es geht jetzt einmal um die Meldung, und ich muß dich befragen, von wo die Sachen sind.« »Welche Sachen?« »Die Bilder, Illustrierten.« »Sie sind mein Traumersatz, manchmal auch Frauenersatz. Nichts sonst.« Verträumt sage ich noch: »Ich weiß gar nicht mehr, wie Leben, Liebe und Frau duftet …« »Von wo hast die Sachen?« »Wieder eine reine Formsache, was?« Ich nicke. »Von wem ich es habe, weiß ich nicht mehr, ich besorge mir immer welche.« »Überleg’ dir solche Sachen lieber, denn einmal ist auch meine Geduld zu Ende und dann gibt’s Absonderung.« Ich lache. »Macht nichts, vergeht die Zeit etwas anders, und allein bin ich in der Zelle und im Keller.« »Willst einen zweiten in der Zelle haben?« Ich nicke. »Ich werde es der Einteilung sagen.« 175
»Wenn möglich, keinen alten Penner oder so, jemanden, mit dem ich mich unterhalten kann.« »Aber daß ich dann nichts mehr höre!« Wieder nicke ich. »Erledigt«, sagt der Offizier zum jungen Beamten, der zackig grüßt, kehrt macht. Gedrillte Unterwürfigkeit, und mich wundert es nicht mehr, daß es für einen Häftling in diesem System einfach keine Selbständigkeiten geben kann, weil sie selbst keine ausleben dürfen. Der Weg zurück: Flur, Türen, elektrisch abgesicherte Tore, Hof und wieder die alten Gittertüren. Bevor mich der Beamte in die Zelle sperrt, sehe ich, wie mein Abteilungschef aus seinem Dienstzimmer kommt, meinen Begleiter fragend anblickt und nachdem der den Kopf schüttelt, wütend zurückgeht, die Tür von innen zutritt. Ich kann mir ein lautes Auflachen nicht verkneifen. Der Offizier hat seinem Wunsch, mich auf eine andere Abteilung zu legen, nicht entsprochen …
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Mittag Der Lärm am Flur kündigt die Essensausgabe an. Das Freßloch in der Türmitte wird aufgesperrt, ich halte mein Geschirr hinaus, ein anderer Häftling füllt es, und kaum habe ich den Teller zurückgezogen, knallt ein Beamter die Luke wieder zu, schließt ab. Von »Mahlzeit« keine Spur. Nach einigen Bissen habe ich keinen Hunger mehr, der Magen ist leer, die Nerven angespannt und was ich nicht esse, werfe ich ins Klo, spüle nach. Es ist die einzige Möglichkeit der Speiseresteentfernung. Es folgt die Postverteilung. Täglich um die gleiche Zeit, wie alles andere. Ich warte seit Wochen auf einen Brief, auf ihren Brief. Meine Hände zittern, heute bin ich dabei, ein Brief wird mir durch die Luke gereicht, das Herz hat Angst vor dem Inhalt. Noch habe ich Hoffnung. Der letzte Besuch war schön, ihre Augen klar und ihre Hände streichelten, einen Augenblick nur, länger ist verboten, beim Abschied meinen Nacken. Der letzte Kuß in der Erinnerung … Ich zögere mit dem Öffnen des Briefes. »Idiot! Feigling!« sage ich laut in mein Spiegelbild und entferne mit dem Fingernagel die Klammer im Umschlag, welche in der Zensurstelle eingebracht wurde, und kurz ärgere ich mich, weil Beamte den Inhalt des Briefes vor mir erfahren haben. Ich lese Briefe immer gleich: zuerst die Anrede und den ersten Satz und dann das Ende, den Abschied und darin erkenne ich den Inhalt des restlichen Briefes. Der letzte Satz, heute: »… wünsche ich Dir für die Zukunft alles Gute und sei mir nicht böse …« 177
Aus. Vorbei. Es war einmal. Ahnungen wurden Gewißheit. Hoffnungen sind Traum. Ich weiß es und weigere mich, alles zu begreifen, den ganzen Brief zu lesen. Es ist vorbei. Tränen. Hoch oben im Gaumen sammelt sich die Trauer. Ich beginne hin und her zu rennen, werfe mich aufs Bett, nehme das Foto an mich, ihr Foto, haste weiter. Leere. Verzweiflung. Ich weine hemmungslos. Kopfschütteln und Weigerung, diese Endgültigkeit anzunehmen. Sie war mein einziger, letzter Halt. Ich trommle gegen die Mauer. Zwecklos. Alle vier Wochen, über Jahre hinweg, erlaubt das Gesetz eine Viertelstunde Besuchszeit. Überwacht. Als Alibi einer verlogenen Humanität. Alles ist auf ein Minimum begrenzt, aber im Gesetz steht, und somit auch in den Köpfen der Gesellschaft: es gibt Besuch. Von Zeit und Raum und Gefühl ist nie die Rede. Entfremdungen werden größer, auch sie hatte dem Wunsch nach erfülltem Leben nicht länger entkommen können. Wütend trete ich gegen die Tür, planlos beginne ich mit Händen und Füßen zuzuschlagen. Nur keine Stille jetzt, keine Einsamkeit. »Verrückt, was!« Er schreit vor der Tür. Ich höre nicht auf. »Drehst durch, oder was?« Ich gebe nicht auf. »In der Mittagszeit herumbrüllen, das paßt zu ihm!« Seine Worte sind für mich sinnlos. »Ich will den Offizier!« »Mittag ist niemand zu erreichen«, sagt der Wärter vor der Tür verärgert. »Is’ doch mir scheißegal, irgendjemand muß im Haus sein!« 178
»Nicht jetzt! Nachmittag …« »Jetzt! Sofort!« Ich höre meine hysterische Stimme und bin unfähig, mich zu kontrollieren. Tränenblind springe ich zum Waschbecken, nehme die Rasierklinge und setze sie an die linke Vene in der Ellbogenbeuge. »Oder …« »Idiot!« »Leckt mich, ihr Schweine! Ich dreh’ durch, ich zertrümmere die Zelle, ich schneid’ mir die Venen auf!« »Hör’ auf, bist verrückt!« Der Beamte vor der Tür beginnt mit dem amtlichen Beruhigungston. »Ich werd’ sehen, ob wer im Haus ist.« »Ich habe genug vom Warten! Meine Zeit ist vorbei. Aus! Endgültig aus! Da!« Ich setze die Rasierklinge fester an. »Ich will den Offizier, sofort! Mir ist alles scheißegal.« Meine Forderung wird eine Erpressung, aber es ist nicht meine Schuld, daß das Strafsystem alles unterbindet, was Beziehungen fördern würde. Ich will sie anrufen! Telefonieren ist streng verboten, und ich bin bereit, innerlich, mein Leben dagegen zu setzen. Sie müssen mich anrufen lassen. »Ein wenig warten muß er schon«, sagt der Beamte in meine kurze Überlegungsphase, »vielleicht ist der Psychiater im Haus.« »Mir egal! Aus. Aus!« Verluste erwürgen jeden nüchternen Gedanken. Ich zittere am ganzen Körper. Müde, zerschlagen lasse ich mich wieder aufs Bett fallen, nachdem der Beamte geht. Geistlos. Leblos. Was noch erscheint, sind Bildfetzen im Blitzlichtgewitter. Ich nehme die Klinge zwischen Daumen und Zeigefinger und lächle. Bin ich verrückt? Zeit vergeht, sie ist für mich raumlos geworden. 179
»… haben Sie Zeit, Herr Doktor?« Der Beamte stand also die ganze Zeit vor der Tür, hat beobachtet und einen Kollegen zum Psychiater geschickt. »Ich muß ja.« »Sie allein für fast tausend Leute«, antwortet der Beamte anbiedernd und schließt meine Tür auf. Der Psychiater, großgewachsen, sportlich, ganz in weiß, das Hemd bis über die Brust hinunter offen, braungebrannt, ein Bild des Lebens, tritt ein und vor den Spiegel, wo er sich die Haare mit den Händen zurechtlegt. »Soll ich warten?« Der Beamte steht, seinen Schlüssel im Schloß stecken lassend, sich daran festhaltend, im Türrahmen. »Nicht nötig«, sagt der Seelenforscher mit einem Seitenblick zu mir, »lange wird’s ja nicht dauern.« Der Beamte geht und ich starre den Psychiater an wie eine Schlange ihr Opfer. »Um was geht’s? Ich hab’ leider nicht allzulange Zeit.« Ich übergebe ihm wortlos Brief und Foto. Er liest und ich kann meine Tränen nicht besiegen. »Na, so was passiert täglich, auch in Freiheit!« »Aber ich …« »Das ist doch normal bei so langer Strafzeit. Im Gegenteil, alles andere wäre irreal.« Seine Stimme ist ruhig, aber nicht beruhigend. »Du kannst ihr keinen Vorwurf machen, daß du hier bist. Sie hat ein Recht auf ihre Freiheit, die du durch deine Tat verspielt hast. Daran mußt du denken.« Was hilft denken, wenn das Herz eigene Wege geht. »Sie ist alles, was ich noch habe. Alles, Hoffnung, Lebensinhalt.« Bevor er mir antworten, mich unterbrechen kann, rede ich wei180
ter, hastig, durcheinander, im wilden Versuch, durch gesagte Worte etwas zurückholen zu können. »Etwas mehr Besuchszeit, mehr Kontakt, nicht nur in diesem brutalen, Beziehungen tötenden Vierwochenrhythmus, nicht nur jenseits dieses breiten Tisches mit Barriere und wir hätten sicher durchgehalten. Zweihundertsechzehn Briefe und Karten in kaum mehr als zwei Jahren, es war unsere Liebe und sie wollte auf mich warten, mit mir auf das Ende meiner Zeit …« »Damit muß er jetzt fertigwerden. Umdenken. Das Leben geht weiter, und wenn er sich umbringt, regt das niemanden auf. Zwei Zeilen als Meldung in der Zeitung. Nicht mehr. Selbstmord ist eine Feigheit, eine Flucht.« Er redet abwechselnd im vertraulichem Du-Ton und im Konjunktiv, beides ist ehrlich. Er will auch nur seine Ruhe, die Mittel spielen keine wichtige Rolle. »Ich will sie anrufen!« Ich beuge mich vor, zu groß ist die Sehnsucht, der Wahn, sie mit meiner Stimme umstimmen zu können. »Unmöglich. Du kannst ihr schreiben.« Er gibt mir Brief und Foto zurück. »Nur halte ich das für wenig sinnvoll, schreibt sie doch, sie will keine Post mehr, weil ihr neuer Freund dagegen sei und sie glücklich ist bei ihm. Unterdrücke er seinen Egoismus, den verletzten Stolz und zeige er sich groß, als ein guter Verlierer.« »Sie hat fest versprochen …, ich hab’ die Wohnung auf sie umschreiben lassen, sie hat alle meine Sachen und lebt mit dem anderen in meinen Räumen …« »Du hast doch noch eine lange Strafe, was willst denn von ihr? Das sind doch alles nur Ausreden, die nichts mehr mit 181
Liebe zu tun haben, und sie schreibt doch, als Freund bist immer willkommen. Lieben heißt auch verzichten, dem anderen Glück wünschen, auch wenn es schmerzt.« »Ich habe nur sie …« »Zerstöre jetzt nicht ihr neues Leben! Und wenn es sein muß, kann ich ihm eine neue Kontaktadresse zu einer Familie geben …« »Nein! Ich brauche niemanden.« »Reden wir morgen weiter, schlafe jetzt einmal eine Nacht drüber hinweg. Stell’ dich der neuen Lage als Mann und nicht als Heulfigur. Denk an die Zeit nachher.« »Wie denn? Hier ist nichts, was Zeit ausfüllt. Alles ist Stumpfsinn. Vertrottelt. Leblos. Beschäftigungslos und schikaniert. Immer streng nach den Vorschriften und wie die ausgelegt werden, bestimmen immer die, die an der Macht sind.« »Viel ist nur Einbildung, weil er sich in einer logischen Opposition zum System befindet. Sicher ist Freiheitsentzug nach wie vor hart, aber du hast hier die Möglichkeit, etwas für dich zu tun.« Ich lache wütend auf. Für mich sind seine Worte Zynismus in Reinkultur. »Und wie? Alles ist verboten, alles wird abgenommen.« Ich lache auf. »Ich ersticke hier drinnen!« »Zuerst mußt du dein eigenes Gefängnis, die von dir selbst erbauten Mauern verlassen, herauskommen aus dir selbst, sonst gehst du an dir selbst kaputt. Niemand zwingt dich, so zu sein, zu werden, wie es leider viele wurden und die hier drinnen sind. Niemand kann dir die geistige Freiheit entziehen, daran richte dich auf. Nicht an den Äußerlichkeiten.« 182
»Alles ist so still, so schleimig, alles stinkt nach Verlogenheit …« Ich suche nach Worten, um meine Augenblicke zu beschreiben, und scheitere im Feuer meiner Erlebnisse. »Verlaß’ dich nicht auf andere, hilf dir selbst, zieh’ dich an den eigenen Haaren aus dem Dreck … mehr kann ich dir nicht vorschlagen. Ja, wenn’s sein muß, kann ich dir etwas zum Schlafen verschreiben. Danach sieht alles ganz anders aus.« Während er spricht, verläßt er die Zelle und kaum steht er auf dem Flur, ist der Beamte zur Stelle, schließt ab. Spontanes Aufstehen und Gehen. Ich bin allein und starre fragend zur verschlossenen Tür. Mit Drogen die Liebe vergessen! Ich zerreiße den Brief, werfe ihn ins Klo, spüle nach. Endgültig vorbei. Ich streichle das Foto und lege es wie einen wertvollen Besitz unter mein Kissen. Die Stimme des Psychiaters hallt in meinem Kopf und findet keine Aufnahme. »… etwas zum Schlafen verschreiben«, äffe ich ihm nach und spucke auf den Boden. Verachtungsspeichel. So sieht die Betreuung im Rahmen der Resozialisierung aus. Bei Problemen mit Drogen zur Ruhe gebracht, das Rückgrat gebrochen und nirgends ein Ausweg. Er hat keine Zeit für tiefergehende Gespräche, Behandlungen, er ist allein und soll uns alle versorgen. Ich verstehe ihn und kann nichts daran ändern. Verbrecher gehören weggesperrt, schreit die, von Journalisten aufgestachelte Volksseele, und gemeinsam heulen sie verständnislos auf, wenn aus dieser Struktur ein seelisches Monster in die Freiheit kommt … Gehen die Gedanken mit mir, oder ich mit ihnen im Kreis? Ich weiß es nicht. Es ist so. Keine Briefe mehr. Totale 183
Stille jetzt. Auch nach draußen. Keine Besuche und kein Inhalt im Zeitablauf.
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Dreizehn Uhr Die Tür wird aufgeschlossen, mein Abteilungschef öffnet, grinst und sagt: »Gleich hat er einen Zugang in der Zelle.« Ich unterbreche mein gehetztes Hin- und Herrennen. Ehrlich ist sein Lachen nicht, das weiß ich und reagiere nicht darauf. Warte. Am Flur nähern sich Schritte. »Wenn er sich ordentlich führt«, sagt der Beamte, ohne sein Grinsen abzustellen, »dann wird auch für ihn etwas unternommen. Gibt es weiterhin keine Ruhe, kommt der Zugang wieder weg.« Bevor der Neue in mein Blickfeld kommt, fügt der Beamte noch warnend hinzu: »Er muß endlich lernen, wie ein vernünftiger Mensch zu fragen, nicht nur fordernd!« Im Türrahmen erscheint der Zugang. Der Beamte grinst noch einmal in breitester Front und schließt ab, läßt uns allein. Kälte. Wut. Enttäuschung. Alles sammelt sich in einem Augenblick. Auch die Ohnmacht vor dieser schleimigen Wunscherfüllung. »Hallo«, sagt er, geht zum Bett, wirft seine Sachen: drei Decken, Bettwäsche, einen Blechnapf, Glasteller und Glasschüssel, Besteck und eine Plastiktüte mit persönlichem Besitztum, auf das untere, freie Bett. Ich nage an meiner Unterlippe. In mir lodert der Wunsch, zuzuschlagen. Ich stehe still und werde müde. In meinem Wunsch war die Bitte nach einem jüngeren, zu mir passenden Zellenpartner, und wen haben sie mir zugeteilt? Einen Mann um Fünfzig, Glatze, speckiger, nicht ganz ekelgeruchsfreier Typ. 185
Er dreht sich um, sieht, wie ich ihn abschätze. »Hans«, sag ich, um irgendetwas zu sagen. Meine Handflächen sind schweißgebadet, und ich trockne sie an meiner Drillichhose, denke, nur dem keine Hand geben! Die Zelle läßt keine Möglichkeit offen, auszuweichen. »Bin nicht zum ersten Mal hier.« »Ich hab’ jetzt etwas mehr als zwei Jahre.« Er geht zum Stuhl, setzt sich, redet ungefragt. »Ist schon mehr als zehn Jahre her, wo ich hier war, seither hab ich ein wenig, als Gastprofessor sozusagen, die ausländischen GitterHotels kennengelernt. Da gibt’s Paradiese, sag ich dir, aber hier scheint sich ja wenig verändert zu haben.« Ich zucke die Schultern. »Keine Ahnung, das Ausland kenne ich nicht und hier bin ich zum ersten Mal.« In mir tobt die Unruhe, die verzweifelte Suche, von diesem Mann wieder wegzukommen. Mein Magen zieht sich zusammen, wenn ich daran denke, hier auf engstem Raum, mit ihm leben zu müssen. Immer in Geruchsnähe. Alles ist viel zu eng. »In achtzehn Monaten habe ich’s wieder geschafft.« »Ich in knapp zehn Jahren«, sage ich, und er hält jetzt für eine kurze Zeit den Mund. »Gehst arbeiten?« Ich schüttle den Kopf. »Die geben mir keine.« Ich will nicht mit ihm reden und tu es, um den Ekelschleim in mir nicht zum Ausbruch kommen zu lassen. »Da!« Er bietet mir eine Zigarette an. Mit Filter, welch ein Luxus für mich! Ich sehe, er hat noch mehr davon in der Plastiktüte, in den Sakkotaschen. »Zu rauchen habe ich immer«, sagt er, als er meine Gier nach den ersten Zügen erkennt, lä186
chelnd zwinkert er mir zu, »ist verdammt wichtig hier drinnen, was!« Er schiebt mir eine ganze Packung über den Tisch. Ich möchte ablehnen, sie ihm ins Gesicht werfen, jede Zigarette einzeln in seinem feisten Gesicht ausdämpfen, und dann ziehe ich die Packung an mich, lege sie unter mein Kopfkissen. »Is’ Frau Nolder noch im Haus?« »Kenn’ ich nicht.« »Na, die Fürsorgerin.« »Trotzdem, ich kenn keine Frau Nolder.« »Wer macht’s denn jetzt?« »Sozialarbeiter. Drei oder vier sind jetzt im Haus. Frisch vom Studium. Von der Sozialakademie.« »Und?« »Naja. Ich hab’ wenig Kontakt mit ihnen. Sie sind immer im Streß, für fast tausend Leute zuständig, zu dritt, oft nur zu zweit und eine Fürsorgerin, die mehr damit beschäftigt ist, im Bürobau Gesellschaftsdame zu spielen als für uns Häftlinge.« »Wer ist das?« »Die war früher Telefonistin, zu deiner Zeit«, sage ich, »dann hat sie einen Schnellsiedekurs gemacht und spielt heute emporgestiegene Fürsorgerin. Aber zu der kommst eh nicht, ich weiß gar nicht, ob die noch im Haus ist.« »Die Nolder war spitze!« »Ja, seit einigen Wochen ist eine Neue dabei, jung, sieht verdammt gut aus und ist die erste, die auch ins Haus, zu uns Häftlingen, in männlicher Begleitung natürlich, darf. Vorher war einmal eine im Haus, kurz nur, die haben sie erst gar nicht bis zu uns durchgelassen.« Ich muß mich von diesem Frauenbild losreißen, es erinnert mich an den Verlust der Geliebten … 187
»Schade, wenn die Nolder nicht mehr im Haus ist. Die hat für uns gesorgt. Nachmittag komme ich noch zu einem Zugangsgespräch mit dem Sozialdienst, haben die mir in der Zentrale gesagt. Werd’ ja sehen, was los ist.« »Was soll los sein!« Ich ärgere mich, und der Grund ist, daß mir immer klarer bewußt wird, daß sie mir diesen Mann mit Absicht in die Zelle gelegt haben. »Die vom sozialen Dienst, außer der Fürsorgerin, zu der man ja nicht kommt, sind nie lange im Haus. Kaum eingeschult, gehen sie wieder. Frustriert. Sie dürfen nicht so arbeiten, wie sie es im Studium gelernt haben. Holen sie einen Häftling zu lange vom Arbeitsplatz weg, regt sich der Betriebsbeamte auf und nach Feierabend dürfen sie aus Sicherheitsgründen keinen Gefangenen mehr aufsuchen. Alles Alibi. Es gibt einen sozialen Dienst, daß der nicht wirklich arbeiten kann, interessiert schon niemanden mehr. Und sie selbst dürfen nicht an die Öffentlichkeit, weil sie schon vor Antritt ihrer Arbeit durch einen SchweigepflichtVertrag ins System eingebunden wurden. Weise Voraussicht der Behörde. Augenauswischerei. Sie sitzen zwischen den Stühlen der Beamtenschaft, ihrer eigenen Vorgesetzten und auch dem der Häftlinge. Was sollen sie da schon groß tun? Feuerwehrdienste. Bestimmen und erledigen tun auch heute noch, wie einst, wenn die Erzählungen stimmen, als es noch keinen sozialen Dienst gab, die Beamten, denen wir ausgeliefert sind.« »Was anderes: kennst wen, weißt schon, der uns Nachschub besorgen kann?« »Ich hab’ kein Geld und kenne auch keinen Schlepper. Da mußt mit Conny reden, der kennt sicher wen.« 188
»Mach’s du! Ich möcht’ selbst nicht so in Erscheinung treten, das Geld hab’ ich. Sonst muß ich durch drei oder noch mehr teilen, dazu hab’ ich keine Lust.« »Warst schon fotografieren?« Er schüttelt den Kopf »Dann kommst heute noch dran, dort arbeitet Conny, kannst ihn ruhig direkt anreden.« »Fotostelle ist ein guter Job, damals schon,« sagt er und blickt mit wäßrigen Augen zu mir. Lächelnd. »Und wenn der Zellenpartner stimmt, vergeht die Zeit sehr flott.« Ich nicke, und er freut sich, weiß nicht, wie mein Nicken gemeint ist. Daß er schwul ist, habe ich vermutet, jetzt bin ich überzeugt davon. »Ich hab’ noch nie einen Zweiten gehabt.« Meine Stimme ist nicht so, wie ich es mir wünsche, und er endlich begreift, er ist im falschen Raum gelandet. »Der Mensch gewöhnt sich an alles!« »Ich nie!« sage ich lauter als gewollt. »Du machst dich nur selbst fertig, wenn du dich aufregst. Außer abwarten, bis sie dich rauswerfen, kannst nichts machen, und hier mußt es dir eben richten …« »Ich will nicht vergessen, daß es auch noch eine Tür in die andere Richtung gibt, eine Tür, hinaus in die Freiheit! Wer das vergißt, kann sich gleich aufhängen.« »Irgendwie geht’s immer! Nur kein Trübsal blasen …« sagt er und blickt mich an, daß ich rot werde und verlegen und wütend, davon träume, wie meine Faust in dieser schwulen Fassade landet, und dann geschieht nichts. Schweigen. Ich setze meinen Lauf, sieben Schritte hin und her, fort und werde durch das Aufschließen der Tür unterbrochen. 189
Franz wird zum Fotografen geholt. »Zum Verewigen für ihren Kurzurlaub«, sagt der junge Beamte und sperrt, nachdem Franz die Zelle verlassen hat, wieder ab. Wieder allein, versuche ich eine Lösung zu finden, die mich von ihm befreien würde. Und wenn schon, denke ich, werde ich ihn ausnehmen bis zur letzten Zigarette und erst dann hinausekeln. Bei diesem Resultat gebe ich seinem Wäschepacken einen Tritt. Ich werde mich, einmal nur, anpassen. Zu meinem Vorteil. Jetzt gleich und ihm das Bett richten, als Belohnung Zigaretten einziehen. Ich lache laut auf. Verlogen. Und weil ich weiß, welche Enttäuschung ich für ihn sein werde, wie er sich wundern wird. Ihm vielleicht auch noch das Bett vorwärmen, diesem Schwein, denke ich und beruhige mich dabei. Sie sind alle gleich: kaum haben sie Geld oder Zigaretten oder Kaffee, schon sind sie davon überzeugt, einen Herrn spielen zu müssen, einen, der nichts hat, als ihren Diener einkaufen zu können. Mir fehlt das Scheißegal-Gefühl, um ihnen mit dem Faustargument diesen Irrtum abzugewöhnen, ich verfüge über die Falschheit, die mir hilft, ihnen überlegen zu sein. Ich denke an den Offizier und an die Beamten der Einteilung. »Aber so nicht«, sage ich leise zu meinem Spiegelbild und dann lauter, als Eid: »Nein, aber so nicht! Ihr werdet wieder etwas zum Lesen und Hören bekommen.« Der Spott, der mich treffen wird, weil ich als Junger einen alten Schwulen in die Zelle bekam, wird mir helfen, diesen Zustand so bald als möglich zu beenden.
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Nachmittag Franz sitzt bei Tisch, liest in einem Buch, den Kopf in die Hände gestützt. Ich marschiere hin und her, vorbei an ihm, fast in Berührungsnähe, vorbei am Spiegel und vorbei am Leben … Ich halte, wenn ich hinter dem Rücken von Franz ankomme, kurz an, schneide Grimassen, zeige ihm die Zunge, tippe an die Stirn, gehe weiter. Er merkt nichts, ich hasse ihn, und mein Wissen, daß er unschuldig ist daran, erzeugt die Wut in mir. Er wurde von der Einteilung als Mittel gegen mich verwendet. Ich spüre die Ohnmacht vor den erlaubten, gesetzlich abgedeckten Schikanen, an denen noch niemand gestorben ist, sagen die Behördenvertreter, wenn jemand damit nicht fertig wird und ich mich nicht zurechtfinde. Sie bestimmen, mit wem ich reden darf, mit wem schreiben, einen Kontakt pflegen, nichts darf unkontrolliert die Zuchthausmauern durchbrechen. Sicherheit und Ordnung und Prävention heißen die Gründe über ihre Angst, ein Häftling könnte, verständlich und glaubwürdig, aus und von seiner Situation in der Zelle berichten, der Gesellschaft vor Augen führen, welche Hölle, welches lebende Sterben sie mit ihren Steuern aufrechterhalten in einer, aller Freiheiten beraubenden Struktur. Franz erzählte mir von einem Film über unser Leben im Zuchthaus, den er, erst vor wenigen Wochen, in Freiheit noch, gesehen hatte, und ich konnte nicht lachen darüber, weil ich den Inhalt kannte. »DAS LEBEN IM GEFÄNGNIS« hieß der Streifen und dem Zuseher, der zu Hause, wo auch immer, die Welt der Ausgesperrten sehen konnte, wurden 191
gutaussehende, braungebrannte, gesunde Häftlinge gezeigt. Sie waren selbstsicher in ihren Auftritten, in ihren Augen lag keine Stumpfheit … Die verkleideten Häftlinge waren Aufseher! Das Ministerium untersagt den Medien, echte Gefangene zu zeigen, zu ihrem Selbstschutz, sagen sie und wissen, daß sie lügen. Beamte opfern für eine mediale Tagesgage ihren dienstfreien Tag und der Steuerzahler vor dem Fernsehgerät lehnt sich verärgert zurück, wie gut es diese Häftlinge um sein Geld doch hätten … Aus dem Hintergrund, erklärte der Sprecher, sind die Stimmen der Häftlinge zu hören, unsichtbar, namenlos und ich weiß, es sind Gefangene, denen vorher gesagt wurde, wie sie sich zu verhalten haben, was sie sagen dürfen. Gedanken, die mein Hirn quälen, während ich an Franz vorbeihaste, anhalte, ihn verspotte, verfluche … und mich ärgere, weil dieses wahre Leben nicht gezeigt, der irregeführten Öffentlichkeit vorgestellt wird. Zusammengesperrt sein mit anderen, gegen den Willen der Betroffenen, dieses stumpfe, sinnlose Warten den ganzen Tag. Beschäftigungslos. Mittellos. Leblos. In einer Enge, die keine Weite für ein Schuldbekenntnis zuläßt. Zu stark wird im Kopf die Opferrolle aufgebaut. »Mußt immer herumrennen?« »Laß mich!« Franz legt das Buch weg. »Willst oder kannst nicht? So gehst kaputt, wenn deine Nerven so aktiv agieren.« »Ja, ich bin nervös!« Ich gebe der Mauer einen Tritt. »Und, stört’s?« Er reagiert nicht auf meine Provokation. »Du mußt ruhiger werden! Versuch zu lesen, oder willst Schach spielen?« 192
»Schach kann ich nicht, Karten habe ich keine und zum Lesen fehlt mir die Ruhe, die Lust, der richtige Lesestoff und ich muß marschieren, mich bewegen, meinen Körper müde laufen, sonst kann ich nicht schlafen. Zu viele Gedanken. Scheißgedanken. Fragen, die ich nicht beantworten kann …« »Nimm dir eine«, sagt er und hält mir die offene Packung Zigaretten entgegen, »wenn du willst, kann ich dir das Schachspiel beibringen.« Ich nehme die Zigarette, rauche hastig und das Aufschließen der Tür befreit mich vom unerwünschten Dialog. Hinter dem Beamten treten ein Sozialarbeiter und seine neue Kollegin ein. Franz wird vom Beamten vorgestellt. Ich bleibe beim Bett, lehne mich dagegen und fühle, wie mich eine innere Vibration unsicher werden läßt. Die Frau, etwa fünfundzwanzig, blond, lächelt uns zu. Allen, und mein Egoismus nimmt dieses Lächeln als Eigentum in Besitz. »Gibt es noch offene Fragen?« Franz läßt seine Schweinsäuglein lauernd schweifen. Langsam beginnt er zu nicken. Er beherrscht das Spiel. »Möchten Sie hier oder im Büro mit uns reden? Möglich ist es.« Der junge, bärtige Sozialarbeiter hat die Führung übernommen, der Beamte steht daneben, den Schlüssel mit einer Hand im Schloß festhaltend und die Frau steht neben dem Klo und ich schäme mich dieser ungepflegten Wohnung, ihr Lächeln scheint festgefroren. »Meine Kollegin erledigt die privaten Angelegenheiten, zum Beispiel wenn es noch offene Wohnungsfragen, wegen Kleider oder Pfandscheine und ähnliches gibt.« 193
»Oder wenn Sie noch eine gerichtliche Sache zu regeln haben, Alimente oder so was«, sagt sie und ihre helle Stimme hallt tausendfach durch die Zelle. Ich weiß jetzt, was Halluzination ist. »Wie lange haben Sie noch?« Der Beamte streckt die schlüsselfreie Hand vor, zwischen sie und Franz, sagt grinsend: »Der ist Stammgast bei uns.« Niemand lacht mit ihm. »Der hat keine Frau, aber er zählt zu den ruhigen Kunden.« Was mir eine weitere Bestätigung dafür liefert, daß sie genau wußten, wen sie in meine Zelle schickten. Gedanken an einen Irrsinn, Amoklauf, erscheinen und noch siegt die Vernunft. Oder ist es die Angst vor den Folgen, die Angst, diese Frau zu verletzen …? Die Stimmung ist selbst bei Franz während den Worten des Beamten umgeschlagen, und der Bartträger begreift es als erster, sagt: »Gehen wir ins Büro!« Sie gehen, verlassen den Raum und die Tür wird versperrt. Ich muß die Zigarette neu anzünden, sie ist kalt geworden, ich hatte aufs Rauchen vergessen. Eine Frau! Hier in meiner Zelle! Die Beine …, und wie die kleinen Brüste die Bluse spitzten! Meine Lenden beginnen zu leben, ich drücke mit der Hand dagegen und möchte sterben mit diesem Traumbild, diesem Orkan in mir … Ich nähere mich dem Wahnsinn. Dieser Kontrast zu den Uniformierten, diese Stimme, und ich ziehe die Luft langsam und heftig durch die Nase, es ist ihr Duft, der im Raum wandert. Dann donnert mich die Erinnerung zu Boden. Das Ende mit ihr, seit heute Gewißheit, sie ist glücklich bei und mit dem anderen und nie mehr ein Kuß ihrer weichen Lippen, ihr 194
warmer Körper, die samtene Haut mit den kleinen Schweißperlen zwischen den Brüsten … Es war einmal! Verdammt nochmal. Für mich empfinde sie Freundschaft und bedanke sich für meine Großzügigkeit, schrieb sie und sie könne nicht mehr auf mich warten, ihr Körper sei zu schwach geworden. Ich möchte sie verstehen und kann es nicht begreifen. Auch mein Körper lebt. Jahre ohne Berührungen. Kein Anlehnen, keine Liebe. Nichts. Nur Onanie und aus dem Kopf. Schizophrenie. Zucht zum Wahnsinn. Diese Düfte. Diese Seltenheit, die alles viel schlimmer macht, die mir eine Frau als exotisches Wesen vorführt. Wäre Frau in dieser Welt eine Alltagserscheinung, niemand würde mehr an die Gitter stürmen, wenn Weiblichkeiten vorbeikommen. Es gibt keine Möglichkeiten, in und aus der Haft Beziehungen auf- und auszubauen, deren Schönheiten zu erleben, gemeinsam diese Situation zu bezwingen. Frauen werden von uns ferngehalten, und niemand will begreifen, oder tut es bewußt in einem perversen Spiel, daß es die seltenen Auftritte sind, die uns quälen, uns von der Normalreaktion fernhalten. Und wenn eine Gruppe von Zivilpersonen, Studenten, angehenden oder schon praktizierenden Richtern, Schülern der Sozialakademien, begleitet von Beamten, im Eilverfahren durch die Anstalt geführt wird, werden wir, und wir geben dieses gierige Lauern durch unser Verhalten bekannt, als gefährliche Tiere vorgestellt, mit denen es viel und mühsame Arbeit gibt. Niemand von uns kann widersprechen, es dürfen keine Gespräche zwischen Besuchern und Häftlingen geführt werden. Was sie in einem einstündigen 195
Zuchthaus-Kurs erfahren, wird ihnen von einem Beamten erzählt. Und dann das Haus mit den Insassen gezeigt. Oft sehe ich sie, wenn sie vor meinem Fenster vorbeikommen, lachen, die Männer reden beschwörend auf die Frauen ein, und die nicken und alle geben sich wissend und zufrieden, weil es im Zuchthaus gar nicht so schlimm sei … Sie sahen einige Häftlinge, die ihnen zulachten. Der Beamte erklärt ihnen meine Gedanken und Gefühle, das genügt für ihre informative Ausbildung. Die Verwaltung im Dunkeln siegt. Und ich muß gegen meine Sehnsüchte kämpfen, wenn ich ihre Stimmen, Trippelschritte und ihr Lachen bis in meine Zelle höre. Lustig muß es hier sein, fragt sich nur für wen! Schöne Worte zur Einsammachung. Die Strafzeit hat keine Beziehungen vorgesehen. Intimität wird der Primitivreaktion geopfert, amtlich geregelt. Franz kommt zurück. »Klugscheißer! Und das soll der Behandlungsvollzug der neuen Reform sein!« Er lacht, und mit einer wegwerfenden Handbewegung ist für ihn das Thema erledigt. »Ich sagte ja, die haben keine Zeit, zu zweit oder dritt für fast tausend Leute!« »Humanitätsduselei zur Irreführung des Europarates für Menschenrechte in Straßburg«, sagt Franz, »die haben von Österreich neue Gesetze verlangt, bekommen und geblieben ist alles beim alten Scheiß! Vor allem, was Besuche und das Alltagsleben betrifft, so gibt es nur das Minimum. Sonst gar nichts, die Jahresberichte lesen sich gut.« Ich lasse mich zu einem Schachspiel überreden und rauche von seinen Zigaretten. 196
Abend Nach dem Abendessen folgt das Wissen: bis zum Morgen geschieht nichts mehr. Die Überwachung erfolgt nachts durch den kleinen Spion in der Tür. Ich liege im oberen Teil des Stockbettes. Gewohnheit aus der Müdigkeit durch Nichtstun. Langeweile. Franz wandert gemütlich hin und her. Hält an, fragt: »Willst noch etwas Schach spielen?« »Keine Lust.« »Ich gehe erst ins Bett, wenn sie das Licht abdrehen.« Ich lese in einem stark abgegriffenen Taschenbuchroman. Schund. Und ich muß mit dem Rücken zur Tür liegen und so einem eventuellen Entdecktwerden entgehen. Es ist ein verbotener Roman. »Ich muß fertig lesen, Conny will das Buch morgen zurück.« »Für mich sind so Bücher nicht. Eher die guten«, sagt er und deutet auf die drei am Tisch, »aber die kenne ich schon. Hast noch andere?« »Nein.« Franz benützt das Klo. Scheißt. »Sag’ doch was, wenn du aufs Klo gehst, verdammt nochmal, es stinkt!« Ich reiße die Fensterflügel auf. Franz lacht. Würde ich mich umdrehen, könnte ich seine Füße und seinen Kopfsehen, weil die kleine Holzwand nicht mehr verdeckt. »Mein erster Schiß heute!« sagt er und lacht laut und herzhaft. »Seit drei Tagen, wenn ich es genau nehme und besser als Geschlechtsverkehr …« 197
»Wasser!« sag ich wütend und nehme mir eine Zigarette. »Bin’s gleich.« Endlich spült er nach. Ich lese weiter und Franz stellt das Schachbrett auf mein Bett, steht vor mir und zwingt mich so zum Umdrehen. »Was willst?« »Ach komm, spielen wir, vergeht die Zeit und ich lern’ dir einige gute Tricks!« Franz stellt die Figuren auf, überläßt mir die schwarzen. Ich habe wirklich keine Lust zum Spiel. »Hier, ist das etwas für dich?« Ich zeige ihm die beiden neuen Pornohefte, die mir bei der Abendessenausgabe zurückgebracht worden sind. Ich blättere und wir verfolgen gemeinsam die in Farbbildern festgehaltenen Aktionen. »Da, sieh die an, ist das häßlich!« Franz zeigt auf eine voll geöffnete Venus. »Aber der Mann hier! So wäre ich gern gebaut …« »Schwul, oder was! Zieh’ ab!« Ich stoße seine Hand zurück. »Ich schwimm’ nicht an deinem Ufer!« »Das ist dumm von dir«, sagt er und gibt nicht auf, »damit versäumst dein halbes Leben!« Nach einer Pause: »Wenn es nur eine Preisfrage ist …« »Um keine Million, kapiert!« Ich will gerade die Hefte weggeben, als ich seine Hand, unter der Decke, zwischen meinen Beinen spüre … Mit dem Fuß trete ich gegen seine Brust, er kippt nach hinten und fällt zu Boden, ich springe nach, trete und schlage auf ihn ein, ziehe ihn am Hodensack hoch und laß ihn wieder fallen … Ich schreie, kreische hysterisch, mein ganzer Haß entlädt sich in diesen Handlungen. 198
Franz beginnt um Hilfe zu rufen, heult auf, kriecht zur Tür, schlägt dagegen und hält mir den Zigarettenkonsum vor, was mir egal ist. »He, was gibt’s da drinnen?« Ein Beamter schlägt von außen gegen die Tür, und Franz bittet weinerlich, jetzt, noch heute, sofort von hier verlegt, rausgenommen zu werden. Ich habe aufgehört zu toben, lehne aufgewühlt an der Mauer und fühle keine Siegesfreude. »Das wird er bereuen!« drohen die Beamten, die Franz holen. »Ihr habt das schwule Schwein absichtlich zu mir gelegt!« Meine Stimme kippt über, ich wiederhole den Satz bis ich allein, hinter der wieder verschlossenen Tür, bin. Ich wollte nicht zuschlagen, alles hat sich ergeben. Und ich höre Franz, wie er ihnen, draußen am Flur, vor meiner Tür, ein Märchen erzählt. Ich weiß, sie werden ihm glauben, weil sie seine Aussagen gegen mich verwenden können. Vor Gericht wird man den alten Mann als Zeugen bedauern, der noch nie eine Gewalttat verübt hat und mich als jungen, renitenten Gefangenen verurteilen. Niemand wird von seiner Hand sprechen, die zweimal an mein Geschlecht tastete … Halbnackt beginne ich einen neuen Marsch, sieben Schritte bis zur nächsten Kehrtwendung, einsam, erkaltet, müde gedacht. Die »Zwecke des Strafvollzuges« fallen mir ein, der §20, und wie Hohn klingt es in meinen Ohren: … Vollzug der Freiheitsstrafen soll den Verurteilten zu einer rechtschaffenen und den Erfordernissen des Gemeinschaftslebens angepaßten Lebenseinstellung verhelfen und sie abhalten, schädlichen Neigungen nachzugehen. Der Vollzug soll außerdem den 199
Unwert des der Verurteilung zugrunde liegenden Verhaltens aufzeigen … … Zur Erreichung dieser Zwecke und zur Aufrechterhaltung der Sicherheit und Ordnung in den Anstalten zum Vollzug von Freiheitsstrafen sind die Strafgefangenen nach Maßgabe der Bestimmungen dieses Bundesgesetzes und der darauf gegründeten Vorschriften von der Außenwelt abzuschließen, sonstigen Beschränkungen ihrer Lebensführung zu unterwerfen und erzieherisch zu beeinflussen …
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Irgendeine Nachtstunde Wie am frühen Morgen prallen die Gitterraster gegen meine Augen, erzeugt auf der Längswand durch die Scheinwerfer im Hof. Ich liege am Rücken, starre gegen die herabfallende Decke. Schweißgebadet sind Körper und Bettwäsche. Tränen. Die Gedanken verweilen bei der verlorenen Liebe und Zukunft. Ich werde nicht fertig mit meinem Trieb und Problem. Einsamkeit würgt mich. Erinnerungen dringen in mein langsames Sterben. Die schlaflosen Stunden sind Zusatzstrafen und Folter in der lichtlosen Gegenwart. Ich bereue mein Nein zum Psychiater, jetzt sehne ich mich nach der befreienden Droge. Endlich ohne Gefühle sein, forttreiben, zurücklassen die Schuld und Zeit. Windet sie sich sanft in den Armen des anderen? Gesteht sie ihm Liebe ins Ohr? Ich höre sie … Ich habe gespielt und verloren. Das Scheinwerferlicht stört, verhindert eine Befreiung in totaler Finsternis. Ich stehe auf, hänge meine Handtücher auf und endlich sehe ich kein gelbgrelles Licht, keine Gitterraster mehr. Irgendwann werde ich geweckt, ein Beamter leuchtet mit dem Handscheinwerfer durch die Türluke. »Sofort die Fetzen vom Fenster weg!« »Ich kann bei diesem Licht nicht schlafen …« »Entweder Sie nehmen die Fetzen sofort weg, oder wir kommen, verlegen Sie in den Keller! Sie wissen genau, daß es verboten ist, die Fenster zu verhängen und provozieren schon wieder.« Wen stört die Dunkelheit? Ich schweige, nehme die Handtücher weg und schließe geblendet die Augen. 201
Das ist kein Leben mehr! Ich möchte jetzt mit jemandem reden, den ich mir als Partner wünsche und weiß, daß es niemanden gibt, und dann denke ich kurz, ich werde einen Brief schreiben, bevor ich mich erinnere: es gibt keinen Empfänger mehr. Ich weine und möchte noch leben und kann nicht mehr. Die Entscheidung ist getroffen, unbewußt, und ich wehre mich nicht mehr dagegen. Mir fehlt die Kraft, einen Mittelweg zu suchen. Ich bin zu müde. Mit den letzten Reserven muß ich auskommen bis zum Ende. Es ist besser jetzt, sofort, als in einigen Jahren, in denen mich die Angst zerstören würde. Nur einen Brief noch … und an wen? Ich stehe auf, stelle mich so an die Mauer, daß das Blatt Papier, auf dem ich schreibe, in einem Lichtquadrat liegt und ich verwende Worte, die ich noch niemandem gesagt habe. Es dauert lange, sehr lange, bis ich die wenigen Zeilen abschließen kann. Punkt. Aus. Adieu. Ich fühle mich erleichtert, fast glücklich und kann wieder lächeln. Der Entschluß ist gefallen, im Hirn und schriftlich auf Papier gedrückt. Die Vergangenheit zieht vorbei, und ich sehe mich als kleinen Jungen, der im Dreck der Schotterstraße spielt, und dann den Jüngling, wie er die ersten Niederlagen bewältigt … Kinderheim und die Tante, Liebe und Leben, in den Erinnerungsbildern steckt jetzt keine Belastung mehr. Kurz bereue ich den Entschluß und sofort ist die alte Beklemmung, die Schwere der Gegenwart wieder in der Brust und im Kopf. Ich kehre zur Entscheidung zurück. Endgültig. 202
Vor dem Spiegel stehend, lächle ich mir Mut zu und trockne die Tränen nicht mehr von den Wangen. Es gibt kein Zurück und kein Morgen mehr. Ich nehme den Gürtel aus den Hosenschlaufen und verknote ihn mit den ledernen, kräftigen, langen Schuhbändern und dann noch einmal ein Blick in den Spiegel, verzerrt durch den Tränenschleier, und ich wundere mich, daß ich noch weinen kann und dabei glücklich bin … Nach dem dritten Versuch steht der Stuhl abgesichert auf der Klomuschel, und ich klettere hinauf, befestige den Gürtel am Wasserleitungsrohr der Wasserspülung, das hier durch die Mauer auf den Flur hinaus führt. Mit letzter Kraft lege ich mir die doppelt geführten Lederbänder um den Hals, prüfe die Festigkeit … Weinend, hassend, laut auflachend stoße ich den Stuhl von der Muschel, ein kurzes, letztes Brennen im Genick … Achtzehn Stunden später verliest ein Nachrichtensprecher die amtliche Mitteilung: »… hat sich der zu zwölf Jahren Freiheitsentzug, zweiunddreißigjährige Verurteilte in seiner Zelle erhängt. Wie ein Sprecher des Ministeriums mitteilt, sind die Gründe dafür unbekannt und unerklärlich, gab es keinerlei depressive Anzeichen und im Strafvollzug selbst könne man die Ursachen nicht entdecken …«
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DIE BESTRAFTE ZEIT EINE KRITIK AN DER PRAXIS DES STRAFVOLLZUGS IN ÖSTERREICH I. »Das Gefängnis ist zum Einsperren da«, wie der Volksmund sagt. Doch nicht nur im Bewußtsein der Allgemeinheit, auch innerhalb der Kriminologie scheinen Experten nicht wesentlich über das Alltagswissen hinausgekommen zu sein. Noch immer gilt die Gefängnisstrafe als probates Mittel, um auf Straftäter zu reagieren. Den Gesetzesbrecher einzusperren bedeutet gleichzeitig: Aussperrung aus der Gemeinschaft der »sozial« Anständigen und befriedigt so ein tief verwurzeltes Bedürfnis nach Sicherheit und Ordnung. Und so werden Gefängnisse um-, aus- und neugebaut. Darin werden täglich Menschen wie in Schließfächern, ähnlich dem TiefkühlboxenSystem eines Schlachthofes, isoliert, verwahrt und verwaltet. Was sich hinter den abgeschirmten Gefängnismauern vollzieht, bleibt nicht nur jeder rechtsstaatlichen demokratischen Kontrolle entzogen, sondern auch der Gesellschaft, dem Bürger, in dessen Namen »DIE REPUBLIK« ihr Urteil ausspricht und vollstreckt. Nur selten, wenn ehemalige Häftlinge über menschenunwürdige Zustände berichten, wenn Selbstmorde sich häufen, Fluchtversuche und Ausbrüche aus dem Gefängnis an die Öffentlichkeit dringen, dann schreckt der demokratisch gesinnte Bürger dieses Landes (der dieses Strafvollzugssystem mit seinem Steuergeld finanziert) für einige Minuten 204
hoch. Dank einiger Printmedien wird nicht verstanden, wieso ein Häftling aus einem angeblich »eh so humanen, sanatorischen Aufenthaltsort« flüchtet … Dabei sind es weniger die einzelnen Ereignisse, die von geschäftstüchtigen Journalisten zu »Gefängnisskandalen« hochstilisiert werden, sondern vielmehr die alltäglichen, scheinbar banalen Erniedrigungen (z.ԜB.: die Kontrolle des Afters durch einen Wärter, die Nichtannahme eines Weihnachts-, Geburtstags- oder Osterpaketes wegen 30 Gramm Übergewicht, die Entscheidungen bei Anträgen über Korrespondenz- und Besuchserlaubnis, wo Fragen gestellt werden: »Wie wollen Sie mit dieser Person schreiben? Wer ist diese Person zu Ihnen? Was haben Sie mit dieser Person zu besprechen?« – und den oft schon willkürlich begründeten Ablehnung von Ausgangsanträgen, die täglichen Verluste, isoliert von Menschen, mit denen man sprechen, beisammen sein möchte; eingeschlossen in einem Raum: Türe aus Eisen und ohne Klinke, das Fenster vergittert, kahle Wände und das Klo neben Bett und Eßtisch; um 6 Uhr morgens durch Sirenenton geweckt und um 21 Uhr in die Nachtruhe geschickt; der Tagesablauf, geregelt durch Vorschriften, Anordnungen und die Tatsache, daß alles (auch die Kleidung) von anderen bestimmt wird und kein Häftling eigene Entscheidungen treffen darf sowie der Umstand, daß der Häftling aus den Medien immer wieder erfährt: im Grunde sind alle diese Fakten bekannt, aber niemand ist bereit (aus tagespolitischem Opportunismus?), ernsthaft an der Situation in den Strafvollzugsanstalten (Abbau von menschlichen Verlusten und somit Beseitigung der destruktiven Haßzüchtungen bei den Betroffenen) etwas zu ändern, mehr zu tun, als ein Häft205
lingsdasein juristisch abzusichern, die Person endgültig zur verwahrten Nummer zu machen. Das sind die Inhalte, die den Alltag im Gefängnis zum permanenten Skandal werden lassen. Strafvollzug heißt nach wie vor »STEINerne« Isolierung, die neue Architektur steriler Gefängnisbauten symbolisiert dies auf besonders drastische Weise: aus dem Zuchthaus des 20. Jahrhunderts ist jede Menschlichkeit gewichen. Allein an dieser Architektur läßt sich die Zukunft des Strafvollzuges ablesen. Das Gefängnis wird zur technologischsterilen Zwangsinstitution, zur Fabrik einer heuchlerischen Sozialhygiene. Unsere Gefängnisse symbolisieren heute einen Zwitter aus Neuzeit und Mittelalter. Dieses Zwangssystem, in dem noch immer Vollstreckerarbeit geleistet wird, wie sie im Grunde im vorigen Jahrhundert praktiziert wurde, läßt keinem der Gefangenen auch nur den Ansatz einer Chance zur Resozialisierung. Das Gegenteil ist Realität – nämlich die Entsozialisierung. Das »persönliche Ich« des Häftlings wird zentral ausgeschaltet: Selbständigkeit und Selbstachtung, Möglichkeiten zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung, die freie Wahl der Mitmenschen – mit denen man umgehen möchte –, der Anspruch auf Privatsphäre (von Intimsphäre ganz zu schweigen!), das alles wird völlig eliminiert. Um zu »UNTERLEBEN«, beschaffen sich die einen Drogen, die anderen verlieren sich in Haß und Gewalt, demolieren ihre Zelleneinrichtung. Der Großteil aber fällt in Resignation. Das Wesen der Freiheitsstrafe ist gleich geblieben. Ob nun zur Stabilisierung der Konformität oder zur Eingrenzung abweichenden Verhaltens durch Sicherung bzw. Behandlung, letzt206
endlich basiert sie immer noch auf Schrecken und Drohung, die von dem Strafübel ausgehen. Geändert hat sich nur der Name, unter dem das Ganze als Resozialisierung verkauft wird. Die Abwehr des Verbrechens, von der der Strafvollzug ausgeht, ist verfeinert, vielschichtig und unserer Zeit konjunkturell angepaßt. Die Ausgrenzung des abweichenden Verhaltens ist Sache der Humantechnokraten geworden. Der Gefangene wird zum Klienten, oft gar zum Patienten. Sozialarbeiter, Pädagogen oder Psychologen werden zu Sozialtechnikern. Neuer Lack auf alte Kisten oder statt Blechnapf Glasteller. Doch alle Korrekturen sind vergeblich. Wer einmal durch das Lehrmodell staatlicher Bestrafung hindurchgegangen ist, hat oft psychische und physische Schäden, die ihn nach seiner Haftentlassung lebensuntüchtig machen. Je länger die Haftstrafe andauert, um so gravierender sind die Schäden für den einzelnen. Warum wird nach wie vor eingesperrt, warum hält sich immer noch die Vorstellung, durch Aussperren des einzelnen aus der Gemeinschaft, durch Verbannung in ein abgeschlossenes Strafsystem könne die verletzte Rechtsordnung wieder hergestellt und die an einem Konflikt Beteiligten befriedigt werden? Warum wird am Hexeneinmaleins der Resozialisierung festgehalten, wenn die Rückfallziffern eindringlich belegen, daß allenfalls die Gefängnisse selbst resozialisiert werden müssen, da das Gefängnis allen schadet und keinem nützt? Ist es wirklich nur soziale Fahrlässigkeit, wenn weiterhin teure Gefängnisse gebaut werden, statt soziale Hilfen zu geben? (Was, wie inzwischen von mehreren Fachleuten bestätigt wurde und wird, kostengünstiger wäre als die langjährige Anhaltung in einem Gefängnis mit allen ihren Folgen.) 207
Die Gefängniszelle als Keimzelle der Gesellschaft, als Garant für Rechtsfrieden und Gemeinschaftsdisziplin? Die Protagonisten der »SCHULD UND SÜHNE«-Ideologie sind noch immer in der Mehrzahl. Nicht nur die Frau und der Mann auf der Straße, auch der Wissenschaftler und der Politiker halten am Gefängnis fest. Trotz aller Mängel, so sagen sie, gäbe es derzeit nichts Besseres. Gefängniskritik ist so alt wie die Gefängnisse selbst. In den letzten Jahren kommt sie aus verschiedenen Richtungen: aus den Reihen der kühlen Kosten-Nutzen-Denker, der humantechnokratischen Reformplaner und der gutmeinenden, moralischen Ankläger. So unterschiedlich ihre Argumente auch sind, eines ist ihnen gemeinsam: sie wollen nicht die Abschaffung der Gefängnisse, sondern ein anderes – humaneres(?) – Gefängnis. Ihr Konzept: statt dumpfer Strafe intensive Behandlung. Doch auch im Behandlungsvollzug (siehe Holland) zeichnet sich bereits ab, daß auch in dieser Anhaltungsform keine Sozialisierung stattfinden kann. Denn innerhalb abgeschirmter staatlicher Zwangsinstitutionen können keine freiheitlichen Verhaltensweisen (die Befähigung, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen) eingeübt werden. Auch der therapeutische Vollzug bleibt auf die (Innen-) Welt des »Zellen-Baus« begrenzt. Fazit: eine künstliche Spielwiese umgrenzt von Mauern. Nirgendwo gibt es in dieser INNENwelt reale, soziale Kontakte. Der Gefangene kommuniziert nicht wirklich mit jenen Menschen, mit denen er es in Freiheit zu tun hat. Der gewohnte soziale Zusammenhang, die Angehörigen, Freunde, Ehefrau, Arbeitskollegen, Richter und Opfer – wer auch immer am Zustandekommen 208
der Situation des Häftlings teilgenommen hat, bzw. durch die Schuld des Täters teilnehmen mußte –, sie alle bleiben ausgeschlossen. IN UNFREIHEIT KANN MAN ABER DIE FREIHEIT NICHT ERLERNEN/ Nach wie vor wird das Gefängnis als Zauberformel zur Entwirrung menschlicher und gesellschaftlicher Konflikte genannt. Ein Betrug, der trotz des offenkundigen Mißerfolgs höchstrichterlich angeordnet und betrieben wird. Nach wie vor werden in den Gerichtssälen Urteile gesprochen, die mit Schuld- und Konfliktbewältigung, sowie dem Rechtsausgleich der Beteiligten nichts zu tun haben, aber viel mit abstrakter Strafe und staatlicher Anmaßung. Strafjustiz und Strafvollzug tragen nirgendwo dazu bei, menschliche Konflikte zu lösen. Im Gegenteil, das staatliche Rechtsmonopol und seine professionellen Helfer be- und verhindern die vielfältigen privaten und informellen Arrangements sozialer Konfliktlösung. Sie verhindern die Möglichkeit, innerhalb der Gesellschaft Auseinandersetzungen aufzunehmen, zu führen und auszudehnen, damit der Kriminelle und das Verbrechen entmystifiziert werden. Das Gefängnis versinnbildlicht diesen Zustand besonders: in dem es weder das leistet, was es vorgibt zu wollen, noch das, was es tatsächlich anstrebt, sondern nur einer blinden Gesellschaft Vorwände gibt, weiter blind zu bleiben! II. 1. März 1987, Straßburg-Frankreich: Der Europarat verabschiedet einen Kodex, in dem alle Mitgliedsstaaten aufgefor209
dert werden, neue Vollzugs- (Haus- bzw. Anstalts-) Ordnungen für die einzelnen Vollzugsanstalten zu erstellen, da die in Kraft befindlichen nicht mehr den Ansprüchen der Gegenwart entsprechen. 1. Oktober 1989, Wien-Österreich: Dieser Kodex des Europarates wurde bis zum heutigen Tage nicht einmal diskutiert. Die in den österreichischen Vollzugs- und Hausordnungen festgeschriebenen Vorlagen sind alles KANNBestimmungen, gerahmt von schönen Worten ohne jedem Wirklichkeitsbezug. Einige Punkte: »Im Strafvollzug soll erzieherisch auf den Gefangenen eingewirkt werden, um ihm den Unrechtsgehalt seiner Handlungen vor Augen zu führen und ihn auf ein redliches Fortkommen nach der Entlassung vorzubereiten …« Wer soll dies durchführen? Die Beamten der Aufsicht wären und sind da vollkommen überfordert. Der Soziale Dienst fällt dafür ebenso aus, da ein Sozialarbeiter für ca. 600 Gefangene wohl kaum die nötige Zeit für intensive Gespräche aufbringen kann. Das gilt auch für den Anstaltspsychiater, der ein- zweimal pro Woche für eine Stunde in die Anstalt kommt und in dieser Zeit, sozusagen als »Feuerwehr«, nur die akuten Fälle mit Psychopharmaka ruhigstellen kann, aber kaum durch ein Gespräch, das im Schnitt die Fünf-Minuten-Grenze nicht übersteigt. (Beispiel: Der Psychiater kommt um 14 Uhr 45 in die Anstalt und muß um 15 Uhr 30 seine Ordination beenden, weil der Tag- auf den Nachtdienst wechselt und sich zu diesem Zeitpunkt keine Häftlinge mehr außerhalb ihrer Hafträume aufhalten dürfen.) 210
An einer anderen Stelle des Strafvollzugsgesetzes heißt es: »… soll der Gefangene im Zugangsgespräch dazu angehalten werden, seine sozialen Kontakte zu Angehörigen und Außenwelt im positiven Sinne aufrechtzuerhalten, bzw. auszubauen …« Es wird aber in der Realität, durch die schon vorher beschriebene Hinterfragung, eher verhindert als befürwortet. Und da viele Häftlinge überhaupt keine Angehörige haben, bleiben sie isoliert und selbst ein ehemaliger Häftling, der es nach seiner Entlassung, in seinem Beruf, im bürgerlichen Sinne, zu etwas gebracht hat, darf einem noch Inhaftierten, mit dem er befreundet war und ist, nicht helfen. Das wird von Gesetzgeber mit Hilfe der gesetzlich geregelten Kontaktsperre unterbunden, das heißt konkret: als ehemaliger Häftling darf ich einem noch in Haft befindlichen »Freund« nicht einmal eine Wohnung, eine Arbeitsstelle besorgen … Für eine, dem Vollzugsgedanken widersprechende Einrichtung halte ich die Regelung in Strafstufen, wobei die Gesamtstrafe aus den drei Teilen: Unter-, Mittel- und Oberstufe besteht. So positiv die Überlegungen der dafür verantwortlichen Juristen gewesen sein mögen, so störend wirkt dies in der Praxis. Vor allem im Bereich des Besuchsempfangs spielen sich wahre Beziehungskonflikte ab. Zum Beispiel: Bei einer fünfzehnjährigen Haftstrafe darf der Gefangene die ersten fünf Jahre (wobei die Zeit der Untersuchungshaft nicht mehr eingerechnet, die Berechnung der Unterstufe trotzdem mit fünf Jahren angesetzt wird, ebenso die Mittelstufe mit weiteren fünf Jahren und der Rest auf die fünfzehn Jahre – bei zwei Jahren U-Haft bleiben drei Jahre – als Oberstufe gewertet wird) nur alle vier Wochen eine Viertelstunde Besuch von drei Personen 211
empfangen. In der Mittelstufe alle drei Wochen, in der Oberstufe alle zwei Wochen. Gerade zu Beginn der Haft sind die Beziehungen (Familie, Gattin, Freunde) nicht nur für den Häftling wichtig, sondern auch für Angehörige. Vor allem diese Personen können mithelfen, den Strafvollzugsgedanken des Umdenkens, des Erklärbarmachens eines Fehlverhaltens beim Gefangenen in die Realität umzusetzen. Was aber in einer Viertelstunde, alle vier Wochen, in einem überfüllten Besuchsraum, getrennt durch einen breiten Tisch mit Barriere, (manchmal auch noch eine Trennscheibe) und mit Überwachung des gesprochenen Wortes, an Beziehung aufrechterhalten, an Problemen, etwa Kindern, besprochen werden kann, wird sich jeder vorstellen können … Allein diese, durch den Stufenvollzug praktizierte Besuchsregelung, ist das beste Mittel, dem Gefangenen auch noch die letzte Bindung abzutrennen. Wie aber einen Menschen, (wobei die Angehörigen ebenso empfinden und reagieren) den ich auf diese Art in Verbitterung treibe, erzieherisch beeinflussen? Dr. ԜHugo Kresnik, Leiter der Staatsanwalt Linz, in den »Oberösterreichischen Nachrichten«: »Wir wundern uns heute darüber, daß man früher gemeint hat, mit der Folter die Wahrheit zu erfahren, aber die Menschen damals hielten das für vollkommen richtig und glaubten, ohne diese Methoden nicht auszukommen. So wie es früher nur sogenannte Lebensund Leibesstrafen gegeben hat und keine Gefangenenhäuser, der Freiheitsentzug ist in seiner jetzigen Form erst 200 Jahre alt. Und so dürfen wir die heute zur Verfügung stehenden Möglichkeiten nicht als das Nonplusultra betrachten, wir müs212
sen offen sein für Neues, für Versuche und selbst bemüht sein, etwas Besseres zu finden … Es hat sich vieles gebessert. Aber grundsätzlich ist der Freiheitsentzug in Form der Mauersperre für die Persönlichkeitsentwicklung sehr schädlich.« Selbst Gefangene, die während der Haft mit einem Umdenken, einer Aus- bzw. Fortbildung und so mit einer Arbeit und mit der eigenen Person beginnen, müssen die Erfahrung machen, daß die Vollzugsbehörde gar nicht begeistert von einer Selbstverwirklichung des Häftlings ist. Dementsprechende Anträge werden dann mit dem Vermerk: »Gleichheitsgrundsatz würde verletzt werden« abgelehnt! Obwohl es in keinem Lebensbereich einen Gleichheitsgrundsatz geben kann, gilt hier: Weil die Mehrzahl der Gefangenen an positiver Persönlichkeitsentwicklung (warum auch immer) desinteressiert sind bzw. daran scheitern, darf sich auch der Einzelne nicht aus dieser »Masse toter Fische« herausheben … Oder: nur zu gerne beruft sich die Vollzugsbehörde in ihren ablehnenden Antworten auf eine »Öffentlichkeit, die es nicht verstehen würde …« Welche Öffentlichkeit gemeint ist, bleibt unbekannt, und: warum wird dieser, von der Vollzugsbehörde vorgeschobenen Öffentlichkeit, nicht auch die reale Alltagswelt, die sich hinter den Kerkermauern abspielt, erklärt, gezeigt? Ein sicher sehr heikler, aber von allen Fachleuten anerkannter Bereich ist die bedingte Entlassung. Der Betroffene kann in der derzeitigen Praxis nur ein Fragezeichen setzen! Welchen Sinn hat es, wenn ein Häftling von seinen fünfzehn Jahren vierzehn verbüßen muß und er dann (wohl wegen der sonst nicht mehr möglichen Kontrolle durch die Bewährungshilfe 213
und anderer Auflagen) ein Jahr bedingt auf drei oder fünf Jahre bekommt? Der Betroffene empfindet dies nur mehr als Alibi für die Statistik und Verspottung seiner Person. Nicht nur Gerede, sondern längst bewiesen: Wer von seinen fünfzehn Jahren fünf Jahre bedingt nachgesehen bekommt, wird sicher wesentlich intensiver bemüht sein um eine soziale Verhaltensweise als jener, der von einer so langen Freiheitsstrafe gerade noch einige Monate vorher entlassen wird. Welchen Inhalt hat ein Gesetz (zur Prüfung um eine bedingte Entlassung), das fast nie angewendet wird, weil die juristische Tradition immer noch mit dem reinen Verfahren nach Aktenlage auskommt? Dr. ԜHugo Kresnik: »… habe ich mich mehr für eine Verbesserung des Verfahrens der bedingten Entlassung engagiert. Dafür würden schon die bestehenden Bestimmungen ausreichen, nur wird davon kein Gebrauch gemacht. Ich bin der Meinung, daß wesentlich mehr Häftlinge bedingt entlassen werden könnten. Das Gesetz sieht vor, daß das Gericht vor der Entscheidung, Einsicht in den Strafakt und den Personalakt zu nehmen und »bei Zweckmäßigkeit« den Strafgefangenen selbst anzuhören hat. Nur ist letzteres nie der Fall. Selbst bei Lebenslänglichen wird die Frage, ob der Rest der Strafe auf Probe nachgelassen werden könnte, ausschließlich auf Grund der Aktenlage entschieden. Das halte ich nicht für gut, weil ich glaube, daß der persönliche Eindruck sehr wichtig ist. Natürlich kann man in einen Menschen nicht hineinsehen, aber das ist ja das tägliche Brot des Richters, daß er die Glaubwürdigkeit, Persönlichkeit und Psyche von Menschen beurteilen muß. Ob jemandem von lebenslanger, 20jähriger oder 15jähriger Haftstrafe einige 214
Jahre nachgelassen werden, ist doch eine wichtige Entscheidung. Wenn man bedenkt, welchen Aufwand wir treiben, um Schuldsprüche zu erzielen, wo dann oft nur eine niedrige Geldstrafe herauskommt, würde sich diese Mühe bei den Entlassungen bestimmt noch mehr lohnen. Es ist schwer, weil es eine Frage des Bewußtseins der handelnden Personen ist …« Der Bundesminister für Justiz: »… das heißt unter anderem daß die bedingte Entlassung künftig bereits nach Verbüßung der Hälfte des Strafausmaßes möglich sein wird. Bisher war das erst nach zwei Dritteln der Fall. Auch bei lebenslangen Freiheitsstrafen wird die bedingte Entlassung erleichtert.« (KTZ.) Schöne Worte in den Medien für eine laienhafte Öffentlichkeit, und bis heute blieb es auch bei leeren Worthülsen. Hinzu kommt noch: Häftlinge, die erst nach ihrem gesetzlichen Termin (Ablehnung zur bedingten Strafnachsicht nach Verbüßung der Hälfte oder zwei Dritteln der Haftstrafe), sozusagen nachträglich, wenige Monate vor dem regulären Strafende bedingt entlassen werden, werden in der Statistik als »bedingt Entlassene« geführt, womit eine Schönfärberei betrieben wird, die der Realität vollkommen widerspricht. Und die Tatsache, daß Richter (direkt oder über den Anwalt) schon vor oder beim Prozeß (gegenüber den Laienrichtern) sich dahingehend äußern: »Bei guter Führung gehen Sie (der Angeklagte) ohnehin mit dem Drittel nach Hause …« Was bei Laienrichtern (der Staatsanwalt benützt ebenfalls diese »Waffe«) oft den Effekt erzielt, daß sie besonders harte Strafen vorschlagen … 215
Niemand kümmert sich nach Jahren der Haft noch um die damals gemachte Aussage. Was bleibt, ist Frustration beim Häftling und neue Wut, die oft ein konstruktives Verhalten während und nach dem Vollzug der Strafe verhindert. Schon Christian Broda, der den theoretischen Boden für fruchtbare Arbeit in den Anstalten geschaffen hat, mußte sich immer wieder heftigster Angriffe erwehren. Angriffe, die ihn nicht nur einmal als Täter bezeichneten, ausgesprochen von Personen, denen es weniger um die Justiz ging als um die Tagespolitik. Solange aber Strafjustizpraktiker mediale Angriffe befürchten müssen, wenn sie reformieren wollen, oder auch nur laut darüber nachdenken, werden sie nicht jene, auch und vor allem für die Verbrechensverhinderung so wichtige Arbeit effizient durchziehen können. Was bleibt ist Alibi und Stückwerk. Ich möchte die wichtigen Punkte, die der Gesetzgeber festgeschrieben hat, aber immer noch ihrer Verwirklichung harren, kurz anführen: 1) Eine bessere, Kontakte fördernde, statt zerstörende Besuchsregelung. 2) Mehr Toleranz und vor allem Praxisnähe der Strafvollzugsbehörde bei Aus- bzw. schulischer und beruflicher Fortbildung. 3) Das Instrument der bedingten Entlassung, wenn schon nicht reformieren, so die bestehenden Möglichkeiten im Gesetz ausschöpfen. 4) Die Tagespolitik aus dem Strafjustizbereich heraushalten. 5) Jene Personen, die über das Strafvollzugsgesetz (oder Dienstordnungsgesetz für die Wachebeamten) entscheiden, 216
sollten sich das Gefängnisleben in der Praxis ansehen und sich ihre Informationen nicht nur in mehrjährigen Abständen durch halbstündige Inspektionen eines Gefängnisses erwerben. Es gibt einfach zu viele Widersprüche zwischen den Zielen des Strafvollzugsgesetzes und den Arbeitsmöglichkeiten der Beamten, Sozialdienste und anderer Vollzugseinrichtungen. III. Die Person in Haft ist zwar wegen Untaten von der Gesellschaft ausgesperrt worden, aber trotz allem EIN MENSCH. Ein Individuum mit all seinen Gefühlen, Kräften und Schwächen im geistigen wie im körperlichen Bereich. Eine Tatsache ist, daß die Justizbehörde in Österreich den Bereich Sexualität mit totaler Tabuisierung belegt hat. Vielleicht wird hinter verschlossenen Türen darüber (von Personen, die davon nicht betroffen sind) gesprochen, aber der Häftling hat auf keinen Fall einen An- bzw. AussprechPartner, was seinen sexuellen Bereich betrifft. Spricht, was immer ein Versuch bleibt, er einmal dieses Thema an oder aus, wird mit spürbarer Peinlichkeit auf ein anderes Thema übergeleitet oder einfach mit der Begründung von Zeitmangel das Gespräch beendet. Haben Länder wie die BRD, Schweiz, die Benelux-Staaten, Skandinavien, die USA, Spanien oder Italien bereits das Problem erkannt und handeln mit verschiedenen Maßnahmen danach, z.ԜB. Hafturlaub nach einer Verbüßung von der Hälfte der Strafzeit; Besuchsausgänge auf Stunden; Räume im Anstaltsbereich für Besuche von Angehörigen, Gattinnen, Verlob217
te; etc. so gibt es in Österreich (seit April 1987 hat Österreich endgültig die Führung in der Häftlingszahl in Europa, noch vor der Türkei, übernommen), keine Hoffnungen auf diesem Gebiet. Auch die neue Novelle zum novellierten Gesetz sieht da keinerlei Problemlösung vor. Das Wort Sexualität hat für den Häftling, liest man das Strafvollzugsgesetz, einfach nicht zu existieren. §33 des StVG. schreibt vor: Die Toilette darf nur von einer Person betreten werden. In den »Zellen« von 2 bis 10 und mehr Leuten in einem Raum aber ist jeder Toilettenbenützer von den anderen erlebbar, hörbar, sichtbar und riechbar. Da aber der österreichische Steuerzahler dieses restriktive System voll zu akzeptieren scheint und mit Millionen Steuerschillingen finanziert, ohne die verantwortliche Behörde zu wirklichkeitsnahen, menschengerechten Haftbedingungen anzuhalten, bleibt dem Gefangenen nur die Selbsthilfe in einem wohl wörtlichen Sinne in allen Bereichen seines täglichen Lebens. Bevor ich die verschiedenen Gruppen im Gefängnis in kurzen Darstellungen vorstelle, möchte ich einige Beispiele aus diesem Alltagsleben, in einer Notiz-Darstellung aufzeigen, die mithelfen sollen, diese täglichen Verluste im Gefühlsbereich besser zu verstehen. Da eine umfangreichere Ausführlichkeit, die in dieser »Berichterstattung« ebenfalls keinen Anspruch auf Vollständigkeit hätte, aus Platzgründen nicht stattfinden kann, beschränke ich mich auf einige Hauptpunkte. Beispiel 1: In einer Zelle befinden sich zwischen zwei und zwölf erwachsene Männer im Alter von Zwanzig bis Sechzig, 218
im gleichen Raum befindet sich Klo und Waschecke …; jeder Mann kennt aus eigener Erfahrung, wie er sich fühlt, wenn er, und sei es beim Militär, in einer Klinik, wo immer, erwacht und entdeckt, sein Glied hat eine starke Erektion; sei es durch einen »Wassersteifen« am Morgen oder weil es einen Traum mit sexuellen Inhalten gab …; und nun muß er damit quer durch den Raum zum Klo … Beispiel 2: Ein Erwachen nachts … stark erregt, das Bedürfnis zu onanieren, da es keine andere Befriedigungsmöglichkeit gibt, und daneben schlafen andere; oder noch peinlicher: der Betreffende muß mit einem anderen ein Stockbett teilen … Beispiel 3: In einer Gemeinschaftszelle ist ein Nacktschlafen unmöglich, da auch ein Verrutschen der Decke eingerechnet werden muß, und wer nicht gerade ein Exhibitionist ist … (Einzelhaftzellen sind aber schwer und nur in Ausnahmefällen zu bekommen.) Beispiel 4: Bis zu dreißig Leute befinden sich gleichzeitig im Duschbad, in Berührungsnähe nebeneinander …; wer den Wunsch hat, sein Geschlecht eingehend zu reinigen, kann den Bemerkungen der anderen kaum entgehen … Die Beispielsliste, die so ein Zusammenleben auf engstem Raum gut erklären würde, ließe sich noch unendlich fortsetzen und doch wäre sie nie vollständig, weil jeder Einzelne die Situation anders erlebt als der andere. So verschiedenartig die Sexualpraktiken und Sexualneigungen der Menschen sind, so gibt es darin keinen Unterschied zwischen Freiheit und Gefängnis. Wohl aber in der Tatsache, daß sich in Freiheit Raum und Möglichkeit bietet, im Ge219
fängnis bleibt alles auf wenige Quadratmeter beschränkt, von denen kein einziger als sogenannter Intim-Raum angesehen werden kann. Alles spielt sich öffentlich ab: vom Schlafen bis zur Verrichtung auf der Toilette. Aber nicht nur der Gefangene hat mit seinem sexuellen Problem zu kämpfen, auch seine Frau, Freundin in Freiheit muß sich damit zurechtfinden. Die sexuellen Probleme sind in Männer- und Frauenhaftanstalten ident, zwar gibt es mehrere Möglichkeiten, sich zumindest körperlich auszuleben, es bleibt aber trotzdem die Belastung, da es sich in dieser Form um eine Notlüge zu sich selbst handelt. Was dazu führt, daß sich beide Partner selbst und gegenseitig belügen, um den anderen nicht zu verletzen. Dabei wird verdrängt, und obwohl die Betroffenen wissen, niemand kann Jahre hinweg die totale, geistige wie körperliche, monogame Treue leben, verstecken sie sich hinter der Lüge. Was bleibt, ist ein Wechselspiel, je nach Neigung, zwischen Flucht und Verdrängung vor sich selbst. Die Homosexuellen haben den Vorteil, im Gefängnis keine Einschränkungen ihres Gefühls- und Liebeslebens zu haben. Die Starken unter ihnen stehen dazu und suchen sich Partner, mit denen sie in einer Art Lebensgemeinschaft in ZweierZellen unterkommen. Die Schwachen sind insofern benachteiligt, weil sie schweigen, verdrängen und doch früher oder später erkannt und wie in Freiheit dem Spott anderer ausgesetzt sind. Interessanterweise hat sich trotz der AIDS-Situation im Verhalten dieser Personen nichts geändert, soweit es den Anstaltsbereich betrifft. Zuerst spürte man ein wenig, wie beo220
bachtet wird, der Atem angehalten, aber schon nach wenigen Wochen lief alles wie vorher. Vielleicht war dies auch ein Zeichen von gewisser Verzweiflung durch die Haftsituation, in der niemand bereit ist, den kleinen, gewiß nicht leicht erkämpften Freiraum auch noch aufzugeben. Nun sind es aber oft die ohnehin voller Persönlichkeitsstörungen steckenden Leute, die in Freiheit daran gescheitert sind, hier aber durch gewisse »Talente« eine Art Zenit für andere darstellen, die junge Gefangene an sich ziehen, früher oder später gebrauchen oder verführen, vor allem sind die ein leichtes Opfer, die in eine Phase der Depression eintauchen. Nicht selten wird ein vorher rein heterosexuell veranlagter Mann zum »Knast-Schwulen« umerzogen. Welche Wirkungen auf Psyche und Selbstentfaltung diese Verhaltensweise verursacht, nach Jahren der Haft, kann sich jeder selbst ausmalen. Ein echtes Problem und fast schon eine Gefahr für junge Häftlinge sind dann jene, die in den Medien als HARTE KERLE, SCHWERE BURSCHEN, ZUHÄLTER oder VERBRECHER tituliert werden und die aus dem Milieu einen gewissen Ruf mit ins Gefängnis bringen. Unter denen ist es schon zum Statussymbol geworden, einen jungen Gefangenen als »Knaben« zu besitzen. Manche kaufen sich den, andere erpressen den Neuling auf ganz stupide Art, um ihn zu sexuellen Dienstleistungen heranziehen zu können. Zusammengefaßt, um den homosexuellen Bereich für diesmal abzuschließen, kann man feststellen: Die Realos unter ihnen schaffen sich im Gefängnis eine für die Beteiligten befriedigende (im wahrsten Sinn des Wortes) Situation; die anderen werden zwischen Wunschdenken und Nothandlungen 221
hin und her gerissen. Was für nicht wenige in einer seelischen Verkrüppelung endet, die es später, nach der Haft, fast unmöglich macht, in eine partnerschaftliche Beziehung hineinzuwachsen. Als letzte Gruppe die Onanisten: Der Bereich gliedert sich in jene, die ihren Trieb gierig und ungeniert, oft für die anderen peinlich, belästigend (in Gemeinschaftszellen durch bestimmte Geräuschentwicklung) ausleben; und die, die verdrängen und daran zerbrechen, und die anderen, die es nehmen, wie es kommt und für sich einen Weg gefunden haben, von dem sie meinen, damit die Haftzeit so zu überstehen, daß sie weder im geistigen noch körperlichen Bereich eine sexuelle Schizophrenie züchten. Bei jedem aber spielt der persönliche Stolz und Charakter eine Rolle. Zwei Fakten, die jemand hat oder nicht, die niemand kaufen oder erlernen kann. Vor allem zu Beginn einer Haftzeit masturbieren viele mehrmals pro Tag/ Nacht und erst im Laufe der Monate, Jahre erreichen sie einen Rückgang auf ein natürliches Bedürfnis-Onanieren. Nicht erst einer ist aber von dem einem Extrem ins andere abgestürzt und junge Männer, um Dreißig, zählten zu den Impotenten. Eine psychische Belastung, die sich vor allem in Selbstbeschädigungen (Venen aufschneiden, Teile von Ohren, Nase oder Geschlecht verstümmeln; sich Kot injizieren und vieles mehr) widerspiegelt. Auf Befragen geben diese Personen, vieles spielt sich ja unbewußt ab, Dinge aus dem Alltag an; weil sie z.ԜB. etwas nicht bewilligt bekommen haben, was von den Justizbehörden nur zu gerne in den Akt genommen wird, statt näher auf die wahren 222
Hintergründe so mancher Eskalation gegen sich und/ oder andere einzugehen. Viele steigern sich mit diversen Stimulationsmitteln (vom Pornoheft bis zu Mitteln aus dem S/ M-Bereich) in neue Sexual-Phantasien und züchten sich so einen sexuellen Geist, der nach immer härterem Stimulans verlangt … womit sich ein Teufelskreis zu schließen beginnt. Aus einem Einbrecher, Räuber wird im Laufe der so verlebten Jahre ein Mann voller Komplexe und sexueller Abartigkeiten, der sich später als Sexualattentäter entpuppt. So mancher Suizid hat seine Ursachen im sexuellen Bereich. Vor allem Personen, die so schon nicht zu Rande kommen mit sich und der eigenen Sexualität, erleben nach einer Masturbation eine unheimlich große Leere … in der eine vorher existente Aggression mit gleicher Wucht in eine Depression gleitet. Gibt (es muß ja nicht immer der Koitus, der totale Fick sein) es in Freiheit viele Arten von »Glücksgefühl-Empfinden«, z.ԜB. Umarmungen, Streicheleinheiten, Küsse oder auch nur mit den Augen schöne Menschen genießen, so bleibt auch diese Möglichkeit einer Ersatzbefriedigung ausgeschlossen. IV. Wenn ein Gewerkschaftsmann und Personalvertreter für Justizwachebeamte in einer parlamentarischen Anfragebeantwortung die Aussage macht: »… auch unsere Herren Politiker müßten wissen, daß Häftlinge deshalb scheitern, weil sie nicht gewillt sind, ihren Lebensunterhalt durch geregelte Arbeit zu 223
bestreiten … daß Häftlinge faul sind … man ihnen keinen Fleiß zutrauen kann und deshalb eine Häftlingsarbeit nur als Therapie anzusehen sei …«, nur um einen Versuch abzuwürgen, der dem Häftling neben einem angemessenen Lohn auch eine soziale Hilfestellung für die Zeit nach der Haft geben sollte, dann zeichnet dies ein symbolisches Bild des derzeitigen Stafsystems und von dessen Inhalten. Die Verantwortlichen im Justizbereich schweigen zu diesen menschenverachtenden Zynismen, und ein nicht kleiner Teil der Öffentlichkeit nickt Beifall. Die Gründe mögen vielfältig sein, aber zwei Punkte möchte ich hervorheben: 1) Die Öffentlichkeit wird über das Leben eines Häftlings immer nur dann informiert, wenn es zu einem negativen Eklat kommt, dann haben die Titelseiten der Printmedien ihre Schlagzeile, und die Verantwortlichen der Justizarbeit können dann die Schwere ihrer Aufgabe beweisen. 2) Tritt ein Verantwortlicher der Justizverwaltung mittels dieser Printmedien an die Öffentlichkeit, so berichtet und zeigt er naturgemäß die schönen Seiten seiner Tätigkeit. (Auch ein Tischler wird nur sein bestes Möbelstück vorzeigen.) Der Häftling selbst aber kann und darf sich während der Haft nicht persönlich an die Öffentlichkeit wenden bzw. sich dieser Öffentlichkeit präsentieren. So schließt sich ein Kreislauf: Der Verbrecher wird von der Straftat bis zur Entlassung als Verbrecher beschrieben, vorgeführt und ist dem wehrlos ausgesetzt. Der Justizvertreter kann ungehindert und ohne Hemmungen über diesen Verbrecher referieren, damit seine »schwere Aufgabe« begründen und über ihn Berichte schreiben, die alle als Fakten 224
im Akt landen und den Häftling auf diese Art Zeit seines Lebens begleiten. Ein Delinquent, der sich einer Öffentlichkeit stellen könnte und dürfte, dabei im positiven Lichte erscheint, bedeutet für den Justizvertreter eine Belastung, weil er nicht mehr unter Ausschluß der Öffentlichkeit nach Schablonen verfahren, berichten und sanktionieren könnte. Aber vor allem würde dann die Öffentlichkeit, auf die sich die Justiz so gerne beruft, sensibilisiert reagieren und Fragen aufwerfen, deren Beantwortung weder einfach noch bequem, eher in vielen Bereichen peinlich wäre. Und wenn ein Justizvertreter, der mehr als 40 Jahre ministerielle Gesetzesarbeit geleistet hat, in einem direkten Gespräch auf solche Fragen zur Antwort gibt: »Schauen Sie, mich wundert Ihre Frage etwas, denn Sie sind doch nicht dumm! Ein Gesetz wurde und wird nie gemacht, um Gerechtigkeit zu finden, diesen Idealzustand kann es niemals geben, sondern immer nur dafür, um dies möglich zu machen, was man haben will und dies unmöglich zu machen, was nicht sein soll!« dann kann ich ihm aus meiner heutigen Erfahrung nur recht geben und die Kraft, die ihm eine solche Aussage gekostet haben mag, findet sich wohl in der Weisheit des Alters. V. Ob ein Essen einmal nicht so schmeckt, ein Kinofilm (alle drei Monate) fad ist, ein TV-Film (einmal pro Woche und vom Video, einen realen TV-Empfang gibt es auch heute noch nicht im Strafvollzug) mehr ärgert als freut, der Ton eines Be225
amten (oder umgekehrt) provoziert: dies sind nicht die entscheidenden Fakten im Vollzug. Damit muß jeder leben, wie es auch in Freiheit nicht nur Angenehmes gibt … Gewisse Reibungspunkte und Mischungen aus Anti- und Sympathie können in Bezug zur Freiheit gleich gesehen werden. Der Haftalltag (und -nacht) wird ja von den Gefangenen selbst bestimmt. Jeder belauert den anderen. Immer ist die Frage: Was will er von mir? existent. Die Sexualität wird zwar in allen Strafvollzugsdiskussionen ausgespart und direkt mit Peinlichkeit vermieden, womit man aber nicht um die Tatsache herumkommt, daß in einer Anstalt sexuelle Begierde vielen Eskalationen, sei es eine Selbstverstümmelung, ein Raufhandel, vorausgeht. Oft unbewußt, weil auch unbewältigt vom Betroffenen selbst. Da kommt es dann zu den schizophrenen Situationen, wo sich einige nachts umarmen und tagsüber verfluchen. Den Rest besorgen dann Haß und Neid und bei vielen das gestörte Verhältnis zu sich selbst. Dieser Massendruck auf den einzelnen (wer Schwächen zeigt, wird zu Sklavendiensten, wie Klo reinigen, Bett des anderen richten, u. a. m. herangezogen) führt dann dazu, daß es zu unerklärbaren Auswüchsen kommt. Diese Ergebnisse resultieren aus der Tatsache, daß viele auf engstem Raum, dem anderen aufgezwungen, zusammenleben müssen. Fast niemand hat in diesem Sog auch noch die Kraft, so zu sprechen, sich so zu geben, wie er fühlt. Ehrlichkeit wird als Feindbild erlebt und verdrängt. Die sprachliche Armut eines Häftlings resultiert vor allem aus diesen Verhaltensweisen, die total entstellen, der Persönlichkeit 226
widersprechend funktionieren. Wie aber soll eine verkrüppelte Seele glatt werden, wenn selbst (symbolisch und realbezogen) die Verrichtung am Klo öffentlich ist, beobachtet, belacht, besprochen wird? (Vor allem in den Gemeinschaftszellen.) Die Kosten, die dieser Verwahrvollzug verursacht, sind bekannt. Auch die Tatsache, daß ein bedingt Entlassener, von der Bewährungshilfe beaufsichtigt, sozusagen »billiger« kommt. Das Wort Resozialisierung wurde von der Justiz aufgenommen und wird immer häufiger für den Zeitpunkt nach der Entlassung (der Öffentlichkeit) verschoben. Warum ist es so schwer bis unmöglich, schon während der Haft die aktiv unterstützende Hilfe der Strafvollzugsbehörde zur Aufbauarbeit einer Zukunft nach der Haft zu bekommen? Dient dies doch nicht nur dem Delinquenten, sondern vor allem auch einer Verbrechensvorbeugung! Aber genau diese, von der Vollzugsbehörde bei Ablehnungen vorgeschobene Öffentlichkeit bekommt dann den Gefangenen und soll ihn nicht nur akzeptieren, sondern an und mit ihm nachholen, was während der Haft versäumt wurde. VI. 13. Oktober 1989/ Universität Salzburg: Unter anderem referiert der österreichische Bundesminister für Justiz, Dr. ԜEgmont Foregger, über die Arbeiten mit und aus dem Strafvollzug, mit folgender Aussage: »… ferner über den Plan, im Zuge der Strafvollzugserneuerung eine Arbeitslosenversicherung für Häftlinge einzuführen. 227
Die Justiz bestehe nicht nur aus Lucona, Noricum oder WEB, sondern sie sei auch ein Dienstleistungsbetrieb, deshalb weise er auch ganz besonders auf Pläne seines Ressorts für den Rest dieser Legislaturperiode (bis Herbst 1990) hin. Was alles davon noch realisierbar sei, könne er selbst nicht garantieren.« Ferner erhoffte er sich, im Zusammenhang mit einem EGBeitritt Österreichs, eine nicht allzu große Abgabe von Souveränität auch für seinen Bereich. »Jedoch werden auf den Altar des gemeinsamen Marktes viele Gaben zu legen sein«, meinte der Minister. (Kurier, 14. Oktober 1989) Analysiert man diese Aussagen, wird ein Kenner der Situation mit einem: »Nicht schon wieder!« reagieren. Die einzelnen Punkte: Seit 1971 wird in gewissen Zeitabständen immer wieder über eine soziale Absicherung für die Zeit nach der Haft diskutiert. Geschehen ist bis heute noch nichts. Der Haftentlassene hat weder eine Arbeitslosenversicherung noch eine Krankenkasse. Strafvollzugserneuerung: Von 1971 bis 1978 wurde durch die Reformtätigkeit des verstorbenen Justizministers Christian Broda einiges in Bewegung gesetzt und in Gesetzesrang aufgenommen. Von 1978 bis 1982 stagnierte diese Reformierung. (Aus Altersgründen schied Broda 1982 aus dem Amt.) Von 1982 bis 1986 (Bundesminister Dr. ԜHarald Ofner) wurde sehr viel aus der Arbeit und den Grundlagen Brodas zurückgenommen, was dadurch erklärbar ist, daß sich Dr. ԜHarald Ofner bei seiner Tätigkeit als Justizminister mehr an den Schlagzeilen der Printmedien orientierte als an einer 228
effizienten, aber nicht so populistischen UrsachenForschungsarbeit im Strafvollzug. Von 1986 bis zum Sommer 1990 (neuerliche Diskussion über eine angemessene Entlohnung für Häftlingsarbeiten) war der Strafvollzug auf einem unbeachteten Nebengeleise abgestellt. Nachdem in den letzten Monaten die kritischen Hinterfragungen zum Thema von mehreren Seiten erhoben wurden, wird über Neuerungen nachgedacht und es scheint dabei unberücksichtigt zu bleiben, daß heute noch nicht einmal jene gesetzlichen Möglichkeiten realisiert wurden, die Broda bereits vor mehr als 15 Jahren der Öffentlichkeit präsentiert hatte. Die Aussage, nach dreieinhalb Jahren Amtszeit des Bundesministers: »… wieviel von diesen Erneuerungen noch in dieser Legislaturperiode (die kein Jahr mehr beträgt) realisierbar sei, könne er nicht garantieren«, ist sehr ehrlich und sagt auch schon wieder alles aus, was die nächsten Monate bis zur Konstituierung einer nächsten Regierung passieren wird. * Was den angesprochenen Bereich Souveränität im Rahmen eines EG-Beitritts Österreichs für den Problemkreis Justiz, betrifft so wissen die Verantwortlichen sehr genau, wo sich Österreich mit seiner juristischen Realität befindet. Vor allem auch auf dem Gebiet der Strafprozeßordnung: In keinem Staat der europäischen Gemeinschaft wird ein Prozeß in derart kurzer Zeit abgewickelt wie in Österreich. Dauern Prozesse in größeren Verfahren in Österreich im Schnitt acht bis zwölf Verhandlungsstunden, wobei ein Gerichtspsychiater sogar eine *
Bis zur Drucklegung des Buches und zum Ende der Legislaturperiode hat
sich dies vollinhaltlich bestätigt. 229
Beweiswürdigung vornehmen kann, die ihm vom Gesetzgeber her gar nicht zustehen würde, so genügt ein Blick über die Grenzen, um zu sehen, daß allein die Einvernahmen zur Person eines Angeklagten länger dauern als hier das gesamte Verfahren. Dies gilt aber auch für den Strafvollzug: In allen EGStaaten sind der Besuchsausgang, der Hafturlaub – vor allem zu Weihnachten, die Möglichkeit mit dem Anwalt oder Angehörigen zu telefonieren, der Freigang und gegenwarts-, bzw. zukunftsorientierte Berufsausbildung und dies alles auch im Bereich der lebenslangen Freiheitsstrafe, aber auch die Erstellung eines Vollzugsplanes, der dem Häftling bekanntgegeben wird; sowie eine Besuchsregelung, die es jenen Gefangenen, die keinen Ausgang bekommen können, einen halbwegs die Intimsphäre achtenden Besuch ermöglicht, seit den 70er Jahren feste Bestandteile des Strafvollzuges, der in keinem Land der EG so restriktiv gehandhabt wird wie in Österreich, wo es selbst real-humanen und arbeitsfreudigen Anstaltsleitern, aber auch anderen Personen, die daran interessiert sind, unmöglich gemacht wird, im Häftling mehr zu sehen als einen verwahrten Delinquenten und wirkliche Resozialisierungsarbeit aktiv zu fördern. Im besten Fall dulden diese Personen die Bemühungen des einzelnen, sehr oft mit dem Ergebnis, daß sie von den Beamten im Ministerium eine Rüge, mittels Bundeserlaß, zugestellt erhalten. So schließen sich Kreise auf verschiedenen Ebenen und haben doch alle den gleichen Erfolg: den Nihilismus für Sache und Person. Erstdruck in: Kärntner Volkszeitung, Oktober 1989 230
DER AUTOR Jack Unterweger, geb. 1950 in Judenburg als unehelicher Sohn der Theresia Unterweger und des amerikanischen Offiziers Frank M. Van Blarcom (New Jersey). Wuchs bei Pflegeeltern und in Heimen auf, fing eine Kellnerlehre an und arbeitete dann in verschiedenen Berufen in Österreich, Italien, der Bundesrepublik und der Schweiz. Nach einem Crescendo seines chaotischen (15 Vorstrafen) Lebens passierte 1974 in der BRD eine Straftat (mit Beteiligten), bei der eine Person ums Leben kam und wofür Jack Unterweger 1976 zu lebenslänglichem Kerker verurteilt wurde. 1978 machte er als Externist seinen Hauptschulabschluß, absolvierte dann einen Fernkurs für »Die Technik der Erzählkunst« und lernte Maschinschreiben. Seit 1979 arbeitet er für den Kinderfunk des ORF Wien und des Bayerischen Rundfunks, 1982 erhielt er für sein Stück »Endstation Zuchthaus«, 1986 für »Cri de Detresse« jeweils das österreichische Dramatikerstipendium; ab 1985 gibt er die Literaturzeitschrift »Wortbrücke« heraus. 1983 erschien sein Roman »Fegefeuer oder Die Reise ins Zuchthaus«, der 1987 auch verfilmt wurde. Seit 23. Mai 1990 ist Jack Unterweger frei und lebt in Wien.