Howard Nothhaft Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis
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Howard Nothhaft Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis
Organisationskommunikation. Studien zu Public Relations/ Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikationsmanagement Herausgegeben von Günter Bentele Die Reihe „Organisationskommunikation. Studien zu Public Relations/Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikationsmanagement“ zielt darauf, wesentliche Beiträge zur Forschung über Prozesse und Strukturen der Kommunikation von und in Organisationen in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu leisten. Damit kommen vor allem Arbeiten zum Tätigkeits- und Berufsfeld Public Relations/Öffentlichkeitarbeit und Kommunikationsmanagement von Organisationen (Unternehmen, politische Organisationen, Verbände, Vereine, Non-Profit-Organisationen, etc.), aber auch zur Werbung oder Propaganda in Betracht. Nicht nur kommunikationswissenschaftliche Arbeiten, sondern auch Beiträge aus angrenzenden Sozialwissenschaften (Soziologie, Politikwissenschaft, Psychologie), der Wirtschaftswissenschaften oder anderen relevanten Disziplinen zu diesem Themenbereich sind erwünscht. Durch Praxisbezüge der Arbeiten sollen Anstöße für den Professionalisierungsprozess der Kommunikationsbranche gegeben werden.
Howard Nothhaft
Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis Theoretische Annäherung auf Grundlage einer teilnehmenden Beobachtungsstudie
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Die Arbeit wurde gefördert durch Hering Schuppener, Frankfurt/Düsseldorf. Zugl. Dissertation an der Universität Leipzig, 2010
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: STRAUSS GMBH, Mörlenbach Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17649-9
Jeder Philosoph verfügt neben dem formalen System, mit dem er vor die Welt tritt, noch über ein zweites, weit einfacheres, ohne sich möglicherweise dessen bewusst zu werden. Weiß er darum, wird er wahrscheinlich erkennen, dass es nicht ganz genügt; er hält es daher geheim und bietet dafür ein ausgeklügeltes System; er selbst glaubt daran, weil es seinem ursprünglichen System ähnelt; andere aber sollen es gelten lassen, weil er es nach seiner Ansicht so gestaltet hat, dass es nicht zu widerlegen ist. Der Eindruck des Ausgeklügelten entsteht, weil darin Widerlegungen widerlegt werden; das allein ergibt aber noch kein positives Resultat; es beweist bestenfalls nur, dass eine Theorie wahr sein kann, aber nicht sein muss. Das positive Ergebnis verdankt der Philosoph, so wenig er sich darüber auch klar sein mag, den vorgefassten Meinungen seiner Einbildungskraft oder dem, was Santayana mit „animalischem Glauben“ bezeichnet. Bertrand Russell, Philosophie des Abendlandes, I.II.23 (Die Physik des Aristoteles)
The orator, or politician, who can produce such a state of things, is commonly popular with his contemporaries; however he may be treated by posterity. All perceived that more was meant than was uttered, and each believed that the hidden meaning was precisely such as his own faculties enabled him to understand, or his own wishes led him to anticipate. James Fenimore Cooper, The Last of the Mohicans
A cynic might say that complexity is a euphemism for ignorance: what we don’t understand is complex. Unbekannter Autor
Wenn die post hinters fenster fährt blühn die eisblumen gelb Reiner Kunze
Meinen Eltern Hartmut und Susan Nothhaft.
Danksagung
Ein ganz großes Dankeschön geht an Günter Bentele, Bernd Schuppener und die Stiftung zur Förderung der PR-Wissenschaft an der Universität Leipzig (SPRL) – ohne sie wäre die Arbeit nicht möglich gewesen. Ein großes Dankeschön geht natürlich auch an die Beobachtungskandidaten, die so interessiert, freundlich und aufgeschlossen waren, den seltsamen Herrn Nothhaft bei sich aufzunehmen und ihn über die Schultern schauen zu lassen. Darüber hinaus gibt es noch viele Kolleginnen und Kollegen in Leipzig und anderswo – auch ihnen danke ich für Kommentare, Kritik und Kontakte. Mein größter Dank gilt Camilla.
Inhaltsverzeichnis
A)
Public Relations goes Kommunikationsmanagement? ...................................................................... 17 I)
Kommunikation + Management = Kommunikationsmanagement? ............................................... 23 1. 2. 3.
II)
Management: „Verantwortung für“, „Macht über“, Resultatsorientierung............................................. 23 Kommunikation: Zu-verstehen-Geben und Bedeutungsunterstellung .................................................... 25 Kommunikation + Management = Kommunikationsmanagement?........................................................ 34 Forschungsparadigma, -logik, -prämissen, und fünf Resultate prima facie................................... 36
1.
Erstes Resultat und drei Axiome: „Kommunikation“ sprich „PR“ ......................................................... 37 1.1 Kommunikation in der Praxis = PR-Kommunikation.................................................................... 38 1.2 Die Definitionsmisere ..................................................................................................................... 39 1.3 Drei Axiome als Alternative zu einer PR-Definition ..................................................................... 42
2.
Zweites Resultat: Professionelle Organisationspraxis ............................................................................. 45 2.1 Public Relations als soziale Praxis ................................................................................................. 46 2.2 Zweck, Ziel, Mittel: Modus, Relation, Funktion – ein eigener, offener Vorschlag ...................... 48 2.3 Die Verschiebungsthese revisited: Von PR zu Kommunikationsmanagement ............................. 60
3. 4. 5. 6.
Drittes Resultat: Die Akteur-im-System-Perspektive .............................................................................. 64 Viertes Resultat: Kommunikationsmanagement Kommunikationsmanager-Sein .............................. 68 Fünftes Resultat: Management Game, Managementlogik....................................................................... 76 Kommunikationsmanagement: Der Evolutionssprung der PR revisited ................................................. 84 6.1 Die Verschiebung komplexitätstheoretisch gewendet: Eine Push-Pull-Beziehung ...................... 85 6.2 Professionelle Organisationspraxis: Richtig und falsch, Regel- vs. Resultatsorientierung ........... 88 6.3 Professionelle Organisationspraxis: Die Rede von gut und schlecht............................................. 98
7.
Eine reflexive Praxis? Die Definitionsmisere revisited und das Beobachterproblem .......................... 102
III) 1. 2. 3.
Gang der Untersuchung, Überblick und Begriffe............................................................................. 108 Gang der Untersuchung: Überblick ....................................................................................................... 108 Struktur der Argumentation und Klarifizierung zentraler Konzepte ..................................................... 108 Randbemerkungen, das Verständnis der Arbeit erleichternd ................................................................ 113
12
Inhaltsverzeichnis
B)
Methode und Methodendiskussion – PR Research goes Management Research? ....................... 115 I)
Die akteurszentrierte Managementforschung................................................................................... 117 1.
Die Tradition analytisch-funktionaler Modelle in Management-/PR-Lehre ......................................... 118 1.1 Die Tradition analytisch-funktionaler Modelle in der Managementlehre ................................... 118 1.2 Die Tradition analytisch-funktionaler Modelle in der PR-Lehre ................................................. 121 1.3 Der Gegenentwurf: Akteurszentrierte Forschung ........................................................................ 122
2.
Akteurszentrierte empirische Managementforschung ........................................................................... 124 2.1 Der aktivitätsorientierte Ansatz: Verhalten und Handeln ............................................................ 125 2.2 Rollenorientierter Ansatz .............................................................................................................. 127 2.3 Managerfunktionen revisited: Der empirische Arm der Funktionsschule ................................... 139
3.
Kleinteilige Forschung vs. integrative, holistische Forschung .............................................................. 145
II)
Mintzbergs Shadowing-Studie ............................................................................................................ 150 1. 2.
Methode .................................................................................................................................................. 151 Resultate ................................................................................................................................................. 151 2.1 Resultate I: Work Characteristics ................................................................................................. 151 2.2 Resultate II: Die zehn Managementrollen .................................................................................... 157
3.
Kritische Diskussion und das Fehlen von Subjektivität, Sinn und Lernen ........................................... 162
III)
Die Shadowing-Studie des Autors ...................................................................................................... 165
1.
Forschungsdesign und Methodenmix .................................................................................................... 165 1.1 Interviews und Recherchen .......................................................................................................... 166 1.2 Strukturierte Observation ............................................................................................................. 168 1.3 Kommentare (Running Commentaries) ....................................................................................... 171 1.4 Anekdoten und Episoden .............................................................................................................. 171 1.5 Konversationen (Forschungs-/Feldgespräche) ............................................................................. 172
2.
Methodenapplikation .............................................................................................................................. 173 2.1 Selektion der Kandidaten: Zugang durch Vertrauensperson ....................................................... 173 2.2 Applikation theoretisch: Passiv-moderate Partizipation (Observer-as-Participant) .................... 177 2.3 Forschungsprozess praktisch ........................................................................................................ 178
3.
Kritische Design-, Methoden- und Prozessdiskussion .......................................................................... 181 3.1 Beobachtung als Königsweg?....................................................................................................... 182 3.2 Der qualitative Zirkel.................................................................................................................... 185 3.3 Elite Executives ............................................................................................................................ 190
Inhaltsverzeichnis
13
Die Unterwerfung unter die Managementlogik ................................................................................ 193
C) I)
Public Relations .................................................................................................................................... 194 1. 2. 3. 4. 5.
II)
Interpersonale Kommunikation.............................................................................................................. 196 Öffentliche Kommunikation .................................................................................................................. 197 Funktionale PR ....................................................................................................................................... 205 Public Relations als Beruf ...................................................................................................................... 210 Public Relations als System: Das publizistische System ....................................................................... 215 Management.......................................................................................................................................... 218
1. 2. 3.
Führung: Hierarchie und Autorität ......................................................................................................... 220 Management als Funktion ...................................................................................................................... 224 Management als Beruf: Ökonomisierung .............................................................................................. 228 3.1 Management als Beruf .................................................................................................................. 228 3.2 Ökonomisierung: Der Effizienzgedanke ...................................................................................... 229 3.3 Die Diffusion ................................................................................................................................ 230
4.
Exkurs: Reflektion und Theoretisierung ................................................................................................ 231 4.1 Die Entwicklung der frühen Management- und Organisationstheorie ........................................ 231 4.2 Ein Beruf ohne Ausbildung? ........................................................................................................ 237 4.3 Strategie: Das Erbe des Militarismus ........................................................................................... 238
5.
Institutionalisierung: Der professionelle Manager vom 19. zum 21. Jahrhundert ............................... 245 5.1 Management als Karriere.............................................................................................................. 247 5.2 Management durch Nicht-Manager: Der gute Arbeiter ist ein kleiner Manager......................... 248 5.3 Gegenthese: Designed by geniuses, to be run by idiots ............................................................... 251
6.
Die Top-Manager als soziale Elite ......................................................................................................... 253
III) 1. 2. 3.
Kommunikationsmanagement als wohlgeformte Praxis ................................................................. 256 Die Managementlogik, der Managerhabitus: Ingenieur, Buchhalter, Beamter, Offizier ..................... 257 Die PR-Logik, der PR-Habitus: Die Logik des dritten Weges .............................................................. 259 Fazit: Kommunikationsmanagement und die Synthese von Management- und PR-Denken ............... 269 3.1 Rational-systematisches Problemlösen ........................................................................................ 270 3.2 Arbeitsteiligkeit: Management in drei Dimensionen ................................................................... 282 3.3 Strategie: Gesamtverantwortung in Raum und Zeit ..................................................................... 296 3.4 Der geregelte Prozess und Kontrollmetaphorik ........................................................................... 307 3.5 Die wohlgeformte Konstellation .................................................................................................. 314
14
Inhaltsverzeichnis
D)
Das Management Game als Funktionslebenswelt – theoretische Fundierung ............................. 325 I)
Die Lebenswelt: Mensch, Organismus, Person ................................................................................. 328 1.
Erkenntnistheoretische Grundlagen: Definierung, Präzisierung, Orientierung..................................... 336 1.1 Definition fundamentaler Konzepte ............................................................................................. 336 1.2 Präzisierung: Reduktionismus ...................................................................................................... 342 1.3 Orientierung: Die entscheidende Frage ........................................................................................ 345
2. 3. 4. 5. 6. 7.
Lebenswelt I: Etwas von der Umwelt verstehen: Die Suche nach dem festen Boden .......................... 346 Lebenswelt II: Die Umwelt im Großen und Ganzen verstehen............................................................. 350 Ökonomie des Organismus: die persönliche Komplexitäts- und Ambiguitätsschwelle ....................... 358 Lebenswelt III: Was ist Umwelt? Realismus vs. Konstruktivismus .................................................... 360 Die Erfindung der Gesellschaft, Mythos und Logos ............................................................................. 365 Lebenswelt IV: Mentale Modelle und die „reale“ Welt ........................................................................ 370 7.1 Mentale Modelle im Rahmenkonzept .......................................................................................... 371 7.2 Mentale Modelle statisch .............................................................................................................. 373 7.3 Mentale Modelle dynamisch ........................................................................................................ 378
8.
Lebenswelt V: Theory of Mind und die „soziale“ Welt ........................................................................ 383 8.1 Der Akteur revisited: Die soziale Welt ........................................................................................ 385 8.2 Verstehen und Nichtverstanden-Werden: Macht, Einfluss und Ungewissheit ............................ 388 8.3 System und Lebenswelt: Dunbars Zahl ........................................................................................ 390
9.
Der „existenzielle Dreikampf“ des Managers: Kommunikation, Inszenierung .................................... 393 9.1 Der „existenzielle Dreikampf“ ..................................................................................................... 394 9.2 Ingroups, Outgroups und Felder in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts .................................. 396 9.3 Selbstinszenierung im „existenziellen Dreikampf“ ..................................................................... 398
II)
Das System und Systeme: Systemtheoretisch-kybernetisches Zwischenspiel ............................... 405 1.
System, Umwelt, Beobachter ................................................................................................................. 407 1.1 System ........................................................................................................................................... 407 1.2 System und Umwelt...................................................................................................................... 409 1.3 System und Beobachter ................................................................................................................ 412
2. 3.
Terminologische Präzisierung: Offene vs. geschlossene Systeme ........................................................ 414 Sinn und Unsinn der systemischen Perspektive .................................................................................... 417
III)
Manager-Sein im Management Game: Intervention in, für und durch komplexe Systeme ........ 420
1.
Praxis, Organisation, Institution – und System...................................................................................... 420 1.1 Soziale Praxis und System: Selbst- und Fremdorganisation ........................................................ 420 1.2 Von der sozialen Praxis zur Organisation .................................................................................... 423 1.3 Von der Organisation zur Institution: Selbstbezüglichkeit und Selbststeuerung ........................ 432
2.
System und Lebenswelt in Verschränkung ............................................................................................ 434 2.1 Regelung, Kontrolle, Management komplexer sozialer Systeme ................................................ 434 2.2 Lebensweltliche Unterwanderung: Das System als Funktionslebenswelt ................................... 440 2.3 Praxis, Job, Task, Rolle und Person revisited .............................................................................. 442 2.4 Das Management Game als Funktionslebenswelt........................................................................ 449 2.5 Der Durchgriff der Systeme auf die Lebenswelt: Der Kafka-Effekt ........................................... 452
3.
Lokus und Identität, das Re-entry der Organisation, der Nimbus der Professionalität ........................ 455
Inhaltsverzeichnis
15
Was Kommunikationsmanager tun, und warum ............................................................................ 459
E) I)
Die beobachteten Kandidaten ............................................................................................................. 460
II)
Das quantitative Skelett: Work Characteristics der beobachteten Kandidaten ........................... 465 1.
Arbeitszeit: Ein gewaltiges Pensum, kaum einmal Pausen ................................................................... 465 1.1 Arbeitszeit vs. Anwesenheitszeit .................................................................................................. 466 1.2 Büroarbeitszeit vs. Gesamtarbeitszeit: Abendveranstaltungen .................................................... 467 1.3 Fazit: The job is never finished .................................................................................................... 469
2.
Sessions (Arbeitsmittelpunkte): Dominanz von Schreibtischarbeit und Meetings ............................... 470 2.1 Sessions: Kompromiss zwischen hochauflösender Beobachtung und Plausibilität .................... 470 2.2 Anomalien ..................................................................................................................................... 473 2.3 Fazit: Arbeitsmittelpunkt sind Schreibtisch und Besprechungsraum .......................................... 474
3.
Aktivitäten: Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation ........................................................ 474 3.1 Ein fragmentiertes Aktivitätsbild: Chunks, Projekte, „Baustellen“ ............................................. 476 3.2 Kommunikation und Kontakte ..................................................................................................... 478 3.3 DESKWORK: Schreibtischarbeit ................................................................................................ 478 3.4 MEETWORK: Sitzungsarbeit ...................................................................................................... 482 3.5 Selbstgewählte Getriebenheit? Ereignis- vs. aufgabengetriebene Tagesabläufe ......................... 483 3.6 Meetings: Der Preis für Macht und Einfluss, zahlbar in Zeit ...................................................... 488 3.7 Fazit: Schreibtischarbeit und Sitzungsarbeit ................................................................................ 489
4.
Kontakte ................................................................................................................................................. 490 4.1 Kontakte intern und extern ........................................................................................................... 492 4.2 Interne Kontakte: Kontaktrichtungen ........................................................................................... 493 4.3 Externe Kontakte .......................................................................................................................... 497 4.4 Berater, Agenturen, persönliches Netzwerk und der Deputy....................................................... 498 4.5 Fazit: Kontakte nach innen, Kontakte nach außen ....................................................................... 502
5.
Fazit: Work Characteristics à la Mintzberg, aber… .............................................................................. 503
III) 1. 2. 3. IV) 1. 2. 3. 4. 5. V)
Die Funktionslebenswelt der beobachteten Kandidaten .................................................................. 505 Funktion in der Funktionslebenswelt ..................................................................................................... 505 Soziales Standing: Felder in der Funktionslebenswelt .......................................................................... 511 Das Management Game revisited .......................................................................................................... 517 Jobs, Tasks und Rollen der beobachteten Kandidaten .................................................................... 520 Jobs ......................................................................................................................................................... 520 Rollen ..................................................................................................................................................... 530 Tasks ....................................................................................................................................................... 537 Framing des Jobs .................................................................................................................................... 542 Fazit: Managementprobleme und die wohlgeformte Konstellation ...................................................... 544 Fazit: A Communication Manager’s Job – Mentale Modelle und die wohlgeformte Praxis....... 547
16
Inhaltsverzeichnis Resümee: Quo vadis Kommunikationsmanagement? ...................................................................... 551
F) G)
Index und Referenz .............................................................................................................................. 559 I)
Abbildungsverzeichnis ......................................................................................................................... 560
II)
Dokumentation der Daten ................................................................................................................... 563
III)
Literaturverzeichnis ............................................................................................................................. 565
A)
Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
„Öffentlichkeitsarbeit oder Public Relations ist das Management von Informations- und Kommunikationsprozessen zwischen Organisationen einerseits und ihren internen und externen Umwelten (Teilöffentlichkeiten) andererseits.“ Diese, von Günter Bentele formulierte (1997a, 22f.) und von James Grunig und Todd Hunt (1984, 6) inspirierte Definition predigte der Autor der vorliegenden Arbeit unzähligen Studenten in unzähligen Seminaren. Er hielt sie für richtig und wegweisend, und tut das noch immer. Für besonders richtig und wegweisend hielt er, moderne Public Relations als Kommunikationsmanagement zu begreifen, und das predigte er besonders. Je öfter er das tat, desto deutlicher wurde jedoch, wie vage und diffus der Begriff ist. Dass sich im Verlauf der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts eine Position in größeren Organisationen entwickelte, die über den PR-Chef hinausging, schien irgendwie selbstverständlich. Ebenso schien selbstverständlich, dass ebenjene Personen als Kommunikationsmanager agierten, dass man auf ihren Türschildern Direktor Unternehmenskommunikation, Senior Vice-President Corporate Communications las, nicht Pressesprecher oder Leiter Öffentlichkeitsarbeit. Die PR-Rollenforschung, die vorgab, die Trennlinie zwischen manager und technician sozialwissenschaftlich abgesichert ziehen zu können, tat ein Übriges. Irgendwie selbstverständlich blieb schließlich auch der Gedanke, dass es sich bei Kommunikationsmanagement und PR um zwei eng verwandte, unauflöslich miteinander verknüpfte Konzepte handelt; ja, dass das eine aus dem anderen hervorging. Public Relations goes Kommunikationsmanagement „Irgendwie selbstverständlich“ ist freilich ein verdächtiger Zustand, der der Erklärung bedarf. Die sich prima facie aufdrängende Erklärung ist die, dass im Verlauf der achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts eine terminologische Verschiebung stattfand. 1990 äußerte William Ehling, Direktor der akademischen PR-Ausbildung der Syracuse Universität, im Interview mit der Zeitschrift PR Reporter (Lapierre 1990a, 1990b; vgl. auch Spicer 1997, 37-39), der Terminus Public Relations sei durch die missbräuchliche Gleichsetzung mit marketingorientierter product publicity irreführend geworden, die Praxis benötige ein neues Etikett: It’s been abused, so perhaps it’s time to come up with a different name. I’m not endorsing the idea, but I’m considering it. PR has come to mean publicity for unsavory purposes. Serious practitioners find themselves constantly trying to explain that they are not publicists. They are handicapped rather than helped by the label. (Lapierre 1990b, 2)
H. Nothhaft, Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis, DOI: 10.1007/978-3-531-92671-1_1, © VS Verlag fuሷr Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
18
A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
Der Autor vermutet, dass man bald begann, Ehlings Idee umzusetzen. 1992 erschien, unter Mitarbeit Ehlings, der erste Band der von der International Association of Business Communicators (IABC) geförderten Exzellenzstudie, noch bis heute die wirkmächtigste empirisch gestützte Theoriearbeit (Grunig et al. 1992) – und sie erschien bereits unter dem Titel Excellence in Public Relations and Communication Management. In Kapitel 1, im Überblick über das Buch, führen die Autoren grundlegend aus: Thus far in this chapter we have used the terms public relations, communication management and organizational communication interchangeably. We have done so intentionally, recognizing that many practitioners disagree with our definitions. Although public relations is probably the oldest concept used to describe the communication activities of organizations, many organizations now use such terms as business communication and public affairs to describe these activities – in part because of the negative connotations of public relations. (Grunig et al. 1992, 4)
Kritische PR-Theoretiker sehen in den negativen Konnotationen freilich den eigentlichen Hauptgrund: „The term ‚communication management’ is apparently another effort to separate public relations from propaganda as well as to gain organizational status for the practice”, macht L’Etang in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit der Grunig’schen Theorie geltend (L’Etang 2008, 256). Ob die Abgrenzung von Propaganda tatsächlich die Wichtigkeit beansprucht, welche L’Etang herausarbeitet, sei dahingestellt. Dem Autor ist eine andere Diagnose der kritischen PR-Theorie wichtig: die, dass es bei der Verschiebung kaum zu einer Hinterfragung der Annahmen kam, welche im Terminus Management stecken. „Since managerial discourse and ideology has become so prevalent, the assumptions that lie behind the word ‚communication management’ may well remain unquestioned. However, it is surely quite reasonable to ask precisely what is meant by ‚manage’ in this respect” (L’Etang 2008, 256). Der Autor pflichtet L’Etang voll und ganz bei: Die Frage ist eine vernünftige. Im Rahmen der Verschiebung wandelten sich die „alten“, eng gezogenen Public Relations – die Grunig selbst, gemeinsam mit Todd Hunt, bereits als Management der Kommunikation zwischen einer Organisation und ihren Teilöffentlichkeiten definiert hatte – zum breiter angelegten, höher aufgehängten, „neuen“ Komplex Public Relations/Communication Management. Following Grunig and Hunt (1984, 6) we define public relations as the ‘management of communication between an organization and its publics.’ This definition equates public relations and communication management. Public relations/communication management is broader than specialized public relations programs such as media relations or publicity. Public relations and communication management describe the overall planning, execution, and evaluation of an organization’s communication with both external and internal publics – groups that affect the ability of an organization to meet its goals. (Grunig et al. 1992, 4)
Die Verschiebung ist bis heute nicht abgeschlossen, so dass die Konzepte PR und Kommunikationsmanagement in der Diskussion noch immer nebeneinander stehen – und auch neben anderen. Während sich bei der Bevölkerung ein Verständnis von PR entwickelt1, verschiebt sich der professionelle Jargon nach und nach. Er verschiebt sich weg von PR, hin nicht nur zu Kommunikationsmanagement, sondern zu generischen Komposita, die das 1 In der ersten repräsentativen Untersuchung des Images der PR-Branche in Deutschland wiesen Bentele und Seidenglanz (2004, 35ff.) nach, dass der Begriff Public Relations bei 78 Prozent der erwachsenen Bevölkerung bekannt ist: Die Menschen geben an, den Begriff schon einmal gehört, gelesen oder gesehen zu haben. 65 Prozent geben darüber hinaus an zu wissen, was er bedeutet.
A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
19
Wort Kommunikation in sich tragen. Natürlich gibt es den Beruf des Pressesprechers immer noch genauso wie die Leiterin Öffentlichkeitsarbeit. Konzepte wie Integrierte Kommunikation, Strategische Kommunikation oder auch Kommunikations-Controlling werden jedoch umgesetzt von Verantwortlichen, die Berufsbezeichnungen führen wie Corporate Communications Officer, Direktorin Unternehmenskommunikation oder Vice-President Corporate Communications. Die Personen stehen als „Kommunikationschefs“ wiederum Abteilungen vor, die Bezeichnungen à la Konzernkommunikation & Strategie oder Communication & Public Affairs tragen. Sie lesen das PRMagazin, den prreport oder die Mitgliederzeitschrift des Bundesverbandes der Pressesprecher (BdP) namens Pressesprecher genauso wie das von der Deutschen Public Relations-Gesellschaft (DPRG) herausgegebene Magazin Kommunikationsmanager oder den European Communication Director. Und auch in der akademischen Terminologie setzt sich Kommunikationsmanagement sukzessive durch. Zwar werden noch immer Schriften publiziert, welche mit Public Relations als zentralem Begriff operieren. Andere Autoren, aus welchen Gründen auch immer, vermeiden die Vokabel jedoch und handeln von Unternehmenskommunikation, Corporate Communications, strategischer Kommunikation – oder eben Kommunikationsmanagement. Nebeneinander stehen auch die Titel der wissenschaftlichen Journale. Wer sich wissenschaftlich mit der Thematik auseinandersetzt, liest einerseits die alteingeführten Publikationen wie Public Relations Review und Journal of Public Relations Research, greift andererseits aber zu neuen Publikationen wie dem Journal of Communication Management oder dem International Journal of Strategic Communication. Die schleichende Substitution des PRBegriffes durch den Begriff Kommunikationsmanagement lässt sich ferner an den Bezeichnungen der Studiengänge ablesen. Beispiel Leipzig: Während der unter Günter Benteles Ägide 1994 eingeführte Schwerpunkt im Magisterstudium der Universität Leipzig noch ‚Public Relations/Öffentlichkeitsarbeit’ hieß, lautete die Bezeichnung des 2002 eingeführten Bachelor-Studienganges bereits ‚Public Relations/Kommunikationsmanagement’; der 2006 gestartete Master-Studiengang heißt nur noch ‚Communication Management’. Die Fragen, die sich angesichts eines derartig babylonischen Sprachgewirrs aufdrängen, sind freilich: Wo, genau, ist der Unterschied? Wo sind die Zusammenhänge? Was unterscheidet Kommunikationsmanagement von Public Relations? Was ist Kommunikationsmanagement? Was tun Kommunikationsmanager? Was tun sie, was PR-Manager nicht tun? Die Eigendynamik von Begriffen Die vorliegende Arbeit vermag das babylonische Sprachgewirr nicht aufzulösen, es existiert. Das Ziel der Arbeit ist aber, einen Beitrag dazu zu leisten, dass jeder – sei es ein wissenschaftlicher Beobachter oder ein reflektierender Praktiker – in Auseinandersetzung mit sich selbst zu einer besseren, durchdachteren Antwort auf die angerissenen Fragen gelangt. Der Fokus verschiebt sich also, um die Unterscheidung bei Kirsch (1977) zu gebrauchen, weg von einer Lehre für, hin zu einer Lehre von. Der Beitrag besteht darin, sich mit Kommunikationsmanagement respektive Kommunikationsmanagern auseinanderzusetzen und die Vagheit und Diffusität, wie sie der Autor empfindet, zu durchdringen. Eine der wichtigsten Annahmen des Autors in diesem Zusammenhang ist die, dass Begriffe eine Eigendynamik entfalten, welche diejenigen, die sie in einen Diskurs einführen, nicht immer überblicken. Konkret: wenn PR-Theoretiker wie Grunig und Hunt die „alte“ PR zum „neuen“ Kommunikationsmanagement umstilisieren, dann entfesseln sie die Eigendynamiken der zwei generischen Begrifflichkeiten Kommunikation und Management. Praktiker, die nie ein PR-Buch aufgeschlagen haben, verstehen sich mit einem Mal als
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A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
Manager; aber natürlich orientieren sie sich nicht an der PR-Rollenforschung und ihrem Begriff von Manager, nicht an der Typologie, die Broom und Smith (1979), Broom (1982) und Broom/Dozier (1986) entwickelten (vgl. auch Dees/Döbler 1997; Dees 1996). Sie orientieren sich an ihrem präexistierenden Bild eines genuinen Managers, und sie orientieren sich an den anderen Managern in ihrer Organisation, deren „management talk“ sie jeden Tag hören, deren Glauben und Irrglauben an „management fads“ in ihre Berufsrealität eindringt (zu Managementmoden Abrahamson 1996; Spell 2001; Huczynski 1993; jüngst auch Rademacher 2009, 86ff.). Wissenschaftler beginnen, sich mit dem Begriff der Kommunikation auseinanderzusetzen und sie tun das ausgreifend und tiefschürfend, aber wenn sie niemals einen Tag in einer PR-Abteilung verbracht haben, dann gerät aus dem Blickfeld, dass PR-Kommunikation einen spezifischen Typus von Kommunikation darstellt, nicht Kommunikation allgemein. Wo Wissenschaft auf Praxis trifft, kommt es schließlich zu einer brisanten Reaktion: Theoretiker zeichnen Konzepte vor, die dann und nur dann in sich stimmig sind, wenn man die verwandten Begriffe in exakt der Art und Weise gebraucht, in der sie gebraucht werden – im Zusammenstoß mit der Organisationsrealität gehen die Feinheiten jedoch erwartungsgemäß verloren: Was in den Köpfen der Praktiker hängen bleibt, sind die „buzzwords“ und „catchwords“, die sich in bereits bestehende working theories integrieren lassen. Für einen wohlverstandenen „practice turn“ Theorien und ihre subtilen Nuancen gegen andere Theorien und ihre subtilen Nuancen zu stellen, führt also nur begrenzt weiter, wenn es um ein tieferes und schärferes Verständnis von Kommunikationsmanagement geht. Was jedoch weiterführen könnte, ist ein „practice turn“, wie ihn Falkheimer und Heide (2008) fordern, wie ihn der Idee nach auch Rolke (2009) fordert. Zu fordern sind Ansätze, die von Anfang an in Rechnung stellen, dass Praktiker in ihrer Arbeit ihre eigenen Theorien zugrunde legen, dass sie mit eigenen Theorien umgehen, dass sie eigene Theorien benutzen. Unter einem „practice turn“ in der Lehre für das Kommunikationsmanagement ist also zunächst einmal eine Annäherung an derartige Theorien zu verstehen, und zwar in zweierlei Hinsicht. Erstens gilt es existierende working theories zu erforschen, zweitens gilt es neue, wissenschaftlich abgesicherte working theories zu entwickeln. Gerade wo Zweiteres geschieht, wo der „Gebrauch“ einer Theorie durch Praktiker implizit oder explizit der Anspruch ist, muss man sich jedoch Rolkes Frage gefallen lassen: Doch Hand auf Herz und Stirn: Wie viel ist tatsächlich von dem zu gebrauchen, was da durch Nachdenken und vor allem Nachlesen entstanden ist (vgl. dazu kritisch Avenarius 2000: 37ff.)? Vor allem für wen und wofür? Gerade mit Blick auf das Missverhältnis von blanker Reproduktion (Stand der Forschung wiedergeben), endloser Beschreibung des Sachverhalts (Gegenstand definieren und abgrenzen) und Methodendiskussion (Qualitätsanspruch beweisen) einerseits und dem wirklich Neuen einer Arbeit andererseits mag schon unter zeitökonomischen Aspekten Zweifel angebracht sein. (Rolke 2009, 173)
Die Qualifizierung „zunächst einmal“ gebrauchte der Autor, weil er unter einem wohlverstandenen „practice turn“, parallel und komplementär, noch etwas anderes versteht: eine anspruchsvolle Lehre nicht für, sondern von Public Relations und Kommunikationsmanagement, eine Theorieentwicklung, welche dem Praktiker als reflektiertem Akteur seinen gebührenden Platz einräumt, welche Praktikertheorie als die eigentliche „Software“ ernst nimmt – aber die wissenschaftliche Beobachtung auf eine Ebene hebt, die den Praktiker und seine theories-in-use (Argyris) gleichzeitig ins Auge fasst. Kückelhaus (1998, 18) legt
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den Finger auf den wunden Punkt, wenn sie ganz und gar ohne Polemik geltend macht, dass die wissenschaftliche Durchdringung von Public Relations und Kommunikationsmanagement erheblich erschwert werde durch einen Umstand: „Die Tatsache, dass keiner so genau weiß, was diese Menschen eigentlich tun“, schreibt die Autorin nach einer Skizze des Klischees des „Sektglashalters“, „ist sicherlich wenig hilfreich dabei, Tätigkeitsbereiche, Funktionen und Ziele wissenschaftlich wie praktisch genau zu beschreiben.“ Als Forscher, der sich für den Beruf Kommunikationsmanager interessiert, hat man sich daran gewöhnt, dass die Berufspraxis hinter verschlossenen Türen stattfindet, dass man gelegentlich Einblicke durch Selbstdarstellung der Praktiker erhält, dass man aus seinen eigenen Berufserfahrungen schöpft, dass man „schnappschussartig“ methodischen Zugriff durch schriftliche Befragung, Interviews oder andere Methoden herstellt, dass man die Wirkungen und Auswirkungen des beruflichen Handelns registriert. Komplementär und flankierend ist jedoch ein weiterer Weg zu fordern: dass der Forscher in die Berufspraxis „eintaucht“ und durch Beobachtung mehrerer Praktiker systematisch-interpretativ zu einem runderen, ganzheitlicheren Bild der Berufspraxis gelangt, Akteure als Akteure erlebt. Das fordert auch Zerfaß, der nicht nur für die Berufsfeldforschung, sondern für die Kommunikationsforschung insgesamt geltend macht: Es muss vielmehr immer um eine Analyse kommunikativer Beziehungsmuster gehen, und diese verlaufen gerade bei neueren Organisationsformen der Unternehmenstätigkeit (strategischen Holdings und Netzwerken) oft weit abseits aller überlieferten common-sense-Vorstellungen. Dies führt zu mannigfaltigen Anfragen an die Methodik der Kommunikationsforschung, die sich in Kenntnis der dargelegten Zusammenhänge wohl stärker mit interpretativen Vorgehensweisen auseinandersetzen müsste. Die Inflation schriftlicher Befragungen sollte durch exemplarische Fallstudien ergänzt werden, die sich auf teilnehmende Beobachtung und Interviews mit den Betroffenen stützen. (Zerfaß 2004, 318)
Willke (2005b, 86), das sei am Rande bemerkt, schlägt als Systemtheoretiker in ein und dieselbe Kerbe, wenn er geltend macht, dass die Intervention in komplexe soziale Systeme nicht mit Instrumenten der klassischen, der naturwissenschaftlichen Kausalanalyse zu fassen sei: „Wichtiger werden dagegen Verfahren und Instrumente, die in der Methodendiskussion unter den Stichworten ‚verstehend’, ‚ganzheitlich’, ‚qualitativ’, ‚hermeneutisch’ oder eben ‚systemisch’ behandelt werden.“ Die vorliegende Arbeit, die sich um eine teilnehmende Beobachtung von acht Kommunikationsmanagern, um ein Shadowing anlagert (für einen methodischen und methodenkritischen Überblick vgl. B.III), versteht sich als interpretativ, verstehend, ganzheitlich, qualitativ, hermeneutisch.2 Sie ist insofern systemisch in der Wortverwendung Willkes. Der Autor ist sich dabei bewusst, dass ein „Eintauchen“ niemals theoriefrei geschieht, dass in der „doppelten Hermeneutik“ sozialwissenschaftlicher Forschungsarbeit (zum Begriff vgl. Giddens 1995, 338ff.) vermeintliche Theoriefreiheit Rückfall auf ebenjene überlieferte Common Sense-Vorstellung bedeutet. Deshalb reibt der Autor Beobachtung und Literatur von Anfang an aneinander, deshalb vollzieht sich die Arbeit von Anfang an in einer Verschränkung von Theorie- und Feldarbeit.
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Zu Hermeneutik und hermeneutischer Methode grundlegend Gadamer Wahrheit und Methode (WuM, 11960).
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Der Preis der Verschränkung von Theorie- und Feldarbeit Freilich, alles hat seinen Preis – und der Preis der Verschränkung einer äußerst aufwändigen Feldstudie mit weitgreifender Theoriearbeit ist der, dass die Arbeit nicht rechts und links des Weges grasen kann. Der Preis im theoretischen Bereich ist der, dass sich die Arbeit nicht an jeder Theoriebildung reibt, sondern nur an ausgewählter. Die Kriterien sind folgende: Zum Ersten setzt sich der Autor zuvorderst mit Ansätzen auseinander, welche ganz und gar subjektiv und autobiographisch seine eigene Sicht geprägt haben – und die Prägung geschah bereits vor zwei, drei, fünf Jahren, im Rahmen seines Studiums. Zum Zweiten geht es dem Autor ausschließlich um Theoriebildung, welche mit dem Anspruch auftritt, einen in sich geschlossenen Entwurf vorzulegen – Fragmente und Skizzen fallen heraus. Drittens, und das ist mit Erstens verknüpft, geht es dem Autor in allererster Linie um Theoriebildung, welche den auf die Praxis wirkenden Mainstream repräsentiert: Definitionen mit Gegendefinitionen zu begegnen, die sich in Nuancen oder Vokabeln unterscheiden, führt die Arbeit nicht weiter. Obwohl der Autor eine Reihe anderer anspricht, erfüllen nur zwei Arbeiten wirklich die erwähnten Kriterien, und an ihnen reibt sich die Arbeit von Anfang bis Ende. Für den deutschsprachigen Raum ist das die 1996 erstmalig, 2004 in erweiterter Fassung vorgelegte theoretische Schrift von Ansgar Zerfaß. Für die internationale scientific community ist der wohl wirkmächtigste Ansatz die bereits erwähnte so genannte Exzellenztheorie, die ihren Niederschlag in vier Bänden gefunden hat (Grunig et al. 1992; Dozier/Grunig/Grunig 1995; Grunig/Grunig/Dozier 2002; Toth 2006). Für die empirische Seite und die Feldforschung ist der Preis der, dass sich die Diskussion anderer Studien, ihrer Methoden und Resultate in Grenzen hält. Was die Arbeit vermeiden möchte, ist zu einem Überblickswerk über empirische Managementforschung (vgl. z. Β. Schirmer 1992; Hales 1986; 1999; 2001), die Rollenforschung in der PR-Lehre (vgl. z. B. Grunig/Grunig/Dozier 2002, Kap. 6; Toth et al. 1998) oder die Tradition teilnehmender Beobachtung in der Kommunikations- und Medienwissenschaft zu werden (vgl. für die verschiedenen theoretischen Ansätze in der Journalismusforschung jüngst Raabe 2005). Das heißt auch, dass die Auseinandersetzung mit Methoden der empirischen Managementforschung unter B zielgerichtet und problemorientiert erfolgt, mit Blick darauf, die eigene Studie, die Shadowing-Studie des Autors, verständlich zu machen. Deswegen stellt der Autor nur Mintzbergs Arbeit (Mintzberg 1973) vor, an die sich seine eigene anlehnt. Zeitgenössische Studien – z. B. die Arbeiten John Kotters (1982a, 1982b, 1982c), Leonard Sayles’ (1964, 1979), Fred Luthans’ (1973) oder Rosemary Stewarts (1967, 1976, 1982) in der Managementlehre werden nicht in ihrem eigenen Recht vorgestellt. Auch andere Arbeiten aus der PR-Lehre, z. B. die Arbeiten von Anne Gregory (2007) oder Danny Moss, Rob Green, Gary Warnaby, Barbara DeSanto, Andrew Newman (Moss/Warnaby/Newman 2000; Moss/Green 2001; Moss/Newman/DeSanto 2004; 2005), welche eine ähnliche Agenda wie der Autor verfolgen, werden nicht in ihrem eigenen Recht vorgestellt. Das heißt, dass die Arbeiten zur Kenntnis genommen wurden: Wo Resultate der eigenen Studie in erhellender Art und Weise Resultaten anderer Arbeiten gegenübergestellt werden können, geschieht das. Entscheidend ist jedoch, dass der Autor seine eigene Argumentation durchgängig entfalten möchte.
I. Kommunikation + Management = Kommunikationsmanagement?
I)
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Kommunikation + Management = Kommunikationsmanagement?
In der Einleitung machte der Autor geltend, dass die Begriffe Kommunikation und Management eine Eigendynamik entfalteten, welche die PR-Lehre und Lehre des Kommunikationsmanagements in ein babylonisches Sprachgewirr führte. Management und Kommunikation sind seltsam schillernde Begriffe, Gegenstand unzähliger Annäherungen verschiedenster Disziplinen: unter managen und unter kommunizieren lässt sich alles und nichts verstehen. Um einen Ausgangspunkt zu haben, skizziert der Autor deshalb sein eigenes, vorläufiges Verständnis. Die Definitionen prima facie berühren bereits jene Konzepte und Vokabeln, welche erörtert werden, um zu einem scharfen, tiefen Verständnis des Kompositums aus Kommunikation und Management, Kommunikationsmanagement, zu gelangen. Auf Grundlage seines eigenen Verständnisses erörtert der Autor auch die Frage, inwiefern Kommunikationsmanagement nicht einfach durch Synthese der zwei Konzepte Kommunikation und Management zu fassen ist. 1. Management: „Verantwortung für“, „Macht über“, Resultatsorientierung Der Kybernetiker und Managementtheoretiker Malik postuliert eine simple Formel, die das Managementverständnis des Autors geprägt hat: „Management“, schreibt Malik, sei „der Beruf des Resultate-Erzielens oder des Resultate-Erwirkens“ (2006, 84). Resultatsorientierung ist für den Autor tatsächlich das A und O des Managementjobs. In den luftleeren Raum gestellt, besagt die Malik’sche Formel jedoch nicht viel. Der immense Unterschied zwischen Managementjobs und anderen tritt erst hervor, wenn man die Rede in einen Zusammenhang stellt. Ein Manager ist eine Person, die im Rahmen einer Organisation, z. B. eines Unternehmens, Verantwortung dafür übernimmt, dass in ihrem, mehr oder minder präzise definierten Verantwortungsbereich das arbeitsteilige Zusammenwirken derartig koordiniert geschieht, dass mehr oder minder präzise definierte Resultate erzielt werden. Damit der Manager seinen „Job“ erledigen kann, stattet die Organisation ihn, in der Regel vor dem Hintergrund einer Hierarchie, mit formaler Autorität aus: etwa mit Verfügungsgewalt über Ressourcen wie Zeit, Raum, Geld, Personal, Material etc. In erster Linie die formale Autorität, in zweiter Linie aber auch die Verantwortung, führen de facto dazu, dass der Manager innerhalb und außerhalb der Organisation über Macht und über Einfluss verfügt. Ergebnisverantwortung auf der einen, Verfügungsgewalt auf der anderen Seite haben Arbeiter, als Gegenentwurf zu Managern, natürlich auch. Je mehr ein Job jedoch ein „Managerjob“ ist, desto weniger sind übergeordnete Instanzen in der Lage, der Person von vornherein – bereits bei der Übertragung der Verantwortung – zu sagen, wie die Resultate erzielt werden. Managerielle Jobs sind komplex dergestalt, dass der Zusammenhang zwischen organisationsseitig zur Verfügung gestellten Macht- und Einflussmöglichkeiten und der übertragenen und seitens des Managers anerkannten Verantwortung vage und diffus ist. Oder, umgekehrt formuliert: Manager haben ein höheres Maß an Autonomie als Arbeiter. Was sie tun und lassen wird weniger von demands und constraints (vgl. Stewart 1982) seitens übergeordneter Instanzen in der Organisation determiniert – und mehr davon, wie
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sie glauben, die Resultate erzielen zu können, die sie erzielen sollen. De facto ist die Frage, wie mit welchen Ressourcen welche Resultate erzielt werden können und sollen, in letzter Konsequenz das eigentliche Managementproblem. Es ist das Problem, welches sich einem Industriearbeiter, einem Handwerker oder einem Professional im Kernbereich seiner Tätigkeit gerade nicht stellt: der Industriearbeiter bekommt Anweisungen, was er wie zu tun hat (Organisation); der Handwerker lernt, was er wie zu tun hat (Tradition); Professionals wie Wissenschaftler, Ärzte, Advokaten, Ingenieure und Architekten lernen wie sie lernen, was sie wie zu tun haben (Profession). Natürlich ist der Übergang zwischen Managern und Arbeitern, Handwerkern oder Professionals in der Organisationsrealität fließend – heutzutage, im Zeitalter des knowledge workers (zum Begriff, der von Peter Drucker geprägt wurde, vgl. auch C.II.5) fließender denn je. Natürlich geschieht es, dass der erfahrene Arbeiter, Handwerker oder Professional in die Rolle des Managers gerät, einen Managementjob oder Managementtasks übernimmt. Und nicht selten führt das zu Klagen: viele Wissenschaftler wollen z. B. wissenschaftlich arbeiten, nicht als ein Wissenschaftsmanager. Denn Autonomie als Kehrseite der Resultatsorientierung führt dazu, dass der Managerjob par excellence völlig anders aussieht als der eines Arbeiters, Handwerkers oder eines Professionals par excellence. Das eigentliche Metier eines Herzchirurgen ist es, Menschen zu heilen – das eigentliche Metier eines Managers ist Kontrolle. Das Material, welches ein Geigenbauer verarbeitet und für welches er ein Gespür entwickelt, ist Holz – das „Material“, welches Manager in letzter Konsequenz verarbeiten und für welches sie ein Gespür entwickeln, ist Komplexität: insbesondere die Komplexität von schlechtdefinierten Zusammenhängen, auch zwischenmenschlichen. Die größte Schwierigkeit, der sich ein Industriearbeiter gegenübersieht, ist eine unter Umständen anspruchsvolle Arbeit fehlerfrei und schnell zu bewältigen. Die größte Schwierigkeit, der sich eine Führungskraft gegenübersieht, ist Entscheidungen unter Unsicherheit fällen zu müssen, Spannungen in Kauf nehmen zu müssen, Zweifel aushalten zu müssen, eine Balance zu generieren, Ambiguität zu tolerieren (vgl. D.I.4; aus systemischer und verhaltenswissenschaftlicher Perspektive heraus argumentierend Simon 2007b, 122). Verantwortung und formale Autorität sind nicht zu denken ohne eine Organisation, welche sie überträgt, gewährt, aufzwingt. Denkt man jedoch eine Organisation, in der, für und durch die viele Manager mit mehr oder minder großer Autonomie agieren, tritt hervor, weshalb das „Spiel“ umso verwickelter ist, je höher ein Manager steigt (zum systemischen Spiel vgl. D.III; vgl. systemisch-systemtheoretisch Willke 2005b, 174-181; organisationstheoretisch-verhaltenswissenschaftlich etwa Crozier/Friedberg 1977; ähnlich auch Weick 1979): Alle versuchen, „ihre“ Resultate zu erzielen, indem sie ihre Autonomie und ihre Spiel- und Manövrierräume ausnutzen. Es tritt ferner hervor, dass formale Autorität lediglich die Spitze des Eisberges ist, dass die eigentlichen Themen Macht (power) und Einfluss (influence) sind, unter weitgehender Verflüchtigung der Unterscheidung von formal und informal. Macht bedeutet in diesem Zusammenhang Hard Power, also die Möglichkeit, eine eigene Entscheidung durch Belohnung oder Bestrafung durchzusetzen. Einfluss bedeutet in diesem Zusammenhang Soft Power, also die Möglichkeit, die Entscheidung anderer in irgendeiner Art und Weise im eigenen Sinn zu beeinflussen. Was der Autor skizzierte, ist in abstracto das Managementproblem. Der Autor postuliert jedoch nicht, dass reale Manager in realen Organisationen sich dem Problem in seiner abstrahierten Gestalt gegenübersehen. Im Gegenteil: Das Managementproblem ist überlagert und durchdrungen von Idealvorstellungen und Leitbildern. Es handelt sich um Vorstellungen, die über Jahrzehnte und Jahrhunderte gewachsen sind: Vorstellungen von „richti-
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gem“ und „gutem“ Management, Vorstellungen über „systematisches“ und „rationales“ Vorgehen – Vorstellungen, welche aus kontingenten historischen Entwicklungen des Berufes Manager rühren, und erst seit einigen Jahrzehnten grundlegend in Frage gestellt werden. Die Vorstellungen, behauptet der Autor, wirken noch immer sehr stark, wirken derzeit sehr stark auf das Kommunikationsmanagement, müssen aufgedeckt und erörtert werden. Das geschieht in der Arbeit gezielt unter C, geschieht darüber hinaus durchgängig, von der ersten bis zur letzten Seite. Als Ausgangspunkt lässt sich jedoch festhalten: Manager-Sein, zu unterscheiden von Management, konstituiert sich in einem Wechselspiel aus Verantwortung für Resultate, Macht über Ressourcen und Einfluss auf Menschen vor dem Hintergrund eines Organisationskontextes. 2. Kommunikation: Zu-verstehen-Geben und Bedeutungsunterstellung Kommunikation in einer kommunikations- und medienwissenschaftlichen Arbeit prima facie und en passant zu definieren, ist gewagt. 1977 wies Merten 160 verschiedene Begriffsverwendungen nach (1977), die von technischer Signalübertragung bis zum Herstellen von Gemeinschaftsgefühl reichen. In der vorliegenden Arbeit geht es aber nicht darum, den Kommunikationsakt en detail zu analysieren. Der Autor arbeitet Aspekte heraus, die ihm mit Blick auf Public Relations und Kommunikationsmanagement als von besonderer Bedeutung erscheinen. Das geschieht, wie unter 1., zunächst einmal alltagssprachlich, an Beispielen, ohne ausgreifende Vorarbeit oder Grundlegung.3 Ehe Systemtheorie und Kybernetik auf der einen, Konstruktivismus auf der anderen Seite einige der Überzeugungen ins Wanken brachten, operierten orthodoxe oder „klassische“ Kommunikationsanalysen mit den Begriffen des Senders, des Empfängers, mit Zeichen, Symbolen, Kanälen, Sprachen und Medien, um „Kommunikationsakte“ als Encodierung und Decodierung von Botschaften, Nachrichten, Mitteilungen zu analysieren. Man sagte, eine „gelungene“, direkte Kommunikation habe stattgefunden, wenn Ego Alter gegenüber die Worte äußert „Mach’ bitte das Fenster zu“, um sie dazu zu bringen, das Fenster zu schließen – und Alter das auch tut (direkter Sprechakt). Wenn Ego die Worte „Es zieht“ äußert und Alter das Fenster schließt, hat gleichermaßen gelungene, aber indirekte Kommunikation stattgefunden (indirekter Sprechakt). Wenn Alter Ego nicht hört, hat keine Kommunikation stattgefunden. Wenn Alter das Fenster nicht schließt, sondern Ego zu verstehen gibt, er solle das Fenster gefälligst selbst schließen, hat Kommunikation stattgefunden, Ego hat aber sein Kommunikationsziel nicht verwirklicht. Der Zweck der Kommunikation sei Verständigung, hieß es, von der zu sprechen sei, wenn das variable, mit der Kommunikation verfolgte Ziel des Senders (Fenster schließen) vom Empfänger verstanden worden sei (vgl. kommunikations- und medienwissenschaftlich etwa Burkart 2002, 27). Das Mittel der Kommunikation seien Zeichen, Symbole, Kanäle, Medien, in letzter Konsequenz Sprachen.
3 Für eine Aufarbeitung der systemtheoretischen und konstruktivistischen Grundlagen, die der Autor teilweise genauso, teilweise anders liest vgl. etwa Kückelhaus 1998, 149-266; für eine klassische, post-Wittgenstein’sche Kommunikationsanalyse, die im Ergebnis sehr ähnlich ausfällt, aber theoretisch anders gestützt ist vgl. etwa Zerfaß 2004, Kap. 4; für die Lesart des Konstruktivismus, die der Autor gegen die Kückelhaus’sche bevorzugt, vgl. die Ausführungen unter D.I; für das systemische Denken, das der Autor gegen in sich geschlossene Systemtheorien wie etwa die Luhmann’sche bevorzugt, vgl. die Ausführungen unter D.II.
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Singuläre Kommunikationsakte zu sezieren ist eine altehrwürdige philosophische, insbesondere sprachphilosophische Tradition, welcher wir ohne Zweifel wertvolle Einsichten verdanken; die angedeutete Austin’sche respektive Searl’sche Unterscheidung (Austin 1962; Searle 1969) direkter und indirekter Sprechakte ist ein Beispiel. Das Problem vieler derartig kommunikationstheoretisch-sprachphilosophischer Analysen ist jedoch ein doppeltes: Zum einen, dass man mit ihnen singuläre Situationen fokussiert, die aus dem Kontext herauspräpariert wurden. Zum anderen, dass sie mehr oder minder stillschweigend die Zeichen, Symbole, Kanäle und Medien, „die Sprache“ in ihrer objektiven „Bedeutung“ in den Mittelpunkt rücken. Wer Ego ist und wer Alter, in welchem Verhältnis Ego zu Alter steht und in welchem Verhältnis sich Alter zu Ego wähnt, spielt bei derartigen Analysen eine untergeordnete Rolle. Wo die Sprachverwendung von „normaler“ abweicht, wegen eines langjährig gewachsenen Verhältnisses zwischen Ego und Alter aber trotzdem „funktioniert“, drängt man das in die Gattung „seltsamer“ Sprachverwendung. Der Autor geht davon aus, dass Kommunikation erst erklärbar ist, wenn man Ego und Alter in einem historisch gewachsenen „System“ miteinander verwickelt denkt, in welchem sie wechselseitig sich selbst und den anderen vor einem geteilten respektive geteilt gewähnten Hintergrund in Rechnung stellen. Alter und Ego sind also, wie es Wittgenstein ausdrückt, als in einem „Sprachspiel“ (PU §23) begriffen zu denken. Was Ego „sagt“ ist dann nicht ausschließlich auf Basis der verwandten Worte begreifbar, sondern auf Basis der folgenden fünf Fragen: (1) welche Wirkung Ego bei Alter erzielen wollte; (2) welche Wirkung er glaubt, mit seinen Worten zu erzielen, wenn er ernsthaft und aufrichtig darüber nachdenkt, vorher oder nachher; (3) welche Wirkung er de facto bei Alter erzielte; (4) welche Wirkungsabsicht Alter Ego unterstellt; (5) inwiefern vom Standpunkt eines „neutralen“ Beobachters Ego und Alter in ihren jeweiligen „Unterstellungen“ gerechtfertigt sind. Wenn Ego also feststellt, dass es zieht, möchte er Alter womöglich zu verstehen geben, dass er sich um ihre Gesundheit sorgt (1). Die Wirkung bei Alter ist aber, dass sie sich aufgefordert wähnt, aufzustehen und das Fenster zu schließen, obwohl sie doch krank ist und sich schwach fühlt (3). Alter schließt also, dass Ego ihr eigentlich zu verstehen geben wollte, sie solle sich nicht so haben (4). Wenn Alter jetzt antwortet, dass Ego ein elender Egoist sei, dann entwickelt sich die Kommunikation aus der Frage heraus weiter, ob Ego bei ehrlicher und aufrichtiger Reflektion der an ihn zurückgekoppelten Reaktion Alters zugesteht (2), dass seine Worte diese Wirkung gehabt haben könnten, auch wenn sie nicht so gemeint waren. Diese Überlegung vermag Ego jedoch nur auf Grundlage eines gemeinsamen, vermeintlich geteilten Hintergrundes anzustellen (5), der es ihm gestattet, zwischen einer „wörtlichen“ Bedeutung, auf Basis des „neutralen“ Hintergrundes einerseits, einer „gemeinten“ Bedeutung im Rahmen des über Jahre und Jahrzehnte etablierten Kommunikationssystems zwischen Alter und ihm andererseits zu separieren. Die Grundlage, der vermeintlich geteilte Hintergrund, beschäftigte die Kommunikationstheorie insofern, als sie davon ausging, dass Bedeutung primär und zuvorderst als „wahre“, „objektive“ Bedeutung der Kommunikation, als der „wörtliche“ Sinn zu begreifen sei. Die Annahme ist mit Vorsicht zu genießen – die umgekehrte Annahme, dass Bedeutung ganz und gar in der Verwendung liege, jedoch auch. Wie der Autor meint, liegt der eigentliche Schlüssel in der Frage, inwiefern Alter und Ego in der Lage sind, den jeweils anderen in sich selbst zu simulieren, eine Theory of Mind des anderen zu formulieren (vgl. dazu grundlegend D.I.7; D.I.8; D.I.9; die Perspektive auf Akteure radikal überwindend, aber in Grundzügen doch ähnlich Luhmann 1987, Kap. 2, 3, 4; auf Luhmann gestützt, aber weniger
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radikal und weniger konsequent von Akteuren abstrahierend Simon 2007a, 85-103; lesenswert zu Kommunikation Baecker 2007a, 15-54ff., 146-253). Kontext und Resonanz Die Analyse des Autors unterscheidet sich prima facie nicht fundamental von der orthodoxen, es sind aber eine Reihe von Unterschieden zu diagnostizieren. Der erste Unterschied ist, dass Egos eigentliche Worte von sehr viel geringerer Bedeutung sind als der Kontext, in welchem sich Ego und Alter, jeweils für sich, aber beide gemeinsam sehen. Die beobachtbare Wirkung, welche Ego bei Alter erzielt, „resultiert“ nur zu einem winzigen Bruchteil aus tatsächlich geäußerten Worten, Gesten oder Aktionen. Zum überwiegenden Teil resultiert sie aus Erwartungen und Erwartungserwartungen, wechselseitigen Unterstellungen – mentalen Modellen, der jeweiligen Theory of Mind, welche die Akteure von ihrem jeweiligen Konterpart haben. Und umgekehrt: die beobachtbare Wirkung – dass Alter die Tür schließt – ist nur ein Bruchteil der Wirkungen, welche Egos Worte „Es zieht“ bei Alter auslösen. Andere, womöglich tiefer und weiter reichende Wirkungen sind, dass Alter sich in ihrem Verdacht bestätigt sieht, dass Ego ein elender Egoist ist; dass eine Beziehung bestätigt und verstärkt wird, in welcher Alter ohne nachzudenken tut, was Ego verlangt etc. Der Autor drückt das dadurch aus, dass Alter Egos Kommunikationsakt nicht nur rezipiert, also ihren vermeintlich oder tatsächlich gemeinten „Sinn“ decodiert – Egos Akt resoniert auch in Alter. Das heißt, in Kombination mit der Situation bringen Egos wenige Worte Bedeutungen zum Schwingen, die in Alter angelegt sind, nicht aber notwendigerweise genauso oder ähnlich in Ego. Resonanz wirkt, wie der Autor glaubt, auf der bewussten, als auch auf der vor- und unterbewussten Ebene: Bei einigen Aspekten nimmt Alter bewusst wahr, dass sie Egos Worte so interpretiert und nicht anders; bei einigen Aspekten nimmt sie ihre eigene Interpretation nicht bewusst wahr, sondern hält sie, vorbewusst, für selbstverständlich, die einzig richtige; schließlich sind unterbewusste Prozesse in Rechnung zu stellen wie etwa, dass Egos gelangweilter Ton in der Stimme Alter wütend macht, ohne dass sie das merkt. Der Mensch ist also als ein Organismus zu denken, der seine eigenen Prozesse teilweise bewusst, teilweise halbbewusst erlebt, teilweise bleiben sie ihm verborgen (vgl. ausführlich D.I). Das alles ist bereits sehr weit entfernt von klassischen Kommunikationsmodellen, die Zeichen, Zeichenverwendung, geteilte Zeichenvorräte etc. thematisieren. Es ist sehr nahe an der Systemtheorie und an der systemischen Psychologie – de facto ist der Resonanzgedanke nichts anderes als die Rede, dass komplexe Systeme, wie etwa der Mensch, zwar irritierbar oder perturbierbar sind, dass man aber nicht eins zu eins auf sie durchgreifen kann: Wenn ein Mensch einen anderen aus irgendwelchen Gründen nicht mag, kann man nicht lokalisiert in sein psychisches System eingreifen und die Abneigung gegen Zuneigung auswechseln wie man eine defekte Zündkerze wechselt (zu Selbstreferenz und Rationalität wiederum radikaler Luhmann 1987, 593-646; vgl. auch D.I; D.II; D.III). Relation und System: Selbstreferenzialität und Eigendynamik Der zweite Unterschied ist, dass der Fokus geweitet wird: Nicht Information, nicht die Botschaft oder das Medium steht im Mittelpunkt, sondern die raumzeitliche Relation zwischen Ego und Alter in ihrer verwickelten, wechselseitigen und sich weiter entwickelnden Erwartungs- und Erwartungserwartungshaltung.
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Dass Kommunikation nicht nur eine sachliche Dimension, eine Botschaft aufweist, buchstabieren klassische sprachtheoretische Analysen bereits aus, Karl Bühlers OrganonModell etwa (Bühler 1934; vgl. dazu und auch zu Austins Sprechaktanalyse Luhmann 1987, 196-197). Das populärste moderne kommunikationspsychologische Modell ist vermutlich das Vier-Ohren-Modell, welches Friedemann Schulz von Thun (vgl. 1981; 1989; 1998) entwickelte und welches mit großer Wirkmächtigkeit in der Therapiepraxis davon ausgeht, dass jede „Nachricht“ eine Sach-, Selbstdarstellungs-, Beziehungs- und Appelldimension aufweist. Die Perspektive, die der Autor zugrunde legt, dynamisiert Kommunikationsprozesse aber noch einen Schritt weiter. Es ist nicht nur so, dass jeder singuläre Kommunikationsakt auf verschiedenen Ebenen wirkt und in verwickelter Art und Weise die Gesamtbeziehung zwischen Ego und Alter beeinflusst. Es ist darüber hinaus so, dass jeder (halbe, einseitige) Kommunikationsakt die Bedingungen für den folgenden gestaltet. Ähnlich wie es bei einem Schachspiel nicht möglich ist, die „Bedeutung“ des übernächsten Zuges zu kennen, ohne den nächsten eigenen oder gegnerischen Halbzug zu kennen, ist es nicht möglich, die volle und umfängliche „Bedeutung“ einiger Worte in einem Gespräch zu kennen, ohne den Kontext, das Thema, bis dato zu kennen. Auch das ist im Prinzip nichts anderes als eine alltagssprachliche Darstellung des systemisch-systemtheoretischen Gedankens der Selbstreferenzialität. Die Selbstreferenzialität führt zu Eigendynamiken der Kommunikation, welche viele der Probleme erklären, die sich in sozialen Situationen stellen: unaufhörliche Familienstreitigkeiten etwa, die daraus resultieren, dass den anderen grundsätzlich unterstellt wird, dass jede Äußerung auch als „Stichelei“ gemeint sei. „Die Selbstbeweglichkeit des Sinngeschehens ist Autopoiesis par excellence“, macht Luhmann entsprechend geltend (1987, 101), freilich vor dem Hintergrund seiner eigenen, radikaleren Theorie. Agieren, Indizieren, Kommunizieren Vor einer irreführenden Interpretation ist jedoch von Anfang an zu warnen: Wenn man das „Kommunikationssystem“ zwischen Ego und Alter ins Auge fasst, wenn man über Bedeutung spricht, sieht es zwangsläufig so aus, als handle es sich bei jedem Geschehen oder Ereignis zwischen Ego und Alter um einen Kommunikationsakt, als habe jeder Akt eine Bedeutung. Das stellt jedoch eine Ausweitung des Begriffes der Kommunikation dar, bis er alles und nichts umfasst. Dass Ego in irgendeiner Art und Weise mit Alter kommuniziert, wenn er in ihrer Anwesenheit wortlos das Fenster schließt, stellt noch eine plausible Interpretation dar. Dass Ego mit Alter kommuniziert, wenn er in ihrer Abwesenheit das Fenster schließt, damit das Zimmer warm bleibt, ist unplausibel: Ego agiert mit Blick auf Alter, ohne Zweifel, aber er kommuniziert nicht mit ihr. Was Kommunizieren von Agieren unterscheidet, ist nach Ansicht des Autors, dass Kommunikation im Bewusstsein des anderen geschieht: in der Absicht, dem Empfänger etwas zu verstehen zu geben; in der Bereitschaft, den Sender zu verstehen; im Versuch, zu einer wechselseitigen Verständigung zu gelangen. Ego geht, wenn er mit Alter kommuniziert, davon aus, dass Alter bestimmte Erwartungen hat: Ego hat Erwartungserwartungen. Wenn Alter vom Arzt zurückkehrt, unterstellt sie vermutlich, dass das offene, von Ego vergessene Fenster ein weiteres Indiz dafür darstellt, dass Ego „gedankenlos“ ist: so wie Schnarchen indiziert, dass ein Mensch schläft, der schlafende Mensch sein Schlafen aber nicht kommuniziert. Es handelte sich um eine völlig andere Situation, wenn sie Ego unterstellte, dass er das Fenster im Bewusstsein ihrer Erkältung offengelassen habe, um ihr zu kommunizieren – ja, was? Dass sie sich nicht so haben solle. Und zwischen der einen und
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der anderen Interpretation liegt noch eine dritte: die, dass Ego durch das Vergessen des Fensters, durch seine Gedankenlosigkeit „verrät“, dass er eigentlich der Meinung ist, trotz anderslautender Beteuerungen, dass Alter sich mit ihrer Erkältung nicht so haben solle. Kommunikation als Zu-verstehen-Geben und als Sinnunterstellung Nehmen wir an, Ego habe in Alters Abwesenheit einen Pinsel mit Terpentin ausgewaschen, wodurch der Raum nach Lösungsmittel roch. Ego hat also das Fenster aufgemacht, ehe er Einkaufen fuhr. Da er sich der Tatsache bewusst ist, dass Alter vom Arzt zurückkommen könnte, ehe er wieder da ist, der Terpentingeruch dann zwar verflogen, der Raum aber eiskalt ist, sieht er die Notwendigkeit, Alter zu erklären, warum das Fenster sperrangelweit offensteht. Er schreibt ihr also einen Zettel: „Habe gelüftet wegen Terpentin. Sorry.“ Was Ego tut, ist Alter die Puzzleteile zu liefern, die ihr in der Rekonstruktion fehlen, um Egos Handeln, das offene Fenster, so zu verstehen wie es Ego verstanden haben möchte. Das geschieht dadurch, dass Ego Alter Einblick in sein eigenes Denken und Fühlen, in seine eigenen Erwartungen und Erwartungserwartungen gibt. Ego stellt also, und das ist eine andere, eigentliche Bedeutung des Begriffes „Kommunikation“, sein eigenes Selbst in die Gemeinschaft (communitas): er ist nicht nur physisch präsent, sondern sozial. Das geschieht natürlich sprachlich. Die natürliche Sprache des Menschen versetzt uns in die Lage, erstaunliche Dinge zu tun, die mit dem Einblick-Geben in die eigene Denk- und Fühlwelt auf den ersten Blick nicht viel zu tun haben, auf den zweiten Blick aber schon: Wenn ich einem anderen Menschen beibringe, wie man ein Schwert schmiedet, ein PR-Konzept schreibt, mit Depressionen umgeht, dann tue ich genau das. Andere Lebewesen, auch höherentwickelte Primaten, scheinen dazu nicht in der Lage zu sein (vgl. D.I, 1-9; vgl. auch gedrängt und im Überblick Förstl 2007; Tomasello 2006, Kap. 1, 2, 3). Egos Einblick-Geben in die eigene Denk- und Fühlwelt führt natürlich nicht zu einem „Kurzschluss“ zwischen Ego und Alters mentaler Sphäre, zu einem Austausch von Bewusstseinsinhalten, zu einem Ausbruch aus der systemischen Relation wechselseitigen Unterstellens. Das zeigt sich schon daran, dass es nicht genügt, dass Ego die Puzzleteile liefert. Alter muss darüber hinaus begreifen, dass es sich um Puzzleteile handelt, die die Situation hier und jetzt erklären – dass Ego ihr etwas mitteilt. Alter könnte z. B. glauben, dass es sich um einen alten Zettel handelt, der seinerzeit an der Terpentinflasche hängengeblieben ist – sie liest ihn zwar und der Zettel macht auch Sinn (anders als ein Zettel, auf welchem steht: „Habe gelüftet wegen Wasser. Schlaf gut.“), aber er hat nicht die geringste Bedeutung. Dass Ego in der Lage ist, die Puzzleteile mit einiger Verlässlichkeit und mit einigen wenigen Worten zu liefern, ist eine erstaunliche Leistung der menschlichen Sprache. Wie es auf der syntaktischen und semantischen Ebene „funktioniert“, wie die Symbole auf einem Zettel für Egos Handeln respektive Alters Beobachtung von Egos Handeln stehen, ist jedoch nicht der Fokus des Autors (vgl. hierzu ausführlich und mit Blick auf Unternehmenskommunikation Zerfaß 2004, Kap. 4). Der Fokus ist die pragmatische Dimension, in der Alters Interpretation der Situation durch Kommunikation völlig verändert wird: Anstatt sich über Egos Gedankenlosigkeit aufzuregen, stellt sie befriedigt fest, wie rücksichtsvoll und umsichtig Ego ist. Freilich besteht die Möglichkeit, dass Ego den Zettel gar nicht aus der Befürchtung heraus geschrieben hat, Alter werde ihn angesichts ihrer Erkältung für rücksichtslos halten. Womöglich hat er ihn wegen eines Gespräches geschrieben, in welchem sie übereinkamen, in Zukunft etwas auf die Umwelt zu achten, Heizkosten zu sparen. Es gilt also zu sehen, dass Alters Interpretation von Egos Verhalten nach wie vor auf Unterstellungen, eben Er-
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wartungen und Erwartungserwartungen beruht. Die Grundlage, auf welcher Alter ihre Unterstellungen vornimmt, ist natürlich die Tatsache, dass sie Ego kennt – schließlich sind sie seit sieben Jahren verheiratet. Für sie, angesichts ihrer Erkältung, macht ihre Bedeutungsunterstellung „Sinn“: sie passt zu Ego, so wie sie Ego kennt.
Abbildung 1: Verstehen als Zu-verstehen-Geben und Bedeutungs-/Sinnunterstellung (Quelle: eigene Darstellung) Was bedeutet es zu sagen, dass Alter Ego kennt? Zunächst einmal gilt es zu sehen, dass Alter eigentlich nur den Input und Output eines Akteurs beobachtet, der eine Black Box bleibt (vgl. auch Luhmann 1987, 156-157, der, anders als der Autor, nicht notwendigerweise Menschen fordert, sondern auch soziale Systeme gestattet). Abbildung 1 verdeutlicht das. Ego wusste, dass Alter krank ist (Ego verfügte über diesen Input) – er entschuldigt sich dafür, dass er gezwungen war, dass Fenster offenzulassen (Ego hielt diesen Output für nötig). Alter hat aber über Jahre und Jahrzehnte ein Modell entwickelt, welches es ihr vermeintlich gestattet, die Aktionen der Black Box zu verstehen, ihre Bedeutung zu erkennen, ihren Sinn zu begreifen. Der Autor betont das Wort vermeintlich deshalb, weil Alter ihr Modell von Ego, ihre Theory of Mind, in letzter Konsequenz auf Basis ihres eigenen Erlebens und ihres eigenen Selbstbildes, ihrer eigenen Vorstellungen, wie Menschen „ticken“, konstruiert. Sie unterstellt Ego rücksichtsvolles und umsichtiges Verhalten, weil das einerseits zu ihrem langjährig gewachsenen Bild von Ego passt, andererseits weil sie selbst in einer ähnlichen Situation ähnlich handeln würde. Wäre Alter eine böse, verbitterte Frau und Ego ein rücksichtsloser, nachlässiger Mann könnte in ein und derselben Situation unterstellt werden, dass Ego den Zettel aus Schadenfreude schrieb: Er möchte, dass seine erkältete
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Frau friert, aber gleichzeitig macht er sich über sie lustig und „entschuldigt“ sich in scheinheiliger Art und Weise. Was man gemeinhin als „Kommunikation“ anspricht, was die Beteiligten phänomenal als ein gemeinsames Erlebnis empfinden, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen also als zwei Akte, die durch eine unüberbrückbare Kluft getrennt sind, die aber gerade die Überbrückung der Kluft voraussetzen: ein Akt des Zu-verstehen-Gebens auf der einen, ein Akt des Bedeutungunterstellens oder Sinnmachens auf der anderen Seite (zu doppelter Kontingenz vgl. grundsätzlich, aber wiederum vor etwas anderem, radikalerem Theoriehintergrund Luhmann 1987, Kap. 3). Der Akt des Zu-verstehen-Gebens ist zunächst einmal eine Handlung – ähnlich, wie das Entzünden des olympischen Feuers das Entzünden eines Feuers ist. Der Akt des Bedeutungunterstellens oder Sinnmachens ist zunächst einmal eine Beobachtung – ähnlich, wie sie Verhaltensforscher bei Tieren vornehmen. Die vermeintliche Überbrückung der Kluft liegt darin, dass bei Kommunikation der jeweils andere wechselseitig vorausgesetzt wird: Der Sender geht davon aus, dass er jemandem etwas zu verstehen gibt; der Empfänger geht davon aus, dass man ihm etwas zu verstehen geben möchte. In der direkten Face-to-Face-Kommunikation heißt das, dass Alter den Output von Ego als auf sich selbst, Alter, gerichtet wahrnimmt. In einer Konversation berücksichtigt sie ihren eigenen Input in Ego – also was sie selbst vorher zu Ego gesagt hat. Von entscheidender Bedeutung ist jedoch, dass sowohl der aktive Akt als auch der passive Akt weit über das hinausgehen, was vermeintlich Gegenstand der Verständigung ist. Wer kommuniziert, möchte oftmals mehr zu verstehen geben, als er eigentlich „sagt“: er möchte Resonanz erzielen. Wer jemanden reden hört, überlegt sich nicht nur, was der Redner eigentlich sagt, sondern überlegt sich darüber hinaus, was der Redner wider Willen aber notgedrungen über sich „verrät“. Wir sehen jemanden als einen guten Redner an („ein guter Kommunikator“), wenn wir das Gefühl haben, dass er zum einen die Kluft überbrückt („spricht mich an“), dass er zum anderen in der Lage ist, genau den Eindruck von sich zu erwecken, den er erwecken möchte („bringt seine Sache rüber“). Ein schlechter Redner hingegen versteht es nicht, die Kluft zu überbrücken („spricht mich nicht an“), und entsprechend indiziert er mehr durch sein Redehandeln („verrät“ also, was er wirklich denkt), kommuniziert weniger. Die Wurzel der öffentlichen Kommunikation: Sender, Empfänger, Publikum Nehmen wir an, neben Ego und seiner Frau Alter sei noch Egos Mutter, Alters Schwiegermutter, anwesend. Wenn Ego jetzt Alter vermittels „Es zieht“ zu verstehen gibt, sie möge doch das Fenster schließen, gibt er gleichzeitig seiner eigenen Mutter zu verstehen, wie er mit seiner kranken Frau umgeht. Tadelt ihn die Mutter, besteht für Ego jedoch die Möglichkeit, sich auf einen „neutralen“ Standpunkt zurückzuziehen. Er habe doch nur festgestellt, dass es ziehe. Es gilt klar und deutlich zu sehen, was Ego tut: Ego nutzt die Tatsache aus, dass niemand seine „wahre“ Kommunikationsabsicht kennt, dass er in letzter Konsequenz eine Black Box bleibt. Der Einwand der Mutter, dass doch der Ton die Musik mache, ist schließlich vergleichsweise einfach von der Hand zu weisen – Du hast dich getäuscht, Mutter, und das zeigt wieder einmal, dass du niemals Skrupel hattest, kranke Kinder herumzuscheuchen. Freilich steht Alter ein und dieselbe Strategie zu Gebote: Wenn Ego ihr hinterher den Vorwurf macht, dass sie sich heute sturköpfig gestellt habe, entgegnet sie mit Unschuldsmiene, sie habe geglaubt, der Hinweis auf die Zugluft sei lediglich eine Feststellung gewesen.
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A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
Das Beispiel vergegenwärtigt, weshalb dyadische zwischenmenschliche Kommunikation sehr viel einfacher ist als Kommunikation in einem beliebigen anderen, aber letztlich tryadischen Setting der Konstellation Sender, Empfänger, Publikum: das ist der Grund, weshalb man „schwierige Gespräche“ unter vier Augen führt. Es ist viel schwieriger, einerseits die eigene Kommunikationsabsicht gegenüber dem Empfänger zu verwirklichen, wenn man andererseits unerwünschte Effekte und Reaktionen bei einer dritten Partei vermeiden möchte. Dass es sich um die typische Konstellation der öffentlichen Kommunikation en miniature handelt, arbeitet der Autor unter 3. weiter aus. Wo es um Kommunikation an sich geht, ist zunächst einmal etwas anderes entscheidend: dass zwischen „Es zieht“ und „Mach’ bitte das Fenster zu“ selbst dann ein gravierender Unterschied besteht, wenn Ego Ersteres gebraucht, um eigentlich Letzteres zu sagen. Im ersten Fall vermag sich Ego „herauszureden“, wenn ihn die Mutter tadelt, im zweiten Fall jedoch nur unter größten Schwierigkeiten. Der Unterschied ist der, dass Ego im ersten Fall nicht „wortwörtlich“ Einblick in seine eigene Innenwelt gibt, sondern lediglich indirekt, andeutungsweise. Im zweiten Fall gibt er eindeutig und unmissverständlich seinem Wunsch Ausdruck, Alter möge bitte das Fenster schließen. Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit Der interessante Aspekt ist die Formulierung „eindeutig und unmissverständlich“: Denn der Autor ist der Meinung, dass es in die Irre führt, eine Ambivalenz in die Worte „Mach’ bitte das Fenster zu“ zu interpretieren. Wenn man Ego hört und seine Sprache versteht und aus seiner Körperhaltung zu schließen vermag, an wen er sich wendet, dann bleibt nicht viel Spielraum übrig. Abermals liegt der Grund dafür aber nicht in den Zeichen, sondern in der systemischen Verwickelung der zwei respektive drei präsenten Personen: Es handelt sich um eine Situation, die jeder von ihnen schon Dutzende Male erlebt hat, eine soziale Standardsituation, in der es nicht viel zu deuten gibt. Die Eineindeutigkeit ist eine pragmatische, nicht eine semantische. Denn natürlich könnte Ego versuchen, sich damit herauszureden, er habe doch nur eine Zeile aus einem Schauspiel zitiert. Aber nicht Ego entscheidet, sondern die anderen entscheiden, ob sie ihm seine Begründung glauben oder nicht. Sie entscheiden auch, was ihnen die Begründung oder der Versuch einer Begründung über Egos Innenwelt „verrät“. Ego weiß das. Und Egos Wissen darüber ist auch der Grund, weshalb Ego sich vermutlich nicht mit der Schauspielgeschichte herausreden wird: Wenn er versucht, sich aus einer eineindeutigen Situation herauszuwinden, überzeugt er die anderen womöglich endgültig davon, dass er ein Lügner und Schuft ist – und wenn sie ihm die Schauspielgeschichte glauben, dann geht damit ein anderer Glaube einher: der, dass er verrückt ist. Es gibt Bedingungen, unter welchen Ego die Schauspielgeschichte geglaubt würde, meint der Autor. Nehmen wir an, Ego hätte die Worte „Mach’ bitte das Fenster zu“ in ungeheuer theatralischer Art und Weise vorgetragen, vielleicht mit einer dramatischen Handbewegung verbunden. Das führt zum Konzept der Cues und Marker, welches der Autor für entscheidend hält. Unter Cues versteht der Autor Signale, die ein Sender bewusst, vor- oder unterbewusst „aussendet“ und die dazu führen, dass seine Kommunikation auf diesen Resonanzboden trifft und nicht jenen, dass das, was er sagt, diesen „Zungenschlag“ bekommt und nicht jenen. Der theatralische Tenor, der dramatische Gestus sind Cues, die Ego verwendet, um sich aus der einen sozialen Situation (dem einen Frame) herauszunehmen, in eine andere zu stellen. Cues gibt es in vielen verschiedenen Formen und Ausprägungen. Sie reichen von Augenzwinkern, Gesichtsausdruck und Körperhaltung über die Verwendung spezifischer Vokabeln bis hin zu der Frage, ob ein und derselbe Text einem Rezipienten als
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E-Mail oder als Brief zuging. Unter Markern versteht der Autor Indizien, ja Indikatoren dafür, dass sich die Akteure in diesem Frame befinden, nicht in jenem. Bei einer Schauspielprobe von Shakespeares Julius Caesar wickeln sich die Akteure etwa togaartig in Bettlaken, um zu markieren, dass sie jetzt römische Senatoren repräsentieren. Stempel sind z. B. in Deutschland immer noch Marker der Offizialität, ein mit vielen Stempeln versehenes Dokument sieht „offiziell“ aus, unabhängig davon, um welche Stempel es sich handelt. Wenn das Wort Bio auf der Milchverpackung in einem stempelartigen Design erscheint, geht der Verbraucher davon aus, dass es sich um „geprüfte“ biologische Milch handelt. Fazit: Kommunikation als Zu-verstehen-Geben und Bedeutungunterstellen In gedrängter Art und Weise, alltagssprachlich, ohne ausgreifende theoretische Einordnung und anhand einfacher Beispiele hat der Autor zunächst einmal die Grundzüge seines Begriffes von Kommunikation, insbesondere humaner Kommunikation geschildert. Kommunikation geschieht in raumzeitlich-systemischer Verschränkung mindestens zweier Akte: den Akt des Zu-verstehen-Gebens durch einen tatsächlichen oder unterstellten Menschen auf der einen Seite, der auf der anderen Seite komplementiert wird durch den Akt des Bedeutungunterstellens, des Sinnmachens. Zwischen Zu-verstehen-Geben und Bedeutungunterstellen liegt eine theoretisch unüberbrückbare Lücke, die in der Praxis, der Lebenswelt4, dem alltäglichen Miteinander mehr oder minder verschwindet: Mit manchen Menschen verstehen wir uns vermeintlich blind, andere Menschen scheinen in einer ganz und gar anderen Welt zu leben – beides ist richtig und falsch. Die aus Sicht des Autors größte und weitreichendste „Leistung“ zwischenmenschlicher Kommunikation ist die, welche menschliche von tierischer oder anderer Kommunikation unterscheidet: die Möglichkeit, Einblick in das eigene Denken und Fühlen zu geben, beobachtbare eigene Handlungen dadurch zu erläutern, in einen anderen Rahmen, Kontext oder Frame zu stellen, sie beim anderen eben so und nicht anders „resonieren“ zu lassen. Kommunikation ist es, die den Menschen zu einem genuin sozialen Lebewesen macht, weil Kommunikation es gestattet, die eigene Innenwelt in die Gemeinschaft zu stellen, nicht nur eine physisch-materielle Welt zu teilen, sondern eine soziale. Dass ein soziales Lebewesen „strategisch“ kommuniziert – weil es, quasi per definitionem, nicht nur um sein physischorganisches, sondern auch um sein soziales „Überleben“ kämpft, drängt sich damit als geradezu selbstverständlich auf. Menschen nutzen die Möglichkeiten von Eindeutigkeit und Uneindeutigkeit, um andere zu „durchschauen“, ohne selbst durchschaut zu werden – und sie tun es immer und notwendig, wie der Autor meint. Der Zusammenhang ist aber nicht eindimensional dahingehend, dass jeder stets bewusst und absichtsvoll versucht, den anderen übers Ohr zu hauen. Der Zusammenhang, das arbeitet der Autor unter D aus, ist ein „existenzieller Dreikampf“, in welchem das einzelne Individuum versucht, das eigene soziale Standing in bestimmten Feldern, dort in Ingroups zu sichern, wozu eben auch gehört, den Zusammenhalt der Ingroup zu gewährleisten und die Ingroup gegenüber anderen Outg4
Eine ausführliche Darstellung des Begriffes der Lebenswelt, wie ihn der Autor verwendet, findet sich unter D.I. Unter A.III stellt der Autor dar, dass der Begriff etwas, aber nicht grundsätzlich anders verwendet wird als in der soziologischen Tradition.
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roups aufrechtzuerhalten. Das erklärt beispielsweise, weshalb es manchmal strategisch günstig ist, offen und ehrlich zu sein – respektive als offen und ehrlich gesehen zu werden. 3. Kommunikation + Management = Kommunikationsmanagement? „Öffentlichkeitsarbeit oder Public Relations ist das Management von Informations- und Kommunikationsprozessen zwischen Organisationen einerseits und ihren internen und externen Umwelten (Teilöffentlichkeiten) andererseits.“ Angesichts der Definition Benteles (1997a) drängt sich der Gedanke auf, Kommunikationsmanagement schlicht durch Zusammenführung der zwei Konzepte Kommunikation und Management auszubuchstabieren. Begreift man Kommunikation als Zu-verstehen-Geben und Management als resultatsorientierte Kontrolle in, von und durch Organisationen, dann stellt Kommunikationsmanagement die resultatsorientierte Kontrolle über das dar, was Organisationen ihren Ziel-, Bezugs-, Anspruchsgruppen zu verstehen geben. Ja, wenn der Gedanke der Resultatsorientierung zu Ende gedacht würde, ginge es nicht nur um Kontrolle darüber, was erwähnte Stakeholder auf Basis ihrer Erwartungen und Erwartungserwartungen als Zuverstehen-Gegeben ansehen. Es ginge um Kontrolle darüber, was tatsächlich, wenn man die raumzeitliche „Systemhaftigkeit“ ihrer Beziehung zu einem Unternehmen und die entsprechenden, gewachsenen Unterstellungen in Betracht zieht, bei ihnen „ankommt“: Image, Reputation etc. Schließlich ist es ein Unterschied, ob ein Rezipient schlussfolgert, das Unternehmen wolle sich umweltfreundlich geben – oder ob er glaubt, das Unternehmen sei umweltfreundlich. Die These, die der Autor jetzt postuliert, ist eine dialektische. Einerseits, behauptet der Autor, ist es richtig, Kommunikationsmanagement via Kommunikation + Management zu bestimmen. Andererseits führt die Formel völlig in die Irre, ist ganz und gar falsch. Richtig ist die Formel, weil es im Rahmen des unternehmerischen Kommunikationsmanagements genauso um Sinn, Bedeutung, Erwartungen, Erwartungserwartungen und Unterstellungen, wechselseitiges Zu-verstehen-Geben unter Ausnutzung der eigenen Undurchschaubarkeit geht – genauso wie in der lebensweltlich-zwischenmenschlichen Kommunikation, im täglichen Miteinander. Der Grund ist schon der, dass unsere Vorstellungen von Kommunikation geprägt und geformt sind durch die zwischenmenschliche Kommunikation, die wir Tag für Tag erleben. Der Mensch kennt gar nichts anderes: Wenn wir mit Tieren, Maschinen und eben auch Organisationen kommunizieren, dann kommunizieren wir via „Vermenschlichung“ – ansonsten tauschen wir, z. B. wenn wir unser Passwort eingeben, bloß Daten aus. Ein Unternehmen kommuniziert insofern, aus einem bestimmten Blickwinkel, mit seinen Kunden genauso wie Ego mit Alter, möglicherweise im gedachten Beisein einer dritten Partei, der Schwiegermutter – der „Öffentlichkeit“. Ein Unternehmen „managt“ das Unternehmensimage, das Image der Produkte oder Services demnach genauso wie jeder Mensch sein eigenes Standing in der eigenen Lebenswelt „managt“. Kommunikationsmanagement ist insofern sehr einfach, weil es sich um etwas handelt, was jeder Mensch jeden Tag tut. Irreführend und ganz und gar falsch ist die Formel, wo sie nahelegt, dass die Probleme des Kommunikationsmanagements dieselben Probleme seien wie die des lebensweltlichen, zwischenmenschlichen Miteinanders – bloß in Groß, mit mehr Personen. Das ist, davon ist der Autor überzeugt, nicht der Fall. Einer der Gründe wurde bereits angedeutet und spielt in den Erörterungen unter II. eine Rolle: Die Substitution des begrenzten Begriffes PR durch den weiteren Begriff Kommunikation verschleiert, dass in und um Organisationen herum zwar viel Kommunikation stattfindet, die Organisation als Organisation sich aber nur sehr
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weniger und bestimmter „Modi“ von Kommunikation mit sehr wenigen, bestimmten Themen bedient. Organisationen „machen“ Unternehmenskommunikation, Corporate Communications, Werbung oder PR, betreiben Lobbying oder Investor Relations. Niemand vermag sich mit ihnen über „Gott und die Welt“ zu unterhalten. Ein und derselbe Sachverhalt lässt sich auch über das Konzept des Managements fassen: Kommunikationsmanagement suggeriert, dass die Organisation nunmehr nicht nur jeden „PR-relevanten“ Kommunikationsakt, sondern jeden relevanten, sie tangierenden Kommunikationsakt zu „managen“ versucht. Das ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Organisationen, wiederum als Organisationen, kontrollieren nur einen Bruchteil der Kommunikation, die in ihnen, durch und für sie und um sie herum stattfindet. Ein Begriff des Kommunikationsmanagements gemäß der Formel Kommunikation + Management stellt also einen Notbehelf dar: Wohlwollend gelesen ist er nicht falsch, mit Missgunst gelesen ist er aber viel zu weit. Der Autor vermutet, dass sich die ehemalige PRBranche, jetzt Kommunikationsbranche, eine carte blanche ausstellen wollte, um unter dem Dach des generischen Kommunikationsbegriffes möglichst viele andere „kommunikationsverdächtige“ Felder, wie eben Marketingkommunikation (u. a. Werbung), Finanzkommunikation (u. a. Investor Relations), politische Kommunikation (Lobbying, Public Affairs) zu integrieren. Das entbehrt nicht einer Logik, wenn man sich Public Relations als Kommunikationsmodus ansieht, die Charakteristika und Spezifika mit den anderen Kommunikationsmodi vergleicht, was der Autor unter II. tut. Verschiebt man die Perspektive von der Organisation auf den Akteur in der Organisation, dann lässt sich festhalten, dass das in der Tradition der Public Relations stehende Kommunikationsmanagement einerseits schwieriger ist als das „normale“ lebensweltliche Miteinander, andererseits einfacher. Schwieriger ist es, weil der Akteur nicht für sich selbst kommuniziert, sondern für ein, in einem und durch ein komplexes System – und auch mit anderen komplexen System. Einfacher ist es, weil die Möglichkeiten begrenzt sind. Wenn man das lebensweltliche, zwischenmenschliche Miteinander, das ja durchaus nicht ohne Komplexität ist, mit einem Schachspiel vergleicht, dann ist Kommunikationsmanagement eben nicht ein größeres Schachspiel mit größeren Figuren. Es handelt sich um ein ganz und gar anderes Spiel – eines, bei welchem es weniger mögliche Spielzüge gibt, bei welchem dafür aber große Teile des Brettes vom fog of war verhüllt sind. Ein Spiel, bei welchem man womöglich nicht weiß, wie viele Gegner es gibt, welche Regeln gelten, ob die Figuren das tun, was man ihnen aufträgt etc. Das Problem im Singular ist also ein und dasselbe, die Probleme im Plural sind aber völlig andere. Welche es sind und wie Kommunikationsmanager mit ihnen umgehen, versucht die vorliegende Arbeit aufzuzeigen, wo sie nach einem tieferen und schärferen Verständnis von Kommunikationsmanagement strebt.
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II)
A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
Forschungsparadigma, -logik, -prämissen, und fünf Resultate prima facie
Was versucht der Autor, wenn er ein tieferes und schärferes Verständnis von Kommunikationsmanagement anstrebt? Er versucht, die Kräfte und Spannungen aufzuzeigen, die sichtbaren und unsichtbaren demands, constraints und choices zu erörtern, die auf das berufliche Selbstverständnis eines Kommunikationsmanagers wirken, seinen Job prägen, seine Tasks bestimmen, seine Rollen formen, seine „Funktionen“ in der Organisation determinieren. Natürlich geschieht das in letzter Konsequenz dadurch, dass der Autor sein eigenes Konzept von Kommunikationsmanagement entwirft. Die Art und Weise, in der das geschieht, ist jedoch in ihrem „practice turn“ eine andere als gewöhnlich. Erstens ist die Art und Weise anders, weil sie die Praxis nicht in dualistischer Art und Weise zum Objekt wissenschaftlicher Analyse und Reflektion macht, sondern von vornherein das Beziehungsgeflecht zwischen wissenschaftlicher Beobachtung des Berufes und dem Beruf selbst ins Auge fasst. Das ist bei einem sich akademisierenden und professionalisierenden Berufsfeld unumgänglich. Die Wechselwirkung ist in erster Linie der Tatsache geschuldet, dass Wissenschaft grundsätzlich für die Praxis vordenkt, über die Praxis nachdenkt, die Praxis verändert – und damit auch sich selbst. Sie ist in zweiter Linie aber auch dem Zusammenhang geschuldet, dass Berufspraktiker in einem Feld wie Public Relations/Kommunikationsmanagement Wissenschaft, wissenschaftliche Theorien und Studien auf vielfältige Arten und Weisen benutzen, um ihre eigenen, berufspraktischen Ziele zu verfolgen, zur Eigen-PR, aber auch um PR-Ziele durchzusetzen: Die Wissenschaft hat also nicht nur ein Objekt, sie ist in einem Re-entry selbst Objekt. Und in dritter Linie gilt es zu sehen, dass die zunehmend akademische Berufsausbildung im Berufsfeld auf Grundlage wissenschaftlicher Theorien und Methoden geschieht, so dass die nachrückenden Generationen akademisch ausgebildeter Praktiker mit selbstverständlichen Grundannahmen in den Beruf starten, ihn damit tiefgreifend, aber unsichtbar verändern: das Selbstverständnis als Manager ist das beste Beispiel dafür. Zweitens ist die Herangehensweise des Autors anders, weil sie gleichermaßen von einer Beobachtung der tagtäglichen Arbeit von Berufspraktikern wie auch von einer theoretischen Auseinandersetzung mit den zentralen Konzepten Kommunikation und Management ausgeht. Prima facie sieht es aus, als nähere sich die Arbeit ihrer Materie von zwei entgegengesetzten Polen. Bei genauerer Betrachtung entfaltet sie sich aus einer Idee: herauszuarbeiten, in welches „Spiel“ Kommunikationsmanager einsteigen, in welches Kräftefeld sie sich begeben, wenn sie den Begriff Management im Kompositum Kommunikationsmanagement ernst nehmen bzw. als Spieler dieses Spieles ernstgenommen werden. Damit ist der Ansatz drittens dadurch anders, dass die gewählte Perspektive eine „Akteur-im-System“-Perspektive ist. Die Arbeit setzt am Menschen, am einzelnen Manager an, bei seinen individuellen Problemen, in seiner individuellen Lebenswelt – und stellt dann, wenn die begrenzte Perspektive herausgearbeitet wurde, die Systemwelt in Rechnung. Der Autor versucht also, eine Perspektive aufrechtzuerhalten, welche die Subjektivität, den begrenzten Horizont, die „bounded rationality“ (Simon 1957), die gemischte Interessenlage
II. Forschungsparadigma, -logik, -prämissen
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eines jeden agierenden Akteurs systematisch in Rechnung stellt – und versucht dann, das begrenzte Verständnis des Akteurs systemisch und konstruktivistisch zu erweitern. Eine akteurszentrierte Perspektive ist die dominante Herangehensweise der Managementlehre, die sich insofern von der Betriebswirtschaftslehre unterscheidet. Dass der Autor den Akteur, den einzelnen Manager als Ausgangspunkt der Arbeit wählt, ist natürlich der Inspiration durch die Werke Mintzbergs geschuldet. Der Autor wählt die akteurszentrierte Perspektive aber nicht nur, weil die Arbeit von Mintzbergs Shadowing-Studie inspiriert war. Er wählt sie, weil der Mensch einen Ausgangspunkt bietet, der sich, wie der Autor glaubt, theoretisch tiefergehender fundieren lässt als etwa Organisationen oder erwerbswirtschaftliche Organisationen. Dass die akteurszentrierte Perspektive – als die natürlichste Perspektive – nicht nur die der Managementliteratur, sondern auch die der Praktikerliteratur und einfältiger How-to-do-Manuals darstellt, nimmt der Autor sehenden Auges in Kauf: Gerade deshalb liegt ihm die ausführliche theoretische Fundierung unter D am Herzen, gerade deshalb liegt es ihm am Herzen, die Lebensweltperspektive mit der Perspektive der neueren Systemtheorie in Verschränkung zu bringen. Alles in allem ist der gewählte Ansatz, wie der Autor glaubt, der bestmögliche, um das Ziel der Arbeit zu verwirklichen: zu einem tieferen und schärferen Verständnis von Kommunikationsmanagement zu gelangen. Der Ansatz gibt Berufspraktikern nicht lediglich einen weiteren one best way des Kommunikationsmanagements an die Hand, sondern zeichnet Kommunikationsmanagement – präziser: Kommunikationsmanager-Sein – als ein Spannungsfeld spezifischer Probleme, als einen Balanceakt bestimmter Ansprüche, als ein Oszillieren zwischen Polen. Die Frage, wie die Spannungen jeweils aufgelöst, der Balanceakt bewältigt, welche Pole angestrebt oder gemieden werden, hält die Arbeit nicht für verallgemeinerbar. 1. Erstes Resultat und drei Axiome: „Kommunikation“ sprich „PR“ Was die Forschungslogik anbelangt, ist die Entstehung der Arbeit von ihrem Aufbau in Kapiteln zu unterscheiden. Ferner ist die grundsätzlich spiralförmig-einkreisende Vorgehensweise qualitativ-explorativer Forschung zu berücksichtigen. Obwohl mit Teil A ein quasitheoretischer Teil vor der methodischen Diskussion der Studie (B) steht, mit Teil C und D noch weitere theoretische Teile der Diskussion der „harten“, quantitativen Resultate der Studie (E) vorgeschaltet sind, behauptet der Autor nicht, dass das eine vor dem anderen entstand. Der Autor verfügte jedoch über ein bestimmtes, biographisch gewachsenes Verständnis von Kommunikationsmanagement und Kommunikationsmanagern, bevor er die Arbeit überhaupt aufnahm und sich zu einer systematischen Auseinandersetzung entschied. Ebenjenes Bild – welches zum einen von der Exzellenztheorie und der Zerfaß’schen Theorie von Unternehmensführung und Öffentlichkeitsarbeit beeinflusst, zum anderen aber vom Alltagsgebrauch der Worte Manager und Kommunikation geprägt war – führte den Autor zu seiner grundsätzlichen, dreifaltigen Forschungslogik. Erstens: Von der Logik ihrer Entstehung her ist die gesamte Arbeit, von der ersten Seite an, gleichermaßen Ergebnis der Beobachtungsstudie wie auch der theoretischen Auseinandersetzung, insbesondere mit den angeführten Arbeiten. Zweitens: Die theoretische Auseinandersetzung nimmt den Begriff Management im Kompositum Kommunikationsmanagement genauso ernst wie den Begriff der Kommunikation, weil es die Eigendynamiken von Begriffen, nicht Nuancen und Details sind, die den Diskurs in letzter Konsequenz prägen. Drittens: Die Arbeit geht davon
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A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
aus, dass sich das Verständnis von Kommunikationsmanagement dadurch vertiefen und verschärfen lässt, dass man Kommunikationsmanager beobachtet – und sie geht ferner davon aus, dass die beobachteten Personen auch Kommunikationsmanager sind. 1.1 Kommunikation in der Praxis = PR-Kommunikation Die Beobachtungsstudie versteht der Autor als eine qualitative Studie mit einem quantitativen Skelett (vgl. auch B.III). Sieht man von den quantitativen, „harten“ Bestandteilen des Skelettes ab, ging der Autor also ins Feld, um sein eigenes, präexistierendes Verständnis mit der Berufsrealität zu konfrontieren und dann, in erneuter Auseinandersetzung mit der Theorie, zu einem besseren, tieferen und schärferen Verständnis zu gelangen. Und genau das geschah auch. Tatsächlich ist die ausführliche Auseinandersetzung mit Public Relations, die in C stattfindet, ehe der Autor zu Kommunikationsmanagement gelangt, bereits der Verschränkung von Theorie- und Feldarbeit geschuldet. Sie wurde notwendig, weil der Autor feststellen musste, dass ihn maßgeblich beeinflussende Theorien des Kommunikationsmanagements – wie etwa die Exzellenztheorie – einen sehr weiten und umfassenden Diskurs eröffnen. Zieht man sie heran, um eine Beobachtung von Kommunikationsmanagern zu fundieren, realisiert man, dass PR- respektive Kommunikationsmanager in der Praxis vieles tun, was die Theorien postulieren (etwa mit Stakeholdern zu kommunizieren, Kommunikation zu managen) – aber wenn man es in der generischen Art und Weise formuliert, in der es die Theorie formuliert, tun viele andere Manager das auch. Mit einem Mal realisiert man, dass vielen Postulaten in ihrer Allgemeinheit nicht zu widersprechen ist, weil sie eben derartig allgemein sind. Mit einem Mal realisiert man auch, dass derartige weite und umfassende Theoriebildung nur dort konkret und spezifisch Sinn ergibt, wo man stillschweigend ein bereits vorgängig vorhandenes Bild dazudenkt, was Public Relations ist, was mit der speziellen Kommunikation gemeint ist, die in Kommunikationsmanagement steckt. Symptomatisch sind die folgenden programmatischen Sätze aus dem dritten Band der Exzellenztheorie, die belegen, dass sich die grundsätzliche Stoßrichtung seit 1992, seit dem ersten Band, nicht geändert hat: Organizations are bombarded by demands from stakeholders both inside the organization and in their environments – employees, governments, communities, consumers, stockholders, and organized activists. As a result, organizations increasingly depend on someone who has the expertise to communicate with and build relationships with these stakeholder groups. The public relations profession has or should have the expertise to fulfill that organizational dependency. (Grunig/Grunig/Dozier 2002, 2)
Niemand stellt in Abrede, dass Public Relations etwas mit „communicate with“ und „build relationships with“ zu tun hat, aber es bleibt die Tatsache bestehen, dass sich der Begriff Public Relations in der Programmatik der Exzellenztheorie durch Management ersetzen ließe, ohne dass die Sätze an Sinn verlören. Nahezu jeder Manager kommuniziert und baut Beziehungen auf, sehr viele mit Mitarbeitern und Kunden, einige auch mit Regierungen, Aktionären und anderen Stakeholdern. Zerfaß legte bereits 1996 den Finger auf ebenjenen wunden Punkt, als er an einem „Fundament für weitere Überlegungen“ arbeitete, „das die offenkundigen Aporien der bisherigen Theoriebildung, z. B. die undifferenzierte Gleichsetzung von Unternehmenskommunikation und PR oder die diffuse Rede von ‚externer’ und ‚interner’ Öffentlichkeitsarbeit überwindet“ (Zerfaß 2004, 290; 11996). Wenn der Autor also unter C nicht nur dem Begriff des Managements, sondern auch dem der Public Relations historisch nachspürt, so geschieht das nicht, um in Rolkes Worten
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„endlose Beschreibungen des Sachverhaltes“ auszubreiten, sondern klar und eindeutig unter einer These, der Verschiebungsthese: der Begriff der Kommunikation, der in Kommunikationsmanagement steckt, behauptet der Autor, ist nur zu verstehen, wenn man in Rechnung stellt, dass er aus der PR-Theorie und PR-Praxis stammt, wenn man versteht, wie sich Public Relations zu Kommunikation wandelte, was dabei verloren ging und was dabei erhalten blieb.5 1.2 Die Definitionsmisere Wissenschaftliche Arbeiten – vor allem, wenn es sich um empirische Forschungsprojekte handelt – nehmen ihren Ausgang gern von akzeptierten Definitionen. Selbst wenn man beabsichtigt, ein eigenständiges Konzept zu entwerfen, empfiehlt es sich, von sicherem Boden auszugehen. Das verlagert zum einen die Gefahr, „auf Treibsand zu bauen“ auf die breiteren Schultern der scientific community insgesamt. Zum anderen ist es ökonomisch: Wo der Autor von einem anschlussfähigen Grundverständnis ausgeht, steht es ihm frei, ohne tiefes Schürfen Wurzeln zu schlagen und sich seiner eigentlichen Fragestellung zu widmen. Was die vorliegende Schrift anbelangt, gestaltet sich die Wahl einer akzeptierten Definition aufwändiger. Dies hat den primären Grund, dass eine qualitative Beobachtungsstudie nicht mit einem vorgefertigten Konzept ins Feld geht, wenn es ihr gerade um Schärfung und Ausbuchstabierung bestehender Konzepte zu tun ist. Wenn Grunig und Hunt Public Relations mit Communication Management synonym setzen, wenn Bentele Öffentlichkeitsarbeit als das Management von Informations- und Kommunikationsprozessen zwischen Organisationen und ihren Umwelten definiert, dann spiegeln derartige Annäherungen das Endergebnis der Verschiebung wider, in welcher Theorie wie Praxis der PR derzeit begriffen sind. Derartige Definitionen lassen keinen Spielraum darüber nachzudenken, wann und wodurch Public Relations zu Kommunikationsmanagement, wann und wodurch ein Pressesprecher zum Kommunikationsmanager wird. Aber auch abseits der Fragestellung der Arbeit bleibt das Problem bestehen. Der Versuch, Public Relations/Öffentlichkeitsarbeit an sich sowie Kommunikationsmanagement, Unternehmenskommunikation und andere einschlägige Begriffe wie Organisationskommunikation, Strategische Kommunikation oder Integrierte Kommunikation eindeutig zu definieren, darf als never-ending story der wissenschaftlichen Auseinandersetzung gelten. Abgrenzungsarbeit, welche das Feld sauber von Werbung und Journalismus zu scheiden sucht, stellt einen weiteren „Dauerbrenner“ dar – der in Zeiten von Corporate Publishing, Koppelungsgeschäften, Public Journalism, Blogosphäre und Social Software noch angeheizt wurde. Insofern ist es symptomatisch, dass sich die Herausgeber eines Standardwerkes noch 2008 genötigt sehen, der Definitions- und Differenzierungsproblematik einen Beitrag zu widmen. Dort gelangt Fröhlich (2008, 95) zu der Einschätzung, die Definitionsarbeit für das Phänomen Public Relations verlaufe „eher kompliziert“, „außerdem auch wenig strin5 Völlig anders angelegt ist das z.B. in der Arbeit von Börner (1998): Zur gleichen Zeit und ebenso wie Zerfaß aus betriebswirtschaftlicher Perspektive schreibend, handelt die Autorin über Kommunikationsmanagement nahezu ohne über Public Relations oder Unternehmenskommunikation zu handeln. Börner stellt den Begriff Kommunikationsmanagement nicht in die Tradition der Public Relations und Unternehmenskommunikation – mit Ergebnissen, die dramatisch zu kurz greifen und auf den Kenner der zeitgenössischen PR-theoretischen Literatur geradezu befremdlich gewirkt haben müssen.
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gent“. Dafür verantwortlich, dass das Feld noch immer nicht zu einer konsensfähigen, geschweige denn zu einer akzeptierten Definition gelangt sei, macht sie mehrere Faktoren (2008, 95f.; ähnlich Röttger 2000, 108ff.): (1) Das Berufsfeld Public Relations habe seit seiner Entstehung eine enorme Entwicklung durchlaufen, der Definitionsversuche, zumal wissenschaftliche Definitionsversuche, notgedrungen hinterherhängen. Zu schnell und zu oft hätten sich das berufliche Handeln, aber auch das Selbstverständnis der Branche verändert – eine Diagnose, auf die der Autor wieder und wieder verweisen wird. (2) Die Realität der PR-Praxis ist interdisziplinären Charakters. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung spiegelt die Interdisziplinarität ihres Forschungsgegenstandes notgedrungen wider, was zu multiplen Perspektivierungen führt. Aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive gelangt man naturgemäß zu ganz und gar anderen PR-Definitionen als aus wirtschaftswissenschaftlicher, politikwissenschaftlicher, organisationssoziologischer oder sozialpsychologischer. (3) Ähnlichkeiten und Überschneidungen mit anderen Feldern öffentlicher Kommunikation wie etwa Werbung oder Journalismus würden, so Fröhlich, den Blick verstellen für die Grenzen, die sich dennoch eindeutig und trennscharf ziehen ließen. Gesteigert würde die Diffusität dadurch, dass Public Relations über weite Strecken eine „unsichtbare“ Disziplin darstelle, was der Allgemeinheit ein adäquates Verständnis erschwere. (4) Der völlig offene Berufszugang ohne institutionalisierte Qualifikations- und Hierarchiestrukturen, der Mangel an einem klaren und eindeutigen Berufsbild sowie das Fehlen einer „standespolitisch anerkannten Berufsbezeichnung“ verschärften die „Definitionsmisere“ (Fröhlich) zusätzlich. Der Stand der Definitionsarbeit in der PR- respektive Kommunikationsmanagementlehre ist also grundsätzlich kein befriedigender. Auch Merten (2008, 42) stellt in einem großen Bogenschlag6 fest: „Gleichwohl fehlt bis heute – was in so gut wie in allen Lehrbüchern zu Public Relations bemängelt wird – eine konsentierte Definition.“ Wie der Autor glaubt, ist die „Definitionsmisere“ aber nicht der Beschränktheit der Gelehrten geschuldet, sondern der Verwickelung von mehreren Gründen. Zunächst einmal gilt es zu sehen, dass PR/Kommunikationsmanagement eine Organisationspraxis ist, die „realiter“ unklare, verschwommene Grenzen hat, sich in ständigem Fluss (zu fluidity und complexity als Charakteristikum der Branche vgl. etwa auch Gower 2006) befindet. Das führt zu einem zweifachen Problem. Einerseits führt es dazu, dass die Berufspraktiker selbst unablässig an und mit der Definition/Redefinition ihrer Berufspraxis arbeiten. Andererseits führt es dazu, dass die wissenschaftliche Reflektion ständig vor einer Doppelherausforderung steht: Sie versucht gleichzeitig zu erfassen und zu setzen. „Unter diesem Veränderungsdruck“, macht auch Merten geltend (2008, 44), „hat es […] die nacheilende Verwissenschaftlichung von Public Relations besonders schwer. Sie agiert auf einem schwankenden Boden, muss ihren Geltungsbereich erst erkämpfen, einen anerkannten Einstellplatz bei einer anerkannten Disziplin finden und ihn zugleich laufend erweitern und neu definieren.“ Eng mit Mertens präziser Analyse verknüpft ist der bedauerliche Umstand, dass in der kontinuierlichen Definition und Redefinition durch Praktiker und Wissenschaftler Ansätze und Herangehensweisen von unterschiedlichem Status vermischt werden. Normative und deskriptive Elemente vermengen sich in Definitionen, die von Wissenschaftlern, Praktikern und Laien mit völlig verschiedenen, nicht immer definitorischen Intentionen formuliert werden. Der Autor der vorliegenden Arbeit etikettiert das als
6 Mertens Bogenschlag umfasst etwa die Diagnosen in L’Etang/Pieczka 2006, 90; Kunczik 2002, 23ff.; Avenarius 1995, 51ff.; Cutlip/Center/Broom 1994, 11ff.; Haedrich/Barthenheier/Kleinert 1982, 188.
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„deskryptonormative“ Theoriebildung: auf der Oberfläche deskriptiv, in kryptisch verborgener Art und Weise und in der Tiefe aber normativ. Der außenstehende wissenschaftliche Beobachter hat freilich Freiräume, mit der Situation zu Rande zu kommen. Während der Praktiker in der Definitionsarbeit nach einem „funktionierenden“ Arbeitsverständnis sucht, ist es Aufgabe des außenstehenden wissenschaftlichen Beobachters, einen Rahmen zu ziehen, der es gestattet, die Veränderungen vor dem Hintergrund des sich nicht Verändernden zu verstehen. Ebenjener Herausforderung geht Definitionsarbeit aus dem Wege, wenn sie sich mit Praktiker- und Laiendefinitionen auf eine Stufe stellt, wenn sie normative und deskriptive Perspektiven vermischt. Der Status der Definitionen Wer sich in wissenschaftlichen Handbüchern, praktischen Ratgebern, auf Webseiten von Agenturen oder bei Berufsverbänden kundig zu machen sucht, was denn Public Relations, Kommunikationsmanagement oder PR sei, vermag oftmals nicht einzuschätzen, wieweit es sich bei einer Definition um einen „ernstgemeinten“ Versuch handelt, das Phänomen zu fassen. Oft finden sich programmatische Definitionen, welche nicht auf die Gegenwart, sondern auf die Zukunft, auf ein Ideal anstelle der Realität zielen. Oder der Leser hat es mit Pointierungen zu tun, welche Griffigkeit gegen Richtigkeit tauschen. Wenn hinter der Pointierung eine Theorie steht, gut; wenn die Pointierung sich in sich selbst erschöpft, mag die Freude an einem gelungenen Aphorismus bleiben, der Wissenschaft wurde aber ein weiterer Stein in den Weg geworfen. Der definitorische Wildwuchs wurde von wissenschaftlicher Seite, von Seiten der PRLehre bereits diagnostiziert. Bentele schlägt vor, grundsätzlich zwischen drei verschiedenen Definitionsperspektiven zu differenzieren (Bentele 1998, 27-30; ähnlich Fröhlich 2008; Rühl 2008; Merten 2008). Wo wir es mit sozialen und sozial beobachtbaren Phänomenen wie Public Relations zu tun haben, sei zu unterscheiden zwischen 1) einer Laienperspektive, welche widerspiegelt, was der Bürger auf der Straße, der „Otto Normalverbraucher“ unter Public Relations versteht; 2) einer Praktikerperspektive, welche das Selbstverständnis der PR-Praktiker spiegelt; 3) schließlich der wissenschaftlichen Perspektive, welche eine allgemeingültige, anschlussfähige, gleichermaßen trennscharfe wie in sich schlüssige Verständnisweise des sozialen Phänomens PR auszubuchstabieren versucht. Benteles Unterscheidung eliminiert viele der Missverständnisse, welche der definitorische Wildwuchs, welche idiosynkratische Definitionen im wissenschaftlichen Gewande mit sich bringen. Aber auch redliche wissenschaftliche Definitionen, seien sie aus der Feder von reflektierenden Praktikern (zu Praktikertheorien Kunczik/Szyszka 2008) oder Berufswissenschaftlern, sind nicht frei von Unschärfe. Gerade bei PR-Definitionen geschieht es häufig, dass normative und deskriptive Definitionselemente bewusst oder unbewusst vermischt werden. „Viele der Versuche, Public Relations zu definieren, geben aber eine falsche Antwort auf eine falsch gestellte Frage“, kritisiert etwa Schulz (2002, 517). „Sie antworten nicht darauf, was Public Relations ist, sondern was Public Relations sein sollte.“ Findet man, dass eine Definitionen im Großen und Ganzen die beobachtbare Praxis beschreibt, dann etikettiert man sie als deskriptiv; trifft sie lediglich einen fortschrittlichen, „guten“ Teil, klammert einen rückschrittlichen, „schlechten“ Teil aber aus, tituliert man sie als normativ. Da die Arbeit axiomatisch davon ausgeht, dass Public Relations etwas anderes ist als Kommunikationsmanagement, sieht der Autor Definitionsperspektiven, welche
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A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
die Begriffe gleichsetzen, daher als normativ an: PR ist in bestimmten Fällen, keineswegs aber zwangsläufig als Kommunikationsmanagement ausgeprägt. Wie die Vermischung von normativen und deskriptiven Elementen geschieht, lässt sich an der vielleicht wirkmächtigsten PR-Theorie vergegenwärtigen: an der US-amerikanischen Excellence Theory (vgl. insbesondere Grunig et al. 1992; Dozier/Grunig/Grunig 1995; Grunig/ Grunig/Dozier 2002; Toth 2006), welche empirisch gestützt auftritt, gleichwohl im Kern normativ bleibt. In der Exzellenztheorie werden Möglichkeit und Fähigkeit des obersten Kommunikationsverantwortlichen in der Rolle als Kommunikationsmanager zu agieren als einer der am höchsten aufgeladenen Exzellenzfaktoren ausgewiesen. Das geschieht empirisch, auf Basis fortgeschrittener statistischer Verfahren, wie etwa einer Hauptkomponentenanalyse. Sieht man sich die Forschungslogik und Argumentationsstruktur der Exzellenztheorie an, stellt man jedoch fest, dass Exzellenz keineswegs über PerformanceKriterien wie Image des Unternehmens oder Wertschöpfung durch Kommunikation definiert ist. Exzellenz stellt nichts anderes dar als die asymptotische Annäherung an die von der Exzellenztheorie selbst postulierte ideale Art und Weise, Kommunikationsmanagement zu organisieren und zu implementieren (gedrängt auch Zerfaß 1996a). Es geht hier nicht um Kritik an der Forschungslogik der Exzellenztheorie per se, sondern um Transparenz der Argumentationsstrukturen. Das Jonglieren mit Konzepten, die gleichermaßen normativ-präskriptiv wie empirisch-deskriptiv sind, lässt sich durchaus positiv als eine wissenschaftliche Veränderungs- und Erziehungsstrategie begreifen. Anstatt Praktikern und Studenten lediglich aufzuzeigen, wie es „ist“, werden Optimierungsstrategien aufgezeigt und Konzepte entwickelt, wie es sein sollte oder könnte. Empirische und normative Perspektive in einer Definition zu verbinden – also z. B. Public Relations von vornherein mit Kommunikationsmanagement äquivalent zu setzen, und anzudeuten, dass PR in der Praxis oft noch nicht dort angekommen ist, wo sie sein sollte oder könnte – stellt aber ein verwirrendes Spiel dar. Es ist verwirrend, weil es eine eigentlich multidimensionale Differenzierung – die zwischen den Grenzen einer Praxis, dem Gut und Schlecht, dem Richtig und Falsch – in einer einzigen aufhebt. 1.3 Drei Axiome als Alternative zu einer PR-Definition Wenn der Autor sich also der tour de force durch die PR-Definitionslandschaft verweigert, dann stützt er sich auf Fröhlichs Analyse, stützt er sich auf Mertens harte, aber klare Diagnose: „Insgesamt hat dies dazu geführt, dass die wissenschaftliche Definition des Begriffes Public Relations wenig fruchtbar geblieben ist oder sogar abgelehnt wird“ (Merten 2008, 42f.). Nach Überzeugung des Autors ändert sich nichts an ihr, wenn man die in Betracht gezogenen Annäherungen an PR, Kommunikationsmanagement, Unternehmenskommunikation etc. vermehrt, in der Geschichte zurückgeht oder neue wie etwa die von Buchele (2010), Will (2007), Herger (2006) oder Kussin (2006) heranzieht. Da aber auch eine spiralförmige Forschungslogik ihren Ausgang irgendwo nehmen muss, setzt der Autor drei Axiome, die er aus der Verschränkung von Theorie- und Feldarbeit gewinnt, welche den eigentlichen Forschungsgegenstand, das eigentliche Untersuchungsinteresse der Arbeit herausheben. Die Verschiebungsthese: Von Public Relations zu Kommunikationsmanagement Das erste Axiom der Arbeit ist die Verschiebungsthese, welche postuliert, dass Kommunikationsmanagement im Prinzip eine höherkomplexe Evolutionsstufe von Public Relations
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darstellt – wobei der Begriff der Stufe andeutet, dass auch ein kleiner Sprung stattfindet, der zum Senior Executive oder Direktor. Auf Basis des ersten Axioms zieht der Autor sowohl die PR- als auch die Managementlehre heran, um zu einem klareren und schärferen Bild von Kommunikationsmanagement zu gelangen. Wer das erste Axiom nicht akzeptiert, wer Kommunikationsmanagement nicht in der Tradition der Public Relations stehend sieht, wer nicht der These des Autors folgt, dass Direktoren Unternehmenskommunikation oder Kommunikationsmanager oder Communication Executives eigentlich oberste PRVerantwortliche sind, die mit ihrer PR-Expertise in ein neues Spiel, in die unternehmenspolitische Arena der Kommunikationsfunktion einsteigen – der wird Schwierigkeiten haben, die Arbeit zu verstehen. Public Relations/Kommunikationsmanagement als Organisationspraxis Das zweite Axiom der Arbeit ist die Annahme, dass der einzige Weg zu einem Fixpunkt in der Analyse von Public Relations und Kommunikationsmanagement zu gelangen, der ist, einen Schritt zurückzutreten und das eine wie das andere in letzter Konsequenz als eine soziale Praxis, als eine Organisationspraxis zu begreifen.7 Versuche, Public Relations oder Kommunikationsmanagement darüber hinaus definitiv zu fixieren führen, wie der Autor glaubt, geradewegs in die „Definitionsmisere“, weil sie das dynamische Definitions- und Redefinitionsspiel in Organisationen, weil sie das politische Spiel nicht reflektieren: Natürlich stimmt ein Berufspraktiker sofort zu, dass es etwa um Vertrauen, Glaubwürdigkeit, Image, Reputation, Legitimität geht, aber wenn man in die Köpfe blicken könnte, behauptet der Autor, würde man feststellen, dass jeder darunter etwas anderes versteht; die doppelte Hermeneutik schlägt zurück. Wenn der Autor also argumentiert, dass zunächst einmal ein Fixpunkt erforderlich ist, dann möchte er mit einer Beschreibung beginnen, bei der es belanglos ist, ob die jeweils ausübenden Praktiker ihr beipflichten oder nicht. Das sieht er bei einem Verständnis von Kommunikationsmanagement als Organisationspraxis gegeben, weil ein derartiges Verständnis in seiner Neutralität jenseits des Definitions- und Redefinitionsspiels steht. Darauf aufsetzend lässt sich dann die Frage stellen, welche Selbstverständnisse Praktiker in der Berufspraxis entwickeln, etwa „Kommunikationsmanager“, „Pressefuzzi“, und welche Selbstverständnisangebote von Seiten der Berufstheorie gemacht werden, etwa Differenzmanagement (Merten), funktionale Transparenz (Szyszka), soziale Integration (Zerfaß), Legitimität (Hoffjann, Holmström). Public Relations/Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis Das zweite Axiom zieht dem außenstehenden, wissenschaftlichen Beobachter, ja der Theorieentwicklung in toto, den Boden unter den Füßen weg – zumindest vermeintlich. Es ist jedoch in Komplementarität mit dem dritten Axiom zu sehen, welches einen gegenläufigen Zusammenhang behauptet. Das dritte Axiom besteht in der Annahme, dass Kommunikationsmanagement ein Terminus ist, der heutzutage, in der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, einen generischen, in Organisationen beobachtbaren Tätigkeits-, Handlungs- und Verantwortungskomplex bezeichnet. Anders ausgedrückt: Der Autor glaubt, dass heutzutage in vielen, gerade größeren Organisationen Praktiken beobachtbar sind, die von den jeweiligen Praktikern selbst als Public Relations, Unternehmenskommunikation, Corporate Communications, Integrierte oder Strategische Kommunikation, mit welchen 7
Zum deutschen Begriff der Praxis vs. Praktiken, in der englischen Übersetzung praxis vs. practice vgl. III.2.
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idiosynkratischen Termini auch immer, bezeichnet werden mögen – und gleichzeitig ist es für einen außenstehenden wissenschaftlichen Beobachter legitim, unter Formulierung seiner Kriterien, von generischer PR oder generischem Kommunikationsmanagement zu sprechen. Dass das legitim ist, hat einen doppelten Grund: Der erste, simplere Grund ist der, dass die Organisationspraktiken PR oder Kommunikationsmanagement keine beliebigen, exklusiv durch die Organisation oder einzelne Praktiker definierten sind, sondern darüber hinaus professionelle, welche durch die community der berufserfahrenen Praktiker, durch Verbände, durch wissenschaftliches Vor- und Nachdenken mitdefiniert werden (für die Professionalisierungsdebatte in der deutschsprachigen PR-Branche vgl. etwa Röttger 2000; Wienand 2003). Für den außenstehenden wissenschaftlichen Beobachter, der an generischen Konzepten interessiert ist, besteht also kein Anlass, idiosynkratische Spielereien einzelner Praktiker allzu ernst zu nehmen, wenn sie nicht in Verbindung mit der professionellen community stehen; genauso wenig sind aber idiosynkratische Spielereien einzelner Wissenschaftler allzu ernst zu nehmen, wenn sie nicht in Berührung mit der Berufspraxis stehen. Der zweite Grund, weswegen es legitim ist, nach generischen Konzepten zu suchen, ist etwas komplexer. Er lässt sich nachvollziehen, wenn man die Organisationspraktiken PR oder Kommunikationsmanagement mit einer anderen sozialen Praxis, dem Sprechen einer Sprache, vergleicht (vgl. auch Giddens 1995, 76-77). Dann ist zunächst einmal unter Rekurs auf die klassische Kommunikationstheorie festzuhalten, dass eine Sprache ein Mittel ist, um einen übergeordneten, allgemeinen Zweck, den der Verständigung, zu verwirklichen – und im Rahmen des übergeordneten, allgemeinen Zweckes jeweils spezifische, individuelle Ziele: z. B., dass jemand die Tür schließt, weil es zieht (vgl. A.I). Ferner ist festzuhalten, dass ebenjenes Knäuel von Zwecken, Zielen und Mitteln, die soziale Praxis, von Regeln durchdrungen ist, ja von Regeln zusammengehalten wird. Bricht man die Regeln übermäßig, verlässt man die soziale Praxis in den Augen der anderen ganz und gar. Die Praxis reißt ab – im Fall der Sprache spricht man Kauderwelsch. Bricht man die Regeln im allgemeinen Sinne, dann verwendet man die Sprache „falsch“. Beherrscht man sie nicht im speziellen Sinne, dann wendet man die Sprache „schlecht“ an. Entscheidend ist jetzt einerseits, dass die Praktizierenden der Sprache sich der Regeln keineswegs vollumfänglich bewusst sein müssen: Um in der sozialen Praxis zu bleiben, genügt es, dass sie die Regeln anwenden, was manchmal bewusst, manchmal vor- oder unbewusst geschieht. Andererseits ist entscheidend, dass es Praktizierende gibt, die anscheinend, ob bewusst, vor- oder unbewusst, mehr, treffendere oder feinere Regeln anwenden, was sich im Fall der Sprache z. B. dadurch zeigt, dass sie „die richtigen Worte finden“. Führt man die drei Gedanken zusammen, dann lässt sich eine andere Metapher aufgreifen, die des Spieles (zu Spielmetaphorik Crozier/Friedberg 1977; vgl. auch Bateson 1972; Wright 1963; grundlegend die Rede von einem „Sprachspiel“ bei Wittgenstein PU, §7, §27). Soziale Praktiken sind wie „Spiele“, die Regeln für ihre Grenzen, für richtig und falsch, für gut und für schlecht haben. Um an der sozialen Praxis teilzunehmen, genügt es aber, einen Bruchteil der Regeln zu beherrschen; und selbst um in der sozialen Praxis erfolgreich zu sein, ist es nicht erforderlich, die Regeln bewusst zu beherrschen. Gleichwohl, und das ist die entscheidende Vermutung des Autors, existieren die Regeln. Auf eine professionelle Organisationspraxis wie PR oder Kommunikationsmanagement übertragen heißt das: Jemand mag gute, richtige, erfolgreiche Public Relations praktizieren, ohne dass er hundertprozentig zu sagen vermag, warum seine Arbeit gut, richtig und erfolgreich ist (der Autor geht sogar davon aus, dass das eher häufig denn selten ist, und die gerade in der Praktikerliteratur weit verbreitete Aufwertung des
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„Bauchgefühls“ bestätigt das). Als Grund vermutet der Autor, dass Public Relations und Kommunikationsmanagement Praktiken sind, welche in hohem Maße durch „abgesunkene“ working theories, durch zu Selbstverständlichkeiten gewordene mental models, durch vorund unbewusste Wahrnehmungs- und Handlungsmuster getrieben werden. Und ebenjene individuellen Arbeitstheorien, mentalen Modelle und Muster des einzelnen Praktikers können die Regeln des „Spiels“ präzise und differenziert reflektieren oder nicht – wobei die These des Autors die ist, dass sich auf lange Sicht erfolgreiche, gute Praktiker in ebenjener Hinsicht von schlechten, auf lange Sicht erfolglosen unterscheiden. Im Umkehrschluss heißt das aber auch, dass es ein lohnenswertes Projekt darstellt, nach den generischen Regeln der sozialen, professionellen Organisationspraxis zu suchen. Wer das lohnenswerte Projekt verfolgt, sollte aber von Anfang an im Auge haben, dass das Objekt der Gralssuche „Regeln“ sind, die von niemandem formuliert wurden, die niemand vollumfänglich und abschließend beherrscht. Es handelt sich um „natürliche“ Regeln. „Natürlich“ nicht in naturgesetzlicher Art und Weise, sondern „natürlich“ dergestalt, dass sie Resultat der eigendynamischen Selbstorganisation einer sinnhaften sozialen Praxis sind, die von Menschen über Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte definiert und re-definiert, erlernt, verändert und wiederum gelehrt wurde. Es handelt sich also um eine „kulturelle Vererbung“, wie sie Anthropologen der biologischen gegenüberstellen (vgl. Tomasello 2006, Kap. 2). 2. Zweites Resultat: Professionelle Organisationspraxis Mit der Perspektive, Kommunikationsmanagement als Organisationspraxis zu begreifen, tritt der Autor einen Schritt zurück hinter Annäherungen, welche Kommunikationsmanagement eindimensional über eine Organisationsfunktion (wie etwa Transparenz, Reflexion, Differenz oder Legitimität) oder einen one best way (wie das etwa bei der Exzellenztheorie geschieht) fassen. Derartige Annäherungen sind entweder mit einem Formfehler behaftet, wo sie deskriptiv und normativ argumentieren. Oder es kommt zu einer Verwischung der drei Ebenen, welche der Common Sense mit Verstehen einer Praxis verknüpft.
Was ist Kommunikationsmanagement? Was ist richtiges Kommunikationsmanagement? Und was ist falsches? Was ist gutes Kommunikationsmanagement, was schlechtes?
Die drei Fragen umreißen die Annäherungsstrategie, die der Autor vorschlägt. Der Strategie ist jedoch die Verschiebungsthese vorgeschaltet, welche postuliert, dass Kommunikationsmanagement eine Evolutionsstufe von Public Relations darstellt, Kommunikationsmanagement sich aus Public Relations entwickelte. Ehe die Frage danach gestellt werden kann, was Kommunikationsmanagement ist, was richtiges und gutes Kommunikationsmanagement bedeutet, gilt es demnach, die entsprechenden Fragen für Public Relations zu stellen.
Was ist unter Public Relations zu verstehen? Was ist unter richtigen Public Relations zu verstehen, was unter falschen? Was ist unter guten Public Relations zu verstehen, was unter schlechten?
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2.1 Public Relations als soziale Praxis Am Beispiel der Sprache wurde vergegenwärtigt, dass jede soziale Praxis etwas vereinfacht als eine Verwickelung von allgemeinem Zweck, speziellen, in der Situation verfolgten Zielen und gängigen Mitteln gedacht werden darf, so wie es Abbildung 2 zeigt. Auf Public Relations und Kommunikationsmanagement übertragen heißt das, dass sich die Praxis gleichermaßen über typischerweise gedachte Zwecke, typischerweise verfolgte Ziele, typischerweise zur Anwendung gebrachte Mittel konstituiert. Anders ausgedrückt: soziale Praktiken sind gleichermaßen funktional, operational und instrumental zu definieren (vgl. zu der Unterscheidung auch Schulz 2002). Mit der Rede von Verwickelung ist angedeutet, dass es äußerst schwierig ist, dem einen oder anderen Aspekt analytisch die Priorität zuzusprechen: Manchmal beansprucht ein Praktiker, Öffentlichkeitsarbeiter zu sein, weil er typische Instrumente und Methoden anwendet, etwa Pressemitteilungen versendet (instrumental) – und ihm ist nicht zu widersprechen. Manchmal beansprucht ein Praktiker, Kommunikationsmanager zu sein, weil ihm in seiner Arbeitsbeschreibung die Verantwortung für die öffentliche Wahrnehmung, das Image, die Reputation des Unternehmens übertragen wurde (operational). Und auch wenn der Praktiker beansprucht, Kommunikationsmanager zu sein, weil er viel über Legitimität nachdenkt, weil Legitimierung stets und immer der stillschweigende, verborgene Zweck seines Handelns darstellt, dann ist ihm zunächst einmal nicht zu widersprechen. Beobachter- und Praxisperspektive Was Abbildung 2 zeigt, ein Knäuel aus Zwecken, Zielen und Mitteln, in letzter Konsequenz ein Knäuel von Problemen, stellt aus Beobachterperspektive Public Relations dar. Für diejenigen, die in der Organisation stecken, die Tag für Tag an der Konstitution der sozialen Praxis und ihrer kontinuierlichen Rekonstitution beteiligt sind, sieht das freilich anders aus: Sie sehen Probleme, die „natürlich“ PR-Probleme sind; sie sehen „rationale“ Lösungen für ebenjene Probleme, sie sehen PR-Arbeit, die mehr oder weniger „zielführend“ ist, die mehr oder minder „Sinn macht.“ Aber gerade jetzt gilt es genau hinzusehen: Denn der Sinn, und das ist ein häufiges Missverständnis, kommt nicht von außen oder „von oben“. Nicht nur die Vorstellungen von Public Relations-Mitteln und PR-Zielen, sondern auch die übergeordneten Vorstellungen von Zwecken, Wirkungen, von Sinn und Unsinn der PR-Arbeit sind in letzter Konsequenz unauflöslich mit der sozialen Praxis verwickelt. Sie sind Teil des Knäuels von Erwartungen und Erwartungserwartungen konkreter und spezifischer Organisationsakteure, welche die soziale Praxis Public Relations oder Kommunikationsmanagement jeweils, im konkreten und spezifischen Fall, konstituieren. Anders ausgedrückt: Während man in der Theorie – oftmals, nicht immer – nach einem ewigwährenden, wahren „Sinn“ der PR-Arbeit forscht, ist der konkrete und spezifische Sinn und Zweck der sozialen Praxis PR ein jeweils verhandelter. Man mag das Ergebnis der Verhandlungen aus der theoretischen Beobachterperspektive für haarsträubend halten oder in Abrede stellen, dass es sich hier überhaupt um PR handelt – es ändert, zunächst einmal, nichts.
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Abbildung 2: Soziale Praxis Public Relations als Ziel-Zweck-Mittel-Konstellation (Quelle: eigene Darstellung) Organisationspraxis: Beliebig, aber nicht beliebig Vor einem Missverständnis ist zu warnen: dass die Definition und Konstitution der Praxis mit ihren Zwecken, Zielen und Mitteln aus Akteurssicht eine beliebige ist. Sie ist alles andere, und zwar aus drei ineinander geschachtelten Gründen: Erstens, weil es sich um eine soziale Praxis handelt; zweitens, weil es sich um eine Organisationspraxis handelt; drittens, weil es sich um eine professionelle Praxis handelt. Schon eine soziale Praxis ist nicht beliebig aus der Perspektive eines einzelnen Akteurs, weil sie sich eben sozial, durch Ausund Verhandlung konstituiert. Organisationspraxis heißt, dass Ziele, Wirkungs- oder Problemlösungserwartungen nicht lediglich aufeinander bezogen sind, sondern auf etwas anderes: auf die außerhalb der Organisationspraxis stehende, nicht verhandelbare Organisation. Es ist konstitutives Element der Organisationspraxis Public Relations – wie jeder anderen echten Organisationspraxis –, dass die Akteure in der sozialen Aushandlung argumentieren, dass sie doch Organisationsziele verfolgen, dass mit ihrem Denken und Handeln die Erwartung verknüpft ist, Probleme der Organisation zu lösen, zum Erfolg der Organisation beizutragen. Organisationsziele, Organisationsprobleme und Organisationserfolg sind aber Vokabeln, welche auf Kriterien, Maßstäbe, Punkte außerhalb des Knäuels, ja außerhalb der Organisation verweisen. Systemtheoretisch-kybernetisch gewendet heißt dies nichts anderes, als dass das System in einem selbstreferenziellen Prozess definiert, wo es nicht selbstreferenziell ist. In der Alltagssprache, die ja die Verhältnisse manchmal präziser widerspiegelt als die elaborierteste Theorie, drückt sich der Zusammenhang in selbstbezüglichen Formulierungen aus, wie z.B. „… ich möchte meine Arbeit an diesem oder jenem messen.“
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Der externe wissenschaftliche Beobachter mag derartige Formulierungen nicht für valide und schulbuchmäßig halten, aber wenn sie im Kräfte- und Machtspiel einer realen Organisation mehrfach geäußert wurden, werden sie sehr verbindlich und äußerst relevant. 2.2 Zweck, Ziel, Mittel: Modus, Relation, Funktion – ein eigener, offener Vorschlag Geht man davon aus, dass sich jede soziale Praxis, und auch jede Organisationspraxis und jede professionelle Praxis, via die Trias Zweck, Ziel, Mittel beschreiben lässt, dann muss das auch für Public Relations möglich sein. Der Autor postuliert demnach einen eigenen Entwurf, der sich zwar in vielem an der Zerfaß’schen Argumentationslinie orientiert, alles in allem aber offener ist. Wenn Akteure in Organisationen in idealtypischer Art und Weise Öffentlichkeitsarbeit praktizieren, dann „kommunizieren“ sie in einem spezifischen Modus (Mittel) mit Blick auf eine spezifische Relation (Ziel oder Zweck, je nachdem) – und sie tun das, weil sie darin einen Beitrag zum Überleben und Erfolg der Organisation, eine Organisationsfunktion (Ziel oder Zweck, je nachdem) sehen. Der Autor ist der Meinung, dass sich die drei Facetten in nahezu jeder Theorie der PR, des Kommunikationsmanagements, der Unternehmenskommunikation wieder finden – und eben auch im Diskurs der Praxis, der professional community. Und derartige Theorien und Diskurse sind es, um das noch einmal zu wiederholen, die die Praxis als professionelle Praxis definieren – organisationsinterne Theorien und Diskurse sind es, die sie als Organisationspraxis definieren. Das ist übrigens auch der Grund, auf die Gefahr hin eine Selbstverständlichkeit zu wiederholen, weshalb viele verschiedene PR-Theorien und Diskurse gleichberechtigt nebeneinander stehen, obwohl manche sicherlich besser, stringenter und plausibler sind, andere schlechter, vager und diffuser. Es ist eben nicht so, wie in der idealtypischen Naturwissenschaft, dass nur eine Theorie richtig ist, dass nur eine erfasst, was PR „wirklich“ ist. 2.2.1 Modus Um zu verstehen, was der Autor meint, wenn er richtige und gute Public Relations als einen Kommunikationsmodus begreift, ist es erforderlich, zwei Denkschritte zu gehen. Erstens ist es erforderlich, ein etwas erweitertes Kommunikationsverständnis zugrunde zu legen, als es in der PR-Lehre üblich ist. Zweitens ist es erforderlich, den in der Lehre des Kommunikationsmanagements üblich gewordenen Rahmen der Analyse zu invertieren. Abbildung 3 kontrastiert das übliche und das etwas anders gelagerte Kommunikationsverständnis, welches der Autor unter I. bereits anriss. Von Anfang an sei gesagt, dass es nicht um die Gegenüberstellung simplifizierender hypodermic needle-Bilder oder StimulusResponse-Metaphern mit komplexeren kommunikationstheoretischen Modellen geht. Im Fokus steht vor allem der Akteur, der Rezipient. Auf der linken Seite ist die Vorstellung von einer Kommunikation abgebildet, die auf den Akteur zielt und direkt und unmittelbar auf ihn wirkt. Auf der rechten Seite ist Kommunikation abgebildet, die zwar auch unmittelbar und direkt auf den Akteur wirkt, den Akteur aber teilweise durchdringt und eine Resonanz erzeugt, die dann, mittelbar und indirekt, auf den Akteur zurückwirkt. Die Grafik verdeutlicht damit die bereits angerissene These des Autors, dass das „Verstehen“ von Kommunikation, die Interpretation, nur zu einem geringen Teil aus direkter Kommunikation, sprich: Encodierung, Decodierung, erklärbar ist. Was wir verstehen, welchen Sinn wir einer Aussage oder Handlung beimessen, was letzten Endes als Bedeutung ankommt, ist
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sehr viel mehr aus der Resonanz der Kommunikation erklärbar, aus der Interpretation vor dem Hintergrund der bestehenden Beziehung, der bestehenden Gesamtlage.
Abbildung 3: Kommunikation als Impuls und Kommunikation als Resonanz (Quelle: eigene Darstellung) Die Metapher des Resonanzbodens Dass Verstehen zu einem sehr viel größeren Teil auf Erwartungen und Erwartungserwartungen aufsetzt als auf wie auch immer gearteter Encodierung und Decodierung ist natürlich keineswegs neu, obwohl es der Autor unter D noch einmal in einen größeren theoretischen Zusammenhang stellen möchte. Bereits „Klassiker“ der Kommunikationswissenschaft, wie das Maletzke’sche Feldschema der Massenkommunikation, zeigten auf, dass das Erleben und die Wirkung von Kommunikation durch das Selbstbild des Rezipienten im Team, als Persönlichkeit, in der Institution, in anderen sozialen Beziehungen geprägt ist (vgl. Maletzke 1963, 41). Was hier und jetzt von Interesse ist, ist aber die Weiterführung der Metapher. Die These des Autors lautet, dass Akteure – bildlich gesprochen, denn in der Realität handelt es sich um komplexe mentale Assoziationsprozesse, die von Cues und Markern gesteuert werden – nicht schlicht und einfach über einen Resonanzboden verfügen, sondern über mehrere geschichtete.
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Abbildung 4: Resonanz auf geschichteten Resonanzböden (Quelle: eigene Darstellung) Die linke Seite der Abbildung 4 illustriert eine Reihe von Annahmen des Autors, die eine Annäherung an PR-Kommunikation als Kommunikationsmodus gestatten. Sie zeigt, dass die Resonanz der direkten und unmittelbaren Kommunikation nicht zwangsläufig von der ersten Schicht herrührt, sondern dass vorgelagerte Schichten durchdrungen und Resonanzen auf tieferliegenden Schichten erzeugt werden können. Und die Resonanz auf der tieferliegenden Schicht mag, das geht mit der These Hand in Hand, eine völlig andere sein als die auf höherliegenden. Ferner nimmt der Autor an, dass der Empfänger der Kommunikation weniger bewussten Einfluss auf die Schicht hat, zu der die Kommunikation durchdringt, als der Kommunikationssender. Das heißt nicht, dass der Kommunikationssender beliebige Schichten im Empfänger „ansteuern“ kann; es heißt aber, dass der Versuch eine Schicht anzusprechen für ihn von vornherein bewusster ist als für den Empfänger, und dass er die Initiative hat. Resonanzböden als Identitäts- bzw. Situationsdefinitionen Was ist unter den Schichten, den Resonanzböden, zu verstehen? Allgemein gesagt versteht der Autor darunter Identitäts- bzw. Situationsdefinitionen. Von Identitätsdefinitionen ist deshalb die Rede, weil der Resonanzboden zunächst einmal der des Empfängers ist, der Sender mutmaßt in letzter Konsequenz, welche Resonanzböden im Empfänger tatsächlich existieren. Von Situationsdefinition ist jedoch die Rede, weil Identitätsdefinitionen häufig nicht einseitig sind. Wenn sich z. B. eine Person in ihrer Identität als „Student“ definiert, geht das Hand in Hand mit der Definition anderer Personen als Dozenten oder Professoren. Weshalb, ließe sich fragen, spricht der Autor nicht schlichter von Rollen, wo doch das sozialpsychologische Konzept der Rolle gut ausgearbeitet ist und in der Arbeit große Bedeutung trägt? Die Antwort lautet, dass nach Ansicht des Autors die vordergründigen Resonanzböden wie etwa „Elitestudent“, „Student“ durchaus als Rollenbilder zu begreifen sind, für PR-Kommunikation von größerem Interesse sind jedoch die hintergründigen. Einer der für PR-Kommunikation wichtigsten Resonanzböden, um das vorwegzunehmen, ist der des „Bürgers“. Bürger ist jedoch ein Konzept, welches nur unter Schwierigkeiten als abgrenzbare Rolle zu begreifen ist, es handelt sich jedoch um einen wirkmächtigen Resonanzboden in westlichen Demokratien. Das zeigt beispielsweise die Debatte um die Verlagerung von
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Arbeitsplätzen ins Ausland, die um den „Standort Deutschland“ kreist. Wenn Unternehmen Arbeitsplatzverlagerungen und Kündigungen begründen, argumentieren sie auf Basis der betriebswirtschaftlichen Logik, wie auch anders – es gelte, „wettbewerbsfähig“ zu sein. Die betriebswirtschaftliche Logik dringt aber, wiederum metaphorisch gesprochen, geradewegs durch die Mehrzahl der gewöhnlichen Menschen auf der Straße, trifft auf den Resonanzboden der bürgerlichen Gesellschaft und führt dort zu Schwingungen, die mit der vordergründigen Wettbewerbsargumentation in Missklang stehen: Wettbewerbsfähigkeit sei doch nicht alles, heißt es, man müsse doch an die Menschen in Deutschland denken, die Arbeit, Lohn und Brot bräuchten. Das Beispiel vergegenwärtigt die Nachteile des Rollenbegriffes, die Vorteile der Rede von Resonanzböden. Die vordergründigen Resonanzböden sind mit Rollen vergleichbar8, das Individuum empfindet die zurückschwingenden Bedeutungen als primär aus sich selbst stammend: Ich verstehe dies oder jenes so, weil ich mich als so oder anders begreife, während ich weiß, dass andere das nicht tun. Die hintergründigen Resonanzböden, welche auch immer es sind, lassen sich jedoch kaum noch sinnvoll und vernünftig als Rollen begreifen, weil es sich mehr und mehr um gesellschaftliche Überzeugungen und Annahmen handelt – die das jeweilige Individuum, genauer betrachtet, als geteilte Werte internalisiert: Es ist so, so etwas macht man nicht, resoniert es aus der Gesellschaft respektive aus der eigenen Internalisierung der Gesellschaft. Die Differenzierung zwischen einer betriebswirtschaftlichen Argumentation einerseits, die im Missklang auf einen bürgerlich-gesellschaftlichen Resonanzboden andererseits trifft, zeigt bereits, dass es noch etwas komplizierter ist. Eine Differenzierung zwischen der faktischen Resonanz aus der Gesellschaft (etwa in den Medien) und der perzipierten Resonanz, die de facto aus der eigenen Internalisierung der Gesellschaft stammt, potenziert das. Der Mensch in der Spätmoderne steht in einer Kakophonie in sich widersprüchlicher Resonanzen. Das Individuum versteht die betriebswirtschaftliche Argumentation des Unternehmens, findet die Arbeitsplatzverlagerung jedoch gleichzeitig verräterisch und ist besorgt: Wie geht es weiter mit Deutschland? Der Zusammenhang mit Public Relations: Habermas und der journalistische Modus Was hat das mit Public Relations zu tun? Die Rede von Resonanzböden gestattet es, die These des Autors zu illustrieren, dass der Modus der Public Relations-Kommunikation dadurch gekennzeichnet ist, dass er auf tieferliegende Resonanzböden zielt bzw. genauer gesagt: PR zielt auf wohlklingende Resonanz auf ebenjenen hintergründigen Resonanzböden. Die tieferliegenden Resonanzböden, vermutet der Autor, finden sich mehr oder weniger ausgeprägt und klangvoll in nahezu jedem Menschen, sozial und psychisch pathologische, Autisten, Psycho- und Soziopathen ausgenommen. Die hintergründigen Ebenen sind nach Ansicht des Autors die basal-menschliche, darüber liegt die mitmenschlichgemeinschaftliche; darüber eine, die man als bürgerlich-gesellschaftliche beschreiben könnte, obwohl sie, anders als die beiden anderen, nicht in jeder Gemeinschaft existiert: Es gibt Gemeinschaften, die keine Gesellschaften sind. Zusammengenommen möchte der Autor von der lebensweltlichen Ebene sprechen – das Konzept der Lebenswelt, mit seiner langen, umkämpften Tradition, erörtert die Arbeit unter D. Im Prinzip reformuliert der Autor damit die Habermas’sche Analyse aus den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts lediglich insofern, als er eine soziologische Analyse psycholo8
Vgl. auch Zerfaß, der Rollen, Sphären und Systeme unterscheidet, vgl. insbesondere 2004, 112 und 198.
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gisiert: Die Öffentlichkeit, wie Habermas sie in Strukturwandel der Öffentlichkeit (SWdÖ, 1990, 11962) ausbuchstabiert, mag außerhalb der Subjekte angesiedelt sein, sie wirkt aber zuvorderst über Internalisierung in Subjekten. Public Relations, macht Habermas im Jahr 1962 geltend, stehen mit Werbung auf einer Stufe, aber der neue, verdeckte Typus der Werbung „verleiht ihrem Objekt die Autorität eines Gegenstandes öffentlichen Interesses, über das sich, wie es den Anschein haben soll, das Publikum der räsonnierenden Privatleute frei seine Meinung bildet“ (SWdÖ, 291). So wie der Autor sie liest, bedeutet die Habermas’sche Analyse nichts anderes, als dass der Kommunikationsmodus Public Relations an die Menschen als Bürger herantritt, den Resonanzboden des Bürgers anspricht. Ob das im genuinen oder im Rahmen eines „fingierten Allgemeininteresses“ geschieht, lässt der Autor zunächst einmal außen vor. Für Habermas’ Analyse von 1962 ist gerade das jedoch entscheidend: Obwohl public relations etwa den Absatz bestimmter Güter fördern sollen, greift ihre Wirkung doch stets auch darüber hinaus; weil Publizität für spezifische Produkte auf dem Umweg über ein fingiertes Allgemeininteresse entfaltet wird, schafft und sichert sie nicht nur das Profil der Marke und eine Klientel von Verbrauchern – sie mobilisiert vielmehr gleichzeitig für die Firma, die Branche, für ein ganzes System quasi-politischen Kredit, einen Respekt von der Art, wie man ihn öffentlichen Autoritäten entgegenbringt. (Habermas SWdÖ, 291)
Der Autor verfolgt den kritischen Strang in Habermas’ Denken nicht weiter, weil die Frage nach genuinem vs. fingiertem Allgemeininteresse auf Abwege führt (vgl. auch C.I). Um Public Relations-Kommunikation und das Bild der wohlklingenden Resonanz auf der Ebene von In-der-Gesellschaft-Sein, In-der-Gemeinschaft-Sein und Mensch-Sein zu verstehen, ist es jedoch hilfreich, die drei Ebenen analytisch zu separieren, aber synthetisch zusammen zu denken: Es ist kaum möglich, eine der drei fundamentalen Ebenen gezielt ohne die anderen anzusprechen. Der typische journalistische Modus, der Diskurs in der Öffentlichkeit westlicher Demokratien, der Modus des Räsonnements, wie ihn auch Habermas sieht, ist dann als eine synthetische Ansprache der drei Resonanzebenen zu verstehen – wobei die Resonanzebenen von Genre zu Genre, Medium zu Medium und Person zu Person variieren: Der Tenor der Tagesschau ist sicherlich primär die Ansprache des Zuschauers als Bürger des Landes, sekundär basal-menschlich und mitmenschlich-gemeinschaftlich. Betroffenheitsjournalismus wie z. B. in der Kriegs- oder Katastrophenberichterstattung greift auf die menschliche Ebene durch, eine Lokalzeitung trägt notgedrungen mitmenschlichgemeinschaftliche Züge: Es geht um meine Nachbarn, meine Kinder, meine Stadt. Dass Public Relations einerseits journalistische Genres, Medien und Personentypen adaptiert, andererseits via journalistische Medien, Kanäle und Foren an die Menschen heranzutreten versucht, zeichnet sich auf Grundlage dieser Überlegung als notwendige Strategie ab (vgl. Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns, TdKH II, VI.2.; VIII.2). Denn der sozialisierte Mensch, der Bürger, ist ja über Jahre und Jahrzehnte daran gewöhnt, dass ebendiese Ansprache (die journalistische) auf ebenjenen Ebenen (gesellschaftlich, gemeinschaftlich, menschlich) resoniert. Der Autor geht sogar davon aus, dass die gesellschaftlich-bürgerliche Ebene maßgeblich via Sozialisierung durch Journalismus und andere Sozialisationswege (wie etwa die Schule, wo ja wieder und wieder der Versuch gemacht wird, die Schüler zur Zeitungslektüre anzuhalten) geschaffen wird. Die mitmenschlichgemeinschaftliche wird maßgeblich geprägt durch sie, entsteht aber auch aus der Faktizität menschlichen Zusammenlebens: Man muss nicht Bürger sein, um sich aktiv im Stadtteil
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oder Dorf einzubringen. Die menschliche Ebene entwickelt sich, immer und notwendig, aus der sozialen Natur des gesunden, normal entwickelten Menschen.9 2.2.2 Public Relations als Relation, als Relationsqualität Richtig verstandene, gute PR-Arbeit stellt nach Ansicht des Autors eine Beziehung zwischen der Organisation und Menschen, Angehörigen einer Gemeinschaft und Bürgern einer Gesellschaft her. Anders ausgedrückt: Obwohl PR-Arbeit von der PR-Lehre als Ansprache vieler verschiedener Bezugs-, Anspruchs- oder Zielgruppen wie Kunden, Mitarbeiter, Werksanrainer etc. rekonstruiert wurde, ist das bei genauerer Betrachtung irreführend, und bereits ein Schritt in Richtung Unterwerfung unter die Managementlogik. Denn die Perspektive ist von Anfang an, stillschweigend, auf die Organisation zentriert. Der Adressat, Rezipient oder Dialogpartner richtig verstandener, guter PR-Arbeit ist aber de facto nicht der Kunde, Mitarbeiter oder Werksanrainer der Organisation. Richtig verstandene, gute PR-Arbeit versucht eine Beziehung zu ebenjener Person aufzubauen, die auch Kunde, Mitarbeiter, Werksanrainer ist, ja – aber sie spricht den Kunden als Mit-Menschen, den Mitarbeiter als Bürger, den Werksanrainer als Bewohner ein und derselben Lebenswelt an. Das Rollenkonzept nutzend, seltsam vorsichtig und an untergeordneter Stelle, formuliert das auch Zerfaß: Die Notwendigkeit einer integrierten Kommunikationspolitik wird deutlich, wenn wir uns die Rollenvielfalt potentieller Kommunikationspartner, die Interdependenz verschiedener Kommunikationsarenen und den sphärenübergreifenden Charakter systemischer Teilöffentlichkeiten in Erinnerung rufen. Menschen nehmen in verschiedenen Lebenskontexten verschiedene Rollen wahr. Die Trennung von Handlungssphären und organisationalen Beziehungsmustern wird in der Biographie konkreter Personen aufgehoben. […] Man muss jedoch grundsätzlich damit rechnen, dass sich umfeldspezifische Kommunikationsaktivitäten an Rollenträger richten, hinter denen die gleichen Menschen oder Organisationen stehen. (Zerfaß 2004, 309)
Der Autor glaubt, dass das durchaus etwas anderes ist als die gang und gäbe gewordene Forderung, es gelte die Bedürfnisse des Kunden radikal von einer outside-in-Perspektive her zu denken: denn auch in einem outside-in-Paradigma spielt wieder die Organisation die dominante Rolle. Öffentlichkeitsarbeit „zielt“ aber, vereinfacht gesagt, auf die Lebenswelt, in der Kunde, Mitarbeiter, Werksanrainer und Organisation gemeinsam verwurzelt sind. Manager C brachte das im Interview auf den Punkt, indem er geltend machte, dass sein Unternehmen in einem gesellschaftspolitischen Nexus stehe, der von jedermann gesehen werde. Und das muss man einfach kapieren: Was hat so ein Unternehmen eigentlich für eine gesellschaftspolitische Bedeutung. Das heißt, alles, was dieses Unternehmen tut, hat eine ganz bestimmte Auswirkung auf die Balance dieses Landes. Ob wir nun dieses technische Projekt ausbauen oder soundsoviel Leute entlassen, ob wir Schulden haben oder dies oder das machen – jeder fühlt sich irgendwo berufen, dies zu kommentieren. Was bei anderen Unternehmen in der Form nicht stattfindet. Oder nur abgespeckter stattfindet.
9 Der Autor ist sich bewusst, dass das einem Postulat von Universalien nahe kommt. Mit Blick auf die Universaliendebatte lesenswert Hejl 2001.
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Abbildung 5: Typische Resonanzböden in der Kundenbeziehung (Quelle: eigene Darstellung) An ebenjener Unterscheidung – die zuvorderst wohl im Kopf des Verantwortlichen anzusiedeln ist – zeigt sich die Differenz zu anderen Typen von Kommunikation, die auch in, für und durch eine Organisation stattfinden, die auch Beziehungen gestalten. Der Unterschied zeigt sich schon in der Terminologie: Die Marktkommunikation, vulgo Werbung, spricht per definitionem die Kunden an, die Führungs- und Regelkommunikation per definitionem die Mitarbeiter. Ein Begriff für die Adressaten generischer PR-Arbeit – also abseits der Spezialisierung auf Human Relations, Media Relations, Investor Relations – fehlt jedoch nach wie vor. Vokabeln wie Stakeholder, Anspruchsgruppen, Bezugsgruppen, Interessengruppen, Zielgruppen oder Teilöffentlichkeiten etc. lösen das Problem nicht, weil sie selbst wieder Konstrukte der Organisation darstellen. Am ehesten ist der Adressat von PRArbeit mit dem Leser, Hörer, Zuschauer journalistischer Arbeit verwandt, also mit einer Kategorie, die sich zwar durch das Faktum der Rezeption konstituiert, dem Adressaten darüber hinaus aber keine eindeutige und unmittelbare Funktion für das Verlagshaus oder die Rundfunkanstalt unterschiebt. Auf eine andere Verwandtschaft verweist die Theoriearbeit bei Zerfaß und bei Grunig, an welcher sich die Arbeit reibt. Zerfaß definiert Public Relations als Agieren im gesellschaftspolitischen Umfeld der Unternehmung (2004, 287290, 301-337, Kap. 7), subsumiert es unter die generische Unternehmenskommunikation, wodurch der Adressat in letzter Konsequenz der Bürger, die Bürgerin würde. Der Grunig’sche Begriff der publics – im Deutschen als Teilöffentlichkeiten übersetzt, um das plurale publics von the general public oder the public sphere (die Öffentlichkeit) zu differenzieren – etikettiert eine Gruppierung, die in eine community, in eine Gemeinschaft eingebettet zu denken ist (vgl. Grunigs nested model of segmentation; Grunig et al. 1992, 132ff.). Das Konzept steht damit zwischen einer themenorientierten journalistischen Leser-, Hörer-, Zuschauerschaft und dem Konzept des Bürgers, der Bürgerin (vgl. Grunig et al. 1992, Kap. 6): Bürgerinnen und Bürger, die sich um ein Issue gesellschaftspolitisch engagieren. Wenn der Autor also, zugegebenermaßen vage, vom „Menschen“ als Adressaten generischer PR-Arbeit spricht, dann ist der kleinste gemeinsame Nenner der zwei respektive drei Pole gemeint.
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Abbildung 6: Public Relations, gesellschaftlich-gemeinschaftlich-lebensweltliche Resonanzböden (Quelle: eigene Darstellung) Abbildung 6 verdeutlicht noch einmal den entscheidenden Gedanken: dass die Frage, ob Public Relations für jedwede Kommunikation mit jedwedem Stakeholder zuständig sein sollte oder nur für bestimmte Stakeholder, in der gestellten Form gar keiner Antwort bedarf. Das Marketing spricht den Kunden als Kunden, Public Relations aber einen Menschen, einen Angehörigen einer Gemeinschaft, einen Bürger an, der unter Umständen Kunde sein könnte, oder Mitarbeiter, oder Entscheider in einer Verwaltung, oder Lieferant und Vertragspartner. Das liegt daran, dass Public Relations tieferliegende Resonanzböden anspricht, die nicht primär und zuvorderst durch das Verhältnis zur Organisation geprägt sind, sondern durch das generelle gesellschaftspolitische Räsonnement. Die globale Erwärmung ist für einen BMW-Fahrer genauso interessant wie für einen Audi- oder Mercedesfahrer, weil sie ihn als Autofahrer betrifft, als Bürger einer Industriegesellschaft, als Vater von Kindern, als Erdenbürger berührt. In der individuellen Biographie stellt sich aber der Erdenbürger, Vater und Bürger die Frage, ob es noch vertretbar sei, immer noch, wie schon seit Jahren und Jahrzehnten, einen BMW zu kaufen. Begreift man Public Relations dergestalt, zeichnet sich auch bereits ab, woher das Problem der Koordination mit anderen „kommunizierenden“ Unternehmensfunktionen rührt, wie das Postulat der Integrierten Unternehmenskommunikation zu verstehen ist.
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Abbildung 6 verdeutlicht das in doppelter Art und Weise. In der Organisation selbst „durchkreuzen“ die Kommunikationslinien andere funktionale Domänen: die PR-Funktion für Produkte läuft durch das Marketing, weil die Öffentlichkeitsarbeit eben Inhalte aufgreift, die mit Produkten, Dienstleistungen, dem Kerngeschäft der Unternehmung, zu tun haben. Über das gesellschaftspolitische Engagement von BMW lässt sich in letzter Konsequenz nur sprechen, wenn man auch über die Motorleistung der Fahrzeuge, ihre Verbrauchswerte, ihre Antriebstechnologie spricht. Abbildung 6 vergegenwärtigt aber ferner, dass auch im Rezipienten die PR-Kommunikation manchmal durch den Resonanzboden des Mitarbeiters, Arbeitnehmers hindurch auf tieferliegende Ebenen stößt, manchmal an den höheren Resonanzböden vorbei. Im ersten Fall erlebt der Rezipient das als konflikthaft, im zweiten Fall sieht er die Querverbindungen selbst nicht. In der Abbildung ist also bereits angedeutet, was unter 4. Erörterung findet: Das Durchkreuzen anderer Domänen im Unternehmen wirft organisationsintern Koordinationsbedarf auf, führt, mit Blick auf den Rezipienten, zum Postulat der Integrierten Kommunikation (für eine ausführliche kommunikations- und sozialtheoretische Begründung, die über das bloße Postulat Integrierter Kommunikation als normatives Idealbild hinausgeht vgl. Zerfaß 2004, Kap. 2, 3, 4, 7). Im Rahmen der Integrierten Kommunikation versucht man also nichts anderes, als die Diskrepanzperzeption des Rezipienten zu beherrschen, eine „Kakophonie“ auf verschiedenen Resonanzböden zu vermeiden. Unter 4. argumentiert der Autor, dass das Koordinationsproblem deshalb der Lösung bedarf, dass es aber keineswegs zwingend einzig und allein durch Etablierung einer verantwortlichen, entsprechend machtvollen Position, etwa eines Chief Communication Officer, zu lösen ist. Der Autor glaubt, dass ein großer Unterschied besteht zwischen Kommunikationsmanagement und Kommunikationsmanager-Sein, und dass der Koordinationsbedarf des Idealpostulats Integrierte Kommunikation weniger ein Feld ist, in welchem ein Manager managt – eher handelt es sich um ein Feld, in welchem Management geschieht. 2.2.3 Funktion Wurde der Kerngedanke der Praxis Public Relations bislang über einen spezifischen Stil (Modus) und eine bestimmte angestrebte Beziehung (Relation) gefasst, lässt sich jetzt die Frage stellen, weshalb sich in Organisationen eine derartige Praxis entwickelte und weiterentwickelte. Wie der Autor glaubt, handelt es sich hier um eine schwierige Frage. Rühl erkennt das klar und deutlich, wenn er Public Relations als „Sozialverhältnisse der öffentlichen Kommunikation des Alltags“, als „Alltagspublizistik“ beschreibt, und warnt: „Wer PR kommunikationswissenschaftlich verstehen und erklären will, kann auf keine urtümliche Einheitstheorie hoffen“ (Rühl 2008, 125). Rühls Skeptizismus zu akzeptieren fällt freilich schwer. Aus Sicht des Autors liegt hier der Grund dafür, dass PR-Definitionen häufig zwischen Normativität und Deskriptivität oszillieren, dass die Definitionsmisere über die Jahre wenig gemildert, viel verschlimmert wurde. a) PR steht quer zu generischen Organisationsfunktionen Die Suche nach der einen, der konstitutiven Funktion von PR ist und bleibt aus Sicht des Autors eine vergebliche. Egal, welches abstrakte Modell von Systemen oder Organisationen man heranzieht, es ändert nichts an der basalen Konstellation: Wenn die Modelle generische Systemfunktionen ausbuchstabieren, dann steht „reale“ Public Relations-Arbeit,
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steht „reales“ Kommunikationsmanagement quer dazu. Funktionsanalysen und abstrakte Rekonstruktionen, wie sie an verschiedenen Stellen der Arbeit sowohl hinsichtlich Management- als auch hinsichtlich PR-Lehre herangezogen werden, sind aber gleichwohl wertvoll. Auch die Analysen, welche eine definitive PR-Funktion ausbuchstabieren, sind ungeheuer wertvoll. Sie sind zunächst einmal wertvoll, weil sich der eine Praktiker mehr mit der einen Formulierung, der andere mehr mit einer anderen identifiziert. Sie sind darüber hinaus umso wertvoller, je differenzierter sie sind: Sie gestatten eine Klassifizierung ebenjener Probleme, die Kommunikationsmanagern Tag für Tag begegnen. Anhand der Klassifizierung lässt sich darüber nachdenken, welche Probleme typischerweise von PR- und Kommunikationsmanagement als „PR-Probleme“ aufgegriffen und verantwortet werden, welche Charakteristiken typische „Kommunikationsprobleme“ von anderen unterscheiden. b) Public Relations als Lösung familienähnlicher Probleme: „PR-Probleme“ Grundsätzlich gilt es also, die Funktionsfrage aufzuspalten in zwei Fragen. Die eine Frage lautet, mit welchen Rationalen, mit welchen wohlklingenden, zugkräftigen, auch wissenschaftlich-theoretisch soufflierten Vokabeln die Bedeutung und Wichtigkeit von Public Relations/Kommunikationsmanagement im organisationsinternen und im professionellen Diskurs jeweils begründet werden: sei es Transparenz, Legitimität, Integration, sei es Dialog oder Wertschöpfung, was eben derzeit gerade en vogue ist. Die andere Frage lautet, ob unter oder hinter den jeweils angeführten Rationalen ein verborgenes „Master-Rational“ steht, auf welches jede Verantwortung und Macht in letzter Konsequenz zurückzuführen ist. Der Autor glaubt, dass gerade das nicht der Fall ist. Die Probleme, welche in der konkreten und praktischen Organisationsrealität als PR-Probleme, Kommunikationsprobleme etc. aufgegriffen, von der PR-Abteilung alleinverantwortlich oder federführend aufgenommen werden, sind durch Muster, Verwandtschaften und Ähnlichkeiten verbunden. Die Differenzierung der zwei Fragen lässt sich anders formulieren: Wenn es eine abstrakte Funktion der Public Relations oder des Kommunikationsmanagements in einer Organisation gibt, dann lässt sie sich, zunächst einmal, als Meta-Funktion ausbuchstabieren. Mit einer Verneigung vor Manfred Rühls Formel, PR sei, was PR tut, lässt sich sagen: Die Funktion der PR ist, PR-Probleme zu lösen (Rühl 1992, 35). Welche Probleme PRProbleme sind, lässt sich nicht ein für alle Mal anhand einer einfachen Formel aus der Observationsperspektive entscheiden. Es ist eine Frage, die sich immer wieder stellt und im Rahmen der sozialen, organisatorischen und professionellen Praxis ständig definiert und redefiniert wird. Das sieht man natürlich nicht, wenn man als Praktiker in der Organisation, in der eigenen sozialen und professionellen Praxis steckt. Das sieht man auch nicht, wenn man als theoretischer Beobachter mit einer fix und fertigen Vorstellung von „echten“ PRProblemen an die Praxis herangeht. In einer Beobachtungsstudie zeichnet es sich jedoch nach und nach ab, wenn man acht verschiedene Kommunikationsmanager beobachtet, die sich gegenseitig als Kommunikationsmanager anerkennen würden, gleichzeitig völlig verschiedene Dinge wie auch ein und dasselbe tun. Wenn man die von den acht verschiedenen Personen behandelten und ganz eindeutig als „Kommunikationsprobleme“ identifizierten Fragestellungen Revue passieren lässt, zeigt sich, dass sie nicht logisch oder hierarchisch zusammenhängen, wohl aber in einer Art und Weise, die „Sinn“ macht.
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Familienähnlichkeit und das Beispiel der Bäume PR-Probleme sind also, um einen Wittgenstein’schen Begriff zu gebrauchen, „familienähnlich“ (PU, §66, 67). Familienähnlichkeit (family resemblance) heißt, es existiert nicht ein endgültiges, es existieren auch nicht einige wenige maßgebliche Kriterien, die ein PRProblem zu einem „echten“, reinen oder anteiligen PR-Problem machen, sondern viele verschiedene, auf verschiedenen Ebenen der Mittel, Ziele, Zwecke. Ein Beispiel vergegenwärtigt, weshalb die Frage für eine Beobachtungsstudie von Bedeutung ist. Zu den Verantwortungsbereichen von Managerin F in der Studie, Berufsbezeichnung „Direktorin Unternehmenskommunikation“, gehörte die Gestaltung der Gärten rund um die Konzernzentrale. Entsprechend verbrachte sie während der Beobachtungswoche vergleichsweise viel Zeit damit, die Fällung morscher Bäume zu beaufsichtigen, die ansehnliche Verkleidung der Gartenmauer mit Edelstahl zu erörtern sowie Ideen für die Umgestaltung der Gartenanlage mit einem Künstler zu besprechen. Managerin F betrachtete die Verantwortung für die Gärten keineswegs als befremdlich, sie sah sie genauso als „PR-Problem“ wie etwa ihre Verantwortung für Empfangsdamen und -herren. Dass sie das tat, ist Fakt. Warum sie es tat, ist die eigentlich für eine Beobachtungsstudie interessantere Frage. Obwohl es spekulativ bleibt, möchte der Autor drei mögliche Gründe ins Feld führen, die er für plausibel hält: 1. ließe sich argumentieren, dass ein durchaus schwacher und diffuser Zusammenhang zwischen der Verantwortung für die Gärten und den Dingen besteht, die Public Relations auch theoretisch als ihren Gegenstand anerkennt: PR beginnt ja vor der eigenen Haustür, liest man häufig, also im Garten – und wer morsche Bäume und eine bröckelige Außenmauer duldet, der achtet auch sonst nicht auf die Außenwahrnehmung; 2. ließe sich der Verdacht wagen, dass der Vorstandsvorsitzende das falsche, verzerrte Bild vom PR-Profi als „Sektglashalter“ im Kopf hat, wozu die Beschäftigung mit Künstlern eben gut passt – oder er war der Meinung, dass die einzige Frau unter zwölf Direktoren wohl die richtige Wahl ist, wenn es um Fragen des guten Geschmacks geht; 3. lässt sich das Problem umkehren und die Frage stellen, welcher der anderen Direktoren denn für die Gärten verantwortlich zeichnen sollte, doch wohl nicht der „Director Research & Development“? Familienähnlichkeit auf der Oberfläche und in der Tiefe Die drei möglichen Gründe – ob sie nun die wirklichen sind oder nicht – zeigen, dass die Rationalität der Verantwortungsübernahme respektive -zuweisung in der Organisationsrealität gerade hinsichtlich PR und Kommunikation erstens oft diffus, zweitens häufig schwach, das heißt leicht zu verzerren bzw. durch andere Faktoren und Aspekte zu überlagern ist – und zu guter Letzt nicht positiv, sondern negativ verläuft. Es heißt also nicht, die Kommunikation ist verantwortlich, weil dieser oder jener Grund vorliegt, sondern umgekehrt: da niemand anderes verantwortlich, ist die Kommunikation verantwortlich. Klar und deutlich sieht das Manager D, der im Interview auf die Frage nach seiner Funktion in der Organisation antwortet: Wir sind eigentlich dafür da, unser Geschäftsmodell abzusichern gegenüber allen Schnittstellen mit der Umwelt, die nicht zwangsläufig geschäftsbedingt sind. So würde ich es mal versuchen zu definieren. Das heißt, ich würde bei uns jetzt Kunden rausnehmen. Weil wir die hier nicht betreuen. Sondern wir sind verantwortlich für all diejenigen Bereiche, die außerhalb des reinen Geschäfts liegen – die aber über die Gestaltung des Wettbewerbsumfeldes und des gesellschaftlichen Umfeldes in dem wir agieren sehr wohl einen Einfluss auf das Geschäftsmodell haben.
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Manager Cs Antwort auf ein und dieselbe Frage deutet an, dass ihm gerade jene abstrakte Formel fehlt, und dass er gar nicht an einer sauberen Schublade für sein eigenes Arbeiten interessiert ist: Ja, was ist die Aufgabe. Also, wenn sich die Aufgabe in der Organisationsform widerspiegelt, dann bin ich verantwortlich für die interne Kommunikation, die externe Kommunikation, für die Brand Affairs, für gewisse Bereiche der Events – also nicht nur Presse, sondern von der Klein- bis zur Großveranstaltung. Bis hin zu Archivfragen. Und habe dann noch obendrüber gelegt HR/PR-Dinge. Was wir jetzt als Corporate Reputation bezeichnen. Und dann die Dinge druntergefasst wie Issues Management, Kommunikations-Controlling, Kommunikations-Strategie, Sponsoring-Strategie – nicht ausführend, sondern entwerfend. Ja, das sind die Dinge, für die ich verantwortlich bin. Sehen Sie da einen großen Überbau, oder sind das Funktionen, wo Sie sagen: Die sind mir so nach und nach übertragen worden, sind zusammengewachsen? Ja gut, ich habe ja die Abteilung von meinem Vorgänger übernommen. Habe sie umstrukturiert. Habe sie meinen Ideen angepasst. Tja, natürlich: Sie müssen Dinge immer in Schubladen gießen, in angemessene Organisation packen. Das heißt aber nicht, dass jeder in seinem Kästchen hockt und völlig verschreckt aus selbigem herauskuckt. Denn am Ende des Tages muss jeder für jeden mitdenken. Denn das ist die Kunst an der Geschichte. Und so verstehen wir die Abteilung auch. Dass man quer durch den Laden geht und kuckt und sagt: Jungs, das kapieren wir nicht, was ihr da macht. Und: Wieso soll das jetzt SINN machen?
Die PR- oder Kommunikationsfunktion ist also unspezifisch, nicht spezifisch institutionalisiert – die These der Familienähnlichkeit in anderem Gewande. Das Beispiel zeigt ferner, dass das, was heute in der Organisationsrealität von Organisation A „rational“ als Kommunikationsproblem aufgefasst wird, keineswegs notwendig gestern oder morgen oder in der Organisationsrealität von Organisation B als Kommunikationsproblem aufgefasst worden wäre oder würde. Der Autor gesteht aber zu, dass es durchaus wahrscheinlich ist, weil PRPraktiker und Kommunikationsmanager im Speziellen, das Management moderner Organisationen im Allgemeinen, nicht in einem luftleeren Raum agieren, sondern professionell sozialisiert sind. Die professionelle Sozialisierung hat, wie der Autor glaubt, jedoch eine Oberflächen- und eine Tiefenstruktur. Die Zweiteilung findet ihre Entsprechung in den „Köpfen“ respektive „Bäuchen“ der Praktiker, die auf der einen Seite die Vokabeln eines professionellen Diskurses ins Feld führen, „rational“ argumentieren, andererseits aber mit Arbeitstheorien, cause maps und mentalen Modellen operieren, die sich über Jahre und Jahrzehnte anlagern, absinken und verfeinern. In der Tiefe finden sich, wie der Autor glaubt, andere Muster, Verwandtschaften und Ähnlichkeiten als auf der Oberfläche. Wenn der Autor also von „Regeln“ guter und richtiger PR-Arbeit respektive guten und richtigen Kommunikationsmanagements redet, dann meint er damit, um das wieder aufzugreifen, ebenjene Muster, Verwandtschaften und Ähnlichkeiten, welche die Praxis unausgesprochen, aber beobachtbar formen. Um nicht missverstanden zu werden: Der Einfluss der Regeln kann sehr schwach und völlig von anderen Einflüssen überlagert und verzerrt sein. Zwei Regeln hat der Autor bereits dargestellt: Den Versuch, einen spezifischen, auf tiefe Resonanzböden zielenden Kommunikationsmodus zu verwirklichen, um eine spezifische, tiefe, auf Common Sense im wahrsten Sinne des Wortes gegründete Beziehung herzustellen, eine Organisation in die Gesellschaft, die Gemeinschaft, das Leben zu stellen. Die dritte Regel ist etwas anders gelagert, aber bei näherer Betrachtung eng und unauflöslich damit verknüpft.
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c) Eine paradoxe Organisationsfunktion und die negative Institutionalisierung Wenn man sie konsequent aus der bisherigen Argumentation eines Modus und einer Relation heraus denkt – was ja, wie ausgeführt wurde, in der Organisationspraxis kaum einmal geschieht – stellt Public Relations-Arbeit eine paradoxe Organisationsfunktion dar. Salopp formuliert: Um als Organisationsfunktion zu „funktionieren“, muss PR-Arbeit auftreten, als handle es sich eben nicht um eine Organisationsfunktion, sondern eine gesellschaftliche, gemeinschaftliche. Manager A, der auf zehn Jahre als Journalist zurückblickt, bringt die paradoxe Konstellation auf den Punkt: Ich habe hier das Glück, dass ich bei den wichtigen Journalisten eine Gruppe von Leuten habe, die schon sehr lange, sehr konstant für die großen Zeitungen schreibt. Und die wissen eben, wie sehr ich auch mit mir gerungen habe, wie sehr kritisch ich auch meinen Betrieb sehe. Und das macht es einfach glaubwürdiger. Wenn ich anfangen würde, jede kritische Frage abzubügeln mit dem Motto: Du hast keine Ahnung – dann ist das für mich keine gute PR. Sondern die gute PR ist, dass ich sage: Ich sehe vollkommen ein, was Sie sagen, und so kann man es auch sehen – aber ich sage dann auch: Wissen Sie, ich rede für das Unternehmen, und natürlich sehen wir das anders. Aber natürlich kann man es auch so sehen, dass dieser Sachverhalt so und so ist. Das macht einen viel glaubwürdiger, als wenn man sagt: Okay, ihr seid die Journalisten, macht doch, was ihr wollt, ihr seid Erfüllungsgehilfen, die ich überzeugen muss, meine Meldung reinzunehmen. Ich sage: Okay, wenn die Meldung es nicht wert ist, lasst ihr sie halt raus. So reden wir auch miteinander. Also, wir haben da ein wirklich gutes Verhältnis – aber wir sind nicht befreundet.
Ob die Haltung genuin und authentisch oder eine inszenierte Attitüde ist, steht auch hier auf einem anderen Blatt, ist auch hier weniger entscheidend als man prima facie vermuten mag. Sehr viel entscheidender ist, wie der Autor glaubt, der Grundgedanke: der, dass die Organisation sich selbst transzendiert, um sich wiederum, in einem Re-entry10, in der Gesellschaft oder Gemeinschaft zu verstehen. Egal, ob man das in der Organisationspraxis sieht oder nicht, die Konsequenz ist nach Ansicht des Autors, dass Public Relations negativ institutionalisiert ist. Mit anderen Worten: PR-Arbeit ist stark gekennzeichnet durch die Tendenz moderner Organisationen, dort PR- oder Kommunikationsprobleme zu „entdecken“, wo man zwar Probleme sieht, aber vergeblich nach Lösungen im Rahmen der funktionalen Organisationslogik gesucht hat. PR-Arbeit und entsprechend auch Kommunikationsmanagement sind also in der Organisationsrealität häufig Funktionen, die eine Lücke schließen: Man versteht nicht, warum die Mitarbeiter Vorbehalte hegen und Unbehagen verspüren, also gibt es wohl ein „Vertrauensproblem“. Vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen ist das verständlich, weil eine Organisation, die den Re-entry nicht vollzieht, sich eben selbst nicht vollumfänglich versteht – exakt wie ein Mensch die Welt nicht versteht, wenn er nicht in der Lage ist, sich in andere hineinzuversetzen und den Gedanken zu Ende zu denken, dass andere ihr Leben für sich leben. 2.3 Die Verschiebungsthese revisited: Von PR zu Kommunikationsmanagement Jetzt, da der Autor sein eigenes Verständnis von Public Relations dargelegt hat, lässt sich der Verschiebungsthese nachgehen, lässt sich fragen, wie sich Public Relations zu Kommunikation, PR-Arbeit zu Kommunikationsmanagement wandelte, was verloren ging und was erhalten blieb.
10 Vgl. zur Figur des Re-entry Spencer-Brown 1969. Vgl. ferner Baecker 1993; jüngst und kommunikationstheoretisch interessant Baecker 2007a.
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Abbildung 7: Die Verschiebung von PR zu Kommunikationsmanagement durch Vor- und Nachdenken (Quelle: eigene Darstellung) 2.3.1 Die Dynamik der Verschiebung Prima facie formulierte der Autor die Verschiebungsthese wie eine natürliche Reifung, das enger gezogene PR-Denken wurde erwachsen, maturierte sich in das weiter gezogene Denken des Kommunikationsmanagements. Die Ausführungen deuteten bereits an, dass das eine naive Darstellung ist. Denn bohrt man tiefer, stellt man fest, dass die Verschiebung von PR zu Kommunikationsmanagement keineswegs eindimensional, sondern mehrdimensional geschah. Sie geschah durch ebenjenes und in ebenjenem Wechselspiel zwischen Praxis und Beobachtung, in welchem die sich verselbstständigende Macht von Begriffen eine entscheidende Rolle spielt. Der Entwicklung während der siebziger, achtziger und neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts im Überblick nachspürend (eine systematische Übersicht der Theorieentwicklung in Zusammenschau mit der Praxis steht noch aus, wie der Autor glaubt), gelangt die Arbeit zu der Ansicht, dass die Verschiebung tatsächlich ein Geflecht dreier, sich gegenseitig verstärkender Verschiebungsbewegungen darstellt: a) eine Verschiebung des tatsächlichen Berufsbildes und entsprechend des Selbstverständnisses der Berufspraktiker und der Branche insgesamt wurde begleitet durch ein b) Vor- und Nachdenken der Wissenschaft und der wissenschaftlich orientierten Praktiker, welches zu theoretisch-konzeptionellen Verschiebungen führte, die wiederum c) durch eine terminologische Verschiebung und „gesicherte Erkenntnisse“ festgeschrieben und abgesichert wurden. Abbildung 7 zeigt die Zusammenhänge. Anders ausgedrückt: Der Beruf veränderte sich, den Veränderungen begegnete man mit neuen und weiter gefassten Konzepten und Ideen – wie z. B. Kommunikationsmanagement, Strategische Kommunikation, Integrierte Unternehmenskommunikation. Für eine nachrückende Generation in ebenjenen Konzepten und Ideen bereits geschulter Berufseinsteiger wurden die neuen, breiteren Konzepte und Ideen dann – insbesondere wenn es sich
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um akademisch geschulte Berufseinsteiger handelte – bereits selbstverständliche Leitbilder ihres Handelns und Grundlage ihres Selbstverständnisses. Die Verwickelung der drei Verschiebungen – an sich ein ganz und gar gewöhnliches Phänomen, wie es in vielen gesellschaftlichen Veränderungen auftritt – führt, wie der Autor glaubt, zu ebenjener verdächtigen Selbstverständlichkeit einerseits, zu ebenjenem unbefriedigenden „irgendwie“ andererseits. 2.3.2 Drei Theorien zum Verhältnis von Kommunikationsmanagement und PR Terminologie, theoretische Konzepte und Berufsbilder/Selbstverständnisse, Praxis und Beobachtung zu trennen, führt also von Anfang an dazu, die postulierte Verschiebung von Public Relations zu Kommunikationsmanagement nicht einseitig an Theorie, Terminologie oder Praxis festzumachen, sondern sie im Verhältnis der drei zu durchdenken. Hinter der Verschiebungsthese könnten also de facto drei Entwicklungen stehen: Die „Alter-Wein-in-neuen-Schläuchen“-Theorie würde davon ausgehen, dass Kommunikationsmanagement im Prinzip nichts anderes ist als Public Relations, der Direktor Unternehmenskommunikation nichts anderes als ein aufgewerteter Pressesprecher. Der Direktor Unternehmenskommunikation mag mehr Personen unter sich haben und für mehr Bereiche verantwortlich sein, wirkliche Unterschiede in den geforderten Fähigkeiten oder den Anforderungen des Berufes gibt es nicht. Der Verdacht liegt dann nahe, dass der Terminus Management künstlich, von der Theorieseite her eingeführt wurde – und zwar aus Prestigegründen, um den Terminus Public Relations wegen negativer Konnotationen von Oberflächlichkeit und Fassadenhaftigkeit aufzugeben. Die Evolutionstheorie würde behaupten, dass Kommunikationsmanagement eine Weiter-, insbesondere aber eine Höherentwicklung des PR-Gedankens darstellt. Die Direktorin Unternehmenskommunikation hat also nicht nur mehr Personen unter sich und ist für mehr Bereiche verantwortlich, sondern muss auch in weit größerem Maße über die Fähigkeiten verfügen, die die Pressesprecherin zwar bereits in Ansätzen besitzt, über die Top-Manager aber par excellence verfügen. Der Verdacht liegt dann nahe, dass das theoretische Konzept des Kommunikationsmanagements in Wechselwirkung mit der Berufspraxis entstanden ist. Die Quantensprung-Theorie geht schließlich davon aus, dass Kommunikationsmanagement, wie es sich hier und jetzt gestaltet, im Kern überhaupt nichts mehr mit Public Relations zu tun hat. De facto fand ein Quantensprung statt, der Zusammenhang besteht lediglich in einem traditionellen Karriereweg: Ähnlich wie ein ehemaliger Fußballer zwar Vorteile genießt, wenn er den Trainerjob ergreift, hätte ein ehemaliger Pressesprecher zwar Vorteile als Kommunikationsdirektor; gleichwohl handelt es sich bei dem einen Job nicht um eine evolutionäre Fort- oder Höherentwicklung des anderen, sondern um einen völlig anderen Beruf. Die QuantensprungTheorie würde das gelegentlich beklagte „Encroachment“ erklären – also die Übernahme der Top-Positionen im Kommunikationsbereich durch fachfremde Personen, etwa Juristen oder Ingenieure (vgl. für den deutschsprachigen Raum Dees 1996, 168f.; Röttger 2000, 93ff.; Wienand 2003, 324ff.; vgl. für den angloamerikanischen Raum auch Dozier 1988, 9; Lauzen 1992). Es würde auch erklären, weshalb größere Unternehmen kein Problem darin sehen, turnusmäßig Linienmanager auf die Positi-
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on des Kommunikationschefs zu berufen, Kommunikation als „Qualifikationsstelle“ zu führen. Für das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis wäre dann davor zu warnen, dass die PR-Lehre traditionelle Denk- und Erklärungsmuster in einem Analogieschluss auf das Kommunikationsmanagement überträgt, obwohl andere Paradigmen sehr viel besser geeignet wären. 2.3.3
Evolution und Quantensprung: Das Management Game und die Unterwerfung unter die Managementlogik Der Autor siedelt seine eigene Position, theoretisch gestützt und auf Basis der Beobachtung, zwischen der Evolutions- und Quantensprung-Theorie an. Er gebraucht die Dreierfigur Terminologie, Konzept und Realität jedoch, um die Evolution zu qualifizieren. Insofern geht er davon aus, dass Kommunikationsmanagement eine evolutionäre Weiter- und Höherentwicklung des PR-Gedankens darstellt, weil der ehemalige Pressesprecher, jetzt Kommunikationschef, zunehmend und verstärkt in ein anderes „Spiel“ einsteigt. Der Autor glaubt jedoch nicht, dass es ausschließlich und vorrangig die aus der Betriebswirtschaftslehre importierten theoretischen Konzepte waren und sind, welche das Selbstverständnis der einstigen Pressechefs, jetzt Kommunikationsmanager, trieben und treiben. Die Wirkungen der modernen Theorieentwicklung sind indirekt. Eine direkte Rolle spielt die Organisationsrealität: die tägliche Auseinandersetzung mit anderen Managern, ihrem „management talk“, Erfolg und Misserfolg im unternehmenspolitischen Spiel, die Anschlussfähigkeit des eigenen Diskurses, das Beherrschen entsprechender „Tools“ (zu „Redeinstrumenten“ Zerfaß 2005). Was die Theorie als das „neue“ Kommunikationsmanagement im Kontrast zu den „alten“ Public Relations identifiziert, stellt nach Ansicht des Autors lediglich die Oberfläche dar. In der Tiefe fand und findet eine allmähliche Unterwerfung unter die Managementlogik statt, die, und da stimmt der Autor mit kritischen Theoretikern wie Wehmeier (2006) oder L’Etang (2008) überein, allenfalls unzureichend offengelegt, halbherzig durchdacht wurde. Um es etwas polemisch zu formulieren: Was ein großer Teil der Theorie im Verschiebungsfeld von Public Relations zu Kommunikationsmanagement leistet, ist Rationalisierung eines Prozesses, der einerseits gröber ist als es die Theorie zugesteht, andererseits tiefer reicht und weiter greift. Theoretiker mögen dutzendfach betonen, dass die Stakeholder-Perspektive eine Berücksichtigung der Perspektiven der Stakeholder in ihrem eigenen Recht fordert; im unternehmenspolitischen Spiel geht die Nuance verloren. Mit einer derartigen Argumentation setzt man nichts durch: Stakeholder werden berücksichtigt, ja – aber im Interesse der Organisation. Nicht nur die evolutionäre Entwicklung, sondern auch der Quantensprung lässt sich aus der Unterwerfung unter die Managementlogik verstehen. In der Abstraktion besteht der Quantensprung von Kommunikationsmanager zu Kommunikationsdirektor darin, dass die Quelle der eigenen Macht und des eigenen Standings nicht mehr zuvorderst in der Expertise liegt, mit der man mit bestimmten, mehr oder minder wichtigen Gruppierungen zu kommunizieren versteht. Die eigene Macht gründet sich mehr und mehr auf ein tiefes und weitreichendes Verständnis der Organisation, in der man sich bewegt – es findet eine „Abnabelung“ von der PR-Logik oder Kommunikationslogik statt. Der Direktor Unternehmenskommunikation muss nicht mehr den „Touch“ haben, der es ihm gestattet, einen schwierigen Wirtschaftsjournalisten zu drehen, behauptet der Autor, der Pressesprecher muss ihn noch besitzen.
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Management Game und Managementlogik sind also nach Ansicht des Autors die Schlüsselbegriffe, welche das Verständnis von Kommunikationsmanagement als evolutionäre Höher- und Weiterentwicklung von respektive Quantensprung aus Public Relations aufschließen. Was die Unterwerfung unter die Managementlogik bedeutet und wie die Teilnahme am Managementspiel aussieht, versucht die Arbeit im weiteren Verlauf zu ergründen. Wie das geschieht, erörtert der Autor in den weiteren Thesen unter Bezug auf weitere vorläufige Resultate. 3. Drittes Resultat: Die Akteur-im-System-Perspektive Eines der Resultate, zu welchem der Autor aus der Verschränkung von Beobachtungs- und Theoriearbeit gelangte, führte zu einem grundlegenden Perspektivenwechsel der Arbeit. Der Perspektivenwechsel ging aus von der Erkenntnis, dass in der Organisationsrealität die Was-Frage kaum gestellt wird, die Wie-Frage aber tagtäglich aufs Neue. Obwohl die Selbstselektion der Kandidaten einen Bias zugunsten derjenigen generiert, die „sicher im Sattel sitzen“ (vgl. B.III), bleibt eines bemerkenswert: kein einziger der beobachteten Kandidaten gab in vorbereitenden Gesprächen oder in Feldgesprächen an, dass die seitens der Theorie immer wieder herausgestrichene, hohe unternehmenspolitisch-strategische Bedeutung von Public Relations oder Kommunikationsmanagement in der Unternehmung grundsätzlich in Frage gestellt werde. Manager H drückte das im vorbereitenden Interview wie folgt aus: Sie sagen, der Vorstandsvorsitzende sieht Kommunikation als strategisches Instrument an. Darf ich das so verstehen, dass er Kommunikation als sehr bedeutsam erachtet? Absolut, ja. Und dass es da insofern keine Diskussion oder keine Fragen gibt… Also Sie haben jetzt keine Positionskämpfe zu führen. So ist es. Eher sogar im Gegenteil. Wir legen hier sehr viel Wert auf eine klare, übergreifende Zusammenarbeit. Er unterstützt das auch sehr stark. Es ist evident, wie das Unternehmen sich durch Kommunikation verändert hat. In den zurückliegenden drei Jahren hat der neue Auftritt, die neue Unternehmensmarke, für ein neues Bewusstsein und Selbstbewusstsein gesorgt – übrigens nicht nur in unserem eigenen Unternehmen, sondern auch bei anderen in der Branche.
Was jedoch immer wieder beklagt wurde, war, dass man sich in vielen konkreten und spezifischen Fällen eine frühere oder weiterreichende Einbindung in diese oder jene Frage gewünscht hätte, sich gewünscht hätte, sich bei dieser oder jener Entscheidung besser oder öfter durchzusetzen. Manager G, der mit Abstand erfahrenste Praktiker, gestand rundum ein, dass er zwar über ein sehr gutes Vertrauensverhältnis zu seinem Vorstand verfüge, in seinem alten Unternehmen aber größeren und weiter reichenden Einfluss genossen habe. Von der Was-Frage zur Wie-Frage Der Eindruck, zu welchem der Autor aufgrund der Beobachtung, insbesondere aber aufgrund der vorbereitenden und der Feldgespräche gelangte, ist also grundsätzlich der einer Diskrepanz zwischen grundsätzlicher Anerkenntnis eines Rationals auf der einen – und der Durchsetzung in Einzelfällen auf der anderen Seite. Die Diskrepanz lässt sich auf verschiedene Art und Weise erklären: Es ließe sich der Verdacht äußern, dass Kommunikationsmanager durch „Lippenbekenntnisse“ seitens der Unternehmensführung in die Irre geführt, „bei Laune gehalten“ werden. Oder es ließe sich mutmaßen, dass die grundsätzliche Aner-
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kenntnis der „weichen“ PR- und Kommunikationsfaktoren gilt, solange Spielraum besteht – wenn es hart auf hart kommt, setzen sich jedoch andere, vermeintlich wichtigere Rationale durch. Der Autor gesteht zu, dass das sein mag – in Einzelfällen oder flächendeckend. Aus der Verschränkung der Feldarbeit mit der Theoriearbeit gelangt er jedoch zu einer Erklärung, welche die Diskrepanz anders auflöst. Die Erklärung ist, dass es Kommunikationsmanagern nicht besser und nicht schlechter geht als vielen anderen Managern – zumindest, wie sie die Managementforschung in der Arbeit von etwa Henry Mintzberg, Rosemary Stewart, John Kotter porträtiert, wie sie die systemisch-systemtheoretische Managementlehre analysiert. Es geht Kommunikationsmanagern nicht besser und nicht schlechter, weil sie mit und in ihrer Arbeit ein Rational durchzusetzen versuchen, welches in der Organisation grundsätzlich auch als wichtig, erfolgskritisch, strategisch und unternehmenspolitisch bedeutsam anerkannt ist. In konkreten und spezifischen Entscheidungen bleibt die Durchsetzung des Rationals aber nahezu immer hinter dem Ideal, oft auch hinter den eigenen Erwartungen zurück. Und das heißt gerade nicht, dass dafür andere ihre Rationale in idealtypischer oder praktisch-optimaler Art und Weise durchsetzen. Es könnte genauso gut sein, dass niemand sein Rational derartig durchsetzt, dass am Ende jeder einzelne Akteur bloß halb zufrieden oder semi-unzufrieden ist. Ein theoretisches Konzept zu zeichnen, welches beschreibt, was Kommunikationsmanagement ist, stellt also nur eine Hälfte dar. Die andere Hälfte ist zu beschreiben, wie das, was im Rahmen des Kommunikationsmanagements geschieht, durch einzelne handelnde Akteure bzw. mit ihnen geschieht – und wie es die partizipierenden, involvierten Akteure erleben. Das führt zurück zu der oft beklagten „Frontstellung“ zwischen Akteurs- und Systemtheorien. Auch wenn maßgebliche Kommunikations- und Medienwissenschaftler mehr und mehr kritisch herausarbeiten, dass die Rezeption der Systemtheorie in der Kommunikations- und Medienwissenschaft übermäßig an Niklas Luhmann orientiert und darüber hinaus „naiv“ war11, auch wenn die gängige Meinung in der PR-Lehre nunmehr die ist, dass mit der Gidden’schen Theorie der Strukturation die „Frontstellung“ überwunden werden könne (vgl. etwa Zerfaß 2004, 391ff.; Jarren/Röttger 2009, 31ff.) – der Autor sieht noch nicht, dass die Endpole der Perspektiven konsequent zusammengedacht werden (vgl. instruktiv Rolke 2009, Kap. 2). Zu fordern ist also nicht eine Akteursperspektive auf der einen oder eine Systemperspektive auf der anderen Seite, sondern eine Akteur-im-SystemPerspektive. Gutenberg und der Gründungsakt der Betriebswirtschaftslehre vs. systemisches Denken Das Erlebnis der Manager in der Beobachtungsstudie ähnelt dem berühmten AbileneParadox (Harvey 1974), einem Klassiker der Managementlehre, welcher vergegenwärtigt, weshalb Kollektiventscheidungen nicht die Addition von Individualentscheidungen darstellen, Organisationen manchmal sehenden Auges nach Abilene aufbrechen, obwohl jeder einzelne individuelle Akteur sieht, dass es ein Fehler ist. Die Akteur-im-SystemPerspektive, wie sie der Autor denkt, geht aber darüber hinaus. Salopp gesagt gesteht sie zu, was Theoretiker wie Baecker (2003, 18-40) wieder und wieder betonen: Niemand ver11 „Eine naiv zu nennende Rezeption systemtheoretischen Denkens (vor allem orientiert an Niklas Luhmann) dominiert in Teilen der Publizistik- und Kommunikationswissenschaft.“, diagnostizieren Jarren/Röttger (2009, 30) ganz und gar ohne Polemik. Für die Journalistik vgl. jüngst auch Raabe 2005. Vgl. auch D.II.
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steht die Organisation voll und ganz, nicht einmal sie selbst. Die Konsequenz ist: Wer glaubt, durch Professionalisierung werde die Lehre des Kommunikationsmanagements zu einem Punkt gelangen, wo der einzelne, individuelle Akteur jederzeit weiß, was er wie zu tun hat, jagt der Schimäre eines natur- und ingenieurswissenschaftlich geprägten Organisations- und Managementverständnisses nach, welches die systemische Organisations- und Managementlehre (für eine knappe schöne Einführung vgl. Simon 2007a, 2007b) längst überwunden hat. Wo der Unterschied zwischen einer systemisch aufgeklärten Akteursperspektive und der klassischen Perspektive liegt, lässt sich an der Art und Weise verdeutlichen, wie Betriebswirtschaftslehre und systemische Organisations- und Managementlehre verschiedene, wenn auch eng verwandte Gegenstände ins Visier nehmen. Den Unterschied arbeitet Dirk Baecker (2003) in aufschlussreicher Art und Weise heraus. Unter Bezug auf das Werk Erich Gutenbergs zeigt Baecker auf, dass die betriebswirtschaftliche Theorie in ihrer reinen Ausprägung die empirische Organisation de facto ausklammert. „Die Unternehmung als Objekt betriebswirtschaftlicher Theorie […] kann nicht unmittelbar die empirische Unternehmung sein. Es muss für sie die Annahme gemacht werden, dass die Organisation der Unternehmung vollkommen funktioniert“, zitiert Baecker Gutenbergs Habilitationsschrift (Gutenberg 1929, 26; zit. n. Baecker 2003, 9), die er als „Gründungsakt der Betriebswirtschaftslehre“ (ebd.) ansieht. In Baeckers eigenen Worten (2003, 10): „In seiner Habilitationsschrift verweist Gutenberg darauf, dass die Betriebswirtschaftslehre nur dann zu einer eigenen Disziplin entwickelt werden kann, wenn sie sich nicht mit den technischen, den psychologischen und den soziologischen Fragen der Organisation beschäftigt […].“ Der eigentliche Gegenstand der Betriebswirtschaftslehre ist, so Baecker, eine spezifische Perspektive, welche der empirischen Organisation übergestülpt wird – und die Perspektive ist das ökonomische Kalkül. An anderer Stelle noch einmal (2003, 11): Gutenbergs wesentliche Einsicht besteht darin, die Organisation als Unternehmung zu betrachten und sie damit einem ihr fremden Gesichtspunkt zu unterwerfen […]. Denn in der Organisation geht es alles andere als wirtschaftlich zu. Sie ist ein eigener Ordnungsgedanke, der gegen die entropischen Tendenzen der Welt durchgesetzt werden muss. Sie weist eine soziale Dynamik auf, in der sie sich als eine eigene Form der Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung gegenüber alternativen Formen behaupten muss. Sie ist eine Resultante psychischer Wünsche, Ängste, Blockaden und Begeisterungen.
Dass die Betriebswirtschaftslehre Gutenbergs „Gründungsakt“ im weiteren Entwicklungsverlauf wieder verwässert und die technischen, psychologischen und soziologischen Probleme „wieder hereinholt“ ist von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse. Worum es dem Autor geht ist, dass die PR-Lehre von einem ähnlich oszillierenden Grenzproblem durchzogen ist. Am deutlichsten und klarsten lässt sich das herausarbeiten, wenn man die akademische Lehre des Kommunikationsmanagements von der Ausbildungsperspektive her sieht: Sie ist nach Ansicht des Autors stark entwickelt, wo es darum geht, Kommunikationsmanagern theoretische Konzepte für Kommunikationsmanagement zu liefern – das heißt durchdachte, in sich stimmige, aber organisationsfremde Gesichtspunkte, die mit Blick auf die perfekte Unternehmung oder, weiter gefasst, die rationale Organisation vorgezeichnet wurden. Sie ist jedoch im Vergleich schwach entwickelt, wo es darum geht, Kommunikationsmanager auf die reale Unternehmung, auf die irrationale, von Hackordnungskämpfen durchzogene, durch „Wünsche, Ängste, Blockaden und Begeisterungen“ getriebene Organisation vorzubereiten. Etwas polemisch ließe sich sagen: Die systematische Vorbereitung auf die „reale“ Organisation, auf „echtes“ Management überlässt die akademische PR-
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Lehre noch immer der sprichwörtlichen university of life. Die Versuchung, dies mit der grundsätzlichen Unterscheidung zwischen Theorie einerseits, Praxis andererseits in einen Topf zu werfen, ist groß. Es ist aber falsch, denn die menschlich-allzumenschlichen Faktoren können genauso gut Gegenstand der Theorie sein, und in der Managementlehre sind sie es auch. Der Autor sieht hier eher den Unterschied zwischen einer organisationszentrierten Lehre des Kommunikationsmanagements einerseits, einer akteurszentrierten Lehre des Kommunikationsmanager-Seins andererseits. Die akademische Lehre hat den zweiten Bereich, wie der Autor meint, zu lange und zu bereitwillig der Praktikerliteratur zugestanden. Wenn die vorliegende Arbeit ein Bewusstsein dafür schafft, dass beide Perspektiven wichtig und seriös wissenschaftlich behandelbar sind, dann hat sie einen großen Schritt in Richtung ihres Ziels gemacht, Kommunikationsmanagement aus der Vagheit und Diffusität herauszuheben. Kommunikationsmanagement ohne Managementlehre Eine weitere Entwicklung passt ins Bild: Angesichts der Tatsache, dass die PR-Lehre in hohem Maße Theorie aus der Betriebswirtschaftslehre importierte (vgl. auch Vercic/Grunig 2000), um auf der Organisationsebene eine tragfähige Argumentation hinsichtlich des Beitrags zum Unternehmenserfolg vorzulegen, um zu einer genuinen Lehre des Kommunikationsmanagements zu werden, ist eines erstaunlich. Es ist erstaunlich, dass man bei der „Managerialisierung“ auf der Akteursebene nicht nur die systemische Organisations- und Managementlehre, sondern die Managementlehre überhaupt beinahe völlig vernachlässigte. „[P]ublic relations researchers appear to have largely ignored the extensive body of management literature”, konstatieren Moss, Warnaby und Newman noch im Jahr 2000.12 Man möchte meinen, dass eine PR-Lehre, die sich zu einer Lehre des Kommunikationsmanagements umgestaltet, brennendes Interesse haben sollte zu erfahren, was Management im Allgemeinen ist, was die einschlägige Disziplin zu sagen hat. Zumal Zerfaß (1998) zuzustimmen ist, wenn er darauf hinweist, dass verschiedene in der PR-Lehre lediglich ansatzweise oder unbefriedigend aufgearbeitete Begrifflichkeiten und Problemstellungen im Rahmen der Managementlehre (und der Organisationslehre) bereits eine anspruchsvolle Erörterung erfahren haben. Sieben Jahre nach Moss, Warnaby und Newman und beinahe eine Dekade nach Zerfaß’ Feststellung legt die erste und wegweisende Ausgabe des International Journal of Strategic Communication den Verdacht nahe, dass sich etwas, aber nicht viel geändert hat. In einem Versuch, dem Leitmotiv der strategischen Kommunikation Konturen zu geben, ist zwar von einer „emphasis on management“ die Rede und es werden auch Managementtheoretiker wie Mintzberg zitiert, de facto wiederholen die Autoren um Kirk Hallahan (Hallahan et al. 2007) aber den Anspruch der strategischen Kommunikationsfunktion, als Teil des Managements der Unternehmung angesehen zu werden. Zu welchen Veränderungen das auf der Ebene des persönlichen Selbstverständnisses der Akteure führt, dass „emphasis on management“ zur Verwickelung in ein anderes „Spiel“ in der Organisation führt, bleibt unerörtert. Weshalb es zu einem Ignorieren der Managementliteratur, zu einem Ignorieren der Werke von Peter Drucker, Chester Barnard, John Kotter, Rosemary Stewart, Fredmund 12 Die Qualifizierung „largely“ hat freilich ihre Berechtigung. Um die zwei bereits angeführten Beispiele heranzuziehen: Die Exzellenztheorie verdankt Tom Peters’ und Robert Watermans Managementbestseller In Search of Excellence einiges, angefangen beim catchword des Titels. Und Ansgar Zerfaß, als ein Schüler des Managementtheoretikers Horst Steinmann, wechselt mühelos und sicher zwischen Management- und Betriebswirtschaftslehre.
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Malik oder Henry Mintzberg kam, bleibt in letzter Konsequenz Spekulation. Der Autor wagt jedoch die Vermutung, dass drei Gründe eine maßgebliche Rolle spielten. Erstens ist das Ignorieren der Managementlehre zu einem Teil einer falschen und voreiligen Gleichsetzung der Disziplinen geschuldet: Ein Manager sei eben jemand, der konsequent betriebswirtschaftlich handelt, dachte man wohl in der PR-Lehre, während die angeführten Managementtheoretiker nicht müde werden, auf die immensen Unterschiede zwischen Management und „business administration“ zu verweisen: „Managers, not MBAs“, fordert Mintzberg (2004) programmatisch und polemisch in seinem gleichnamigen Beststeller. Zweitens ist zu sehen, dass sich bereits Ende der siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts eine eigenständige Forschungstradition in der PR-Lehre um die wirkungsmächtige Dichotomie PR-Manager vs. PR-Technician angelagert hatte (vgl. etwa Broom/Smith 1979: Broom 1982; Dozier 1984; Broom/Dozier 1986; im Überblick Toth et al. 1998) – und ebenjene, einerseits „hemdsärmelige“, andererseits US-zentrierte, feministisch-ideologiebehaftete Tradition13 kam ohne die Managementliteratur, mit einem Alltagsverständnis des Begriffes Manager aus. Etwas polemisch ausgedrückt: Man glaubte bereits zu wissen, was ein PR-Manager sei, ohne notwendigerweise wissen zu müssen, was ein Manager ist – Brooms Set von 24 Items genügte, um die Frage zu klären. Als dritter und wichtigster Grund ist schließlich zu sehen, dass viele Theoretiker eine Verschiebung in toto hin zu Kommunikationsmanagement, weg von Public Relations vollzogen. Das führte wie es häufig in derartigen Fällen geschieht dazu, dass der paradigmatische Begriff selbst, der des Managements nämlich, aus dem Blickfeld geriet: Er war weder Definiens noch Definiendum und wurde auch nicht in Abgrenzung oder Verwandtschaft zu Public Relations diskutiert; er wurde zu einer Selbstverständlichkeit. Ein richtiger, echter Kommunikationsmanager war derjenige, der gemäß den neuesten Theorien und Konzepten agierte, etwa dem one best way der Exzellenztheorie folgte. Man beschäftigte sich bereits gezielt mit Kommunikationsmanagement, so dass es als Zeitverschwendung schien, einen Schritt zurückzugehen, um sich zunächst einmal mit Grundannahmen und stillschweigenden Voraussetzungen von Management zu beschäftigen. 4.
Viertes Resultat: Kommunikationsmanagement Kommunikationsmanager-Sein Eine grundsätzliche Annahme, welche die vorliegende Arbeit von der Vorbildarbeit Henry Mintzbergs übernahm, ist die stillschweigende Vermutung, dass sich das Verständnis von Kommunikationsmanagement dadurch vertiefen und verschärfen lässt, dass man Kommunikationsmanager beobachtet. Der Autor ist noch immer der Meinung, aber er misst der Unterscheidung größeres Gewicht bei. Mit der gebührenden Vorsicht vor Verallgemeinerung aus Beobachtungsstudien lässt sich also ein viertes, wichtiges Ergebnis festhalten: dass die Lehre des Kommunikationsmanagements gut daran täte, konsequent zwischen Kommunikationsmanagement einerseits, Kommunikationsmanager-Sein andererseits zu unterscheiden. Die Unterscheidung zwischen Kommunikationsmanagement und Kommunikationsmanager-Sein entspricht der Unterscheidung zwischen Management aus institutionaler und Management aus funktionaler Perspektive, wie sie der Autor unter C.II vorstellt. Obwohl 13 „The dominant theme in roles research to date, however, has undoubtedly been that of female gender discrimination”, kommentieren Moss und Green noch 2001 (2001, 118).
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die Unterscheidung bekannt ist und bei betriebswirtschaftlich verwurzelten Theoretikern wie etwa Zerfaß (Zerfaß 2004, insbesondere Kap. 5) diskutiert wird, unterstellt der Autor weiten Teilen der PR-praktischen Literatur, aber auch Teilen der PR-wissenschaftlichen Literatur, dass sie sie verwischt oder unter den Tisch kehrt. Das heißt, es werden Konzepte entwickelt, wie eine in der Regel bereits existierende, mehr oder minder definierte PRFunktion mit einem Pressesprecher an der Spitze in eine weitergreifende, umfassendere Kommunikationsfunktion umgestaltet werden sollte, die im Prinzip für jede wie auch immer geartete „kommunikationsrelevante“ Frage verantwortlich zeichnet: Sei es Presse- und Medienarbeit und die Kommunikation mit der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, sei es Kommunikation mit Mitarbeitern und Führungskräften, sei es Marktkommunikation, sei es Investor Relations, sei es das Image, die Reputation, die Marke des Unternehmens, seien es die intangible assets etc. Und die stillschweigende Annahme ist entweder die, dass eine Person die Funktion unter sich vereinen, sie verantworten sollte – oder aber das Problem, wie die Funktion realiter zu institutionalisieren ist, wer sie verantwortet, bleibt unausgesprochen. Um als Ausgangspunkt die Entwürfe heranzuziehen, an welchen sich die Arbeit reibt: Umfassend und in sich geschlossen buchstabierten die Exzellenztheorie in den Vereinigten Staaten und Ansgar Zerfaß in Deutschland im Verlauf der neunziger Jahre gleichermaßen drei Argumente aus, welche PR alter Prägung als einen Teilbereich der PR neuer Prägung, des Communication Management im ersten, der Unternehmenskommunikation im zweiten Fall, auswies: Erstens, dass Organisationen gemanagter Kommunikation verschiedenster Gruppen – nicht nur der Presse oder „der Öffentlichkeit“ – bedürfen, um dauerhaft erfolgreich zu sein. Zweitens, dass die Kommunikation mit den verschiedenen Anspruchs-, Bezugs- oder Zielgruppen koordiniert zu geschehen habe, um den Gedanken einer Integrierten Kommunikation, einer one voice-policy zu verwirklichen. Drittens, mit verschiedener Akzentuierung, sei eine derartig koordinierte Kommunikation nur dann möglich und leiste ihren vollen Erfolgsbeitrag, wenn sie Zugang zur dominant coalition der Organisation genieße, in der Führung angesiedelt, Teil des Managements des Unternehmens sei. Das nachträgliche „Verkaufen“ unternehmerischer Entscheidungen habe Grenzen, erfolgsversprechender und nachhaltiger sei es, kommunikationsrelevante Aspekte, wie etwa Umweltbelange, von vornherein bei unternehmerischen Entscheidungen zu berücksichtigen. Der Autor stellt nicht in Abrede, dass die theoretisch-normative Konzeptionierung einer derartigen Funktion plausibel ist, unter welchem Label das auch geschieht. Wie gesagt geht mit der Rezeption derartiger Konzepte durch Branchenverbände und Praktiker aber oft die eine oder die andere stillschweigende Annahme einher. Entweder man glaubt, dass mit der Akzeptanz in der dominant coalition, mit der Deklaration zur „Chefsache“, alle Durchsetzungs- und Abstimmungsprobleme im Prinzip beseitigt seien. Oder man geht davon aus, manchmal implizit, manchmal explizit, dass die Verantwortung für die Funktion in einer Hand liegen sollte, und zwar in der des obersten PR-Verantwortlichen „so far“, der „from now on“ der oberste Kommunikationsverantwortliche ist: Etwa als Vice-President Corporate Communication, der unter sich einen Director Media Relations, Director Investor Relations, Director Internal Relations und Director Government Relations vereint (vgl. explizit und dezidiert Argenti 2002, 42). Konzepte, wie das von Argenti oder anderen Autoren (vgl. z. B. Bruhn 2003) suggerieren eine Sauberkeit, die sich in Organigrammen zwar überzeugend ausnimmt, die sich in der offiziellen Organisationsstruktur manchmal auch findet – die nach Ansicht des Autors
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aber nicht sehr viel mit der Organisationsrealität zu tun hat. Symptomatisch sind die Ausführungen, die Bruhn (exemplarisch Bruhn 2006, 522ff.) mit Blick auf die unternehmensinterne Verankerung der Integrierten Kommunikation vorlegt. Bruhn, ohne Zweifel der wirkmächtigste Proponent des IK-Konzepts, scheint mit Missgunst gelesen nicht so sehr klare Vorstellungen davon zu haben, wie das theoretisch elegante Konzept praktisch umzusetzen ist. Mit Wohlwollen gelesen ließe sich freilich sagen, dass er sich der Schwierigkeiten sehr genau bewusst ist, deshalb „Patentrezepte“ verweigert. Bruhn macht geltend, dass die Koordination und Integration der Kommunikationsaktivitäten im Rahmen der Integrierten Kommunikation durch eine Instanz zu geschehen habe, die er in letzter Konsequenz mit einem „Kommunikationsmanager“ zu besetzen wünscht. Er schlägt drei Alternativen vor, wie der Kommunikationsmanager zu verankern sei: (1) Als Stabsstelle, wobei der Kommunikationsmanager zwar keine Weisungsbefugnisse gegenüber den Fachabteilungen habe; das Problem sei aber durch eine enge Anbindung und tatkräftige Unterstützung durch die Unternehmensführung wettzumachen – die Idee, dass die Deklaration als „Chefsache“ viele Probleme auflöst. (2) In der Linie mit relativ weitreichender Weisungsbefugnis, formaler Autorität: „So kann der Kommunikationsmanager beispielsweise für die gesamte Kommunikation des Unternehmens verantwortlich gemacht werden. Alle anderen Fachabteilungen [der Kommunikation, H.N.] wären hierbei dem Kommunikationsmanager hierarchisch untergeordnet“ (2006, 522f.). Bruhn selbst ist sich der Schwierigkeiten einer derartigen Struktur ganz und gar bewusst, wie seine weiteren Ausführungen zeigen. (3) In einer Projektorganisation (ausführlich Bruhn 2003, 230ff.), wobei der Kommunikationsmanager ein „Lenkungsgremium“ leitet, welches über begrenzte fachliche Leitungsbefugnis gegenüber interdisziplinären Teams verfügt, die sich wiederum aus den Fachabteilungen rekrutieren. Der Autor hat in seiner Studie Personen beobachtet, die Titel wie „Direktor Unternehmenskommunikation“ oder „Senior Vice-President Corporate Communication“ trugen, die offiziell unter sich genau die von Argenti beschriebenen Bereiche vereinten (mit Ausnahme der Investor Relations), die direct reports des Vorstandes waren, die zweifelsfrei über formale Autorität, Macht und Einfluss verfügten. Das saubere Konzept, wie es manchmal auch in der Organisationshierarchie festgeschrieben und verankert war, beseitigte aber nicht die Probleme der beobachteten Manager, ihr Kalkül, ihr PR- oder Kommunikationsrational gegen andere Rationale anderer Manager durchzusetzen. Im Gegenteil: Die hochrangige Aufhängung und die formale Verankerung einer Verantwortung für diffuse, unspezifische Domänen und Sphären wie „Kommunikation“, „Image“, „Reputation“, „Auftritt“, „Sprache“ etc. zog die Kandidaten geradezu in Auseinandersetzungen. Managerin B führt sehr anschaulich aus, dass dies einiges an Herausforderungen mit sich bringt. Gut. Also ich muss dafür sorgen, dass das Unternehmen nach außen nicht nur mit einer Sprache spricht, sondern auch ein Aussehen hat, das man überall wieder erkennt. Und das muss ich intern – unter zum Teil großen Herausforderungen – so versuchen zu bündeln, dass divergierende Interessen unter einen Hut gebracht werden. Ganz klassischer Zielkonflikt zwischen Kommunikation und Marketing zum Beispiel. Klar, die Marketingleute wollen eine deutliche werbliche Ansprache. Während ich sage: Ich habe ja nicht nur die Haushaltskunden oder die Gewerbekunden, sondern ich habe auch den politischen Raum... die Medien… ich habe ganz bestimmte Multiplikatoren, die in keines dieser Raster fallen. Und ich habe bestimmte Institutionen – bis hin zum Finanzamt. Da muss der Gesamtauftritt des Unternehmens wie aus einem Guss sein. Sie können nicht, sage ich mal, im Bereich der Haushalts- und Gewerbekundenkommunikation nach dem Motto: Sex Sells! arbeiten und gleichzeitig aber den Oberbürgermeister zu ihrer jährlichen Gala als Schirmherr einladen. Das funktioniert nicht. Und für diese eine Sprache – nicht nur im Sinne von Sprechen, sondern im Gesamtauftritt – dafür bin ich verantwortlich, inklusive des Corporate Design.
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Während der Autor Managerin B auf Schritt und Tritt folgte, beobachtete er also Kommunikationsmanagement, ohne Zweifel. Er beobachtete aber nicht umfassend und abschließend das Kommunikationsmanagement des Unternehmens, nicht die Kommunikationsfunktion in toto. Und das liegt sicher nicht daran, dass die beobachteten Personen „PR-Chefs alter Schule“ darstellten, Public Relations auf Presse- und Medienarbeit reduzierten. Es liegt daran, wie der Autor methodenkritisch feststellt, dass er Personen beobachtete. Der Eindruck des Autors war, dass die breite und umfassende Kommunikationsfunktion, wie sie die Theorie skizziert, existierte. Sie war jedoch nicht in der Person des Kommunikationschefs verkörpert, und sie war auch nicht in der Kommunikationsabteilung insgesamt verkörpert, wie das die Exzellenztheorie konzeptioniert. Was der Autor aus der Beobachtung vieler Meetings und der Verfolgung vieler Gespräche in verschiedenen Organisationen mitnahm, ist der Eindruck, dass die Kommunikationsfunktion in Organisationen als ein funktionales Netzwerk, als eine Interessens-, Kräfte- und Machtkonstellation existiert. Metaphorisch ließe sich sagen: die Kommunikationsfunktion ist eine „Bewusstheit“ der dominant coalition, eine corporate consciousness. Will spricht, in der Sache ähnlich, von einem „communication view“ des Managements (2007, 309ff.). Hoffjann (2001) handelt, systemtheoretisch fundiert, von einem Subsystem der Organisation, das ja gerade nicht, das sei betont, mit der Verantwortung einer Person identisch ist. In diesem Netz, in dieser Konstellation, in dieser politischen Arena spielt der oberste Kommunikationsverantwortliche, wie ihn der Autor beobachtete, nicht grundsätzlich und immer den Gastgeber. Er spielt einen spezifischen Part. Und der spezifische Part, das ist die These, zu der der Autor auf Basis der Beobachtung gelangte, lässt sich noch immer durch Rekurs auf die PR-Funktion erklären, wie sie Managerin B so treffend und anschaulich beschreibt. Die PR-Funktion ist das, was der Autor unter 2. anriss. Sie ist in letzter Konsequenz auch ziemlich genau das, was Zerfaß „Öffentlichkeitsarbeit“ oder „PR-Management“ nennt (2004, Kap. 7): das oft, aber nicht notwendig massenmedial vermittelte Kommunizieren der Organisation in und mit ihrer gesellschaftspolitischen Umwelt, in einem gesellschaftspolitischen Kommunikationsmodus, um gesellschaftspolitische Relationen herzustellen, um die Organisation in ihre gesellschaftspolitische Umwelt zu integrieren. Im Bewusstsein gelesen, dass „as communicator“ in der Grunig’schen Verwendung eigentlich „as PR communicator“ bedeutet, erschließt sich, dass der folgende Satz aus dem ersten Band der Exzellenztheorie, der im dritten Band wieder auftaucht, im Prinzip das Gleiche behauptet wie der Autor: Public Relations should be involved in decision making by the group of senior managers who control an organization, which we call the dominant coalition throughout this book. Although public relations managers often vote in policy decisions made by the dominant coalition, we argue that their specialized role in the process of making those decisions is as communicator. (Grunig et al. 1992, 4f.; auch Grunig/Grunig/Dozier 2002, 3)
Verantwortung vs. Macht, funktionales vs. institutionales Managementverständnis Um das noch einmal in einer Terminologie herauszuarbeiten, die sich durch die Arbeit zieht: Manager-Sein konstituiert sich via „Verantwortung für“ bei gleichzeitiger, mehr oder minder entsprechender „Macht über“ respektive formaler Autorität. Die Herausforderung, an der viele der einfacher gestrickten Ansätze scheitern, besteht nach Ansicht des Autors darin, die Spreizung von „Verantwortung für“ und „Macht über“ zusammenzudenken mit der Unterscheidung zwischen Management im funktionalen und im institutionalen Verständnis. Der oberste PR-Verantwortliche in einer Organisation mag früher einmal die PR-
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Funktion der Organisation verantwortet haben, über die er auch mit formaler Autorität ausgestattet war, nicht mehr und nicht weniger. Die Funktion war identisch mit dem Verantwortungsbereich einer Person, und wie das in der Theorie gezeichnet wurde, fand man das mit Abstrichen auch in der Praxis. Der Pressesprecher war für die Presse- und Medienarbeit verantwortlich, verantwortete vielleicht noch die Mitarbeiter- oder Kundenzeitung, veranstaltete gelegentlich mal einen Tag der offenen Tür oder eine andere Veranstaltung für geschätzte Kunden oder wichtige Entscheidungsträger, beriet den Vorstand, wenn der es wünschte. Das war die Situation, wie sie der Autor bei Manager A beobachtete, und wie sie sich mit erstaunlicher Passgenauigkeit unter der Überschrift ‚Senior Media Manager’ auch in der Rollenforschung im Rahmen der Exzellenztheorie (vgl. Grunig/Grunig/Dozier 2002, Kap. 6) findet. Als die PR-Theorie jedoch begann, die PR-Funktion immer weiter und umfassender zu zeichnen, PR zu Kommunikationsmanagement umzustilisieren, verlor sie, wie der Autor glaubt, den Kontakt zu Personen. Der Autor behauptet also nicht, dass die Theorie den Kontakt zur Realität verlor. Die Theorie zeichnete eine weite und umfassende Funktion, bei Zerfaß Kommunikationsmanagement, in der Exzellenztheorie Public Relations/ Communication Management, im gängigen Sprachgebrauch Unternehmenskommunikation (vgl. etwa Will 2008, 64) – und die glaubt der Autor auch in realen Organisationen beobachtet zu haben. Was der Autor aber nicht beobachtete, ist ein Kommunikationsdirektor, der für ebenjene weite und umfassende Funktion exklusiv verantwortlich zeichnete, geschweige denn, dass er mit der formalen Autorität über sie ausgestattet gewesen wäre, sie de facto unter sich vereinte. De facto, als ihre Domäne, als ihren Job, verantworteten die beobachteten Direktoren und Kommunikationschefs noch immer die PR-Funktion, wie sie unter 2. ausgeführt wurde. Öffentlichkeitsarbeit plus die eine oder andere zusätzliche Aufgabe, das war der Diskurs. Die Tatsache, dass ihr Job die PR-Funktion ist und dass sie formale Autorität über die Ressourcen der PR-Funktion ausübten, dass sie Macht hatten, über Einfluss verfügten, Verantwortung trugen, gestattete es den beobachteten Managern aber, im Interessens-, Kräfte- und Machtspiel „Kommunikation“ mitzuspielen, wo man über das Image der Unternehmung, über Reputation und Marke, über intangible assets und Wertschöpfung nachdenkt. Und umgekehrt: dass sie es konnten, erzeugte auch eine Mitverantwortung für das Thema. Die Theorie hat Recht – den Praktikern hat es nichts gebracht Mit etwas Polemik ließe sich also sagen, dass die theoretischen Analysen Grunig’scher oder Zerfaß’scher Prägung die Situation durchaus klar und treffend analysiert haben, der sich Unternehmen im 21. Jahrhundert gegenübersehen werden. Die Theoriearbeit ist, wie der Autor glaubt, aufgegangen. Was nicht aufging oder bis dato nicht aufgegangen ist, ist die branchenpolitische Strategie, welche sich um die Theoriearbeit anlagerte. Es ist seitens der Lehre der PR/des Kommunikationsmanagements nicht geglückt, das, was in der PRTheorie als die „Kommunikationsfunktion“ apostrophiert wurde, in die Hände des ehemaligen PR-Chefs, jetzt Kommunikationschefs, hineinzudefinieren. Über die praktischen Gründe möchte der Autor, von einer Ausnahme abgesehen, nicht spekulieren. Die theoretischen Gründe liegen jedoch, wie er meint, auf der Hand. Es sind zwei miteinander verwickelte. Erstens handelt es sich bei vielem, was die PR- und Kommunikationsmanagementlehre ihren „Studenten“ als eigenständige Entwicklungen verkauft, um Theorieimporte aus der Betriebswirtschaft, insbesondere der Lehre der Unternehmensführung, in welche die Public Relations lediglich hineingeschneidert wurde – manchmal durchaus in zielgerichteter und
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weiterführender Art und Weise, manchmal aber in sehr banaler, unter Verweis auf die Wichtigkeit von Kommunikation. Das augenfälligste und wirkmächtigste Beispiel ist nach Ansicht des Autors die Rezeption der Stakeholder-Theorie im Rahmen der Grunig’schen Exzellenztheorie: Der Stakeholder-Approach, wie er von Freeman und Evan (Freeman 1984; Freeman/Evan 1993) vorgelegt wurde, war bereits eine weite und umfassende Lehre der strategischen Unternehmensführung, ehe Grunig et al. sie mit ihrer Lehre der strategic constituencies auf Public Relations/Kommunikationsmanagement umschneiderten und verengten.14 Zweitens und eng damit verknüpft haben viele andere Disziplinen ihrerseits, völlig oder teilweise unabhängig von der PR-Lehre, die Wichtigkeit von Kommunikation ausgemacht. Ein derzeit diskutiertes Beispiel sind die Anstrengungen, welche von Seiten der Controller unternommen werden, unternehmensseitig selbst geschaffene immaterielle Vermögenswerte, wie die Marke des Unternehmens, bilanzierungstechnisch in den Griff zu bekommen (vgl. die Diskussion in den jüngsten Publikationen des Arbeitskreises „Wertschöpfung durch Kommunikation“ der Deutschen Public Relations-Gesellschaft, DPRG). Das Management Game Denkt man die erste und die zweite Entwicklung zusammen, so tritt das Problem hervor, welches auf die Praxis durchschlägt. Der Autor schildert das Szenario, weil er es mit einer Warnung verbindet, dass die PR-Theorie derzeit die Identität der Public Relations verwässert. Gehen wir von folgender Entwicklung aus: Die Unternehmensführung, durch die Theorie, aber auch in der Praxis, ist zunehmend für „Kommunikation“ im allgemeinen, umfassenden Sinn sensibilisiert; diverse funktionale Domänen wie etwa Marketing (Produkt-PR), Personal (Mitarbeiterkommunikation), Forschung und Entwicklung (Innovationskommunikation), Controlling (Kommunikations-Controlling) ebenso. Deshalb hat sich eine Kommunikationsfunktion in Unternehmen entwickelt. Vorstand und funktionale Domänen sehen Kommunikationsfragen aber vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Verantwortung, in Zusammenhang mit ihrem Anliegen. Auch der CEO, im strategischen Management geschult, führt das Unternehmen nicht mit Blick auf Image und Reputation, sondern mit Blick auf „unterm Strich“, mit Blick auf aktuellen Erfolg und zukünftige Erfolgspotenziale, Wertschöpfung heute und morgen. Als sich die diversen funktionalen Domänen oder der Vorstand noch an einen Pressechef wandten, wussten sie genau, was sie zu erwarten hatten: jemanden, der viele Journalisten kennt, weiß, wie man eine gute und interessante Mitarbeiterzeitschrift macht etc. – jemanden, der eben ein Gespür für die öffentliche Meinung hat, auch die unternehmensinterne. Die Verantwortung und das ureigene Anliegen des Pressechefs ist, was die Leute dort draußen, in der Öffentlichkeit sagen, denn das könnten auch Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten, politische und administrative Entscheider, radikale Aktivisten etc. sein. Der modus operandi des Pressechefs ist also zunächst einmal durchaus der, an einem lebensweltlichen Deutungsangebot zu arbeiten, welches zu einer gesellschaftlich-gemeinschaftlichmenschlichen Wahrnehmung des Unternehmens, der Unternehmenshandlungen und Organisationsvorgänge so und nicht anders führt – und der Autor fügt hinzu, dass die sinnstiftende Offerte, „die Story“, natürlich nicht das Unternehmen „wie es wirklich ist“ darstellt, 14 Vgl. Grunig et al. 1992, Kap. 3. Grunig et al. diskutieren das Stakeholder-Konzept zunächst einmal neben anderen Ansätzen und gebrauchen für ihren eigenen Entwurf den Begriff der strategic constituency. Im weiteren historischen Verlauf der Theorierezeption setzte sich das Freeman’sche Stakeholder-Konzept aber gegen alle anderen alternativen Angebote durch.
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widerspiegelt oder abbildet, sondern genauso ein Konstrukt ist, wie die Person ein Konstrukt ist, das der einzelne Mensch gegenüber seiner sozialen Umwelt „gibt“. Wenn der Pressechef sich mit einem Mal aber, in blindem Vertrauen auf halbverstandene Theorie und in Verwechslung von Management und Manager-Sein, zum Kommunikationsmanager oder Chief Communication Officer oder Chief Reputation Officer stilisiert, der nicht nur ein Gespür für die öffentliche Meinung und den Anschluss an „gesellschaftliche Themen“, das „bürgerliche Räsonnement“ hat, wenn er mit einem Mal ultimative formale Autorität über jede Frage von wie auch immer gearteter „Kommunikationsrelevanz“ beansprucht, dann hat das zwar eine Logik – zu einer guten Resonanz auf den lebensweltlichen Resonanzboden zu gelangen ist leichter, wenn man auch jeden anderen Kommunikationsmodus kontrolliert. Der Versuch, andere Kommunikationsmodi auch formal-autoritär zu kontrollieren, setzt aber in der Organisationslogik eine unheilvolle Dynamik in Gang. Denn der ehemalige Pressechef verliert einerseits seine bestimmte Verantwortung, sein ureigenes Anliegen, und er gerät darüber hinaus in die funktionalen Domänen anderer hinein. Und die These des Autors ist, dass ihm dafür die Expertise fehlt: Ein Kommunikationschef besitzt nicht eine höherrangige Expertise mit Mitarbeitern zu kommunizieren als ein Personalchef; er besitzt eine andere, die aus der PR-Expertise resultiert. Eine Kommunikationschefin besitzt nicht eine höherrangige Expertise mit Kunden zu kommunizieren als eine Key-Account-Managerin oder eine Marketingchefin, sondern eine komplementäre. Die kühne Theorie, welche PR-Chefs mit Geheimwissen ausstattet und über alle anderen erhebt, wurde noch nicht gefunden. Das Einzige, was den obersten Kommunikationsverantwortlichen mit dem CEO und dem obersten Strategieverantwortlichen verbindet, und was ihn von allen anderen unterscheidet, ist nach Ansicht des Autors, dass alle drei die Organisation in toto im Blick haben, nicht nur die Kunden, nicht nur die Mitarbeiter, nicht nur den Finanzmarkt oder einen anderen Bereich. Das lebensweltliche Deutungsangebot, welches der oberste Kommunikationsverantwortliche entwickelt, muss im Prinzip die gesamte Organisation und alle aktuell oder potenziell wahrnehmbaren, in der Öffentlichkeit stehenden Unternehmenshandlungen und Organisationsvorgänge abdecken. Was der Autor zum Ausdruck bringen möchte, ist in letzter Konsequenz, dass Ansätze, welche einen „echten“ Chief Communication Officer mit wirklich umfassender Verantwortung für alle „kommunikationsrelevanten“ Fragen konzipieren, notwendig schlechtgeformte Lösungen sind.15 Der Begriff der Kommunikation ist, anders als der der Finanzen, des Personals, der Forschung und Entwicklung, des Marketings, eine carte blanche. Einer Person in einer derartigen Position wird man niemals eine ihrer Verantwortung entsprechende formale Autorität, adäquate Macht, geben können: sie müsste mächtiger als der CEO sein. Die Lösung, die der Autor in sechs oder sogar sieben der acht Fälle beobachtete, ist ein oberster Verantwortlicher für Public Relations, für die gesellschaftlich-gemeinschaftlichmenschliche Ebene, der sich darüber die Partizipation am Management Game „Kommunikation“ erarbeitet hatte. Der Autor schreibt bewusst und absichtsvoll erarbeitet, weil Feldgespräche zeigten, dass die Vorstellung irrig ist und an der Realität in Organisationen vor15
Mit erfrischender Ehrlichkeit hält der Eintrag ‚Corporate Communication Officer’ in der Webenzyklopädie Wikipedia fest, dass der Chief Communication Officer auch ein Titel für einen PR-Chef ist: „The chief communications officer or CCO is a job title for the head of communications, public relations and/or public affairs within an organization. Most typically, the CCO reports to the chief executive officer (CEO) of a corporate entity or president of an operating unit. The CCO may be a member of the executive board of the organization or business unit, but this is dependent on the type of organization.” (http://en.wikipedia.org/wiki/ Chief_ Communications_officer // Zugriff 14.11.2008)
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beigeht, dass die Teilnahme an derartigen Spielen gewährt oder zugewiesen wird. Man mag einen Stuhl an einem Tisch zugewiesen oder gewährt bekommen, das heißt jedoch nicht, dass man an dem Spiel partizipiert (vgl. ausführlich D.III). Identitätsverlust der Public Relations Wenn der Autor vor einem Identitätsverlust der Public Relations warnt, dann warnt er davor, ein klares Kompetenzfeld, für das man eine Expertise besitzt, für das man bestimmte Kompetenzen und Ressourcen fordern kann und muss, in einem unbestimmten, schlechtgeformten Konstrukt aufzulösen. Die Partizipation in einer unternehmenspolitischen Arena wird nicht aufgrund einer Selbstdefinition gewährt, die auf dem Papier gut klingt und eine carte blanche ausstellt, sondern über greifbare Expertise, durchgesetzte Kompetenzen und wirksame Ressourcen – die Tatsache, um es etwas „kaltschnäuzig“ auszudrücken, dass man seinen Job beherrscht, öfter Recht hat als irrt. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass die Termini „gut“ und „schlecht“, „richtig“ und falsch“ aus der seriösen wissenschaftlichen Literatur nahezu verschwunden sind, die Exzellenztheorie führte stattdessen, durch die Hintertür, das Konstrukt einer graduellen „Exzellenz“ ein. Insbesondere ist davor zu warnen, zu verschleiern, was gute und richtige Public Relations für Organisationen leistet. Das geschieht im professionellen Diskurs häufig, wie der Autor glaubt, um einen Diskurs über das Missbrauchspotenzial zu vermeiden. Ohne einen Diskurs über Schein und Sein, Lüge und Wahrheit, Fakt und Fiktion, eingehaltene und verlassene „Realitätskorridore“ lässt sich aber nach Ansicht des Autors die dazwischenliegende Leistung von Public Relations und Öffentlichkeitsarbeit, und entsprechend Kommunikationsmanagement, nicht herausarbeiten. Um die eigenen ethischen Grenzen zu bestimmen, ist ein brutaler, machiavellistischer Realismus gefordert, der Gebrauchspotenziale genauso anerkennt wie Missbrauchspotenziale. Deshalb stellt der Autor bewusst und absichtsvoll dar, dass die Deutungsangebote von Unternehmen dem „Theaterspielen“ ähneln, welches Goffman (1990, 11959) jedem Menschen unterstellt (vgl. zu Goffman als „Pfadfinder“ in der PR- und Managementforschung Johansson 2009). Das Problem, um das noch einmal zu betonen, ist dasselbe; die Probleme sind jedoch völlig andere. Weshalb, ließe sich fragen, bleibt der Schuster nicht bei seinen Leisten? Die Antwort ist die Keimzelle vieler Theorien, welche Public Relations ausweiten, einschließlich der Zerfaß’schen und der Exzellenztheorie. Die Gesellschaft, die Gemeinschaft, die Menschen sehen heutzutage genauer hin (vgl. gedrängt Zerfaß/Piwinger 2007). Die Unternehmensperson, die Geschichten und Geschichtchen, welche man via Public Relations und Öffentlichkeitsarbeit vor hundert oder fünfzig oder zehn Jahren anbot, sind heutzutage nicht mehr attraktiv und viabel. Dafür gibt es viele Gründe. Beispielsweise, weil ähnliche Geschichten bereits erzählt wurden; weil ähnliche Geschichten bereits erzählt wurden und sich als Lügenmärchen erwiesen; weil Unternehmen multiperspektiviert werden und jedem Deutungsangebot seitens der Organisation selbst ein anderes Deutungsangebot eines böswilligen anderen gegenübergestellt wird etc. Die Unternehmensperson, die eine Privatsphäre, eine „backstage“ kannte, um in der Metaphorik zu bleiben, konnte der Pressechef noch autonom, in lockerer Absprache mit Entscheidungsträgern, in lockerem Kontakt mit der Organisationsrealität kreieren. Die Unternehmensperson, wie sie heute gefordert ist, kann jedoch belastbar nur in ständiger und enger Koordination mit vielen anderen Interessengruppen im Unternehmen kreiert werden. Über eine „Nabelschnur“, eine Anbindung an den Vorstandsvorsitzenden, an die Unter-
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nehmung angeschlossen zu sein genügt nicht. Deshalb ist Kommunikationsmanagement, deshalb ist der Einstieg in die unternehmenspolitische Arena unabdingbar, deshalb ist die Entstehung eines unternehmenspolitischen Spiels „Kommunikation“ folgerichtig. Nach Ansicht des Autors ganz und gar unrealistisch ist es jedoch, die Kommunikationsfunktion als in der Hand einer Person, des Direktors Unternehmenskommunikation zu denken, die unternehmenspolitische Arena „Kommunikation“ als formal unter der Autorität der Kommunikationsdirektorin zu begreifen. Die Kommunikationsdirektorin mag mehr oder minder großen Einfluss in der Arena haben, und der Einfluss mag sich auf mehr oder minder große Macht über Ressourcen stützen – entscheidend bleibt jedoch, dass sich die Unternehmenspersönlichkeit nicht ausschließlich über „Kommunikation“ konstituiert, welche eine Kommunikationsmanagerin oder eine Kommunikationsabteilung direkt und unmittelbar zu gestalten, entwickeln und zu lenken vermag. Unter C.III stellt der Autor deshalb dar, dass Kommunikationsmanager in einem Management erster, zweiter und dritter Ordnung agieren. 5. Fünftes Resultat: Management Game, Managementlogik Bis hierher hat der Autor ausgeführt, dass er über ein Vorverständnis von Kommunikationsmanagement verfügte, welches sich durch die Beobachtungsstudie veränderte und in Kommunikationsmanagement einerseits, Kommunikationsmanager-Sein andererseits zerfiel. Es stellt sich jetzt die Frage, wie die neuen, veränderten Verständnisse aussehen und wie sie zusammenhängen. Da der gängig gewordene Diskurs die Separation nicht widerspiegelt, stellt sich ferner die Frage nach einer praktikablen und plausiblen Terminologie – eine, mit der sich die Arbeit nicht aus dem Usus verabschiedet. Die Begriffsverwendung im weiteren Verlauf ist die, die sich in Abbildung 8 findet.16 a) Kommunikationsfunktion, -management, -manager Als die „Kommunikationsfunktion“ möchte der Autor die Bewusstheit der dominant coalition, der Entscheiderriege, für kommunikationsrelevante Fragestellungen ansprechen, das funktionale Netzwerk, die Interessen-, Macht- und Kräftekonstellation, das Subsystem, welches derartige Fragen aufgreift – welche Terminologie man auch immer wählt. Der Kommunikationsmanager ist, wie bei Bruhn, eine Person. Die Person ist umso mehr ein Kommunikationsmanager, je tiefer respektive höher sie im Rahmen ihres Jobs in die Kommunikationsfunktion des Unternehmens integriert ist, in diesem Spiel als Manager mitspielt, in den management decision-process, wie es in der angloamerikanischen Literatur heißt, involviert ist. Das setzt voraus, dass ihr Zugang zu diesem Spiel gewährt wird. Das setzt ferner voraus, dass es das Spiel überhaupt gibt. Das ist keineswegs selbstverständlich. Das Spiel existiert beispielsweise nicht, wenn der Verweis auf „die öffentliche Meinung“ oder die Reputation des Unternehmens in der unternehmenspolitischen Arena nichts zählt, wie das z. B. bei einem dubiosen, semi-kriminellen Import-/Exportgeschäft der Fall 16 Abbildung 8 nimmt auch viele der Konventionen vorweg, welche im weiteren Verlauf ausgearbeitet werden, insbesondere unter D. Dazu gehört zum einen eine epistemische Position, welche davon ausgeht, dass Beobachtung durch einen Beobachter geschieht, dass sich jeder soziale Zusammenhang nur aus der Perspektive eines fokalen Akteurs beschreiben lässt, für einen anderen sähe „dieselbe“ Situation schon anders aus. Dazu gehört eine auf der epistemischen Position beruhende Perspektive auf Organisationen, welche weder Rationalität noch Struktur, Positionen noch Hierarchie als per se gegeben hinnimmt, gleichzeitig aber anerkennt, dass sie im konkreten und spezifischen Fall, hinc et nunc, aber real sind.
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ist. Das Spiel existiert z. B. auch nicht, wenn der Diskurs über das Wohl und Wehe der Marke einzig und allein im Kopf des Firmenpatriarchen stattfindet. Mit der Begriffsverwendung möchte der Autor also nicht jeden, der in der Kommunikationsfunktion mitspielt, zum Kommunikationsmanager stilisieren, sondern zunächst einmal lediglich den ehemaligen Pressesprecher oder PR-Chef, der zum Kommunikationsmanager avanciert. Der Grund ist der, dass der Begriff aus der PR-Lehre stammt und dass der ehemalige Pressesprecher daneben keine andere „eigentliche“ Rolle hat – diese Rolle einem IT-Manager oder Controller oder General Manager überzustülpen, der daneben noch eine andere, eigentliche Rolle hat, ist dagegen nicht plausibel.
Abbildung 8: Die „Kommunikationsfunktion“ im Management Game und andere Vokabeln (Quelle: eigene Darstellung) Ob ein IT-Manager, Controller oder General Manager, der in der politischen Arena kommunikationsrelevante Fragen zu gestalten, zu entwickeln und zu lenken sucht, in der konkreten und spezifischen Situation Kommunikationsmanagement betreibt, ist eine ganz und gar andere Frage. Der Autor möchte an anderer Stelle eine Antwort vorlegen; manchmal ist das plausibel, manchmal nicht. Worum es jetzt geht, ist von Anfang an subtile Differenzierungen zu vermeiden, die nicht anschlussfähig an den Diskurs in der scientific community sind. Auch auf die Gefahr hin, eine Stilblüte zu produzieren oder wie Heidegger zu klingen: Natürlich betreibt der Kommunikationsmanager Kommunikationsmanagement, wenn er als Kommunikationsmanager agiert. So verstanden, eben als Kommunikationsmanager-Sein,
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ist Kommunikationsmanagement der Untersuchungsgegenstand der vorliegenden Arbeit. Und bereits ein erstes, wichtiges Ergebnis ist, dass Kommunikationsmanager-Sein nicht notwendig und zwangsläufig kongruent ist mit der Verantwortung für und der Macht über die Kommunikationsfunktion, insbesondere nicht der formalen Autorität über sie. Und das hat wiederum, wie der Autor mit der Arbeit in toto zu zeigen versucht, Rückwirkungen auf die Art und Weise, wie Kommunikationsmanagement geschieht, wie es in der Realität aussieht.
Abbildung 9: Kommunikationsmanagement und Komplexität: Pressesprecher vs. Kommunikationsmanager (Quelle: eigene Darstellung) b) Was ist Kommunikationsmanagement? Ein komplexitätstheoretischer Ansatz Ein graduierbares Konzept von mehr oder weniger Manager-Sein, die Rede von unternehmenspolitischen Spielen, „Macht über“, „Verantwortung für“ führt zunächst einmal zu mehr Diffusität, größerer Vagheit, obwohl der Autor das Konzept des Kommunikationsmanagements vertiefen und verschärfen möchte. Der Schritt zurück lohnt sich jedoch aus zwei Gründen. Erstens gilt es zu sehen, dass sich die Arbeit derzeit noch auf der Ebene des „Was“ bewegt. Ob jemand Manager oder Kommunikationsmanager ist, möchte der Autor nicht von vornherein anhand von Kriterien entscheiden, die seiner Ansicht nach in das „Wie“ gehören: Klassifikation zwischen Managern und Nicht-Managern war der Fetisch der PRRollenforschung, es ist nicht der Fetisch des Autors. Wenn jemand auf der zweiten oder dritten Managementebene eines international operierenden Konzerns angesiedelt ist, ist er ein Manager – und die eigentlich interessante Frage ist, wie sein Management geschieht, wie es von außen aus der Beobachterperspektive aussieht, wie es von innen aus der Erlebensperspektive wahrgenommen und empfunden wird. Der zweite Grund, weshalb der Schritt lohnt, liegt in der komplexitätstheoretischen Perspektive. Wenn der Psychologe Dörner, bekannt geworden durch seine Diagnose der „Logik des Misslingens“, die eigentliche Aufgabe von Führungskräften darin sieht (2006, 88), als „Komplexitätsmanager“ zu agieren – das Chaos für diejenigen zu ordnen, die nicht nach einer Führungsaufgabe stre-
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ben, schlechter ausgebildet oder weniger klug sind – dann entspricht das exakt der Perspektive des Autors, nur umgekehrt: Jemand ist mehr Manager, umso mehr er das tut. Um die komplexitätstheoretische Argumentation zu verstehen, ist es erforderlich, vorläufig mit den Konzepten wohldefinierter vs. schlechtdefinierter und bedeutungstragender Beziehungen zu arbeiten17, die neben die Konzepte von „Macht über“ und „Verantwortung für“ treten. Abbildung 9 links zeigt beispielhaft eine Position, evtl. einen Pressesprecher, wo der Autor zögern würde, von einem Kommunikationsmanager zu sprechen. Der Pressesprecher steht zuvorderst und vor allem in einer wohldefinierten Beziehung zu seinem Geschäftsführer, mit dem er quasi über eine „Nabelschnur“ verbunden ist. Er steht ferner in einer wohldefinierten Beziehung zu seiner Abteilung, beispielsweise seinem Stellvertreter (schwarze, durchgezogene Linien). In einer Beziehung ist er formaler Autorität unterworfen, in einer anderen verfügt er über formale Autorität. Darüber hinaus steht er in Beziehung zu einer Reihe von Journalisten, über die er zwar keine formale Autorität besitzt (deshalb grau), für die er aber von Seiten der Organisation verantwortlich gemacht wird. Die Beziehung ist wohldefiniert, weil der Pressesprecher glaubt, die Journalisten „verstanden“ zu haben – beispielsweise, weil er sie bereits seit langem kennt, seit langem mit ihnen zusammenarbeitet. Die gestrichelten, feinen Linien vergegenwärtigen, dass der Pressesprecher natürlich Kontakte mit anderen Personen in der Organisation pflegt, aber die Kontakte sind nicht bedeutungstragend in der Art und Weise, dass sie von „Macht über“ oder „Verantwortung für“ determiniert werden. Der Pressesprecher, ganz und gar unabhängig von seinem Titel, avanciert mehr und mehr zum Kommunikationsmanager, wenn folgende Entwicklungen zusammenkommen, die seine Arbeit subjektiv, aber auch objektiv komplexer gestalten: Angesichts weiter gefasster und unspezifischer definierter Verantwortungsbereiche (von Seiten des Vorstandsvorsitzenden) und einem vergrößerten Bereich formaler Autorität über andere Akteure werden mehr und mehr Beziehungen innerhalb und außerhalb der Organisation bedeutungstragend. Viele der bedeutungstragenden Beziehungen sind darüber hinaus schlecht definiert. Es gibt zwar nach wie vor gut definierte Beziehungen, wie die Unterordnung unter die Geschäftsführung und die Überordnung über einen Stellvertreter, mehr und mehr kommen jedoch Beziehungen hinzu, für die es heißt: „Stimmen Sie das eigenverantwortlich mit Herrn Soundso ab“, „Wie Sie das machen, interessiert mich nicht, mich interessieren Resultate.“ Und auch mit Blick auf Beziehungen außerhalb der Organisation kommt es durch veränderte, weiter und ungenauer gefasste Verantwortung nicht nur zu einem Mehr an bedeutungstragenden Beziehungen, sondern mehr und mehr zu schlecht definierten Beziehungen. Mit einem Mal hat man es nicht nur mit Journalisten zu tun, die eben auch Profis sind, die man über Jahre kennt, die man nach und nach immer genauer kennenlernt, sondern mit wechselnden aktivistischen Gruppierungen – die unberechenbar scheinen. Generische Manager und Manager, wie wir sie kennen Um den entscheidenden Gedanken noch einmal herauszuarbeiten: Akteure werden mehr und mehr zu generischen Managern, je größer die Komplexität ist, die sie im Rahmen ihres 17 Der Autor lehnt sich an den Sprachgebrauch in der Kybernetik an, wie ihn Baecker (1999, 15ff.) herausarbeitet: Wohldefinierte Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass alle Systemstadien und die Wahrscheinlichkeit des Wechsels zwischen den Stadien bekannt sind. Schlechtdefinierte Systeme sind demgegenüber „unberechenbar“. Analog sind wohldefinierte Beziehungen „kalkulierbar“, „unter Kontrolle“, schlechtdefinierte sind „unkalkulierbar“, „riskant“.
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Jobs zu bewältigen haben, wobei Komplexität nicht mit Schwierigkeit zu verwechseln ist – der „Job“ eines Herzchirurgen kann schwierig sein, ohne notgedrungen komplex zu werden (zu Komplexität vgl. 6.; C.III). Die steigende Komplexität des Managementjobs in Organisationen resultiert einerseits aus einem vergrößerten „Verantwortungsbereich für“, andererseits aus einer vergrößerten „Macht über“, wobei beides nicht deckungsgleich sein und Hand in Hand gehen muss. Im Gegenteil: Viele Managementjobs heutzutage sind schlecht gestaltet, so dass Akteure geradezu notgedrungen mit ihnen scheitern – sie haben nicht die Macht über die Ressourcen, die sie benötigen würden, um ihrer zugewiesenen Verantwortung gerecht zu werden. In diesem Zusammenhang ist auch zu sehen, dass die Vagheit respektive Präzision sowohl der Verantwortungs- als auch der Autoritätsübertragung einen weiteren Komplexitätsfaktor konstituiert: ein vage beschriebener Job mit vager Autorität ist komplexer als ein präzise beschriebener. Manager C arbeitete im Interview klar und deutlich heraus, dass er mit der Übernahme der Gesamtverantwortung, mit dem Karrieresprung vom Pressesprecher zum Kommunikationsdirektor in ein neues, komplexeres Spiel hineingeriet. Auf die Frage, inwiefern der Karrieresprung schwerfiel, entgegnete er: Klar. Klar, weil: Sie verlassen bekanntes Terrain. Wo Sie wissen, was für Reaktionen Sie hervorrufen, indem Sie das und das sagen. Was Sie damit anzetteln. Und Sie gehen in ein neues, wo Sie sich mit Organisatoren und Bewertern und sonstigen Leuten, die Ihnen den Alltag schwer machen, herumschlagen. Müssen sich im Unternehmen ganz anders behaupten. Sind auf einmal in einer ganz anderen Augenhöhe.
Der Autor geht also davon aus, dass Komplexität – in klarer und deutlicher Abgrenzung von Schwierigkeit – der generische Faktor ist, der einen Manager notwendig macht, wo vorher und früher einmal ein Arbeiter, Handwerker, Techniker, reiner Ingenieur oder Chemiker saß. Es stellen sich freilich die Fragen, woraus die anscheinend gestiegene und steigende Komplexität gerade im Bereich PR/Kommunikationsmanagement resultiert, und weshalb Akteure sie in der Art und Weise bewältigen, die wir nicht nur generisch, sondern spezifisch als Managen ansprechen. Sowohl der einen als auch der anderen Frage spürt der Autor in C nach. Bezüglich der ersten Frage ist vorwegzunehmen: Organisation müssen eine gestiegene und steigende Komplexität der Umwelt, resultierend aus mehr Friktion, mehr Tension und mehr Kompetition (vgl. C.II), dadurch zu bewältigen versuchen, dass sie mehr und mehr „Management“ von der Organisationsführung in die Organisation in toto verlegen, nach unten delegieren. Die Fayol’schen, Taylor’schen oder Weber’schen Konzepte der Unternehmung sahen vor, dass es nur wenige, wirkliche „Denker“ in der Organisation geben würde. Das Konzept der „lernenden Organisation“ (grundlegend de Geus 1988; jüngst Senge 2006) besagt schlussendlich: Jeder Arbeiter sollte eigentlich ein kleiner Manager sein, der nicht nur seinen eigentlichen Job fehlerfrei erledigt, sondern stets und immer – Verantwortung ohne Macht – für die Organisation „mitdenkt“. Die Ideen in der Lehre der PR und des Kommunikationsmanagements gehen nicht gar so weit, aber sie sind ähnlich: Theoretiker der Public Relations und des Kommunikationsmanagements sehen klar und deutlich, dass die Kommunikationsfrage in einer Medien-, Informations- und Wissensgesellschaft nicht funktional kompartmentalisierbar ist, sie durchdringt und überlagert viele, wenn nicht sogar jede funktionale Domäne des Unternehmens. Dass das zu einer Potenzierung der Komplexität der Jobs derjeniger führt, die Verantwortung für ebenjene Frage übernehmen – und sei es nur eine Teilverantwortung – versteht sich von selbst. Ebenso versteht sich von selbst, dass man der Komplexitätspotenzierung mit Konzepten der Komplexitätsreduktion entgegentrat: und ein besonders bewährtes Konzept war das des Managements, in der Managementlogik, durch Partizipation im Management Game.
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Hinsichtlich der zweiten Frage, weshalb Manager Komplexität in managerieller Art und Weise reduzieren, lässt sich vorwegnehmen, dass das, was wir hier und jetzt als Managen ansprechen, einen generischen Kern hat, um den sich viele Mythen, Moden und institutionalisierte Rationalitäten angelagert haben. Einfacher ausgedrückt: Managen könnte in vielerlei Hinsicht etwas anders aussehen, aber nicht grundsätzlich anders. Arbeitsteilung, die Zerlegung eines großen Verantwortungsbereiches in mehrere kleine Verantwortungsbereiche, ist beispielsweise ein generischer Modus der Komplexitätsreduktion, dass der Modus der Planung und Kontrolle über Zahlen geschieht ist jedoch keineswegs notwendig (vgl. insbesondere C.III). c) Der Kommunikationsmanager der PR-Rollenforschung ist ein Konstrukt Es ließe sich einwenden, dass der Begriff des Communication Managers in der PRRollenforschung doch bereits klar und deutlich über Aktivitäten operationalisiert wurde, nicht über das Spielen eines ominösen Spiels in der Organisation oder Komplexität. Der Begriff des Autors ist also gerade nicht anschlussfähig. Manager-Sein konstituiert sich über die typischen Aktivitäten eines Managers. Darauf entgegnet der Autor erstens, dass die Rollenforschung in der PR-Theorie mit dem Public Relations-Manager begann, sich dann nach und nach auf den Communication Manager verschob, ohne die Verschiebung zu erklären. Zweitens entgegnet er, dass nahezu die gesamte Forschungstradition in der Rollenforschung zum Konstrukt des ehemaligen PR-, jetzt Kommunikationsmanagers aus der Theorie abgeleitet wurde – und zwar, um PRPraktiker zu klassifizieren; nicht um sie zu verstehen. Das Klassifizierungsschema hat sich dann, wie es häufig geschieht, verselbstständigt. Moss und Green sehen das sehr genau: Public Relations researchers have adopted a classical deductive approach to examine the validity of the conceptual role types identified by Broom and Dozier and have sought to categorise practitioners in terms of a dominant role based on the set of role activities which they enact most frequently. The significant point here is that these role typologies have not been based on empirical analysis of practitioners’ behaviour, but were derived initially using measures drawn from the consulting literature. Indeed, the term ‘public relations manager’ represents an essentially normative conceptual label that has been used to distinguish the ‘managerial role profile’ from the craft-oriented work of practitioners who enact largely technical roles. (Moss/Green 2001, 126)
Dem Autor geht es, wie Moss und Green, um ein Verstehen des KommunikationsmanagerSeins auf Basis der Ideen und Konzepte, welche die Managementlehre aus ihrer Forschung liefert. Es geht nicht um die Frage, wer sich Manager nennen darf und wer nicht. Die Personen, die der Autor beobachtete, stellten für ihn von vornherein Kommunikationsmanager dar, und zwar qua Position in der Organisationshierarchie. Der Autor ging von vornherein der Frage nach, wie Kommunikationsmanagement/Kommunikationsmanager-Sein in der Organisationsrealität „aussieht“. Und die Antwort lautete: Es ist jedenfalls nicht die Ausübung direkter, formaler Autorität über jede „kommunikationsrelevante“ Frage. Es ist das Mitspielen in einem Spiel, das Management, das Kommunikationsmanagement heißt. Und das führt zum dritten Gegenargument: Vieles, was die PR-Rollenforschung als typische Aktivitäten eines Kommunikationsmanagers definiert, ist nicht zu verstehen, wenn man nicht das Management Game mitdenkt. Man spielt in dem Spiel mit, weil man dieses oder jenes tut – und man kann es nur tun, wenn man im Spiel mitspielt. Planen bedeutet, dass der Akteur verbindlich in geistiger Vorwegnahme von Ereignissen festlegt, was mit Ressourcen
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der Unternehmung geschieht. Ein Akteur, der zwar Vorschläge macht, wie Ressourcen verteilt werden könnten (der Bruhn’sche Stabsmitarbeiter), nicht aber an der verbindlichen Verteilung beteiligt ist, plant nicht – er verfertigt Planungspapiere, über die andere entscheiden. Das Untersuchungsobjekt des Autors, sowohl in der Beobachtung als auch wie gerade in der Theorie skizziert, ist freilich ein äußerst hoch aufgehängter Kommunikationsmanager – eigentlich das, was Dolphin (2002) als Communication Executive etikettiert, was Moss und Green (2001) als Senior Executive apostrophieren. Wenn der Autor die Arbeit auf Englisch geschrieben hätte, dann hätte er vermutlich den Begriff communication executive verwendet, um klar und deutlich herauszuarbeiten, dass es um hoch- und höchstrangige Personen in Organisationen geht, Direktoren. Im deutschen Sprachraum, anders als im angloamerikanischen, trägt der Begriff Manager aber bereits die Bedeutung eines leitenden Angestellten. Fakt ist, dass das Kriterium der Beobachtungsstudie die oberste Kommunikationsverantwortung war – über den ausgewählten Personen stand niemand, der funktional spezialisiert war. Und das Kriterium wurde gewählt, weil eines plausibel ist: Wenn es überhaupt Sinn und Zweck hat, von Kommunikationsmanagement zu sprechen, dann in Bezug auf die Arbeit dieser Personen, in diesen Positionen. Wenn man dann zu einem Konzept gelangt ist, was der Kern und was die Ränder sind, dann lässt sich freilich eine andere Frage stellen: Wie weit „nach unten“ geht die Kommunikationsfunktion, wie zentral oder dezentral geschieht Kommunikationsmanagement – handelt es sich um eine Sache, die auf die obersten Etage der Konzernzentrale beschränkt bleibt oder geschieht es überall und allerorten? Da der Managementbegriff des Autors graduell ist, da der Autor vermutet, dass Organisationen mehr und mehr Komplexität abwärts delegieren, begrüßt er die Frage ausdrücklich. Eine Frage blieb in der Erörterung von Kommunikationsmanagement vs. Kommunikationsmanager offen: Ob es plausibel ist davon zu reden, dass ein IT-Manager, Controller oder General Manager am Kommunikationsmanagement der Unternehmung partizipiert, wenn er in das unternehmenspolitische Spiel hineingerät. Die Frage bietet Gelegenheit zu präzisieren, was der Autor mit einem unternehmenspolitischen Spiel meint, was er unter einer akteurszentrierten Perspektive versteht. Im Rahmen der Shadowing-Studie saß der Autor in Dutzenden von Besprechungen in kleinerem und größerem Rahmen, und bei einigen fragte er sich gelegentlich, weshalb die beobachtete Person an ihnen teilnahm. Viele der Besprechungen hatten prima facie kaum etwas mit typischen kommunikationsrelevanten Fragen zu tun, sondern befassten sich mit konkreten und spezifischen Sachfragen. Gleichwohl war es den beobachteten Managern wichtig, an diesen Besprechungen teilzunehmen. Obwohl es sich teilweise um mehrstündige Zusammenkünfte handelte, saßen sie sie geduldig von Anfang bis Ende ab. In zwei Fällen, bei Manager C und G, dauerten die Meetings zwei respektive drei Stunden, und während der Zeit ergriffen die beobachteten Personen kaum einmal das Wort. In einem Fall richtete der Leiter der Besprechung die Frage an Manager G, ob der Direktor Unternehmenskommunikation Probleme sähe, was Manager G verneinte. Aus der akteurszentrierten Perspektive postuliert der Autor, dass die beobachteten Manager in der Sitzung die Agenden ihres Kommunikationsmanagements verfolgten, andere Teilnehmer gleichzeitig ihre jeweiligen, wiederum anders gestalteten. Der Augenblick, da die Frage an Manager G gerichtet wurde, lässt sich als Einstieg des Besprechungsleiters in das Kommunikationsmanagement begreifen, zumindest als Anerkennung der „Kommunikationsfunktion“, als Zugeständnis an eine „Kommunikationspolitik“ des Unternehmens –
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mit der Antwort auf die Frage kehrte der Fokus des Meetings aber wieder zu anderen Fragen zurück. Aus der akteurszentrierten Perspektive verstanden, werden unternehmenspolitische Spiele also nicht immer in vollumfänglich geteilter Aufmerksamkeit und vollem, wechselseitigem Bewusstsein gespielt. Kommunikationsmanagement findet nicht nur dort statt, wo man sich versammelt, um dezidiert gestaltende, lenkende und entwickelnde Entscheidungen hinsichtlich Kommunikationsstrategie, Image, Marke oder Reputation zu fällen. Kommunikationsmanagement findet auch und wie der Autor behauptet gerade dort statt, wo vermeintlich periphere Sach- und Fachentscheidungen getroffen werden, welche die Kommunikationspolitik des jeweiligen Kommunikationsmanagers tangieren oder tangieren könnten: dann greift er gestaltend, entwickelnd und lenkend ein. Ob das der Fall ist, weiß der Kommunikationsmanager nicht immer vorher, und um es herauszufinden, muss er an Sitzungen teilnehmen, Berichte lesen etc. Die Antwort auf die eingangs aufgeworfene Frage lautet also: Ja, andere Manager partizipieren manchmal am Kommunikationsmanagement der Organisation, wenn sie in das unternehmenspolitische Spiel hineingeraten, manchmal nicht. Sie partizipieren, wenn sie bewusst und absichtsvoll einsteigen, sei es, weil sie eine eigene kommunikationspolitische Agenda verfolgen, sei es weil sie für die jeweilige, durch die Kombination Vorstand und Kommunikationsdirektor verkörperte Agenda „mitdenken“, sei es weil sie sich angesichts einer bestehenden Agenda abzusichern suchen. Sie partizipieren nicht, wenn sie in das Spiel hineingeraten, ohne bewusst und absichtsvoll einzusteigen – dann werden sie „gemanagt“, ohne es zu bemerken oder ohne sich darum zu kümmern. d) Zugrunde liegende und gebrauchte Begriffe Der Autor unterscheidet deutlich zwischen generischen Begriffen, die seiner Forschungsarbeit zugrunde liegen einerseits – und andererseits Begriffen, die im Rahmen der Forschungsarbeit auftauchten, in der Theoriebildung verwendet, von Praktikern gebraucht werden. Mit Blick auf erstere ist es entscheidend, sie zu definieren, weil sich über ihre Definition entscheidet, was der Autor beobachtet, was nicht. Was derartige Begriffe anbelangt, benutzt der Autor ausschließlich die Begriffsfamilien Public Relations und Kommunikationsmanagement, die Begriffe Kommunikationsmanager, Kommunikationsmanagement, Kommunikationsfunktion respektive Public Relations, Public Relations-Funktion, gelegentlich die Public Relations-Synoyme PR und Öffentlichkeitsarbeit. Was darüber hinausgehende Begriffe anbelangt, sieht der Autor sie auf einer anderen Ebene: Wenn eine der beobachteten Personen von Unternehmenskommunikation oder Corporate Communications oder Konzernkommunikation spricht, ist es natürlich wichtig zu wissen, was die Person damit meint – und es ist zuzugestehen, dass der Autor, dass andere wissenschaftliche Beobachter Praktikervokabeln oft anders verwandt hätten. Zerfaß als wissenschaftlicher Beobachter versteht unter Unternehmenskommunikation z. B. sehr weit und umfassend „alle Kommunikationsprozesse, mit denen ein Beitrag zur Aufgabendefinition und -erfüllung in gewinnorientierten Wirtschaftseinheiten geleistet wird […]“ (2007, 23). Viele Praktiker verstehen unter Unternehmenskommunikation vergleichsweise eng und zielgerichtet Kommunikation, die das Haus insgesamt tangiert, nicht aber einzelne Produkte. Der Autor hofft natürlich, dass das Feld nach und nach zu Begriffen gelangt, die klar und gebräuchlich sind. Ihm geht es aber weder darum einem Theoretiker realitätsferne Begriffsbildung noch einem Praktiker inkonsequente Begriffsverwendung nachzuweisen.
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Dem Autor geht es darum, seine eigene Beobachtungsstudie auf ein Fundament zu stellen, welches jenseits derartiger terminologischer Differenzen ansetzt. e) Skepsis gegenüber der Maschinenmetaphorik Die ausgearbeiteten Gedanken führen bereits zu einem klaren und eindeutigen Resultat: Es ist entscheidend, der Suggestion entgegenzutreten, Kommunikationsmanager-Sein sehe für reale Berufspraktiker wie das „Abarbeiten“ eines strukturierten Prozesses aus, der über systematische und definierte Gelenkstellen an die Unternehmensführung angeschlossen sei, so dass jedermann jederzeit weiß, was er gerade tut und warum. Das ist das Bild der gut geölten, wohlkonstruierten Maschine, in welcher jedes Rädchen seinen Platz hat, in der Planung, Organisation, Kontrolle oder andere Zyklen des Managements sauber und geordnet durchlaufen. Es ist ganz und gar nicht das Bild des Spieles, in welchem eufunktionale gentlemen’s agreements und dysfunktionale Allianzen- und Koalitionsbildung fließend ineinander übergehen. Dem technomorphen Modell, wie es auch Malik (2004) und andere systemisch-kybernetisch argumentierende Autoren der St. Galler Schule kritisieren, tritt der Autor von Anfang an entgegen. Es entspricht seiner Beobachtung nach nicht der Organisationsrealität. An anderer Stelle hat der Autor bereits eine Kultivierungsmetaphorik anstelle der Konstruktionsmetaphorik gefordert (vgl. auch Nothhaft/Wehmeier 2007; 2009). Mit der Rede von einem Management Game vertritt er einen weiteren Gegenentwurf, der systemisch und soziokybernetisch inspiriert ist und als dominantes, wenn auch nicht exklusives Bild die Spielmetaphorik wählt. Unter C.III erörtert die Arbeit verschiedene Organisationsmetaphern noch etwas genauer. 6. Kommunikationsmanagement: Der Evolutionssprung der PR revisited Dass der „neue“ Kommunikationsmanager nach Ansicht des Autors einen evolutionären Quantensprung gegenüber dem „alten“ PR-Manager oder Pressesprecher darstellt, wurde ausgearbeitet. Auch was den einen vom anderen unterscheidet, wurde ausgearbeitet: Der „Job“ des Kommunikationsmanagers in der typischen Ausprägung ist komplexer als der typische des Pressesprechers – er ist, um das noch einmal zu betonen, nicht zwangsläufig schwieriger. Als Hauptgrund für die gestiegene Komplexität führte der Autor an, dass der Pressesprecher wohldefiniert über die „Nabelschnur“ der Unternehmensführung an das Unternehmen angeschlossen sein konnte, der Kommunikationsmanager ist voll und ganz eingebunden in das schlechtdefinierte Management Game, das unternehmenspolitische Spiel. Eingebunden, bis zu einem Grad mitverantwortlich für die Unternehmensführung in toto, ist er voll und ganz den Kräften ausgesetzt, die in untergeordneten, nichtmanageriellen Positionen durch das Management absorbiert werden. Ein und dieselben Kräfte sind es, die ihn zwingen, manageriell zu agieren, sein Denken und Handeln an der Managementlogik auszurichten, sie ihr ganz oder teilweise zu unterwerfen. Ein Quantensprung findet statt, wenn nicht mehr eine wie auch immer geartete „Kommunikationskompetenz“ die Basis ist, auf welche die Führungskraft ihr Standing in der Organisation gründet, sondern eine managerielle: Das ist der Grund, weshalb „Encroachment“, die Übernahme von Führungspositionen in der Kommunikation durch „fachfremde“ Top-Manager, gar nicht so sehr viel über die Unreife der PR und ihre mangelnde Anerkennung aussagt.
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6.1 Die Verschiebung komplexitätstheoretisch gewendet: Eine Push-Pull-Beziehung Es schließt sich die Frage an, woher der Druck rührt, der den obersten PR-Verantwortlichen in das Management Game und unter die Managementlogik drängt – respektive, umgekehrt gefragt, mit welchen Argumenten man Zugang zum Management Game begehrte, Anschluss an die Managementlogik suchte (Push-Pull-Effekt). Die Antwort, die der Autor gibt, lautet vereinfacht gesagt: Es gab einen realen Druck, gute Argumente – es gilt aber auch den selbsterzeugten Druck zu sehen, die theoretisch verführerischen, praktisch aber in die Irre führenden Argumente. „Das Management multipliziert sich selbst. Es ist der Parasit der Probleme, die es schafft, indem es sie löst“, schreibt Baecker in gewohnter Polemik (2003, 60). Der Autor glaubt, dass das nicht in jedem Fall stimmt, dass die Gefahr aber gegeben ist – sie lässt sich aufzeigen, wenn man Komplexität zum Ausgangspunkt der Betrachtung macht. Komplexität in Potenz Die gängige Argumentationsstrategie, mit welcher gemeinhin die Genese von Kommunikationsmanagement als neu und anders gegenüber bloßer Public Relations herausgearbeitet wird, verweist auf die sich verändernden und veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, für Unternehmen ferner noch auf die veränderten Bedingungen einer genuin globalisierten Wirtschaft (lesenswert Friedman 2006): Mediengesellschaft, Informationsgesellschaft, Wissensgesellschaft, Computergesellschaft (lesenswert Baecker 2007b) etc. sind die Schlagworte, die sowohl Praktiker als auch Theoretiker auf den Lippen führen. Den veränderten Bedingungen musste man in der Praxis der Unternehmensführung begegnen, heißt es dann, was wiederum in der Theorie zu einem Vordenken für die Praxis, zu einem Nachdenken über sie führte. Um nicht missverstanden zu werden: Der Autor hält die Analysen einer globalisierten Wirtschaft, einer Medien-, Informations-, Wissens- oder auch Computergesellschaft für treffend und weiterführend. Worum es ihm geht, ist zu zeigen, dass die großen Schlagworte auf einen weiteren großen Begriff zurückführbar sind: eben Komplexität. Was Komplexität für das einzelne Subjekt bedeutet, wurde bereits erörtert; wie das Individuum Komplexität erlebt, führt der Autor unter C weiter aus. Hier und jetzt möchte der Autor zunächst einmal die angekündigte Akteur-im-System-Perspektive (vgl. 3.) ernst nehmen, drei Ebenen unterscheiden:
Welt, Realität, Komplexität I: Die Welt wird immer komplexer. Mehr und mehr hängt realiter miteinander zusammen, wirkt sich de facto aufeinander aus, es wird immer schwieriger, „richtig“ zu handeln, also sowohl beabsichtigte Folgen der eigenen Handlung als auch unbeabsichtigte Nebenfolgen vorherzusagen. Weltwahrnehmung, Wirklichkeit, Komplexität II: Multiplikation der Komplexität durch Reduktion und Transparenz. Die Art und Weise, wie die Gesellschaft damit umgeht – dass sie einerseits Komplexität reduziert, dass sie ihr andererseits Transparenz entgegenzusetzen versucht – multipliziert die Komplexität. Eine Welt, in der Boulevard- und Sensationsjournalismus verwickelte Sachverhalte als einfach verkaufen, ist nicht simpler, sondern komplexer als eine Gesellschaft, in der verwickelte Sachverhalte als verwickelt dargestellt werden. Eine Welt, in der verwickelte Sachverhalte nicht nur einmal und ein für allemal dargestellt werden, sondern in der viele verschiedene Akteure auftreten, um vermeintlich das Dickicht zu lichten, tat-
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sächlich aber mit ihrer „transparenten“ Version ihre eigenen Interessen verfolgen, ist sehr viel komplexer als eine Welt, in der es einen autoritativen Akteur gibt. Die von Lobbyisten und semineutralen Experten durchsetzte und unterwanderte EUBürokratie ist ein gutes Beispiel. Problemwahrnehmung, Kontrolle, Komplexität III: Potenzierung durch den Regelungsgedanken. Die Art und Weise, wie Akteure, Organisationen, insbesondere aber „strategisch gemanagte“ Unternehmen die Komplexität „unter Kontrolle“ zu bringen versuchen, potenziert die Komplexität noch. Eine Tendenz, die der Autor unter C noch detaillierter darstellt, ist die Ausweitung des Regelungsgedankens in der Unternehmensführung, bis er alles, eben auch gesellschaftliche Rahmenbedingungen, erfasst. Die frühmoderne Unternehmung, ließe sich sagen, war naiv: Sie stellte Produkte her und war froh darüber, dass jemand sie kaufte. Die spätmoderne Unternehmung, wenn sie dem State of the Art gemäß geführt wird, stellt ihre eigenen Existenzbedingungen her: Kunden und Absatzmärkte, Lieferanten und Beschaffungsmärkte, geeignetes Personal, politische Rahmenbedingungen, gesellschaftliches Klima, ihre eigenen Führungskräfte der Zukunft. Ob der Glaube, dass das funktioniert, nicht eine Naivität höherer Ordnung darstellt, bleibt dahingestellt – Fakt ist jedoch, dass die Komplexität derartiger „strategischer“ Systeme unvergleichlich höher ist als die Komplexität „naiver“ (vgl. auch den Begriff der Hyperkomplexität bei Luhmann 1987, 637-638).
Paradoxie der Komplexität: Komplexitätssteigerung durch Komplexitätsverringerung Denkt man die drei Faktoren zusammen, so tritt hervor, dass die zu bewältigende Komplexität, zumindest in der konstruktivistisch-subjektivierten Perspektive des Autors, aus einer Kombination resultiert. Die Kombination besteht darin, (1) dass die Welt für das Subjekt de facto immer schwerer „durchschaubar“ wird; (2) die eigenen Ansprüche, getrieben durch Maturierung, aber auch durch Konkurrenz, in diesem undurchschaubaren Geflecht „geschickt“ zu agieren, aber nicht niedriger, sondern höher werden; (3) die Wegweiser durch das Dickicht, sei es Reduktion, sei es Transparenz, mehr und mehr Teil des Versuches werden, „geschickt“ zu agieren. Was der Autor meint, lässt sich eins zu eins auf die PR-Lehre und ihre Maturierung zur Lehre des Kommunikationsmanagements im Verlauf des 20. Jahrhunderts übertragen. Das lässt sich vergegenwärtigen, wenn man zu der Rede von Resonanzböden, zum Kommunikationsmodus, zur Relationsqualität, zur paradoxen, negativ institutionalisierten Organisationsfunktion PR respektive Kommunikationsmanagement (vgl. 2.) zurückkehrt: Obwohl es in immer heterogeneren Gesellschaften mit einem immer höheren Verflechtungsgrad realiter immer schwieriger wird, exakt und präzise vorherzusagen, wie diese oder jene Handlung des Unternehmens bei den „Bürgern“, auf der menschlich-gemeinschaftlichgesellschaftlichen Ebene resoniert (Komplexität I), zu welchen Räsonnements sie führt, wird es immer wichtiger, nicht unwichtiger, ebenjene Resonanz exakt und präzise vorherzusagen – zumindest aber diskrepante, „disharmonische“ Resonanzen zu vermeiden. Der Versuch, nur „Werbung“ zu machen, sich gar nicht auf das gesellschaftspolitische Parkett zu begeben, ist zum Scheitern verurteilt, weil die Werbung in einer spätmodernen, maturierten Gesellschaft entweder gar nicht mehr ernst genommen wird, in der Kakophonie der Werbung insgesamt untergeht. Oder sie dringt auf tieferliegende Ebenen durch, führt dort aber zu Räsonnements, die gar nicht beabsichtigt, nicht zu beherrschen sind (vgl. zu einem Verständnis von Marken-PR jüngst Hoepfner 2008). Der Versuch, nur mit „Personal“ oder
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„Humanressourcen“, nicht mit „Mitarbeitern als Mitmenschen“ zu kommunizieren, ist zum Scheitern verurteilt, weil eben das bereits ein Statement der Geringschätzung ist, da andere Unternehmen ihre Mitarbeiter auch auf der menschlichen Ebene ansprechen, Wertschätzung zeigen – sei sie authentisch oder nicht. Die Ansprüche an das „Geschick“ sinken also nicht, sie steigen. Ein frühmodernes Unternehmen konnte noch Produkte herstellen und absetzen, ohne sich um das gesellschaftspolitische Feld, um die Öffentlichkeit zu kümmern: Vanderbilts Diktum „The public be damned“ spricht für sich. Ein spätmodernes Unternehmen ist nicht in der Lage zu agieren, ohne gesellschaftspolitischen Deutungen ausgesetzt zu sein. Sah sich eine Organisation früher einigen wenigen Deutungsangeboten anderer gegenüber, die sie peripher tangierten, sieht sie sich heute einer Vielzahl von Deutungsangeboten gegenüber, durch die sie nicht nur peripher, sondern im Kerngeschäft berührt ist. Anders ausgedrückt: Es ist die PR-Arbeit und Kommunikationsarbeit anderer, welche eine Organisation in Zugzwang bringt (Komplexität II). Wenn das Unternehmen nicht selbst aktiv und initiativ ein gesellschaftspolitisches Deutungsangebot macht, werden andere Akteure, z. B. Journalisten oder aktivistische Gruppierungen, ein alternatives anbieten: Nike ist böse, sagen Globalisierungskritiker. Oder das Unternehmen wird durch ähnliche Deutungsangebote anderer Unternehmen, etwa der Mitbewerber, erfasst: Bionade ist „bio“, deshalb ist Coca-Cola „synthetisch“. Die Unterwerfung unter die Managementlogik revisited Die spätmoderne Organisation, postuliert der Autor, reagiert auf perzipierte oder faktische „Kontrollverluste“ typischerweise dadurch, dass sie die Intensität der Kontrolle steigert, nicht senkt. Präziser gesagt: Die spätmoderne Organisation reagiert mit der Steigerung einer sehr spezifischen Kontrolle, der manageriellen. Wenn der gesellschaftspolitische Diskurs um eine Organisation herum außer Kontrolle zu geraten droht, lautet die wie selbstverständliche Forderung, dass man das in Zukunft besser oder geschickter oder konsequenter managen möge. „Richtiges“ Kommunikationsmanagement ist also sehr viel mehr, ist ein sehr viel komplexerer Job als richtige Kommunikationsarbeit, richtige PR. Die Logik des besseren, geschickteren, konsequenteren Managements zeigt sich in Prozessen von höherer Raffinesse, einem Inventar ausgefeilterer Planungsinstrumente, ausgeklügelteren Organisationsstrukturen, differenzierterem „strategischem“ Controlling (vgl. Bentele/Nothhaft 2007; 2008). Ein Beispiel genügt, um die Selbstverständlichkeit aufzuzeigen, mit der die Managementlogik die PR- und Kommunikationslogik überlagert (vgl. auch 4.): Anstatt schlicht und einfach mit „den Leuten dort draußen“ zu kommunizieren – entweder direkt oder indirekt via Journalisten, Medien, Öffentlichkeit – ging man in der Theorie und in der Praxis mehr und mehr dazu über, verschiedene Ziel-, Bezugs-, Anspruchsgruppen der Organisation zu postulieren, die es besser, geschickter, konsequenter zu managen gelte. Auf dem Papier mutet das nicht wie ein großer Schritt an. Der Gedanke führt aber, wenn er konsequent gedacht und umgesetzt wird, zu einer gravierenden Komplexitätssteigerung, zu einer Komplexität III. Ging man zuerst davon aus, die Öffentlichkeit schlicht und einfach „naiv“ als Öffentlichkeit aufzufassen, entwickelte sich in der Theorie der Planung von PR- und Kommunikationsmanagement, der „Konzeptionslehre“, ein komplexer Diskurs über Teilöffentlichkeiten der Organisation, ihre Zielgruppen, ihre Anspruchs- und Bezugsgruppen, die es effizient, effektiv und optimiert anzusprechen, „unter Kontrolle zu bringen“ galt – ob das jetzt durch Dialog oder Kommunikation oder Persuasion geschah. Soweit der Autor das im Rahmen seiner Studie beobachtete, schlagen sich die
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theoretischen Konzepte, schlägt sich die Konzeptionslehre in der Denk- und Handlungsweise der Praktiker durchaus nieder. Segmentierungen und Differenzierungen findet man aber vor allem in PR- und Kommunikationskonzepten, in Planungspapieren – verfolgt man den mündlichen Diskurs des PR-Personals, die alltäglichen Dienstbesprechungen, dann zeigt sich erstaunlicherweise, dass die Rede sehr oft ganz allgemein um „die Leute“, „die Öffentlichkeit“, „die Medien“ kreist. Die Frage, ob die organisationszentrierte Managementlogik nicht mehr Probleme erzeugt, als sie löst – zumindest aber mehr Komplexität erzeugt, als sie beseitigt – wurde nicht in ausreichendem Maße gestellt; da ist Kritikern wie Wehmeier (2006) oder L’Etang (2008) beizupflichten (vgl. 2.3.3). Das Management Game revisited Es ist also die aus Komplexität I, II und III resultierende Kombination, die dazu führt, dass Public Relations weg von einer limitierten, handwerklich-technischen, regelbasierten Fachaufgabe, hin zu einer genuin resultatsorientierten Managementaufgabe evolviert. Es ist die Komplexität, welche dazu führt, dass die Organisationsspitze in der geschilderten Art und Weise mehr und mehr „Kommunikationsprobleme“ in der Organisation abwärts drückt. Oder es geschieht, umgekehrt, was die Exzellenztheoretiker postulieren (pointiert etwa Dozier/Grunig/Grunig 1995, 15-17): dass untergeordnete PR- und Kommunikationsabteilungen mehr Verantwortung, mehr Einfluss, mehr Selbstständigkeit fordern und in einer Push-Pull-Beziehung auch erhalten. Komplexitätstheoretisch gewendet tritt noch klarer und deutlicher hervor, was bereits angerissen wurde: Dass die „alten“ Public Relations – mit Presse und Medien als direktem Bezugspunkt, der Öffentlichkeit als indirektem – noch funktional kompartmentalisierbar waren. Kommunikationsmanagement, wenn man es konsequent denkt und durchführt, ist aber nicht nur um Grade komplexer, sondern um Potenzen – und es ist dementsprechend auch nicht funktional kompartmentalisierbar. Kommunikationsmanagement findet nicht am Rande, im Anschluss an das Management Game statt, sondern mittendrin. Im diffusen, schlechtdefinierten, nicht nur durch Friktion, sondern eben auch durch Tension und Kompetition gekennzeichneten Management Game sind „gute Resultate“ – „gut“ in der Sprache des Managements, gut für die Organisation – in sehr viel größerem Maße nicht nur Ergebnis „richtig“ verwandter Macht, „richtig“ ausgeübten Einflusses, sondern wiederum Voraussetzung: Eine Position im Management Game ist sehr viel fluider und vulnerabler als eine „Stelle“ in der Organisationsstruktur. Wer nichts verspricht, erhält weder Macht noch Einfluss; wer nicht hält, was er verspricht, verliert Macht und Einfluss. 6.2
Professionelle Organisationspraxis: Richtig und falsch, Regel- vs. Resultatsorientierung Voll und ganz in das Management Game integriert, avanciert Kommunikationsmanagement zu einer genuinen Organisationspraxis, zu einer Praxis, die nicht nur in und durch Organisationen stattfindet, sondern eben auch ganz und gar für Organisationen: Neben die Frage, was „richtig“ und was „falsch“ ist, tritt demgegenüber die aus der Perspektive der Organisation gestellte, was „gut“ und was „schlecht“ ist. Die Fragen werden in der Praxis freilich als miteinander verwickelt erlebt – ein Grund, wie der Autor meint, sie analytisch zu separieren. In Führen Leisten Leben wendet Fredmund Malik, einer der zwischen Wissenschaft und Praxis angesiedelten „Managementgurus“, die bemerkenswert mutige Doppelunter-
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scheidung von einerseits richtig und falsch, andererseits gut und schlecht auf Management an (2006, 22ff.). Die doppelte Unterscheidung, so Malik, sei notwendig, weil man etwas zwar richtig, aber schlecht tun könne – und umgekehrt. Ein Fahranfänger fahre womöglich richtig Auto, gleichwohl aber unsicher, langsam, eben schlecht (ebd.). Umgekehrt lässt sich beobachten, dass jemand etwas falsch tut, es in der Falschheit aber zu einer Perfektion bringt, welche die Falschheit verschleiert oder abmildert. Insofern ist die Situation vergleichbar mit einem Golf- oder Tennisspieler, der seinen Sport zwar erfolgreich, aber technisch falsch treibt: Die Konsequenzen technisch falschen Spiels machen sich manchmal erst nach einiger Zeit als Hüftgelenkbeschwerden oder „Tennisarm“ bemerkbar. Die Konsequenzen eines technisch falschen Managements treten zutage, wenn der Manager auf der Karriereleiter klettert, mehr Verantwortung übernimmt, komplexere Aufgaben zu bewältigen hat – und sich etwa die Unfähigkeit zu delegieren nicht länger durch persönlichen Arbeitseinsatz abfedern lässt. 6.2.1 Regel- vs. erfolgsorientierte Praktiken: Richtigkeit, Reflektiertheit, Erfolg Die These des Autors ist, dass Kommunikationsmanagement, wo es regelbasiert ist, einer ähnlichen Konstellation unterliegt: Kommunikationsmanagement mag falsch oder richtig, gut oder schlecht geschehen – ebenso Public Relations. Falsch verstandene Public Relations-Arbeit verhält sich zu richtig verstandener PR-Arbeit wie das Golf eines Autodidakten zum schulbuchmäßigen, klassischen Golf desjenigen, der sein Spiel „von der Pike auf“ gelernt hat. Falsch verstandene Public Relations sehen demnach aus wie Public Relations, sind in derselben Art und Weise Public Relations wie auch der Tennisautodidakt zweifelsfrei Tennis spielt. Unter Umständen ist falsch verstandene Public Relations-Arbeit zunächst sogar erfolgreicher als richtig verstandene – auch der Tennis- respektive Golfautodidakt lernt in der Regel zu Beginn schneller, ist als Anfänger erfolgreicher. Regelorientiert: Lernen von der Pike auf Der Unterschied ist der, dass sich bei steigendem Niveau und höheren Anforderungen Probleme häufen. 1) Erfolge sind nicht systematisch, und demnach nicht reproduzierbar, weil – wie bei einem Tennisspieler der Technik durch Athletik kompensiert – kritische und periphere Erfolgsfaktoren verwechselt wurden. 2) Der Praktiker/Manager stößt an eine „gläserne Decke“, das heißt selbst bei größter Anstrengung sind die Ergebnisse nicht steigerbar. Das ist z. B. der Fall, wenn Organisationen von simplen PR-Zielen wie Aufmerksamkeit zu komplexeren wie z. B. Vertrauen übergehen und feststellen, dass aufgrund des „publicity paradox“ (vgl. Bentele/Nothhaft 2008a, Rawlins/Stoker 2007) gesteigerter Kräfteeinsatz nicht zu besseren, sondern zu schlechteren Ergebnissen führt. 3) Es kommt, um in der Metaphorik zu bleiben, zu langfristigen Schäden – ebenjene sind besonders gefährlich, wenn sie durch kurzfristige, oberflächliche Erfolge verschleiert werden. Das alles ist, um das nochmal zu betonen, der Tatsache geschuldet, dass die jeweilige konkrete und spezifische Praxis in Spannung steht mit den Regeln und Kerngedanken der Praxis, die stillschweigend jeweils mitgedacht und mitverwirklicht werden, ohne dass sich der Praktiker das im Einzelfall bewusst vor Augen führt.
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Abbildung 10: Single- und Double-Loop-Learning (Quelle: nach Argyris/Schön 1992) Erfolgsorientiert: Der reflektierte Praktiker Mit der Rede von „Kommunikationsmanagement, wo es regelbasiert ist“ macht man es sich freilich leicht, denn wie bereits angedeutet versteht der Autor gerade Kommunikationsmanagement, weniger Public Relations, in weiten Teilen als eine resultatsorientierte Praxis. Wie aber ist der Zusammenhang zwischen Resultatsorientierung und „richtig“ und „falsch“ zu denken? Es liegt der Verdacht nahe, dass in einem resultatsorientierten Denken die Rede von „richtig“ und „falsch“ äquivalent zu setzen ist mit „erfolgreich“ vs. „nicht erfolgreich“. Die Gleichsetzung verschleiert nach Meinung des Autors den Unterschied zwischen ex ante und ex post und geht ferner stillschweigend davon aus, dass alle Erfolgs- und Misserfolgsbedingungen in der Verfügung des Praktikers liegen. Ob eine Praxis zum angestrebten Erfolg führt, ist nicht ex ante sicher, sondern wird von Seiten des Praktikers vermutet: Er wählt eine erfolgsversprechende Praxis, was wiederum nicht weit entfernt ist von einer „richtigen“. Wenn der angestrebte Erfolg eintritt, ist gerade im Kommunikationsbereich keineswegs sicher, dass das auf die gewählte Praxis zurückzuführen war. Und umgekehrt ist es keineswegs sicher, dass der angestrebte Erfolg deshalb nicht eingetreten ist, weil die Praxis falsch war.
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Richtiges Kommunikationsmanagement zeichnet sich, wie der Autor glaubt, dadurch aus, dass es ebenjenen verwickelten Zusammenhang widerspiegelt. Und das geschieht dadurch, dass der Praktiker lernt. Lernen geschieht aber, um das bekannte, auf Überlegungen des Kybernetikers William Ross Ashby aufsetzende Modell des Psychologen Chris Argyris und des Philosophen Donald Schön18 heranzuziehen, auf zwei Arten: nicht nur in einem Single-, sondern in einem Double-Loop (vgl. Abb. 10). Resultatorientiert-richtiges Kommunikationsmanagement ist also in einem ersten Schritt genau wie regelorientiert-richtiges Kommunikationsmanagement deshalb richtig, weil es auf mentalen Modellen basiert, die Mittel, Ziele und Zwecke in einer Art und Weise verknüpfen, die durch die Realität bestätigt wird: Es trifft das ein, was erwartet wurde. In einem zweiten Schritt bedeutet Resultatorientierung aber, dass der Praktiker niemals eine Verselbstständigung der mentalen Modelle (oder Regeln) gestattet, weil sie ihn eigentlich nicht interessieren; ihn interessieren Resultate, Erfolge. Die Praxis, die zum angestrebten Ergebnis geführt hat, wird nicht unkritisch als „richtig“ vermerkt; die Praxis, die das nicht tat, nicht unkritisch als „falsch“. Worum es eigentlich geht, ist jede Erfahrung zu nutzen, um zu einem funktionierenden mentalen Modell zu gelangen, einem, das hier und jetzt systematisch und reproduzierbar Resultate generiert. Fehler – gescheiterte Handlungen, die nicht zu den gewünschten Ergebnissen führen – sind in diesem Zusammenhang zwar nach wie vor bedauerlich, sie werden aber als Quellen der Modelloptimierung völlig anders bewertet. Nun stellt es einen verführerischen Ansatz dar, Reflektion als ultimative Devise richtiger Praxis auszugeben: Die einzige richtige Praxis sei zu reflektieren, ließe sich sagen, die einzig falsche, das Reflektieren aufzugeben (vgl. das ähnliche, auf die Organisation insgesamt abzielende „reflective paradigm“, van Ruler/Vercic 2005). Das ist jedoch, wie der Autor glaubt, eine Leerformel – und darüber hinaus eine, die auch ohne die bisher entwickelten Überlegungen zu formulieren gewesen wäre. Führt man sich die Überlegungen bisher vor Augen, dann tritt zutage, dass richtige PR als ein spezifisches PR-Agieren eines Akteurs zu verstehen ist, das in der jeweiligen konkreten Situation zu Erfolgen führt, weil die jeweilige Praxis in Harmonie mit den stillschweigenden, gewachsenen Logiken und Rationalitäten – Regeln, Kerngedanken, wie auch immer – der Praxis steht; ähnlich, wenn auch unvergleichlich einfacher, wie es einen Golfschwung gibt, der in Harmonie mit der Anatomie des Menschen steht. Anders ausgedrückt: der Praktiker agiert in einer wohlgeformten Konstellation, was das Verhältnis der spezifischen Zwecke, Ziele und Mittel zum einen zueinander, zum anderen zu den idealtypischen Zwecken, Zielen und Mitteln anbelangt. Und dazu gehört auch, dass bestimmte Zwecke nicht gesetzt, bestimmte Ziele nicht verfolgt, bestimmte Mittel nicht angewandt werden. Der Praktiker versucht z. B. nicht, im Rahmen der Produkt-PR „eigentlich“ Werbung zu betreiben, also den Kunden als Kunden anzusprechen – er versucht, den Kunden als Bürger, als mündigen Verbraucher, als vernünftigen Menschen anzusprechen. Der Praktiker versucht also nicht, in einer Konstellation zu arbeiten, die den in Jahren und Jahrzehnten der eigendynamischen Organisation einer sozialen Praxis entstandenen Logiken und Rationalitäten entgegensteht. Er tut das nicht, weil er weiß, dass er die Beugung, Brechung oder Umgehung der Regeln und Kerngedanken durch Ressourceneinsatz kompensieren müsste, so dass ein eventueller Erfolg nicht weil, sondern trotzdem entstehen würde – da die Gefahr bestünde, mehr Schaden anzurichten als Nutzen zu stiften. 18
Vgl. Argyris/Schön 1978; vgl. auch Argyris 1982; Argyris 1983; Argyris/Schön 1992; Argyris/Schön 1996.
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A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
Der dreifache Zusammenhang Abbildung 11 vergegenwärtigt den dreifachen Zusammenhang, der zwischen richtig und falsch verstandener, reflektierten und unreflektierten Praktikern und dem Erfolg respektive Misserfolg ihrer Arbeit besteht. Auf einem professionellen Niveau wird richtig verstandene PR in der Regel gut, sprich erfolgreich sein. Der Zusammenhang ist jedoch ein statistischer, über die Zeit zu sehender, denn vier Faktoren sind zu berücksichtigen (vgl. auch C.II.2). Richtig/Falsch
Unreflektiert
Reflektiert
Hohe Erfolgswahrscheinlichkeit, unsystematisch
Systematisch hohe Erfolgswahrscheinlichkeit
Niedrige Erfolgswahrscheinlichkeit, unsystematisch
Auf der Suche nach viablen Modellen?
Richtig verstandene PR-Arbeit: Derzeit „funktionierende“ mentale Modelle, Logiken, Routinen etc. (viabel) In Harmonie mit gewachsenen Logiken und Rationalitäten der Praxis In sich wohlgeformte Zweck-ZielMittel-Konstellation
Falsch verstandene PR-Arbeit: Derzeit nicht „funktionierende“ mentale Modelle, Logiken, Routinen (nicht-viabel) In Disharmonie mit gewachsenen Logiken und Rationalitäten der Praxis In sich schlechtgeformte ZweckZiel-Mittel-Konstellation
Abbildung 11: Zusammenhang zwischen richtiger/falscher PR-Arbeit, Erfolg/Misserfolg und Reflektionsgrad (Quelle: eigene Darstellung) 1. Dass es die Situation gibt, dass andere Defizite durch PR-Erfahrung kompensiert werden, was auf Spitzenniveau natürlich Grenzen hat – genauso etwa, wie es für einen athletisch schwachen Tennisspieler im Profitennis eine natürliche Grenze gibt, egal wie ausgefeilt seine Technik sein mag. 2. Friktion: Grundsätzlich ist zu sehen, dass PR-Arbeit, wie jedes Unterfangen, zufälligen, unsystematischen Störungen unterworfen ist. 3. Tension: Wo intraorganisatorische Zwistigkeiten und Ränkespiele der PR-Arbeit im Weg stehen, kann PR unterm Strich schlecht und erfolglos sein, obwohl „alles richtig“ gemacht wurde. 4. Kompetition: Gute PR-Arbeit kann an besserer PR-Arbeit scheitern. Die Tabelle vergegenwärtigt ferner: Falsch verstandene PR wird mit großer Wahrscheinlichkeit schlecht, sprich erfolglos sein, über die Zeit gesehen sogar mit sehr großer Wahrscheinlichkeit. Umgekehrt können jedoch auch unreflektierte Praktiker richtig ver-
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standene PR-Arbeit verantworten, und erfolgreich sein – ihr richtiges Verständnis ist jedoch ein zufälliges, der Erfolg kommt unsystematisch zustande. Das Idealbild ist der reflektierte PR-Praktiker, der systematisch und reproduzierbar erfolgreich arbeitet, weil er seine mentalen Modellen, Logiken und Routinen überprüft und auf dem neuesten Stand hält. Freilich feit ihn das nicht vor Phasen des Umbruchs, in denen altbewährte Modelle versagen, neue, funktionierende Modelle aber noch nicht gefunden, begriffen und verinnerlicht wurden. Und natürlich besteht immer die Gefahr, dass gesellschaftliche Veränderungen oder Veränderungen der Kommunikationslandschaft dermaßen gravierend ausfallen, dass die dreißig Jahre PR-Erfahrung eher zum Nachteil, weniger zum Vorteil gereichen. Was Dorothy Leonard-Barton (1992) mit Blick auf das strategische Management von Unternehmen herausfand, gilt also auch für Individuen: Kernkompetenzen werden zu Kernrigiditäten. 6.2.2 Ein Argument für eine wissenschaftliche Ausbildung Die Existenz unreflektierter PR-Praktiker – die, wie der Autor postuliert, gar nicht so selten sind, obwohl sie ihm in der Beobachtungsstudie erspart blieben19 – ist, wie der Autor glaubt, eines der schwerwiegendsten Argumente für eine systematische, optimalerweise universitäre PR-Ausbildung. Dabei geht es nicht darum, unreflektierten PR-Praktikern vorgefertigte mentale Modelle aus der Wissenschaft auf den Weg zu geben, über die sie ansonsten nicht verfügen würden. Mentale Modelle werden sich in der Berufspraxis so oder so entwickeln, und der Unterschied zwischen reflektierten und unreflektierten Praktikern ist nicht der, dass der eine über mentale Modelle verfügt, der andere erratisch handelt. Der Unterschied ist, dass der unreflektierte Praktiker entweder nicht willens oder nicht in der Lage ist, seine „abgesunkenen“ mentalen Modelle „hochzuholen“, um sie auf den Prüfstand zu stellen. Genau das ist aber eine Fähigkeit, welche Hochschulen – und Universitäten noch sehr viel ausgeprägter als Fachhochschulen – wie kaum eine andere Institution vermitteln (vgl. zum Beitrag eines akademischen Studiums auch C.II.4.2). Dabei geht es, wie dargestellt, nicht darum, dass Praktiker Arbeitsverständnisse durch wissenschaftliche Definitionen substituieren, sich also objektive PR-Verständnisse und PRTheorien aneignen und „herunterbeten“, obwohl diese de facto nichts mit der Art und Weise zu tun haben, wie sie arbeiten. Wohl geht es aber darum, das tatsächliche, subjektive PRVerständnis zu objektivieren, um es einer kritischen Prüfung, auch durch Dritte, zu unterziehen. Die Sozialisierung darauf markiert den Unterschied zwischen reflektierten und unreflektierten Praktikern20. Ebenjenes Missvertrauen gegen sich selbst brachte auch Manager G im Interview zur Sprache:
19 Hier handelt es sich natürlich um einen Bias der Forschungslogik: Der unreflektierte Praktiker ist natürlich nicht daran interessiert, dass ein Forscher ihn beobachtet; der reflektierte Praktiker ist aber gerade daran brennend interessiert, weil er etwas über sich selbst erfährt. 20 Zum Konzept des reflective practitioner vgl. bereits grundlegend Schön (1983), der professionelle Handlungslogiken am Beispiel von Ingenieuren, Architekten, Psychotherapeuten, Managern und Städteplanern diskutiert, neue Konzepte für die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Professionals propagiert (1987). Die Bedeutung des Reflektierens spiegelt sich sowohl in der Management- als auch in der PR-Lehre in Kompetenzrastern wider, welche die Aus-, Fort- und Weiterbildung systematisieren. Was Manager anbelangt, sehen etwa Gosling und Mintzberg (vgl. Gosling/Mintzberg 2003; vgl. ferner Mintzberg 2004) ein reflective mindset als die äußerste Zwiebelschale der „five minds of the manager“ an. Für Reflexions- und Funktionswissen als soziale Orientierung in der PR-Ausbildung vgl. etwa das bereits 1995 entwickelte Kompetenzraster der DPRG, vgl. Szyszka 1995.
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A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement? Weil meine Erfahrung ist, dass man nie alle relevanten Aspekte im Kopf hat, drauf hat. Man vergisst zu leicht, und man berücksichtigt Dinge nicht. Man verfolgt manchmal auch eigene Neigungen und Präferenzen. Deswegen muss man dafür sorgen, dass auch andere Stimmen reinkommen. […] Damit man sich selbst ausbalanciert.
Fehlgeleitete und Pseudo-Praktiker Die Überlegungen gestatten es, neben dem unreflektierten Praktiker zwei weitere zu identifizieren, den fehlgeleiteten Praktiker und den Pseudo-Praktiker. Die Existenz fehlgeleiteter Praktiker ist ein weiteres schwerwiegendes Argument für einen Berufseinstieg in die PR via Ausbildung. Anders als der unreflektierte Praktiker „weiß“ der fehlgeleitete Praktiker, was er tut – oder glaubt es zu wissen. Sein Problem ist, dass seine mentalen Modelle überwiegend „falsch“, eben fehlgeleitet sind: Sie beruhen beispielsweise auf unzulässigen Verallgemeinerungen aus der eigenen Erfahrung, aufgeschnappten „Bauernregeln“, die ihr Haltbarkeitsdatum mit Einführung des dualen Rundfunksystems oder des Internets hinter sich gelassen haben, den unausgegorenen Lehren zweifelhafter Dozenten zweifelhafter Fortund Weiterbildungskurse etc. Auch der fehlgeleitete Praktiker ist nach Ansicht des Autors ein häufigerer Fall, als man meinen möchte. Besonders bösartig ist, dass es häufig der Erfolg ist, der fehlleitet: Ganz ähnlich wie das bei Sportlern der Fall ist, welche technische Defizite durch Kraft, Ausdauer oder Beweglichkeit kompensieren, sind in der PR-Praxis Organisationen zu identifizieren, welche derartig „in“ sind, dass ihre falsch verstandene, „technisch falsche“ PR-Arbeit nicht zutage tritt. Erst wenn derartige Organisationen in Konfliktsituationen und Krisen geraten, zeigt sich, dass sich die Kommunikation auf Lorbeeren ausgeruht hat, die anderswo verdient wurden. Erst dann wird deutlich, dass man „in guten Zeiten“ mit richtiger PR-Arbeit mehr hätte erreichen können, ja ganz und gar andere Ziele hätte verfolgen müssen. Von Pseudo-Praktikern ist schließlich zu sprechen, wenn man es mit einer Praxis zu tun hat, die sich weder dem Inhalt nach noch von der Form her, weder operational noch funktional der geschilderten Kernidee annähert. Unter Pseudo-Public Relations versteht der Autor PR-Arbeit, die der verantwortliche Praktiker zwar subjektiv als PR bezeichnet, aus der „objektiven“ Perspektive der professionellen community ist der Anspruch aber durch nichts gerechtfertigt. Der häufigste Fall von Pseudo-PR findet sich nach Ansicht des Autors, wenn der PR-Anspruch sich auf die Verwendung von typischen Instrumenten und Methoden der Presse- und Medienarbeit stützt. Falsch verstandene Produkt-PR ist ein Beispiel. Wie ausgeführt stellt klassische Produkt-PR21 eine anerkennenswerte Spielart der PRArbeit dar: Der PR-Charakter resultiert eben hauptsächlich aus der PR-typischen Mittelverwendung, nicht aus Zwecken und Zielen. Gerade bei Produkt-PR aus der Feder ungeschulten Personals ist aber gelegentlich zu beobachten, dass auch die Mittel, wie etwa Pressemitteilungen, lediglich der Form nach, nicht dem Inhalt nach verwandt werden. Was auf der Oberfläche wie eine Pressemitteilung aussieht, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als dreiseitiger Copy-Text nach allen Regeln der klassischen Werbung. Polemisch lässt sich sagen, dass die Konstellation damit an die „Cargo-Kulte“ der Eingeborenen auf verschiedenen Pazifikinseln gemahnt.22 21
Eine theoretische Durchdringung der Produkt-PR als Form der absatzbezogenen PR, neben der Marken-PR, findet sich bei Szyszka 2007. 22 Während des Zweiten Weltkrieges unterhielt die US-Luftwaffe Stützpunkte auf verschiedenen winzigen Pazifikinseln. Als der Krieg beendet war, wurden die Stützpunkte aufgegeben. Ethnologen stellten während der fünfziger und sechziger Jahre fest, dass die Eingeborenen der Inseln sich der Stützpunkte bemächtigt hatten und exakt ebenjenes Ritual kopierten, welches die weißen Männer zelebriert hatten, um die großen Vögel herunterzuholen,
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6.2.3 Strategisch richtig, operativ richtig Die Darstellung weist noch Unschärfen auf. Dazu gehört erstens, dass der Zusammenhang mit der Rede von sozialen Praktiken als Ziel-Zweck-Mittel-Konstellationen zu schärfen ist. Zweitens gilt es herauszuarbeiten, wo der Unterschied zwischen Zwecken und Zielen liegt. Der operative Loop und der strategische Loop Zunächst einmal ist zu betonen, dass auch eine erfolgsorientierte Praxis Regeln folgt, und zwar in zweierlei Hinsicht. Zum einen folgt auch der erfolgsorientierte Praktiker ex ante Regeln, eben „Erfolgsrezepten“. Ex post, und das ist der Unterschied zu einer regelorientierten Praxis, interessiert ihn aber nicht, ob die Regeln „klassisch“ und „lehrbuchmäßig“ angewandt wurden, sondern ob die Praxis Erfolg gebracht hat, die mit ihr verknüpften Erwartungen erfüllt, die gesetzten Ziele realisiert wurden. War das nicht der Fall, das zeigt der Loop des Double-Loop-Learning in Abbildung 12, werden die Regeln nach und nach über Bord geworfen. Abbildung 12 zeigt ferner, dass es sich bei Regeln um mentale Modelle handelt, und zwar um Modelle der Ziel-Mittel-Verknüpfung. Zum anderen folgt der Praktiker jedoch noch einem viel weiter gefassten Zusammenhang: einem, der den Zweck der Praxis setzt und ihn direkt mit typischerweise verfolgten Zielen verknüpft, dadurch, indirekt, natürlich auch mit Mitteln. Die These des Autors ist, dass der dritte, weiter gefasste Loop gewöhnlich eher regel- denn resultatsorientiert zu denken ist, und zwar nicht nur ex ante, sondern auch ex post. Weshalb das so ist, tritt klar und deutlich hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, was der Unterschied zwischen Zwecken und Zielen einer Praxis ist. Ziele haben ein „Verfallsdatum“ und sind zum Zeitpunkt ihres gesetzten Verfalls entweder realisiert oder nicht, oder sie werden weiter in die Zukunft verlegt. Zwecke werden jedoch, das ist das Unterscheidungskriterium, niemals verwirklicht. Dass mit einem Satz in einer Sprache ein spezifisches Ziel verwirklicht wurde, heißt nicht, dass der Zweck der Verständigung der Sprache ad acta gelegt ist oder dass für immer und ewig Verständigung zwischen zwei Individuen besteht. Der Zweck der Organisationspraxis Public Relations, die licence to operate des Unternehmens zu erhalten, um ein typisches Beispiel zu wählen, ist niemals verwirklicht, sondern drängt sich in der jeweilig spezifischen Praxis entweder gegenüber anderen PR-typischen Zwecksetzungen in den Vordergrund oder nicht. Es ist für einen Praktiker vergleichsweise einfach, retrospektiv zu beurteilen, ob die jeweiligen Einjahrespläne „erfolgreich“ waren dergestalt, dass die jeweilig selbstgesteckten Ziele, z. B. Imageziele, verwirklicht wurden. Das versetzt Praktiker in die Lage zu lernen, und zwar sowohl im Single- als auch im Double-Loop. Es ist jedoch unvergleichlich schwieriger, auf einen Zeitraum von zehn Jahren zurückzublicken, um vor dem Hintergrund der Gesamtentwicklung zu beurteilen, ob und vor allem aber inwiefern das derzeitige Image in seiner ganzen Breite, Tiefe und Langfristentwicklung – der „eigentliche“ Zweck der Imagearbeit, eben nicht im selbstgewählten Anschnitt – Resultat der über eine Dekade die die Kisten brachten. Sie entzündeten beispielsweise Feuer entlang der Landebahnen. In einem Fall wurde sogar beobachtet, dass ein Eingeborener sich Pseudo-Kopfhörer aus Muscheln und Bambus gebaut hatte und im ehemaligen Funkhäuschen zu Werke ging. 1974 verglich der Physik-Nobelpreisträger Richard Feynman weite Bereiche der wissenschaftlichen Forschung mit derartigen Kulten, bezeichnete sie als „cargo cult science“: „I call these things cargo cult science, because they follow all the apparent precepts and forms of scientific investigation, but they're missing something essential, because the planes don't land.” (Quelle: http://en.wikipedia.org/wiki/Cargo_cult_science; http://en.wikipedia.org/wiki/Cargo_cult // Zugriff auf beide Seiten 10.07.2009)
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durchgeführten, jeweils durch Einzelziele geleiteten Arbeit ist. Ebenjener Schluss würde jedoch die Voraussetzung bilden, um den wiederum nächsten, wiederum unvergleichlich schwierigeren Schritt zu gehen, nämlich aus den vergangenen zehn Jahren Schlussfolgerungen zu ziehen, die Irrwege der zukünftigen zehn Jahre vermeiden (vgl. von der Argumentation her ähnlich Senge 2006, der ein „Lerndilemma“ diagnostiziert und als „fünfte Disziplin“ neben personal mastery, mental models, shared vision und team learning systemisches Denken fordert, um es zu überwinden).
Abbildung 12: Die Zweck-Ziel-Mittel-Konstellation als Loop (Quelle: eigene Darstellung) Die Fähigkeit, klar und deutlich handlungsleitende Schlussfolgerungen aus Langfristentwicklungen zu ziehen, die sich über einen Zeitraum von zehn, fünfzehn Jahren ausdehnen und von multiplen intervenierenden Faktoren überlagert sind (eben komplex, eben systemisch verwickelt sind), ist, wie der Autor glaubt, nur wenigen Menschen gegeben – und in der Realität ist die Halbwertszeit eines Kommunikationschefs, aber auch der Planungshorizont einer Organisation, ohnehin kürzer. Für die Entwicklung der mentalen Modelle eines singulären Praktikers, aber auch einer professional community insgesamt, bedeutet das jedoch, dass das Lernen hinsichtlich Zweck-Ziel-Verknüpfungen – es ließe sich auch „strategisches Lernen“ nennen – ein bruchstückhafter, verschwommener und langwieriger Prozess bleibt. Lernen aus Erfolg bzw. Misserfolg, wie es Argyris/Schön zeichnen, bleibt im strategischen Langfristbereich begrenzt, weswegen der Loop in Abbildung 12 als gestrichelte Linie dargestellt ist. Weder heben sich die Learnings vor der Diffusität strategischer Situationen klar genug ab, als dass man Handlungsanweisungen aus ihnen ableiten könnte; noch genügt die durchschnittliche Karriere einer Kommunikationschefin in einem Unternehmen, um den Prozess (z. B. die langfristige Imageentwicklung), den man im Denken zu
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begleiten vorgibt, auch de facto zu begleiten – was für ein zumindest einmaliges Lernerlebnis in der Karriere ja Voraussetzung wäre. Rückkehr zu Regeln Da die Zeiträume lang, die Situationen komplex und darüber hinaus in sich kontinuierlicher Evolution und sporadischer Revolution unterworfen sind, ist erfolgsorientiertes Agieren, Double-Loop-Learning, jenseits der Verstehensgrenze des Menschen – aber auch jenseits des sicheren Planungshorizonts der Organisation – in hohem Maße spekulativ und riskant. Was ist die Konsequenz? Die Konsequenz ist, dass Praktiker, wo sie sich zu langfristigen Zwecksetzungen bekennen, in Teilbereichen ihrer Arbeit zwangsläufig zu regelorientiertem Agieren zurückkehren – wobei sie die Regeln, strategische Maximen, anwenden, welche sich in der professional community über Jahre und Jahrzehnte bewährt haben, welche auch wissenschaftlich, in der Aufarbeitung vieler Fälle erforscht wurden. Die strategischen Maximen sind, wie der Autor glaubt, größtenteils negativer Natur. „Richtiges“ Agieren heißt, strategische Fehler zu vermeiden, welche die Spielräume der Organisation verkleinern anstatt sie zu vergrößern. Was in drei, fünf, zehn oder fünfzehn Jahren – je nach Branche – konkret, spezifisch und positiv Erfolg bringt, welche Ziele man verfolgen sollte, vermag oftmals nicht einmal der visionärste Kommunikationschef sicher vorherzusagen. Durchaus vorhersagen lässt sich jedoch, in abstracto und negativ, was sich jedenfalls nicht als falsch erweisen wird. Ob man auf diese oder jene alternative Antriebstechnologie im Kfz-Bereich setzt oder nicht, lässt sich noch nicht absehen. Durchaus absehen lässt sich aber, dass Verantwortung für die Umwelt gefragt ist, dass man ins Hintertreffen gerät, wenn man nicht „irgendetwas“ in der Richtung unternimmt – wobei der Trick der ist, zunächst weder auf die eine noch die andere Technologie zu setzen. Oder, um ein Beispiel aus dem privaten Bereich heranzuziehen: Ob man diese oder jene Person im Leben „braucht“ oder nicht, lässt sich nicht absehen (= erfolgsorientiertes Agieren); nicht verkehrt ist es deshalb, jeden Menschen anständig zu behandeln (= regelorientiertes Agieren), auch wenn das unter der Maxime der Erfolgsmaximierung Ressourcenverschwendung darstellt. Das metastrategische Missverständnis Der Autor möchte nicht, entgegen seiner eigenen Argumentation, Public Relations oder Kommunikationsmanagement per se als Praxis mit einer langfristigen Zwecksetzung bestimmen: Die Zwecksetzung des Kommunikationsmanagements kann auf den einen Punkt zusammenschrumpfen, unter Aufgabe aller langfristigen Überlegungen, „ohne Rücksicht auf Verluste“, eine feindliche Übernahme abzuwehren. Wenn man der Argumentation unter 2. und 3. folgt, resultiert jedoch aus den Kerngedanken und Regeln der Praxis, wie sie der Autor sieht, eine Tendenz zur Langfristigkeit: Die Ansprache tieferliegender Resonanzböden wirkt zwar nachhaltiger – bis die Wirkungen erzielt werden, dauert es jedoch in der Regel länger. Der Autor vermutet, dass PR-Praktiker in der Organisationsrealität oftmals stillschweigend eine von langfristigen Zwecken getriebene, auch über den sicheren Planungshorizont der Unternehmung hinausreichende Praxis im Kopf haben, ebenjene langfristige Zwecksetzung aber von anders sozialisierten Kollegen in der dominant coalition ganz anders gesehen wird. Das hat, wie der Autor glaubt, zu vielen Missverständnissen geführt. Es hat insbesondere an der Stelle zu Missverständnissen geführt, wo im Rahmen der Unterwerfung unter die Managementlogik die Frage nach der Wertschöpfung gestellt wurde.
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Public Relations sei ja kein Selbstzweck, hieß es, also sei der unternehmerische Beitrag der Kommunikation in jedem Fall konkret und spezifisch aufzuzeigen. Das in jedem Fall zu fordern ist, wie der Autor meint, falsch und kurzsichtig. Wenn PR und Kommunikationsmanagement anmutet, als handle es sich um einen Selbstzweck, kann das einem schlechten Praktiker geschuldet sein, der die Organisation aus den Augen verloren hat. Es kann aber auch im Rahmen guter und richtiger Praxis der Tatsache geschuldet sein, dass der Praktiker in einem Bereich agiert, wo außer allgemeinen Regeln des gesellschaftlichen, gemeinschaftlichen und menschlichen Miteinanders noch nichts anderes sicher ist. Der Praktiker weiß, dass er einen Zweck verfolgt, z. B. die licence to operate des Unternehmens zu sichern, aber er weiß noch nicht, durch welche Ziele und durch welche Mittel er das tut – also versucht er zunächst einmal, Spielräume zu erhalten, Manövrierraum zu sichern. Das Argument, dass der eigentliche Zweck einer Organisation, auch einer Unternehmung, in der Sicherung ihrer Überlebensfähigkeit, nicht in der Profitmaximierung besteht, und dass gerade erfolgreiche Organisationen aus ebenjenem Grund ein vernünftiges Maß an organizational slack tolerieren, sei bereits angerissen (vgl. C.II.4.3). Die ethische Wurzel der Praxis Ein letzter Gedanke: Wie der Autor glaubt, ist in der Zwecksetzung der Praxis ihre eigentliche ethische Wurzel zu suchen. Das tritt klar und deutlich hervor, wenn man langfristige Zwecksetzung zusammendenkt mit der grundsätzlichen Anerkenntnis, dass unsere Fähigkeit, die Zukunft und zukünftige Konsequenzen unseres Agierens vorherzusagen, äußerst begrenzt ist. Postulate wie etwa, dass PR-Praktiker nicht lügen sollten, zeichnen sich dann als „Erfolgsrezepte“ im Rahmen einer langfristigen Praxis ab, die sich eingesteht, dass selbst die vermeintlich wasserdichte Lüge unkalkulierbare Konsequenzen nach sich ziehen könnte, weshalb man lieber auf der sicheren Seite bleibt. „Du sollst nicht lügen“, verliert dann seinen alttestamentarischen Donnergroll, der Begriff der Ethik wird von der Höhe gelehrsamer Begründungen auf die Erde zurückgeholt. Auf die vorgeordnete Frage, was denn eigentlich eine Lüge ist, geht die Arbeit an anderer Stelle (vgl. D.I.9) noch ein. 6.3 Professionelle Organisationspraxis: Die Rede von gut und schlecht In den vorangegangenen Kapiteln umriss der Autor sein Verständnis von „richtiger“ PR respektive „richtigem“ Kommunikationsmanagement. Das geschah im Bewusstsein der Tatsache, dass es sich um eine professionelle Organisationspraxis handelt, so dass die Rede von richtig und falsch gestattet ist. An verschiedenen Stellen bereits angedacht wurde, dass es sich ferner um eine professionelle Organisationspraxis handelt, die erfolgreich oder nicht erfolgreich, gut oder schlecht sein mag. Unabhängig davon, wo man die Grenze zieht: Öffentlichkeitsarbeit kann richtig verstanden, beispielsweise durch und durch vom Wunsch getragen sein, den angedeuteten Kommunikationsmodus hinsichtlich einer einzelnen Zielgruppe oder der Öffentlichkeit insgesamt zu verwirklichen – und gleichwohl schlecht. Genau wie mancher „nette“ Mensch langweilig ist, kann auch eine von hohen Idealen getragene Organisation langweilige, irreführende, nutzlose PR machen. Und umgekehrt: Völlig falsch verstandene PR kann gut, eben gut gemacht sein – so wie ein moralisch zweifelhafter Mensch interessant, ja faszinierend sein kann, so kann auch die manipulative PR-Arbeit einer korrupten Organisation mit ethisch fragwürdigen Zielen „gut“ sein im Sinne von originell, innovativ, kreativ etc.
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Freilich gilt es genau hinzusehen: Was schlecht respektive gut bedeutet, lässt sich einerseits aus der Perspektive der Organisation, andererseits aus der Perspektive der anvisierten Zielgruppen bzw. aus der Perspektive der Gesellschaft formulieren. Aus der Organisationsperspektive bedeutet „schlecht“ gewöhnlich, dass die PR-Arbeit die anvisierten Ziele nicht verwirklicht, nicht zum Organisationserfolg beiträgt – wie auch immer der definiert ist. Aus der Zielgruppenperspektive drückt sich „schlecht“ im schlimmsten Fall als Nichtwahrnehmung der PR-Arbeit aus, andernfalls in der Wahrnehmung als langweilig, uninteressant, gekünstelt, durchsichtig etc. Die professionelle Perspektive Was die Unterscheidung gelegentlich verschleiert, ist die Existenz einer synthetischen dritten, der professionellen Perspektive, wie sie eben bei einer professionellen sozialen Praxis existiert.23 Darunter ist zunächst einmal das Peer-Reviewing durch die professionelle Kollegenschaft zu verstehen, welches derzeit in Deutschland vor allem in Branchenmagazinen wie PRMagazin oder prreport, Verbandsorganen wie Pressesprecher oder Kommunikationsmanager, Foren wie pr-journal oder Blogs wie PR Blogger stattfindet. Wie kritisch der Diskurs wirklich ist, bleibt diskutabel, aber Fakt ist, dass hier Kollegen über Kollegen urteilen, und dass derartige Urteile als möglich, begründbar und sinnvoll angesehen werden. Das heißt: Genau wie der Arzt den Patienten nicht bis in letzte Detail kennen muss, um über den Kunstfehler eines Medizinerkollegen zu gutachten, sind PR-Professionals – die um die grundsätzlichen Risiken und Chancen von Öffentlichkeitsarbeit wissen – durchaus in der Lage zu beurteilen, inwieweit der in Frage stehende Fall dem State of the Art der Branche entspricht. Die quasiprofessionelle Perspektive Freilich verschwimmen auch hier die Grenzen. In einer aufgeklärten Mediengesellschaft bleibt es nicht aus, dass zunehmend auch Laien in der Lage sind oder sich in der Lage wähnen, die professionelle Perspektive einzunehmen. Das ist das Kennzeichen einer sozialen Praxis, die nicht nur auf ihren eigenen organisatorischen Zusammenhang und auf ihre professionelle community, sondern auf die Gesellschaft bezogen ist. Die Durchdringung der Gesellschaft mit PR über die Jahre und Jahrzehnte ist an der Bevölkerung nicht vorübergegangen, wie bereits die Ergebnisse von Bentele und Seidenglanz zeigten (2004, Kap. 3): Wenn die Deutsche Bahn sich heutzutage mit einem Lokführer-Streik, einem Zugunglück, dem Für und Wider eines neuen Preissystems etc. konfrontiert sieht, dann bestehen in der Öffentlichkeit Erwartungen hinsichtlich der Art und Weise, wie ein Großunternehmen „professionell“ mit derlei Dingen umgeht.
23 Über die Professionalisierungsdebatte in Public Relations und Kommunikationsmanagement vgl. ausführlich Wienand 2003; zu PR als Profession Röttger 2000; zum Berufsfeld zusammenfassend Fröhlich 2008.
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Professionelle Perspektive, richtig vs. falsch
Organisationsperspektive
Zielgruppenperspektive
Quasiprofessionelle Perspektive
Gutļschlecht
Gut ļschlecht
Gut ļschlecht
Wichtig, sinnvoll, zielführend, wertschöpfend
Nutzwertig, unterhaltsam, aufrichtig, usw.
Clever, gewieft, smart, effizient, effektiv
Richtig verstandene PR-Arbeit: Derzeit funktionierende mentale Modelle, Logiken, Routinen etc. (viabel) In Harmonie mit gewachsenen Logiken und Rationalitäten der Praxis In sich wohlgeformte Zweck-Ziel-MittelKonstellation oder Falsch verstandene PR-Arbeit: Derzeit nicht funktionierende mentale Modelle, Logiken, Routinen (nicht-viabel) In Disharmonie mit gewachsenen Logiken und Rationalitäten
Gut ļschlecht
Gut ļschlecht
Gut ļschlecht
Wichtig, sinnvoll, zielführend, wertschöpfend
Nutzwertig, unterhaltsam, aufrichtig, usw.
Clever, gewieft, smart, effizient, effektiv
In sich schlechtgeformte Zweck-Ziel-MittelKonstellation
Abbildung 13: Zusammenhang zwischen richtig und falsch, gut und schlecht (Quelle: eigene Darstellung) Gelegentlich, und das ist eine gesamtgesellschaftliche Tendenz, schießt der Laie jedoch über das Ziel hinaus. Da er lediglich die aus dem Wasser ragende Spitze des Eisberges kennt – eben das eine Neuntel der Kommunikation – die unter Wasser verborgenen acht Neuntel an organisationsinterner Koordination, Mikropolitik, Kompromissen und TradeOffs aber nicht, ist die Erwartung des Laien oftmals übertrieben. Laienvorstellungen von „perfekter PR“ sind mitunter ganz und gar unrealistisch. Das gilt insbesondere, wenn es um die ideologische Frage nach Macht und Einfluss von PR in der Gesellschaft geht. Gerade diesbezüglich ist der Autor versucht, von einer quasiprofessionellen Perspektive zu sprechen, welche PR-Laien mit hohem Medienkonsum aber wenig bis keiner Erfahrung in Unternehmen oder gar Großunternehmen einzunehmen pflegen.
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Mit anderen Worten: Viele selbsternannte PR-Experten, darunter auch Journalisten, halten Public Relations-Arbeit für wesentlich raffinierter als sie realistischerweise ist.24 Eine weitere Verzerrung entsteht dadurch, dass die journalistische Berichterstattung über PR wie auch die Unterhaltungsindustrie Gefallen daran gefunden haben, PR-Praktiker geradezu als Ausbund machiavellistischer Smartheit zu porträtieren. Man denke etwa an die Protagonisten in Filmen wie Primary Colors, Wag the Dog oder Thank You for Smoking – oder an die Art und Weise, wie die Spin-Doctors von Bill Clinton und Tony Blair, Dick Morris und Alastair Campbell, seitens der Medien porträtiert wurden. Komplizen bei derartigen Stilisierungen der PR-Branche sind Branchenvertreter, welche ebenjenes Image, das der machiavellistischen Smartheit, bewusst und absichtsvoll projizieren: in Deutschland prominent etwa Klaus Kocks oder Moritz Hunzinger. Der Autor stellt dabei gar nicht in Abrede, dass das gezeichnete Bild der Selbstwahrnehmung seiner Urheber entspricht – es entspricht nur nicht dem Gros der Public Relations. Der sechsfache Zusammenhang Das Ergebnis der bisherigen Überlegungen ist in letzter Konsequenz, die Rede von richtig und falsch zu differenzieren von der Attribuierung gut oder schlecht. Abbildung 13 versucht das – u. a. dadurch, dass die Qualifizierung gut vs. schlecht mit Adjektiven unterlegt ist, welche Angehörige der jeweiligen Gruppierungen vermutlich gebrauchen würden, um ihr Qualitätsverdikt zu präzisieren. Aus der Organisationsperspektive, aus der Perspektive der „Auftraggeber“ von PR-Kommunikation, heißt „gut“ in der Differenzierung wichtig, sinnvoll, zielführend oder wertschöpfend. Aus der Perspektive der jeweils angesprochenen Zielgruppe heißt „gut“ in einem strengen Verständnis, dass die Kommunikation als nutzwertig gilt, sie ist etwa unterhaltsam, wirkt aufrichtig oder ist in der Ansprache angenehm. Fragt man die Mitarbeiter eines Unternehmens zu der PR-Arbeit ihrer eigenen Organisation oder Studierende in Studiengängen wie Kommunikationsmanagement bekommt man jedoch häufig Antworten, die zwei Perspektiven in einer quasiprofessionellen Perspektive vermischen: Man findet die Kommunikation selbst durchaus nutzwertig oder unterhaltsam, anerkennt aber, dass Nutzwert und Unterhaltung nicht der eigentliche Sinn und Zweck sind, sondern die Verfolgung von Unternehmensinteressen. Aus der quasiprofessionellen Perspektive beurteilt man PR/Kommunikationsmanagement demnach dann als „gut“, wenn sie Organisationsinteressen und Zielgruppeninteressen „clever“, „gewieft“ oder „smart“ unter einen Hut bringt, wenn man glaubt, dass es sich um effiziente und effektive Kommunikation handelt. Auch dies, das gilt es klar und deutlich zu sehen, ist ein Charakteristikum der Spätmoderne, wie sie Giddens diagnostiziert, und wie sie im Theoretisieren über PR wieder und wieder von reflexiv argumentierenden Theoretikern wie etwa Merten oder Kocks (der Argumentation bei Kocks spürt der Beitrag Bentele/Nothhaft 2008a nach) aufgezeigt wurde: Der außenstehende Laie beurteilt die Professionalität der Organisation danach, wie professionell sie ihre Interessen auch und gerade gegenüber der Person des Beobachters verfolgt. 24 Das hat verschiedene Gründe. Einer der wichtigsten, wenn auch etwas verborgenen Gründe ist sicherlich, dass der Gesamteinfluss der PR auf die Medien, Politik, Gesellschaft und der Einfluss einzelner, individueller PRAkteure auf ein gesellschaftliches Thema zwei verschiedene Dinge sind. Der kritische Bürger auf der Straße mag mit Fug und Recht konstatieren, dass der Einfluss der multinationalen Konzerne auf Medien, Politik und Gesellschaft überproportional ist – wenn man die Perspektive wendet, heißt das aber nicht, dass ein einzelner Konzern schalten und walten kann wie es seinem Vorstand oder Kommunikationschef gefällt.
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Ähnlich wie man Schauspieler im Theater in einer eigenartigen Oszillation dafür feiert, dass sie sowohl in ihrer Rolle aufgehen als auch ihr den eigenen Stempel aufdrücken, so feiert man aus quasiprofessioneller Perspektive „smarte“ PR dafür, dass sie auf dem schmalen Grat zwischen Zielgruppen- und Organisationsperspektive wandelt. 7.
Eine reflexive Praxis? Die Definitionsmisere revisited und das Beobachterproblem Unter 1. stellte der Autor dar, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der PRund Kommunikationsmanagementpraxis mit zwei miteinander verwickelten Problemen zu kämpfen hat: Die PR-Lehre und die Lehre des Kommunikationsmanagements versucht, ein Berufsfeld gleichermaßen nach- wie auch vorauseilend zu verwissenschaftlichen, während sich das Feld in einem ständigem Fluss befindet. Der Autor versucht, das Problem durch eine Beobachtungsperspektive zu lösen, die einen Schritt zurücktritt und den unveränderten kleinsten, gemeinsamen Nenner fixiert. Public Relations und Kommunikationsmanagement stellen zunächst einmal „neutral“ soziale und professionelle Organisationspraktiken dar, welche in einem ständigen Definitions- und Redefinitionsspiel stehen. Zwar legt der Autor auch ein eigenständiges Verständnis von PR und Kommunikationsmanagement vor, seine Grenzen zieht er aber entlang der Achsen „richtig“ und „falsch“ respektive „gut“ und „schlecht“: Vieles „ist“ PR oder Kommunikationsmanagement, weniges ist gute und richtige PR respektive gutes und richtiges Kommunikationsmanagement, so wie es der Autor versteht, so wie es auch andere Autoren verstehen. a) Das Projekt der Professionalisierung PR und Kommunikationsmanagement derartig zu beschreiben, vernachlässigt jedoch einen weiteren Zusammenhang: dass das Feld als professionelle Organisationspraxis unter Bedingungen der Moderne auch eine reflexive Organisationspraxis darstellt. Die Praxis ist nicht nur Objekt der wissenschaftlichen Reflektion, sondern instrumentalisiert wissenschaftliche Reflektion auch, macht sie umgekehrt selbst zum Objekt. Das geschieht zum einen in einer Art und Weise, wie man sie bei nahezu jeder anderen Branche mit Ambitionen sieht, im Rahmen von Professionalisierungsstrategien. Röttger hebt das klar und deutlich heraus: Das Verhältnis der PR-Praxis zur PR-Forschung ist in hohem Maße widersprüchlich: Einerseits erfordern die Professionalisierungsstrategien des Berufsstandes wissenschaftlich fundiertes Wissen über das Tätigkeitsfeld. […] Andererseits hegen jedoch weite Teile des Berufsstandes Ressentiments gegenüber der PRForschung. (Röttger 2000, 109)
Das Projekt einer akademisch flankierten, wissenschaftlich abgesicherten „Professionalisierung“ verfolgen viele Praxisfelder. Gerade mit Blick auf Public Relations geschieht die Instrumentalisierung wissenschaftlicher Arbeit jedoch noch in einer anderen Art und Weise. Begreift man Public Relations neutral und weit, lässt sich die wissenschaftliche Betätigung professioneller Berufspraktiker jedweder Profession nämlich mit Fug und Recht als Öffentlichkeitsarbeit begreifen. Architekten, Ingenieure, Juristen, Mediziner oder eben PRPraktiker verfassen Artikel und Bücher, um sich oder ihr Büro, ihre Klinik, ihre Agentur beispielsweise als kompetent zu positionieren. So verstanden agieren auch Wissenschaftler manchmal in der PR-Logik. Berufswissenschaftlern lässt sich unterstellen, dass auch ihre
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Arbeit nicht von reinem Erkenntnisdrang, sondern in sehr viel größerem Maße von persönlichen Profilierungs- und Karrierestrategien getrieben ist – sie betreiben, und das ist ganz und gar nicht verwerflich, PR in eigener Sache. Wissenschaft und Öffentlichkeitsarbeit sind demnach Konzepte, die einander nicht ausschließen, weil sie sich nicht auf ein und derselben Ebene bewegen. b) Das „PR für PR“-Argument Dass in zahlreichen Berufsfeldern sowohl wissenschaftliche als auch Öffentlichkeitsarbeit stattfindet, Öffentlichkeitsarbeit durch wissenschaftliche Arbeit stattfindet, ist nicht neu. PR-Praktiker sind allerdings, anders als Architekten oder Mediziner, in ihrer eigenen Berufspaxis tätig, wenn sie PR in eigener Sache betreiben. Dies ist keine Spitzfindigkeit, sondern wirkt sich gravierend auf die Kultur der Rezeption wissenschaftlicher Arbeit in der Disziplin aus. Der Autor wagt die Vermutung, dass PR-Praktiker – ähnlich vermutlich wie Politiker und Manager – wissenschaftlichen Ergebnissen der Tendenz nach anders gegenüberstehen als Architekten oder Ärzte. Zugespitzt: Die Instrumentalisierung wissenschaftlicher Erkenntnis ist wesensimmanenter Bestandteil der PR-Arbeit. PR-Praktiker sind es gewohnt, wissenschaftliche Arbeit zu instrumentalisieren, um PR-Ziele und Unternehmensziele zu verwirklichen.25 Das ist bei Professionen, die in der Naturwissenschaft verwurzelt sind, anders. Die Rückwirkung auf die PR-Praktiker selbst, auf ihre Rezeptionskultur, bleibt nicht aus: Für viele PR-Praktiker, scheint es, ist Wissenschaft nicht der Versuch, ernsthaft und aufrichtig zu einem tieferen, gesicherteren Verständnis der eigenen Arbeit zu gelangen, sondern liefert das jeweilig en vogue befindliche Deckmäntelchen, welches der Praxis übergehängt wird. „In diesem Zusammenhang sind auch die Versuche zu sehen, Public Relations als eine wissenschaftliche Disziplin zu stilisieren“, polemisiert Schulz (2002, 518) daher gegen die PR-Theoriebildung: „Vieles, was über PR veröffentlicht wird, muss man als PR für PR abtun.“ L’Etang gelangt zu einem ähnlichen Schluss: „[…] scholarship is mixed up in the ‚PR for PR’ campaign“ (2008, 253). c) Das Testlabor der PR-Lehre ist die PR-Praxis: Reflexive Modernisierung „Zwei Merkmale haben den PR-Diskurs bestimmt: das Ringen um treffende Definitionen und die Führung des Diskurses aus der Praxis heraus bzw. in enger Anlehnung an die PRPraxis“, schreiben Bentele, Fröhlich und Szyszka, etwas vorsichtiger, in ihrem Standardwerk (2008, 93). Der Autor stimmt zu, würde aber nicht von einer Anlehnung an, sondern von einer Verwickelung mit der Praxis sprechen. Genauer: von einem reflexiven Zusammenhang, und zwar von einem, wie ihn Soziologen wie etwa Giddens oder Beck (vgl. Beck/Giddens/Lash 1996) als Charakteristikum der Moderne überhaupt diagnostizieren. Als für eine Beobachtungsstudie entscheidende Erkenntnis ist festzuhalten, dass die PRTheoriebildung derzeit einer Tatsache noch nicht genügend Rechnung trägt: So wie die moderne Gesellschaft gemäß Giddens’ Diagnose durch und durch „soziologisch“ ist (1996, 52ff.), so ist die PR-Praxis durch und durch „PR-wissenschaftlich“. In Konsequenzen der 25 Die „medizinischen“ Studien der Tabakindustrie, der es über Jahrzehnte gelang, die Gefahren des Rauchens zu verharmlosen, sind nur ein Beispiel. Derartige interessengetriebene Forschung aus der Wissenschaft herauszudefinieren führt in die Sackgasse, denn der entscheidende Aspekt ist nicht der „wahre“ erkenntnistheoretische Status, sondern der wahrgenommene sozial-gesellschaftliche.
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Moderne diagnostiziert Giddens als Charakteristikum der Moderne den im Prinzip simplen Zusammenhang: Das Wissen, das von beobachtenden Experten in Anspruch genommen wird, kehrt (teilweise und auf vielen unterschiedlichen Wegen) zu seinem Gegenstandsbereich zurück, den es damit (grundsätzlich, doch normalerweise auch in der Praxis) umgestaltet. (Giddens 1996, 62)
Was das bedeutet, ist, wie der Autor glaubt, von Seiten der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit PR und Kommunikationsmanagement noch nicht ausreichend erörtert worden.26 Es heißt nämlich: Das eigentliche Testlabor der PR-Wissenschaft, und hier ist sie mit der Managementlehre verwandt, ist die PR-Praxis. Und umgekehrt: Der Diskursmodus der PR-Praktiker untereinander und gegenüber Kunden und Lieferanten stützt sich oftmals, vermeintlich oder tatsächlich, auf wissenschaftliche Erkenntnis – übrigens das Charakteristikum der praxis gegenüber der practice. Mit der Rede davon, dass Public Relations und Kommunikationsmanagement professionelle Organisationspraktiken darstellen, geht also Hand in Hand, dass es sich um reflexive Organisationspraktiken handelt: Sie sind, wie bereits erwähnt, nicht lediglich Objekt der wissenschaftlichen Reflektion, sondern benutzen die wissenschaftliche Reflektion systematisch. Bei einem Berufsfeld mit einem Akademikeranteil von 80 Prozent (Bentele/Großkurth/Seidenglanz 2007, 57) ist das nicht ungewöhnlich. Es ist ferner nicht ungewöhnlich bei einer Berufspraxis, die erklärtermaßen das Überzeugen auf Basis von Argumenten, nicht Überreden auf Basis von Emotionen zum Kern hat, gleichwohl gerne mal mit dem einen oder anderen terminologischen „Dreh“ operiert. d) Praxis und Beobachtung Akzeptiert man das Postulat, PR-Arbeit als soziale Praxis zu rekonstruieren, gelangt man als wissenschaftlicher Beobachter zu drei Ebenen, die allesamt Ebenen der wissenschaftlichen Beobachtung bleiben. Die Ebenen der Beobachtung sind strikt von der „realen“ sozialen und organisatorischen Praxis zu separieren, in der der Praktiker selbst steckt, und die von Beobachter zu Beobachter unterschiedlich wahrgenommen und verstanden werden kann. Abbildung 14 vergegenwärtigt die Ebenen, wie sie für eine Beobachtungsstudie von Bedeutung sind. Auf der einen Seite ist Reflektieren zu sehen (Ebene I). Objektiv-explizite Theoriearbeit, theoretische Reflektion, wie sie die Wissenschaft leistet, ist der offensichtlichste und eindeutigste Fall echten Reflektierens – wenn sie auch gelegentlich ins Spekulieren abgleitet. Aber auch der Praktiker selbst ist in der Lage, einen Schritt zurückzutreten und das „Framing“ seines Jobs, wie es Mintzberg (1994) nennt, in Frage zu stellen. Im einen wie im andern Fall geht es aber um nichts anderes, als darüber zu nachzudenken, welche Mittel für welche Zwecke mit Blick auf welche übergeordneten Organisationsziele plausibel sind. Genauso wie ein Wissenschaftler in abstracto zu der Meinung gelangt, dass die existierende Theoriebildung der Praxis des Kommunikationsmanagements keinen Sinn macht, kann auch der Praktiker zu der Meinung gelangen, dass der konkrete Job wie er von und für ihn „geframet“ wurde, nicht plausibel ist. Der Wissenschaftler erarbeitet einen theoretischen Gegenentwurf, der Praktiker einen praktischen. Auf dieser Ebene, und keiner anderen, sind die inhaltlichen Ausführungen des Autors zu richtiger PR-Arbeit anzusiedeln. 26 Zur Rezeption der Giddens’schen „late modernity“ in der PR-Lehre vgl. etwa Röttger 2000; Falkheimer 2007; zur „Spätmoderne“ in der PR-Lehre übergreifender, im Überblick Holmström 2008.
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Es sind aber zwei verschiedene Perspektiven zu unterscheiden: Die erste Perspektive ist die olympische Perspektive, welche an der Rationalität der Praxis aus der Sicht eines „allwissenden“ Beobachters interessiert ist, eines Beobachters also, der nicht nur den Kenntnisstand von Akteur A hat, sondern auch den von allen anderen. Die zweite ist die Akteursperspektive, welche an den Problemen und Schwierigkeiten eines fokalen Akteurs, eines Kommunikationsmanagers, interessiert ist. Die erste Perspektive blendet die Limitierungen, Irrationalitäten und organisationsexternen subjektiven Motive des Akteurs zunächst einmal aus, die zweite Perspektive akzeptiert sie. Gegenstand des Reflektierens (Ebene II) im einen wie im anderen Fall ist die soziale Praxis, ist das Agieren, sind die subjektiv-impliziten working theories der verschiedenen konkreten Akteure – zuvorderst die PR-Praktiker selbst und die dominant coalition, darüber hinaus aber auch alle anderen, die an der Konstituierung der sozialen Praxis Public Relations, ihrer Funktion, ihres Sinns und Zweckes etc. beteiligt sind. Die entscheidenden Fragen sind hier, wieviel Einigkeit besteht oder welches Verständnis sich durchsetzt, wie erfolgreich es ist, welche Erwartungen, welche Vor- und Nachteile für die Organisation damit einhergehen etc. Drittens ist schließlich der kontinuierliche und dynamische Prozess ins Auge zu fassen (Ebene III), der die soziale Praxis verändert, und umgekehrt (vgl. auch grundlegend Cornelissen 2000, der drei Modelle unterscheidet: das Instrumental Model, das Conceptual Model, und das Translation Model). Der Prozess verändert sie über vier Kanäle: (1) Via Reflektion der Praktiker über sich selbst, seine Arbeit. Der Vorstandsvorsitzende sieht womöglich ein, dass PR so wie sie bisher getrieben wurde widersinnig ist. (2) Durch Rezeption objektiv-expliziter Theoriearbeit anderer. Wenn der Manager zu Clausewitz’ Vom Kriege greift, verändert sich seine Vorstellung von Strategie womöglich. (3) Dies insbesondere über ihren „Transmissionsriemen“ Aus-, Fort- und Weiterbildung. Der Manager, der ein Seminar über Kommunikations-Controlling besucht, kehrt womöglich mit neuen Ideen zurück. (4) Via den Diskurs einer professionellen community, die Vorstellungen und Erwartungen verändert, die mit Public Relations verknüpft sind. Wenn also der Vorstandsvorsitzende wieder und wieder von Vorständen anderer Unternehmen hört, dass dieses oder jenes Problem vom Kommunikationschef gelöst wurde, verändern sich womöglich seine Erwartungen an seinen eigenen obersten Kommunikationsverantwortlichen. Die soziale Praxis ist also kontinuierlicher Evolution, sporadischen Revolutionen unterworfen, welche sich sowohl in entsprechender Reflektion spiegelt als auch von theoretisch-praktischer Reflektion vorangetrieben wird. e) Subjektiv-implizite und objektiv-explizite Theorien: Mentale Modelle Abbildung 14 zeigt zwei verschiedene Typen von Theorien, subjektiv-implizite Theorien im Kopf des agierenden Praktikers, und objektiv-explizite, von außenstehenden, reflektierenden Beobachtern veröffentlichte. Prima facie liegt die Versuchung nahe, die Unterscheidung mit Benteles Differenzierung zwischen Alltags-, Praktiker- und wissenschaftlichen Definitionen (vgl. Bentele 1998) gleichzusetzen. Das trifft den Unterschied, wie ihn der Autor sieht, jedoch nicht vollständig. Wesentlich ist nicht, von wem die Theorie formuliert wurde, sondern in welcher Form sie vorliegt.
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Abbildung 14: Praxis-, Reflexions- und Diskursebene (Quelle: eigene Darstellung) Wissenschaftliche PR-Definitionen, um ein Beispiel zu nehmen, sind immer objektive, explizite Theorien darüber, was Public Relations ist und was nicht. Sie stellen sich dem Anspruch, umfassend, trennscharf und in sich widerspruchsfrei zu sein. Das Wichtigste aber ist: Sie sind sprachlich formuliert, sei es in einer natürlichen Sprache oder in einer Formelnotation. Sie sind demnach objektiv im Popper’schen Sinne (pointiert Popper 2006, 20ff.): objektiviert dadurch, dass sie „schwarz auf weiß“ fixiert sind – und durch die sprachliche Objektivierung einer kritischen Untersuchung zugänglich. Man muss weder etwas über James Grunigs Biographie noch etwas über Günter Benteles semiotische Arbeiten wissen, um ihre respektiven PR-Definitionen einer Beurteilung zu unterziehen. Die Definitionen bestehen aus den wenigen Worten, aus denen sie bestehen. Auch wenn es zum seriösen wissenschaftlichen Arbeiten gehört, den Kontext zu rezipieren, ist der normative Gehalt derartiger Definitionen im Prinzip auf Basis der zwei oder drei Sätze kritisierbar, der deskriptive Gehalt sogar, im Popper’schen Sinne, falsifizierbar. Der Prototyp subjektiv-impliziter Theorien spiegelt sich in Reaktionen wider, wie man sie gelegentlich von Praktikern hört, wenn man nach PR-Definitionen fragt: „Fragen Sie mich nicht, was PR ist. Ich bin seit dreißig Jahren im Geschäft.“ Die Antwort ist weniger ignorant und sehr viel richtiger, als man auf den ersten Blick glaubt. Denn der Praktiker deutet an, dass er durchaus über ein Verständnis davon verfügt, was Public RelationsArbeit ist, was richtig und falsch, was gut und was schlecht. Über dreißig Jahre hinweg hat sich das Verständnis aber einerseits sehr fein ausdifferenziert, andererseits ist es sehr stark in die Tiefe gesunken. Das Verständnis erschöpft sich nicht in wenigen Worten, besteht nicht aus zwei oder drei Sätzen. Es konstituiert sich aus cause maps, working theories, Schemata, Mustern und Routinen – aus Konstrukten der Kognition also, die teilweise be-
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wusst, teilweise aber unbewusst oder vorbewusst „greifen“. Freilich, auch jene Kognitionskonstrukte sind prinzipiell erforschbar und darstellbar. Mit seiner schroffen Antwort zweifelt der Praktiker jedoch an – und vermutlich zu Recht –, dass der Wissenschaftler an ebenjener tieferen und feineren Ebene interessiert ist, die der Praktiker selbst, ob implizit oder explizit, für den Kern der Sache hält. Im Gegenteil: Der Praktiker befürchtet – vermutlich zu Recht –, dass der Wissenschaftler den Versuch, die Kognitionskonstrukte zu verbalisieren, als einen objektiven Definitionsversuch im wissenschaftlichen Sinn missversteht. Insofern verwundert es nicht, wenn sich Praktiker in Interviews der Definitionsfrage verweigern: Sie sind es leid, zwischen zwei Stühle gesetzt zu werden. Die Auseinandersetzung mit subjektiven Theorien von Praktikern ist ein Zweig, der in der Managementlehre mit dem Werk von Raymond Miles über Theories of Management eine gesteigerte Bedeutung erfuhr (vgl. Schirmer 1992, 137ff.). Der Begriff der „subjektiven Theorie“ bei Miles differiert aber etwas von subjektiv-impliziten Theorien, wie sie der Autor begreift. Miles formuliert: What we are calling management theories are those concepts and views which the manager has acquired through reading, training and observation, and which he feels are rationally structured and for which he feels supporting evidence is available or could be collected. (Miles 1975, 33)
Der Begriff implizit deutet demnach an, dass der Autor das Gefühl des rationalen Strukturiertseins und die Überzeugung, dass es Belege für die Theorie gäbe, nicht zwingend voraussetzt. Für den Autor ist das entscheidende Kriterium, dass die Theorie wirksam, handlungsleitend ist. Der Autor stellt damit Anschluss her an die Überlegungen bei Argyris und Schön (Argyris 1976; Argyris/Schön 1978; Argyris 1983), die zwischen unbewussten, eben impliziten theories-in-use und bewussten, expliziten espoused theories differenzieren, und die größere „verhaltensprägende Kraft“ (Schirmer 1992, 187) den impliziten, unbewussten zuschreiben, dem „tacit knowledge“ (Polanyi 1967). Der Begriff der Theorie, das nimmt der Autor vorweg, suggeriert jedoch ein propositionales Verständnis: als habe der subjektive Theoretiker, sei es bewusst, vor- oder unbewusst, Wenn-dann- oder Je-destoSätze im Kopf. Der Autor möchte die Rede von subjektiven Theorien deshalb ersetzen durch die von mentalen Modellen. Mentale Modelle, argumentiert der Autor unter Rekurs auf entsprechende kognitions- und neurowissenschaftliche Forschung (vgl. insbesondere die Arbeiten Johnson-Lairds), liegen eben nicht in propositionaler, satzhafter, sondern in einer quasiräumlichen Form vor, die es gestattet, sie zu drehen und zu wenden und ähnlich wie Simulationsmodelle anzuwenden, eine Simulation „durchlaufen“ zu lassen. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit mentalen Modellen erfolgt unter D. Dem Autor ist es aber wichtig vorwegzunehmen, dass er die ungeheure Vielfalt von Konzepten, die in der Organisations- und Managementtheorie vorgeschlagen wurden – seien es Skripte, Schemata, cause maps oder kognitive Landkarten (vgl. zusammenfassend Schirmer 1992, 148ff.) – unter dem Begriffsdach mentale Modelle zusammenfasst.
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III)
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Gang der Untersuchung, Überblick und Begriffe
Der Autor stellte seine ersten wichtigen Resultate aus Theorie- und Feldarbeit bereits in der Einleitung vor, weil sie, in der spiralförmigen Forschungslogik, zugleich axiomatischen Charakter tragen. Dass die Unternehmensfunktion Kommunikation als ein funktionales Netz, als eine Interessen-, Kräfte- und Machtkonstellation im Management Game existiert, und zwar mit einem ähnlichen Skopus, wie das in der Literatur theoretisch identifiziert wird, vermag der Autor nicht zu beweisen. Genauso wenig vermag er zu beweisen, dass der ehemalige PR-Chef, jetzt Kommunikationsmanager, in diesem Spiel lediglich mitspielt, anstatt es als Spielleiter zu verantworten – und ebenso wenig, dass es die tatsächliche Verantwortung für die PR-Funktion ist, in Spielleiter-Rolle, welche den Zugang zu der unternehmenspolitischen Arena verschafft. Nicht einmal seine Vermutung, dass das Spiel ein anderes ist, sobald man in die politische Arena einsteigen muss, um seiner Verantwortung gerecht zu werden, sobald man ein Manager ist, vermag der Autor tatsächlich zu beweisen. Es handelt sich um Thesen, die sich einerseits aus der Beobachtung heraus entwickelt, andererseits die Beobachtung gefärbt haben. 1. Gang der Untersuchung: Überblick Der grobe Gang der Untersuchung ist einfach: Teil B skizziert die Feldarbeit, wobei zunächst einmal die Tradition der akteurszentrierten empirischen Managementforschung (B.I), dann die Vorbildstudie von Henry Mintzberg (B.II), dann die eigene Herangehensweise kritisch diskutiert wird (B.III). In Teil C greift der Autor das Konzept von der Unterwerfung unter die Managementlogik auf, wobei das, wo angebracht, unter Verschränkung von Theorie- und Feldarbeit geschieht. In Teil D greift er das Konzept des Management Games auf, abermals unter geeigneter Verschränkung von Theorie- und Feldarbeit. Obwohl bereits unter A Ergebnisse der Beobachtung herangezogen wurden und das auch unter C und D geschieht, verschiebt sich der Fokus mit Teil E dann vollends auf die Beobachtungsstudie, insbesondere rückt das „quantitative Skelett“ der Feldarbeit ins Blickfeld. Teil F stellt das Resümee dar. Wie bereits angerissen wurde, ist die Arbeit nicht als Überblickswerk über anderweitige Forschung angelegt. Dem Autor geht es darum, eine möglichst in sich geschlossene, eigenständige Argumentation vorzulegen. 2. Struktur der Argumentation und Klarifizierung zentraler Konzepte Nach der Darstellung des groben Ganges der Untersuchung möchte der Autor die Argumentationslinien noch etwas feiner aufzeigen – insbesondere ist es ihm wichtig, die wesentlichen Begriffe in den Hauptteilen A, B, C und D vorweg anzusprechen und zu erläutern. Da es sich um „große Begriffe“ handelt, die von anderen Autoren etwas anders verwendet werden, könnte es zu Missverständnissen und Verständnisschwierigkeiten kommen.
III .Gang der Untersuchung
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Teil A) Practice und Praxis, Praxis und Praktiken Die Untersuchung nahm in Teil A ihren Ausgang von der Feststellung, dass der Begriff des Kommunikationsmanagements wie selbstverständlich für moderne, zeitgemäße Public Relations verwandt wird, bei näherer Betrachtung aber vage und diffus bleibt. Wo genau die Zusammenhänge und wo genau die Unterschiede zwischen PR respektive PR-Arbeit auf der einen, Unternehmenskommunikation und Kommunikationsmanagement auf der anderen Seite liegen, ist nicht befriedigend geklärt. Die Klärung, die der Autor vorschlug, sah wie folgt aus: Erstens postulierte er, dass Kommunikationsmanagement in einem Evolutionssprung aus Public Relations hervorgegangen ist (Verschiebungsthese). Zweitens postulierte er, dass es nur gelingt, zu einem adäquaten Konzept von PR und Kommunikationsmanagement zu gelangen, wenn man einen Schritt zurücktritt, beides zunächst einmal als soziale Praxis in Organisationen begreift, die sich ihren konkreten Zweck, ihre konkreten Ziele und konkreten Mittel in einem sozialen Definitions- und Redefinitionsprozess selbst setzt. Drittens, und in Spannung zu Zweitens, postulierte der Autor, dass der Prozess der Definition konkreter Zwecke, Ziele und Mittel nicht beliebig ist. Er steht in einem Gravitationsfeld, welches durch die Logik und Rationalität einer über Jahre und Jahrzehnte gewachsenen professionellen Praxis in Organisationen wirkt. Der Evolutionssprung von Public Relations zu Kommunikationsmanagement lässt sich dann, wenn dieser Rahmen einmal gezogen ist, als eine Verschiebung der Logik und Rationalität begreifen. Von Kommunikationsmanagement ist demnach zu sprechen, wo der oberste PR-Verantwortliche mehr und mehr im Rahmen der Kommunikationsfunktion im unternehmenspolitischen Spiel, im Management Game mitspielt. Das führt, wie der Autor glaubt, wiederum geradezu notwendig dazu, dass er sein Agieren mehr und mehr der Managementlogik unterwirft – sei es bewusst, vorbewusst oder unterbewusst.Der entscheidende Begriff in Teil A ist der Begriff der Praxis. Ausführlich wurde erörtert, wie ihn der Autor versteht. Er bleibt aber in einem Punkt missverständlich, weil er im Englischen mit practice oder mit praxis zu übersetzen ist, in der deutschen Sprache böte sich auch Praktik, Praktiken an. In der englischsprachigen Literatur unterscheidet man gewöhnlich zwischen practice und praxis. Practice rekurriert dabei auf die Praxis in Kontrast zu Theorie, praxis rekurriert auf eine practice, die theoretisch gestützt und forschungsgetrieben ist, wie z. B. die ärztliche Praxis (für eine Diskussion vgl. Tyma 2008): Der Autor macht die Unterscheidung nicht am Begriff der Praxis/Praktik selbst fest, sondern an der Qualifizierung einer sozialen, professionellen und einer Organisationspraxis. Die Qualifizierung ist es, die die gemeinte und behandelte Praxis von simplen Praktiken unterscheidet: wie etwa, dass Schimpansen Termiten mit einem Stock aus einem Bau angeln. Der Autor spricht also der Einfachheit halber singularisch von der Praxis, im Plural von Praktiken. Von Organisationspraktiken zu reden, hat für den Autor nicht die Konnotation, dass es sich um Handlungsweisen und Verhaltensmuster handelt, die man nicht „offiziell“ findet, die „dubios“ sind. Teil B) Das quantitative Skelett, qualitative Anekdoten und Episoden Der letzte Hauptteil, Teil E, verschränkt die Ergebnisse des quantitativen Skelettes der Beobachtungsstudie mit den Anekdoten und Episoden aus der Feldphase einerseits, mit der theoretischen Arbeit andererseits. Der Status der Daten des Skelettes, das muss klar und eindeutig gesehen werden, ist ein stützender: die Zahlen und Prozentwerte an sich „beweisen“ nichts. Erst in der Zusammenschau mit der Theorie gelangt man zu einer Interpretation und es lässt sich die Frage stellen, ob und inwieweit die Interpretation plausibel ist. Unter B
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diskutiert der Autor deshalb die methodischen und methodenkritischen Aspekte von Beobachtungsstudien in der Managementforschung. Der Autor stellt sich in eine Tradition, welche die bereits mehrfach erwähnte qualitative, spiralförmig einkreisende, mit rich points und scraps of evidence arbeitende Forschungsarbeit in ihrem eigenen Recht begreift und nicht zum „Notbehelf“ herabwürdigt. Um das Konzept der Rollen, Tasks und Jobs, wie es unter B, D und E sukzessive entwickelt wird, der Anlage der Arbeit entsprechend zu verstehen, ist es demnach entscheidend zu sehen, dass der eigentliche Erkenntnisgewinn nicht in der Ausbuchstabierung einzelner Jobs, Rollen und Tasks liegt. Der Autor ist zwar der Meinung, dass etwa die Rollen des „rumpelnden Handwerksmeisters“ oder „des leisen Propheten“ ein interessantes Licht auf den Job eines Direktors Unternehmenskommunikation werfen und Beispiele liefern, welche Konflikte wie aufgelöst werden – er gesteht aber zu, dass die Rekonstruktion der Rollen und Tasks zuvorderst eine subjektive ist; ein anderer wissenschaftlicher Beobachter hätte sie womöglich etwas anders rekonstruiert. Die Subjektivität ist aber nicht von großer Bedeutung, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Stoßrichtung des Autors nicht die ist, einen abschließenden Katalog von Rollen und Tasks zu entwickeln. Die Stoßrichtung ist es, die Akteure selbst respektive nachrückende Generationen anzuregen, ihr eigenes Verhalten über das Konzept der Rollen und Task zu begreifen – und sich die Frage zu stellen, inwiefern ihre Rollensets eine wohlgeformte Konstellation darstellen, inwiefern ihre Tasks sich zu einem wohlgeformten Job runden. Teil C) Logik, Rationalität und Habitus Unter C geht der Autor dem ersten Schlüsselbegriff mit der Frage nach, was unter der Unterwerfung unter die Managementlogik zu verstehen ist. Der Teil beginnt mit einer historischen Spurensuche, aus welcher einerseits die PR-Logik, der PR-Habitus (I.), andererseits die Managerlogik, der Managerhabitus herausgearbeitet werden (II). In III. zieht der Autor die Ergebnisse zusammen und erörtert die Frage der Synthese von PR-Habitus und Managerhabitus in einer wohlgeformten Praxiskonstellation. Der Begriff des Habitus ist in der sozialwissenschaftlichen Terminologie mit dem umfangreichen Werk Pierre Bourdieus (in deutscher Sprache etwa 1982; 1987; 1992; 1993; 1998) verknüpft, obwohl sich der Begriff, wie Raabe (2005, 180ff.) in seiner Auseinandersetzung mit der Theorie der Beobachtung in der Journalistik geltend macht, bereits bei verschiedenen Philosophen, Soziologen und Sozialtheoretikern findet, etwa bei Hegel, Durkheim, Weber, Husserl, Dewey (habit), Berger und Luckmann etc. Freilich ist es Bourdieu, der die Begrifflichkeit zum Ankerpunkt einer sozialtheoretischen Konzeption macht (zum Begriff des Habitus und auch des Feldes in der PR- und Managementtheorie vgl. jüngst Ihlen 2009). Macey (2001, 175) zeichnet nach, dass der Terminus in Bourdieus früheren Werken sowohl körperliche als auch geistige Haltungen meinte, in Bourdieus späteren Werken aber immer lockerer und offener gebraucht wurde, um die unbewusste Internalisierung sozialer Strukturen zu erfassen, die das Subjekt selbst als natürlich und spontan empfindet, die de facto aber kulturell konditioniert sind. Bourdieu gebraucht das Konzept also, um eine Haltung (attitudinal disposition), um Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata zu bezeichnen. Ähnlich, aber sehr viel einfacher, gebraucht der Autor den Begriff: der Manager- und PR-Habitus sind die Geisteshaltungen, aber eben auch das Auftreten und das Selbstverständnis, welches die jeweiligen Praktiker als ganz und gar selbstverständlich empfinden, ganz und gar natürlich in Anspruch nehmen. Der Begriff der Logik, oder auch der Rationalität, ist eng und unauflöslich mit dem Habituskonzept als Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschema verknüpft. Zu
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simplen Interpretationen, die postulieren, dass der Mensch für alle Zeiten in „unhintergehbaren“ Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata „gefangen“ ist, tritt der Autor jedoch entgegen: Die Fähigkeit, die eigene Rationalität zu hintergehen und als eigene, bisweilen idiosynkratische „Logik“ auszumachen, ist zwar begrenzt, aber sie ist gegeben. Sie ist insbesondere gegeben aus zwei Gründen, die wiederum miteinander zusammenhängen. Da der Mensch sich als konstanter Akteur in Raum und Zeit erlebt ist er systematisch in der Lage, die zu einem früheren Zeitpunkt gehegten eigenen Überlegungen und damit einhergehenden Erwartungen zu einem späteren Zeitpunkt retrospektiv zu vergleichen mit der Richtigkeit der eigenen Erwartungen und der damit einhergehenden Richtigkeit der Überlegungen. Und da der Mensch in der Lage ist, Einblick in seine eigene Geisteswelt zu geben, seine Innenwelt mit anderen zu teilen, ist er auch in der Lage, derartige Erfahrungen weiterzugeben: Der Mensch lernt, dass andere anders denken – und er ist insbesondere daran interessiert, von denjenigen denken zu lernen, die erfolgreich handeln. Teil D) Lebenswelt, System, Funktionslebenswelt, Management Game Unter D setzt sich die Arbeit mit dem Management Game, dem unternehmenspolitischen Spiel, dem zweiten Schlüsselbegriff der Arbeit auseinander. Die Arbeit holt dazu weit aus, erörtert die Konzepte der Lebenswelt und des Systems, um das der Funktionslebenswelt einzuführen und darüber zu einem Verständnis des Management Games zu gelangen. Weshalb die Arbeit derartig ausholt, hat seine Begründung in der „Hemdsärmeligkeit“ der Mintzberg-Studie. Im methodischen und methodenkritischen Teil B beklagt der Autor, dass es Mintzbergs Shadowing-Studie, dass es der akteursbezogenen Forschung insgesamt an theoretischer Fundierung mangelt. Die Akteure, mit denen man in der akteursbezogenen Forschung in PR- und Managementlehre zu tun hat, sind oft recht einfach gestrickte Zeitgenossen, die in einer recht einfach gestrickten Welt recht einfach handeln. Oft sind Akteur und Welt derartig simpel konstruiert, dass sich Kommunikation gar nicht als heikel und riskant herausarbeiten lässt. Die ausführliche Erörterung von Lebenswelt, System und Funktionslebenswelt unter D stellt den Versuch dar, die eigene Studie vor ähnlichen Vorwürfen zu bewahren. Der Sinn und Zweck des Teils D ist also der, der Arbeit methodisch und material ein geeignetes theoretisches Fundament zu geben. Es gilt also sowohl Management und Kommunikationsmanagement in der theoretischen Konzeption zu verorten als auch die Beobachtung von Management und Kommunikationsmanagement. Das geschieht in drei Schritten: Erstens entwickelt der Autor auf Grundlage des neurobiologisch fundierten Konstruktivismus eines Gerhard Roth ein Akteurs- und Lebensweltkonzept, welches menschliches Handeln, insbesondere menschliches Sozialverhalten, als unauflöslich mit kognitiven Spezifika verschränkt ausarbeitet. Der Autor postuliert, dass der Organismus Mensch in letzter Konsequenz nicht in der Realität, sondern in seiner eigenen, aber doch mit anderen geteilten Lebenswelt lebt, in der er eine Konstellation zu „erobern“ versucht, die ihm sein „Überleben“, insbesondere sein soziales Überleben (Standing) sichert; dies „erlebt“ der Mensch als sinnhaftes, bedeutungsvolles Handeln, als Verwirklichung seines Willens (I.). Zweitens entwickelt der Autor in einem systemtheoretischkybernetischen Zwischenspiel den Gedanken, dass Systemtheorie und Kybernetik eine Perspektive bereitstellen, von welcher aus Akteure, vor allem aber wissenschaftliche Beobachter in die Lage versetzt werden, Zusammenhänge zu verstehen, welche sie ansonsten, auf Basis ihrer sozial-kognitiven „Grundausstattung“, nicht verstehen würden. Das Problem in hyperkomplexen spätmodernen Gesellschaften ist ja, dass der Lebensweltzusammenhang
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A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
sich fragmentiert, dass die Lebenswelt einzelner Individuen eingebettet und durchwirkt ist von System-, zumindest aber systemischen Zusammenhängen (II.). Drittens stellt der Autor seinen Akteur dann in die systemischen Zusammenhänge, welche für Kommunikationsmanagement von besonderem Belang sind: soziale, professionelle Praxis, Organisationen und Institutionen (III.). Ähnlich wie das Habermas (vgl. TdKH II, VI.) mit seinem Systembegriff tut, ähnlich wie das Theoretiker wie Giddens (1986), Schimank (2000), Münch (vgl. 1996, 86-88) oder Hejl (1982) mit ihren jeweiligen Systembegriffen tun, sieht der Autor gleichzeitig sowohl intentionale Akteure und sinnvolle Handlungen als auch komplexe, für das Subjekt fragmentierte Zusammenhänge. Lebenswelt und System, Kultur und Prozess, Funktion und Mensch sind in der Akteur-im-System-Perspektive, welche unter A.II.3 aufgezeigt wurde, unauflöslich miteinander verwickelt. Den Begriff der Lebenswelt verwendet der Autor eher wie er in der phänomenologischen Philosophie von Edmund Husserl (KdEW) ausgearbeitet, dann von Alfred Schütz (Schütz 1974; Schütz/Luckmann 1974) weiterentwickelt wurde, und wie er auch in der Theoriebildung der St. Galler Managementschule zu Unternehmenskommunikation eine große Rolle spielt (vgl. Schmid/Lyczek 2006): als die Wirklichkeit, in der jedermann für sich und gemeinschaftlich lebt, denkt und handelt. Das ist auch der Begriff, wie er von Mittelstraß (1974) im methodischen Konstruktivismus wieder aufgegriffen wurde. Der Autor verwendet den Begriff also subjekt- nicht interaktionsbezogen, insofern anders und einfacher als in der Analyse von Jürgen Habermas (vgl. TdKH II, VI). Die Lebenswelt ist für den Autor die Sphäre, in der Menschen, vereinfacht gesagt, verstehen, was um sie herum geschieht. Die Lebenswelt tritt uns als vertraut und selbstverständlich, bevölkert von Menschen, Mitmenschen, Mitbürgern gegenüber. Die Lebenswelt ist nicht zwangsläufig heimelig, sie mag belastend sein, wenn sie von unangenehmen Zeitgenossen bevölkert ist – aber sie ist nicht ominös. Der komplementäre Begriff, der der Lebenswelt als NichtLebenswelt gegenübersteht, ist das „System“ im alltäglichen Wortgebrauch. Der moderne, spätmoderne Mensch sieht ja durchaus, dass die Welt sich jenseits seiner eigenen Lebenswelt nicht im Nichts verliert, sondern dass seine Lebenswelt durchdrungen und überlagert ist von komplexen sozialen Systemen, die er vage und diffus zu identifizieren vermag, die er aber nicht versteht, nicht als vertraut und selbstverständlich erlebt. Ob die Systeme im ontologischen Sinne existieren wie das Subjekt existiert, ist eine interessante Frage, entscheidend ist aber, dass das Subjekt die Systeme als „wirkend“, „durchgreifend“ erlebt. Das gilt ganz besonders im außerplanmäßigen Fall: Ein erfahrener Reisender erlebt einen gewöhnlichen, ereignislosen Flug in die USA nicht als ominös; wenn er aber nach Neufundland umgeleitet wird, zuerst die Sorge auf den Gesichtern der Stewardessen sieht, schließlich auf einer eisigen Militärbasis notlandet, dann erlebt er das „Ausgeliefertsein“ an das System mit seinen Zwängen, erlebt er auch die Fassadenhaftigkeit des Vertrauten. Der Wissenschaftler, welcher versucht, sich sozialen Systemen, etwa Organisationen oder Institutionen systemisch oder systemtheoretisch zu nähern, versucht Systeme als Systeme wenn nicht zu verstehen, so doch zu erklären, zu rekonstruieren – und ohne Zweifel hat eine derartige Perspektive unser Verständnis der spätmodernen Welt um uns herum erweitert. Im Versuch, den Begriff des Systems immer präziser zu definieren, darf jedoch nicht außer Vergessenheit geraten, dass in Organisationen Menschen (sei es als Rollen oder Personen) arbeiten, denen das, was andere von außen als ominöses System erleben, ganz und gar nicht als ominös, sondern als vertraute und selbstverständliche Arbeitswelt gegenübertritt. Das führt den Autor, in Abgrenzung von dogmatischen systemtheoretischen Rekonstruktionen,
III .Gang der Untersuchung
113
zur Rede von einer Funktionslebenswelt: eine Welt, in der Systemlogik und MenschlichAllzumenschliches sich berührt. Das Management Game stellt dafür ein Beispiel par excellence dar, weswegen der Autor es auch aus dem Konzept der Funktionslebenswelt heraus entwickelt. Alles in allem versteht sich die theoretische Fundierung unter D weder als system- noch handlungstheoretisch, verweigert sich entsprechenden dogmatischen Debatten, wie um die angebliche, angeblich erst vor einem Jahrzehnt, durch Theorien wie die Giddens’sche Strukturationstheorie aufgelöste „Frontstellung“ zwischen Akteurs- und Systemtheorie. Die Arbeit, ließe sich sagen, versteht sich als gleichermaßen soziologisch wie verhaltens- und kognitionswissenschaftlich, anthropologisch oder neurobiologisch zusammengesetzt – in letzter Konsequenz ist sie philosophisch fundiert. Der Autor geht, wenn er soziologische Analysen wie etwa die von Giddens (1986) anführt, selbstverständlich davon aus, dass die Gesellschaft Erleben und Verhalten des Menschen stark prägt; er geht aber, etwa mit neurobiologischen Analysen von Gerhard Roth (1997, 2003), anthropologischen von Michael Tomasello (2006) und konstruktivistisch-systemtheoretischen von Peter M. Hejl (gedrängt dargestellt in Hejl 2008) genauso davon aus, dass die soziale Natur des Menschen bereits genetisch im Individuum veranlagt ist. Deshalb spielt unser Gehirn uns gerade hier so häufig Streiche. Roth formuliert: Die gesellschaftliche Natur des Menschen ergibt sich aus seiner (neuro-)biologischen Natur und nicht umgekehrt, und deshalb ist die gesellschaftliche Natur des Menschen ohne die (neuro-)biologische nicht verständlich. Nur weil der Mensch über angeborene Mechanismen verfügt, die ihn biologisch, psychisch und kommunikativ an andere Menschen binden, gibt es eine menschliche Gesellschaft. (Roth 2003, 12f.)
Aus der Biologie selbst folgt also, dass die Reduktion auf die Biologie falsch ist, zu kurz greift. Gerade weil der Mensch ein soziales Wesen ist bzw. sich zu einem sozialen Wesen entwickelt hat, muss er, um sich selbst zu verstehen, nicht nur über seine Biologie, sondern auch über seine Psyche, sein Erleben und Verhalten, seine Kommunikation, Gemeinschaft und Gesellschaft reflektieren. Dies muss er aber als Mensch tun, in Kenntnis der neurobiologischen Zusammenhänge, die ihn zum Menschen machen. 3. Randbemerkungen, das Verständnis der Arbeit erleichternd Es ist ein verführerischer Gedanke, davon auszugehen, dass das Denken und Handeln von Führungskräften in der Organisation ein völlig anderes ist als außerhalb der Organisation, etwa gegenüber Journalisten – und dass sich beide Denk- und Handlungswelten strikt vom Privatleben scheiden ließen. Ebenjener Gedanke ist es, der sich in Darstellungen spiegelt, die eine organisationsinterne und eine organisationsexterne „Welt“ separieren und die Kategorie des privaten, zwischenmenschlichen entweder außen vor lassen oder in Geklüngel, Mikropolitik, Intrigen, „second jobs“ (Deal/Kennedy 1982) oder Networking abdrängen. Eine oder mehrere Welten: Der Nimbus der Professionalität Wenn der Autor eine Funktionslebenswelt postuliert, dann zieht er die Grenze etwas anders: Grundsätzlich glaubt der Autor, dass die unter D entwickelten Konzepte der Inszenierung, des „existenziellen Dreikampfes“ jederzeit und allerorten im Prinzip gleich angewandt werden, dass die Schwerpunkte aber anders liegen. Das Privatleben ist kein ganz und gar entzogener, geschützter Ort, an welchem wir „wir selbst“ sind: Im privaten Bereich wenden wir genauso Strategien der Selbstinszenierung an, womöglich aber weniger, mit
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A) Public Relations goes Kommunikationsmanagement?
anderen Zielen. „Die Firma“ oder ihr Managementzirkel ist keine verschworene Gemeinschaft von „Old Boys“, die nach innen Geborgenheit gibt, gegenüber „dort draußen“ wie Pech und Schwefel zusammenhält. Sie ist umgekehrt aber auch kein „Haifischbecken“, in welchem jede „Blöße“ sofort zu einer Ausnutzung führt. Kommunikationsmanager zeigen Loyalität und Disloyalität gegenüber Journalisten oder Kooperationspartnern genauso wie sie sie gegenüber Kollegen oder Freunden zeigen, nur dass die Maßstäbe andere sind. Der Nimbus der Professionalität – die Annahme, dass Manager im professionellen Bereich ganz anders agieren als „normale“ Menschen im „normalen Leben“ – macht es schwerer denn leichter, die Arbeit von Führungskräften zu verstehen. Es gilt, dem Nimbus gegenüber einen Schritt zurückzutreten, um die Leistungen der normalen, aber doch nicht normalen Personen zu würdigen. Das trifft übrigens auch für den Wissenschaftler als Beobachter zu: Auch er ist in letzter Konsequenz eine normale Person und nicht frei von dem Druck, „gute“ Resultate zu bekommen, „gemocht“ zu werden, professionell zu sein – dieser Nimbus ist auch Gegenstand der methodischen und methodenkritischen Erörterung unter B. Von der kritischen Management- und PR-Theorie inspiriert, aber nicht motiviert Die Forderung des Autors, einen Schritt zurückzutreten und Grundannahmen und stillschweigende Voraussetzungen zu erörtern, klingt verdächtig nach der Agenda der kritischen Managementtheorie, welche mehr und mehr unter dem Label kritische PR-Theorie27 auch Einzug in die PR-Lehre findet – ganz abgesehen davon, dass sich zumindest durch die deutschsprachige akademische Diskussion schon immer eine PR-kritische Strömung zog (vgl. etwa Kunczik 2002; Westerbarkey 2004). Um Missverständnisse zu vermeiden, betont der Autor jedoch, dass die vorliegende Arbeit der kritischen Management- und PR-Theorie viel verdankt, sich jedoch nicht vollumfänglich in ihrer Tradition stehend sieht. Der Grund ist sehr einfach: Die Arbeit sieht sich als Versuch, das Verständnis von Kommunikationsmanagement und damit das Selbstverständnis von Kommunikationsmanagern zu schärfen, um ihnen zu helfen, ihren Job besser und erfolgreicher zu machen. Inspiration vs. Eklektizismus und der Nimbus der Professionalität revisited Der Nimbus der Professionalität zum einen, die Inspiration durch eine kritischpostmoderne, oft aber auch „verspielte“ Theorie zum anderen, führt den Autor zu einem letzten Punkt: Eklektizismus. Der Autor gesteht zu, dass er in seiner Arbeit von vielen verschiedenen Autoren inspiriert war. Es handelt sich um Autoren, die zum Teil sehr verschiedenen Theorietraditionen zuzurechnen sind, es ist keine Mintzberg’sche, Popper’sche, Luhmann’sche, Habermas’sche oder Giddens’sche Arbeit. Da die vielen verschiedenen Autoren natürlich Berührungspunkte haben, ist es verführerisch, nach einer versteckten „Linie“ zu suchen, einen roten Faden aufzuzeigen, aber das hieße, den Nimbus der Wissenschaftlerprofessionalität zu befördern, den der Autor bei Managern zu dekonstruieren wünscht. Der Autor ist eine normale Person mit einer Lese-, Verstehens- und Denkbiographie, mit Vorlieben, Abneigungen und Beschränktheiten – wenn man ihn erhebt, ist der Vorwurf des Eklektizismus durch keinen Kunstgriff auszuräumen.
27 Für einen frühen Überblick Mickey 1997. Vgl. ferner auch Holtzhausen (2000; 2002), die Arbeiten von L’Etang (etwa 2008), L’Etang/Pieczka (2006) und Wehmeier (2006). Vgl. auch jüngst den Versuch von Tyma (2008), kritische Praxis und Excellence Theory in Übereinklang zu bringen.
B)
Methode und Methodendiskussion – PR Research goes Management Research?
„Begonnen habe ich im März 1978, getrieben von einer vagen Idee: Ich hatte den Drang, einen Mönch zu vergiften. Ich glaube, Romane entstehen aus solchen Ideenkeimen, der Rest ist Fruchtfleisch, das man nach und nach ansetzt“, schreibt Umberto Eco (1986), und meint die Inspiration, die ihn zu Der Name der Rose trieb. Ohne die vorliegende Arbeit mit Ecos postmodernem Meisterwerk vergleichen zu wollen, gesteht der Autor, dass es sich mit seiner Inspiration ähnlich simpel verhält: „Sowas würde ich auch gerne machen“, war der Gedanke, als er zum ersten Mal von Mintzbergs Shadowing-Studie las. Natürlich folgte dem Impuls eine Vertiefung in die akteursbezogene Forschung in der Managementlehre und PR-Lehre sowie in benachbarte Disziplinen, wo Rühl schon 1969 Monate in einer Redaktion zugebracht hatte (21979), um Journalismus als soziales System zu beschreiben.28 Natürlich kam wieder und wieder die Besorgnis, dass die simple Frage, was Kommunikationsmanager eigentlich tun, keine tragfähige sei. Und natürlich kam die Erkenntnis, dass die Dinge heutzutage komplizierter sind als zu Mintzbergs Zeiten – nicht, weil der Job des Managers komplizierter ist, sondern der des systemisch-konstruktivistisch aufgeklärten Wissenschaftlers. Aber ebenso natürlich blieb die Inspiration bestehen: „So was Ähnliches wie Mintzberg machen.“ Und ebenso natürlich kolorierte die Inspiration die Rezeption anderer Studien, anderer Modelle, anderer Resultate. Henry Mintzberg, seiner Shadowing-Studie, gebührt also eine privilegierte Stellung. Deswegen ist Mintzbergs Studie, neben der eigenen, auch die einzige, die der Autor en detail beschreibt. Was der Autor mit seiner Sparsamkeit vermeiden möchte ist, dass sich die Arbeit zu einem Überblickswerk über die akteurszentrierte Forschung in Management- und PR-Lehre oder gar zu einem Methodenhandbuch entwickelt. Gerade in der Managementlehre ist die akteurszentrierte Forschung derartig heterogen und disparat, dass eine Darstellung der vielen verschiedenen Arbeiten in ihrem eigenen Recht vom Ziel der Arbeit abführt (ein Überblick bei Schirmer 1992). Und das Ziel der Arbeit ist es, ein eigenständiges, in sich geschlossenes Verständnis von Kommunikationsmanagement, präziser gesagt: Kommunikationsmanager-Sein, in einer zusammenhängenden Ausarbeitung zu entfalten. Freilich nimmt der Autor in Anspruch, sich bei seiner Argumentation auf Forschungsarbeit zu stützen. Die Anekdoten und Episoden, die er bereits anführte, stammen aus einer Beobachtungsstudie, die der Autor als ein wissenschaftliches Verfahren deklariert. Insofern ist es erforderlich, eine zielgerichtete und problemorientierte Auseinandersetzung mit dem eigenen Verfahren vorzulegen, und dazu gehört auch, sich mit anderen, ähnlichen Arbeiten auseinanderzusetzen. Das geschieht aber nur insoweit, wie es hilft, die Studie des Autors 28
Vgl. Rühl 1979. Für einen Überblick über die Beobachtung journalistischer Akteure vgl. jüngst Raabe 2005.
H. Nothhaft, Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis, DOI: 10.1007/978-3-531-92671-1_2, © VS Verlag fuሷr Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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B) Methode und Methodendiskussion
von ihrer Methodik zu verstehen. Wo der Autor der Meinung ist, dass die Resultate der eigenen Studie in aufschlussreicher Art und Weise mit Resultaten anderer Studien verglichen werden können, geschieht das. Andere Arbeiten ausführlich und in ihrem eigenen Recht zu diskutieren, das lenkt vom Verständnis der vorliegenden Arbeit und von der Argumentation ab. Von entscheidender Bedeutung ist, die Grundstrukturen und Entwicklungslinien herauszuarbeiten, aus welchen sich die Forschungsarbeit des Autors entwickelt. Dabei handelt es sich, erstens, um die akteurszentrierte empirische Managementforschung, welche der organisationsbezogenen analytisch-funktionalen Tradition gegenübersteht: ihre Konstrukte und ihre Probleme sind unter I. zu diskutieren. Zweitens gilt es, Mintzbergs Shadowing-Studie einer genauen Betrachtung zu unterziehen und die Methodik freizulegen, mit welcher Mintzberg zu seinen Resultaten gelangt – das geschieht unter II. Drittens ist schließlich, in klassischer Art und Weise, die Anlage der eigenen Studie zu erörtern, wozu auch eine Gegenüberstellung von quantitativer und qualitativer Sozialforschung gehört – das geschieht unter III.
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
I)
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Die akteurszentrierte Managementforschung
Unter der Akteur-im-System-Perspektive (vgl. A.II.3) versteht der Autor, wie bereits angedeutet, eine vom jeweiligen Akteur ausgehende Sichtweise. Das heißt nicht nur, dass man zugesteht, dass Menschen, als Personen, als Rollen- und Jobträger, letztlich die Handlungsträger in einer Organisation sind – wobei das in einer systemtheoretisch naiven (= Akteursperspektive) oder in einer aufgeklärten (= Akteur-im-System-Perspektive) Art und Weise geschehen mag. Das heißt auch, dass die Probleme des Akteurs – limitierte Information, idiosynkratische Rationalität, Diskrepanz zwischen persönlichem und Organisationswohl – nicht ausgeblendet werden. Sie werden ins Kalkül einbezogen. Ebenso wird ins Kalkül einbezogen, dass sich ebenjene Probleme des Akteurs in Potenz auf die Organisation übertragen. Organisationen sind alles andere als rationale Gebilde; sie sind, wie es Baecker (2003, 11) ausdrückt, „eine Resultante psychischer Wünsche, Ängste, Blockaden und Begeisterungen“. Der Mainstream der Betriebswirtschaftslehre geht mehr oder weniger stillschweigend von einer anderen Perspektive aus, einer, die zunächst die Organisation von einer olympischen Perspektive aus als eine rationale, potenziell perfekte sieht (vgl. A.II.3). Wenn etwas in der Organisation nicht „funktioniert“, dann ist das der Fall, weil an einer spezifischen Position eine spezifische Funktion nicht erfüllt wird; es gibt Leerstellen. Einige der Leerstellen sind Managementleerstellen, es fehlt z. B. an Planung, Abstimmung, Anweisung. Durch exakte Analyse der Leerstellen lässt sich gewährleisten, dass die Person ihre Funktion in der Leerstelle perfekt „erfüllt“ – die imperfekte Organisation rückt ihrem Ideal ein Stück näher. Ihr Korrelat in der PR- und Kommunikationsmanagementlehre findet das so genannte analytisch-funktionale Managementverständnis in jeder Diskussion, die eine exklusive, institutionalisierte Funktion des Kommunikationsmanagers unabhängig von der jeweiligen Person und Organisation auszubuchstabieren versucht. Die einschlägige Theorie folgt einem Muster: Sie versucht in einem ersten Schritt zu zeigen, dass eine perfekte Organisation nicht ohne eine spezifische Funktion, z. B. die PR-Funktion, überlebens- und erfolgsfähig ist. In einem zweiten Schritt versucht sie dann zu zeigen, dass die PR-Funktion eine Leerstelle darstellt, die durch einen Kommunikationsmanager auf Top-Management-Ebene „gefüllt“ werden muss. Dadurch, das ist das Argument, würde die Organisation perfekter, jedenfalls erfolgs- und überlebensfähiger. Dass sich derartig stillschweigende Annahmen in der Forschung widerspiegeln, versteht sich von selbst. Der Autor spürt der Tradition deshalb nach, um Alternativpositionen, um auch die eigene Position zu lokalisieren.
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B) Methode und Methodendiskussion
1. Die Tradition analytisch-funktionaler Modelle in Management-/PR-Lehre Stimmt man mit Alfred North Whiteheads Einschätzung überein, dass die abendländische Philosophie nicht sehr viel mehr darstellt als eine Fußnote zu Platon, so muss man wohl zugestehen, dass zumindest die funktionalistisch-analytische Schule der Managementlehre in beinahe einem Jahrhundert nicht wesentlich über das Werk des Franzosen Henri Fayol (zu Fayol, Taylor und Weber vgl. ausführlich C.II.4) hinausgewachsen ist. Fayol buchstabierte 1916 Vorschau und Planung (prévoir), Organisation (organiser), Leitung (commander), Koordination (coordonner), Kontrolle (controler) als Managementfunktionen aus. Caroll und Gillen (1987) zeigen in einem Vergleich von 21 bis 1986 erschienenen Managementlehrbüchern, dass die überwiegende Mehrzahl (insgesamt 17) mindestens vier der fünf bei Fayol ausgewiesenen Funktionen in der Gliederung nutzt (vgl. auch Hales 1999, 339, der die gesamte Tradition als „Fayolian“ etikettiert). Wie unter C.II.4 gezeigt werden wird, legte Fayol jedoch nicht lediglich einen Funktionskatalog nieder, sondern Prinzipien des Managements. Damit scheint ein wichtiger Aspekt der klassischen Funktionskataloge auf: sie sind sowohl deskriptiv als auch normativ. Auch Carroll und Gillen weisen auf diesen Aspekt hin, wenn sie in ihrer Verteidigung der Fayol’schen Tradition betonen: Fayol (1949), Urwick (1952) and other writers said that not only do managers carry out the classical functions, but also they should carry them out and that skill in such areas was related to managerial success. (Carroll/Gillen 1987, 41f.)
1.1 Die Tradition analytisch-funktionaler Modelle in der Managementlehre Die Jahreszahlen deuten es bereits an: die Diskussion ist eine alte. Der weiteren Auseinandersetzung mit Managementfunktionen ist somit die warnende Bemerkung Steinmanns und Schreyöggs (2002, 8) vorwegzuschicken, dass die Zahl der Funktionskataloge unüberschaubar geworden ist. Die unüberschaubare Vielzahl en detail aufzuarbeiten, ist nicht zu leisten (für einen Überblick vgl. Schirmer 1992, 14-19). Es gilt, exemplarisch einige herauszugreifen, um die grundsätzliche Vorgehensweise zu vergegenwärtigen sowie die zugrunde liegenden, stillschweigenden Annahmen aufzudecken. Die wichtigste wurde bereits angesprochen – die Annahme, dass das, was die Managementfunktionskataloge ausbuchstabieren, auch tatsächlich das ist, was Manager tun sollten, um die Leerstelle zu füllen, um für sich selbst und die Organisation erfolgreich zu sein. a) POSDCORB, PRINCESS, der „eherne Fünferkanon“, POK und GEL Zu einiger Berühmtheit gelangt ist der 1937 von Gulick vorgestellte Katalog, der aufgrund der Anfangsbuchstaben der Funktionsbezeichnungen auch als POSDCORB-Schema bezeichnet wird. Sehr ausführlich weist Gulick sieben Funktionen aus, die insofern über Fayol hinausgehen, als die Funktion der Kontrolle ausdifferenziert (Reporting sowie Budgeting) und der Katalog um die Funktion der Personalbesetzung (Staffing) ergänzt wird. Ein ähnliches Schema, welches Mahoney, Jerdee und Carroll (1965, vgl. auch 2.3) entwickeln, trägt das Akronym PRINCESS. Als „ehernen Fünferkanon“ bezeichnen Steinmann und Schreyögg (2002, 8) die Funktionen, die Harold Koontz und Cyril O’Donnell erstmalig 1955 in Principles of Management vorschlagen (vgl. auch C.II.2). Die Reduktion von sieben Funktionen im POSDCORB-Schema auf fünf geschieht dabei einerseits durch abermaliges Zusammenziehen von Reporting und Budgeting zu Controlling, andererseits mit dem Argu-
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
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ment, dass Koordination keine separate Funktion darstellt, sondern sich übergreifend in der Wahrnehmung der anderen Funktionen verwirklicht; Koordination erfolgt durch Führung, durch Kontrolle, durch Organisation etc. Ausgewiesen werden schließlich:
Planning, worunter zu verstehen ist, dass Ziele definiert sowie vorgedacht wird, auf welchen Wegen und unter Einsatz welcher Ressourcen sie verwirklicht werden sollen. Planung ist demnach ein mentaler Akt. Organizing. Organisation bedeutet, „ein Handlungsgefüge herzustellen, dass alle notwendigen Aufgaben spezifiziert und so aneinander anschließt, dass eine Realisierung der Pläne gewährleistet ist“ (Steinmann/Schreyögg 2002, 9). Mit der Funktion verknüpft ist die Aufgabe, Strukturen herzustellen, also Stellen und Abteilungen einzurichten, die über Kompetenzen und Ressourcen verfügen und einen definierten Platz im Gesamtgefüge einnehmen. Aber auch die Etablierung einer technischen Infrastruktur ist der Organisationsfunktion zuzurechnen. Staffing, worunter zunächst einmal die Besetzung der im Rahmen der Organisation geschaffenen Stellen zu verstehen ist. Darüber hinaus umfasst die Funktion auch die kontinuierliche Sicherstellung und Weiterentwicklung der Humanressourcen, etwa durch entsprechende Beurteilung, Entlohnung sowie Aus- und Weiterbildung. Directing/Leading. Der Begriff der Führung ist einerseits im engeren, andererseits im weiteren Sinne zu verstehen. Während Führung im weiteren Sinne (Leadership) gerade während der neunziger Jahre von verschiedenen Autoren als höherwertiges Substitut von Management propagiert wurde, ist hier vor allem Führung im engeren Sinne angesprochen – also die „zieladäquate Feinsteuerung“ des Arbeitsprozesses (Steinmann/Schreyögg 2002, 10). Controlling. Controlling bedeutet, den Ist-Zustand mit Hilfe geeigneter Vorgehensweise festzustellen, um ihn mit den Soll-Vorgaben der Planung zu vergleichen. Wo der Managementprozess als kontinuierlich zu durchlaufender Kreislauf verstanden wird, steht Controlling damit am Ende eines Durchlaufs, legt jedoch Grundlagen für die Planung des darauf folgenden – weswegen Planung und Kontrolle als „Zwillingsfunktionen“ apostrophiert werden.
Beyer (1970) argumentiert auf Basis seiner Auswertung englisch- und deutschsprachiger Literatur schließlich, dass sich alle aufgeführten Funktionen in letzter Konsequenz in einem Dreierkanon aus Planung, Organisation und Kontrolle integrieren ließen. Die Funktion der Entscheidung, wie sie einige Theoretiker betonen, sei dabei abermals als eine Metafunktion zu konzipieren, die sich kontinuierlich in den drei anderen Funktionen verwirkliche. Mit Gestalten, Entwickeln und Lenken propagiert die St. Galler Managementschule ein ähnlich reduziertes Konzept, welches aber, der St. Galler Tradition gemäß, „weicher“ und „dynamischer“ anmutet (vgl. UIrich/Krieg 1974): Es deutet bereits an, dass die Annahme, ohne den Manager laufe nichts, teilweise aufgegeben wird. Abbildung 15 vergegenwärtigt, dass die Modelle teilweise ineinander überführbar sind, teilweise quer zueinander stehen.
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B) Methode und Methodendiskussion
Fayol, 1916
Gulick, 1937 POSDCORB
Koontz/O’Donnell, 1955 Eherner Fünferkanon
Beyer, 1970 POK
Ulrich/Krieg 1974 GEL
Planung
Entwickeln
Prévoir
Planning
Planning
Organiser
Organizing
Organizing
Staffing
Staffing
Commander
Directing
Directing/Leading
Coordonner
COordinating
Controler
Reporting
Controlling
Organisation
Kontrolle
Gestalten
Lenken
Budgeting
Abbildung 15: Übersicht über ausgewählte Managementfunktionskataloge (Quelle: eigene Darstellung) b) Integration: Die Suche nach der Management-Urfunktion Bereits die Diskussion der Funktionskataloge zeigte, dass hinter der Querschnittsfunktion Management Metafunktionen aufscheinen, die – wie etwa Koordination – durch Management insgesamt bewirkt oder – wie etwa Entscheidungen fällen – notwendiger Bestandteil der Ausübung jeder Managementfunktion sind. Deshalb – und auch angesichts des jedweder Wissenschaft inhärenten Drucks in Richtung Komplexitätsreduktion – ist es nicht verwunderlich, dass sich die Managementlehre auf die Suche nach der definitiven Funktion, nach der Ur-Funktion begab. Ebensowenig verwunderlich dürfte sein, dass die Suche nach der einen Funktion gerade nicht zu ebenjener, sondern zu mehreren Vorschlägen gelangte. Mintzberg (1994, 11) polemisiert gegen die Vielzahl der Vorschläge, wenn er geltend macht: Tom Peters tells us that good managers are ‘doers’ (Wall Street says they ‘do deals’). Michael Porter suggests that they are thinkers. Not so, argue Abraham Zaleznik and Warren Bennis: good managers are really leaders. Yet, for the better part of this century, the classical writers – Henry Fayol and Lyndell Urwick – kept telling us that good managers are essentially controllers.
Koordination als die definitive Managementfunktion macht beispielsweise Mary Parker Follett (1941) aus. Urwick (1952) und später wieder Watson (1994) argumentieren in Richtung Organisation. Als eine ausgreifende Perspektivverschiebung ist der Versuch zu werten, Management in Leadership umzudeuten, den administrativen Manager antiquierter Prägung durch den visionären Leader abzulösen, wie das beispielsweise Abraham Zaleznik (1977) versucht (vgl. auch C.II.1). Schließlich gibt es eine Reihe von Autoren, die Planung oder Planung und Entscheidung entweder explizit (z. B. Cyert/March 1963; Simon 1960) oder aber implizit (wie etwa viele systemtheoretische Ansätze) als die ultimative Managementfunktion ansehen.
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
121
c) Management als eine institutionalisierte Funktion Schon der kurze Einblick zeigt die Vielzahl der Vorschläge und die Detailverliebtheit, mit der die Diskussion geführt wurde. Der interessanteste Aspekt an Mintzbergs Polemik demgegenüber ist nach Ansicht des Autors jedoch ein verborgener: Nämlich, dass die Suche nach der Urfunktion tatsächlich nicht über die Frage geschieht, was Management an sich sei, sondern was gutes, echtes und essenzielles Management sei: „good managers“, heißt es, „really leaders“, „essentially controllers“. Dadurch entsteht der Eindruck, dass die Frage danach, was Management heißt, gegenüber der zurücksteht, was ein guter, richtiger, echter Manager sei. Nicht das What is? steht im Vordergrund, sondern das How to do? Das führt zurück zu der Diskussion der Axiome unter A. Der Autor wertet die Redeweise als Symptom dafür, dass Managen nicht lediglich eine professionelle Organisationspraxis darstellt, sondern eine institutionalisierte (vgl. auch C.I.4; C.II.5). Dass man ein Management benötigt, und wofür man es grundsätzlich und allgemein benötigt, stellt niemand in Abrede. Entscheidend ist, worauf der Manager seine begrenzten Ressourcen konzentriert. Es ist interessant, dass der Zungenschlag in vergleichbaren Ansätzen in PR und Kommunikationsmanagement ein anderer ist. 1.2 Die Tradition analytisch-funktionaler Modelle in der PR-Lehre Auf den ersten Blick sieht es aus, als habe die Lehre der Public Relations und des Kommunikationsmanagements nichts zu bieten, was mit der analytisch-funktionalen Herangehensweise zu vergleichen ist. Das wäre jedoch in hohem Maße verdächtig, und bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sich ein großer Teil der PR-Theorie als Versuch lesen lässt, die Funktion PR in Organisationen auszubuchstabieren, manchmal in sparsamer, apodiktischer Setzung, manchmal mit immensem theoretischen Aufwand. Als ein Beispiel für erstere Herangehensweise lässt sich die Definition Benteles (1997a, 22f.) heranziehen, mit der die Arbeit ihren Ausgang nahm; sie enthält noch einen zweiten Satz, der Primär- und Sekundärfunktionen in einer nicht abschließenden Liste aufführt: Öffentlichkeitsarbeit oder Public Relations ist das Management von Informations- und Kommunikationsprozessen zwischen Organisationen einerseits und ihren internen und externen Umwelten (Teilöffentlichkeiten) andererseits. Funktionen von Public Relations sind Information, Kommunikation, Persuasion, Imagegestaltung, kontinuierlicher Vertrauenserwerb, Konfliktmanagement und das Herstellen von gesellschaftlichem Konsens.
Die theoretische Arbeit von Ansgar Zerfaß (2004) lässt sich als Beispiel der zweiten Herangehensweise begreifen, in der mit hohem theoretischen Aufwand der Versuch unternommen wurde, die Lücke in der perfekt-rationalen Organisation zu finden, die durch Kommunikation und nur durch Kommunikation geschlossen werden würde. Die Formel, zu der Zerfaß gelangt, lautet schließlich „soziale Integration“. Weitere Beispiele, wie etwa die mit Luhmann’scher Systemtheorie operierenden Arbeiten von Herger (2006) oder Hoffjann (2001) oder die auf das St. Galler Managementmodell rekurrierende Arbeit von Will (2007), wurden bereits unter A.II. erörtert. Es ist keineswegs Sinn und Zweck der Betrachtung, die vorliegenden Versuche, eine oder mehrere Funktionen des Kommunikationsmanagements auszubuchstabieren, abzuwerten. Der Autor wirft lediglich die Frage auf, inwiefern sie einen Rahmen liefern für die Beobachtung „realer“ Kommunikationsmanager – Personen. Und er gelangt zu der Ein-
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B) Methode und Methodendiskussion
schätzung, dass soziale Integration (Zerfaß), Legitimation (Hoffjann) oder kontinuierlicher Vertrauenserwerb (Bentele) noch sehr viel schwieriger zu beobachten sind als Managementfunktionen wie Planung, Organisation, Kontrolle. Der Zweifel bezieht sich demnach nicht auf PR- noch Managementtheorien per se, sondern auf ihre Brauchbarkeit – sowohl für die Forschung als auch für die Manager selbst respektive die Managementausbildung. Der verhaltenswissenschaftlich orientierte Managementtheoretiker Staehle, der selbst nicht streng der empirisch-orientierten Schule angehört, resümiert die ätzende Kritik der empirischen Forscher entsprechend: „So wird die Aussage, dass Manager planen, organisieren, entscheiden, führen und kontrollieren, als nicht sehr erhellend und darüber hinaus auch kaum empirisch beobachtbar angesehen“ (1991, 14). Die Tatsache, dass Analysen wie die von Bentele, Zerfaß, Herger, Hoffjann, Szyszka, Will etc. demgegenüber eben durchaus noch erhellen, zeigt die Distanz in der Identitätsfindung, die zwischen PR- und Managementlehre liegt: Einen „ehernen Fünferkanon“ des Kommunikationsmanagements gibt es noch nicht. 1.3 Der Gegenentwurf: Akteurszentrierte Forschung „If you ask managers what they do, they will most likely tell you that they plan, organize, coordinate, and control. Then watch what they do. Don’t be surprised if you can’t relate what you see to these words.” Mit diesen viel zitierten Worten leitet Henry Mintzberg seinen zu einiger Berühmtheit gelangten, preisgekrönten Artikel The Manager’s Job: Folklore 29 and Fact (Mintzberg 1990, 163) ein. In der von Mintzberg gewohnten saloppen Diktion umreißen die zwei Sätze die Position der empirischen Managementforschung, die, vor allem auf Basis von Beobachtungsstudien, zu Skepsis gegenüber den bisher vorgestellten Funktionskatalogen respektive Prozessmodellen gelangte. Ohne Mintzbergs Polemik zu übernehmen, möchte der Autor für die PR-Perspektive ergänzen: „Fragen Sie einen PRManager, was er macht, und er wird eventuell, wenn er in Leipzig studiert hat, sagen: Information, Kommunikation, Persuasion, Imagegestaltung, kontinuierlicher Vertrauenserwerb, Konfliktmanagement sowie das Herstellen von gesellschaftlichem Konsens. Dann beobachten Sie ihn. Seien Sie nicht überrascht, wenn das, was sie sehen, nichts mit den verwendeten Begriffen zu tun zu haben scheint.“ Welchen Zweck haben analytischfunktionalistische Durchdringungen, so also der teils verdeckte, teils wortgewaltig vorgetragene Vorwurf der empirischen Forscher, wenn die theoretisch identifizierten Differenzierungen so abstrakt sind, dass sie sich in der Realität nicht aufspüren lassen. Der Anspruch, mit operationalisierbaren Konzepten der Frage nachzugehen, was Manager eigentlich tun, darf prima facie als der kleinste gemeinsame Nenner ihres Gegenentwurfes, der empirischen Managementforschung angesehen werden. Die Kritik der empirischen Managementforschung Prima facie scheint die Kritik der empirischen Forscher an ihren analytisch-funktionalen Kollegen gleichermaßen vernichtend wie überzeugend. Allerdings bedarf es des genaueren Hinsehens. Auch mit einem Seitenblick auf Mintzberg und Stewart – die angesichts ihrer Untersuchungsergebnisse voreilig verkündeten (v.a. Mintzberg 1973; Stewart 1983), die 29 The Manager’s Job: Folklore and Fact, ausgezeichnet mit dem McKinsey Award for Excellence, erschien erstmalig in Harvard Business Review July/August 1975, wiederabgedruckt als HBR Classic in der März/AprilAusgabe 1990.
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
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„klassische“ Managementtheorie „disproved“ zu haben – macht Hales (1999, 339) geltend, dass es sich gar so einfach nicht verhält. Die empirischen Forscher unterstellten den Theoretikern in der Tradition Fayols ihr eigenes Forschungsinteresse. Bei sorgfältiger Betrachtung zeigt sich, dass die Funktionskataloge à la Fayol in der Mehrzahl gar nicht den Anspruch erheben (Hales, a.a.O), die Arbeit von Managern im akteurszentrierten Verständnis zu rekonstruieren. Es handele sich, so Hales, nicht um Theorien über Manager und ihre Arbeit, sondern um generalisierende Theorien des Managements, bzw. des Managementprozesses, die zu konzipieren versuchen, welche Funktionen Management für und in Organisationen erfüllt. Der Verweis auf fehlende Operationalisierbarkeit geht damit ins Leere, weil eine Operationalisierung des klassischen Managementprozesses von der Organisation in toto ausgehen müsste – wo Prozesse z. B. des Organisierens mit Aufwand durchaus zu beobachten wären. Akteurszentriert als ein Ansatz empirischer Forschung Der Autor sieht die empirische Managementforschung auf der Linie Mintzbergs durchaus mit Sympathie, er sieht sie aber nicht als den, sondern als einen Ansatz der empirischen Managementforschung. Und er sieht sie kritisch, wo sie ihre eigenen theoretischen Probleme – die immens sind – durch Polemisierung gegenüber der Fayol’schen Tradition zu verschleiern sucht. Denn sieht man genau hin ist der Kern der empirischen Managementforschung in Mintzberg-Tradition nicht der, Management empirisch zu erforschen. Der Kern ist der, Management auf Basis der empirischen Erforschung jeweils eines Managers zu erforschen. Wenn man empirische Managementforschung einmal als akteurszentriert liest, dann tritt klar und deutlich hervor, weshalb man die Fayol’schen Funktionen nicht simpel zu beobachten vermag. Gegen Fayol zu polemisieren, löst aber nicht die Frage, was zu beobachten wäre, wenn man überzeugend Management durch Beobachtung von Managern beobachten möchte. Die Frage ist also, welches Konstrukt an die Stelle der Fayol’schen Funktionen tritt. Und Schirmer ist beizupflichten, wenn er geltend macht, dass „Arbeitsverhalten von Managern“ ein allenfalls summarisches begriffliches Dach darstellt: Unter dem gemeinsamen Dach dieses Konstruktes werden sehr viele Inhaltsbereiche des Untersuchungsgegenstandes zusammengeführt, deren konzeptionelle Rekonstruktionen hinsichtlich disziplinärer Einordnung, Abstraktionsniveau der Begriffsbildung, sowie Art und Ausmaß der Verwendung theoretischer Konstrukte variieren; dies erschwert allerdings die Anschlussfähigkeit der Beschreibungen untereinander. (Schirmer 1992, 13f.)
Jenseits des kleinsten gemeinsamen Nenners, operationalisierbar zu theoretisieren, gestaltet sich das Forschungsfeld also vielfältig. Was Schirmer beklagt, gilt freilich für viele Forschungsfelder – insbesondere, wenn sie, wie die Management- und die PR-Forschung, von verschiedenen scientific communities westlich und östlich des Atlantiks gleichzeitig vorangetrieben werden. Aber in der Managementforschung ist die verblüffende Heterogenität maßgeblich der Forschungsfrage geschuldet, wie der Autor glaubt. Denn so simpel und unschuldig sie klingt, die Frage „What do managers do?“ setzt das Operieren mit komplexen Konstrukten voraus, die den Termini Manager und Management inhärent sind.
124
B) Methode und Methodendiskussion
2. Akteurszentrierte empirische Managementforschung Das Spektrum der von der empirischen Managementforschung ins Visier genommenen Konstrukte reicht von äußerst basal bis äußerst komplex. In ihrem Plädoyer für eine konsequent empirische, aber verhaltenstheoretisch fundierte Managementforschung systematisieren Davis und Luthans (vgl. Davis/Luthans 1980, insbes. 64ff.), dass Annäherung an die Arbeit von Managern prinzipiell auf drei Ebenen denkbar ist, die sich von der Konstruktkomplexität her unterscheiden und jeweils entsprechende Zugangsverfahren voraussetzen: (1) abstrakte Komplexe wie Leadership oder Managementfunktionen wie „Planung“; (2) abstrahierte, aber konkret erfahrbare Komplexe wie „treibt an“, „motiviert“; (3) konkrete, unmittelbar und eindeutig beobachtbare Komplexe wie „telefoniert“, „trägt Termine ein“. Abbildung 16 integriert die grundsätzliche Unterscheidung mit einer Reihe weiterer, in der einschlägigen Literatur häufig aufzufindender Differenzierungen (vgl. im Überblick insbesondere Schirmer 1992; Hales 1986; 1999; 2001; Staehle 1999, 80-95; Steinmann /Schreyögg 2002, 5-24). Die Abbildung dient demnach als Landkarte, welche die im weiteren Verlauf diskutierten Ansätze und Zugänge verortet.
Abbildung 16: Methodische (Quelle: eigene Darstellung)
Konstrukte
der
empirischen
Managementforschung
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
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2.1 Der aktivitätsorientierte Ansatz: Verhalten und Handeln Die Durchdringung sowohl von Managerverhalten als auch die von Managerhandeln fasst der Autor mit Autoren wie Schirmer (1992) unter der Bezeichnung „aktivitätsorientierter Ansatz“ zusammen. Das verbindende Merkmal der Work-Activity-Forschung ist, dass der prozessuale Strom der manageriellen Arbeit mehr oder weniger künstlich in beobachtbare Einzelaktivitäten zerlegt wird. Verhalten Zu einiger Berühmtheit gelangt ist die Bemerkung der Managementforscher Beishon und Palmer (1972), die noch Anfang der siebziger Jahre beklagen, dass man über das Leben eines Berggorillas mehr wisse als über den Arbeitsalltag eines Managers (zit. n. Schirmer 1992, 4). Inwiefern die Bemerkung angesichts der existierenden Studien ihre Berechtigung hatte, ist eine Frage, die auch aufgrund mangelnder Kenntnis der Forschungslage bei Riesenaffen außen vor gelassen werden soll. Von größerem Interesse als die Aussage ist der Vergleich an sich. Denn wenn von managerial behaviour als Forschungsgegenstand die Rede ist, suggeriert das eine Verhaltensforschung, die auf einer Ebene mit der Beobachtung von Berggorillas in freier Wildbahn steht. Der Vergleich ist nicht völlig unberechtigt, birgt aber die Gefahr von Missverständnissen. In die Irre führt der Begriff der Verhaltensforschung vor allem, wo der Terminus „Verhalten“ oder sein englisches Äquivalent behaviour dahingehend verstanden wird, dass Managementforschung auf Verhaltensebene lediglich auf primitive oder reaktive Verhaltensmuster – also z. B. Reiz-Reaktions-Muster wie Wimpernschlag oder etwa rapide Blutdruckanstiege, wenn das Telefon klingelt – abheben würde. Das ist natürlich nicht der Fall. Wenn von managerial behaviour die Rede ist, liegt aber ein behavioristisch zu deutender Begriff von Verhalten zugrunde. Der entscheidende, aus der behavioristischen Tradition entlehnte Aspekt des Verhaltensbegriffes in der Managementforschung ist das Kriterium der äußerlichen Beobachtbarkeit. Insofern hat der zoologische Vergleich seine Berechtigung, da das behavioristisch geprägte Verständnis wie auch immer gearteten Schlussfolgerungen von Verhalten auf subjektive Faktoren, Motive, Impulse etc. – wie sie sich bei Gorillas schlechterdings verbieten – zunächst eine Absage erteilt. Das heißt nicht, dass die Forscher (insbesondere Autoren wie Rosemary Stewart) die faktische Existenz derartiger Faktoren leugnen. Das entscheidende Argument ist ein forschungslogisches, das Schirmer auf den Punkt bringt: „Für diese Verhaltenskonzeption ist die Erforschung der subjektiven Gründe des Verhaltens weder möglich noch nützlich“ (1992, 12). Handeln Auch wenn die aktivitätsorientierten Pionierwerke wie die Beobachtungsstudie von Guest (1956) zweifelsfrei zu einem Erkenntnissprung führten und, nicht zuletzt aufgrund ihrer empirischen „Härte“, durchaus Wirkung gegenüber dem Wildwuchs unreflektierter Praktikertheorien bzw. althergebrachter Managementmythen entfalteten, blieb Kritik an der managerial behaviour-Schule nicht aus. Erwartungsgemäß war es vor allem der grundsätzliche Forschungsansatz, Management vorrangig auf Basis äußerlich beobachtbaren Verhaltens zu durchdringen, der als reduktionistisch angegriffen wurde (vgl. exemplarisch etwa Hales 1999, 335-338). Es sei ein Irrtum, das Verhalten von Managern mit Management gleichzusetzen, so der häufigste Haupteinwand, wie er keineswegs nur von analytisch-
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B) Methode und Methodendiskussion
funktionalistischen Traditionalisten, sondern auch von empirischen Forschern vorgetragen wurde (vgl. Hales 1986, 89ff.; vgl. auch Davis/Luthans 1980). Management stelle Handeln dar, und müsse dementsprechend auch als solches beobachtet und erforscht werden. Ausgehend vom soziologischen Begriffsverständnis Max Webers (vgl. Weber Wirtschaft und Gesellschaft, WuG I.1, §§ 1-5), welches die Managementlehre ohne Zweifel geprägt hat, lässt sich Handeln als ein Verhalten verstehen, das durch Intentionalität, durch Zielgerichtetheit und Absichtlichkeit respektive Unterstellung der drei Dimensionen durch eine andere Person gekennzeichnet ist (vgl. Schirmer 1992, 12ff.; vgl. auch den Begriff des Agierens in A.I; D.I.9). Versuche, managerielle Arbeit nicht als Verhalten, sondern als Handeln zu durchdringen, setzen in der Regel methodisch und forschungslogisch auf Verhaltensbeobachtung auf. Sie gehen aber darüber hinaus und versuchen nicht nur die formalprozessuale Dimension, sondern auch die inhaltliche Komponente managerieller Arbeit zu durchdringen. Ergebnisse der Beobachtung von Verhalten und Handeln Studien, die sich der Verhaltens- und Handlungsforschung verpflichtet fühlen, werden unweigerlich zu Katalogen mehr oder weniger basaler Aktivitäten wie z. B. „liest Akten“, „schreibt E-Mail“, „telefoniert mit untergeordneter Person“, „sitzt in Meeting“ gelangen. Auf der Basis derartiger Studien untersucht werden deshalb vor allem die Charakteristiken des Arbeits- bzw. Tagesablaufes von Managern – ein Forschungsfeld, das verschiedentlich auch unter der Überschrift ‚Work Characteristics’ geführt wird (vgl. z. B. Schirmer 1992, 49ff.). Aspekte, die in diesem Zusammenhang wiederholt erforscht wurden, sind:
Arbeitsverhalten in der zeitlichen Dimension, also etwa Fragen, wie lange Manager arbeiten; wie lange sie sich einer Aktivität widmen, ehe sie unterbrochen werden oder sie sie fertiggestellt haben etc. Arbeitsverhalten in der räumlichen Dimension. Im Kern handelt es sich hier um die Frage, wo Manager arbeiten. Sitzen sie in ihren Büros, wandern sie durch die Firma à la „Management-by-Walking-Around“ oder verbringen sie einen Großteil ihrer Zeit außerhalb ihrer Unternehmen in Meetings und auf Konferenzen? Auch die Frage, wie oft Führungskräfte im Verlauf ihres Bürotages ungestört und allein in ihrem Büro sitzen, lässt sich unter Verknüpfung von Raum- und Zeitdaten verfolgen. Arbeitsverhalten in der sozial-psychischen Dimension. In der sozial-psychischen Dimension steht vor allem das Kommunikations- und Kontaktverhalten von Managern im Fokus. So lässt sich der Frage nachgehen, welcher Kommunikationsmedien und -kanäle sich Führungskräfte bedienen und mit wem (Vorgesetzte, Untergebene, gleichgestellte Führungskräfte, Personen außerhalb der Hierarchie der Organisation) sie wie häufig und wie lange in Kontakt treten. Arbeitsverhalten in der Sachdimension. In Grenzen, die durch die Methode gezogen sind, lässt sich auch der Frage nachspüren, womit sich Führungskräfte thematisch befassen. Vor allem hier fließen funktionalistische Kategorien wieder ein: so lässt sich etwa zwischen der Beschäftigung mit Personalfragen, mit Organisationsfragen, mit Koordinierungsfragen etc. unterscheiden.
Wie man an den aufgezählten Aspekten sieht, setzen viele der empirischen Arbeiten quasi stillschweigend voraus, dass sich „der Verhaltensstrom des täglichen Arbeitsvollzuges“
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
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(Schirmer) sinnvoll und plausibel in kleine Einheiten zerlegen lässt, die in ihrer Addition den „Job“ konstituieren. Eine weitere stillschweigende Voraussetzung ist, dass die analytische Separation auf Basis ausschließlich äußerlicher Beobachtung durchführbar ist – sich in letzter Konsequenz also, ähnlich wie die Montage eines Kraftfahrzeuges, als Aufeinanderfolge einer großen Zahl einzelner, separierbarer Arbeitsschritte begreifen lässt. Inwiefern die empirische Managementforschung damit, ohne es auszusprechen, das methodische Programm der (Neo-)Tayloristischen Schule und insbesondere des Industrial Engineering auf höherer Ebene zu wiederholen beabsichtigt, muss Gegenstand einer wissenschaftshistorischen Auseinandersetzung bleiben.30 Schirmer ist allerdings zuzustimmen, wenn er geltend macht: „Konzeptionell und methodisch haben statisch-analytisch ausgerichtete Aktivitätsstudien bemerkenswerte Ähnlichkeiten mit Prinzipien tayloristischer Zeit- und Bewegungsstudien“ (1992, 106). Anders als bei körperlicher Arbeit – wie sie Gegenstand der filmisch-fotographischen Studien (so genannte Zyklogramme) z. B. des Taylor-Schülers Frank B. Gilbreth war – ist die kleinste beobachtbare Einheit von Management freilich nicht die Bewegung. Wie bereits angedeutet, lässt sich mit Fug und Recht die Frage aufwerfen, inwiefern sich Management überhaupt auf der Ebene derartiger Verhaltenseinheiten beobachten lässt. 2.2 Rollenorientierter Ansatz Der Begriff der „Rolle“ stammt aus der Theatersprache, ist auch in der Alltagssprache gängig geworden. Das Konzept der sozialen Rolle findet sich in Ansätzen bei Ferdinand Tönnies (1887), die Ausarbeitung im Rahmen einer soziologischen Theorie beginnt im angloamerikanischen Sprachraum mit George Herbert Mead (1967, 11934), Ralph Linton (1936), Talcott Parsons (1951) und Robert Merton (1957); für Deutschland ist das Werk von Dahrendorf, der Homo Sociologicus (1959), wegweisend. In ganz besonders expliziter Art und Weise auf die Theatermetaphorik greift Erving Goffman (1990, 11959) zurück. In die Organisationstheorie, und über kurz oder lang auch in die Betriebswirtschafts-, Managementund PR-Lehre, führten das Konzept der Rolle Daniel Katz und Robert Kahn ein (11966, 2 1978). Auf die Details der verschiedenen Konzeptionen einzugehen, möchte der Autor vermeiden (für einen Überblick Grunig/Grunig/Dozier 2002, Kap. 6; Moss/Warnaby/Newman 2000; Toth et al. 1998). Entscheidend ist, dass die Rolle gegenüber bloßem Verhalten und gerichtetem Handeln ein Konstrukt höherer Ordnung darstellt, wobei die Erwartungen anderer Akteure respektive generalisierte Erwartungen der Gesellschaft ins Kalkül gezogen werden – ähnlich wie bei einem Schauspieler, der gleichzeitig „seinen“, aber eben auch „den“ Hamlet spielt. Wie Abbildung 16 zeigt, hat der rollenorientierte Ansatz in der Forschung, so wie ihn der Autor sieht, zwei Seiten: eine objektive und eine subjektive. Etwas polemisch ließe sich sagen, dass der objektive Ansatz den Begriff der Rolle lediglich als ein statisches Etikett verwendet, ohne die psychologische Theorie aufzuarbeiten, welche in der 30 In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass Mintzberg den Präsidenten eines großen französischen Konzerns erwähnt, der Mitte der fünfziger Jahre in seinem Unternehmen die Tagebuchmethode durchzusetzen suchte, um die Arbeit seiner mittleren Manager zu studieren und zu optimieren. Der Unternehmenslenker argumentierte dabei, dass es nicht nachzuvollziehen sei, wenn sich Manager einer derartigen Praxis verweigern, wo sich der einfache Arbeiter doch damit abzufinden hätte, dass industrial engineers jede seiner Bewegungen studierten (vgl. Mintzberg 1973, 204, FN1).
128
B) Methode und Methodendiskussion
Begrifflichkeit steckt. Die Ansätze, welche der Autor als subjektive Rollenkonzepte bezeichnet, konzipieren Rollen in dynamischer, „psychologischer“ Art und Weise – wobei sich wiederum polemisieren ließe, dass sie es gewöhnlich in der Forschungstheorie, nicht in der Forschungspraxis tun. 2.2.1 Die „objektive“ Rollentheorie Als sozusagen auf halbem Wege zwischen aktivitätsorientierter und empirischfunktionsorientierter Annäherung ist der objektive Rollenansatz anzusiedeln. Von der Beobachtung bloßen Handelns unterscheidet sich die Beobachtung managerieller Rollen dadurch, dass der Forscher der Zweckdimension nicht lediglich Rechnung trägt, sondern einzelfallbezogene Zielsetzungen zu Bündeln, eben Rollen, zusammenfasst. Objektive Rollen in Management- und PR-Lehre Mintzbergs zehn Rollen, welche unter II. vorgestellt werden, sind das beste Beispiel für einen objektiv rollenorientierten Ansatz. Die zehn Managementrollen, welche Mintzberg vorschlägt, erschließen sich dem Leser jeweils als ein bestimmtes, beobachtbares Bild, welches vergleichsweise unabhängig von subjektiv vom Manager empfundenen Rollenerwartungen oder Erwartungen anderer bleibt: Wenn der Manager als Leader agiert, dann sieht man das; wie ein Leader agiert, weiß man. Verschiedene öffentliche Auftritte – wie z. B. bei einer Ehrung für dreißigjährige Betriebszugehörigkeit, bei der Begrüßung des bayerischen Ministerpräsidenten, bei der Einweihung eines neuen Shops – lassen sich unter Repräsentationsaufgaben, lassen sich als Ausübung der Figurehead- oder GalionsfigurRolle subsumieren. In der PR-Lehre erfolgte die Operationalisierung in der Regel nicht, wie bei Mintzberg, qualitativ, durch das Skizzieren plausibler Vignetten. Die PR-Forschung verwandte vor allem Batterien von Aktivitätsitems, welche entweder in Pretest-Forschung entwickelt oder aus der Literatur abgeleitet, dann quantitativ eingesetzt wurden. Am wirkmächtigsten in der PR-Forschung war sicherlich das Set von 24 Items, welches Broom und Broom und Smith entwickelten.31 Broom gebrauchte die 24 Items zunächst, um vier Rollen auszubuchstabieren (vgl. auch Grunig/Grunig/Dozier 2002, 198), die des
Expert Prescriber, der Lösungen „verschreibt“ wie ein Arzt; Communication Facilitator, der Kommunikation zwischen dominant coalition und publics herstellt, ihre Güte überwacht; Problem-solving Process Facilitator, der der dominant coalition hilft, systematisch Lösungen für Kommunikationsprobleme zu entwickeln; Communication Technician, der in handwerklich-technischer Manier die „Materialien“ produziert.
In der weiteren Auseinandersetzung zeigte sich, dass die drei ersten Rollen große Überlappung miteinander aufwiesen, nicht aber mit der vierten Rolle des Technikers. Das brachte 31 Für einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung der englischsprachigen Rollenforschung in der PRLehre vgl. Grunig/Grunig/Dozier 2002, Kap. 6; auch Toth et al. 1998. Für eine frühe, deutsche Rezeption vgl. Steinmann/Zerfaß/Ahrens 1993. Die Entwicklung der Rollenforschung kritisch sehen Moss/Green 2001: Sie werfen ihr, wie bereits dargestellt, eine feministische Ideologisierung vor.
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
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Dozier (1984) dazu, auf Basis einer Praktikerumfrage und einer explorativen Faktorenanalyse die Rolle des Communication Manager zu postulieren. De facto ist das von Broom entwickelte, dann von Dozier überarbeitete Rollenset, mit seiner Batterie von 6 Aktivitätsitems pro Rolle, der Ursprung der Rede von Kommunikationsmanagern. Der große Unterschied zwischen Managementlehre und PR-Lehre ist der, dass man in ersterer die Frage stellt, welche Rollen Manager typischerweise übernehmen, in zweiterer ist der Communication Manager ein Rollenbild, welches bestimmte PR-Praktiker typischerweise übernehmen. Die Managementlehre fragt also, wie, durch welche Rollen der Manager seinen Job ausübt – und die Antwort lautet: durch Übernahme verschiedener Rollen. Die PR-Lehre fragt, welche Rollen PR-Praktiker übernehmen – und die Antwort lautet: eine ist die Manager-Rolle. Jedoch ist die PR-Rollenforschung seit Beginn des 21. Jahrhunderts in einem Veränderungsprozess. Autoren wie Moss, Warnaby und Newman (2000) verlangen mehr und mehr die Forschung von der Dichotomie des Managers vs. des Technikers wegzuverlegen und auf die Frage zu fokussieren, wie der Communication Manager, ja der Communication Executive seinen Job erledigt (ähnlich auch Moss/Newman/DeSanto 2004 und 2005). Und auch im Rahmen der Exzellenztheorie fand bereits eine Differenzierung statt. Im dritten Band referieren die Autoren um James und Larissa Grunig Forschung, die zwei verschiedene Typen des Kommunikationsmanagers nahelegt: einen administrativen und einen strategischen Manager. PR-Forschung im Wandel: Differenzierung der Manager-Rolle Grunig, Grunig und Dozier verlagerten in der dritten Phase der Exzellenztheorien den Fokus teilweise von der Person auf die Abteilung insgesamt. Sie fragten zwar noch immer die obersten Kommunikationsverantwortlichen, aber sie fragten sie nach der Expertise, welche hinsichtlich verschiedener, typisch managerieller Aktivitäten in der Abteilung vorlag (vgl. 2002, 226ff.): „The extent to which your department or someone in your department has the expertise or knowledge to perform“ war das, was die Praktiker für verschiedene Aktivitäten einstufen sollten. Abbildung 17 zeigt die Ergebnisse der Hauptkomponentenanalyse. Nach Grunig’scher Interpretation existieren in den untersuchten Abteilungen zwei separate Bedarfsmuster an managerieller Expertise. Das eine ist der administrative Kommunikationsmanager, derjenige, der vor allem für einen reibungslosen Ablauf des „Tagesgeschäftes“ in einer Kommunikationsabteilung sorgt. Das andere ist der strategische Manager, der sich fortgeschrittener Forschungs- und Planungsverfahren bedient und in die strategischen Prozesse der Gesamtunternehmung integriert ist: Whereas administrative expertise involves the day-to-day operations of a well-run department (regardless of the four public relations models used), strategic expertise is closely tied to a set of strategic tools a communication department needs to use the two-way models (both symmetrical and asymmetrical) and contribute to the organization’s strategic planning process. (Grunig/Grunig/Dozier 2002, 228)
Prima facie mutet die von Grunig, Grunig und Dozier vorgeschlagene Unterscheidung plausibel an: ein administrativer, für das Tagesgeschäft verantwortlich zeichnender Manager mit Budget- und Personalverantwortung einerseits; ein Stratege, der mit Hilfe fortgeschrittener Forschungs- und Planungsverfahren der PR-Arbeit Gewicht im Rahmen der
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B) Methode und Methodendiskussion
unternehmerischen Gesamtstrategie verleiht andererseits.32 Sieht man sich die Items an, verzerrt sich das überzeugende Bild freilich. So schließt das Tätigkeitsfeld des administrativen Managers durchaus nicht nur alltägliche, reaktive Aufgaben ein, sondern beinhaltet einen überaus ausgeprägten planerischen, proaktiven Aspekt. Es ist der administrative Manager, der dafür verantwortlich ist, Ziele für die Abteilung vorzugeben. Sogar die Strategieentwicklung, die man begrifflich – auch wenn es sich „nur“ um PR-Probleme handelt – beim strategischen Manager angesiedelt vermuten würde, obliegt ihm. Etwas greifbarer als ein spezifisches Profil wird die Rolle des administrativen Managers erst, wenn man sich vergegenwärtigt, was administrative Manager gemäß der Exzellenzstudie nicht oder selten tun. Kurz gesagt: der administrative Manager forscht nicht. Komponenten der Rollenexpertise
Faktorladung Administrativer Manager
Strategischer Manager
Develop goals & objectives for department
.89
Prepare departmental budget
.82
Develop strategies to solve PR problems
.81
Manage organization’s response to issues
.74
Manage people
.63
Conduct evaluation research
.26
.86
Use research to segment publics
.30
.79
Perform environmental scanning
.28
.61
Hauptkomponentenanalyse, Varimax-Lösung rotiert. Cross-Loadings unter .20 werden nicht aufgeführt.
Abbildung 17: Faktoren der Rollenexpertise, Manager-Rolle (Quelle: Grunig/Grunig/Dozier 2002, 229) Sehr viel interessanter als die Frage, was administrative Manager nicht tun, ist die Frage, was nicht in die Domäne strategischer Manager fällt. Vor allem zwei Aspekte wiegen schwer: dass der strategische Manager an der Vorgabe von Abteilungszielen nahezu gar nicht (unter .20), und an der Entwicklung von Strategien nur selten oder mit geringem Einfluss beteiligt ist (.26). So wie es sich gemäß der Daten zeigt, trägt das Profil ausgeprägte Züge von Stabsarbeit; der strategische Manager trägt Daten zusammen und bereitet sie auf – er stellt Entscheidungsgrundlagen bereit, aber er entscheidet nicht. Es liegt die Unterstellung nahe, bei der Dateninterpretation sei es auch darum gegangen, die Anwendung von 32
Übrigens entspricht die Zweiteilung einer Führungsaufgabe militärischen Führungsprinzipien, wie sie mittlerweile in allen westlichen, schätzungsweise allen professionellen Streitkräften der Welt angewendet werden: So verfügt beispielsweise der Kapitän eines US-amerikanischen Kriegsschiffes über einen ersten Offizier, den so genannten XO (Executive Officer), der für administrative Angelegenheiten im weitesten Sinne, eben das „Funktionieren“ des Schiffes, verantwortlich ist. In der Terminologie des Autors ist der XO für das First-OrderManagement verantwortlich.
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
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Seiten der Wissenschaft hochgehandelter Tools und Methoden (Evaluation Research, Environmental Scanning, Segmentation of Publics) mit einer prestigeträchtigen Rolle zu verknüpfen. Kritik der objektiven Rollenforschung Die Gegenüberstellung zeigt bereits eine große Schwäche des Rollenansatzes auf: der Begriff der Rolle ist ein skalierbarer. Er ist nicht nur skalierbar hinsichtlich der Frage, wie viele Rollen ein Akteur in einem bestimmten Kontext spielt, etwa zehn bei Mintzberg, vierundzwanzig bei Staehle (1991). Er ist darüber hinaus auch skalierbar in seinem Skopus: was Job oder Office und Rolle in der theoretischen Konzeption der PR-Lehre unterscheidet, tritt nicht klar und eindeutig hervor. Die Definition, welche Grunig, Grunig und Dozier im dritten Band der Exzellenztheorie zugrunde legen, betont zwar den Erwartungs- und Erwartungserwartungscharakter, trägt aber darüber hinaus nur begrenzt zur Klärung bei: Roles are abstractions about the patterned behaviors of individuals in organizations, a way of classifying and summarizing the myriad activities that an individual might perform as a member of an organization. By playing roles, individuals mesh activities, yielding predictable outcomes. (Grunig/Grunig/Dozier 2002, 196)
2.2.2 Die subjektive Rollentheorie Subjektive Rollenansätze sind etwas vorsichtiger, was die Rede von statischen Rollen, Rollen mit „Wiedererkennungswert“ für jedermann, unabhängig von der Situation anbelangt. Eine Rolle „entsteht“ in einem dynamischen psychologischen Prozess, der Rollensendung, Rollenerwartung und Rollenempfang, aber auch aktives Fordern (role taking) und aktives Ablehnen von Rollen beinhaltet (vgl. Katz/Kahn 1966). Ein PR-Praktiker mag bestimmte Vorstellungen davon haben, was es heißt, als ein „richtiger“ Kommunikationsmanager zu agieren – die Vorstellungen der dominant coalition können gravierend davon abweichen, ebenso wie die seiner Mitarbeiter oder Peers. Wenn verschiedene, nicht miteinander vereinbare Rollenerwartungen an Akteure herangetragen werden, führt das zu Rollenambiguität und zu Rollenkonflikten. Je nach ihrer Genese und Struktur werden diesbezüglich „klassisch“ erstens Inter-Sender-Konflikte (Konflikte zwischen Erwartungen verschiedener Rollensender), zweitens Intra-Sender-Konflikte (Konflikte zwischen Erwartungen eines Senders), drittens Personen-Rollen-Konflikte (Konflikte zwischen der Person und ihren Rollen) und viertens Inter-Rollen-Konflikte (Konflikte zwischen den verschiedenen Rollen, Konflikte des Rollenwechsels) differenziert (für eine ausführliche, PR-bezogene Erörterung vgl. Grunig/Grunig/Dozier 2002, 196-225). Quasisubjektive Rollenforschung in der Exzellenztheorie Einer der interessantesten Beiträge der Exzellenzstudie zur PR-Rollenforschung besteht darin, dass im Rahmen der Studie nicht nur die Rollenübernahme durch die Kommunikationsverantwortlichen, sondern auch die von Seiten der dominant coalition gehegten Rollenerwartungen – die gesendeten Rollen also – abgefragt wurden. Das lässt sich als eine Annäherung an ein subjektives, psychologisiertes Rollenbild begreifen. Vom Forschungsdesign her geschah dies dadurch, dass die bei der Befragung der Top Communicators verwandten Items in abgewandelter Form auch den CEOs vorgelegt wurden. Auf Basis einer Fraktionierungsskala erhob man dann, zu welchem Grad die Unternehmensführer der Mei-
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B) Methode und Methodendiskussion
nung waren, dass der oberste Kommunikationsverantwortliche diese oder jene Tätigkeit ausüben, diese oder jene Verantwortung übernehmen sollte. Anders als bei der Befragung der Kommunikatoren selbst lag der Fokus damit nicht auf der tatsächlichen, sondern auf der erwarteten Rollenausübung: Whereas role enactment measures completed by top communicators reflect the degree to which items reflect the communicators’ actual work, role expectations reflect what a powerful member of the dominant coalition thinks the organization’s top communication should be doing. (Grunig/Grunig/Dozier 2002, 241)
Die Rollenforschung im Rahmen der Exzellenzstudie ist nur zu verstehen, wenn man herausarbeitet, dass die Rollenforschung der Exzellenzstudie vor allem auf die obersten Kommunikationsverantwortlichen zielte, Grunig, Grunig und Dozier die ursprünglichen vier Rollen etwas abgewandelt haben. Anstelle des expert prescriber, communication facilitator, problem-solving process facilitator und communication technician treten in der Exzellenzstudie folgende vier Rollenkonzepte auf (vgl. Grunig/Grunig/Dozier 2002, 233f.), wobei die Autoren zugestehen, dass die Manager- und die Senior Advisor-Rolle in der Empirie nicht als klar und deutlich separat hervortraten:
Communication Manager, der der Experte in der Organisation ist, wenn es um Kommunikationsprobleme geht, Verantwortung für die Kommunikation übernimmt und zugeschrieben bekommt, kommunikationspolitische Entscheidungen trifft; Senior Advisor, der vor allem die dominant coalition bei kommunikationspolitischen Entscheidungen berät; Media Relations Specialist, der einerseits vor allem seine journalistische Expertise einsetzt, um Storys zu finden, andererseits die Organisationsmitglieder auf dem Laufenden hält, was die Nachrichtenlage, das Medienklima anbelangt; Internal Technician, der vor allem Texte anderer überarbeitet oder selbst Texte produziert.
Die Exzellenzstudie wandte die vier Rollensets (mit jeweils vier Aktivitäten) nicht nur auf die obersten Kommunikationsverantwortlichen mit der Frage an, welche der Aktivitäten am besten beschreibe, was man selbst als Person tue. Sie wandte sie auch auf die Geschäftsführer und Vorstände an mit der Frage, welche Aktivitäten „ihre“ obersten Kommunikationsverantwortlichen ihrer Meinung nach tun sollten. Die Rolle des obersten Kommunikationsverantwortlichen im Auge des CEO In einem ersten Schritt analysierten Grunig, Grunig und Dozier die Daten der CEOBefragung entlang der Rollensets, wie sie auf die Kommunikationsverantwortlichen angewandt wurden. Da die Rollensets sich aber bereits in der Befragung der Top Communicators als nicht hundertprozentig reliabel (vor allem mit Blick auf die Rolle des Senior Advisor) gezeigt hatten, und da nicht davon auszugehen war, dass CEO-Rollenerwartungen entlang derselben Linien verlaufen wie das tatsächliche enactment, erschien es den Autoren unumgänglich, auch explorative Verfahren anzuwenden. Grunig, Grunig und Dozier führten deshalb eine explorative Faktoranalyse durch, um die hinter der gezeigten Erwartungsverteilung in den Köpfen der CEOs zu vermutenden Rollenbilder zu identifizieren.
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Die Autoren gelangten dabei zu einer Lösung, die fünf andere Rollenbilder ausweist, nämlich:
Technician Manager Media Relations-Experte Senior Media-Manager Repräsentant
Die ersten drei Bilder stellen im Großen und Ganzen vereinfachte Äquivalente der Rollen dar, wie sie in ähnlicher Art und Weise auch von Kommunikationschefs gesehen werden: CEOs sehen ihre Kommunikationsverantwortlichen demnach entweder als reine Techniker mit Fokus auf Redaktion (Technician), als Manager mit enger, vertrauensvoller Anbindung an die Unternehmensführung (Manager), oder als Spezialist für Presse- und Medienarbeit mit Vorschlags-, aber ohne Weisungskompetenz (Media Relations-Experte). Was die CEOs nicht sehen, ist eine Rolle als Senior Advisor – wobei sich das Set auch bereits in der Befragung der Kommunikationsverantwortlichen als vage und instabil erwiesen hatte. Von besonderem Interesse ist schließlich eine vierte Rolle, die, wie Grunig, Grunig und Dozier (2002, 244) feststellen, keine Entsprechung auf Seiten der Selbstwahrnehmung der Kommunikationsverantwortlichen hat. Es handelt sich um ein Erwartungsbündel, das die Autoren unter der Bezeichnung Senior Media-Manager rubrizieren. Sieht man sich die Items an, so scheint der Senior Media-Manager mit dem Aufgabenprofil zu korrelieren, das man im deutschsprachigen Raum unter der Bezeichnung Pressesprecher fasst: eine Person, die in den Augen der Unternehmenschefs – anders als der Media Relations-Experte, der der Tendenz nach ein Sachbearbeiter ist – ganz eindeutig Gesamtverantwortung für Erfolg respektive Misserfolg von PR-Programmen trägt. Die Person genießt Ansehen als Experte für PRFragen, ist aber, wenn man der Interpretation der Autoren folgt, vor allem mit Presse- und Medienarbeit betraut. „The public relations programs managed by top communicators in this role would be largely media-based programs”, stellen Grunig, Grunig und Dozier (2002, 246) fest. Und etwas scharf, da der zwingende Schluss auf Publicity nicht durch die Daten gerechtfertigt scheint, fügen sie hinzu: „[T]he role expectation seems to be one of a senior communicator running a public relations program along traditional lines: public relations equals publicity”. Als letzte Rolle ist schließlich die des so genannten representative zu sehen. Mit der Rolle eines Repräsentanten ist nur eine einzige Erwartung verknüpft, nämlich die, dass der Kommunikationsverantwortliche die Organisation bei Events und Meetings zu vertreten habe. Ohne Zweifel handelt es sich hier um eine Rolle, die von gewissen altertümlichen Vorstellungen getragen ist; wieder einmal scheint der „Sektglashalter“ auf. Alles in allem stellen die Autoren fest, dass die Rollenbilder in den Köpfen der CEOs fragmentierter und detailärmer sind als die Vorstellungen der obersten Kommunikationsverantwortlichen. Die Autoren vermuten, dass es sich hierbei um eine Push-Pull-Beziehung handelt, in der sich die – nach Meinung der Autoren fehlgeleiteten – Vorstellungen eines CEO verfestigen (vgl. Grunig/Grunig/Dozier 2002, 248): Unternehmensführer stellen Kommunikationspersonal ein, das ihren eigenen Rollenerwartungen entspricht, die vor allem auf technische Expertise abheben. Da die eingestellten Techniker dann – da es sich eben um Techniker handelt – tatsächlich weder in der Lage noch willens sind, in der Mana-
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B) Methode und Methodendiskussion
ger-Rolle zu agieren, sieht sich der CEO in der Einschätzung bestätigt, dass Kommunikationspersonal vorzugsweise auf technischer Ebene agieren sollte. Zu einer Durchbrechung des Kreislaufes kommt es erst, wenn sich im Zuge einer Krise die Begrenztheit eines lediglich handwerklich-technischen Verständnisses von Public Relations zeigt. Kritik der quasisubjektiven Rollenforschung Auch wenn die Exzellenzstudie, und das betonen die Autoren selbst, neue, unbekannte Territorien mit einer Multiperspektivierung der Rollen des obersten Kommunikationsverantwortlichen erforscht, bleibt die grundsätzliche Kritik bestehen: Dem Autor ist nicht begreiflich, inwiefern sich Rollen von Jobs, etwa Pressesprecher vs. Direktor Unternehmenskommunikation, wie sich die Rollenitems von Aufgaben unterscheiden. Obwohl die Autoren der Exzellenzstudie, anders als Mintzberg, aber auch 35 Jahre später, ihr Rollenkonzept sozialpsychologisch fundieren, greift die Fundierung nicht streng und gänzlich auf die Forschung durch. Wie bei Mintzberg ist der Begriff der Rolle ein Etikett, welches ein im Kern unscharfes Konzept dadurch erklärt, dass es sich in eine Forschungstradition stellt. Um das Konzept der Rolle zu klarifizieren, möchte der Autor deshalb eine Reihe anderer Begrifflichkeiten vorschlagen, welche sich freilich nicht großzahlig mit Befragungen untersuchen lassen. 2.2.3 Jobs, Tasks und Rollen Wie der Autor selbst den Begriff der Rolle versteht, wird unter D.III weiter erörtert. Der Autor sieht, inspiriert von Mintzbergs Nussschalenmodell, welches er unter 3. anspricht, drei grundsätzliche Ebenen: Erstens die Ebene des Jobs, zweitens die der Tasks und drittens die der Rollen (roles) (vgl. ähnlich auch Dolphin/Fan 2000). Jobs Was die PR-Lehre als Rolle des Communication Manager apostrophiert, sieht der Autor als Job an: Kommunikationsmanager-Sein ist ein anderer Job als Kommunikationsarbeiter, Pressesprecher ist ein anderer Job als Direktor Unternehmenskommunikation – und es gibt Muster, Ähnlichkeiten und Überschneidungen, die es außenstehenden Beobachtern wie auch den Praktikern selbst möglich machen, diese Jobs zu unterscheiden. Die 24-ItemBatterie, welche in der PR-Rollenforschung derartig große Bedeutung erlangte, stellt eine Rekonstruktion derartiger Muster, Ähnlichkeiten und Überschneidungen dar, wirkte natürlich aber auf sie selbst zurück. Hinter der saloppen und alltagssprachlichen Rede von Jobs steht die Analyse, welche unter A bereits angerissen wurde, welche unter C und D weiter vertieft und geschärft wird, steht die Rede von sozialen Praktiken. Der Autor geht davon aus, dass soziale Praktiken mehr oder minder komplex sein können; bereits die etwas komplexeren differenzieren sich aber aus, strukturieren sich – die Formulierung spiegelt die Eigendynamik wider – in verschiedene Jobs. Wo eine Praxis in einer Organisation stattfindet, wo es sich um eine professionelle Praxis handelt, überlagern organisatorische Routinen und professionelle Traditionen die Eigendynamik der Strukturierung – sie stellen „Blaupausen“ bereit. Das ist übrigens, in weniger zwingender, aber gleichwohl wirksamer Form, bereits im privaten Bereich beobachtbar: Wenn sich ein Dutzend Personen zu einem Umzug zusammenfindet, geschieht es häufig, dass sich verschiedene Jobs herausbilden, für die sich die jeweiligen
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
135
Akteure dann verantwortlich fühlen (vgl. D.III); der eine schleppt Möbel, der andere hängt Lampen auf etc. Bentele, Großkurth und Seidenglanz (2007) gehen in ihrer Befragung der Mitglieder des Bundesverbandes deutscher Pressesprecher davon aus, dass es sinnvoll ist, Berufsangehörige nach ihrem beruflichen Selbstverständnis zu fragen, indem sie sie mit einer Liste verschiedener „Selbstverständnismuster“ konfrontieren. Die Angebote, die in Abbildung 18 aufgelistet sind, repräsentieren in etwa die Elemente, welche das konstituieren, was der Autor unter einem Job versteht: ein Rahmenbild, welches über die enger gefasste Rolle hinausgeht. Ein Praktiker, der sich zuvorderst als Berater von Vorstand/CEO, dann als Journalist in der Organisation, dann als Sprecher sieht, hat also einen etwas anderen Job als ein Praktiker, der sich einzig und allein als Berater von Vorstand/CEO begreift – unabhängig davon, dass sich beide als Pressesprecher bezeichnen.
Abbildung 18: Berufliches Selbstverständnis als Jobs (Quelle: Bentele/Großkurth/Seidenglanz 2007, 87) Eine etwas andere Typologie macht van Ruler auf (2004), die die praktische PR-Literatur in den Niederlanden, die Reden von Branchenvertretern und die Jahrbücher der Branche zwischen 1950 und 2000 auf das stillschweigend zugrunde gelegte Kommunikationsmodell, auf die Metaphorik und typische Schlagwörter hin las. Aus dem Branchendiskurs destillierte van Ruler sieben Typen des obersten Kommunikationsverantwortlichen, die wiederum mit metaphorisch intuitiv verständlichen Begriffen belegt wurden. Es handelte sich um (1) den town crier, den „Stadtschreier“, der die „Stimme seines Herrn“ in der Gemeinschaft zu Gehör bringt; (2) den steward oder „Reisebegleiter“, der wichtige Persönlichkeiten um das Unternehmen herum „bei Laune hält“; (3) den traffic manager oder „Verkehrsmanager“,
136
B) Methode und Methodendiskussion
der den Verkehrsfluss der Informationen in der Organisation regelt; (4) den conductor oder „Dirigenten“, der die große Symphonie der Kommunikation der Organisation dirigiert (vgl. auch C.III.3.4); (5) den creator oder „Netzwerker“, der wechselseitig gewinnbringende Beziehungen zwischen der Organisation und ihren Anspruchs- und Bezugsgruppen herstellt; (6) den facilitator oder „Katalysator“ der, gegenüber dem creator einen Schritt zurückgetreten, die Bedingungen dafür schafft, dass wechselseitig gewinnbringende Beziehungen entstehen können; (7) der artist oder „Künstler“, der Public Relations nicht als Profession, sondern als sich jeder Regel entziehende Kunst begreift. Tasks Was Mintzberg mit seinen zehn Rollen herausarbeitet, möchte der Autor nicht als Rollen, sondern als Tasks, als Aufgaben, verstanden wissen. Wenn der Manager als Galionsfigur, als Verhandlungsführer oder als Liaison agiert, dann erledigt er eine Aufgabe, die sich in seinem Verantwortungs- und Machtbereich stellt, Teil seines Jobs ist. Das Beispiel des Umzugs vergegenwärtigt (vgl. auch D.III), dass es nur bei komplexeren, auf Dauer gestellten Jobs sinnvoll ist, zwischen Jobs einerseits, Tasks andererseits zu unterscheiden. Tasks verhalten sich zu Jobs wie Ziele zum Zweck der sozialen Praxis. Ein Task ist konkret und spezifisch, etwa die Repräsentation bei einer bestimmten Veranstaltung – der Job ist niemals erledigt. Am Rande sei hinzugefügt: Bei der Beobachtung managerieller Tasks stellt sich nicht nur die Frage nach der Durchführung einer Aufgabe, sondern auch die Frage nach ihrer Erfüllung. Hales (1986, 105f.) macht geltend, dass gerade die potenzielle Diskrepanz zwischen Aufgabensetzung und Aufgabenerfüllung in der empirischen Managementforschung konzeptuell vernachlässigt worden sei. Dabei gibt Hales seiner Verwunderung darüber Ausdruck, dass „effektives Management“ anscheinend aufgehört habe, eine kontingente Kombination zu bilden, vielmehr geradezu als selbstevidente Wortpaarung angesehen werde (a.a.O.). Wie scharf Tasks zu definieren sind, wie eng sie an Aktivitäten anzulehnen sind, bleibt freilich dem Forscher überlassen, hängt von seinem Erkenntnisinteresse ab. Merten (1997, 43ff.) etwa befragte in einer später ähnlich wiederholten Untersuchung (Wienand 2003, 256ff.) PR-Praktiker nach ihrem Zeitbudget, aufgeschlüsselt nach verschiedenen Tätigkeitsfeldern oder Arbeitsbereichen. Um welche es sich handelte, veranschaulicht Abbildung 19. Die Aktivitäten, die Abbildung 19 zeigt, veranschaulichen darüber hinaus die enormen Schwierigkeiten, sauber bei einem Beobachtungskonstrukt zu bleiben, sauber zwischen Verhalten, Handlungen, Rollen, Tasks, Jobs und Funktionen zu unterscheiden: Textformulierung ist etwas, was auf der Verhaltensebene erfassbar ist; Erfolgskontrolle ist genauso eine Aktivität wie eine Funktion, Kundenberatung setzt voraus, dass man die Rolle des Beraters übernimmt etc. Rollen (roles) Was Rollen anbelangt, unterscheidet der Autor zwischen Rollen ihrer Form nach und Rollen ihres Inhalts nach. Der Form nach begreift der Autor Rollen ähnlich wie es unter der Etikettierung subjektive Rollentheorie ausgearbeitet wurde – als Resultante wechselseitiger Erwartungen und Erwartungserwartungen. Die Funktion der Rolle ist folgende: Die Rolle stellt, etwas vereinfacht ausgedrückt, einen „Platzhalter“ dar, der es einem Akteur ermöglicht, in der Organisation „in seiner Rolle als“ mitzureden, ohne sich selbst vollumfänglich als Person einbringen zu müssen. Das ermöglicht es beispielsweise, Akteure in organisati-
137
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
onsinternen Diskursen anzugreifen, ohne sie als Person anzugreifen, ohne dass sie notwendig und zwangsläufig ihr Gesicht verlieren; die Diskussion bleibt auf der „professionellen“ Ebene, findet nicht auf der privaten statt. Anteile gesamt PR-Tätigkeit Persönliche Kontaktpflege
Agentur
Verband/ Verein
Unternehmen
Pressesprecher
Selbst. Berater
Gesamt
14,9%
16,7%
17,0%
18,2%
15,6%
16,6%
14,3%
23,1%
16,8%
20,4%
22,8%
18,2%
Durchführung von PR-Aktionen
11,0%
11,9%
15,3%
14,3%
11,4%
12,7%
Entwicklung von Konzepten/Analysen
17,5%
11,1%
12,8%
13,7%
14,3%
14,0%
Administrative Aufgaben
11,4%
14,1%
12,6%
13,1%
7,6%
11,4%
Film-, Photo-, AVProduktion
1,8%
2,3%
4,2%
2,3%
1,8%
2,4%
1,5%
5,1%
3,3%
2,0%
2,6%
2,6%
4,4%
1,5%
2,7%
1,5%
2,0%
1,9%
4,5%
2,7%
5,2%
4,5%
3,5%
4,2%
18,2%
2,1%
2,8%
4,0%
15,6%
9,8%
2,8%
8,2%
8,2%
6,3%
2,8%
5,9%
100% (118)
100% (96)
100% (96)
100% (71)
100% (61)
100% (388)
Textformulierung
Layout-Arbeiten Mediaplanung Erfolgskontrolle Kundenberatung Sonstige Tätigkeiten
Fallzahlen
Abbildung 19: Zeitbudget von PR-Praktikern (Quelle: nach Merten 1997, 48) Was in der dergestaltigen Diskussion der Rolle gelegentlich in Vergessenheit gerät ist, dass die Funktion der Rolle nur dann gewährleistet ist, wenn der Akteur selbst und andere in der Lage sind, die Rolle als diese oder jene zu identifizieren. Der Autor ist der Meinung, und unter D und E führt er das weiter aus, dass sich Akteursrollen nicht nur karg und sparsam in der Interaktion entwickeln, sondern dass Akteure von vornherein aus ihrem kulturellen Hintergrund Vorbilder für ihre Rollen schöpfen. Das Heranziehen von Vorbildern, seien es Stereotype, seien es Klischees, seien es reale Personen, gewährleistet zunächst einmal, dass die Cues und Marker erkannt werden, welche diese Rolle von jener unterscheiden. Eine bestimmte sprachliche Formulierung kommuniziert etwa, dass der Direktor Unternehmenskommunikation aus der Rolle des väterlichen Ratgebers herauswechselt und in die Rolle des knallharten Managers hinein. Der Autor behauptet nicht, dass das immer bewusst ge-
138
B) Methode und Methodendiskussion
schieht, weder auf Seiten des Senders noch des Empfängers. Er behauptet aber, durchaus auf Basis seiner Beobachtungsstudie, dass einige der beobachteten Personen bewusst und absichtsvoll bestimmte Rollen „geben“, sich in diesem Setting so bewegen, in jenem aber anders.
Abbildung 20: 24 Rollen des Managers (Quelle: Staehle 1991) Das Wechselspiel lässt sich besonders gut anhand der Rollen vergegenwärtigen, wie sie Abbildung 20 zeigt. Staehles Rollenbilder sind zum Teil Rollenformen, zum Teil aber eben auch inhaltlich konkretisierte Rollen: ein Stratege ist jemand, der weitsichtig und vielschichtig zu denken in der Lage ist – aber damit man einen Strategen als Strategen erkennt, muss er an das Stereotyp des Strategen Anschluss herstellen, ohne zu einer Karikatur zu werden (vgl. auch Nothhaft/Bentele 2009). Das Konzept der Rolle, wie es der Autor versteht, überlagert also die Konzepte des Jobs und der Tasks. Der Job zieht einen Rahmen, welche Rollen in der Organisation und in
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
139
anderen Settings übernommen, angestrebt und abgelehnt werden können – und warum, auf Basis welchen Kalküls. Und umgekehrt: Der Job wird maßgeblich über die Ausübung, das enactment verschiedener Rollen mit „Wiedererkennungswert“ geschaffen, bestätigt oder verändert. Ähnliches gilt für Tasks: Ein Job konstituiert sich darüber, dass mit ihm bestimmte Aufgaben, eben Tasks, einhergehen, andere nicht. Die Übernahme eines Tasks führt dazu, dass die Verantwortung für diese und womöglich auch andere, ähnliche Aufgaben anerkannt und bestätigt wird, die Ablehnung führt zum Gegenteil. Darüber vollzieht sich ein „Framing“ des Jobs, wie es Mintzberg beschreibt (1994, 12-13), wie es nach Verfestigung nur noch schwer wieder aufzubrechen ist. Die Arbeit vertieft das Verständnis der eigendynamischen und systemischen Prozesse des Job-Framings, der Task- und Rollenetablierung noch einmal unter D. 2.3 Managerfunktionen revisited: Der empirische Arm der Funktionsschule Neben der Rollentheorie ist schließlich ein empirischer Arm der analytisch-funktionalen Schule zu sehen, der die Probleme nicht anerkennt, welche Mintzberg und andere empirische Forscher sehen. Wo managerielle Arbeit empirisch als Ausübung verschiedener Funktionen durchdrungen wird, gehen der analytisch-funktionalistische und der empirischhandlungsorientierte Ansatz sozusagen eine Zweckehe ein. Der empirische Arm der Funktionsschule, welchen Schirmer als „funktionsorientierte Beschreibung“ (1992, 14-45) etikettiert, wirft noch einmal ein interessantes Licht auf die Debatte um die Akteurs- und die olympische Perspektive. Noordegraaf und Stewart (2000) betonen nicht zu Unrecht, dass sich gegen die Work-Activity-Forschung insgesamt ins Feld führen lässt, dass sie letzten Endes der Person verhaftet bleibt. Ausgeblendet bleibt, dass gerade Manager nicht nur arbeiten, sondern dass sie für eine Organisation arbeiten. Für eine ganzheitliche Managementforschung ist es deshalb unumgänglich, die Kontextualisierung auf die Organisation auszuweiten und die Frage nach der faktischen respektive intendierten Funktion der beobachteten Managementaktivitäten zu stellen. Das Argument ist an sich tragfähig, wie der Autor glaubt – es verliert aber an Tragfähigkeit, wenn man es in Zusammenschau mit der Art und Weise sieht, wie die funktionsorientierte Schule das Problem löst, Funktionen zu erforschen. Als Beispiel möchte der Autor die Untersuchung von Mahoney, Jerdee und Carroll (1965) heranziehen, die mit dem so genannten PRINCESSSchema operiert. a) Ziel der Studie von Mahoney, Jerdee und Carroll Die 1965 von Thomas Mahoney, Thomas Jerdee und Stephen Carroll vorgestellte Studie The Job(s) of Management ist als einer der einflussreichsten Versuche funktionsorientierter empirischer Annäherung anzusehen. Wie auch Staehle (1999, 83) und Schirmer (1992, 18ff.) bemerken, handelt es sich um eine Befragungsstudie, die weitestgehend der traditionellen funktionalen Analyse Fayol’scher Prägung verpflichtet bleibt. Dabei bleibt dahingestellt, inwiefern es sich um ein Beharren oder aber um eine Rückkehr zu Fayols Ansatz handelt. Fakt ist, dass die Autoren die frühen Beobachtungsstudien von Guest, Strong, Dubin und Spray sowie einer Reihe anderer Autoren durchaus zur Kenntnis nehmen. Für Mahoney, Jerdee und Carroll gehen die bisherigen wissenschaftlichen Beobachtungsstudien aber an der zentralen Forschungsfrage genauso vorbei wie das die in der Praxis gängigen Stellenbeschreibungen, die job descriptions, tun. Die zentrale Forschungsfrage ist für die
140
B) Methode und Methodendiskussion
Autoren die Frage nach managerial performance, wobei der Begriff wie ein operationalisierbares Äquivalent des klassischen Funktionsbegriffes gehandhabt wird. Performance ist einerseits von Verantwortlichkeit – im Sinne einer Stellenbeschreibung wie „verantwortlich für das Auslandsgeschäft“ –, andererseits von bloßem Verhalten bzw. bloßer Arbeit abzugrenzen. Unter Rückgriff auf die eingangs vorgestellte Unterscheidung mehrerer Ebenen der Managementforschung lässt sich sagen, dass sich die MahoneyJerdee-Carroll-Studie – ihr Titel deutet es bereits an – auf der Ebene der Jobs bewegt. Von entscheidender Bedeutung ist die Jobebene für die Autoren vor allem deshalb, weil sie für eine aufgabenspezifische Auswahl und Ausbildung von Managern von Relevanz ist. Stellenbeschreibungen, so argumentieren die Autoren, würden dagegen in der Regel auf Verantwortlichkeiten, nicht auf die erfolgskritischen Muster der geforderten Performance abheben. „Lists of responsibilities may have value in organization planning and control, but they lack clear relevance to the process of determining individual qualifications, compensation differentials, and the type of training and education necessary for successful performance“ (a.a.O., 98). Studien wie die von Guest oder andere Beobachtungsstudien, so kritisieren die Autoren, begnügten sich damit, lediglich Verhalten beziehungsweise Arbeit zu beobachten. Die Tatsache, dass ein Manager telefoniert habe, sei jedoch sehr viel weniger von Belang als die Frage, weshalb er telefoniert habe und inwiefern das Gespräch eine Verhandlung dargestellt oder eine Reihe von Anweisungen beinhaltet habe. „Differences in observable physical behaviour are not as likely to account for differences in relative effectiveness as are differences in the thinking, planning, negotiating, coordinating and controlling activities of the manager regardless of the physical dimensions of these activities” (a.a.O.). b) Methode der Studie von Mahoney, Jerdee und Carroll Mahoney, Jerdee und Carroll nähern sich ihrem Untersuchungsgegenstand mit Hilfe von Fragebögen. Die Autoren legten 452 Managern auf verschiedenen Ebenen (unteres, mittleres und hohes Management) in dreizehn Organisationen einen zweidimensionalen Katalog von Funktions- und Kompetenzbereichen vor und baten um Selbsteinschätzung hinsichtlich des durchschnittlichen Zeitaufwandes und der wahrgenommenen Wichtigkeit. Die der Mahoney-Jerdee-Carroll-Studie zugrunde liegenden theoretischen Überlegungen, als so genanntes PRINCESS-Schema bekannt geworden, vergegenwärtigt die dem SteinmannSchreyögg-Schema ähnliche Abbildung 21. In der Abbildung auf der vertikalen Achse angeordnet sind managerielle Funktionen, wie sie sich aus der traditionellen funktionalen Analyse ableiten: alle Manager planen, stimmen sich ab, beurteilen, führen etc. Auf der horizontalen Ebene quer dazu angeordnet sind Kompetenzbereiche, die sich, bei näherer Betrachtung, aus einer funktionalen Analyse von Unternehmen ergeben: denn alle Unternehmen „managen“ Mitarbeiter und Angestellte, Finanzen, Materialien und Güter etc. Ein gesichertes Verständnis der Unterscheidung von Funktions- und Kompetenzbereichen ist von entscheidender Bedeutung, um das Rahmenwerk der Untersuchung zu verstehen. Denn prima facie mutet es an, als würden sich Kompetenzen und Funktionen in einigen Bereichen nicht nur gegenseitig durchdringen, sondern auch in ihrem Geltungsbereich überschneiden. So fällt auf, dass sowohl ein Kompetenzbereich „Mitarbeiter und Angestellte“ als auch ein Funktionsbereich „Mitarbeiterführung, -überwachung, -entwicklung“ ausgewiesen wird. Allerdings verstehen die Autoren unter Funktionen prinzipielle Fähigkeiten
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
141
beziehungsweise Aufgaben. So greifen in der Finanzplanung wie auch in der Personalplanung oder in anderen Unternehmensbereichen Prinzipien, die immer und notwendig jeder Form der Planung zugrunde liegen (vgl. auch die „competencies“, die Gregory 2007 erforscht). Führungskräfte, welche diese Prinzipien in besonderem Maße beherrschen, können demnach z. B. als „exzellente Planer“, „visionäre Führungsfiguren“ oder dergleichen angesehen werden. Im Gegensatz zu Funktionsbereichen sind unter Kompetenzbereichen Felder sachbezogener Expertise – technical competence or knowledge – zu verstehen. Denn unabhängig von der Fähigkeit, die dargestellten Managementfunktionen wahrzunehmen, verfügen Führungskräfte in der Regel auch über handwerklich-technische Fähigkeiten (ein Ingenieur an der Spitze der Konstruktionsabteilung eines Automobilbauers ist durchaus noch in der Lage, mit CAD-Software umzugehen) und über fachliches Wissen (der Vorstandsvorsitzende einer Versicherung kennt als Jurist die gesetzlichen Bestimmungen).
Abbildung 21: Functions & Competences, das PRINCESS-Schema (Quelle: nach Mahoney/Jerdee/Carroll 1965)
142
B) Methode und Methodendiskussion
c) Resultate der Studie von Mahoney, Jerdee und Carroll I: Jobtypen Die Ergebnisse von Mahoney, Jerdee und Carroll lassen sich als auf drei Ebenen angesiedelt begreifen: auf der Zeitebene, auf der Jobebene und auf einer kombinierten Job-undHierarchieebene. Auf der ersten Ebene präsentieren die Autoren zunächst die aggregierten Daten. Abbildung 22 vergegenwärtigt das Bild, das sich aus der Zusammenschau der 452 Fragebögen ergibt. Function (gemäß PRINCESS-Schema)
Ø (in % Prozent der Arbeitszeit, 452 Manager)
Planning
19,5%
Investigating
12,6%
Coordinating
15,0%
Evaluating
12,7%
Supervising
28,4%
Staffing
4,1%
Negotiating
6,0%
Representing
1,8%
Total
100,1%
Abbildung 22: Managerial functions (Quelle: Mahoney/Jerdee/Carroll 1965, 102) Wie zu sehen ist, stellt Personalführung und -überwachung (supervising) die Funktion dar, die mit Abstand den größten Zeitanteil beansprucht, gefolgt von Planungs- (planning) und Abstimmungsarbeiten (coordinating). Verhandlungen (negotiating), die Besetzung von Stellen (staffing) und Repräsentationspflichten (representing) strapazieren das Zeitbudget demgegenüber nur minimal. Wie die Autoren betonen, stellt das Durchschnittsprofil allerdings kein typisches Profil dar – in der Untersuchung fand sich kaum ein einzelner Manager, der diese oder eine ähnliche Verteilung aufwies. Anstelle einer zerstreuten Verteilung kristallisierte sich heraus, dass das Tätigkeitsprofil der überwiegenden Mehrzahl der Manager durch genau eine dominante Funktion gekennzeichnet ist. Um dieses keineswegs selbstverständliche Phänomen zu untersuchen, gruppierten die Autoren die Daten mit Blick auf Jobtypen um, die sich durch eine dominante Funktion auszeichneten. Dominanz bedeutete rechnerisch, dass eine Funktion gemäß Selbsteinschätzung a) mindestens dreißig Prozent der Arbeitszeit insgesamt beanspruchen, und b) mindestens zehn absolute Prozent „Vorsprung” gegenüber jeder anderen Funktion aufweisen musste. Ausnahmen bildeten zwei als Auffangkategorien gebildete Jobtypen: Zeichnete sich keine dominante Funktion ab, klassifizierten die Autoren das Tätigkeitsprofil des „Generalisten“. Wenn mehrere dominante Funktionen hervortraten, subsumierte man das Tätigkeitsprofil unter der Kategorie „Multispezialist“ (vgl. hierzu Mahoney/Jerdee/Carroll 1965, 104f.). Die Ergebnisse zeigt Abbildung 23. Auf der zweiten, der Jobebene, zeigen Mahoney, Jerdee und Carroll also, dass mit 79 Prozent mehr als drei Viertel aller untersuchten Manager eine dominante Funktion ausübten, also vorrangig als Planer, Verhandler o.Ä. arbeiteten. Die dominante Funktion wog dabei teilweise schwer: Der durchschnittliche planner verbrachte beispielsweise 39 Prozent
143
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
seiner Zeit mit Planung, der durchschnittliche investigator 44 Prozent mit Datensammlung und -aufbereitung, der durchschnittliche supervisor wandte gar die Hälfte seiner Zeit für Personalführung auf (vgl. Spalte ‚durchschnittliche Dominanz’).
Jobtypus
Prozent der Manager in diesem Jobtypus (452 Manager)
Durchschnittliche Dominanz (>30%) (in % der Arbeitszeit)
Planner
18%
39%
Investigator
8%
44%
Coordinator
6%
39%
Evaluator
4%
35%
Supervisor
39%
50%
Negotiator
5%
45%
Generalist
14%
-
Multispecialist
7%
-
Total
100%
Abbildung 23: Jobtypen (Quelle: nach Mahoney/Jerdee/Carroll 1965, 104) d) Resultate der Studie von Mahoney, Jerdee und Carroll II: Jobtyp/Hierarchie Auf der dritten Ebene untersuchen Mahoney, Jerdee und Carroll schließlich, wie sich die nachgewiesenen Jobtypen auf verschiedenen Hierarchieebenen verteilen. Der Aspekt, der an der Mahoney-Jerdee-Carroll-Studie die größte Aufmerksamkeit auf sich zog, war dabei der, dass die Untersuchung den empirischen Beweis für die bis dato lediglich theoretisch gestützte Annahme lieferte, dass sich die Tätigkeitsprofile Planer und Generalist mit zunehmender Höhe auf der Karriereleiter häufiger finden, während der Anteil der Supervisoren sinkt (vgl. a.a.O., 108). Allerdings, und das betonen auch die Autoren, sind die Ergebnisse durchaus zweischneidig. Denn sie stützen keineswegs nur die Position der Verfechter eines „Primats der Planung“, sondern zugleich auch die Argumente ihrer Kritiker. Wie Abbildung 24 zeigt, machen Mahoney, Jerdee und Carroll zu Recht geltend, dass eine Führungskraft von der untersten bis auf die höchste Managementebene gelangen kann, ohne jeweils in einer dominant planerischen Position tätig gewesen zu sein (vgl. a.a.O., 108): schließlich belegen die Daten, dass über ein Fünftel der Manager auf höchster Ebene sich noch immer vorrangig als Supervisor sieht.
144
B) Methode und Methodendiskussion
Abbildung 24: Jobtypen qua Hierarchieebene (Quelle: Mahoney/Jerdee/Carroll 1965, 109)
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
145
e) Kritik der Mahoney-Jerdee-Carroll-Studie Die Formulierung, dass sich Manager als Supervisor sehen, es nicht sind, legt den Finger bereits auf den wunden Punkt der Studie. Es handelt sich um eine Erforschung der Selbstwahrnehmung von Managern, denn nichts anderes geschieht in Fragebögen. Dem steht der Autor nicht an sich skeptisch gegenüber. Was er mit Skepsis sieht, ist das Postulat, dass durch derartige, mit einer funktionalen Perspektive operierende, die Organisation „mitdenkende“ Forschung die Akteursperspektive überwunden werde, dass man zu einem entsubjektivierten Bild gelange. Das ist nicht der Fall. Um das zu tun, müsste der einzelne Manager in der Organisation multiperspektiviert werden, wie das in der Exzellenzstudie ansatzweise geschah. 3. Kleinteilige Forschung vs. integrative, holistische Forschung Verfolgt man die Entwicklung der empirisch-akteurszentrierten Managementforschung im 20. Jahrhundert stellt man fest, dass die Forschungstradition in der Betriebswirtschafts- und Managementlehre etwa Mitte der neunziger Jahre ins Stocken gerät. Einer der Gründe ist natürlich der Trendzyklus wissenschaftlicher Themen: ein Thema, das en vogue ist, gerät außer Mode. Ein weiterer Grund ist ohne Zweifel der, dass man zu einem Punkt kam, wo man mit Fug und Recht glaubte, einigermaßen zu wissen, was Manager tun. Der Autor sieht aber darüber hinaus, dass sich die empirische Managementforschung in eine Sackgasse hineinmanövrierte, und nur in anderer, veränderter Form aus ihr entkam. Der Autor möchte das kurz und bündig erörtern, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass er sich mit der Orientierung an der Mintzberg-Studie von 1968 bruchlos in eine vierzig Jahre alte Tradition stellt. a) Die Sackgasse der Großzahligkeit und Kleinteiligkeit Die Tradition der akteurszentrierten empirischen Managementforschung geriet in eine Sackgasse, als sie härter, großzahliger, „sauberer“ forschen wollte – und die Sackgasse war, dass sie in letzter Konsequenz kleinteiliger und oberflächlicher wurde. Nach und nach erkannte man, dass Tabellen und Prozentzahlen an der eigentlichen Fragestellung vorbeigehen. Was Management ausmacht, was Manager tun, lässt sich nur erfassen und durchdringen, wenn man die Komplexität ihres Jobs insgesamt in Rechnung stellt, also integrativ, holistisch arbeitet (vgl. auch A). Aus einer holistischen, integrativen Herangehensweise erwachsen aber völlig andere Fragen und völlig andere methodische Probleme, ja die Auseinandersetzung mit ihnen bedarf einer völlig anderen wissenschaftstheoretischen Basis (vgl. hierzu auch Schirmer 1992, 81-95, 155ff.; vgl. auch Hales 1999; 2001). b) Ein Beispiel: Mintzbergs Nussschalenmodell Eines der stärksten und überzeugendsten, wenn auch nicht eines der frühesten Plädoyers für integrative, holistische Ansätze stellt Mintzbergs Nussschalenmodell von 1994 dar, welches die Arbeit sehr stark inspiriert hat, welches an verschiedenen Stellen bereits angerissen wurde. Mintzberg selbst etikettiert seinen Ansatz als „wohlgerundetes Modell“, der Autor bevorzugt aber die Bezeichnung Nussschalenmodell.
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B) Methode und Methodendiskussion
Eine harte Nuss Das Bild der Nuss ist es, das Mintzberg verwendet, um das Problem einer integrativen Perspektive auf Management zu verdeutlichen. Wenn sich in der Managementforschung gerade die Frage nach the manager’s job als die härteste Nuss erwiesen habe, so Mintzberg, dann sei das womöglich darauf zurückzuführen, dass man so versessen darauf gewesen sei, die Nuss unter allen Umständen zu „knacken“, also in ihre Einzelteile zu zersprengen. Mintzberg: „We have been so intent on breaking the job into pieces that we never came to grips with the whole thing” (Mintzberg 1994, 11). Mintzberg schließt seine eigenen, früheren Arbeiten ein, wenn er erklärt, dass er es für erforderlich halte, die lediglich aufzählenden Listen von Managementfunktionen und -rollen, die Quasimodelle hinter sich zu lassen und zu einem genuin integrierten Modell zu gelangen: „It is time, therefore, to consider the integrated job of managing“ (a.a.O.). Dabei ist das Nussschalenmodell keineswegs einzig und allein im Studierstübchen entstanden. Wie Mintzberg ausführt, hatte er es sozusagen im Hinterkopf, als er sich aufmachte, Zeit mit verschiedenen Managern zu verbringen, sie bei ihrer Arbeit zu beobachten und zu interviewen. Dies geschah allerdings nicht, wie Mintzberg betont, um definitive Schlüsse zu ziehen, sondern um ein Gespür („get a flavor“) für eine möglichst große Zahl verschiedener Managementjobs zu bekommen. Entsprechend handelt es sich im Vergleich zu der früheren, streng methodisch angelegten MintzbergStudie auch um eine größere Zahl von Managern, die auf verschiedenen Hierarchieebenen agieren: „So far they number twenty-three, ranging from the head of one of Europe’s largest state health care systems to the ‚front country’ manager of a Canadian mountain park“ (Mintzberg 1994, 11). Abbildung 25 zeigt das Nussschalenmodell und vergegenwärtigt, weshalb der Autor die Bezeichnung bevorzugt. Wie zu Beginn ausgeführt, zielt Mintzbergs „rundes” Modell vor allem darauf, Ansätze zu verabschieden, die Management durch sezierendes Zerlegen in einzelne Aspekte zu verstehen suchen. Damit wendet sich Mintzberg insbesondere gegen Versuche, die eine, die essenzielle Managementfunktion zu bestimmen. Es sei doch seltsam, so Mintzberg kritisch, dass viele der bekanntesten Managementexperten – Wissenschaftler, Praktiker und „Gurus“ gleichermaßen – sich einen Namen dadurch gemacht hätten, dass sie pointiert das Primat einer Funktion postulierten: Abraham Zaleznik und Warren Bennis stünden für Manager als „Führungsfiguren“, Tom Peters für Manager als „Macher“, Michael Porter für Manager als „Denker“, und viele der klassischen Autoren sähen Manager vor allem als „controller“ (a.a.O.). Ein ganzheitliches, holistisches Modell Aus Mintzbergs Sicht stellt der Versuch, eine essenzielle Managementfunktion zu bestimmen, von vorneherein ein Missverständnis der Managementaufgabe dar. Die eigentliche Schwierigkeit des Berufes bestehe darin, „wohlgerundet“ zu agieren. Deshalb entwirft er ein Modell, welches alle Aspekte in einem einzigen, aus drei konzentrischen Kreisen bestehenden Zusammenspiel integriert (vgl. Abb. 25). Das Zusammenspiel darf man sich allerdings nicht als einen gesetzten Rahmen vorstellen. Es ist als ein fragiles, balanciertes Konstrukt zu denken. Jede Einseitigkeit, jede Unbalanciertheit gefährdet die Stabilität: Folgt man etwa Tom Peters’ Rat, zu handeln anstatt zu denken, so besteht laut Mintzberg die Gefahr, dass das Konstrukt ohne eine solide Verankerung in der Mitte und aufgrund eines Übergewichts im äußeren Ring zentrifugal auseinanderläuft. Umgekehrtes droht, wenn sich der Manager, wie es die Schriften Michael Porters suggerieren, einseitig und übermäßig auf
I. Die akteurszentrierte Managementforschung
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die Konzeption strategischer Grundpositionen konzentriert. Der Job dreht sich um sich selbst, ohne etwas in der Außenwelt zu bewegen – er implodiert. Ähnliches gilt für das Gewicht der Funktion Führung, wie es Zaleznik und Bennis betonen. Führung allein ist inhaltsleer, so dass, bildlich gesprochen, der Manager weder im äußeren Kreis etwas bewegt noch innen Drehmoment von der Welle erhält. Umgekehrt ist Führung im Zusammenspiel mit den anderen Funktionen ein entscheidender Kräfteverstärker, denn der lediglich denkende Manager bewegt gar nichts, während der lediglich handelnde Manager am Ende alles allein zu bewältigen hat. „Perhaps the most systematic recent attempt to come to grips conceptually with the extant evidence on the generic features of managerial work”, resümiert Hales (1999, 340) mit Blick auf Mintzbergs Konzept. In seiner kritischen Würdigung (ebd.) gesteht er zu, dass das Modell geeignet sei, viele der über die Jahre zusammengetragenen empirischen Evidenzen zu integrieren – ganz abgesehen davon, dass sich Mintzbergs Darstellung durch konzeptuelle Eleganz auszeichne. Allerdings warnt Hales davor, das Modell zu überschätzen. Aus zwei Gründen stelle das Modell nicht die versprochene Lösung – die holistische Integration von Theorie und empirischer Evidenz – dar. Der erste Grund hebt auf die Art und Weise ab, wie Mintzbergs Aufsatz recht geschickt Theoriebildung mit jeweils passender empirischer Evidenz verwebt. Dass das Modell in der Lage sei, einige empirische Evidenzen zu integrieren, beweise aber nicht, dass es die Gesamtheit der empirischen Evidenz erkläre. De facto, so Hales, sei es vergleichsweise einfach, auch von Mintzberg unangezweifelte, teilweise von ihm selbst zusammengetragene empirische Evidenzen anzuführen, die das Modell nicht oder nicht in adäquater Art und Weise integriere. So stehe, um Hales’ Argument verkürzt wiederzugeben, die gesamte Konzeption im Widerspruch mit Evidenzen, die den Manager als von äußeren Einflüssen getrieben konzipieren. Zu Hales’ erstem Einwand ist zweierlei zu sagen. Zum einen beansprucht Hales die ganze Strenge eines empirisch-positivistischen Wissenschaftsbildes, wenn er fordert, dass das Modell alle Evidenzen integrieren müsse, um nicht von vornherein widerlegt zu sein – ein Anspruch, dem sich ein konzeptioneller Denker wie Mintzberg durchaus verweigern kann. Zum anderen ist zu sehen, dass Hales’ vermeintliche Gegenbeispiele durchaus integrierbar sind: Etwa, wenn man anerkennt, dass das Modell nicht strikt von innen nach außen „funktioniert“, sondern die Elemente als sich gegenseitig beeinflussend begreift. Freilich vermittelt Mintzbergs Modell durchaus den Eindruck, strikt von innen nach außen angelegt zu sein: wie immer dreht sich bei ihm alles um den Manager. Das Nussschalenmodell im kritischen Fokus Der zweite Grund ist ein modelltheoretischer. Er hebt darauf ab, dass das Mintzberg’sche Modell zwar integrative, aber wenig bis keine explikative Kraft entfalte: „[E]ven if Mintzberg’s scheme were able to accommodate all, or most, of the evidence, its theoretical power would remain limited”, schreibt Hales (1999, 341) und fährt fort: This is because it is primarily an integrative model – a way of ordering disparate pieces of evidence – rather than an explanatory one. In short, it re-describes what managers do, rather than explains why they do what they do. (a.a.O.)
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B) Methode und Methodendiskussion
Abbildung 25: Think-Lead-Do (Quelle: Mintzberg 1994, 23) Hales’ zweiter Einwand hat prima facie seine Berechtigung, Hales entgeht aber, wie der Autor glaubt, ein fundamentales Detail. Auf den ersten Blick ist Hales ganz und gar beizupflichten: Mintzbergs Modell strukturiert mehr als es expliziert. Auf den zweiten Blick zeigt sich darüber hinaus, dass der Vorwurf im Grunde wieder auf das Problem zielt, das schon die Shadowing-Studie plagte: Ohne Verwurzelung in einer fundierenden Theorie schwebt auch der wohlgerundete Manager selbstevident im luftleeren Raum. Hales geht also einen richtigen Schritt, wenn er mit Giddens’ Strukturationstheorie eine soziologische Theorie heranzieht, um Management nicht nur in sich selbst, sondern in einer tieferliegenden, allgemeineren Theorie des Sozialen zu verwurzeln (vgl. Hales 1999, 342-347) – denn Verwurzelung scheint Mintzbergs Nussschalenmodell genauso zu fehlen wie seinen zehn Rollen. Sieht man jedoch ein drittes Mal hin, zeigt sich, dass Mintzbergs Modell durchaus verwurzelt ist. Nicht, wie Hales es fordert, in einer expliziten Theorie des Sozialen. Sondern – sehr viel realistischer, wie der Autor glaubt – in einer impliziten Theorie des Menschseins, insbesondere der humanen Kognition. Der Autor etikettiert das als Mintzbergs stillschweigenden, unausgesprochenen „cognitive turn“.
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c) Mintzbergs „cognitive turn“ Aus soziologischer Perspektive lässt sich argumentieren, dass gerade der Manager der Gegenstand par excellence einer Sozialtheorie ist: der kompetente soziale Akteur, der mit „der Welt dort draußen“, mit „den anderen“ umzugehen weiß. Dass Managen primär eine soziale Praxis darstellt, stellt natürlich niemand in Abrede. Aus der Perspektive des Autors konstituiert sich das Soziale, in nicht-reduktionistischer, emergenter Art und Weise, aber über Individuen (anders Luhmann und die Luhmann’sche Systemtheorie, vgl. Luhmann 1987; vgl. ferner ausführlich D.II). Das Soziale konstituiert sich nicht als physisches Substrat, sondern psychisch aus Erwartungen und Erwartungserwartungen einzelner Individuen, einzelner Menschen. Die Realität dort draußen ist nicht sozial, ließe sich mit konstruktivistischer Terminologie sagen, die Wirklichkeit im Kopf der Akteure ist es. Und genau das steht im Mittelpunkt des Mintzberg’schen Modells: der Kopf einer Person, die über Erfahrungen, Wissen und Fähigkeiten verfügt. Zu der Zeit, da sie Managementverantwortung übernimmt, hat die Person mit Sicherheit Werte und mentale Modelle über andere Personen, über die Gesellschaft, über die Welt, über richtig und falsch, gut und schlecht, einen Stil ausgebildet. Das Soziale umgibt uns nicht, ließe sich sagen, es steckt in uns. Mintzbergs Modell ist also – im Prinzip – dadurch fundiert, dass er nicht von beliebigen intelligenten Akteuren in beliebigen sozialen Systemen handelt, sondern von menschlichen. Menschen verstehen bestimmte Dinge von ihrer „Grundausstattung“ her sehr gut, z. B. ihresgleichen; andere Dinge verstehen sie sehr schlecht, z. B. zeitlich und räumlich sehr weit auseinanderliegende oder multikausale Zusammenhänge – die deshalb „komplex“ heißen (Forrester 1971, 1974). In der Darstellung des Nussschalenmodells bei Mintzberg ist die Schlussfolgerung nicht ausgearbeitet. Dem Autor geht es auch nicht darum, Mintzbergs Modell in Schutz zu nehmen. Dem Autor geht es darum darzulegen, dass Mintzberg durch das Nussschalenmodell andeutet, was die vorliegende Arbeit unter D ausführlich ausarbeitet: dass soziale und individuale Perspektive im „Menschsein“ zusammenfließen. Deshalb sind weitreichende, aber vage soziologische Analysen mit konkreten neurobiologisch-anthropologischen, insbesondere kognitionswissenschaftlichen zu fusionieren. Anders ausgedrückt: Eine Theorie, welche die Beobachtung menschlicher Manager durch einen menschlichen Wissenschaftler fundiert, tut gut daran, von beiden Enden zu kommen: Mensch und Gesellschaft.
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II)
B) Methode und Methodendiskussion
Mintzbergs Shadowing-Studie
Ohne Zweifel markiert Henry Mintzbergs Arbeit einen, wenn nicht sogar den Höhepunkt der empirisch-akteurszentrierten Auseinandersetzung mit Management. Henry Mintzbergs 1966 begonnene, 1968 als Dissertation eingereichte und 1973 als The Nature of Managerial Work publizierte empirische Untersuchung basiert auf einer Anlage, die Mintzberg selbst kurz und bündig als „structured observation“ (1971, 99) bezeichnet, obwohl es sich bei genauerer Betrachtung um einen durchaus komplexen Mehrmethodenansatz handelt. Bei Mintzberg sind aber nicht nur die empirischen Daten per se von Wichtigkeit, sondern vor allem die Interpretation, zu der Mintzberg auf Basis der Daten gelangt. Unter II.1 stellt der Autor demnach die Methodik der Mintzberg’schen Studie dar, unter II.2 die direkten empirischen, unter III.3 schließlich die indirekten Ergebnisse. Ehe der Autor Mintzbergs Studie präsentiert, sieht er es als erforderlich an, Mintzbergs Status in der Management- und Betriebswirtschaftslehre zu diskutieren. Dass Mintzbergs Shadowing-Studie im Prinzip methodisch replizierbar angelegt ist, und auch im Resultat repliziert wurde (vgl. Kurke/Aldrich 1983), zeigt Mintzberg prima facie als akademisch orientierten, „harten“ empirischen Wissenschaftler. Wie die Diskussion zeigt, geht Mintzberg jedoch bereits mit der Shadowing-Studie von 1968 über seine empirische Basis hinaus. Als junger Doktorand hält er es noch für erforderlich, seine theoretisch-konzeptionellen Ergebnisse in das Gewand harter empirisch-quantitativer Forschung zu kleiden. 1994, als er das Nussschalenmodell vorstellt, blickt er auf eine Reihe erfolgreicher, ja bahnbrechender Publikationen wie The Rise and Fall of Strategic Planning (1994a) oder Mintzberg on Management (1989) zurück und ist als einer der herausragenden Managementdenker weltweit anerkannt. Die Argumentationslogik in Mintzbergs Artikel von 1994 ist weniger die eines harten, empirisch-quantitativen Forschers, mehr die eines qualitativen – mit etwas Polemik ließe sich sagen, dass der zunehmend erfolgreiche Mintzberg mehr und mehr als „Guru“ auftritt. „Some of the most successful gurus have been shameless flatterers of managerial ego“, schreiben Micklethwait und Wooldridge entsprechend in einer Passage, in der sie von Maschen der Managementgurus handeln (1996, 63f.) – und Mintzberg nennen sie in einem Atemzug mit Peter Drucker und Tom Peters. Mintzbergs Masche sehen Micklethwait und Wooldridge darin, die Schwierigkeiten des Managementjobs zu betonen: „Henry Mintzberg has repeatedly stressed the difficulty and complexity of managers’ jobs, reinforcing the idea that managers are special people, grappling with intractable problems” (ebd.). In der Auseinandersetzung mit Mintzberg als Autor gilt es also von Anfang zu sehen, dass Mintzberg auf der Schwelle zwischen Wissenschaftler und „Guru“ steht. Insofern ist er, wie der Autor meint, mit Fredmund Malik zu vergleichen. Insofern unterscheidet er sich von Tom Peters, der als ein reiner „Guru“ gelten darf, insofern unterscheidet er sich auch von Michael Porter, der deutlich akademischer und theoretischer argumentiert. Wichtig ist ferner, Mintzberg von Anfang an vor dem Hintergrund der Managementlehre, nicht vor dem der Betriebswirtschaftslehre zu sehen.
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II. Mintzbergs Shadowing-Studie
1. Methode Im Zentrum der Mintzberg’schen Studie steht, ähnlich wie bei Guests Pionierstudie (1956), teilnehmende Beobachtung. Aber anders als Guest, der eine große Anzahl von Vorarbeitern über sechzehn Stunden beobachtete, begleitete Mintzberg fünf Manager über einen Zeitraum von jeweils einer natürlichen Woche (fünf Arbeitstage). Wie bei Guest sind die Kandidaten alle auf derselben hierarchischen Ebene angesiedelt, allerdings bewegt sich Mintzberg nicht auf der Ebene des unteren, sondern auf der des Top-Managements. Mintzberg beobachtete Kandidaten aus mittleren und großen Organisationen, genauer gesagt handelt es sich um Chief Executives eines (1) Beratungsunternehmens, (2) einer Schulverwaltung, (3) eines Technologieunternehmens, (4) eines Konsumgüterherstellers und (5) eines Krankenhauses. Das Verfahren der strukturierten Beobachtung, das Mintzberg anwandte, basierte auf der Verwendung von drei Protokollen oder records. Mintzberg betont, dass die Codierung sowohl vor Ort als auch nachträglich geschah. Die Aufzeichnungen wurden durch anekdotische Information ergänzt.
Im chronology record verzeichnete der Autor in situ und in Realzeit die Aktivitäten der beobachteten Person. In letzter Konsequenz protokollierte der chronology record also, was ein Manager im Tagesverlauf beobachtbar tut. So wurde die Anzahl und Dauer von Telefonanrufen, von Arbeitsphasen am Schreibtisch, von geplanten oder ungeplanten Meetings, von Touren durch die Abteilungen etc. schlicht und einfach gezählt. Ein mail record registrierte die bearbeitete Korrespondenz (vor allem natürlich Briefe). Insgesamt registrierte Mintzberg 890 im Verlauf der fünf Wochen verarbeitete Korrespondenzeinheiten. Bei jeder Einheit wurden ihre mutmaßliche Zielsetzung, ihr Format, die Herkunft sowie die ihr entgegenbrachte Aufmerksamkeit und die von ihr ausgelöste Aktion protokolliert. Ähnlich strukturiert war der contact record, der schließlich insgesamt 368 verbale Interaktionen – also Telefongespräche, geplante oder ungeplante Besprechungen, Touren durch die Abteilungen – verzeichnete. Für jede Interaktion, deren Dauer ja das chronologische Protokoll erfasste, hielt Mintzberg die teilnehmenden Personen, die Form der Initiierung sowie den Ort fest.
2. Resultate Die Ergebnisse, die Mintzberg zu einiger Berühmtheit gelangen ließen, sind auf zwei Ebenen angesiedelt. Sie bewegen sich zum einen auf der Ebene der Verhaltens- bzw. Handlungsbeschreibung (Work Activities), zum anderen auf der Ebene der managerial jobs. 2.1 Resultate I: Work Characteristics Auf der ersten Ebene wertet Mintzberg die Daten vor allem seiner chronologischen Protokolle aus. Auf Basis der numerischen Daten – wie z. B. dass über die Hälfte der beobachteten Aktivitäten von Managern weniger als neun Minuten dauerte, ehe sie beendet waren oder unterbrochen wurden – gelangt er zu einem Katalog von Charakteristiken, die seiner Meinung nach managerielle Arbeit beziehungsweise managerielle Tagesabläufe auszeichnen. Es sind vor allem diese characteristics of managerial work, die Schlussfolgerungen
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B) Methode und Methodendiskussion
also, die zunächst dargestellt werden. Das bedeutet keineswegs, dass die numerischen Daten nicht von Interesse sind: Wie lange Manager durchschnittlich ungestört an ihrem Schreibtisch arbeiten oder wie viele Telefonanrufe sie täglich entgegennehmen, erörtert die Arbeit aber in Zusammenschau mit Ergebnissen der vom Autor selbst durchgeführten Studie. Charakteristik 1: Gewaltiges Arbeitspensum, kaum Pausen Der Manager bewältigt ein gewaltiges Arbeitspensum und der Druck auf ihn lässt selten oder nie nach. Auch wenn die ermittelte Wochenarbeitszeit von 40,4 Stunden (vgl. Mintzberg 1973, 242) aus Sicht heutiger Führungskräfte als geradezu paradiesisch erscheinen dürfte33, und sogar Mintzberg zugesteht, dass die zeitliche Inanspruchnahme zumindest oberflächlich nicht gravierend von der „gewöhnlicher“ Arbeiter abweicht, zeigt die Studie, dass der Managerjob ein überaus belastender ist. Denn das bewältigte Pensum ist enorm, Pausen sind selten, Zeit zur freien Verfügung äußerst rar (Mintzberg 1973, 30): „A true break seldom occured. Coffee was taken during meetings, and lunchtime was almost always devoted to formal or informal meetings. When free time appeared, ever-present subordinates quickly usurped it.” Vor allem der letzte Satz deutet auf ein Charakteristikum, das die Arbeit eines Managers von anderen, durchaus komplexen professionellen Tätigkeiten unterscheidet: die, wie Mintzberg es ausdrückt, unabgeschlossene Natur (open-ended nature). Anders als beispielsweise ein Staatsanwalt, der zumindest potenziell einmal alle ihm vorliegenden Fälle bewältigen könnte, hat die Arbeit eines Managers keine in sich abgeschlossenen Einheiten, keinen natürlichen Anfang und kein natürliches Ende: „The manager is responsible for the success of his organization, and there are really no tangible mileposts where he can stop and say, ‚Now my job is finished’“ (Mintzberg 1973, 30). Dass Manager unter Zeitdruck stehen, scheint aus heutiger Sicht nicht als Erkenntnis auf, die der ausgreifenden wissenschaftlichen Begründung bedarf. Tatsächlich gilt „der Manager“ geradezu als Inbegriff der unter Zeitdruck stehenden Person, und das dürfte Ende der sechziger Jahre nicht anders gewesen sein. Mintzbergs Charakterisierung ist aber in Kontrast mit klassischen Managementkonzeptionen zu sehen, welche besonders TopManager als systematische, reflektierte Planer konzipieren, die das große Bild im Auge behalten, dafür aber das day-to-day-Management untergeordneten Chargen überlassen. Für Mintzberg ist die Vorstellung des Managers als Planer, der sich einen oder zwei Schritte von Routineaufgaben entfernt, um Reflektionen über die „Große Strategie“ anzustellen, ein von der klassischen Managementlehre in die Welt gesetzter Volksaberglaube (folklore). Die Beweislage mit Blick auf diese Behauptung sei überwältigend, macht Mintzberg in Folklore and Fact (vgl. Mintzberg 1990, 164f.) geltend – und Fakt sei, dass das Postulat eines systematisch-reflektiven Managers nicht von einem Fetzchen empirischer Evidenz gestützt werde. Studie um Studie (z. B. Carlson 1951; Copeman/Luijk/Hanika 1963; Horne/Lupton 1965) sei zu dem Ergebnis gelangt, dass auch hochrangige Manager der systematischen, reflektierten Planung weder zugeneigt seien noch über die notwendige Zeit dazu verfügten. „It seems that the manager cannot expect to have much time for leisurely reflection during office-hours”, resümiert Mintzberg die Ergebnisse seiner eigenen Studie (vgl. Mintzberg 33 Wobei zu bedenken ist, dass Mintzbergs Untersuchung, aus naheliegenden forschungstechnischen Gründen, lediglich die Arbeit vor Ort erfasst. Arbeit, die der Manager am Abend zu Hause oder während Dienstreisen bewältigt, ließ Mintzberg außen vor. Die angegebene Durchschnittsarbeit von 40,4 Stunden ist demnach als Präsenzzeit in-house anzusehen.
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II. Mintzbergs Shadowing-Studie
1971, 99). Und, wie um zu beweisen, dass Manager nicht doch außerhalb der Bürozeiten Pläne schmieden: „During ‚off’ hours our chief executives spent much time on workrelated reading” (ebd.).34 Charakteristik 2: Vielfalt, Zersplittertheit, Kürze Managerielle Aktivität ist charakterisiert durch Vielfalt, Zersplittertheit und Kürze. „There seems to be no pattern to managerial activity“, führt Mintzberg mit Blick auf seine eigenen und Daten anderer Studien aus. „Rather, variety and fragmentation appear to be characteristic, as successive activities deal with issues that differ greatly both in type and content” (Mintzberg 1971, 99f.). Die Vielfalt bringt es beispielsweise mit sich, dass Manager gewöhnlich nicht über einen strukturierten Tagesablauf verfügen – nicht einmal über einen vage strukturierten, etwa dahingehend, dass die Führungskraft vormittags die Korrespondenz aufarbeitet, die Nachmittage in Sitzungen verbringt. Auch wechseln sich Angelegenheiten von höchster Wichtigkeit und ausgemachte Trivialitäten ohne Muster ab. Nachdem der CEO über einen katastrophalen Brand in einem Werk unterrichtet wurde, widmet er sich der Post, die, wie er weiß, zum größten Teil irrelevant ist. Im einen Augenblick werden Multi-Millionen-Dollar-Vertragsverhandlungen diskutiert, im anderen Augenblick beklagt man sich, dass in einer Abteilung der zur Verfügung stehende Platz nicht genutzt werde (vgl. Mintzberg 1973, 31). Mit der Zersplitterung einher geht die Kürze managerieller Aktivitäten. Äußerst selten widmen Manager sich längere Zeit ungestört einer Aktivität. Dass die Hälfte der von Mintzberg beobachteten Aktivitäten weniger oder gleich neun Minuten in Anspruch nahm, wurde bereits erwähnt. Charakteristik 3: Stimulus-Response, Präferenz für Konkretes Manager bevorzugen es, sich mit Angelegenheiten zu beschäftigen, die aktuell ihrer Aufmerksamkeit bedürfen und konkret sind. „The managerial environment is clearly one of stimulus-response“, fasst Mintzberg (1971, 100) die Eindrücke zusammen, die er aus der Beobachtung des Arbeitsverhaltens der fünf Manager zieht. Mit der Stimulus-ResponseMetapher gemeint ist, dass Manager sich nicht abschirmen, um in Ruhe und Muße und gemäß ihres eigenen, inneren Tempos einer wie auch immer gearteten „eigentlichen Arbeit“ nachzugehen. Der Arbeitstag eines Managers, auch eines Chief Executive, ist hingegen sehr stark von äußeren Impulsen, Zwängen und Verpflichtungen bestimmt – der plötzliche Anruf eines Kunden, der unerwartete Besuch des Vertriebsleiters, aber auch die drängende finale Deadline. Dies führt, wie Mintzberg vermutet, im Verlauf der Karriereentwicklung zu einer Konditionierung bzw. Selektion: „The job breeds adaptive informationmanipulators who prefer the live, concrete action“ (1973, 38), führt Mintzberg gegen die klassische Lehrmeinung aus, dass vor allem der „reflektive Planer“ als Top-Manager reüssiere. 34
Die Frage, die sich hier zwangsläufig anschließt, ist freilich: Postuliert Mintzberg allen Ernstes, dass Manager, zumal Top-Manager, überhaupt nicht planen? Die Antwort könnte lauten: Nein, aber Planung geht anders vonstatten als die Klassiker der akademischen Managementlehre sich das ausmalen. Planung, einschließlich des Begriffes der Strategie, ist ein von Mintzberg wiederholt aufgegriffenes Thema. Mintzbergs Kernthese ist, dass Planung kein abstrakter Prozess ist, der losgelöst von der täglichen Arbeit geschieht. Tatsächlich planen Manager, während sie arbeiten – und umgekehrt: „When managers plan, they seem to do so implicitly in the context of daily actions, not in some abstract process reserved for two weeks in the organization’s mountain retreat.” (Mintzberg 1990, 164f.)
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B) Methode und Methodendiskussion
Dass Manager ihre Aufmerksamkeit bevorzugt dann auf Dinge richten, wenn sie aktuell anstehen, Ad-hoc-Angelegenheiten größere Aufmerksamkeit widmen als Routineangelegenheiten, ließ sich auch auf Basis der Daten zeigen – wenn auch lediglich indizienhaft. Von 40 routinemäßigen Berichten, die die fünf Manager während der fünf Wochen vorgelegt bekamen, lösten lediglich zwei schriftliche Reaktionen aus. Und obwohl die fünf TopManager während der fünf Wochen insgesamt 104 Zeitschriften in Augenschein nahmen, führte das in lediglich vier Fällen zu einer Reaktion. Ganz anders verhält es sich, wenn man nicht-routinemäßige Korrespondenz betrachtet, die oft Reaktion nach sich zog. Was Konkretheit betrifft, rekurriert Mintzberg vor allem auf seine informellen, anekdotischen Beobachtungen, um die Vermutung zu stützen, dass Manager es vorziehen, sich mit konkreten Dingen zu befassen. Nur äußerst selten, berichtet Mintzberg, konnte er beobachten, dass Manager sich an allgemeinen, „abstrakten“ Diskussionen beteiligten oder grundsätzliche Planungen vornahmen: „During working hours, it was rare to see a chief executive participating in abstract discussion or carrying out general planning“ (Mintzberg 1973, 37). Charakteristik 4: Boundary Spanner Der Manager steht zwischen seiner Organisation und einem Netzwerk von Kontakten. Sowohl Mintzbergs eigene als auch die zahlreichen von ihm gesichteten Studien belegen übereinstimmend, dass Manager einen überraschend großen Anteil ihrer Zeit für horizontale und laterale Kommunikation aufwenden: In der Studie verwandten Manager z. B. 52 Prozent ihrer mit verbalen Interaktionen verbrachten Zeit auf Kontakte zu Außenstehenden (Kunden, Lieferanten u. a.). Auch unter Bezugnahme auf Sayles’ Studie (1964) gelangt Mintzberg deshalb zu der Einschätzung, dass Manager sich ihre eigenen Informationssysteme schaffen durch Aufbau und Pflege komplexer Kontaktnetzwerke: „[T]he manager is surrounded by a diverse and complex web of contacts which serves as his self-designed external information system“ (Mintzberg 1971, 100). Mit Blick auf Public Relations von besonderem Interesse ist Mintzbergs Postulat deshalb, weil es ein Charakteristikum, das PR-Theoretiker (wie z. B. Grunig) als Spezifikum des PR-Managers in Anspruch nehmen, wie selbstverständlich für alle Manager geltend macht. Nicht lediglich der Kommunikationsmanager fungiert als Boundary Spanner der Organisation, sondern jeder Manager: „Figuratively, the manager appears as the neck of an hourglass, sifting information into his own organization from its environment“ (Mintzberg 1971, 101). Charakteristik 5: Präferenz für verbale Kommunikation Manager präferieren verbale Kommunikation. Auf Basis der Beobachtung manageriellen Kommunikationsverhaltens und einer Überwachung und Auswertung der verfügbaren Kommunikations-„Medien“ stellt Mintzberg fest, dass Manager – in Übereinstimmung mit Charakteristik 3 – sehr stark verbale Kommunikation präferieren. Mit Blick auf die fünf von ihm beobachteten Kanäle managerieller Kommunikation (1) Post, (2) Telefon, (3) ungeplante Besprechung, (4) geplante Besprechung sowie (5) Tour zeichnet Mintzberg folgendes Bild: Korrespondenz (Briefe). Die Daten deuten darauf hin, dass Manager schriftliche Kommunikation nicht besonders schätzen, insbesondere dann, wenn es sich um formale Kommunikation handelt: Quartalsberichten oder ähnlichen Schriftstücken widmeten die analysierten Führungskräfte allenfalls kursorische Aufmerksamkeit.
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II. Mintzbergs Shadowing-Studie
Im Durchschnitt gaben die Manager an, dass lediglich 13 Prozent der eingegangenen Post von spezifischem und unmittelbarem Wert für sie sei. Von sich aus initiierten die Manager vergleichsweise wenig Korrespondenz (durchschnittlich 25 Einheiten), ein viel größerer Anteil wurde in Reaktion auf empfangene Korrespondenz versandt (also z. B. als Beantwortung einer Anfrage) oder bestand schlichtweg aus der Weiterleitung empfangener Korrespondenz an Mitarbeiter und Kollegen. Die Abneigung gegenüber schriftlicher Kommunikation stellt Mintzberg als ein ganz ausgeprägtes Charakteristikum von Managern dar. „I don’t like writing memos, as you can probably tell“, zitiert er eine der Untersuchungspersonen (1973, 41). Allerdings gilt es zu sehen, dass Mintzbergs Studie nahezu vierzig Jahre alt ist. In der Zwischenzeit ist nicht nur eine völlig neue Managergeneration herangewachsen, mit E-Mail und SMS liegen darüber hinaus Hybridformen schriftlicher Kommunikation vor, die sich sehr viel informeller und reaktionsschneller als der förmliche Brief darstellen: Dies stellt, das sei vorweggenommen, für die eigene Studie des Autors eine große Herausforderung dar. Telefonate und ungeplante Besprechungen. Telefonate und ungeplante Besprechungen (Begegnungen „zwischen Tür und Angel“ u. Ä.) fasst Mintzberg unter der Bezeichnung „informelle Interaktionen“ zusammen. Denn beide kommen, wie er feststellte, in der überwiegenden Zahl der Fälle zwischen Personen zustande, (1) die sich gut kennen, dementsprechend auf Formalitäten verzichten können; (2) wenn eine dringliche Angelegenheit eine unverzügliche Besprechung erforderlich macht; (3) oder es sich um kurze Anfragen handelt. Auch sind die zwei Typen gegeneinander substituierbar: Mitarbeiter, die in räumlicher Nähe zu einem CEO arbeiten, bevorzugen es erwartungsgemäß, „den Chef“ informell in seinem Büro aufzusuchen. Ist er nicht verfügbar, greifen sie zum Telefon. Zusammengenommen machten die beiden Interaktionstypen zwei Drittel aller Kontakte35 der Studie aus. Allerdings zeigte sich auch, dass informelle Interaktionen der Tendenz nach eher kurz sind: die durchschnittliche Dauer eines Telefonats betrug sechs, einer ungeplanten Besprechung zwölf Minuten. Geplante Besprechungen. Durchschnittlich verbrachten die Manager in Mintzbergs Studie über die Hälfte ihrer Arbeitszeit (59 Prozent) in geplanten, formellen Besprechungen. Formelle Besprechungen fanden in der Regel in größerem Rahmen – also mit einer größeren Anzahl von Personen – und außerhalb des eigenen Büros statt. Was die Zwecksetzung anbelangt, unterscheidet Mintzberg, ohne das weiter auszuführen, drei verschiedene Typen: zeremonielle Anlässe (ceremony), Strategiesitzungen (strategy-making) und Verhandlungen (negotiation). Allen drei Aktivitäten ist gemein, dass sie vergleichsweise zeitaufwändig sind und es erforderlich machen, mehrere, häufig verstreut arbeitende Personen „an einen Tisch“ zu bekommen. Wohl auch weil ihm vor Augen steht, dass mehrstündige Sitzungen nicht mit zweiminütigen Telefonaten vergleichbar sind, widmet Mintzberg der Diskussion von Mustern, Stadien und Routinen geschäftlicher Besprechungen vergleichsweise großen Raum. So vermutet er, dass besonders die informellen Phasen einer Besprechung – wie sie in geradezu ritueller Art 35 Der Zahl, nicht der Zeit nach: Von der Zeit her nahmen ungeplante Besprechungen (10%) und Telefonate (6%) insgesamt 16% der beobachteten Gesamtarbeitszeit ein (vgl. Mintzberg 1973, 39).
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B) Methode und Methodendiskussion
und Weise vor und nach der Beschäftigung mit der Kernfrage stehen – eine wichtige Quelle der Insider-Informationen36 sind, über die Manager aufgrund und entsprechend ihrer Platzierung auf der Hierarchieleiter verfügen: „[…] the early ritualistic discussion leads to the trading of information that may be important to the manager, even though it is unrelated to the meeting. Gossip about peers in the industry is exchanged; comments are made on particular encounters the participants have recently had or published materials they have recently read; important political events are discussed and background information is traded” (1973, 43). Tour. Zu Mintzbergs Überraschung schlugen Begehungen (walking around) lediglich mit drei Prozent (bei Carlson: 10 Prozent; bei Stewart: 6 Prozent) im Zeitbudget der beobachteten Führungskräfte nieder – und das obwohl die beobachteten Personen die Wichtigkeit gelegentlicher Touren durch die Werkshallen, Klassenzimmer oder Büros betonten. Nichtsdestotrotz blieb das eigene Büro das Gravitationszentrum der Arbeit: „Managers appear hesitant to leave their offices unless they have specific reasons to do so“ (1973, 44). Angesichts der Zeit, die Manager mit ihrer Korrespondenz, mit Gesprächen und Besprechungen verbringen, drängt sich dem unbedarften Beobachter die Frage auf, wie und wann Führungskräfte zu ihrer „eigentlichen“ Arbeit kommen. Für Mintzberg liegt der Frage ein Missverständnis zugrunde. Schärfer und nachdrücklicher als andere vor ihm arbeitet er heraus, dass der Umsatz von Information, ihre Aufnahme, Verarbeitung und Verteilung, die „eigentliche“ Arbeit darstellt: „It should be noted here that the manager does not leave the telephone or the meeting to get back to work. Rather, communication is his work, and these media are his tools” (Mintzberg 1971, 101). Charakteristik 6: Selbstgewählte Getriebenheit Trotz des Übergewichts der Obligationen gelingt es Managern, die Kontrolle über ihre Angelegenheiten zu behalten. Mintzbergs letzte These ist vor allem in Abgrenzung gegenüber Forschern zu sehen, die Manager als „getriebene“ oder zumindest „fremd gesteuerte“ Personen charakterisieren. Mintzberg folgt ausdrücklich nicht der Einschätzung Sune Carlsons (1951), dass Manager letztlich „Marionetten“ ihrer eigenen Arbeit sind. Auch in Ansicht eigener Ergebnisse gesteht Mintzberg zwar zu, dass die Datensituation Carlsons Diktum stützt: Unterteilt man die von Mintzberg beobachteten Aktivitäten beispielsweise in aktive und passive Vorgänge, so überwiegen die passiven, reaktiven Vorgänge bei weitem (deshalb Stimulus-Response); der durchschnittliche Manager beantwortet deutlich mehr Anfragen als er von sich aus an andere Personen oder Stellen richtet. Auf Basis derartiger Ergebnisse grundsätzliche „Getriebenheit“ zu diagnostizieren, ist aus Mintzbergs Sicht jedoch voreilig. Vor allem hochrangige Manager entscheiden in vielen, sicherlich nicht allen Fällen selbst, welchen Projekten sie sich mittel- bis langfristig verschreiben, welchen Gruppierungen sie ihre Aufmerksamkeit widmen. Haben sie sich einmal entschieden, entsteht bei ausschnittshafter Betrachtung freilich der Eindruck, dass sie passiver Spielball äußerer, von Drittparteien herangetragener Einflüsse sind. Von entscheidender Bedeutung 36 Wie das Zitat zeigt, ist der Begriff der Insider-Information hier nicht im juristischen Sinne, etwa wie in §13 Wertpapierhandelsgesetz, zu verstehen, sondern in seiner weiten, alltagssprachlichen Bedeutung: es geht also um Gerüchte, Hörensagen etc.
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II. Mintzbergs Shadowing-Studie
ist aber, dass sie bewusst und absichtsvoll Obligationen auf sich nehmen, um auf Angelegenheiten, die ihnen wichtig und verfolgenswert erscheinen, gestaltend einzuwirken. 2.2 Resultate II: Die zehn Managementrollen Mit der Charakterisierung managerieller Arbeit legte Mintzberg eine Analyse vor, die zehn Jahre später in einer Replikation durch Kurke und Aldrich (1983) weitestgehende Bestätigung erfahren würde. Noch wirkmächtiger an The Nature of Managerial Work erwies sich jedoch, dass Mintzberg über Observation und Interpretation hinausging und einen Versuch unternahm, Management inhaltlich zu durchdringen. Als Ergebnis gelangte er zu einem Klassifizierungsschema, das Management als wechselnde Ausübung von zehn Management-Rollen beschreibt. Freilich stellte dabei nicht die Zerlegung der Gesamtaufgabe Management in mehrere Aspekte das Novum dar – denn eine analytische Zerlegung legte ja bereits Fayol vor. Das Novum war die Erklärungskraft, welche die vorgestellten Rollen entfalteten – ihr Wiedererkennungswert. Anders als die abstrakten, a priori ableitbaren Managementfunktionen der klassischen Managementlehrbücher (Koordination, Organisation, Kontrolle etc.), ließen sich die Mintzberg’schen Rollen konkret und praktisch in der beruflichen Realität beobachten. Sie stellten einen Anschluss zwischen Theorie und Praxis her, wie er in dieser griffigen, augenfälligen Form neu gewesen zu sein schien. Methodisch gilt es sich vor Augen zu führen, dass das Mintzberg’sche Rollenmodell weder vor der teilnehmenden Beobachtung als Kategoriensystem vorlag noch durch fortgeschrittene statistisch-analytische Verfahren (Hauptkomponentenanalyse o. Ä.) aus der Datenbasis abgeleitet wurde. Vielmehr stellen die zehn Rollen das Ergebnis eines über dreijährigen Experimentierens mit den Daten dar. Mintzberg unterwarf seine Korrespondenz- und Interaktionsprotokolle zunächst der leitenden Frage, weshalb der Manager dieses oder jenes tat. Die Antworten arrangierte und re-arrangierte er solange, bis er der Meinung war, zu einem sinnstiftenden, plausiblen Klassifikationssystem gelangt zu sein, das die Ergebnisse in ihrer Gesamtheit integrierte: „The answers were collected and grouped and re-grouped in various ways (over the course of three years) until a typology emerged that was felt to be satisfactory“ (Mintzberg 1971, 102). Dass auf Basis der vorgestellten Methode kein Beweis im strengen sozialwissenschaftlichen Sinne zu führen ist, gibt Mintzberg bereitwillig zu (a.a.O.): „Every induction is a speculation and it guesses at a unity which the facts present but do not strictly imply”, zitiert er einen Artikel Bronowskis, der sich, und darin dürfte Mintzbergs größte Leistung liegen, mit kreativen Prozessen auseinandersetzt (Bronowski 1958, zit. n. Mintzberg 1971, 102; vgl. auch III. zu scraps of evidence und rich points). Eine Übersicht über die zehn Rollen, einschließlich einiger der in der deutschsprachigen Literatur angebotenen Übersetzungen, vermittelt Abbildung 26. Formale Autorität und Status (Formal Authority and Status) Ehe die in Abbildung 26 dargestellten Rollen erläutert werden, gilt es, auf die Bedeutung formal zugewiesener Autorität und auf die Bedeutung von Status in der Mintzberg’schen Konzeption zu verweisen. Auch gilt es zu berücksichtigen, dass die Rollen bei Mintzberg in Abhängigkeit, wenn auch in lockerer Abhängigkeit, voneinander konzipiert werden. Knappe Darstellungen vernachlässigen das oftmals, wodurch der Eindruck entsteht, die Rollen erwüchsen nicht aus einem übergreifenden Verständnis von Management per se, sondern seien vielmehr aus der Luft gegriffen. Tatsächlich konzipiert Mintzberg die zehn Rollen als
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B) Methode und Methodendiskussion
Ausfluss der Tatsache, dass ein Manager die Person darstellt, die für eine Organisation in toto oder eine Suborganisation verantwortlich ist. Mit der Verantwortung einher geht formale Autorität, aus der wiederum Status resultiert. Erst formale Autorität und Status ermöglichen es einem Manager, seinen Job in angemessener Art und Weise zu erledigen. Aus diesem Zusammenhang heraus erklärt sich auch, weshalb viele Jobs vor allem ranghoher Manager nicht oder nur begrenzt delegierbar sind: ein Aspekt, der bei der nachfolgenden Diskussion der Rollen aufgegriffen werden wird. Was die Rollen selbst anbelangt, sei nochmals angemerkt, dass Mintzbergs Rollenbegriff sich keineswegs auf den elaboraten subjektiven Rollenbegriff der Sozialpsychologie und Soziologie stützt. Hales (1986; 1999) ist beizupflichten, wenn er geltend macht, dass Mintzberg den Begriff der Rolle wie ein „Etikett“ verwendet, ohne eine wie auch immer geartete Theorie dahinter.
Abbildung 26: Mintzbergs zehn Rollen (Quelle: nach Mintzberg 1990, 168) Die Beziehungsrollen (Interpersonal Roles) (1) Figurehead. „As the head of an organizational unit, every manager must perform some ceremonial duties“, schreibt Mintzberg in The Manager’s Job: Folklore and Fact (1990, 168) mit Blick auf die Rolle, die Manager als „Galionsfiguren“ oder „Repräsentanten“ ihrer Organisationen wahrnehmen. (2) Leader. Die Rolle als Vorgesetzter und Führungskraft darf vielleicht als die urwüchsigste, offensichtlichste Managementaufgabe angesehen werden. Führung, in ihren verschiedenen Ausprägungen von mentoring und coaching bis hin zu direkten, nicht in Frage zu stellenden, sanktionsbewehrten Befehlen, gehört jedenfalls zu der Handvoll von Rollen, die bereits von analytisch-funktionalistischen Theoretikern klar und eindeutig iden-
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II. Mintzbergs Shadowing-Studie
tifiziert (vgl. z. B. Koontz/O’Donnell 1955), von einigen populäreren Autoren sogar als die paradigmatische Managementfunktion schlechthin herausgestrichen wurde (vgl. z. B. Zaleznik 1977; vgl. hierzu auch Mintzberg 1994, 11). Insofern ist es der Erwähnung wert, dass Mintzberg Führung nicht als erste, sondern als zweite der zehn Rollen konzipiert: Ähnlich wie bei Hales (vgl. 1999) scheint hier der Gedanke auf, dass die Autorität eines Managers nicht ausschließlich auf der formal übertragenen Verantwortung ruht, sondern ganz wesentlich mit seiner Bereitschaft zusammenhängt, sich mit Blick auf eine Sache zu exponieren – was eben in der als erstrangig angesehenen Rolle als Galionsfigur geschieht.37 (3) Liaison. In der deutschen Literatur kursieren für die Rolle, die Mintzberg mit liaison bezeichnet, vor allem zwei Übersetzungen: „Vernetzer“ einerseits und „Koordinator“ andererseits. Der Kern der Rolle ist, dass Manager Kontakt zwischen ihrer Abteilung und anderen Einheiten halten. Die Informationsrollen (Informational Roles) (4) Monitor. Was die Monitor-Rolle anbelangt, ist zunächst vorwegzuschicken, dass nicht nur verschiedene deutsche Übersetzungen angeboten werden, sondern dass auch die Begriffsverwendung bei Mintzberg selbst variiert: So verwendet der Autor in einem älteren Artikel, der 1971 in der Zeitschrift Management Science (Mintzberg 1971) erschien, noch den Begriff Nervenzentrum (nerve center), der dann allerdings in Folklore and Fact durch Monitor (monitor) ersetzt wurde. In jedem Fall sind die angloamerikanischen Begrifflichkeiten schillernder als ihre deutschen Äquivalente „Radarschirm“ und „Informationssammler“. Es ist anzunehmen, dass der begriffliche Wechsel bei Mintzberg vorgenommen wurde, um die Informationsaufnahme gegenüber der Informationsverarbeitung zu betonen. Denn in der Radarschirm-Rolle entscheidet der Manager nicht, sondern beobachtet: „As monitor, the manager is perpetually scanning the environment for information, interrogating liaison contacts and subordinates, and receiving unsolicited information, much of it as a result of the network of personal contacts” (Mintzberg 1990, 169). Das Zitat deutet an, was Mintzbergs Ergebnisse in Übereinstimmung mit Ergebnissen anderer Managementforscher wie etwa Kotter oder Stewart zeigen: dass ein Großteil der von Managern aufgenommenen Informationen keineswegs systematisch aufbereitete Fakten sind, wie sie durch ein Management-Informations-System (MIS) bereitgestellt werden. Insbesondere hochrangige Manager „leben“ von Gerüchten, Hörensagen und der Tatsache, dass sie aufgrund ihres eigenen Status Zugang zu privilegierten Informationen von ihresgleichen haben. (5) Disseminator. Der Begriff disseminator wurde in verschiedenen Darstellungen mit „Sender“ übersetzt, was die Gefahr der Verwechslung mit der Sprecherrolle birgt. Zu präferieren ist die blasse, aber treffende Bezeichnung „Informationsverteiler“. Denn der in der disseminator-Rolle tätige Manager ist damit beschäftigt, privilegierte Information, die zunächst nur ihm selbst zur Verfügung stand, an untergeordnete Instanzen weiterzuverteilen. Das Spektrum reicht dabei von der banalen Verteilung faktischer Informationen (z. B. Weiterleitung von E-Mails an die entsprechenden Sachbearbeiter) bis hin zu selektiver, hochsensibler Interpretation (Meinungs- und Stimmungsbericht aus der Vorstandssitzung). (6) Spokesperson. Folgt man der Mintzberg’schen Darstellung, so ist die Rolle als Informationsverteiler vor allem nach innen gerichtet, während sich der Manager in der Inwiefern es sich kommunikationsethisch begründen lässt, dass eine Führungskraft, die sich öffentlich bezüglich eines Themas exponiert („Chefsache“), dadurch moralische Ansprüche erwirbt, stellt eine interessante Frage dar.
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B) Methode und Methodendiskussion
spokesperson- oder Sprecherrolle zuvorderst an außenstehende Gruppierungen wendet: „In the spokesperson role, the manager sends some information to people outside the unit“, führt Mintzberg aus: „[A] president makes a speech to lobby for an organization cause, or a foreman suggests a product modification to a supplier“ (Mintzberg 1990, 171). Wie sich noch an anderen Beispielen zeigen wird, ist die Darstellung der Rollen bei Mintzberg durch die Tatsache verzerrt, dass Mintzberg ausschließlich CEOs beobachtete. Für CEOs existiert zwar die Unterscheidung organisationsextern und organisationsintern, nicht aber die zwischen eigenen und fremden Verantwortungsbereichen in der Organisation. Mit Blick auf die Informationsrollen ist darüber hinaus zu konstatieren, dass Mintzberg die Schwierigkeiten der Abgrenzung zwischen Innen und Außen einer Organisation etwas leichtfertig außen vor lässt. Konkret gefragt: Würde man die Rede eines Vorstandes vor der aufgebrachten Belegschaft unter die Rolle Informationsverteiler subsumieren, weil der Redner eine nominell organisationsinterne Gruppierung adressiert? Ist die aufgebrachte Belegschaft, die sich gegen Restrukturierung wehrt, in der geschilderten Situation tatsächlich als organisationsintern anzusehen? Wäre wirklich die Rede von der Wahrnehmung der Sprecherrolle, wenn ein Abteilungsleiter seinen externen, außerhalb der Organisation stehenden Lieferanten eine E-Mail mit Informationen aus der Abteilung Qualitätsmanagement weiterleitet? Die Entscheidungsrollen (Decisional Roles) Was die Entscheidungsrollen betrifft, gilt es sich zunächst vor Augen zu halten, dass Manager die Dinge, über die sie entscheiden, selten selbst tun – je höher sie in der Hierarchie aufsteigen, desto seltener. Auch der viel gepriesene „Hands on“-Manager zeichnet sich nicht dadurch aus, dass er zwischen zwei Sitzungen eine Schicht an der Stanze einlegt – er zeichnet sich dadurch aus, dass er schnell und an Ort und Stelle Entscheidungen trifft. (7) Entrepreneur. Die Entrepreneur-Rolle konzipiert vor allem einen aktiven Entscheider, der kontinuierlich nach Möglichkeiten sucht, die Arbeit des eigenen Verantwortungsbereiches zu optimieren und/oder Innovationen zu propagieren38: „The entrepreneur role describes the manager as initiator and designer of much of the controlled change in his organization. The manager looks for opportunities and potential problems which may cause him to initiate action“ (1971, 105). Zwar gesteht auch Mintzberg ein, dass der Begriff Entrepreneur vor allem große „unternehmerische“ Angelegenheiten – wie das Aufbauen einer Werksanlage oder das Eindringen in neue Märkte – suggeriert. In seinem eigenen Verständnis ist der Begriff aber weiter und lockerer gefasst. Die kleinste Einheit, in der sich Entrepreneurship zeigt, stellt bei Mintzberg das improvement project dar: „[T]he marketing of a new product, the strengthening of a weak department, the purchasing of new equipment, the reorganization of formal structure, and so on“ (1971, 105). Wie eingangs erwähnt, ist der modus operandi des Managens allerdings nicht das eigenhändige Tun, sondern das Veranlassen und Steuern. Was improvement projects anbelangt, verfügen Führungskräfte über verschiedene Möglichkeiten: Delegation ist die Herangehensweise, die die Führungskraft bei Projekten von untergeordneter Bedeutung wählt. Das Engagement be38 Zum Verhältnis zwischen Optimierung und Innovation vgl. auch Mintzberg on Management (1989), wo Mintzberg argumentiert, dass von Unternehmen ein grundsätzlicher Spagat verlangt wird, der äußerst selten gelingt: Auf der einen Seite die Notwendigkeit, das eigene Tun (z.B. Schreibmaschinenherstellung) zu optimieren, um in konsolidierten Märkten konkurrenzfähig zu bleiben; andererseits die Notwendigkeit, innovativ zu sein (z.B. die Erkenntnis, dass Schreibmaschinen zunehmend aus Büros verschwinden).
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II. Mintzbergs Shadowing-Studie
schränkt sich auf die Auswahl der durchführenden Person, die dann freie Hand erhält, das Projekt sowohl eigenständig zu planen als auch eigenständig durchzuführen. In der Regel behält sich der Manager dabei das Recht vor, die verantwortliche Person auszutauschen, wenn Plan oder Durchführung nicht den Erwartungen entsprechen. Autorisierung/Authorization bedeutet, dass der Manager die zeit- und ressourcenaufwändige Planungsphase eines Projektes delegiert, die Durchführung aber nach seiner Maßgabe geschieht. Ein Stab arbeitet selbstständig mehrere Lösungsvorschläge aus und legt die Konzepte, wenn sie weitestgehend oder vollständig fertig sind, der Führungskraft vor. Die Führungskraft autorisiert dann das Konzept, das ihr am besten geeignet erscheint. Anders als bei der vollständigen Delegation sind die verantwortlichen Personen an eine spezifische Vorgehensweise gebunden. Supervision bedeutet, dass der Manager bereits während der Planungs- und Entwicklungsphase größtenteils eingebunden ist – sei es, weil das Projekt enorm folgenreich oder schwierig ist, weil die Interessen einer mächtigen Gruppierung in der Organisation tangiert werden, oder weil ein persönliches Interesse an der Angelegenheit besteht. Im Rahmen seiner Studie war Mintzberg so verblüfft von der Zahl der Projekte, die hochrangige Manager simultan unter Supervision hielten, dass er dies mit der Artistik eines Jongleurs verglich: „The manager as supervisor of improvement projects may be likened to a juggler. At any point in time he has a number of balls in the air. Periodically, one comes down, receives a short burst of energy, and goes up again. Meanwhile, new balls wait on the sidelines and, at random intervals, old balls are discarded, new balls added” (1973, 81). (8) Disturbance handler. Während Manager in der Entrepreneur-Rolle aktiv tätig sind, spiegelt die Rolle als disturbance handler vor allem das re-aktive Handeln wider. Die angebotenen deutschen Übersetzungen „Problemlöser“ und „Krisen-Manager“ reflektieren dabei die Bandbreite möglicher disturbances: von einem geringfügigen Problem bis hin zu einer ausgewachsenen Krise. (9) Resource allocator. Unabhängig davon, ob das aus einer aktiven oder re-aktiven Konstellation heraus geschieht, sind Manager gezwungen, über die Verwendung in der Regel knapper Ressourcen zu entscheiden. Dabei handelt es sich keineswegs nur um die Frage, wie Budgetmittel zu verteilen sind. Auch Personalbesetzung und das damit einhergehende Aufbauen einer Organisationsstruktur stellt Ressourcenallokation dar. Schließlich weist Mintzberg darauf hin (1990, 172), dass die eigene Zeit (und Aufmerksamkeit) nicht selten die wertvollste und knappste Ressource ist, über die ein Manager verfügt. (10) Negotiator. Die letzte der zehn Rollen ist schließlich die VerhandlungsführerRolle, die dann zu beobachten ist, wenn Manager die Verhandlungen ihrer Organisation mit außen stehenden Parteien führen. Nach Mintzberg geschieht das nicht häufig: „From time to time, the organization finds itself in major, non-routine negotiations with other organizations or individuals. It is frequently the manager who leads the contingent from his organizations” (1973, 90). Mintzberg selbst konnte in seiner Studie die Übernahme der Verhandlungsführer-Rolle lediglich in zwei Fällen beobachten: einmal im Rahmen einer Firmenübernahme, einmal in Verhandlungen mit einer Unternehmensberatung. Gerade mit Blick auf die Verhandlungsführer-Rolle gilt es sich aber vor Augen zu führen, dass Mintzberg CEOs beobachtete. Das hat zwei Konsequenzen. Erstens bedeutet bei Mintzberg der Begriff Verhandlung die Auseinandersetzung mit einer unternehmensexternen Partei. Das ist aber nicht der Definition von Verhandlung geschuldet, sondern der Tatsache, dass sich ein CEO selten mit der Situation konfrontiert sieht, unternehmensintern in der von Mintzberg gemeinten Art und Weise verhandeln zu müssen. Zweitens ist anzunehmen, dass sich CEOs
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B) Methode und Methodendiskussion
großer Unternehmen dann an Verhandlungen beteiligen, intern oder extern, wenn diese von existenzieller Wichtigkeit sind – was schlicht und einfach seltener vorkommt als Routineverhandlungen. Was Routinegeschäfte anbelangt, wird sich der oberste Unternehmensverantwortliche nicht am eigentlichen Ringen um Details und Klauseln beteiligen, sondern dann in Erscheinung treten, wenn eine Einigung gefunden ist – womit er in einer zeremoniellen Rolle agiert. Die Rollen als „Gestalt“ Bereits bei der Darstellung dürfte klar geworden sein, dass die zehn Managementrollen keineswegs als separierbare Teilaufgaben konzipiert sind. Die Rollen fügen sich, im Gegenteil, zu einem integrierten Ganzen, zu einer „Gestalt“: „It should be clear by now that these ten roles are not easily separable. In the terminology of the psychologist, they form a gestalt, an integrated whole. No role can be pulled out of the framework and the job be left intact”, schreibt Mintzberg (1990, 172). Mintzbergs Entwurf versteht sich also nicht als Abbildung einiger oberflächlicher Tätigkeitsmuster, sondern versucht sich durchaus an einer Antwort auf die Frage, wie Management in der Tiefenstruktur „funktioniert“. Damit Hand in Hand geht die Frage nach der Delegierungsproblematik, die Mintzberg von Anfang an beschäftigt. „Two or three people cannot share a single managerial position unless they can act as one entity” (1990, 172), vermutet er z. B. recht apodiktisch. 3. Kritische Diskussion und das Fehlen von Subjektivität, Sinn und Lernen Natürlich gibt es an einer vierzig Jahre alten Studie einiges zu kritisieren. Mit Blick auf die eigene Studie greift der Autor drei Aspekte heraus, die in ihrer forschungspraktischen Relevanz miteinander verknüpft sind: Es handelt sich (1) um einen forschungslogischen, (2) um einen theoretisch-methodischen sowie (3) um einen fundamentaltheoretischen Vorwurf. Forschungslogik: Managerarbeit vs. managerielle Arbeit Mintzbergs Anspruch, auf Basis der Daten seiner Studie die Natur managerieller Arbeit herauszuarbeiten, ist nicht unhinterfragt hinzunehmen. Es gilt zu bedenken, dass Mintzbergs Untersuchung sich der Materie nicht auf Grundlage einer vorgängig vorhandenen, theoretischen Unterscheidung managerieller von nicht-managerieller Tätigkeit nähert. Was Mintzberg beobachtet, ist die Arbeit von Managern. Managerial work ist bei Mintzberg das, was Manager tun. Im Rahmen der Mintzberg’schen Anlage gibt es keine Möglichkeit zu differenzieren zwischen zwei Konstrukten, die sich als Pole gegenüberstehen: Auf der einen Seite steht genuine Managementarbeit, welche eine Person in verantwortlicher Managementposition nicht zu delegieren vermag, genauso wenig wie ein Chirurg die eigentliche Operation an eine OP-Schwester. Auf der anderen Seite steht die nicht-managerielle Arbeit von Managern; Arbeit also, die eine Person in einer Managementposition prinzipiell delegieren könnte, die sie aber übernommen hat, weil sie sie mag, weil sie „zum Job gehört“ etc. Kategorisierung ist nicht Explikation Wie schon in seiner Kritik am Nussschalenmodell macht Hales gegenüber der ShadowingStudie geltend, dass es sich bei Mintzbergs zehn Managerrollen keineswegs um Erklärungen der verschiedenen Tätigkeiten von Managern handle, sondern lediglich um eine Kate-
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II. Mintzbergs Shadowing-Studie
gorisierung derselben (Hales 1999, 337). Die zehn Rollen sind das Ordnungsprinzip, das Mintzberg verwendet, um seinen empirischen Daten Sinn zu geben. Und bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass die zehn Rollen eigentlich die Fayol’schen Funktionen in anderem Gewande darstellen. Weick hebt das in seiner Rezension von The Nature of Managerial Work klar und deutlich heraus: I am also less convinced of the value of role concepts. Considering all the work he went to and the patterns that emerged from the data, it is disappointing to see the resulting patterns summarized in a set of labels that avoid the POSDCORB blandness… but not by much. (Weick 1974, 117)
Mintzbergs wirkmächtige Ergebnisse stellen in letzter Konsequenz sehr viel weniger Resultate dar, als es den Anschein hat. Hinter dem Vorwurf verbirgt sich ein anderer, weiter reichender, der bereits unter I., in Auseinandersetzung mit Mintzbergs Nussschalenmodell anklang: Was Hales und bis zu einem Grad auch der Autor beklagen, ist die Tatsache, dass Mintzbergs Studie jede wie auch immer geartete theoretische Grundlage fehlt. Die Notwendigkeit und Fähigkeit zu managen wird bei Mintzberg als Phänomen angesehen, das nicht der Erklärung, etwa der Zurückführung auf basalere Zusammenhänge sozialen Handelns bedarf. Das Erkenntnisobjekt Management/Manager steht in der Shadowing-Studie freischwebend und selbstevident im Raum. Was Mintzberg ganz und gar abgeht – und was seinen Arbeiten die für die Managementlehre typische fundamentaltheoretische „Hemdsärmeligkeit“ verleiht – ist eine übergreifende Theorie organisatorischen oder sozialen Handelns, welche die zehn Rollen an eine tiefer verwurzelte Theorie organisatorischen oder sozialen Handelns rückbindet. Dies ist ein schwerer Vorwurf, der auf der Oberfläche zum bereits erwähnten forschungslogischen Problem führt, in der Tiefenstruktur der Arbeit Mintzbergs zu einer Widersprüchlichkeit. Theorie und Empirie Obwohl er seine Methode akribisch dokumentiert, muss man in der Gesamtschau von The Nature of Managerial Work und anhand der einschlägigen Artikel konstatieren, dass Mintzberg die Genese der zehn Managementrollen etwas verschleiert. Symptomatisch ist, dass Managementlehrbücher wie etwa Staehle (1999, 83f.) oder Steinmann und Schreyögg (2002, 16f.) die methodische Fundierung der Mintzberg’schen Rollen zwar nicht falsch darstellen, aber auch nicht klar und deutlich die Forschungsstrategie Mintzbergs herausarbeiten. Legt man die Maßstäbe quantitativ-empirischer Forschung an, ist mit Schirmer (1992, 106f.) festzuhalten, dass „die inhaltliche Beschreibung der zehn Managerrollen schon weit über die empirische Basis der Studie hinausreicht, normativen Charakter hat“. Dass Mintzberg die zehn Rollen nicht mit Hilfe fortgeschrittener statistischer Verfahren aus seinen Daten extrahiert, ist ein Vorwurf, der ihn als quantitativen, nicht aber als qualitativen Forscher treffen würde. Unter III.3.2 argumentiert der Autor der vorliegenden Arbeit unter Rekurs auf Ideen bei Weick und Sutton, dass großzahligere und systematisch rigorosere Studien in der Organisations- und Managementforschung nicht zwingend bessere, interessantere Resultate generieren. Das Problem ist, dass Mintzberg das Beste aus beiden Welten, der qualitativen und quantitativen, anstrebt. Auf der einen Seite erzeugt die akribische Aktivitäts-, Dokumenten- und Kontaktprotokollierung den Anschein einer empirisch-harten Objektivität; auf der anderen Seite stehen die „weichen“, geradezu ethnographischen Episoden und Anekdoten, auf die sich die Entwicklung der zehn Rollen, sieht man genauer hin, wirklich stützt.
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B) Methode und Methodendiskussion
Der Widerspruch findet auf fundamentaltheoretischer Ebene keine Auflösung: Auf der einen Seite betont gerade Mintzberg die Komplexität des Managementjobs, auf der anderen Seite nähert er sich der Komplexität auf Basis einer Methode, die stillschweigend davon ausgeht, dass es Sinn macht, isolierte Aktivitäten aus dem Aktivitätsstrom herauszusezieren, um sie dann, nach Klassifizierung, wieder zum Job des Managers zusammenzusetzen. Schirmer (1992, 106ff.) sieht hier, wie dargestellt, ein unausgesprochenes neotayloristisches und neo-behavioristisches Menschenbild am Werk: Mintzberg und andere, ähnliche angelegte Arbeiten vernachlässigen die mentale Natur des Managementberufes; die Wichtigkeit von Deutung, Bedeutung und Sinn, der die Aktivitäten verknüpft – sowie die Reflexivität des Managens, das aus einem Wechselspiel zwischen Handeln und Lernen besteht. Hinter der wissenschaftlichen Beobachtung manageriellen Handelns, vermutet Schirmer, steht die Annahme, dass man auch Management systematisch re-konstruieren, reprogrammieren und schließlich automatisieren könne (1992, 107): die Reengineering-Welle der neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts lässt sich als der Versuch lesen, das mit Hilfe moderner Büro- und Informationstechnologie zu tun (vgl. auch C.II.5.2). Angesichts von Mintzbergs Gesamtwerk hegt der Autor Zweifel, dass Mintzberg eine neo-tayloristische, behavioristische und reduktionistische Agenda verfolgte: Er sieht die verständliche Anlehnung eines jungen Doktoranden an den Zeitgeist in der Managementlehre, Hand in Hand gehend mit einer Ablehnung des ethnographischen Zeitgeistes in der Soziologie. Gleichwohl ist Schirmer beizupflichten, dass Mintzbergs theoretische Grundannahmen problematisch sind: zum einen, weil er sie stillschweigend voraussetzt; zum anderen, weil sie seine Resultate kolorieren. Wo Mintzberg zum Ergebnis gelangt, der Job des Managers sei ein fragmentierter, der Manager auf Stimulus-Response konditioniert, reproduziert er womöglich die Lücken seiner theoretischen Grundlage: Was objektiv wie ein völlig fragmentierter Job aussieht, mag sich aus der subjektiven Sicht des Managers als sinnvolle, bedeutungshafte Verfolgung einer überschaubaren Anzahl von Chunks, „Baustellen“, Projekten, Punkten auf seiner Agenda darstellen (vgl. etwa Kotter 1982a, 1982b, 1982c; für einen gedrängten Überblick vgl. auch Schirmer 1992, 81-89). Was wie „spontanes“ Reagieren auf einen Stimulus aussieht und von Mintzberg angeführt wird, um die These zu untergraben, dass Manager reflektierte, systematische Planer seien, lässt sich auch anders erklären: nämlich, dass der Manager durchaus drei oder vier wohlüberlegte Alternativen im Kopf hat und lediglich auf einen neuen Chunk wartet, ähnlich wie ein Schachspieler auf den Zug seines Gegenübers. Mit seinem eigenen Entwurf versucht der Autor, die positiven Aspekte an Mintzbergs Arbeit zu übernehmen, die negativen Aspekte aber abzuschwächen – und er greift dazu, das sei vorweggenommen, auf Mintzbergs eigene, spätere Arbeiten zu.
III. Die Shadowing-Studie des Autors
III)
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Die Shadowing-Studie des Autors
I. zeigte, mit welcher Vielfalt an Herangehensweisen die Managementforschung sich ihrer respektiven Forschungsgegenstände angenommen hat. II. zeigte, wie Mintzberg die Schwierigkeiten forschungslogischer und -praktischer Natur löste, welche empirische, akteurszentrierte Managementforschung mit sich bringt. Auf Grundlage eines Verständnisses der Schwierigkeiten wird es nunmehr darum gehen, das im Rahmen der vorliegenden Arbeit gewählte Design und die angewandten Methoden zu beschreiben, vor allem aber in der Aussagekraft zu bestimmen. Das geschieht in gedrängter Form, eben soweit, wie es für eine aufgeklärte Dateninterpretation erforderlich ist. 1. Forschungsdesign und Methodenmix Wenn der Autor sein Forschungsdesign und seinen Methodenmix beschreibt und in der Aussagekraft bestimmt, nicht aber en detail begründet, so ist das einem einfachen Zusammenhang geschuldet: Die ursprüngliche Absicht des Forschers war es, Mintzbergs klassische Studie von 1968 deckungsgleich zu replizieren, was bedeutet, dass er Mintzbergs Erkenntnisinteresse in ähnlicher, aber bescheidenerer Art und Weise übernahm. Mintzbergs Ziel war es, aus der Beobachtung von fünf Managern „the nature of managerial work“ herauszuarbeiten. Dem Autor geht es wie gesagt darum, aus einer Beschreibung der acht Kommunikationsmanager verallgemeinerbare Grundzüge herauszuarbeiten, Kommunikationsmanagement und Kommunikationsmanager zu verstehen. Von der ursprünglichen Absicht ist zu sprechen, weil sich im Verlauf der Vorbereitungen zeigte, dass das Design von 1968 der Überarbeitung bedurfte: (1) um die Erkenntnisgewinne von zwischenzeitlich annähernd vierzig Jahren Forschung, wozu auch Mintzbergs Nussschalenmodell gehört, zu aktivieren; (2) um eine seriöse Durchführbarkeit unter Bedingungen des 21. Jahrhunderts zu garantieren; (3) um eine Trennschärfe zu gewährleisten, die für die Beobachtung der differentia specifica von Kommunikationsmanagement versus General Management erforderlich ist. Dementsprechend wurde die Durchsicht der Forschung in PR- und Managementlehre genutzt, um einen eigenen Ansatz zu entwickeln. Das Ergebnis ist ein Design, das an der Oberfläche nicht von der klassischen Studie abweicht und mit ihr vergleichbar bleibt, in Details der Operationalisierung aber anders vorgeht. Die Mintzberg-Studie: Einfach zu verstehen, nicht einfach zu machen Mintzberg „beschattete“ fünf CEOs verschieden großer Organisationen über einen Zeitraum von jeweils einer natürlichen Woche, um ihre Aktivitäten anhand einer „strukturierten Beobachtung“ aufzuzeichnen. Sein Ziel war es herauszufinden, was Manager „wirklich“ tun. Als der Forscher Mintzbergs Studie als Vorbild in Erwägung zog, geschah dies, weil ihn – wie vermutlich viele andere – die bestechende Schlichtheit der Forschungsfrage wie auch der Herangehensweise überzeugte. Beides täuscht. Mintzbergs Ansatz ist zwar einfach zu verstehen, er ist aber weder von der Fragestellung noch von der Durchführung simpel.
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B) Methode und Methodendiskussion
Abbildung 27: Shadowing als Multimethodenmix (Quelle: eigene Darstellung) Multimethodenkomplex: Eine qualitative Studie mit einem quantitativen Skelett Blickt man etwas genauer hin, beschränkte sich Mintzberg keineswegs auf Beobachtung. Der eigentlichen Beobachtung vorweg gehen (1) Recherchen und (2) Interviews, die (3) strukturierte Beobachtung selbst geht einher mit (4) Konversationen, generiert (5) anekdotische und episodische Informationen, welche die Beobachtungsdaten ergänzen oder in ein gänzlich anderes Licht rücken, eine Gesamtinterpretation erforderlich machen. Was Mintzberg elegant als Shadowing bezeichnet, stellt de facto einen Multimethodenkomplex dar. Abbildung 27 vergegenwärtigt die Methoden, die sowohl in Mintzbergs als auch in der Studie des Autors ineinandergriffen. Triangulation und qualitativer Zirkel verweisen auf die methodischen Aspekte, welche unter 3. erörtert werden; Interpretation auf das, was die vorliegende Arbeit in toto versucht. Insgesamt, das wurde bereits erwähnt, handelt es sich bei der Studie des Autors um eine qualitative Studie mit einem quantitativen Skelett. Mit insgesamt acht beschatteten Managern bewegt sie sich in einer ähnlichen Größenordnung wie die Arbeit Mintzbergs; alles in allem war der Autor 37 Tage, 20 811 Minuten, im Feld. Das Ziel, so etwas Ähnliches wie Mintzberg zu machen, ist also als voll und ganz verwirklicht anzusehen. 1.1 Interviews und Recherchen Bei den Interviews, die der Forscher durchführte, handelte es sich um semistrukturierte, qualitative Leitfadengespräche (vgl. Helfferich 2004, Kap. 1; vgl. Bryman 2008, Kap. 8;
III. Die Shadowing-Studie des Autors
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vgl. ferner Rubin/Rubin 2005; kurz und gedrängt auch Brosius/Koschel 2001, 129f; theoretisch Diekmann 2002, 375ff.) von etwa einer Stunde Dauer. Von einer Ausnahme abgesehen, Managerin B, wurden sie telefonisch durchgeführt. Alle wurden aufgezeichnet, verschriftlicht und den Kandidaten zum Gegenlesen zur Verfügung gestellt. Ehe das Interview geführt wurde, recherchierte der Autor frei verfügbare Information über seinen Interviewpartner sowie über das Unternehmen. Hand in Hand mit der Arrangierung der Interviews bat der Forscher um Materialien, insbesondere Organigramme, job descriptions etc. Alles in allem wurde aber sehr viel weniger Recherchematerial verarbeitet als Mintzberg das tat. Menschliche Fühlungnahme, erste Eindrücke, nicht beobachtbare Aspekte Die Interviews gliederten sich locker und offen in drei Teile. Im ersten Teil fokussierte der Autor sehr stark auf Autobiographisches sowie auf die Karriereentwicklung bis dato, im derzeitigen Unternehmen und anderswo; ferner spielte die organisatorisch-hierarchische Aufhängung der Kommunikationsabteilung eine große Rolle. Der zweite Teil zielte auf das Selbstverständnis der Person. Der dritte, abschließende Teil fragte das Verhältnis zur akademischen PR-Ausbildung ab, um hinsichtlich des Verhältnisses zur Wissenschaft und der Erwartungen an die Studie zu einer Einschätzung zu gelangen. Der Autor maß den Interviews von vornherein eher flankierende denn zentrale Bedeutung zu. Sinn und Zweck der Gespräche war es primär, menschliche Fühlungnahme mit den Kandidaten aufzunehmen sowie ein vorläufiges Bild der Person zu zeichnen, das der Beobachtung als Folie zugrunde liegen würde. Materiale, direkt und unmittelbar als Daten verwertbare Erkenntnisse sah der Autor als sekundär an – obwohl sich die Interviews dann als äußerst aufschlussreich erwiesen. Insofern zielten die Gespräche auf Aspekte, welche durch das Shadowing – da unbeobachtbar oder der Beobachtung entzogen – nicht oder ungenügend abgedeckt würden: etwa das Verhältnis zum Vorstandsvorsitzenden, die „Leitsterne“ des eigenen Handelns, die Integration in die Strategieformulierung. Auf beobachtbare Aspekte zu zielen, wurde vermieden. Fragen wie „Wie muss ich mir einen typischen Arbeitstag bei Ihnen vorstellen?“ vermied der Autor einerseits, um nicht wertvolle Interviewzeit zu vergeuden; andererseits wollte er unter gar keinen Umständen den Eindruck erwecken, den Kandidaten „auf die Schliche kommen“ zu wollen, etwa hinsichtlich einer verzerrten Selbstwahrnehmung oder, à la Mintzberg, der realitätsfremden Replizierung klassischer Managementideale.
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MEET_FORMAL SUB/DEPUTY Hr. XYZ DIRECTING: kleine aktuelle Dinge Schule in Moers; Global Messaging; Asienbesuch VV 17:51 CALL Å PEER, Hr. YXZ COORDINATING: Beschwerde intern, dass WM-Tickets für Hr. ZXY fehlen; „klarmachen“, dass er sie erhält; „Troubleshooting“ Abbildung 28: Strukturiertes Protokoll, Notizbucheintrag (Quelle: eigene Darstellung)
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B) Methode und Methodendiskussion
1.2 Strukturierte Observation Die strukturierte Observation39, also die Beobachtung anhand definierter Beobachtungskategorien, stellt das quantitative Skelett der Studie dar. Es ist auch das Element, in der die eigene Studie von Mintzbergs Original etwas abweicht. Abweichungen bestehen in dreierlei Hinsicht: a) der Autor verwandte ein Notizbuch statt der von Mintzberg verwandten Codierungsformulare, nahm neben verschlüsselten auch Roheintragungen vor; b) die Dokumenten- und Korrespondenzanalyse wurde ersetzt durch eine personenbezogene Codierung des Dokumenten- und Korrespondenzbearbeitungsverhaltens; c) über die Codierung der Aktivitäten hinausgehend wurden vermutete oder geäußerte Funktionen (z. B. DIRECTING, COORDINATING) der jeweiligen Aktivitäten codiert; in besonders augenscheinlichen Fällen auch Rollen („Troubleshooting“). Was bei Mintzberg also noch Ergebnis war, ging in der vorliegenden Studie bereits als Grundlage ein. Abbildung 28 zeigt zwei Aktivitäten, die grundlegendste Einheit der strukturierten Protokollierung. In einem zwanzigminütigen Meeting von 17:31 Uhr bis 17:51 Uhr gab der beobachtete Manager seinem Stellvertreter (SUB/DEPUTY) kurz und knapp Anweisungen, wie mit „kleinen, aktuellen Dingen“ zu verfahren sei (DIRECTING). Um 17:51 Uhr wurde das Meeting durch einen Anruf einer in der Organisation gleichgestellten Person (PEER) unterbrochen, die sich darüber beschwerte, dass für Herrn ZXY keine WM-Tickets bereitgehalten worden seien. Der beobachtete Manager übernahm bezüglich des Problems eine koordinierende Funktion, agierte in der Rolle eines „Troubleshooters“. Insgesamt codierte der Autor während der acht Wochen über 4 000 derartiger Aktivitäten. a) Notizbuch statt Codierformular Ursprünglich sah der Forscher vor, Mintzbergs Formulare – die chronology, mail und contact records – eins zu eins zu verwenden. In einem Pretest, den der Forscher mit seinem Betreuer durchführte40, zeigte sich allerdings, dass Formulare mehr Nachteile als Vorteile bieten. Abgesehen von der bizarren Situation, sich mit Formularen auf einem Clipboard in einem Unternehmen zu bewegen, ließen sich die an Mintzbergs Design angelehnten Blätter nicht mit der nötigen Geschwindigkeit handhaben und boten kaum Platz für ausführliche Notizen. Entsprechend wurde von standardisierten Formularen abgesehen. Die Protokollierung geschah handschriftlich in einem Notizbuch, wobei Notizen und vorcodierte, strukturierte Eintragungen nebeneinander vorgenommen wurden. Alles in allem bewährten sich die Notizbücher. Zum Zwecke der automatisierten Auswertung übertrug der Autor die Einträge per Hand in selbstdefinierte, mit verschiedenen Makros versehene MS ExcelBögen. Bei der Gelegenheit nahm er eine Plausibilitätskontrolle im Lichte seines Gesamteindrucks der Beobachtungswoche, des Kandidaten und der zur Verfügung stehenden Informationen vor. Auch die Zusammenfassung einzelner Aktivitäten zu Sessions geschah nachträglich. Nachahmern sei gesagt, dass jede Beobachtungswoche zwei bis drei Wochen an Auswertungsaufwand nach sich zog. 39 Zu strukturierter Observation vgl. Bryman 2008, Kap. 11; zu Beobachtung Diekmann 2002, 456-480; zu qualitativer Beobachtung Bortz/Döring 2003, 321-325, zu Feldforschung 338-343; zu Beobachtung und Ethnographie Kalthoff 2006, 146-182. 40 Der Betreuer der Arbeit agierte zu der Zeit als geschäftsführender Direktor des Instituts für Kommunikationsund Medienwissenschaft der Universität Leipzig und war dementsprechend mit einer Reihe von Aufgaben betraut, die sich durchaus mit denen eines Managers vergleichen lassen.
III. Die Shadowing-Studie des Autors
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b) Personenbezogene Registrierung Dokumenten- & Korrespondenzbearbeitung Mintzbergs Vorgehensweise ist, wie geschildert, dokumentgebunden. Mintzberg sah sich jedes rezipierte oder generierte Schriftstück an und kategorisierte es einzeln und nach seinem Typus (Brief, Memo, Bericht, Zeitschrift etc.), nach Sender/Empfänger (Vorgesetzter, Mitarbeiter, Gleichgestellter etc.), nach der entgegengebrachten Aufmerksamkeit (überflogen, gelesen, durchgearbeitet) sowie nach seinem Zweck (Anfrage, Bestätigung, Datenund Referenzmaterial etc.). Am Ende präsentiert er eine Tabelle, aus der die Anzahl der geschriebenen und gelesenen Schriftstücke sowie der Anteil der verschiedenen Kategorien hervorgingen. Mintzbergs Methode nicht eins zu eins durchführbar Auf Basis des Pretestes und der ersten zwei Untersuchungen kam der Forscher zum Schluss, dass die ausführliche Katalogisierung rezipierter und generierter Dokumente unter heutigen Bedingungen nicht seriös durchführbar ist. Viele verschiedene Aspekte spielen zusammen und führen dazu, dass Mintzbergs Methode enorm aufwändig bei gesunkener Aussagekraft wird. Der wichtigste Grund ist die E-Mail-Kommunikation, die das Korrespondenzverhalten im Vergleich zu 1968 völlig verändert hat: Ein erster Grund ist das schiere, zahlenmäßige Volumen der E-Mail-Kommunikation. Im Pretest, der völlig der Mintzberg’schen Methodik folgte, verarbeitete der beobachtete Manager 110 Korrespondenzeinheiten (72 IN, 38 OUT) in insgesamt 3 Stunden 51 Minuten Schreibtischarbeit. Mintzbergs korrespondenzfreudigste Manager verarbeiteten in einer Woche 172 eingehende Korrrespondenzeinheiten bzw. 66 ausgehende (Mintzberg 1973, 244-245). Ein zweiter Grund ist, dass E-Mail-Kommunikation von ihrem Charakter her anders ist als papierbasierter Schriftverkehr. Wie jeder aus persönlicher Erfahrung weiß, gleicht ein Teil der EMail-Korrespondenz eher verbaler Instantkommunikation, hat wenig mit einem formalen Brief oder Memo gemein. Wie der Forscher aus Erläuterungen der Untersuchungskandidaten sowie aus Beobachtungen erfuhr, verhält sich das bei Managern genauso. Einen QuasiChat wie einen Briefwechsel zu codieren, verzerrt die Realitäten der Kommunikationssituation. Ein dritter Grund ist die gestiegene Sensibilität für Sicherheits- und Vertraulichkeitsfragen, die, insbesondere bei börsennotierten Gesellschaften, aus der verschärften Gesetzgebung resultiert. Selbst wenn die Untersuchungskandidaten einverstanden gewesen wären, hätte der Forscher einen Teil der Korrespondenz nicht in Augenschein nehmen dürfen, ohne auf Insider-Listen geführt zu werden. Ein vierter und letzter Aspekt ist schließlich das Screening sowohl der E-Mail als auch der gewöhnlichen Post durch Sekretärinnen oder Assistentinnen (in allen Fällen handelte es sich um Frauen). Korrespondenz und Dokumente als Aktivität Aus den geschilderten Gründen entschied der Forscher, die dokumentbasierte Korrespondenz- und Dokumentenregistrierung durch eine personenbezogene Registrierung des Korrespondenz- und Dokumentbearbeitungsverhaltens zu ersetzen. Anstatt die Ein- und Ausgänge zu sichten und zu verschlüsseln, wurde stattdessen die Rezeption/Generierung verschiedener Korrespondenz und Dokumenttypen durch die Untersuchungsperson als Aktivität codiert. Da der Forscher die Korrespondenz nicht oder lediglich exemplarisch selbst in Augenschein nahm, fällt das Kategoriensystem grober aus als bei Mintzberg. Dies wird aber dadurch wettgemacht, dass bei jeder Aktivität – eben auch bei der Generierung oder Rezeption von Dokumenten – versucht wurde, den Sinn und Zweck zu bestimmen. Anders
170
B) Methode und Methodendiskussion
ausgedrückt: Anstatt die Aktivität Lesen sowie, getrennt davon, die Existenz eines Reports der Rechtsabteilung zu einer juristischen Fragestellung zu codieren, wird das zehnminütige Lesen als READ_REPORT mit der Funktion COORDINATION codiert, weil der Manager versuchte, aus dem Report herauszulesen, wie er und seine Mitarbeiter sich in einer spezifischen Situation zu verhalten haben, um der Linie des Unternehmens treu zu bleiben. Vor- und Nachteile der gewählten Methode Der Nachteil der personenbezogenen Methode ist, dass die dokumentbezogene Information nur zur Verfügung steht, wenn sie mit Aktivitäten der Person verknüpft ist. Wenn der Manager, wie es häufiger geschah, zwischen zwei Meetings für ein oder zwei Minuten in sein Büro schlüpfte, um die in der Zwischenzeit eingegangenen E-Mails zu checken, vermag der Forscher nicht nachzuvollziehen, ob eine, drei oder zehn E-Mails eingegangen sind und worum es sich bei der Korrespondenz dreht. Codiert wird EMAIL_CHECK sowie die Funktion: PROCESSING. Erst wenn der Manager eine E-Mail herausgreift, um sie dezidiert zu beantworten, wird die Korrespondenzeinheit an sich interessant. Der Vorteil der Methode ist, dass sie sehr viel weniger invasiv ist sowie der Logik managerieller Arbeit sehr viel mehr entspricht. Seriös und konsequent angewandt würde Mintzbergs Methode heutzutage zu langen Listen flüchtig gelesener E-Mails führen, von denen ein substanzieller Teil entweder gar nicht oder mit mehreren Tagen Verzögerung bearbeitet wird. Ferner würde sie Forscher dazu zwingen, akribisch jedes Element der täglich zwei oder drei Poststapel zu codieren, die Manager im Tagesverlauf auf ihren Schreibtischen finden – und dies auch, wenn die Führungskräfte besagte Stapel von vielleicht zwanzig Zeitschriften, Prospekten und Werbebriefen in kaum einer Minute durchgehen, gerade einmal den Titel eines Blickes würdigen. Auf der Datenebene figuriert derartig durchgesehene Korrespondenz dann als „überflogen“ – gleichwertig mit der 30seitigen, per E-Mail eingegangenen Microsoft Powerpoint-Präsentation zur Geschäftslage, die durchaus „durchgeklickt“ wurde, gleichwohl nicht ernsthaft als gelesen gewertet werden darf. c) Das Kategoriensystem: Ergebnis und Grundlage zugleich Wie bereits dargestellt, war Mintzbergs Modell der zehn Managementrollen nicht Grundlage seiner Beobachtungsstudie, sondern Ergebnis. Mintzberg extrahierte die zehn Rollen nicht durch fortgeschrittene statistische Verfahren aus seinen Beobachtungsdaten. Vielmehr arrangierte und re-arrangierte er die Daten unter der Leitfrage, weshalb Manager dieses oder jenes taten. Dies tat er, bis er zu einem sinnstiftenden, plausiblen Klassifikationssystem gelangte, das die Ergebnisse in ihrer Gesamtheit erklärte. Der Autor sah von Anfang an vor, ähnlich wie Mintzberg vorzugehen; angesichts der Kleinzahligkeit der Studie ohne statistische Verfahren. Nach der ersten Untersuchung (September 2005) zeigte sich jedoch, dass das gemäß Mintzberg zurechtgelegte Kategoriensystem zwar grundsätzlich geeignet, aber nicht trennscharf war. So ließen sich verschiedene Aktivitäten zwar unter einer Überschrift codieren, als persönlich anwesender Beobachter musste sich der Forscher aber eingestehen, dass es sich um „Behelfscodierungen“ handelte. Es bestand die Befürchtung, wichtige Unterscheidungen – die Spezifika von Kommunikationsmanagement – zu verwischen. Entsprechend wurde das Kategoriensystem differenziert und das Protokoll anhand der Notizen (Rohdaten) recodiert. Nach der zweiten Untersuchung, etwa einen Monat später, stellte sich abermals das Problem. Wieder wurde das Ka-
III. Die Shadowing-Studie des Autors
171
tegoriensystem aufwändig überarbeitet und die Ergebnisse der ersten und der zweiten Sitzung einheitlich recodiert. Da die Recodierungen mehrere Wochen in Anspruch nahmen, konnte die nächste Beobachtung erst im Januar 2006 erfolgen. Von der dritten Beobachtung an erwies sich das Kategoriensystem als ausgezeichnet geeignet, um die subjektiv vom Beobachter empfundenen Unterschiede trennscharf und stimmig zu erfassen. Von da an wurden lediglich zwei Detailveränderungen durchgeführt, wobei sich die notwendige abermalige Recodierung vom Aufwand her in Grenzen hielt. 1.3 Kommentare (Running Commentaries) In zweierlei Hinsicht hatte der Autor weniger Einblick in die Arbeit seiner Kandidaten als Mintzberg in seiner Studie. Erstens nahm er, wie geschildert, nicht Einblick in jedes Dokument, jede Korrespondenz, vor allem aber nicht in jede E-Mail. Zweitens geschah es, anders als in der Studie Mintzbergs, dass der Forscher von Zeit zu Zeit von Sitzungen ausgeschlossen wurde.41 Um die Lücken zu schließen, bat der Autor seine Kandidaten, ihre Aktivitäten gelegentlich zu kommentieren bzw. hinterher zu berichten, was sich in der Sitzung zugetragen hatte. Wie sich herausstellte, hatten Teilnahme oder Nicht-Teilnahme gewöhnlich keinen Einfluss auf die Qualität der Codierung. Entweder, weil die Untersuchungsperson vereinbarungsgemäß hinterher berichtete, was sich zugetragen hatte – in der Regel mehr als genug, um sicher zu codieren. Oder aber, und dies war sehr häufig der Fall, weil sie hinterher ohnehin einem Mitarbeiter von der Besprechung berichtete, und der Forscher hier anwesend war. Oftmals geschah es, dass verschiedenen Mitarbeitern verschiedene Aspekte der Besprechung mitgeteilt wurden, was seitens des Forschers zu einer Multiperspektivierung führte. Dies ist eine Anomalie, die bei weiteren Untersuchungen zu berücksichtigen ist: Häufig lohnt es sich, die Folgegespräche mit Mitarbeitern abzuwarten – invasive Fragen werden aufgrund der laufenden Kommentare überflüssig. Alles in allem gelangte der Forscher zu einem recht zuverlässigen Bild. Was bis auf wenige Ausnahmen unterbelichtet blieb, ist die zweifelsfrei wichtige menschliche Ebene in der Beziehung zwischen Kommunikationschef und Vorstand. Da der Forscher von Anfang damit rechnete, diesbezüglich auf Barrieren zu stoßen, wurde der Aspekt im Interview angesprochen sowie, wo angebracht, in den Feldgesprächen thematisiert. 1.4 Anekdoten und Episoden Wie auch Mintzberg und andere Autoren protokollierte der Forscher nicht nur „harte“ Daten, sondern hielt, auch abseits der Codiersystematik, Anekdoten und Episoden fest. Das 41
Dass dies in der originalen Studie kaum der Fall war, zeigt den forschungspraktischen Unterschied zwischen der Beobachtung von CEOs und der von Managern der zweiten oder dritten Ebene. Mintzbergs Kandidaten waren als CEOs die höchstrangigen Personen in der Organisation. Wenn die höchstrangige Person im Raum entschied, dass die Teilnahme eines Forschers an einem Gespräch oder einer Sitzung „okay“ war, dann gab es niemanden, der etwas eingewendet hätte. In der eigenen Studie verhielt sich das genauso. Wo der Beobachtungskandidat die höchstrangige Person oder zumindest ein „Schwergewicht“ im Kreis der Anwesenden war, wurde der Forscher zugelassen. Bei den Gelegenheiten, bei denen er ausgeschlossen wurde, handelte es sich in der Mehrheit der Fälle um von ihrem Charakter her vertrauliche Gespräche mit Vorständen oder um „hochkarätig“ besetzte Meetings mit mehreren Vorständen. Der Rest erklärt sich zum einen aus juristisch geschlossenen Sitzungen, also Sitzungen, zu denen aus aktienrechtlichen Gründen nur ein von vorneherein namentlich bestimmter Personenkreis zugelassen war; und zum anderen aus der Besprechung von Personalangelegenheiten.
172
B) Methode und Methodendiskussion
geschah zusätzlich zu der Kommentarzeile, mit der jede Aktivität ohnehin versehen wurde. Unter Anekdoten versteht der Autor dabei „Storys“, die der beobachtete Manager selbst erzählte, etwa um einen Standpunkt zu verdeutlichen oder ein prägendes Ereignis zu schildern. Beispielsweise erzählte Manager G von seinem „Einstellungsgespräch“, um zu verdeutlichen, dass sich derartige Gespräche auf Top-Level nicht um Fähigkeiten oder Wissen, sondern um Werte drehen. Als Episoden verstanden wurden dagegen Ereignisse, die während des Beobachtungszeitraums in Anwesenheit des Beobachters stattfanden und seiner Meinung nach ein besonders aufschlussreiches Licht auf die Person oder die Situation warfen. Von episodischer Natur ist beispielsweise, dass Manager A eines Tages von seinem Büro auf den Parkplatz herabblickte, ein verbogenes Verkehrsschild sah, zum Telefon griff und anordnete, dass es zu entfernen oder geradezurücken sei. Anekdoten stellen also „critical incidents“ (Flanagan 1954) aus Sicht der beobachteten Person und aus zweiter Hand, Episoden jedoch kritische Ereignisse aus Sicht des Beobachters und aus erster Hand dar. Angesichts der Ausführlichkeit, die Mintzberg auf die Darstellung der strukturierten Beobachtung verwendet, entsteht bei oberflächlicher Lektüre seiner Studie der Eindruck, die weichen, anekdotischen und episodischen Informationen spielten eine nachrangige Rolle. Wie bereits angedeutet, ist das Gegenteil der Fall. Bei einer näheren Betrachtung der Mintzberg’schen Schlussfolgerungen zeigt sich, dass sie sich größtenteils auf ebenjene, „weiche“ Ebene, nicht auf die Daten der strukturierten Beobachtung stützen. Dies und den eigenen Pretest vor Augen ging der Forscher von vornherein davon aus, dass die anekdotische Information als gleichberechtigter, integraler Bestandteil der Untersuchung anzusehen ist – wobei hinzuzufügen ist, dass eine ethnographische Dichte niemals angestrebt wurde. 1.5 Konversationen (Forschungs-/Feldgespräche) Als drittes Element der Beobachtung sind schließlich die Konversationen anzusehen, wie sie sich während einer teilnehmenden Beobachtung – aus der Logik zwischenmenschlicher Interaktion heraus – quasi von selbst entwickeln. Obwohl derartige Gespräche nur in allerseltensten Fällen von Seiten des Forschers initiiert wurden, sind sie genauso wenig wie anekdotische und episodische Information als „Abfallprodukt“ anzusehen. Methodisch gesehen handelt es sich um Forschungs- oder Feldgespräche (Bortz/Döring 2003, 308). Für ihre Bedeutung spricht schon das Volumen. Im Durchschnitt nahmen Erklärungen und Erläuterungen gegenüber dem Forscher 4,9 Prozent der beobachteten Zeit ein (vgl. auch Abb. 78). Bei einer durchschnittlichen Beobachtungszeit von 43 Stunden pro Person entspricht das in etwa zwei Stunden zusätzlicher Interviewzeit – wobei Phasen vor oder nach der beobachteten Bürozeit, etwa Autofahrten, nicht mitgerechnet sind. Während Konversationen mit Untersuchungspersonen einen integralen Bestandteil der Untersuchung darstellten, wurden untersuchungsbezogene Gespräche mit anderen Akteuren völlig vermieden. Zwar wurde das freundliche Nachfragen zu methodischen Aspekten der Untersuchung nicht abgewehrt, sondern bereitwillig Auskunft über Design und Intention gegeben. Aus Sicht des Forschers bestand aber kein Mandat, Drittpersonen in die Untersuchung einzubeziehen. Obwohl sich in zwanglosen Zusammenhängen die Gelegenheit bot, wurde niemals der Versuch unternommen, die Meinung anderer – etwa von Mitarbeitern – über die Untersuchungsperson in Erfahrung zu bringen. Völlig unabhängig davon, dass die betroffenen Manager mutmaßlich nichts dagegen eingewandt hätten, wäre aktives Rechercheverhalten aus Forschersicht einem Vertrauensbruch gleichgekommen.
III. Die Shadowing-Studie des Autors
173
2. Methodenapplikation Wurde unter 1. der Multimethodenmix vorgestellt, möchte der Autor unter 2. die Methodenapplikation erörtern, und zwar in dreierlei Hinsicht: unter 2.1 die Selektion der Kandidaten, unter 2.2 die Applikation der Methoden, wie sie sich der Autor theoretisch vorstellte – sowie unter 2.3 den Forschungsprozess, wie er praktisch ablief. 2.1 Selektion der Kandidaten: Zugang durch Vertrauensperson Wer als Beobachtungskandidat in Frage kam, erwuchs aus der grundsätzlichen Stoßrichtung der Arbeit, Kommunikationsmanager in Unternehmen zu beobachten, Kommunikationsmanagement zu verstehen. Kommunikationsmanager definierte der Autor zu Untersuchungs- und Auswahlzwecken über drei Kriterien. Erstens musste es sich um die höchstrangige Person in der Organisation handeln, die funktionale Verantwortung für Kommunikation trug – als ausreichende Indizien galten diesbezüglich eine typische Positionsbeschreibung sowie eine direct reporting relationship zu Geschäftsführung oder Vorstand. Zweitens musste die Person einer eigenständigen Einheit mit mindestens fünf Personen vorstehen. Der Einzelkämpfer mit Sekretärin wurde ausgeschlossen, um sicherzugehen, dass das Management, in der Interaktion, beobachtbar ist – ein striktes theoretisches Postulat, dass Personen mit Einheiten von geringerer Größe keine Kommunikationsmanager sind, ging damit nicht einher. Drittens verlangten die Kriterien, dass die Einheit im Unternehmen fest etabliert sein sollte und der beobachteten Person ein Mindestmaß an Eigenverantwortung für die Einheit übertragen wurde; es sollte sich also um eine feste Abteilung, nicht um einen ad hoc zusammengestellten Arbeitskreis Kommunikation o.Ä. handeln. Die Person sollte ferner Personalverantwortung für die ihr unterstellten Kräfte tragen. Abbildung 29 vergegenwärtigt, dass die Kandidaten den Anforderungen entsprachen. Ansprache und Auswahl Wie Hertz und Imber (1995) betonen, stellt der bloße Zugang zu Untersuchungskandidaten in Elitenstudien oftmals das größte Hindernis dar. Insofern akzeptierte der Autor, dass die Selektion der Kandidaten eine Selbstselektion mit einem Rahmenfehler darstellen würde: Die angesprochenen Kandidaten entschieden selbst und in Kenntnis der Stoßrichtung der Untersuchung, ob sie an ihr teilnehmen würden; wer angesprochen würde unterlag von vornherein einer Verzerrung, da nur wenige, als geeignet erscheinende Kandidaten angesprochen wurden (ein so genanntes bewusstes Auswahlverfahren; vgl. Brosius/Koschel 2001, 91). Da die Studie sich als qualitativ versteht, qualitative Studien aber immer exemplarisch-theoretisch argumentieren (vgl. Krotz 2003, 249; vgl. Bortz/Döring 2003, 74-79), stellt sich das Problem der Auswahlverfahren und der Gültigkeiten nur insofern, als es kritischer Reflektion bedarf. Der erste Schritt der Auswahl war eine Ansprache durch Vertrauenspersonen, welche dem potenziellen Kandidaten bereits persönlich bekannt waren. Bei den Vertrauenspersonen handelte es sich um den Betreuer der Arbeit, Prof. Dr. Günter Bentele, den Stipendiumsstifter, Prof. Dr. Bernd Schuppener, sowie um verschiedene Kollegen des Forschers, darunter besonders hervorzuheben Dr. Simone Huck. In einem Fall gelangte der Forscher über das Schneeballsystem (vgl. Brosius/Koschel 2001, 92) zu einer Untersuchungsperson – ein potenzieller Kandidat, der absagte, empfahl einen weiteren.
174
B) Methode und Methodendiskussion Titel
Berichterstattung an
Einheitsgröße
A
Pressesprecher
Geschäftsführung (Ebene 1)
8 Personen / 7 FTE
B
Direktionsabteilungsleiterin PR/Unternehmenskommunikation
Geschäftsführung (Ebene 1)
14 Personen / 13 FTE
C
Zentralbereichsleiter Unternehmenskommunikation
Vorstandsvorsitzender (Ebene 1)
~ 120 Personen
D
Bereichsleiter Corporate Affairs
Geschäftsführung (Ebene 1)
8 Personen / 8 FTE
E
Director Corporate Communications
Geschäftsführung (Ebene 1)
~ 60 Personen
F
Direktor Corporate Communications
Vorstandsvorsitzender (Ebene 1)
15 Personen / 15 FTE
G
Executive Vice President Corporate Communications
Vorstandsvorsitzender (Ebene 1)
139,5 FTE
H
Senior Vice President Corporate Communications
Vorstandsvorsitzender (Ebene 1)
~ 55 Personen
Abkürzungen: FTE= Full Time Equivalent, Vollzeitstellenäquivalente
Abbildung 29: Beobachtungskandidaten, Positionsbezeichnung, Berichterstattungsebene, Einheitsgröße (Quelle: eigene Darstellung) Signalisierte die angesprochene Person unverbindliches Interesse – was aufgrund der Vorauswahl durch die Vertrauenspersonen immer der Fall war – wandte sich der Forscher in einem zweiten Schritt selbst an sie, je nach Präferenz der Person per E-Mail oder Brief. Er stellte sich vor, erläuterte das Projekt, bat um einen telefonischen Termin oder bot an, sich und das Projekt persönlich vor Ort vorzustellen. Insgesamt wurden 17 Personen von den Vertrauenspersonen angesprochen. Sieben der siebzehn angeschriebenen Personen schlossen eine Beteiligung bereits auf Basis der Projektskizze kategorisch aus; die verbliebenen zehn wurden in einem dritten Schritt weiter in das Projekt eingeführt. Mit sieben der verbliebenen zehn Kandidaten telefonierte der Forscher, mit zwei Personen sprach er persönlich im Rahmen von Veranstaltungen in Leipzig, zum zehnten Kandidaten reiste er. Von den zehn Personen, mit denen im dritten Schritt ein Gespräch geführt wurde, sagten acht letztendlich zu. Keiner der Manager zog eine einmal zugesicherte Zusage zurück, so dass dies auch der Zahl der letztlich beobachteten Personen entspricht. Erstaunlich fand der Forscher, dass Zusage oder Absage in der Regel sofort und verbindlich im Zuge des Gesprächs erfolgten. In einem Fall bat sich der Manager nach Ansprache auf einer Veranstaltung Bedenkzeit aus – sagte aber letzten Endes ab. In einem weiteren Fall nahm eine angesprochene Person das Angebot des Forschers in Anspruch, sich persönlich vor Ort vorzustellen – wobei sich zeigte, dass die positive Entscheidung im Prinzip schon gefallen war: das Gespräch dauerte etwa fünf Minuten. Was die Anzahl der Untersuchungskandidaten anbelangt, so war eine Wiederholung von Mintzbergs Anlage mit fünf Personen vorgesehen. Von Anfang an galt die Sorge des Forschers der Problematik, genügend Untersuchungskandidaten zu überzeugen. Die Sorge
III. Die Shadowing-Studie des Autors
175
erwies sich als unbegründet. Als begrenzender Faktor stellte sich nicht die Bereitschaft der Kandidaten, sondern der zeitliche respektive finanzielle Forschungsaufwand heraus: Fünf Tage im Feld generierten etwa das Doppelte bis Dreifache an Codiertagen; mit einer Ausnahme handelte es sich nicht um in Leipzig ansässige Unternehmen, so dass jeweils ein sechstägiger Hotelaufenthalt erforderlich wurde. In einem Fall bot einer der beobachteten Manager von sich aus an, den Aufenthalt des Forschers als Gast des Unternehmens zu finanzieren, in allen anderen Fällen wurden die Kosten von der Stiftung zur Förderung der PR-Wissenschaft an der Universität Leipzig (SPRL) getragen. 2.1.1 Selektionsbias und Repräsentativität Dass das geschilderte Verfahren niemals eine Stichprobe von wie auch immer gearteter Repräsentativität (vgl. kurz und gedrängt Brosius/Koschel 2001, 80-82) für eine wie auch immer geartete Grundgesamtheit generiert, wurde angerissen. Zwar ist zu betonen, dass Stichprobenrepräsentativität zu gewährleisten niemals der methodische Anspruch einer qualitativ-explorativen Fallstudie ist – zumal dann nicht, wenn sie sich darüber hinaus mit den forschungspraktischen Problemstellungen einer Elitenstudie konfrontiert sieht (vgl. 3.3). Gleichwohl ist mit Blick auf zukünftige, größerzahlige Untersuchungsprojekte zu diskutieren, inwiefern das gewählte Auswahlverfahren einen Bias generiert. Dies ist nach Ansicht des Forschers definitiv der Fall, und zwar zugunsten eines spezifischen Typus von Manager, zugunsten einer spezifischen Phase in der Berufsentwicklung sowie zugunsten bestimmter Verantwortungsbereiche und Kompetenzprofile. „Sicher im Sattel“: Keine „Job-Hopper“, keine Neueinsteiger Allen beobachteten Personen ist von vornherein die Souveränität gemeinsam, sich bei der Arbeit von einem Fremden über die Schulter schauen zu lassen. Die Selektion führt zu einem Bias zugunsten von etablierten, selbstbewussten Managern, die sich – soweit das bei derartigen Positionen überhaupt möglich ist – „sicher im Sattel“ wähnen. Der Bias ist aus verschiedenen Gründen relevant. Erstens ist zu sehen, dass die Selektion de facto Führungskräfte mit einem ähnlichen Karriereverlauf generierte. Mit einer Ausnahme blickten alle Beobachtungskandidaten auf eine mehrjährige, positive Karriereentwicklung in ihren jeweiligen Unternehmen zurück. Bei der Ausnahme handelte es sich um die älteste Untersuchungsperson, Manager G, die direkt und unmittelbar in ihre leitende Position geholt wurde, zwar nicht auf viele Jahre im jetzigen Unternehmen, wohl aber auf eine langjährige Karriere in verantwortlicher Position in einem anderen Unternehmen zurückblickte: sie hatte „nichts mehr zu beweisen“. Die langjährige Etablierung in der Organisation und ein geradliniger Karriereverlauf vom Pressereferenten zum Kommunikationschef in einem einzigen Unternehmen dürfen freilich nicht als Regelfall gelten. Genauso häufig, wenn nicht häufiger, dürfte der Fall sein, dass Führungskräfte durch „Job-Hopping“ in die oberste Kommunikationsverantwortung gelangen.42 Falls zwischen „Job-Hoppern“ und „hauseigenen Gewächsen“ wesentliche Unterschiede bestehen, verschleiert der Bias diese. Hand in Hand mit der Karriereentwicklung geht, zweitens, dass die Selektion Untersuchungsteil42 Schließlich handelt es sich bei der Stelle des obersten Kommunikationsverantwortlichen um eine „politische“ Position dergestalt, dass Wechsel des Vorstandes häufig auch Wechsel des Kommunikationschefs nach sich ziehen. Einer der beobachteten Kandidaten musste dies bereits am eigenen Leibe erfahren: Die Ablösung des Vorstandsvorsitzenden ging mit seiner eigenen Ablösung einher.
176
B) Methode und Methodendiskussion
nehmer bevorzugt, die ihre eigene Position tendenziell bereits gefunden, ausgeformt und gesichert haben. Führungskräfte, die sich in der heiklen, risikobehafteten Phase des JobFramings befinden, werden der zusätzlichen Belastung durch ein Shadowing nicht aufgeschlossen gegenüber stehen, werden die Untersuchung ablehnen. Mit Blick auf die Gesamtheit der obersten Kommunikationsverantwortlichen ist aber davon auszugehen, dass zu jedem Zeitpunkt ein nicht zu vernachlässigender Prozentsatz der Führungskräfte ihre derzeitige Position gerade übernommen hat. Für den Forscher ist der Bias insofern bedauerlich, als die Prozesse des Job-Framings bei der Übernahme einer Position von allergrößtem Interesse sind, die weitere Entwicklung entscheidend prägen. Sie wurden in den Interviews thematisiert. Keine Investor Relations-Verantwortung Keiner der letztlich beobachteten Kandidaten verantwortete die Kommunikation einschließlich der Investor Relations (IR), der Kommunikation mit Finanz-/Aktienmärkten und institutionellen Anlegern. Die angesprochenen Kandidaten mit IR-Verantwortung lehnten durchgängig eine Teilnahme ab, in zwei Fällen explizit mit Verweis auf wertpapierhandelsrechtliche Implikationen, u. a. auf die Notwendigkeit, den Forscher auf Insider-Listen zu führen. Es ist demnach davon auszugehen, dass der Bereich der Investor Relations eine „Schutzzone“ im Unternehmen darstellt, in die einzudringen noch sehr viel schwieriger ist, als dies generell beim höheren Management der Fall ist. Inwiefern die Schutzzone durch einen tatsächlichen Wissensvorsprung, durch eine andere Kultur oder durch die juristische Strafbewehrung von Indiskretion definiert ist, vermag der Forscher nicht zu beurteilen. Wissenschaftsaffinität systematisch verknüpft mit Reflektiertheit Schließlich ist zu sehen, dass die Bereitschaft, an einer Beobachtungsstudie teilzunehmen, eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit gegenüber Forschung erfordert. Es ist keineswegs davon auszugehen, dass dies bei obersten Kommunikationsverantwortlichen flächendeckend der Fall ist. Dass die beobachteten Kandidaten der Tendenz nach wissenschaftsaffiner sind als der Durchschnitt der obersten Kommunikationsverantwortlichen in Deutschland, zeigt sich im Vergleich mit den Daten der Mitgliederbefragung des Bundesverbandes deutscher Pressesprecher, die Bentele, Großkurth und Seidenglanz 2007 durchführten (2007, 57ff.): 100 Prozent der beobachteten Kandidaten verfügten über einen Hochschulabschluss (in der Pressesprecherstudie lag der Durchschnitt bei 88 Prozent), zwei der acht Personen, also 25 Prozent, verfügten darüber hinaus über eine Promotion (der Durchschnitt in der Pressesprecherstudie lag bei 8 Prozent); ein dritter Manager hielt eine Professur, was unabhängig von einer Promotion als Beleg für wissenschaftliche Aufgeschlossenheit zu werten ist. Ein Bias zugunsten Wissenschaftsaffinität stellt nicht ein Problem per se dar. Von Bedeutung ist jedoch, dass wissenschaftliche Aufgeschlossenheit mutmaßlich Hand in Hand mit einer Reihe von Einstellungen geht, die Einfluss auf das tatsächliche Managementverhalten haben. Wissenschaftlich aufgeschlossene Manager werden tendenziell zu systematischer Vorgehensweise neigen, rationale Verfahren intuitiven vorziehen – und sie werden eher dem Typus des reflektierten Praktikers entsprechen, wie er unter A.II.6 vorgestellt und erörtert wurde.
177
III. Die Shadowing-Studie des Autors
2.2 Applikation theoretisch: Passiv-moderate Partizipation (Observer-as-Participant) In einem ethnographischen Methodenlehrbuch differenziert Spradley (1980, 58) zwischen vier respektive fünf verschiedenen Stufen teilnehmender Beobachtung, wobei er die Eingebundenheit des Forschers (degree of involvement) als das entscheidende Kriterium heranzieht (vgl. Abb. 30). Degree of Involvement
Type of Participation
High
Complete Active Moderate
Low (No involvement)
Passive Non-participatory observation (nicht-teilnehmende Beobachtung)
Abbildung 30: Stufen teilnehmender Beobachtung (Quelle: nach Spradley 1980, 58) (1) Nicht-teilnehmende Beobachtung liegt demnach vor, wenn der Forscher seine ethnographischen Beobachtungen unternimmt, ohne am Ort des Geschehens präsent zu sein, etwa wenn der Forscher Live-Übertragungen von Pressekonferenzen verfolgt, um das Verhalten von Journalisten zu studieren. (2) Von passiv teilnehmender Beobachtung ist zu sprechen, wenn der Forscher am Ort des Geschehens präsent ist, aber nicht oder kaum mit anderen Akteuren interagiert, etwa als stummer Teilnehmer einer Pressekonferenz: „If the passive participant occupies any role in the social situation, it will only be that of ‚bystander’, ‚spectator’ or ‚loiterer’“ (Spradley 1980, 58). (3) Moderat teilnehmende Beobachtung nach Spradley liegt vor, wenn der Forscher ein Gleichgewicht zwischen Partizipation als Insider und Observation als Outsider anstrebt. Das ist erforderlich, wo passive Partizipation nicht ein akzeptiertes Rollenverhalten darstellt; bei einem vertraulichen Hintergrundgespräch mit fünf Journalisten schweigend am Tisch zu sitzen, würde, gelinde gesagt, Irritation hervorrufen. (4) Aktiv teilnehmende Beobachtung geht insofern über moderat teilnehmende Beobachtung hinaus, als der Forscher nicht nur partizipiert, um akzeptiert zu werden, sondern um einen tieferen, unmittelbareren Einblick in die Situation zu erlangen. Ein Fall aktiv teilnehmender Beobachtung liegt demnach vor, wenn ein Forscher für sechs Wochen in der Unternehmenskommunikation eines Unternehmens hospitiert, wo er mit Journalisten telefoniert, um „ein Gefühl“ für die Arbeit zu bekommen. (5) Ist der Forscher ganz und gar in die Situation eingebunden, spricht Spradley von komplett teilnehmender Beobachtung. Sie unterscheidet sich von der aktiven dadurch, dass der Forscher von vornherein, auch als Nicht-Forscher, in die jeweilige soziale Situation eingebunden war und ist. Ein Lobbyist mit zwanzig Jahren Berufserfahrung, der ethnographische Studien über Lobbyisten anzufertigen beginnt, stellt demnach einen Fall komplett teilnehmender Beobachtung dar. Abbildung 30 gibt einen Überblick.
178
B) Methode und Methodendiskussion
Passiv-moderate Partizipation Der Autor sieht seine Vorgehensweise als einen Fall passiver Partizipation mit moderater Nuance. Wie geschildert verhielt sich der Autor im Allgemeinen passiv, nahm nicht an Diskussionen teil, nahm keine Stellung zu Fragen der Untersuchungsperson, begrenzte Gespräche mit anderen Mitarbeitern auf das Mindestmaß, welches die Höflichkeit gebietet. Der moderate Aspekt liegt in der Tatsache, dass der Autor während Kontakten mit Akteuren „outside“ oder „within“ bemüht war, den Eindruck zu erwecken, zum Team der Organisation zu gehören. Das geschah, um Situationen nicht unnötig künstlich zu gestalten; auf Anfrage erläuterte der Autor jedoch, dass er als Forscher vor Ort sei. Observer-as-Participant Hinsichtlich Verdecktheit versus Offenheit der Beobachtung ist nochmals zu betonen, dass der Fokus des Forschers einzig und allein auf dem Kandidaten lag. Der Kandidat wusste, dass er beobachtet wurde, und er kannte auch im Großen und Ganzen die Agenda des Forschers. Die Rolle, die der Autor aus seiner passiv-moderaten Beobachtungsperspektive heraus übernahm, war insofern diejenige des „observer-as-participant“, wie sie Lindlof (1995, 146-148) auf der Basis der Typologie von Gold (1958) vom „complete participant“, „complete observer“ und „participant-as-observer“ separierte (ähnlich auch Bryman 2008, Kap. 17). Als observer-as-participant partizipierte der Autor als Beobachter in sozialen Situationen, wobei die beobachtete Person wusste, worum es geht. Dass andere, nicht im Fokus stehende Personen um die Agenda des Forschers manchmal wussten, manchmal nicht, ist von nachrangiger Bedeutung. Im Großen und Ganzen setzten die beobachteten Manager die Mitarbeiter ihrer eigenen Abteilungen vom Sinn und Zweck des Forschungsaufenthaltes in Kenntnis; Gesprächsteilnehmer im kleinen Kreis klärten sie über den Forscher und sein Projekt auf; im großen Kreis ließen sie die Rolle des Forschers obskur und erwarteten, dass der Forscher in der Menge „untertauchte“, sich zurückhaltend und der Situation entsprechend verhielt. Von entscheidender Bedeutung erwies sich, dezent und adäquat gekleidet zu sein (dunkler Anzug, Krawatte). 2.3 Forschungsprozess praktisch Wie Abbildung 31 zeigt, verbrachte der Forscher 37 Tage, genauer gesagt 20 811 Minuten im Feld. Die durchschnittliche Beobachtungszeit pro Person betrug 2 601,4 Minuten, also 43 Stunden und 21 Minuten, verteilt auf durchschnittlich 4,6 Tage. Dass nicht durchgängig eine volle natürliche Woche beobachtet wurde (siehe Manager E und G), ist der terminlichen Situation der Kandidaten geschuldet. Für Führungskräfte, gerade wenn sie in national oder international agierenden Unternehmen arbeiten, stellt eine Woche mit fünf „gewöhnlichen“, beobachtbaren Bürotagen nicht die Regel dar; oftmals sind ein oder zwei Tage mit Veranstaltungen belegt oder es stehen Geschäftsreisen an. Manager D gab beispielsweise an, 30 000 bis 40 000 Euro Reisekosten im Jahr zu verursachen und durchschnittlich an zwei von fünf Tagen auf Geschäftsreise zu sein. Da der Forscher um die terminlichen Schwierigkeiten wusste, war er von vorneherein bereit, Wochen mit vier Tagen Präsenz in Kauf zu nehmen. Dank seiner Stipendienfinanzierung durch Hering Schuppener konnte er aber von seiner Seite aus völlige Flexibilität anbieten, so dass es – auch mit Hilfe der überaus engagierten Sekretariate – in sechs der acht Fälle gelang, eine 5-Tage-Woche zu finden. In zwei Fällen verständigte man sich auf eine 4-Tage-Woche. Bei einem der zwei Fälle mit
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4-Tage-Woche, bei Manager E, kam es zu einem weiteren Tag Ausfall. Aufgrund einer Erkrankung des Kandidaten musste die Beobachtung vorzeitig, am Morgen des vierten Tages, abgebrochen werden. Eine Wiederholung scheiterte, da der Manager das Unternehmen einige Monate später verließ. Mng.>
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
Zeit (in ')
2618
2504
2824
2879
1575
2557
2589
3265
2601,4
Tage (d)
5
5
5
5
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5
4
5
4,6
Ø, pro Tag
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Abbildung 31: Beobachtete Zeit, Tage per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) Aus der Retrospektive lässt sich bilanzieren, dass die Kandidaten großes Verständnis für den Ansatz des Autors zeigten, ihm bereitwillig Einblick in ihre Arbeit gewährten, ihm aber auch die Distanz des Forschers zugestanden. Alles in allem verlief die Forschung genauso, wie sie sich der Autor vorgestellt hatte. Drei grundsätzliche Aspekte, die menschlichzwischenmenschlicher Natur sind, gilt es gleichwohl zu erörtern. Es sind die drei Aspekte (1) Kraft und Anstrengung, (2) die marginale Position und (3) die Bedeutung der zwischenmenschlichen Chemie. Kraft und Anstrengung Nicht verschweigen möchte der Autor, dass teilnehmende Beobachtung, sei sie strukturiert oder unstrukturiert, einiges an Kraft kostet. Das ist einerseits der Tatsache geschuldet, dass die Beobachtung an sich Aufmerksamkeit erfordert: Schließlich gilt es, sowohl Kleinigkeiten zu bemerken als auch das große Bild im Auge zu behalten, oftmals lediglich auf Basis fragmentarischer Information. Andererseits ist der Forscher über Stunden und Tage fremden, unbekannten, häufig wechselnden Situationen ausgesetzt. Wie Abbildung 31 zeigt, lag die durchschnittliche, beobachtete Tagesarbeitszeit bei 563 Minuten oder neun Stunden 23 Minuten. Die längste Tagesarbeit wurde mit 757 Minuten, also zwölf Stunden 37 Minuten gemessen. Während der Zeit steht gerade der als Fremdkörper agierende observer-asparticipant unter ständiger Beobachtung – zwar nicht in der gleichen Art und Weise wie der Kandidat, aber doch in ähnlicher, auf fremdem Spielfeld, und ohne die Möglichkeit, sich zurückzuziehen. Das geht zwangsläufig mit „sozialem Stress“ einher, der, wie der Autor glaubt, nicht leichtfertig abzutun ist. Die marginale Position Verstärkt wird der soziale Stress durch die besondere Situation des Beobachters, die Lindlof als „marginale Position“ etikettiert (1995, 136). Obwohl Lindlofs Anmerkungen eher auf langfristige, tiefgehende ethnographische Projekte zielen, erfuhr auch der Autor, dass die stillschweigende Randständigkeit des Beobachters zu reflektionswürdigen Effekten und Phänomenen führt. Lindlof nennt drei Probleme, die oft in Beobachtungsprojekten
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B) Methode und Methodendiskussion
auftreten (ebd.): Erstens leiden manche Beobachter aufgrund ihrer Persönlichkeit darunter, dass sie als Außenstehende lediglich minor player, Randfiguren bleiben; zweitens fällt es manchen Beobachtern angesichts der Überflutung mit Eindrücken schwerer und schwerer, jenseits der Beobachtung „abzuschalten“, was in längeren Projekten zu psychischer Erschöpfung führt; drittens geschieht es, dass sich manche Beobachter von der beobachteten Person oder Gruppe vereinnahmen lassen bzw. sich der Vereinnahmung bewusst und absichtsvoll erwehren müssen („going native“). Was den ersten und zweiten Punkt anbelangt, erwies sich der Autor seiner eigenen Einschätzung nach als tolerant, profitierte er von der Tatsache, dass eine Woche als Beobachtungszeitraum vergleichsweise kurz ist. Als schwierig empfand er den dritten Punkt, die Vereinnahmung. Für den Autor erwies es sich als schwierig, eine Woche mit einer Person zu verbringen, ohne die Standpunkte der Person teilweise zu übernehmen, viele ihrer Einschätzungen zu teilen. Das trat in vertraulichen Gesprächen mit den Betreuern der Arbeit zu Tage, in denen der Autor Handlungsweisen „seiner“ Kandidaten leidenschaftlich rechtfertigte. Der Autor beendete jede Untersuchungswoche mit dem Gefühl, einen sympathischen, zwar energetischen, aber in letzter Konsequenz doch „normalen“ Menschen mit einem schwierigen Job etwas näher kennengelernt zu haben. Das ist insofern interessant, als es exakt die Perspektive ist, welche Mintzberg bereits in seinen frühen Untersuchungen vorzeichnet, welche sich durch sein Werk insgesamt zieht, welche, wie in I.1. herausgearbeitet wurde, die Grundlage seiner Anerkennung als „Managementguru“ darstellt. Die Lehre ist, dass teilnehmende Beobachtung, wie das embedding von Journalisten, einen Bias zugunsten der beobachteten Person generiert. Die Konsequenz ist klar und deutlich: Shadowing ist kein geeignetes Instrument, um genuin kritische Managementforschung zu fundieren. Zwischenmenschliches: Good guys get better data Mit Blick auf Vereinnahmungseffekte nicht zu vernachlässigen ist die grundsätzliche Bedeutung der „Chemie“ zwischen beobachteter Person und Beobachter. Was „Zwischenmenschliches“ anbelangt, bemühte sich der Autor darum, als „Good Guy“ aufzutreten, in die Rolle des „unerfahrenen Akademikers“ respektive „naiven Beobachters“ zu schlüpfen. Das geschah einerseits, weil das die Literatur unter der Überschrift ‚Good guys get better data’ empfiehlt (vgl. als Überblick Lindlof 1995, 138-140; auch Adler/Adler 1987, 12); andererseits entsprach es voll und ganz der Stoßrichtung der Untersuchung sowie der natürlichen Selbstwahrnehmung des Autors in der Situation. Der Autor beobachtete Kandidaten mit enormer Berufserfahrung, und er beobachtete sie, um zu lernen – nicht um zu prüfen. Aus der Literatur zu Elitenstudien (vgl. 3.3), aber auch aus der Tonalität der Mintzberg’schen Untersuchung übernahm der Autor die grundsätzliche Haltung, Wertungen zu vermeiden, die Jobs der Manager grundsätzlich als „schwierig“ zu framen, nicht realitätsfern von einem one best way auszugehen. Das fiel im Großen und Ganzen leicht, da der Forscher tatsächlich nicht mit einer vorgefertigten Theorie in die Feldphase trat. Es wurde aber in Einzelfällen schwierig, wenn Kandidaten – berechtigtermaßen natürlich – Feedback vom Forscher forderten: Was habe der Forscher gut oder schlecht gefunden? Welchen Eindruck habe er? Wie habe man selbst „im Vergleich“ mit anderen abgeschnitten? Wo er zu Wertungen aufgefordert wurde, bemühte sich der Autor, seine Einschätzung zu äußern, ohne Kategorien wie richtig oder falsch, gut oder schlecht heranzuziehen. In Verbindung mit der Frage gelangte der Forscher jedoch zu zwei grundsätzlichen Eindrü-
III. Die Shadowing-Studie des Autors
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cken: Erstens entstand der wenig überraschende Eindruck, dass Top-Manager eine hoch kompetitive, extrem performanceorientierte soziale Gruppierung darstellen, für die der Peer-to-Peer-Vergleich von größter Bedeutung ist. Ohne die Genderdiskussion um Geschlechterunterschiede weiter verfolgen zu wollen, war der subjektive Eindruck des Forschers ferner der, dass die Neugier hinsichtlich Peer-to-Peer-Vergleichen bei den sechs männlichen Managern ausgeprägter war als bei den weiblichen. Etwas überraschend ist der zweite Eindruck: der, dass von vielen der Kommunikationsmanager leichte, gelegentliche Unsicherheiten hinsichtlich ihrer „Management Skills“ eingestanden wurden. Dass man Managen nicht „richtig“ gelernt habe, so der Tenor, balanciere man mit fachlicher Expertise, gesundem Menschenverstand und Berufserfahrung aus. Das Thema der Management Skills verfolgt die Arbeit an anderer Stelle weiter, hier und jetzt wertet der Autor die Eindrücke als Beleg dafür, dass es ihm als Forscher gelang, ein grundsätzliches Vertrauensverhältnis aufzubauen. 3. Kritische Design-, Methoden- und Prozessdiskussion Während unter 1. das Design der eigenen Studie, unter 2. die Applikation vorgestellt wurde, geht es im weiteren Verlauf darum, die gewählte Methode einzuordnen, zu begründen sowie die Grenzen ihrer Aussagekraft zu erörtern. Der Autor stützt sich dabei sowohl auf die teilweise betriebswirtschaftlich, teilweise verhaltenswissenschaftlich verwurzelte Methodologie der Managementlehre einerseits; andererseits auf die der PR-Lehre, welche ihre Wurzeln in der „Mutterdisziplin“ Kommunikations- und Medienwissenschaft hat. Wichtig ist jedoch, eines im Hinterkopf zu behalten: Die PR-Forschung stellt nicht einen Zweig der Managementforschung dar, der sich mit Kommunikationsmanagern beschäftigt. Alles in allem gestaltet der Autor die Diskussion der sozialwissenschaftlichen Methodik projektorientiert, kurz und bündig. Die Problematik des Beobachtens im Allgemeinen, des interpretativen Forschungsparadigmas (vgl. Lindlof 1995, 27-58), des Verstehens anderer Menschen im Speziellen, verlegt der Autor auf die theoretische Fundierung unter D. Die Ausführungen zu Beobachtung als Königsweg (3.1), zum qualitativen Zirkel (3.2) sowie zu Elitenstudien (3.3) sind deshalb als Anschluss an die praktische methodische Diskussion im Fach zu verstehen. Eine qualitativ-explorative, empirisch-hermeneutische teilnehmende Elitenbeobachtung Wie ausgeführt, handelt es sich bei der Shadowing-Studie des Autors nicht um bloße Beobachtung, sondern um einen Multimethodenmix. Ohne Zweifel stellt die Beobachtung aber die dominante Methode im Mehrmethodenansatz dar, sie war am aufwändigsten. Weshalb sie gewählt und gegenüber anderen bevorzugt wurde, erläutert der Autor unter 3.1. Unter 3.2 legt er offen, dass er die Beobachtungsstudie grundsätzlich als empirisch begreift, obwohl sie zirkuläre Züge trägt, die das Charakteristikum hermeneutischen Arbeitens sind: Das Nebeneinander geht freilich Hand in Hand mit dem Selbstverständnis der Arbeit als qualitativ und explorativ. Unter 3.3 macht der Autor schließlich geltend, dass es sich bei der Arbeit um eine Elitenstudie handelt, die methodisch an ihresgleichen, nicht an der Erforschung von anders zugänglichen Bevölkerungsgruppen etc. zu messen ist.
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B) Methode und Methodendiskussion
3.1 Beobachtung als Königsweg? „Die Inflation schriftlicher Befragungen sollte durch exemplarische Fallstudien ergänzt werden, die sich auf teilnehmende Beobachtung und Interviews mit den Betroffenen stützen“, forderte Zerfaß (2004, 318) mit Blick auf die Zukunft der Forschung im Bereich Public Relations und Kommunikationsmanagement (vgl. A). Für die Managementforschung hebt Malik, nach über dreißig Jahren in der Managementforschung, erhebliche Zweifel daran, dass Befragungen von Führungskräften verwertbare Ergebnisse zutage fördern (2006, 41): Aus diesem Grund habe ich schon lange aufgehört, Manager nach ihren Praktiken zu befragen. Interviews, aber auch andere Formen der Befragung sind hier hoffnungslos unergiebig. Die Leute geben einem entweder überhaupt keine brauchbare Antwort oder sie geben eine, von der sie glauben, dass man sie hören will. Manche beauftragen ein paar Wochen vor einem Gesprächstermin ihre Assistenten, in der Literatur nachzusehen, was zur Zeit en vogue ist. Das ist selten das, worauf es ankommt.
Malik zeigt sich verwundert, dass die empirische Forschung in der Managementlehre so sehr von Befragungsmethoden dominiert sei; er brandmarkt die Befragung als ein „weitgehend untaugliches Instrument“ (ebd.). Als den Königsweg der Managementforschung sieht er die Beobachtung an, wobei die forschungspraktischen Schwierigkeiten einer Elitenstudie angedeutet werden (ebd.): Die beste Methode ist die Beobachtung. Sie ist leider auch die schwierigste, insofern sie die zeitraubendste ist und man nicht ohne weiteres an die Personen herankommt, die man gerne beobachten würde. Nicht, was die Leute sagen, ist wesentlich, sondern was sie tun und wie sie es tun, und das kann man eben nur feststellen, wenn man sie beobachtet. Mit der Zeit kristallisiert sich das Muster heraus, und nach und nach lernt man auch, es zu beschreiben.
Maliks Kritik berührt einige der methodischen Fragen, die sich im Zusammenhang mit teilnehmender Beobachtung stellen. Wohl wissend, dass es noch eine Reihe anderer gibt, möchte der Autor die seiner Ansicht nach wichtigsten Probleme erörtern: (1) Reaktivität („Beobachtereffekt“); (2) das Verhältnis von Verallgemeinerbarkeit, Genauigkeit und Einfachheit; (3) das Verhältnis von Theorie und Beobachtung. Die Erörterung begründet, weshalb teilnehmende Beobachtung, flankiert durch Interviews und Recherchen, zwar nicht das perfekte, aber doch das beste Verfahren ist, um explorativ Grundzüge und typische Probleme des Jobs eines Kommunikationsmanagers herauszuarbeiten. Reaktivität In der Sozialforschung werden gemeinhin reaktive Verfahren und non-reaktive Verfahren unterschieden: Im ersten Fall wissen die Kandidaten, dass sie im Fokus einer wissenschaftlichen Untersuchung stehen. Im zweiten Fall wissen sie es entweder nicht, wie bei einer verdeckten oder nicht-teilnehmenden Beobachtung – oder es werden, wie bei der Inhaltsanalyse, überhaupt keine Personen untersucht (vgl. Bryman 2008, 265-266). Mit der Rede von reaktiven Verfahren geht die Anerkenntnis einher, dass die Forschungssituation grundsätzlich, immer und notwendig Einfluss auf die untersuchten Personen hat (HawthorneEffekt), dass sozialwissenschaftliche Forschung gleichwohl belastbar und aussagekräftig sein kann. Weniger kritisch ist Reaktivität, wenn sie mutmaßlich unsystematisch und ungerichtet bleibt; eher kritisch sind Reaktivitätseffekte zu sehen, wenn von einem systematischen, gerichteten Zusammenhang zwischen der Forschungsfrage und der Situation
III. Die Shadowing-Studie des Autors
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auszugehen ist (z. B. soziale Erwünschtheit). Gefordert ist in jedem Fall ein reflektierter Umgang mit Reaktivität. Für Malik – das zeigt das Zitat – ist die Beobachtung der Königsweg, weil Beobachtung, auch teilnehmende, die zwei gravierendsten Reaktivitätseffekte in der Managementforschung minimiert: die erste Reaktivität ist die der unbrauchbaren Antwort; die zweite die der sozial erwünschten. Was unbrauchbare Antworten anbelangt, ist Maliks Assistentenszenario realistisch, wie der Autor glaubt. In der Managementforschung – und dazu zählt der Autor die Forschung im Bereich Kommunikationsmanagement – ist jedes reaktive Forschungsverfahren einem Zusammenhang unterworfen, der sich unter der von Giddens gewählten Überschrift ‚Reflexivierung der Moderne’ durch die Arbeit zieht (vgl. A.7): Manager haben häufig das Ideal, gemäß dem State of the Art der Wissenschaft oder zumindest einem abstrakten theoretischen Idol gemäß zu agieren. Jede Forschung, die auf das Verhältnis zwischen praktischem Ist-Zustand und theoretischem Soll-Zustand zielt, ist demnach mit Skepsis zu sehen, wenn sie sich mit Selbstauskünften begnügt. Das ist bei der teilnehmenden Beobachtung, bei der der Beobachter in situ ist, stark eingeschränkt. Was den zweiten Fall, den der sozialen Erwünschtheit anbelangt, gilt das in ähnlicher Art und Weise. Der Kandidat mag sich etwas anders verhalten, aber da er in seinem Arbeitsumfeld agiert, ist es ihm nicht möglich, sich mit einem Mal völlig anders zu verhalten. Der Autor geht davon aus, dass die Beobachtung zu einer leichten, systematischen Verzerrung führt, und zwar weniger in Richtung soziale Erwünschtheit, mehr in Richtung Selbststilisierung. Ein Kandidat, der sich eher als Typus des gelassenen, freundlichen Managers begreift, wird sich in der Beobachtungssituation eher noch gelassener, noch freundlicher präsentieren; ein Kandidat, der sich als „harter Hund“ sieht, eher noch härter, noch aggressiver. In zwei Fällen sprachen den Forscher übrigens Mitarbeiter der beobachteten Person unaufgefordert auf jenen Zusammenhang an, äußerten, dass „der Chef“ im Großen und Ganzen schon so sei, wie er sich in der Woche gegeben hätte. Verallgemeinerbarkeit, Genauigkeit, Einfachheit, oder: What’s wrong with Ethnography? „Mit der Zeit kristallisiert sich das Muster heraus, und nach und nach lernt man auch, es zu beschreiben“, verweist Malik (vgl. oben) auf ein Grundproblem der Beobachtung, nämlich, dass die Methode eine ungeheure Datenmenge auf verschiedenen Ebenen generiert, die zu interpretieren, insbesondere aber zu generalisieren die eigentliche Herausforderung darstellt. Teilnehmende Beobachtung ist ein Verfahren, das vor allem mit der Kulturanthropologie und den soziologischen Forschungstraditionen der Ethnographie zum einen – das Schlagwort lautet thick description (vgl. Geertz 1971) –, zum anderen der Grounded Theory (Glaser/Strauss 1967) assoziiert wird. Ohne Zweifel haben die genannten Traditionen dazu beigetragen, die Methode der Beobachtung theoretisch zu fundieren, methodisch zu präzisieren und in den Stand eines anerkannten Verfahrens zu erheben (vgl. dazu Hammersley 1992, 11). Das Ausfeilen der Methode ging jedoch einher mit einer Phase der Detailverliebtheit, die, sicherlich auch dem Zeitgeist der sechziger und siebziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts geschuldet, vom Ziel verallgemeinerbarer Erkenntnisse abführte. Karl Weick, der als sozialpsychologisch orientierter Organisations- und Managementforscher sicherlich nicht als einseitiger Verfechter harter, quantitativer Forschung gelten darf, beklagte bereits Ende der sechziger Jahre, dass viele Arbeiten in der Tradition der Ethno-
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B) Methode und Methodendiskussion
graphie oder der dichten Beschreibung „endlose“, „grundlose“ und „nutzlose“ Einzelfallbeschreibungen darstellten (Weick 1979, 38; 11969): Lest all of this be interpreted as license for endless, groundless, needless case studies of organizations, it’s important to realize that investigators must simultaneously proliferate their theoretical degrees of freedom as well as their observations. Many pseudo-observers, trying to imitate Woodward and Bernstein’s Watergate coup, seem bent on describing everything and, as a result, describe nothing. It can be argued that the current upswing in social science enthusiasm for ethnography, thick description, grounded theory, and case studies is partly of the Watergate Zeitgeist. What’s worrisome is that relatively little discernment seems to be applied to the zeal for description.
Weicks Kritik ist von einigem Interesse, denn er äußert sie zu der Zeit, da Mintzbergs Arbeit erscheint – welche die vorliegende ja repliziert. Mintzbergs Arbeit wählt aus, verallgemeinert und entgeht demnach, wie der Autor glaubt, Weicks Kritik (lesenswert Weicks Rezension der Mintzberg’schen Dissertation). Dem Autor war es daher von Anfang an ein Anliegen, ihr auch zu entgehen. Sinn und Zweck der vorliegenden Arbeit ist demnach gerade nicht, acht möglichst „dichte“, umfassende und feinsinnige Einzelfallstudien vorzulegen, die nur für sich selbst sprechen. Freilich bemängelt der Autor selbst, mit vielen anderen, dass Mintzberg seine Beobachtung überstrapaziert – und ist natürlich bemüht, das mit seiner eigenen Studie nicht ebenso zu tun. Das Dilemma besteht also darin, zu verallgemeinern, ohne die Beobachtungen überzustrapazieren. Wie der Autor versucht, das Dilemma aufzulösen, lässt sich an Weicks schönem, vermutlich allgemein bekannten Bild der GAS-Uhr zeigen (vgl. Weick 1979, 35-42). Weick postuliert, das jedwede Forschung einen Kompromiss darstellt, der sich auf einer Uhr mit den drei Positionen Verallgemeinerbarkeit (generality), Genauigkeit (accuracy) und Einfachheit (simplicity) verorten lässt. Ein Forscher muss sich für zwei Zielwerte entscheiden, den dritten muss er in jedem Fall vernachlässigen. Der Autor versucht, das Dilemma aufzulösen, indem er sich die Vielschichtigkeit und Offenheit der Beobachtung und des Multimethodenmixes zunutze macht. Die Arbeit operiert auf zwei Ebenen, die sich auch in der Struktur widerspiegeln: Auf der ersten Ebene versucht der Autor, anhand der weicheren Daten und der subjektiven Eindrücke aus 37 Tagen Feldforschung eine primär verallgemeinerbare, sekundär einfache Theorieskizze zu zeichnen, die demnach weniger Genauigkeit beansprucht. Die Theorieskizze entwickelt er in Auseinandersetzung mit Grundannahmen des Managements und des Kommunikationsmanagements in Teil C und D. Auf der zweiten Ebene zieht der Autor dann ebenjene Theorieskizze heran, um die acht Manager auf Basis des quantitativen Skelettes und auf Basis kritischer Episoden und Anekdoten genauer ins Visier zu nehmen. Das geschieht in Teil E, wo die Darstellung nicht theoretisierend generalisiert, sondern exemplarisch illustriert. Theorie und Beobachtung Die Diskussion zu Beobachtereffekten und zu Verallgemeinerbarkeit führt zu einem weiteren Problem, das jedwede Forschung tangiert, qualitativ-explorative und Beobachtung aber besonders. Das Problem ist das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie. Die Paradigmen qualitativer vs. quantitativer sowie empirischer vs. nicht-empirischer Forschung werden anschließend erörtert, aber grundsätzlich ist das bereits unter I. und II. angerissene Problem nochmals zu betonen: Dass jeder Versuch zum Scheitern verurteilt ist, eine komplexe und institutionalisierte soziale Praxis wie Management vermeintlich voraussetzungsfrei und unvoreingenommen zu erforschen. Eine derartige Forschung repliziert, wie sich das bei
III. Die Shadowing-Studie des Autors
185
Mintzberg zeigt, die stillschweigenden Annahmen des Forschers. Mintzberg ging in Opposition zur funktional-analytischen Tradition (vgl. II.1) von vornherein davon aus, dass Management Machen ist, entsprechend beobachtete er Machen, entsprechend fand er heraus, dass Management eher Machen, weniger Denken darstellt. 3.2 Der qualitative Zirkel Unter 3.1. deutete der Autor die forschungslogische Struktur der Argumentation bereits an: Auf der ersten Ebene entwickelt der Autor eine Theorie darüber, welche typischen Probleme sich Kommunikationsmanagern stellen; auf der zweiten Ebene geht er der Frage nach, wie ebenjene von verschiedenen Managern gelöst werden. Da sich die erste und die zweite Ebene aus ein und derselben Studie entwickeln, ließe sich die Argumentation als zirkulär bezeichnen. Das ist auch der Fall. Zirkularität der Argumentation – ein offenes Forschungsverfahren, welches sich in einer immer enger werdenden Spirale des Verstehens an den Gegenstand annähert – ist typisch für qualitative Studien, insbesondere wenn sie explorativ sind (vgl. Krotz 2003, 248). Die Zirkularität bedeutet nicht, dass die Arbeit zwangsläufig unempirisch, einzig und allein hermeneutisch argumentiert. Da sich die vorliegende Arbeit als qualitativ und empirisch versteht, aber hermeneutische Elemente anerkennt, umreißt der Autor die wesentlichen Begriffe. 3.2.1 Empirische vs. nicht-empirische Forschung Die Unterscheidung zwischen empirischen und nicht-empirischen Verfahren ist zum einen keineswegs eine einfache, zum anderen verknüpft mit der Unterscheidung quantitativer und qualitativer empirischer Forschung. „Empirisch vorzugehen heißt, Erfahrungen über die Realität zu sammeln, zu systematisieren und diese Systematik auf den Gegenstandsbereich der Kommunikationswissenschaft anzuwenden“, führen Brosius und Koschel in einem Methodenlehrbuch der empirischen Kommunikationsforschung aus (2001, 17). Als ein paradigmatisches sozialwissenschaftliches Exempel nennen sie die Wahlforschung: „Wenn Wahlforscher bereits fünf Minuten nach Schließung der Wahllokale sagen können, dass eine Partei 42 Prozent der Stimmen bekommen hat, dann ist dies das Ergebnis einer empirischen Methode. In diesem Fall sind es viele Angaben von Wählern, die in ‚exit polls’ systematisch gesammelt und ausgewertet werden“ (ebd.). Der empirischen Forschung gegenüber stehen, so die Autoren, zwar gleichermaßen wissenschaftliche, aber eben nichtempirische Verfahren (2001, 17): „Nicht-empirisch vorzugehen heißt, einen singulären Sachverhalt aufgrund eigener Erfahrung und des theoretischen, allgemeinen Wissens einer Wissenschaft zu verstehen und systematisch einzuordnen“. Das klassische Beispiel sind die hermeneutischen Verfahren der Geisteswissenschaften wie etwa der Literatur- und Geschichtswissenschaften oder die phänomenologische Deskription in der Psychologie. Eine Gedichtinterpretation, so Brosius und Koschel (ebd.), beschäftige sich eben mit einem singulären Gegenstand, dem Gedicht. Wenn herausragende Berufspraktiker aus ihren autobiographischen Reminiszenzen heraus die Essenz der PR zu bestimmen suchen, dann ist ihr Vorgehen nicht-empirisch. Die vorliegende Arbeit ist dagegen empirisch insofern, als sie nicht von der singulären, subjektiven Erfahrung einer Karriere ausgeht, die der Autor aus sich selbst heraus und in ihrem eigenen Recht interpretiert. Der Gegenstand ist Kommunikationsmanagement, wie es viele
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B) Methode und Methodendiskussion
verschiedene Manager auf viele verschiedene Arten und Weisen praktizieren, so dass der Forscher gezwungen ist, wenn er die Praxis empirisch erforschen möchte, dies exemplarisch, anhand einiger weniger Personen zu tun. 3.2.2 Qualitative vs. quantitative Forschung Das Paradigma quantitativer Forschung ist das Messen, das Paradigma qualitativer Forschung das Verstehen (vgl. Krotz 2003, 245; Lindlof 1995, 6-13; Bortz/Döring 2003, 295306; ausführlich Bryman 2008, der, aus der soziologischen Organisationsforschung stammend, in seinem Lehrbuch quantitative und qualitative Forschung zunächst gegenüberstellt, dann eine Überwindung der Trennung fordert). Daraus resultiert, dass die quantitative Forschungslogik notwendig linear ist, die qualitative kann, wie bereits erwähnt, zirkulär, ja spiralförmig angelegt sein. Für die strukturierte Observation, die der Autor als quantitatives Skelett bezeichnet, wurden in einer linearen Logik vorher Beobachtungskategorien festgelegt, die angeben, was wie zu codieren ist. Die Beobachtungskategorien wandte der Beobachter auf alle Kandidaten gleich an. Im Paradigma qualitativer Forschung ist das Verhältnis von vornherein verwickelter, weil Verstehen auf Vorannahmen aufsetzt, die durch die Forschung verändert werden: Der Autor ging unvermeidlicherweise mit einem Vorverständnis von Kommunikationsmanagement ins Feld, obwohl es gerade Sinn und Zweck der Untersuchung war, durch die Beobachtung zu einem neuen und besseren Verständnis des Gegenstands zu gelangen. Das Verständnis, welches der Autor aufgrund der Beobachtung von Manager A entwickelte, wirkte sich ferner aus auf das Verständnis von Managerin B, und so fort. Die Bestimmung qualitativer Forschung in Abgrenzung zu quantitativer fällt in der Regel leicht. Schwerer ist es zu bestimmen, was qualitative Forschung in ihrem eigenen Recht ist, was die verschiedenen qualitativen Verfahren untereinander verbindet (ausführlich Bryman 2008, 363ff.). Krotz (2003, 246) führt aus, dass es in der Kommunikations- und Medienwissenschaft einen Kanon anerkannter quantitativer Verfahren gebe, die sich auf eine einheitliche Begründung zurückführen lassen. „Gegenüber dieser Einheitlichkeit bilden die qualitativen Forschungsansätze einen bunten Strauß unterschiedlicher und unterschiedlich begründeter Verfahren, die sich nur schwer auf einen Nenner bringen lassen“, macht er zu qualitativen Verfahren geltend. „In einer weiten Begriffsverwendung werden alle diejenigen Verfahren als ‚qualitativ’ bezeichnet, die nicht zum fest umrissenen Kanon der quantitativen Methoden gehören. In einer engeren Definition wird das Attribut ‚qualitativ’ synonym mit ‚interpretativ’, ‚hermeneutisch’ bzw. ‚sinnverstehend’ verwendet.“ (ebd.) John van Maanen, der als einer der einflussreichsten Advokaten qualitativer Forschung in der Managementforschung gilt,43 betont, dass der Terminus keineswegs eine präzise definierte Bedeutung besitzt (van Maanen 1983, 9): The label qualitative methods has no precise meaning in any of the social sciences. It is at best an umbrella term covering an array of interpretive techniques which seek to describe, decode, translate, and otherwise come to terms with the meaning, not the frequency, of certain more or less naturally occurring phenomena in the social world.
43
Vgl. hierzu Sutton 1997, 98; vgl. auch die Übersicht bei Tucker/Powell/Meyer 1995.
III. Die Shadowing-Studie des Autors
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Sinn, nicht Häufigkeit – Meaning, not Frequency „Verstehen statt Messen“ ist also die Formel, auf welche sich die qualitative Forschung in letzter Konsequenz zurückführen lässt. Freilich, der Vorwurf der Subjektivität, der Unwissenschaftlichkeit drängt sich damit auf. Was, ließe sich mit Fug und Recht fragen, unterscheidet einen Forscher, der sich eine Woche zu einem Manager setzt, von einer „gewöhnlichen“ Person, die dasselbe tut? Wo liegt der Unterschied, wenn es letzten Endes nicht um systematisch generierte Daten, sondern um plausible Interpretationen geht? Jeder halbwegs intelligente Mensch kann sich eine Woche zu einem Manager setzen und plausible Interpretationen liefern. Dem Vorwurf der Subjektivität, damit der Unwissenschaftlichkeit, begegnen Proponenten qualitativer Forschung auf zweierlei Art und Weise, einerseits forschungslogisch, andererseits wissenschaftstheoretisch. Forschungslogisch machen sie geltend, dass Forschung im qualitativen Paradigma nicht darauf ziele, Theorie zu prüfen, sondern zu bilden. Wo, fragen sie (vgl. Lindlof 1995, 9), soll die theoretische Grundlage für quantitative Forschung herkommen, wenn die Entwicklung plausibler, zu testender Interpretationen auf empirischer Basis als unwissenschaftlich abqualifiziert wird? Wissenschaftstheoretisch machen qualitative Forscher geltend, dass die Vorstellung von einer scharfen Grenze zwischen privilegierten, „wahrheitsgenerierenden“ wissenschaftlichen Verfahren einerseits und dem Alltagshandeln andererseits verfehlt sei: Wissenschaftliche Verfahren, qualitative wie quantitative, sind aus dem Alltag abgeleitet. Wir verwenden in letzter Konsequenz die gleichen Fähigkeiten, wenn wir beschädigte Chromosomen unter dem Elektronenmikroskop oder die Beine an einem Stuhl in unserer Küche zählen. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass der Wissenschaftler sich strengeren Regeln unterwirft und sich kritischer mit seiner Erfahrung auseinandersetzt (vgl. Krotz 2003, 247). Explorative qualitative Forschung – kein Notbehelf Einen interessanten Aspekt wirft Krotz (2003, 246f.) auf, wenn er argumentiert, dass qualitative Verfahren von Seiten der quantitativen Forscher als Notbehelf gesehen würden. Quantitative Forschung finde statt, wo quantitative Verfahren nicht geeignet sind, also 1) wenn das quantitative Instrumentarium generell nicht geeignet ist, wie z. B. bei linguistischen Analysen; 2) wenn ein Forschungsfeld noch nicht genügend konturiert ist, um ein ausgefeiltes quantitatives Design zu entwerfen. Gerade im zweiten Fall, argumentiert Krotz, würden quantitative Forscher die Arbeit ihrer qualitativen Kollegen allzu gerne als explorativ abwerten. Qualitative Forscher, so Krotz, sähen das freilich anders. Und auch der Autor sieht das anders. Wenn der Autor seine Studie als explorativ charakterisiert, dann folgt er ausdrücklich der Krotz’schen Argumentationslinie: Die Studie ist als explorativ gekennzeichnet, weil über die Details der täglichen Arbeit von Kommunikationsmanagern noch nicht genügend bekannt war und ist, um mit identifizierbaren wissenschaftlichen Problemstellungen und falsifizierbaren Hypothesen in die Forschung zu gehen. Die Arbeit ist explorativ insofern, als sie hypothesenfindend und problemgenerierend ist, nicht hypothesenprüfend, problemlösend. Ohne Zweifel ist die Studie auch deshalb explorativ, weil sie einer Verbreiterung und Vertiefung durch weitere Forschung bedarf, ja fordert: die Selbstselektion der Manager, der Rahmenfehler und die angeführten Verzerrungen sind ein methodisches Problem, das der Überwindung bedarf. Die Arbeit ist jedoch nicht explorativ – um das noch einmal zu betonen –, weil sie einer Absicherung durch „richtige“, durch „harte“, durch quantitative Forschung harrt. Im Gegenteil: Der Autor bezweifelt, dass Ver-
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B) Methode und Methodendiskussion
fahren, die mit großzahligen Samples und quantitativen Methoden arbeiten, dasselbe erforschen können wie die vorliegende Studie. 3.2.3 Die Spirale revisited, Triangulation und Scraps of Evidence Abschließend gilt es, drei Charakteristika qualitativer Forschung insgesamt, insbesondere aber teilnehmender Beobachtung, zu erörtern. Das geschieht einerseits, um forschungslogische Aspekte anzusprechen; andererseits, um das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass teilnehmende Beobachtung etwas völlig anderes ist als ein Expertengespräch oder Leitfadeninterview: Die Methode ist um ein Vielfaches aufwändiger, generiert aber auch um Potenzen mehr Daten, „weiche“ und „harte“, auf multiplen Ebenen. Die Spirale vorwärts und rückwärts Dass qualitative Forschung in einem Kreislauf geschieht, sich ihrem Gegenstand in einer spiralförmigen Bewegung annähert, wurde erörtert. Der Autor möchte jedoch dem Eindruck entgegentreten, dass der Forschungsprozess sich als Einbahnstraße gestaltete, von Beobachtungswoche zu Beobachtungswoche die Spirale „planmäßig“ immer enger gezogen wurde. Mehrfach geschah es, dass Beobachtungserfahrungen dazu führten, dass die Spirale rückwärts durchlaufen, wieder aufgelöst wurde. Das war erwartungsgemäß nach der Beobachtung von Manager A und Managerin B der Fall, wo es wie erwähnt zu einer Modifikation des quantitativen Kategorienschemas und einer entsprechenden Recodierung führte. Nicht auf der quantitativen, aber auf der qualitativen Ebene warfen die Wochen bei Manager E und H neue Schlaglichter auf Kommunikationsmanagement, führten zu einem Überdenken vieler bis dato bestätigter Annahmen des Autors. Triangulation Zerfaß beklagte 1996 (2004, 318; 11996) die Inflation schriftlicher Befragungen – heutzutage, in der Dekade darauf, ist die Inflation mündlicher wohl genauso zu beklagen: „Experteninterviews“ nehmen überhand. Insofern ist herauszuheben, dass die Methode der teilnehmenden Beobachtung gerade nicht einem Gespräch gleicht, wie es Goethe mit Eckermann führte. Obwohl der Autor für Gespräche zur Verfügung stand und die Kandidaten von Zeit zu Zeit „laufende Kommentare“ abgaben, gingen sie ihrem gewöhnlichen Tagwerk nach. Wie die quantitativen Daten zeigen, bestand das Tagwerk zu einem großen Teil aus Kommunikationsaktivitäten. Abbildung 32 vergegenwärtigt, dass die Manager durchschnittlich zwei Drittel der beobachteten Zeit im Kontakt mit anderen verbrachten (Telefonieren eingeschlossen, aber ohne schriftliche Korrespondenz). Der Forscher erlebte die Kandidaten also nicht nur in der Selbstauskunft, sondern eben widergespiegelt in Kommunikationssituationen und Interaktionsepisoden. In besonderem Maße aufschlussreich erwiesen sich naturgemäß Meetings mit einem oder mehreren Gesprächspartnern, die im Durchschnitt über ein Drittel der gesamten Arbeitszeit beanspruchten (39,2 Prozent der absolut beobachteten Zeit); aber auch die spontan und ad hoc zustande gekommenen „Tür-undAngel-Gespräche“ (11,1 Prozent) gestatteten es, den Manager im Spiegel vieler verschiedener Gesprächspartner zu erleben. Insofern lässt sich nicht nur methodisch, sondern auch interaktionell-situativ von einer Triangulation auf die Person sprechen (vgl. Flick 2004).
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III. Die Shadowing-Studie des Autors Manager > Zeit in persönlichen Kontakten (%)
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
50,6%
66,5%
72,3%
73,8%
63,2%
65,2%
82,1%
74,5%
68,5%
Abbildung 32: Zeit in persönlichen Kontakten per Kandidat in % der absoluten beobachteten Zeit (Quelle: eigene Darstellung) „Beweisschnipsel“: Scraps of Evidence Einen letzten Aspekt in der Gegenüberstellung von qualitativer und quantitativer Forschung gilt es zu berücksichtigen: nämlich ein ganz und gar unterschiedliches Verständnis davon, was mit empirischer Evidenz gemeint ist. Robert Sutton, Professor für Management Science an der Stanford University, hebt den Punkt in einem Aufsatz hervor, der ein interessantes Licht auch auf Mintzbergs Arbeit wirft (vgl. Sutton 1997). Sutton argumentiert, dass er selbst, angesichts des quantitativen Bias in verschiedenen Journalen die Bedeutung qualitativer Evidenz in eigenen Artikeln oftmals heruntergespielt oder verschwiegen habe. In einem Trial-and-error-Verfahren habe er über die Jahre festgestellt, dass einiges für „closet qualitative research“, also „verborgene“ qualitative Forschung spreche: „These trials and errors have led me to publish about a dozen papers that were inspired and guided by original qualitative data, but where these data were not mentioned or de-emphasized” (1997, 99). In The Nature of Managerial Work spielt Mintzberg die Rolle der weichen, subjektiven Impressionen in genau der Art und Weise „herunter“, wie es Sutton eingesteht. Auch wenn der Autor nach wie vor der Meinung ist, dass Mintzberg seine Beobachtungsdaten überstrapaziert, ist die Überstrapazierung in einem differenzierten Licht zu sehen. Mintzbergs Beweggrund dürfte derselbe sein wie bei Sutton: ein Bias der wissenschaftlichen Journale zu der Zeit, resultierend aus einer spezifischen Wissenschafts- und Forschungskultur, welche Schwierigkeiten hat, die Argumentationslogik qualitativer Forschung anzuerkennen. Suttons Eingeständnis zeigt, dass quantitativ, an „harter“ Forschung orientierte Forscher in der Managementlehre noch 1997 Probleme hatten, die theoretisch-exemplarische Logik qualitativer Forschung anzuerkennen. Man anerkannte, dass auch die qualitativen Forscher Daten sammelten, ging aber stillschweigend davon aus, dass die Daten in der gleichen Art und Weise verwandt würden wie in quantitativer Forschung: im Begründungszusammenhang. De facto sind qualitative Daten weniger als empirische Evidenzen für eine Theorieprüfung, eher als Stimuli für die Theorieentwicklung zu sehen: im Entdeckungszusammenhang. Der Schlussfolgerungsmodus ist nicht genuin induktiv, sondern abduktiv. Es wird, so die Theorie, nach der besten Erklärung für beobachtete Sachverhalte gesucht, wobei der Forscher bewusst und absichtsvoll neue Ideen einführt und zwangsläufig – völlig anders als bei der Deduktion, und sehr viel kreativer als bei der Induktion – über zwingend wahre Schlussfolgerungen hinausgeht. Zwar gesteht Sutton zu, dass auch qualitative Forschung nicht impressionistisch, sondern systematisch zu geschehen habe, und dass größere Datenmengen prinzipiell besser seien als kleine. Nicht überzeugt ist er jedoch von einem Zusammenhang zwischen der bloßen Menge qualitativer Daten und der systematischen Rigorosität einerseits, und der Qualität der daraus zu ziehenden Erkenntnis andererseits (Sutton 1997, 100): „I am not convinced, however, that there is a particularly strong relationship between the amount of data gathered or other indicators of the ‚rigor’ with
190
B) Methode und Methodendiskussion
which qualitative research is done and the quality of the resulting insights.” Unter Verweis auf die methodischen Ideen Karl Weicks geht er davon aus, dass Theorieentwicklung in der Organisationswissenschaft ein „mentales Testen“ von Hypothesen im Trial-and-errorVerfahren involviere, das gleichermaßen auf Basis großer Datenmengen wie auch anhand winziger „Beweisschnipsel“ (scraps of evidence) funktioniere. Für die Kommunikationsund Medienforschung formulierte Carey die gleiche Idee bereits 1975, postulierte, dass qualitative Forschung auf „large claims from small matters“ orientiert sei. Aus der Beobachtung winziger Unterschiede werden weitreichende Schlussfolgerungen gezogen (vgl. Carey 1975, 190; ähnlich Lindlof 1995, 6). Man mag das als gewagt oder kühn kritisieren. Die umgekehrte Vorgehensweise tritt dann jedoch als wenig wagend, kaum kühn zutage: aus großangelegten Untersuchungen werden winzige Schlüsse gezogen.44 3.3 Elite Executives Shannon Bowen, die „Issues Manager“ in global agierenden Unternehmen unter ethischen Gesichtspunkten interviewte (und in begrenztem Maße auch beobachtete), charakterisiert ihre Gesprächspartner als „elite executives“ (vgl. Bowen 2002). Die Autorin hebt damit die Schwierigkeiten hervor, die mit der Erforschung von Top-Managern einhergehen, stellt ihr Projekt in die Tradition der Elitenforschung (vgl. Hertz/Imber 1995). Auch der Autor tut das. Ihm geht es darum, ein realistischeres Bild davon zu zeichnen, was in der Forschungsarbeit mit Top-Managern möglich ist und was nicht. Insbesondere ist es ihm ein Anliegen, einer theoretisch mit Blick auf Reaktivitätseffekte nachvollziehbaren, aber praktisch ganz und gar wirklichkeitsfremden Forderung nach verdeckter Beobachtung von Top-Managern entgegenzutreten. „It is notoriously difficult to gain access to corporate elites”, macht Bowen (2002, 273) sowohl mit Blick auf ihre eigenen Erfahrungen als auch mit Blick auf die anderer Forscher geltend (ein guter Überblick der Sammelband Hertz/Imber 1995). Thomas (1995, 4) führt aus, dass „important people in big companies“ zwar leicht auszumachen, nicht jedoch leicht zugänglich seien. Obwohl der Autor dank der Ansprache über Vertrauenspersonen mit weniger Schwierigkeiten zu kämpfen hatte als erwartet, gilt es die Einschränkungen einer Elitenstudie klar und deutlich zu sehen. Dass die Manager selbst entschieden, ob sie an der Studie teilnahmen, wurde bereits angesprochen. Die Konstellation, dass Manager gut abgeschirmt „hinter verschlossenen Türen“, in einer sozialen Situation mit restricted entry agieren, führt zu weiteren Einschränkungen. Die erste und wichtigste Einschränkung ist die, dass es in letzter Konsequenz der beobachtete Kandidat ist, der die „Spielregeln“ definiert, nicht der Forscher. Aus ebenjener Einschränkung folgt, wie der Autor glaubt, dass die applikablen Methoden ebenso wie der Manövrierraum des Forschers limitiert sind, die Beobachterrolle ist eine definierte. Dass Shadowing der beobachteten Person „keine Zeit stiehlt“, keinen zusätzlichen Aufwand erfordert, spielte sicherlich eine wichtige Rolle bei der Entscheidung der Kandidaten für und wider die Projektteilnahme. Eine noch wichtigere Rolle spielte jedoch, wie der Autor glaubt, dass das Projekt auf Basis eines geradlinigen Verfahrens ein begrenztes 44
Vgl. exemplarisch und pointiert zu Entdeckungs- und Begründungszusammenhang Diekmann 2002, 150-159. Diekmann setzt sich dort auch mit Poppers Logik der Forschung, dem kritischen Rationalismus oder Popper’schen Falsifikationismus sowie mit Weiterentwicklungen (Lakatos) und Überwindungsversuchen (Feyerabend) auseinander. Zu Poppers Würdigung der Kühnheit der Vorsokratiker, eben im Entdeckungs-, nicht im Begründungszusammenhang, lesenswert Popper 2004, 131-166.
III. Die Shadowing-Studie des Autors
191
Ziel verfolgte. Unter 1. führte der Autor aus, dass Mintzbergs Methode zwar nicht einfach durchzuführen, dafür aber einfach zu verstehen ist. Geradlinigkeit der Methode stellt ein wichtiges Argument dar, wenn Eliten erforscht werden. Aus der Erfahrung mit einem anderen Projekt vermutete der Autor, dass ausgeklügelte Verfahren – etwa „Work Sampling“, wie es Luthans/Hodgetts/Rosenkrantz (1988) durchgeführt haben – potenziellen Kandidaten nicht zu vermitteln wären. Was Shadowing ist, lässt sich mit einigen wenigen Sätzen darlegen. Eine einzige, im Stile eines FAQ gestaltete Seite genügte als Hintergrundinformation. Vielen der angesprochenen Kandidaten genügte ein einziges Wort, nämlich Shadowing oder Beschattung – und ebenjener Begriff genügte auch, um Mitarbeitern oder anderen Organisationsangehörigen zu erklären, was der Forscher tut.
C)
Die Unterwerfung unter die Managementlogik
In Teil A postulierte der Autor, dass zwei Schlüsselkonzepte das Verständnis der Verschiebung von Public Relations zu Kommunikationsmanagement aufschließen: die Unterwerfung unter die Managementlogik, der Managerhabitus einerseits, das unternehmenspolitische Spiel, das Management Game andererseits. Teil B stellte die Feldarbeit des Autors, die Shadowing-Studie dar. Die Frage, der die Arbeit in Teil C unter spiralförmiger Verschränkung von Theorie- und Feldarbeit nachgeht, lautet: Was heißt Unterwerfung unter die Managementlogik? Wie sieht die Managementlogik aus, der sich Public Relations unterwirft? Wie sieht der Managerhabitus aus, der PR-Praktiker dazu bringt, in der Forschung wie im beruflichen Diskurs, zwischen PR-Technikern und PR-Managern zu scheiden? Was bedeutet das Kompositum Kommunikationsmanagement, wenn man seine Elemente Kommunikation und Management ernst nimmt? In welche Tradition stellt sich eine Branche, wenn sie Anstrengungen unternimmt, weg von Öffentlichkeitsarbeit, hin zu Kommunikationsmanagement zu gelangen? Woran sucht ein wissenschaftliches Feld wie die PR-Lehre Anschluss, wenn man versucht, Anschluss an die Betriebswirtschaftslehre herzustellen? Theoretisch geht der Autor der Frage im Rahmen einer geschichtlichen Spurensuche nach. Unter I. blickt der Autor deshalb kurz und bündig zurück in die PR-Geschichte, unter II. in die Managementgeschichte. Der Sinn und Zweck ist nicht, einen detaillierten historischen Abriss zu liefern. In der Spurensuche kann und darf es auch nicht um eine Theoriegeschichte gehen, welche die Entwicklung nuancierter und differenzierter darstellt, als sie realiter ist. Der Sinn und Zweck ist der, ein Bewusstsein für die historische Genese von Organisationspraktiken und professionellen Praktiken zu schaffen. Sowohl für die Entwicklung des Management- als auch des PR-Gedankens postuliert der Autor, dass die dominierende Geisteshaltung der Praktiker, der Habitus, spätestens mit Ende des zweiten Weltkrieges in groben Zügen etabliert war. Dem Autor geht es um diese groben Züge des Managements und der Öffentlichkeitsarbeit, nicht um die Vielzahl der wissenschaftlichen Perspektiven, welche die Praxis mal so, dann wieder anders perspektivierten.45 In III. werden die Ergebnisse der Spurensuche ineinandergeschoben und, wenn angebracht, mit Impressionen, Anekdoten und Episoden aus der Feldarbeit, der Beobachtungsstudie, verschränkt. Es gilt, zu einem Begriff von Kommunikationsmanagement zu gelangen, der die zwei in der Spurensuche herausgearbeiteten Geisteshaltungen – den PR- und den Managerhabitus – integriert.
45 Für einen Überblick über die Managementforschung nach 1945 vgl. etwa Staehle 1999, B; Steinmann/Schreyögg 2002, I.2; für einen Überblick aus Perspektive der Organisationstheorie vgl. etwa Kieser/Walgenbach 2003, 2.2.
H. Nothhaft, Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis, DOI: 10.1007/978-3-531-92671-1_3, © VS Verlag fuሷr Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
194
I)
C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Public Relations
Fröhlich (1997, 69), welche bereits die Definitionsmisere (A.II.1; A.II.7) diagnostizierte, beginnt einen Aufsatz über die Geschichte der Public Relations mit einer persönlichen Impression ihrer ersten Begegnung mit der PR-Historiographie: Ich erinnere mich genau an dieses vage Gefühl der Skepsis, an diesen noch nicht genau begründbaren und dennoch irgendwie grundsätzlichen Zweifel über das, was wir da als Studierende der Kommunikationswissenschaft an der Münchner Universität in unserer ersten PR-Einführungsveranstaltung über die Geschichte der Public Relations hörten: Public Relations seien nahezu so alt wie die Menschheit selbst, ihre Wurzeln lägen in der Rhetoriklehre des Aristoteles. Ja selbst das neutestamentliche ‚Gehet hin und lehret alle Völker…’ vereinnahmte man für die PR-Geschichte. Als besonders herausragende historische PRPersönlichkeiten wurden uns unter anderem Alexander der Große oder die Augsburger Fugger vorgestellt.
„Um es gelinde auszudrücken“, fährt Fröhlich fort, „wir hielten das für übertrieben und ordneten solchermaßen angebotene Geschichtsschreibung dann auch ziemlich unbekümmert als den untauglichen Versuch ein, den Public Relations historischen Glanz und theoretische Gloria zu verschaffen“ (ebd.). Der Autor pflichtet Fröhlich voll und ganz bei: Zugriffe, die in Höhlenmalereien Public Relations sehen, PR mit Humankommunikation per se gleichsetzen, führen ebenso in die Irre wie Versuche, den Anführer einer jungsteinzeitlichen Jagdsippe als prähistorischen Manager zu rekonstruieren. Fröhlichs Unbehagen gegenüber dem Versuch, Public Relations zu einer gattungsspezifischen Praxis des Homo sapiens zu stilisieren, steht jedoch ein anderes Unbehagen gegenüber: dasjenige, das man empfindet, wenn Autoren Public Relations als eine Praxis zeichnen, die abrupt mit der Gründung der ersten Agentur oder der ersten Pressestelle ihren Anfang nimmt. Wo vorher nichts war, sind mit einem Mal Public Relations. Auch Versuche, den ersten PR-Praktiker, den „PR-Urvater“ scharf und eindeutig zu identifizieren, führen in die Irre. Die Frage nach einem „PR-Urknall“ (Fröhlich 1997) ist obsolet, genauso wie die nach einem „Management-Urknall“. Wie viele andere Forscher auch (vgl. im Überblick Szyszka 1997), zeigt sich der Autor skeptisch, was Versuche anbelangt, die Frage nach Wurzel und Ursprung von Public Relations eindimensional zu beantworten. Die Skepsis des Autors liegt in der Perspektive begründet, welche Public Relations als eine Organisationspraxis begreift, die über Jahre, Jahrzehnte maturierte, über Jahrhunderte emergierte. Die Herausforderung an ein adäquates, differenziertes Verständnis ist deshalb, gleichermaßen anthropologische Grundvoraussetzungen wie auch soziale Bedingtheit sowie, daneben, kontingente Entwicklungen zu vergegenwärtigen. Die Schwierigkeiten, welche mit einer PR-Historiographie einhergehen, sind gut bekannt und in der Literatur bestens dokumentiert. Autoren wie Bentele, Fröhlich oder Liebert haben in der Diskussion, konzentriert zu rezipieren im Sammelband Szyszkas (1997), zwar mit dem einen oder anderen Schwerpunkt, aber doch unisono geltend gemacht, dass PR-Historiographie zunächst einmal die Frage stellen muss, ab wann und aus welchem Grund überhaupt von ihrem Gegenstand die Rede ist. Der Autor greift die Schwierigkeiten der Historiographie sozialer Praktiken noch einmal auf, in II., mit Blick auf Management. Hier und jetzt hebt der Autor auf eine Lösung ab, die gleichermaßen für Public Relations und für Management greift.
I. Public Relations
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Abbildung 33: Funktional-integratives Schichtenmodell der PR-Geschichte (Quelle: Bentele 1997b, 157) Das funktional-integrative Schichtenmodell nach Bentele Ein Ansatz, welcher die Schwierigkeiten der PR-Historiographie auflöst – die Rede vom PR-Urknall genauso wie die von PR als basaler humaner Praxis – ist das so genannte funktional-integrative Schichtenmodell, welches Bentele (1997b) vorgestellt hat. Abbildung 33 zeigt das Modell, zeigt zugleich die Struktur des vorliegenden Kapitels. Wie der Autor glaubt, löst das Schichtenmodell nicht nur die leidige Entstehungsfrage, sondern trägt auch den drei genannten Faktoren – anthropologische Grundvoraussetzungen, soziale Bedingtheit, Kontingenz – Rechnung. Schichtenmodelle, wie sie etwa in der Evolutionsbiologie vorgezeichnet wurden, gehen von der Annahme aus, dass Entwicklungsprozesse nicht durch Ablösung, sondern durch Überlagerung gekennzeichnet sind. Auf Praktiken wie Public Relations oder Management bezogen, bedeutet dies, dass soziale Phänomene nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt als prinzipiell neu und andersartig entstehen, dabei andere völlig verdrängen. Vielmehr ist es so, wie im Riepl’schen Gesetz, dass die überlagernde Schicht die Bedingungen der überlagerten Schicht aufnimmt und in einer anderen, in der Regel höherkomplexen Organisations- oder Strukturform verarbeitet. Ein moderner, liberal-demokratischer Rechtsstaat mag etwas anderes sein als eine Stammesgesellschaft, gleichwohl sind die Bedingun-
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
gen der niedriger entwickelten Organisationsform, anthropologische Universalien und Prinzipien menschlichen Zusammenlebens, in der höheren enthalten.46 1. Interpersonale Kommunikation Das Eingangszitat vergegenwärtigt, dass es zahlreiche Versuche gab, jedwede persuasive Kommunikation oder auch jedwede Kommunikation, bei der Selbstdarstellung eine Rolle spielt, als eine Urform von Public Relations zu deklarieren. Die Mehrheit der wissenschaftlich orientierten PR-Forscher47 sind sich indes einig, dass derartige Zugriffe problematisch sind, dass sie nicht der Beschreibung, sondern der Aufwertung dienen. „Historisierungsversuche“, machen etwa Ronneberger und Rühl geltend, seien ein „reputationsheischender wissenschaftlicher Brauch“, der in die Irre führe: Abgesehen davon, dass ‚Public Relations’ und ‚Öffentlichkeitsarbeit’ Wortschöpfungen des ausgehenden 19. bzw. der Mitte des 20. Jahrhunderts sind, entsprechen die kommunikativen Sachverhalte und gesellschaftlichen Zusammenhänge, die beide bezeichnen, keinem menschlichen Handeln schlechthin. (Ronneberger/Rühl 1992, 41)
Benteles Schichtenmodell gestattet eine differenziertere Perspektive. Zwar entsprechen Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikationsmanagement keinem menschlichen Handeln schlechthin. Ohne die menschliche Fähigkeit zu komplexer, differenzierter, symbolprozessierender Kommunikation, ohne die Fähigkeit, mehrdeutig und ambivalent aber doch im Rahmen eines „Realitätskorridors“ auf Sachverhalte, einschließlich der eigenen Geisteswelt, Bezug zu nehmen – die Arbeit geht auf Details an anderer Stelle ein (vgl. D.I.9) – würde sich Public Relations jedoch niemals entwickelt haben. Um in der Terminologie des Autors zu bleiben: Die menschliche Kommunikation – die ihre typischste Ausprägung in der direkten, sprachlich vermittelten Kommunikation zwischen zwei physisch präsenten Menschen findet – ist als anthropologische Grundvoraussetzung für die Evolution respektive Emergenz des sozialen Phänomens anzusehen, welches wir heutzutage als Public Relations bezeichnen. Humankommunikation ist aber, wie Bentele klipp und klar feststellt, nicht mit Public Relations identisch: Die Existenz von Informations- und Kommunikationsprozessen ist also die – logische und historischmaterielle – Voraussetzung für die Existenz von PR-Prozessen. PR-Prozesse sind Kommunikationsprozesse, aber nicht umgekehrt. […] Kommunikation ist aber ebenso die Voraussetzung bzw. die „Grundschicht“ für andere Typen von Kommunikation, die sich historisch entwickelt haben. (Bentele 1997b, 153)
46
Um Missverständnisse zu vermeiden, ist zu betonen, dass das vorgestellte Schichtenmodell, zumindest wie es der Autor versteht, weder eine geschichtliche Gesetzmäßigkeit noch einen Evolutionscharakter im Darwin’schen Sinne eines „Survival of the Fittest“ behauptet. Dass sich moderne PR oder modernes Management heute so präsentieren wie sie sich präsentieren, wird also weder als zwangsläufige Entwicklung noch als Beweis dafür angesehen, dass heutige PR die beste Art und Weise darstellt, für, über und in Organisationen zu kommunizieren oder, im Fall des Managements, sie zu gestalten, zu lenken und zu entwickeln. Alles, was das Schichtenmodell zu verdeutlichen sucht, ist der Zusammenhang der Argumente, die gleichermaßen für als auch gegen die These sprechen, dass es etwa im alten Rom PR gab – oder dass der Bau der Pyramiden gemanagt wurde. 47 Für einen Überblick vgl. Szyzska 1997; insbesondere Liebert 1997; Bentele 1997b; Fröhlich 1997.
I. Public Relations
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2. Öffentliche Kommunikation Die zweite Schicht im Bentele’schen Schichtenmodell ist gekennzeichnet durch das Kriterium der öffentlichen Kommunikation.48 In einer „atomisierten“ Gesellschaft, in der zwar interpersonale, aber keine öffentliche Kommunikation stattfindet – in der es beispielsweise nicht erlaubt ist, sich zu versammeln, Vereinigungen zu bilden oder Schriften herauszugeben – bleibt die sozialevolutionäre Entwicklung von Public Relations notgedrungen stehen (und auch, in der Bentele’schen Theoriebildung, die Entwicklung anderer Typen öffentlicher Kommunikation, wie Journalismus oder Werbung). Wieder greift der Schichtengedanke: Public Relations stellt stets und notwendig öffentliche Kommunikation dar, öffentliche Kommunikation jedoch nicht immer und zwangsläufig Public Relations. Insofern ist zu verstehen, weshalb Public Relations, wie wir sie hier und jetzt verstehen, keinem menschlichen Handeln schlechthin entsprechen, nicht in jeder menschlichen Gemeinschaft, sondern nur unter bestimmten Bedingungen emergiert – Public Relations ist sozial bedingt. Was öffentliche Kommunikation ist, bedarf der Erörterung. Der Autor möchte zwei Lesarten anbieten, die sich ergänzen. Die eine Lesart ist eine „klassische“ und folgt der Darstellung, wie sie etwa Bentele, Liebert und Seeling (1997) unter Bezugnahme auf das Öffentlichkeitsmodell von Gerhards und Neidhardt (1990) vorlegen. Die andere Lesart, welche mit der klassischen kompatibel, aber sozialpsychologisch fundiert und anders fokussiert ist, kehrt zurück zu der Rede von Resonanzböden, wie sie unter A vorgezeichnet wurde. a) Das Arenenmodell von Gerhards und Neidhardt Folgt man der klassischen Analyse, zeichnet sich öffentliche Kommunikation dadurch aus, dass sie nicht zwischen zwei oder mehreren Personen, sondern in einer Arena oder einem Forum stattfindet, eben in der Öffentlichkeit – wobei, wie Luhmann konstatiert, nicht notwendigerweise „Anschlusszwang“ (1990, 172) besteht. Die Metapher der Arena, in welcher Akteure vor einem Publikum agieren, ist im Prinzip der Kern des Arenenmodells, welches Gerhards und Neidhardt (1990) entwickelt haben. Öffentliche Kommunikation im weiteren Sinn beginnt, wo Dorfbewohner sich auf dem Dorfplatz versammeln, um einer Kundgebung zu lauschen: „In ihrer ‚Urform’ nimmt die Öffentlichkeit zunächst die Gestalt der Versammlung an“, macht entsprechend Imhof (2003, 204) geltend, wobei er darüber hinaus anmerkt, dass „Medien“ zunächst vor allem verwandt wurden, um die „Versammlungsöffentlichkeiten“ zu integrieren, also einerseits „zusammenzutrommeln“, andererseits ihre Beschlüsse zu verkünden. In Mediengesellschaften konstituiert sich öffentliche Kommunikation im engeren Sinn noch immer in sehr großem Maß als massenmediale Kommunikation, gemäß der klassischen Definition Maletzkes also Kommunikation, die sich technischer Verbreitungs- und Vervielfältigungsmittel bedient und ein disperses Publikum herstellt (Maletzke 1963, insbes. 28ff.; vgl. Burkart 2002, 166-176). Die rapide weltweite Verbreitung des Internet Ende des 20. Jahrhunderts und die noch rapidere Verbreitung webbasierter nutzerfreundlicher Publikations-Technologien und Vernetzungs-Applikationen zu Anfang des 21. Jahrhunderts ändern an der basalen „Medialität“ von Öffentlichkeit zunächst einmal nichts. Darüber hinaus sind die Veränderungen und Verschiebungen, die durch die Karriere des Web 2.0 und der Social Media (vgl. übergreifend Zerfaß/Welker/Schmidt 2008a, 48
Auf die demokratietheoretischen Aspekte von Öffentlichkeit geht die Arbeit an anderer Stelle noch ein.
198
C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
2008b), die Evolution einer Blogosphäre (vgl. Beck 2008; Berendt/Schlegel/Koch 2008) und die Etablierung von „Gegenöffentlichkeiten“ in ebenjener (Wimmer 2008) herbeigeführt wurden, zwar gravierend. Aus einer subjektivierten Perspektive war die öffentliche Arena entwickelter Gesellschaften aber immer eine virtuelle, mit dem entscheidenden Unterschied zur Versammlungsöffentlichkeit primitiver Gemeinschaften, dass nicht nur die Integration („zusammentrommeln“), sondern auch die Deliberation medienvermittelt ist (vgl. Abb. 34).
Abbildung 34: Öffentlichkeit als Arena (angelehnt an Gerhards/Neidhardt 1990) Öffentliche Kommunikation Interpersonale Kommunikation mit vielen Dass Public Relations öffentliche Kommunikation darstellt respektive auf Anschluss an und Beeinflussung ebenjener zielt, darf im Rahmen der klassischen Analyse als ein fundamentales Abgrenzungskriterium gegenüber interpersonaler Kommunikation zwischen einer und vielen Personen, gegenüber der Kommunikation mit Gruppen angesehen werden. Wo die Grenze zwischen öffentlicher Kommunikation einerseits, Kommunikation in oder gegenüber einer Gruppe andererseits exakt zu ziehen ist, mag im Einzelfall schwierig zu entscheiden sein. Zwei Kriterien führen jedoch sehr weit: Erstens, dass öffentliche Kommunikation – anders als private, an geschlossene Gruppen gewandte – an prinzipiell jedermann gerichtet ist: Wenn etwas „in der Öffentlichkeit“ gesagt wurde, vermag man sich nicht darauf zu berufen, dass es an Gruppe A gerichtet gewesen wäre, nicht aber an Gruppe B (vgl. Bentele/Nothhaft 2005, 218).49 Berühmt geworden ist das Habermas’sche Diktum: „Die bürgerliche Öffentlichkeit steht und fällt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs. Eine Öffentlichkeit, von der angebbare Gruppen eo ipso ausgeschlossen wären, ist nicht etwa nur unvollständig, sie ist vielmehr gar keine Öffentlichkeit“ (SWdÖ, 156). Zweitens ist öffentliche Kommunikation primär und zuvorderst an ein Publikum gerichtet – die Ränge der Arena, um im Bild zu bleiben. Erst in zweiter und nachrangiger Linie richtet sich öffentliche Kommunikation an den jeweiligen, vermeintlichen Gesprächspartner im öffentlichen Dialog, falls präsent. Insofern unterscheiden sich die Dynamiken öffentlicher Kommunikation grundlegend von gruppendynamischen Prozessen, wie sie etwa von Kurt Lewin systematisch erforscht und beschrieben wurden. Prozesse öffentlicher Kommunikation sind nicht gruppendynamische Effekte in groß, sondern etwas anderes. Das ist der Grund für verschiedene Missverständnisse: Wenn Politiker in Talkshows 49 Der Gegensatz öffentliche versus private respektive exklusive Kommunikation ist insofern bedenkenswert, wenn man über unternehmensinterne Kommunikation nachdenkt, die Frage stellt, ob und inwieweit es sich hier um interne PR oder um einen anderen Typus handelt.
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ihre Standpunkte vertreten, ohne sich um die Fragen der Gastgeberin oder anderer Gäste zu scheren, dann liegt das daran, dass sie der Situation der öffentlichen Kommunikation gewahr sind. Politprofis wissen: Sie interagieren nicht primär mit ihren politischen Gegenspielern oder den moderierenden Damen, sondern mit dem Millionenpublikum am Fernsehschirm zu Hause. Entsprechend ist vor einer voreiligen „Psychologisierung“ der Dynamiken und Effekte öffentlicher Kommunikation zu warnen: ein disperses Millionenpublikum ist niemals eine Gruppe. Der Autor vermutet, dass der Unterschied zwischen gruppendynamischer und öffentlichkeitsdynamischer Kommunikation einer der Gründe dafür ist, dass Top-Manager, an gruppendynamische Kommunikation gewohnt, in „politischen“ Arenen und Foren, in der Domäne der öffentlichkeitsdynamischen Kommunikation, häufig scheitern. Sie verstehen nicht, dass es „das Unternehmen Deutschland“ nicht in ähnlicher Form gibt wie ihr eigenes. Durch die Öffentlichkeit geht kein „Ruck“, weil Bürger und Bürgerinnen etwas anderes sind als Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. b) Die Arena metaphorisch und non-metaphorisch Wenn die Arenenmetaphorik mit der Rezipientenrealität übereinstimmt, trifft das von Neidhardt und Gerhards gewählte Bild in non-metaphorischer Art und Weise, und gerade das führt zu Verwirrung. Wo sich die Dorfbewohner tatsächlich auf dem Dorfplatz versammeln, haben wir es wirklich unmittelbar und direkt mit Öffentlichkeit zu tun, wenn auch mit einer Gemeinschaftsöffentlichkeit, nicht einer gesellschaftlichen. Die Rezipientenrealität in einer massendemokratischen Mediengesellschaft, und das entgeht weder Gerhards und Neidhardt noch Bentele, Liebert und Seeling, sieht jedoch anders aus: Öffentlichkeit erlebt der Bürger nur in den allerseltensten Fällen direkt und unmittelbar. Tatsächlich sitzt der Bürger nicht auf den Rängen der Öffentlichkeit wie der Dorfbewohner auf dem Dorfplatz steht, sondern liest am Frühstückstisch Zeitung, hört im Auto auf dem Weg zur Arbeit Radio, sieht sich bei der Arbeit die Nachrichten auf SpiegelOnline an, unterhält sich in der Mittagspause mit Kollegen, hält mit Geschäftspartnern Smalltalk zur Lage der Nation, bleibt beim Einkaufen stehen, um die Transparente einer Demonstration zu lesen, sieht abends die Tagesschau oder surft im Internet, liest seine Lieblingsblogs. Aus ebenjenem Flickenteppich von „Encounters“ mit dem Substrat Öffentlichkeit konzipiert sich das singuläre Individuum ein Bild seiner selbst auf den Rängen, ein Bild der Arena, ein Bild der Akteure und ihrer Interaktionen in der Arena. In modernen Mediengesellschaften handelt es sich bei der Arena eben um eine virtuelle, ließe sich jetzt, das Arenenmodell aufrechterhaltend, sagen. Würden Menschen ohne Kapazitätslimit jede Information aufnehmen, einordnen und verarbeiten, bestünde auch kein großer Unterschied zwischen der klassischen Analyse und einer, die eher das singuläre Individuum und fragmentierte Prozesse sieht. Das ist jedoch nicht der Fall. Wie der Autor unter D ausführlich argumentiert, ist der Mensch kein beliebiges verstehendes System, sondern ein spezifisches. Unsere Informationsverarbeitungskapazitäten sind äußerst begrenzt. Viele, sehr viele der Informationen, die uns begegnen, nehmen wir entweder gar nicht bewusst auf oder ordnen sie, wenn sie denn ins Bewusstsein gelangen, als uninteressant ein, was in der Regel vergessen bedeutet. Uns interessiert, was in unseren Augen neu und wichtig ist. Einiges empfinden wir direkt und unmittelbar als neu und wichtig, weil wir das Erbe unserer Vorfahren in uns tragen, die in einer bestimmten Umwelt in Sippen und
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Gruppen lebten, Früchte sammelten, jagten und gejagt wurden: etwa grelle, leuchtende Farben; plötzliche laute Geräusche; plötzlicher Wechsel von hell und dunkel; starke Emotionen wie Zorn und Freude bei Artgenossen – Reize, welche die klassische Werbung par excellence konstruiert. Vieles empfinden wir jedoch, in einer indirekten, mittelbaren Art und Weise, jetzt als neu und wichtig, weil es an anderes anschlussfähig ist, was vorher neu und wichtig war. Das ist, wie der Autor unter D argumentiert, insbesondere unserer Natur als soziale Spezies geschuldet, die ursprünglich in „überschaubaren“ Familien, Gruppen und Sippen lebte, so dass das Wohl und Wehe des Individuums von seinem Standing in der Gruppe sowie vom Standing der eigenen Ingroup gegenüber anderen Groups, den Outgroups, abhing (vgl. D.I.7, 8, 9). Auf die soziale Natur des Menschen, auf sein differenziertes Sensorium für die eigene Position in der sozialen Umwelt, wurde natürlich in der Kommunikations- und Medienwissenschaft bereits hingewiesen, zuvorderst etwa in der Rede Noelle-Neumanns von der „sozialen Haut“ des Menschen (1980). Dem Autor geht es jedoch darum zu betonen, dass das soziale Sensorium des Menschen zwar ausgeprägt und fein ist, es ist und bleibt aber ein Sensorium – es reagiert auf spezifische Cues und Marker, welche, aus Perspektive des Individuums, Bedeutung für mein eigenes Standing in der Gruppe respektive Bedeutung für das meiner Gruppe gegenüber anderen anzeigen. Unter Bedingungen einer überschaubaren, enggeflochtenen und face-to-face rückgekoppelten lebensweltlichen Gemeinschaft sind die Cues und Marker ebenjener indirekten und mittelbaren „Wichtigkeit“, wie der Autor glaubt, relativ reliabel: die Angehörigen einer Gemeinschaft verstehen sie ähnlich, pathologische Individuen ausgenommen. Unter Bedingungen moderner Gesellschaften, die eben nicht überschaubar, enggeflochten und face-to-face rückgekoppelt sind, wandelt sich das jedoch nach und nach, je nachdem, wie fragmentiert die Gesellschaft ist. Welche Konsequenzen das hat, lässt sich aus der Rezipientenperspektive und aus der Akteursperspektive diskutieren: Für Rezipienten bedeutet es, dass sie mit der Gefahr umgehen müssen, dass die eigene Wahrnehmung ihres indirekten, mittelbaren gesellschaftlichen Umfeldes sich immer weiter entkoppelt von der ihres unmittelbaren, direkten, privaten Umfeldes, ihrer Nachbarn, ihrer Mitmenschen: Man lebt in ein und derselben Nahwelt, aber in völlig verschiedenen Fernwelten. Für Akteure bedeutet es, dass in der fragmentierten Gesellschaft mehr und mehr Spielräume entstehen, ihre im Prinzip eigenen Interessen erfolgreich als gesellschaftliche oder, in der Habermas’schen Terminologie, private Interessen als öffentliche zu kommunizieren. Metaphorisch gesprochen, aus einer normativen Perspektive geurteilt, gelangen private Interessen in die Arena, obwohl sie dort „eigentlich“ – im Licht eines hypothetischen Konsenses, was „wirklich“, berechtigtermaßen öffentliche Angelegenheiten sind – nichts zu suchen hätten (vgl. auch A.I.2). Abbildung 35 vergegenwärtigt die Zusammenhänge graphisch, wobei es sich um die Perspektive eines singulären, fokalen Individuums handelt. Für ein anderes, im Publikum gezeichnetes Individuum stellt sich die Szenerie anders dar, wobei die Unterschiede bei nahe beieinandersitzenden Individuen wohl weniger gravierend ausfallen werden als bei weit voneinander entfernten. Abbildung 35 zeigt grundsätzlich vier Bereiche, den privaten Nahbereich, den öffentlichen Nahbereich, den öffentlichen Fernbereich und den privaten Fernbereich (für die Begriffe Fernbereich vs. Nahbereich vgl. auch Zerfaß 2007, 33-39; Zerfaß 2004). Der Nahbereich ist der Bereich „wirklicher“ Menschen. Der private Nahbereich ist der Bereich der Lebenswelt, in welchem das Individuum regelmäßig „privat“ interagiert, gewöhnlich face-to-face, zunehmend aber auch medial über Social Media wie
I. Public Relations
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etwa Facebook: Familie, Verwandte, Bekannte, Freunde und Kollegen also. Der öffentliche Nahbereich ist der Bereich der Personen, die in der unmittelbaren und direkten Gemeinschaft des Individuums stehen: für einen Dorfbewohner etwa die Bewohner eines Dorfes, für einen Bundestagsabgeordneten etwa seine Parlamentskollegen, Parteifreunde und -feinde, das politische Establishment.
Abbildung 35: Öffentlichkeit als Arena mit Nah- und Fernbereichen (Quelle: eigene Darstellung) In der Darstellung sind die Personen im öffentlichen Nahbereich heller gezeichnet, weil sie für das jeweilig fokale Individuum undifferenzierter, „flacher“ und „glatter“ sind. Der öffentliche Fernbereich ist schließlich die Arena, in der „übergroße“ Akteure agieren, die aber ganz und gar undifferenziert, „glatt“ und „flach“ bleiben, weshalb sie weiß sind. Der private Fernbereich ist schließlich ein Sammelsurium, eine Kakophonie: Dutzende und Aberdutzende von Angeboten lenken die Aufmerksamkeit des Individuums von den drei anderen Bereichen ab, ziehen das Individuum in die private, aber ferne Sphäre. Im privaten Fernbereich ist etwa der überwiegende Teil der Werbung angesiedelt, aber auch Entertainment und Fiktion, Unterhaltungsangebote wie Bücher, Kino, Theater etc. Die Gratifikation im öffentlichen Fernbereich ist eine soziale („Es gehört sich, dass man Zeitung liest“); im privaten Fernbereich ist sie eine private („Ich liebe Desperate Housewives“). In der „klassischen“ Darstellung, wie sie unter a) angeboten wurde, stellte der private Fernbereich noch öffentliche Kommunikation dar, mit einigem Recht, denn Bücher, Kino,
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Theater sind ja öffentlich zugänglich, an jedermann gerichtet. Der Autor sieht jedoch einen großen Unterschied. Subjektiviert man das Arenenmodell, blickt man nicht aus der Perspektive des olympischen Beobachters auf die Arena, sondern, wie in Abbildung 35, durch den Strohhalm der Kapazitätslimitation des singulären Individuums in sie, dann erhält der Begriff der öffentlichen Kommunikation eine andere Bedeutung. Öffentliche Kommunikation stellt dann nicht eine Qualität der Kommunikation an sich dar, sondern eine zugesprochene Eigenschaft. Es ließe sich demnach unterscheiden zwischen veröffentlichter Kommunikation einerseits, Kommunikation von öffentlicher Bedeutung andererseits. Für einen gebildeten Angehörigen der Mittelschicht ist die x-te Aufführung von Mozarts Zauberflöte oder Goethes Faust keine Kommunikation im öffentlichen Fernbereich mehr, sondern im privaten. Die Demonstration gegen Studiengebühren, in die er auf dem Nachhauseweg gerät, ist für ihn aber öffentliche Kommunikation, wenn er sich im Anschluss etwa Gedanken über die Zukunft unseres Landes macht – und das wird er tun, wenn die Demonstration nur vielköpfig, lautstark und bedrohlich genug war. Und exakt in ebenjenem Wenn und Wird versagt, wie der Autor meint, die Metaphorik des Arenenmodells. Denn das Individuum sucht die Arena nicht deshalb auf, weil es Lust auf Unterhaltung oder Zerstreuung, private Gratifikation verspürt: Die Arena ist nicht die Arena der Juvenal’schen circenses, der Spiele. Das Individuum sitzt immer und notwendig in der Arena, sofern es sich, wie die meisten gesunden Erwachsenen, der Tatsache gewahr ist, dass es in einer Gemeinschaft, ja Gesellschaft lebt: Das Individuum muss aufmerksam sein gegenüber Veränderungen, sozial vigilant. In einer Dorfgemeinschaft ist etwas wichtig, wenn jeder und jede real und physisch auf dem Dorfplatz zusammenkommt, wenn also, eben non-metaphorisch, etwas in der Arena stattfindet. In einer modernen Mediengesellschaft ist die Arena jedoch kein physischer und realer Dorfplatz, sondern ein ungeheures virtuelles Gewimmel von Akteuren und Interaktionen. Das singuläre Individuum nimmt das Gewimmel durchaus wahr, leidet womöglich darunter, fühlt sich von der Welt bedroht oder überfordert; wirklich verarbeiten kann es jedoch nur auf dem Niveau eines Dorfplatzes (vgl. D.I.8). Deswegen reduziert es die Komplexität auf einige übergroße Akteure, die gerade in Bezug auf etwas agieren, was aus Perspektive des Individuums entweder neu oder wichtig ist. c) Veröffentlichte Kommunikation vs. Kommunikation von öffentlicher Bedeutung Unter öffentlicher Kommunikation versteht der Autor also veröffentlichte Kommunikation (vgl. instruktiv Noelle-Neumann 2002, 401-406), die darüber hinaus von öffentlicher Bedeutung ist – entweder für das Individuum, wenn man über das Individuum spricht, oder für die Mehrheit bzw. die Mehrheit der gutinformierten Bürgerinnen und Bürger, wenn man über ebenjene spricht. Öffentliche Bedeutung mit Blick auf ein singuläres Individuum heißt dann, in Anlehnung an das Noelle-Neumann’sche Verständnis der „sozialen Haut“, dass eine Information neu oder wichtig im „existenziellen Dreikampf“ ist: also entweder für (1) das Standing des Individuums in der Gemeinschaft/Gesellschaft; (2) für die jeweilige Gemeinschaft/Gesellschaft des Individuums in ihrem Zusammenhalt; oder (3) das Standing der Gemeinschaft/Gesellschaft gegenüber anderen Gruppen. Klar und deutlich zu sehen gilt es jedoch, dass das Individuum die öffentliche Bedeutung nicht „objektiv“ zu beurteilen vermag – auf welcher objektiven Grundlage sollte das geschehen? Das Individuum beurteilt öffentliche Bedeutung anhand von Cues und Markern, die über Jahre und Jahrzehnte, in der
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Sozialisierung, gelernt wurden. Um einige banale und plumpe Beispiele zu geben, hinter denen sich bereits gängige PR-Strategien abzeichnen: wenn etwas im Spiegel steht, ist es vermutlich wichtig; wenn die Kanzlerin etwas äußert, ist es vermutlich wichtig; wenn jemand sehr viel Geld in etwas steckt, ist es vermutlich wichtig; wenn viele Menschen, auch meine Nachbarn und Kollegen über etwas sprechen, wenn es mich selbst oder meine Kinder betrifft, wenn es unser Land, unseren Wohlstand, unsere Lebensweise betrifft, dann ist es wichtig, etc. Die Beispiele vergegenwärtigen, inwiefern Public Relations und öffentliche Kommunikation – zumindest wie der Autor die Phänomene versteht – zusammenzudenken sind. Die Beispiele vergegenwärtigen ferner, inwiefern Public Relations einerseits zu unterscheiden ist von Werbung und Unterhaltung, andererseits Verwandtschaft aufweist mit Journalismus. Öffentlichkeitsarbeit zielt darauf, Akteure in der Arena „stattfinden“ zu lassen oder, umgekehrt, einen in der Arena angegriffenen Akteur aus derselben „herauszuholen“. Die öffentliche Arena konstituiert sich in modernen Massengesellschaften zugegebenermaßen zum großen Teil durch den Journalismus und journalistische Medien, die, wie auch Journalismustheoretiker herausarbeiten, der Gesellschaft helfen, sich selbst zu beobachten (auf Luhmann’scher Systemtheorie basierend etwa Marcinkowski 1993) – heute kommt die private Publizistik, die Blogosphäre, sicherlich dazu. Die Gleichsetzung von Öffentlichkeit mit Arenen und Foren journalistischer Deliberation ist jedoch, wenn der Autor etwas polemisiert, eine bildungsbürgerliche Fiktion: Für einige Menschen mag etwas „automatisch“ von öffentlicher Bedeutung sein, wenn es Eingang in Die Zeit gefunden hat, für die Mehrzahl der Menschen in Deutschland ist das jedoch nicht der Fall. Und übrigens auch umgekehrt: Vieles, was in der Bild zu lesen steht, und von einer sehr großen Zahl an Menschen rezipiert wird, stellt nicht automatisch öffentliche Kommunikation dar. Die barbusige Dame auf Seite 1 mag von Millionen und Abermillionen privat, im Fernbereich, „rezipiert“ werden, ihre Vorzüge mögen von Millionen und Abermillionen im Kreise der Kollegen, im öffentlichen Nahbereich, erörtert werden – das macht sie jedoch nicht zwangsläufig, zunächst einmal immer aus Perspektive eines singulären Individuums, zum Objekt öffentlicher Kommunikation, zum Akteur in der Arena. Schließlich unterhält man sich ja im Kollegenkreis auch über den Tatort vom Sonntag, der zweifelsfrei Unterhaltung darstellt. Wenn das Individuum jedoch merkt, dass jedermann seit Tagen über die barbusige Dame auf Seite 1 spricht, wenn es sich genötigt sieht, die Dame einmal in Augenschein zu nehmen – etwa, um mitzureden und das eigene Standing zu wahren –, dann avanciert die Dame zum Objekt öffentlicher Kommunikation, wenn auch nicht zwangsläufig zum Akteur.50 Die anthropologische Wurzel öffentlicher Kommunikation und ihre eigentliche Definitionsbasis ist die Natur des Menschen als soziale Spezies: Der Mensch lebt zuvorderst und primär in einer sozialen Umwelt, und gerade deshalb, eingedenk seines „existenziellen 50 Dem Autor steht vor Augen, dass das Individuum womöglich irrtümlich glaubt, dass jedermann über die barbusige Dame spricht, wodurch sie für das Individuum zu einem Objekt öffentlicher Kommunikation würde, obwohl das de facto, aus der klassischen Perspektive, gar nicht der Fall ist. Weshalb, ließe sich fragen, versteht man Objekte der öffentlichen Kommunikation nicht geradliniger als die, über die faktisch viele oder alle sprechen? Die Antwort hat der Autor bereits gegeben: weil sich an einem Montagmorgen vermutlich Millionen und Abermillionen über den gestrigen Tatort unterhalten, über irgendetwas muss man sich ja unterhalten; zu Mittag ist das Thema jedoch passé, weil es Unterhaltung, weil es belanglos war. Nach Ansicht des Autors konstituiert sich ein Objekt erst dadurch als Objekt öffentlicher Kommunikation, dass es von vielen für wichtig und neu mit Blick auf den jeweils eigenen, „existenziellen Dreikampf“ gehalten wird – ist das nicht der Fall, haben wir es mit reiner Unterhaltung zu tun.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Dreikampfes“, überwacht er sie eifersüchtig. Im Rahmen der Sozialisierung in einer modernen Gesellschaft lernt der heranwachsende Mensch, dass sich die soziale Umwelt nicht auf die unmittelbare und direkte Lebenswelt oder auf die Gemeinschaft des öffentlichen Nahbereiches beschränkt. „Gesellschaftliche“ Ereignisse und Vorgänge, wie Steuererhöhungen, Studiengebühren, Benzinpreisverteuerungen, durchwirken sein Leben genauso real und konkret. Zumindest sollte das Individuum das lernen, denn dadurch wird es zum Bürger, zur Bürgerin. Mit der Sozialisierung in größere, unüberschaubare und verwickelte Gemeinschaften, zu guter Letzt in die Gesellschaft, kommt es aber zu einem Umkehrschluss: Da ich in einer unübersichtlichen, verwirrenden Gesellschaft nicht viele andere verlässliche Cues habe, nehme ich schon die Tatsache, dass viele um mich herum über etwas sprechen, dass „die Medien“ es aufgreifen, als einen deutlichen, unmissverständlichen Cue dafür, dass es auch für mich, individuell und im Einzelfall wichtig ist – und sei es nur, weil ich mein Standing als gutinformierter, aufgeklärter Bürger wahren muss. Die beschriebenen Sachverhalte sind natürlich nicht neu. Bereits Noelle-Neumann arbeitet sie mit der Schweigespirale (1980) im Prinzip auf; ihre neueste und anspruchsvollste Behandlung erfahren sie in der Theoretisierung über soziale Epidemien und virale Effekte, bei welchen das Konzept des Gens durch das des Mems ersetzt ist (Dawkins 1976). Der Autor betont aber, dass das Individuum und seine genetische Codierung als soziale Spezies die Keimzelle ist, aus der sich alles andere in relativ sparsamer Art und Weise entwickelt; eine Perspektive, die er unter D noch vertieft und verbreitert. Ein Konzept, welches Öffentlichkeit als eine starre, von etablierten journalistischen Medien gebildete und begrenzte Arena zeichnet, trifft in zunehmend fragmentierten Gesellschaften, in Zeiten des Blogging und des Corporate Publishing nicht mehr zu. Ein Konzept, welches Öffentlichkeit „objektiv“ und „dort draußen“ zeichnet, vermag der Dynamik öffentlicher Kommunikation der Spätmoderne, der Zeit des Web 2.0, des viralen Marketing, der corporate citizenship im doppelten Sinne (dem eines globalen Konzerns als Bürger einer Gesellschaft, und dem Bürgersein in globalen Konzernen), niemals gerecht zu werden. Sie würde der theoretischen Beschreibung und Erklärung der PR im 21. Jahrhundert Scheuklappen aufsetzen. Flexibler und zielführender ist eine subjektivierte Perspektive, welche davon ausgeht, dass jedes singuläre Individuum ein Konzept seiner Selbst „im Kopf“ hat, welches in einen öffentlichen, einen privaten, mit einigen wenigen geteilten sowie, unter Umständen, einen völlig verborgenen Bereich zerfällt. In der Arena zu sitzen, wie in Abbildung 35, stellt demnach die Beschreibung einer Selbstwahrnehmung des Akteurs dar. Wenn etwas, ein Objekt, ein Akteur, eine Information in der Arena auftaucht, dann stellt dies das phänomenale Erleben der Tatsache dar, die unter A.III.3 analytisch beschrieben wurde: dass etwas auf den Resonanzboden des menschlich-gemeinschaftlich-gesellschaftlich Bedeutsamen gewirkt hat. Es ist „live“, es ist hier und jetzt wichtig und neu – für mich, als Bürger, Angehöriger einer Gemeinschaft, Mensch. Es unterscheidet sich insofern von den Konserven, die mir jederzeit zum privaten Konsum im Fernbereich zur Verfügung stehen. Die Konserven sind veröffentlicht, aber nicht von öffentlicher Bedeutung, sie finden nicht hier und jetzt statt.
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3. Funktionale PR Ähnlich wie das bei Managementfunktionen zu zeigen ist (vgl. II.), lassen sich vergleichsweise klar und eindeutig „PR-verdächtige“ Aktivitäten zu einer Zeit belegen, da der Terminus Public Relations noch nicht einmal annähernd existierte – gängigerweise führt man den Begriff auf Dorman Eaton zurück, der ihn 1882 in einer Rede gebrauchte, 1886 gelangte er im Yearbook of Railway Literature zu seiner heutigen Verwendung (Grunig/Hunt 1984, 14). Ebenso lässt sich zeigen, dass verschiedene PR-Instrumente und PR-Methoden angewandt wurden, die heutzutage in ähnlicher Form noch immer Anwendung finden, ja gerade erst als neuester Schrei entdeckt werden. Der Personenkult, der etwa um die englische Königin Elizabeth I. (1533-1603) inszeniert wurde, darf als Musterbeispiel von CEOKommunikation gelten. Julius Caesars De bello gallico ist weniger als ein Beitrag zur Geschichtsschreibung, mehr als ein Instrument der Selbststilisierung zu lesen; in seiner überheblichen Bescheidenheit ist es geradezu zum Vorbild der modernen Manager- und Politikerbiographie à la Lee Iacocca, Jack Welch, Tony Blair oder Gerhard Schröder geworden. Wie bereits angedeutet, nahmen Autoren wie Bernays (1952), Oeckl (1976) oder Avenarius (2000) sowie viele der amerikanischen Textbooks die geschilderten und andere Beispiele zum Anlass, die Entstehung von Public Relations bis in die Antike, zu den babylonischen und den altpersischen Königen, zu den ägyptischen Pharaonen zurück zu verlagern. Ihre Historisierungsversuche hinterließen bei wissenschaftlichen Beobachtern wie etwa Fröhlich ein „vages Gefühl der Skepsis“. Benteles Schichtenmodell löst das Problem: Mit der Einführung einer dritten Schicht anerkennt Bentele zum einen die „PR-Verdächtigkeit“ mancher historisch belegbarer Aktivitäten – stellt zum anderen aber heraus, dass es irreführend wäre, den Terminus Public Relations vollumfänglich, in seiner heutigen Bedeutung zu verwenden. Die Rede ist von funktionaler PR, die von institutioneller PR zu unterscheiden ist.51 Die historischen Beispiele vergegenwärtigen, wann von PR-funktionsäquivalenten Aktivitäten, funktionsäquivalenten Instrumenten und Methoden zu sprechen ist, ohne dass in der betreffenden Gesellschaft so etwas wie die Institution Public Relations, ein PR-System, oder auch nur hauptberufliche PR-Praktiker existiert hätten. Institutionelle vs. funktionale PR Freilich verlagert sich die Frage damit darauf, was unter der Institution Public Relations zu verstehen ist. Die Frage ist zunächst auf der Oberfläche zu behandeln, dann gilt es jedoch tiefer zu schürfen, die Überlegungen mit den vorangegangenen zu öffentlicher Kommunikation zu verknüpfen. Oberflächlich bedeutet die Rede davon, dass Public Relations zwar funktional, aber nicht institutionell vorhanden gewesen sei, dass es an Bewusstheit mangelte: Anders als in der Bundesrepublik Deutschland gab es im Römischen Reich oder im England der Renaissance keine gesellschaftliche Anerkennung von Öffentlichkeitsarbeit als politisch legitim, wie sie heutzutage implizit durch das Grundgesetz, explizit durch das Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1977 vorliegt. Genausowenig gab es ein Selbstverständnis der Berufspraktiker als Angehörige eines professionellen Berufsstandes, wie im Deutschland des 21. Jahrhunderts durch die Berufsverbände DPRG, BdP und degepol, durch den Wirtschaftsverband GPRA verbürgt.
51
Funktionale PR ist auch heute noch in semi-professionellen Organisationszusammenhängen zu beobachten, etwa in Sportvereinen. Vgl. zu funktionaler PR Bentele 1998, 174-176.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Die bloße Tatsache, dass der Ghostwriter der Julier oder Elizabeths Eventmanager sich nicht als Spin-Doctors verstanden, in der Gesellschaft nicht als PR-Profis anerkannt wurden, reicht als Begründung jedoch nicht aus. Bohrt man tiefer, zeigt sich, dass das zitierte vage Gefühl der Skepsis daher rührt, dass Historisierungsversuche ein gesellschaftlich determiniertes Phänomen aus dem determinierenden gesellschaftlichen Zusammenhang herauszulösen und in eine andere Zeit zurückzuversetzen suchen, in der entscheidende, prägende Bedingungen nicht galten. Public Relations ist, genau wie Management, ein sehr stark angereichertes Phänomen. Ebenso wie das in der Managementlehre mit Blick auf die Pyramiden geschieht (vgl. II.), bleibt zu fragen, um welche gesellschaftlichen Bedingungen es sich handelt. Public Relations vs. Herrschaftskommunikation Wenn Malik (vgl. II.3) postuliert, Management sei ehemals Privileg und Bürde einiger weniger ausgewählter Menschen in exponierter Position an der Spitze staatlicher oder kirchlicher Institutionen gewesen, so gilt das in ganz ähnlicher Art und Weise für Public Relations. Sieht man genauer hin, zeigt sich, dass funktionale PR zum großen Teil und über weite Strecken „Herrschaftskommunikation“ darstellte. Auch Bentele, ohne den Begriff Herrschaftskommunikation zu gebrauchen, arbeitet das klar und deutlich heraus: Was in historischen Darstellungen beispielsweise als Vorformen der heutigen Zeitung erscheint (z. B. frühe Flugblätter, Einblattdrucke, Korrespondenzen, Meßrelationen, Amtliche Bekanntmachungen, Kanzleipublizistik) war – aus heutiger Sicht – häufig eher das kommunikative Produkt gesellschaftlichpolitischer Institutionen im ausgehenden Mittelalter wie dem Kaiserhof oder den Fürstenhäusern, als das Produkt unabhängiger Zeitungsherausgeber. (Bentele 1997b, 149)
Herrscherhäuser und Kirche repräsentierten, mobilisierten oder informierten, taten gehorsamen Untertanen und gläubigen Christenmenschen etwas kund.52 Freilich: Dass die Exekutive über ein fait accompli in Kenntnis setzt, findet auch heute noch statt, etwa wenn das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung eine Gesetzesinitiative erläutert oder der Bundespressesprecher auf der Bundespressekonferenz den gastgebenden Journalisten und Medienvertretern Rede und Antwort steht. Gleichwohl würden wir nicht von Herrschaftskommunikation, sondern von Öffentlichkeitsarbeit sprechen. Der Unterschied ist der, dass die Verantwortlichen sich gewahr sind, dass Äußerungen, Verlautbarungen, Darstellungen der Bundesregierung prinzipiell mit anderen Nachrichten im Wettbewerb stehen. Die Konkurrenzsituation, in der und durch die sich Public Relations herausbilden, hat zwei Dimensionen, eine Bedingung sowie, und das wird häufig nicht ausgeführt, eine gravierende Konsequenz. Wettbewerb, Pluralismus, offene Foren und Arenen – angepasster Kommunikationsstil Als erste Wettbewerbsdimension ist die Tatsache zu sehen, dass die Nachrichten der Bundesregierung im Wettbewerb um das vielbeschworene knappe Gut „öffentliche Aufmerksamkeit“ wetteifern (vgl. z. B. auch Ruß-Mohl/Fengler 2007). „PR-Aktionen stehen via öffentlicher Kommunikation untereinander im Wettbewerb“, formulieren etwa Ronneberger/Rühl (1992, 43), „und zwar im Wettbewerb um die Aufmerksamkeit und das Interesse von Publika.“ Was die Bundesregierung von sich gibt, muss nicht nur von Interesse sein, 52 Dass Handelshäuser wie die Augsburger Fugger oder die Medici publizistische Aktivitäten zeigten, die man heute als „PR-Arbeit“ bezeichnen würde, sei erwähnt.
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sondern ebenso interessant verpackt werden – andernfalls wenden sich die Bürgerinnen und Bürger, um zum Arenenmodell zurückzukehren, anderen Angeboten im öffentlichen oder privaten Fernbereich, attraktiveren politischen Positionen oder schlicht und einfach Entertainment und Fiktion zu. Für ein modernes Verständnis von Public Relations konstitutiv – und das ist die zweite Wettbewerbsdimension – ist darüber hinaus Pluralismus.53 Ohne das große Wort en detail zu diskutieren, möchte der Autor unter Pluralismus die simple Tatsache verstehen, dass neben der Meinung der Regierenden andere geduldet, als prinzipiell legitim anerkannt werden. Salopp gesagt: Es gibt niemanden, der „die Wahrheit gepachtet hat“, wie es die kommunistischen Parteien für sich in Anspruch nahmen, oder wie es das Dogma der katholischen Kirche ausbuchstabiert. Die Akteure des Bundespresseamtes agieren im Bewusstsein, dass sie zwar die offizielle Linie vertreten mögen, dass die Bürgerinnen und Bürger aber andere Interpretationen, etwa die der Opposition, übernehmen werden, wenn die der Regierung nicht überzeugt. Insofern unterscheidet sich die PR-Arbeit des Bundespresseamtes von der Propaganda der NSDAP im Nationalsozialismus: Hier war die Linie der Partei die alleinseeligmachende – man mochte subversiv gegen sie vorgehen, eine andere als legitim anerkannte gab es nicht. Damit der Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Interesse sowie ein genuiner Pluralismus zustande kommen, sind – und das ist die Bedingung – vergleichsweise offene, unkontrollierte Foren und Arenen öffentlich-gesellschaftlicher Auseinandersetzung erforderlich. Offen heißt, dass die Möglichkeit, etwas zu veröffentlichen, in die reale physische Arena zu gelangen – sei es der Dorfplatz, seien es „die Medien“ – im Prinzip jedermann zusteht. Unkontrolliert bedeutet, dass die Arena Partialinteressen Raum gibt. Bentele und Nothhaft machen geltend: Solange Partialinteressen in einer Gesellschaft weit- oder weitestgehend aus der publizistischen Auseinandersetzung ausgeschlossen bleiben – wie das z. B. im Frühmittelalter der Fall war, wo Herrscher und Kirche allein sich an die „Öffentlichkeit“ wandten – sollte allenfalls in einem metaphorischen Sinn von PR gesprochen werden. (Bentele/Nothhaft 2008b, 342)
Es ließe sich ergänzen, dass ein genuin pluralistisches System zunächst einmal nichts anderes kennt als Partialinteressen; was Partikularinteresse bleibt und was als allgemeingesellschaftliches Interesse anerkannt wird, entscheidet sich erst in der Auseinandersetzung: In pluralistischen Systemen ist kein Akteur von vorneherein privilegiert gegenüber anderen, weder das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, noch Greenpeace, noch Shell. Dass de facto eine Privilegierung über den Zugang zu und die Durchsetzungskraft in den Arenen und Foren besteht, steht auf einem anderen Blatt. Für die sozialevolutionäre Genese respektive Emergenz des Phänomens der sozialen Praxis Public Relations bedarf es also eines funktionierenden Journalismus, einer gesunden, vielfältigen Medienlandschaft,54 in welcher Akteure mit Partialinteressen ebenjene gegen andere Partialinteressen zu vertreten 53
Die erste Wettbewerbsdimension unterscheidet sich von der zweiten dadurch, dass im zweiten Fall verschiedene Antworten auf gesellschaftlich relevante Fragen miteinander konkurrieren, während im ersten Fall die Erörterung gesellschaftlich relevanter Fragen Aufmerksamkeit beansprucht und sich entsprechend gegen Unterhaltungsangebote, gegen Entertainment und Fiktion, durchsetzen muss. 54 Inwiefern der Fortbestand einmal emergierter Public Relations vom Schicksal der Entstehungsbedingungen abhängt, von der Weiterentwicklung des Journalismus und der Medienlandschaft also, steht auf einem anderen Blatt.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
und durchzusetzen suchen. Bleibt die Konsequenz zu diskutieren: Aus der Wechselwirkung von (1) Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Interesse, (2) pluralistischem „Meinungskampf“ sowie (3) offenen, unkontrollierten Foren und Arenen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung resultiert die Wahl eines Kommunikationsstils, der an die geschilderten Bedingungen angepasst ist. Organisationen sehen sich gezwungen, entweder gemäß der Spielregeln der gesellschaftlichen Kommunikation, gemäß der Sozialisierung der Individuen zu agieren, oder auf Unverständnis, Ablehnung oder völliges Desinteresse zu stoßen. Der spezifische Kommunikationsstil, behauptet der Autor, ist der der Public Relations – welcher sich in Adaption an den journalistischen Modus entwickelte (vgl. auch A.III.2), die Resonanzböden der Gesellschaft, Gemeinschaft und des basalen menschlichen Miteinanders anspricht. Funktionale PR und öffentliche Kommunikation Die Propagandaarbeit der katholischen Kirche im Mittelalter war also nicht Public Relations im heutigen vollumfänglichen Verständnis, weil sie nicht im Wettbewerb einer offenen, unkontrollierten Arena stattfand, in der man mit einem vergleichsweisen Überangebot an Entertainment und Fiktion konkurrierte, und in der bestimmte Spielregeln galten, auf welche das Publikum über Jahre und Jahrzehnte sozialisiert wurde. Im Gegenteil, die Arena, wenn sie überhaupt in den Köpfen der Menschen geschaffen war, wurde von einem oder, wenn man weltliche und geistige Herrschaft trennt, von zwei Akteuren dominiert. Öffentliche Kommunikation war Herrschaftskommunikation. Sieht man von Sektierern wie den Katharern ab, gab es bis zur Reformation lediglich einen ernstzunehmenden „Anbieter“ spirituellen Heils in Mitteleuropa. Die Verdammung aller außerhalb der katholischen Kirche (extra ecclesiam nulla salus) war der Versuch, andere Anbieter in dezidiert nonpluralistischer Art und Weise aus der Arena auszuschließen. Der Herrscher schloss alternative Herrschaftsangebote ohnehin geographisch aus, das ist das konstitutive Charakteristikum einer Herrschaft. Funktionale PR stellt die Propagandaarbeit der katholischen Kirche oder eines Herrschers wie der englischen Königin Elizabeth I. freilich dar – und zwar, weil wir rückblickend feststellen, dass man zur damaligen Zeit das versuchte, was auch heute Public Relations versucht. Man versuchte, und damals war die Metapher noch sehr viel zutreffender als heute, den Dorfplatz zu beherrschen. Echte öffentliche Angelegenheiten vs. bloße Public Relations? Die Dorfplatzmetapher Mit der vagen Formulierung, dass der spezifische Kommunikationsstil in der pluralistischen Arena der der Public Relations sei, hielt sich der Autor in einer Frage bedeckt. Die Formulierung ist insofern missverständlich, weil sie entweder bedeutet, dass Public Relations den Stil „echten“ öffentlichen Räsonnements nachahmen – oder, alternativ, dass öffentliches Räsonnement im Prinzip nichts anderes darstellt als das Aufeinandertreffen der Öffentlichkeitsarbeit verschiedener Akteure im pluralistischen Meinungskampf. Die unter A.II.2 dargestellte Analyse aus Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit (SWdÖ) geht eher in die erste Richtung: PR ist pseudo-öffentliches Räsonnement. Viele zeitgenössische PR-Theoretiker, etwa Ronneberger (1977), gehen klar und eindeutig in die zweite: Öffentliches Räsonnement besteht aus dem Aufeinanderprallen der Öffentlichkeitsarbeit vieler verschiedener Akteure. Der Autor empfindet ein vages Gefühl der Skepsis beim einen wie beim anderen. Das vage Gefühl rührt daher, dass der erfolgreiche Public Relations-Versuch als echte öffentliche Kommunikation, im Stil echten öffentlichen Räsonnements, als Be-
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handlung einer Angelegenheit von echter öffentlicher Bedeutung wahrgenommen wird; der gescheiterte Versuch aber wird gar nicht oder, wenn er wahrgenommen wird, als „bloße Public Relations“ wahrgenommen, im politischen Jargon als „Populismus“. Deswegen, vermutet der Autor, fällt es schwer, die Deliberationen in der öffentlichen Arena als Public Relations anzusprechen; deswegen auch der Beigeschmack angestrengter Bemühtheit und Unechtheit, der dem Begriff PR anhaftet; deswegen womöglich der Versuch, von Seiten der Branche einen noch allgemeineren Begriff, den der Kommunikation, einzuführen. Um in der Arenen- respektive Dorfplatzmetapher zu bleiben: Dem wortgewandten Sprecher, der bereits in der Arena steht, unterstellt man schon aufgrund seiner Gegenwart in der Arena, dass er etwas von öffentlicher Bedeutung zu sagen hat. Versucht sich ein zweiter Sprecher neben ihn zu stellen, so muss er sich erst einmal körperlich Zugang zur Arena verschaffen, durch die Menge drängen, den Sprecher in der Arena übertönen. Dann gelingt es ihm entweder, die versammelte Menge mit seinen ersten, entscheidenden Worten von der öffentlichen Bedeutung seiner Angelegenheit zu überzeugen – oder eben nicht. Gelingt es ihm, wird der andere Sprecher einem Zwiegespräch wohl oder übel nicht aus dem Weg gehen können. Ist das jedoch nicht der Fall, wird der bereits in der Arena stehende Sprecher versuchen, das Anliegen als „nicht der Rede wert“, jedenfalls nicht der öffentlichen Rede wert abzuwerten, dem Emporkömmling vorwerfen, er wolle sich produzieren, habe nicht das öffentliche Gemeinwohl im Sinne, sondern seine eigenen, selbstsüchtigen Interessen: bloße Public Relations. Darüber kommt es in der Regel nicht zu einem Zwiegespräch, weil der im Versuch gescheiterte „Emporkömmling“ – der eben nicht auf einer Plattform steht –, gar nicht gehört wird. Das Beispiel des Dorfplatzes lässt sich heranziehen, um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Public Relations respektive des Kommunikationsmanagements zu kontrastieren. In der Vergangenheit, mit Blick auf Herrschaftskommunikation, in einer Zeit ohne echte Massenmedien, stellte sich primär das technische Problem: um Öffentlichkeitsarbeit im funktionalen Sinne durchzuführen, galt es, das Äquivalent unserer heutigen Öffentlichkeit überhaupt erst herzustellen: Man musste von Dorf zu Dorf und von Stadt zu Stadt ziehen, die Menschen „zusammentrommeln“. Als sich Massenmedien und eine Öffentlichkeit in der Art und Weise entwickelten, wie wir sie heute kennen, veränderte sich das Problem. Für den PR-Akteur hieß das, dass der Zugang zu einer etablierten Öffentlichkeit, zur Arena, in der gesellschaftlich Neues und Wichtiges diskutiert wurde, von Gatekeepern beherrscht war. In modernen Mediengesellschaften übernahmen Journalisten die Rolle der Gatekeeper; der Begriff des Gatekeepers rührt aus der Journalismusforschung.55 Gatekeeper – eben Redakteure, aber auch Verleger mit ihrer verlegerischen Linie und Medientycoone – entschieden, wer auf den Dorfplatz, in die Arena gelangt, und unter Umständen zeigten sie kritisch mit dem Finger auf diejenigen, die es erfolglos versuchen. Das Problem des PRAkteurs verlagerte sich von der technischen auf die instrumentelle Seite: es galt, durch das Tor der Torwächter zu gelangen, mit welchen Mitteln auch immer. Spät- oder postmoderne Mediengesellschaften, wie sie der Autor heute sieht, sind durch drei Entwicklungen gekennzeichnet: (1) Der Torwächter ist angreifbarer, bestechlicher oder nachlässiger gewor55
Ursprünglich wurde der Begriff von Kurt Lewin verwendet, um die Einkaufsgewohnheiten amerikanischer Frauen während des Zweiten Weltkrieges zu beschreiben. White (1950) übertrug das Konzept auf die journalistische Produktion und konzipierte den Redakteur als Schleusenwärter oder Torwächter, der entschied, welche Meldungen aus dem Strom der Agenturmeldungen in die Zeitung gelangten. Vgl. ferner auch Snider 1967; Robinson 1973; Breed 1973; für Deutschland Donsbach 1979; Kepplinger 1989; Löffelholz 2003.
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den, als er es früher einmal war; (2) die Mauern, die er bewacht, bröckeln, an einigen Stellen sind sie, mit etwas Aufwand, zu übersteigen oder zu untergraben; (3) und das ist der wichtigste Punkt: die Menschen, die der Torwächter ehedem in einem ummauerten Rund bewahrte, gehen nach Belieben ein und aus, einige haben das Rund ganz und gar verlassen. Für PR-Akteure bedeutet das aber keineswegs, dass ihr Job einfacher geworden ist, denn sie konkurrieren nicht mit den Torwächtern um Macht und Einfluss, sondern mit ihresgleichen. Ihnen geht es nicht um den Torwächter per se, sondern um die Menschen, die jetzt unter Umständen in kleinen, über die ganze Landschaft verstreuten Grüppchen stehen. Die Menschen müssen jetzt, um es salopp und in der etwas zynischen Diktion der Branche auszudrücken, „einzeln eingefangen“ werden. Das ist nach Ansicht des Autors einer der Gründe dafür, dass die Funktion des ehemaligen Pressesprechers zu einer sehr viel weiteren, unüberschaubareren strategischen Funktion avancierte, dass es zu einer Komplexitätssteigerung kam (vgl. A.II). 4. Public Relations als Beruf An der Unterscheidung funktionaler und institutioneller Public Relations zeigt sich, dass die Entwicklung des PR-Berufes ähnliche Züge aufweist wie die des Managerberufes. Während zunächst die Person an der Spitze der Organisation – etwa ein Unternehmer – in jedem Fall Management-, vereinzelt aber auch Public Relations-Funktion übernahm, differenzierte sich dies mit zunehmender Organisationskomplexität aus: Genauso wie weitere Ebenen professioneller, eben beruflicher Manager entstanden (vgl. II.3), entstanden auch dezidierte, hauptberufliche PR-Akteure. Aus der funktionalen PR-Arbeit entwickelte sich institutionelle PR-Arbeit. Ebenso wie das beim Beruf Manager geschah, wurden personenunabhängig Stellen in der Organisation geschaffen, die, zumindest der Idee nach, ausschließlich von professionellen, berufsmäßigen Akteuren besetzt werden konnten. Freilich, bis heute koexistieren die zwei Ausprägungen funktionaler und berufsmäßiger Öffentlichkeitsarbeit. Der sprichwörtliche Kaninchenzüchterverein, Freud und Leid des Lokaljournalisten, verfügt über ein Management im funktionalen Verständnis, den Vereinsvorsitzenden, aber über keine institutionellen, berufsmäßigen Manager. Ebenso verfügen die Hasenfreunde über keinen institutionellen Pressesprecher, wohl aber über einen funktionalen PRVerantwortlichen – derjenige, der auserkoren wurde, dem Lokaljournalisten Rede und Antwort zu stehen. Professionelle Praxis und Organisationspraxis revisited Benteles Analyse, dass die funktionalen PR-Anstrengungen im Übergang von der dritten in die vierte Schicht zu einem Beruf werden, bedeutet im Prinzip, dass es zunächst eine faktische soziale Praxis, eben funktionale PR gab. Ebenjene faktische soziale Praxis geriet dann auf die zwei miteinander verwobenen Entwicklungspfade, welche unter A angerissen wurden. Als man auf dem Weg voranschritt, kam es zu einer klaren und eindeutigen Identifizierbarkeit als Public Relations oder, in Deutschland, Öffentlichkeitsarbeit. Public Relations entwickelte sich zum einen zu einer Organisationspraxis, zum anderen zu einer professionellen Praxis. Die Entwicklung zur Organisationspraxis bedeutet, dass nahezu jeder in einer modernen Organisation, mit Sicherheit aber die Führung der Organisation, über ein grundlegendes, wenn auch womöglich idiosynkratisches Verständnis davon verfügt, weshalb eine
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Organisation Public Relations betreibt, über einen Direktor Unternehmenskommunikation, über eine PR-Abteilung verfügt – es ist selbstverständlich, es ist rational, es ist Charakteristikum einer modernen Organisation. Das war noch nicht der Fall, als Alfred Krupp im Jahr 1866 veranlasste, „dass regelmäßig wiederholt aus der Feder von Autoritäten wahrheitsgetreue Berichte über die Fabriken durch Zeitungen, welche die ganze Welt erleuchten, verbreitet werden“ (zit. n. Szyszka 1997, 321). Krupps Vorgehensweise war, im Gegenteil, erklärungsbedürftig. Im Nonprofit-Bereich findet man die Erklärungsbedürftigkeit noch immer: Public Relations ist Fassade, ist mit „ehrlicher Arbeit“ nicht zu vereinbaren. Die Entwicklung zur professionellen Praxis bedeutet, dass die Berufspraktiker sich untereinander im Bewusstsein vernetzen, ähnliche Zwecke und Ziele zu verfolgen, ähnliche Mittel in Anschlag zu bringen, sich ähnlichen Problemen gegenüber zu sehen. Es entwickeln sich professionelle Verbände und Vereine wie die 1958 gegründete DPRG in Deutschland; es entstehen Standards und best practices; aus paradigmatischen cases, wie etwa „Brent Spar“, werden paradigmatische Learnings abgeleitet, wie etwa von der Macht der Bilder und der Schlagkraft aktivistischer Gruppierungen; es gibt Geschichten, Bilder und Schlagwörter, die wieder und wieder gebraucht werden; es kommt zu Mythen- und Heroenbildung (Bernays, Oeckl) und umgekehrt auch zur Brandmarkung „schwarzer Schafe“; es kommt zu Trends, Hypes, Moden und „fads“; es entwickeln sich auch faktische ethische Grenzen oder „Grenzen des guten Geschmacks“, die jedoch nicht immer mit den von berufsständischer Seite vor sich hergetragenen zu tun haben. In die Debatte, ob Public Relations derzeit aus berufssoziologischer Perspektive (vgl. Röttger 2000; Wienand 2003) eine Profession darstellt, möchte sich der Autor nicht verstricken. Worum es geht, ist zu betonen, dass Public Relations in der Praxis, und insbesondere die Position des obersten Kommunikationsverantwortlichen, sowohl von Seiten der Berufspraktiker selbst als auch von Seiten der Organisationspraktiker einem Definitionsdruck ausgesetzt sind. Was die Berufspraxis aus sich heraus entwickelt ist also wichtig; genauso wichtig ist aber, was derzeitige Top-Manager, Geschäftsführer, Vorstände von einem Kommunikationsmanager erwarten – und noch wichtiger sind zukünftige Top-Manager, deren Erwartungen in der akademischen Ausbildung, etwa in MBA-Kursen, geformt werden. Institutionalisierung und De-Institutionalisierung Das doppelte Kräftefeld, in welchem eine professionelle Organisationspraxis steht, ist auch angesichts der Frage nach der Institutionalisierung von Public Relations und Kommunikationsmanagement von Bedeutung. Unter Institutionalisierung versteht der Autor zunächst einmal einen Prozess, der zu einer „Selbstverständlichwerdung“ einer Praxis führt; zu einem Punkt, da die Praxis nicht mehr per se hinterfragt wird; eine eingehendere Diskussion, auch des neo-institutionalistischen Ansatzes, findet unter II. in Auseinandersetzung mit Management statt. Die Diskussion um die Institutionalisierung der Public Relations als „echtes“ Kommunikationsmanagement, so wie der Autor sie liest, hat einen tendenziell larmoyanten Charakter. Sie ist von Versuchen geprägt, dem obersten Kommunikationsverantwortlichen die Rolle des strategischen Beraters des Vorstands, des Mitentscheiders auf Geschäftsführungsebene, ja im besten Fall einen eigenen Vorstandssessel festzuschreiben. Mit etwas bösem Willen lässt sich die PR-Theorie im Gefolge der Grunig’schen Exzellenzstudie in Bausch und Bogen als der durchsichtige Versuch abtun, Kommunikationsmanagern Zugang
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zur „C-Suite“, zur Chefetage, zu verschaffen – „to unlock the boardroom“, wie es Buetschi und Steyn (2006) ausdrücken. Mit mäßigem Erfolg, wie die Daten der großangelegten Generally Accepted Practices- (GAP) und European Communication Monitor-Studien (ECM) regelmäßig zeigen. Aufschlussreich ist das Verfolgen der Auseinandersetzung vor, während und nach der Jahrestagung der European Public Relations Education and Research Association (EUPRERA) exakt zu ebenjenem Thema, verfolgbar unter http://euprera.ning.com. Auf Basis der Differenzierung zwischen professioneller und Organisationspraxis lässt sich herausarbeiten, wo das prinzipielle Problem besteht: Die Branche versucht, den Job des Kommunikationsmanagers über den Professionalitätsdiskurs aufzuwerten. Der Autor behauptet jedoch, auch auf Basis seiner Beobachtungen: Was ein professioneller Kommunikationsmanager gemäß Branchendiskurs ist respektive sein sollte, ist für einen Vorstandsvorsitzenden von untergeordneter Bedeutung im Vergleich zur Frage, was er von seinem Kommunikationschef erwartet respektive erwarten darf, kann, muss. Das ist der Part der jeweils spezifischen, jeweils individuellen Organisationspraxis.56 Der Autor möchte den Unterschied an einem Beispiel vergegenwärtigen. Auf der erwähnten Konferenz der EUPRERA beklagte ein Referent, dass es ihm zweimal in seiner Karriere widerfahren sei, eine Position als Kommunikationschef in einer Organisation übernommen, seine Rolle dort von einer technisch-handwerklich geprägten zu einer strategischen Managementrolle ausgebaut zu haben – um dann zu erleben, dass die Organisation nach seinem Weggang, unter der Ägide seiner Nachfolger, zu einem handwerklichtechnischen Verständnis von Public Relations zurückkehrte. Der Autor pflichtet dem Referenten bei, dass es sich im Prinzip um ein Indiz für eine instabile Institutionalisierung handelt. Erstaunt ist er darüber, dass der Referent, ein erfahrener Praktiker, davon auszugehen schien, dass das seltsam und beunruhigend sei. Aus Sicht des Autors ist es weder seltsam noch beunruhigend, und er versucht das unter D.III theoretisch zu fassen. Ein Verständnis der Position des obersten Kommunikationsverantwortlichen als einem „leeren Stuhl“, auf welchem eine halbwegs geeignete Person lediglich Platz zu nehmen braucht, um dann automatisch mit entsprechendem Prestige und Status, entsprechender Autorität und Macht ausgestattet zu sein, vermischt die professionelle mit der Organisationsperspektive. Es geht an den Realitäten des Top-Managements ganz und gar vorbei. Wie der Autor unter Bezug auf Mintzbergs Nussschalenmodell respektive eigene Überlegungen zeigt, framen oberste Kommunikationsverantwortliche ihren Job und werden in ihrem Job „geframet“. Demonstriert die Person nicht im Rahmen einer sensiblen, kritischen Phase, dass sie, um beim Beispiel zu bleiben, in die Fußstapfen ihres Vorgängers passt, dann suggeriert ein rationales, hartes Organisationsverständnis ihre Entfernung – aus Sorge darum, dass die wichtigen Organisationsfunktionen, die die Person gemäß der professionellen Definition der Praxis hat, nicht adäquat „ausgefüllt“ werden. Dazu kommt es, wie der Autor auf Basis seiner Akteur-im-System-Perspektive postuliert, aber nur in bestimmten Fällen: in solchen nämlich, da die Person diejenigen Aspekte ihres Jobs nicht beherrscht, auf die kein anderer Anspruch erhebt. In der Regel geschieht etwas anderes: Der Job gestaltet sich fließend um, wobei andere, stärkere Führungskräfte der in der Konstellation schwächeren Person nach und nach die Rollen und Aufgaben abnehmen, die sie 56
Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt übrigens die Exzellenzstudie selbst. Die Autoren stellen in der zweiten Phase fest, dass die Sichtweise der dominant coalition auf Public Relations durch die Bank kruder und undifferenzierter sei als die Sichtweise der Kommunikationsverantwortlichen auf sich selbst (vgl. Grunig/Grunig/Dozier 2002, 241ff.).
I. Public Relations
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für sich selbst, zum Zwecke ihres eigenen Machtausbaus, vereinnahmen wollen. Dass die Rolle des strategischen Beraters des Vorstandes, die éminence grise, eine der prestigiösten Rollen überhaupt darstellt, bedarf keiner Betonung. Wo die Rede von Professionalisierungsstrategien der Branche ist, gilt es also klar und deutlich zu sehen, dass der professionelle Diskurs nicht direkt, sondern allenfalls indirekt auf den Diskurs um die jeweilige, spezifische Organisationspraxis, auf die jeweilige, spezifische Institutionalisierung der Kommunikationsfunktion wirkt. Und der professionelle Diskurs verpufft völlig, wenn Praktiker seinen vollmundigen Versprechungen nicht einmal annähernd gerecht werden. Denn was von außen, in abstracto, wie ein rationaler Diskurs um Wohl und Wehe der Organisation aussieht, ist de facto und in concreto ein Machtspiel. Und der Machtspielcharakter bleibt auch dort erhalten, wo ein durchsetzungsstarker PRPraktiker in der Organisation ein Bewusstsein dafür erarbeitet hat, wie wertvoll eine starke Kommunikationsfunktion ist. Die Vorstellung, dass andere Player im Top-Management einem schwachen Kommunikationsverantwortlichen deshalb den leeren Stuhl eines starken Vorgängers freihalten, stammt aus Zeiten, um zu 3. zurückzukehren, da Public Relations technisch respektive instrumentell geprägt waren: Wenige andere Akteure im TopManagement haben das Interesse oder die technische Expertise, Pressemitteilungen zu verfassen oder Pressekonferenzen zu leiten; wenige andere Top-Manager verfügen über ein jahrelang gewachsenes Netzwerk instrumentalisierbarer Journalistenkontakte. Aber viele andere Top-Manager trauen sich die grundsätzliche Entscheidung darüber zu, mit welchen Gruppierungen das Unternehmen wie kommunizieren sollte, mit welchen nicht. Es ist, wie der Autor meint, noch nicht gelungen den Nachweis zu erbringen, dass oberste Kommunikationsverantwortliche diesbezüglich qua Position, nicht qua Person, über eine Expertise verfügen, über die andere Manager – so sie lesen und schreiben können und gelegentlich einen Blick in die Zeitung werfen – nicht verfügen. Funktionales vs. institutionelles Kommunikationsmanagement revisited Eine selten hinterfragte, mit dem Beispiel Hand in Hand gehende Annahme ist die, dass mit einer „schwachen“ Person als Kommunikationsmanager auch das Kommunikationsmanagement „schwach“ ist – die wichtigen Funktionen, welche der Kommunikationsmanager hat, werden nicht wahrgenommen. Dass Schwachheit der Person auch Schwachheit der Funktion bedeutet ist aber nicht zwangsläufig der Fall. Manager A in der Shadowing-Studie des Autors erklärte rundheraus, dass er sich selbst eher in der technisch-instrumentellen Rolle sehe, die grundsätzlichen Fragen der Kommunikationsstrategie lägen mehr bei seinem Geschäftsführer, der diesbezüglich über ein enormes Gespür verfüge – was in der Kombination, mutmaßt der Autor, zu einer starken Kommunikationsfunktion führt. Auf Basis der Unterscheidung zwischen institutionellem und funktionalem Management lässt sich also funktionales und institutionelles Kommunikationsmanagement noch einmal in anderer Art und Weise separieren, und auf eine Gefahr des „Encroachments“ hinweisen, die der PR-Branche nach Ansicht des Autors droht. Das Argument ähnelt dem, welches bereits unter A.II.4 vorgestellt wurde. Um die Gefahr zu sehen, darf man nicht die Augen davor verschließen, dass viele der Argumentationen, welche PR-Theoretiker als exklusiv PR-theoretisch in Anspruch nehmen, längst von Seiten der Lehre des strategischen Managements bearbeitet und in den Kontext der allgemeinen strategischen Unternehmensführung eingebettet wurden. Zwei Beispiele werden genügen: Michael Porter, sicherlich einer der „Gurus“ unter den akademischen Strategietheoretikern, behandelt das Thema
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
‚Corporate Social Responsibility’ dezidiert unter dem Label der Unternehmensstrategie, und stellt es damit ausdrücklich „bloßer Public Relations“ gegenüber: Concerns about reputation, like licence to operate, focus on satisfying external audiences. In consumeroriented companies, it often leads to high-profile cause-related marketing campaigns. In stigmatized industries, such as chemicals and energy, a company may instead pursue social responsibility initiatives as a form of insurance, in the hope that its reputation for social consciousness will temper public criticism in the event of a crisis. This rationale once again risks confusing public relations with social and business results. (Porter/Kramer 2006, 7)
Die Grunig’sche Theorie, in der Exzellenzstudie ausgearbeitet, deklariert Public Relations insofern zum Kommunikationsmanagement, als moderne Public Relations die Stakeholder der Organisation managen. Das geschieht, in durchaus überzeugender Art und Weise, u. a. unter Rekurs auf die Theorie der Stakeholder, welche Freeman entwickelt (1984). Eines geriet in der Rezeption des Stakeholder-Gedankens in der PR-Lehre aber nach und nach aus den Augen, so zumindest der Eindruck des Autors: Aus den Augen geriet, dass Freeman keine Sozialtheorie oder deskriptive Theorie der Unternehmung entwickelt, sondern eine Theorie des strategischen Managements von Unternehmen, im Prinzip also genau das, was Grunig auch entwickelt. Die Idee, dass der Erfolg des Unternehmens davon abhängt, dass die vielen Anspruchs- und Bezugsgruppen des Unternehmens gemanagt werden, ist also keineswegs eine exklusiv PR-theoretische – und der Diskurs darüber findet auch nicht exklusiv in der Lehre des Kommunikationsmanagements statt. Was man in der PR-Theorie diskutiert, wird parallel, in ähnlicher Art und Weise, in der Lehre des strategischen Managements diskutiert; und das teilweise bereits in Abgrenzung zu „bloßer Public Relations.“ Für die PR-Theoretiker bleibt die Parallelität zunächst einmal ohne negative Konsequenzen – im Gegenteil: die PR-Lehre sieht sich bestätigt, wo die Betriebswirtschaftslehre zum gleichen Ergebnis gelangt, wo betriebswirtschaftliche Theoriebildung der Kommunikation eine bedeutendere Stellung einräumt (vgl. A.II.4). Die Gefahr besteht jedoch darin, dass sich in Organisationen genau das entwickelt, was PR-Theoretiker beschreiben und fordern. Was PR-Theoretiker funktionales Kommunikationsmanagement nennen, und was sie dann, einer Reifung entsprechend, zu einem institutionellen Kommunikationsmanagement weiterentwickelt sehen möchten, mit einem Chief Reputation Officer an der Spitze, entwickelt sich in der Organisation dann de facto in einem anderen Diskurs: dem des strategischen Managements. Und im Umkehrschluss führt das dazu, dass man das aufstrebende Kommunikationsmanagement zurückdrängt in die Rolle der „bloßen“ Public Relations. Anders ausgedrückt: Was ist eigentlich die Funktion des vielfach geforderten Kommunikationsvorstands, des Chief Communication Officer, wenn der Vorstandsvorsitzende wirklich begreift, dass sein Job das Management der verschiedenen Stakeholder in einer Balance zwischen profits, people, planet darstellt? Oder, noch einmal anders ausgedrückt: Ein ambitioniertes, hoch aufgehängtes Kommunikationsmanagement, wie es PR-Theoretiker unter Verweis auf betriebswirtschaftliche Theorie fordern, ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Existenz eines hoch aufgehängten Kommunikationsmanagers als Person, in der Position eines CCO oder CRO oder unter welcher Bezeichnung auch immer.
I. Public Relations
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5. Public Relations als System: Das publizistische System Auf der letzten Ebene, der höchstentwickelten Schicht in Benteles Schichtenmodell, lässt sich schließlich von einem PR-System im Rahmen von Gesellschaften sprechen, die gemeinhin als Medien-, Informations- oder Wissensgesellschaften apostrophiert werden. Ob systemtheoretisch „sauber“ von einem publizistischen System der Gesellschaft zu sprechen ist, das sich aus Journalismus einerseits und PR andererseits konstituiert – wie es Bentele, Liebert und Seeling (1997) in theoretischen Überlegungen zum Intereffikationsmodell vorschlagen –, stellt eine Frage der wissenschaftlichen Modellierung dar (vgl. zu einer kritischen Diskussion auch Schantel 2000). Von entscheidender Bedeutung ist, dass es in Gesellschaften mit einem ausgeprägten PR-System sukzessive zu einer Situation kommt, in der die Selbstbeobachtung der Gesellschaft (vgl. Luhmann 1990; Marcinkowski 1993; Gerhards 1994) nicht mehr exklusiv von privilegierten, professionellen Beobachtern – Journalisten, Wissenschaftlern oder „freischwebenden Intellektuellen“ (Karl Mannheim 1929) – geleistet wird. Die Selbstbeobachtung der Gesellschaft geschieht zunehmend auch dadurch, dass Akteure, insbesondere Organisationen, „vorgefertigte“ Selbstverständnisse, Deutungsangebote und Sinnstiftungen zu ihrem Agieren „mitliefern“. Wenn ich etwas über die Auswirkungen der Krise des internationalen Finanzsystems auf meine Bank erfahren möchte, lese ich natürlich die entsprechenden Artikel in der Financial Times (Journalismus), ich gehe aber eben auch auf die Homepage der Sparkasse (Public Relations). Ja, ich werde Foren oder Blogs im Internet aufsuchen, in der andere Privatpersonen in ähnlicher Situation wie ich nach „neutralen“ Informationen suchen (private Publizistik). Journalismus, Public Relations und private Publizistik als Systeme nebeneinander zu stellen, legt nahe, dass Gleichberechtigung herrscht, dass die drei grundsätzlich auf einer Stufe stehen: Journalisten bringen Storys in die Öffentlichkeit; die PR von Organisationen versucht das auch, entweder direkt oder indirekt; die privaten Publizisten versuchen das auch. De facto ist Gleichberechtigung nicht gegeben: Journalisten, Public Relations und private Publizistik stehen auf unterschiedlichen Stufen. Wie der Autor meint, sind die Stufen sogar eines der Definitionskriterien, welche Unterscheidung gestatten. Prima facie gestaltet sich die Unterscheidung der drei Kategorien sehr einfach (vgl. zu einer Unterscheidung verschiedener Typen öffentlicher Kommunikation Bentele 1998, 39-70). Alles in allem weiß man, schon von der „Anmutung“ her, was was ist. Journalisten sind Profis, die in etablierten Medien sowie durch und für sie arbeiten, welche idealerweise möglichst objektiv und neutral berichten, in der Regel über andere. Public Relations stellt in der Regel Berichterstattung über die eigene Organisation dar, ist dem Ideal nach immernoch objektiv, aber zugegebenermaßen nicht neutral; private Publizistik unterwirft sich derartigen Setzungen nur insoweit, wie es der jeweilige private Publizist wünscht – wobei die Kehrseite der Medaille die ist, bei völliger Vernachlässigung nicht ernstgenommen zu werden, denn das Publikum weist Sozialisierungen auf. Das große Problem ist, dass sich die Unterscheidung in Luft auflöst, sobald man sie in Einzelfällen auf die Probe stellt. Journalisten berichten über Aktivitäten ihrer eigenen Häuser in einer Art und Weise, die PR-typisch ist; die PR-Abteilungen großer Unternehmen geben Kundenzeitschriften heraus, die eher journalistisch denn PR-typisch anmuten; private Publizisten agieren manchmal idiosynkratisch, dilettantisch oder „authentisch“, manchmal in journalistischer Anmutung, manchmal in PR-typischer Anmutung. Der Autor möchte sich nicht an einer scharfen und harten Abgrenzung von Public Relations, Journalismus und privater Publizistik versuchen. Worum es geht, ist ein Be-
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
wusstsein dafür zu schaffen, dass der Begriff der Public Relations dem Journalismus und der privaten Publizistik „uneinholbar vorgeordnet“ ist (Rolke), auf einer anderen Ebene liegt. Die Praxis der Öffentlichkeitsarbeit ist nicht „schöngeistig“ aus ihren Mitteln heraus erklärbar (l’art pour l’art), auch nicht „professionell“, wie der idealisierte Journalismus, aus ihren Zielen heraus (Wahrhaftigkeit, Wahrheit etc.). Sie ist daneben und darüber hinaus aus den Zwecken heraus erklärbar, die Praktiker als Akteure in einer Organisation, für und durch diese verfolgen. Rolke (1999, 433) arbeitet das klar und deutlich aus: PR-Kommunikation verhält sich strategisch. Sie ist dem System des Journalismus uneinholbar vorgeordnet, weil Journalisten auf der Ebene der Kommunikation, PR [-Manager, LR] jedoch auf der Ebene der Metakommunikation agieren.
Dass nicht nur Journalisten, sondern eben auch Organisationen und Privatpersonen Selbstverständnisse, Deutungsangebote und Sinnstiftungen „liefern“, und das tun, um etwas zu erreichen, ist keineswegs neu. Im Rahmen einer Demokratisierung und Pluralisierung der öffentlichen Kommunikation wäre es im Prinzip sogar begrüßenswert, wenn das System professioneller, journalistischer Beobachter freischwebend in der Gesellschaft aufgehängt, jedem anderem Druck entzogen wäre. De facto bedeutet die Etablierung eines publizistischen Systems, welches sich aus Journalismus, PR und, zumindest unter Bedingungen der Spätmoderne, privater Publizistik (user-generated-content) zusammensetzt, dass das Medien- respektive journalistische System die Existenz der anderen Systeme wie selbstverständlich voraussetzt. Das ist der Sachverhalt, der im Rahmen des Intereffikationsmodells von Bentele und Mitarbeitern (vgl. Bentele/Liebert/Seeling 1997; Bentele/Nothhaft 2004) theoretisch modelliert wurde, der sich bei anderen Beobachtern in der metaphorischen Rede von „siamesischen Zwillingen“ (Bentele 1992) oder von einer Beziehung zwischen „Parasit“ und „Wirtstier“ (Westerbarkey 1995) widerspiegelt: Die Leistungen und Funktionen der PR, und zunehmend auch die private Publizistik, werden als ein Pool angesehen, aus welchem der professionelle Journalismus kostenfrei und nach Gusto „Content“ schöpft. Unter Bedingungen ökonomischen Kalküls, unter Wettbewerbsdruck, führt dies jedoch zu einer Veränderung der Rahmenbedingungen journalistischer Produktion. Um das zu verstehen, ist es nicht einmal notwendig, auf die medienökonomischen Besonderheiten der Information als Wirtschaftsgut, der Nachricht als Ware einzugehen (zum „Nachrichtenparadoxon“ vgl. etwa Karmasin 1998). Salopp gesagt: Herausgeber und Intendanten „kalkulieren ein“, dass Journalisten auf vielerlei Vorleistungen von Seiten der PR zurückgreifen können. Printredakteure müssen mehr Seiten produzieren, Fernseh- und Hörfunkredakteure müssen billiger und schneller produzieren, und im nächsten Schritt werden Chefredakteure und Verlagsleiter angehalten, Einnahmequellen durch Sonderwerbeformen und Medienkooperationen aufzutun, ein „anzeigenfreundliches Umfeld“ zu gestalten.57 Die dadurch wachsende Abhängigkeit des journalistischen Systems von der Gesamtheit der aggregierten PR-Subsysteme tritt nicht primär und in voller Schärfe auf der Akteurs- oder Organisationsebene zutage, sondern auf der gesellschaftlichen. Natürlich ist kein einzelner PR-Manager auf Unternehmensseite in der Lage, die Berichterstattung über sein Unternehmen zu „determinieren“, um den von Barbara Baerns (1991) geprägten Be57
Wenn Redakteure argumentieren, sie würden kaum einmal auf PR-Material zurückgreifen, gilt es zu bedenken, dass Nachrichtenagenturen dies nachgewiesenermaßen ausgeprägt tun (für einen Forschungsüberblick Bentele/Nothhaft 2004), so dass der Einfluss der Presse- und Medienarbeit teilweise verborgen bleibt.
I. Public Relations
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griff zu gebrauchen. Natürlich verfügt ein couragierter Lokalredakteur noch immer über das Drohpotenzial, eine einzelne Story en detail zu recherchieren. Noch immer verfügen Bild, Spiegel, Focus über immense Macht, wenn sie sich einem Thema oder einem Akteur widmen. Insgesamt hat das journalistische System aber derartig Ressourcen abgebaut – und zwar in personaler wie in struktureller Hinsicht –, dass ein substanzieller Prozentsatz der journalistischen Leistung nachgewiesenermaßen von PR-Seite generiert wird (für einen Forschungsüberblick vgl. Bentele/Nothhaft 2004). Salopp ausgedrückt: Für die eine blitzsauber recherchierte Story müssen drei andere Geschichten ungeprüft und ungefiltert von PR-Seite übernommen werden. Ohne damit eine Allmacht strategisch agierender PRAkteure und eine korrespondierende Ohnmacht blauäugig berichtender Journalisten zu postulieren, ist zu berücksichtigen, dass ebenjene „Macht“ der Medien, die beispielsweise Politiker zu Fall bringt, keineswegs so ganz und gar aus der Arbeit aufrechter, wahrheitsliebender Journalisten erwächst, wie es für den Laien womöglich den Anschein erweckt. Sommer etwa hat in seiner Untersuchung der Affäre um den ehemaligen Präsidenten der Bundesagentur für Arbeit Florian Gerster nachgewiesen, dass Gersters „Fall“ maßgeblich von Interessengruppen in der Bundesagentur und in ihrem Umfeld vorangetrieben wurde – wobei „die Medien“ mehr oder minder instrumentalisiert wurden, um Gerster öffentlich „hinzurichten“ (Sommer 2005).
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II)
C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Management
Die Frage nach Wurzel und Ursprung von Management wirft Schwierigkeiten auf, die PRForschern oder zumindest PR-geschichtlich interessierten Lesern wohl vertraut sein dürften. Denn die Frage nach Wurzel und Ursprung von Management lässt sich, ebenso wie die nach der von Public Relations, nicht eindimensional beantworten. Einen Management„Urknall“ gab es nicht. Nicht ohne kritischen Unterton resümiert Staehle (1999, 5): „Die anglo-amerikanischen Managementhistoriker sind sich einig, dass die Ausübung von Managementaufgaben im heutigen Sinn erstmals im Zuge der Industrialisierung […] nachzuweisen ist. Andererseits machen sie deutlich, dass auch in der Antike und im Mittelalter […] Funktionen erkennbar waren, die man als Management bezeichnen könnte [...]“
Funktionales und institutionelles Managementverständnis Wie in der PR-Forschung auch gilt es zunächst zu klären, anhand welcher Kriterien der Forscher die Entstehung und geschichtliche Entwicklung des sozialen Phänomens Management nachzeichnet. Einer gängigen Unterscheidung folgend ist beispielsweise zu fragen, inwiefern der Forscher auf Management als Funktion oder als Institution zielt. Aus der institutionellen Perspektive heraus versteht man unter dem Management dabei „die Gruppe von Personen, die in einer Organisation mit Anweisungsbefugnissen betraut ist“ (Steinmann/Schreyögg 2002, 6). Ein funktionales Managementverständnis hebt im Gegensatz auf die Funktionen ab, welche Management für das übergeordnete System, die Organisation, erbringt. Mit der Separation der Perspektiven geht die These einher, dass die Managementfunktion nicht zwangsläufig und ausschließlich von Personen geleistet wird, die institutionell dem Management angehören. Bei Organisationen mit einem „schlanken“ Management ist beispielsweise davon auszugehen, dass mehr Management von nominellen Nichtmanagern geleistet wird als das in „aufgeblähten“ Apparaten der Fall ist. Begriffs- und tätigkeitsorientierte Ansätze Unabhängig von der Unterscheidung eines institutionellen und funktionalen Managementverständnisses lässt sich ferner fragen, anhand welcher Indizien die Managementhistoriographie vorzugehen hat. Zieht man, der Vergleichbarkeit halber, auch in der PRHistoriographie genutzte Unterscheidungen heran (vgl. Binder 1983; kritisch Bentele 1997b, 143ff.), so lassen sich zwei grundsätzliche Ansätze differenzieren. Ein begriffsorientierter Ansatz würde die Managementgeschichte an der sinngemäßen, aber doch wörtlichen Verwendung der Begrifflichkeiten Management oder Manager festmachen. So gesehen lässt sich das englische Verb to manage bereits 1561 belegen, wo es Handhabung, insbesondere das Handling eines Pferdes bedeutet. Die Etymologie lässt sich freilich sehr viel weiter in andere Sprachen zurückverfolgen, so etwa auf das bedeutungsgleiche italienische maneggiare, das französische manège (Reitkunst) sowie in letzter Konsequenz auf lateinisch manus (Hand). Braverman (1974) etwa leitet to manage von manus agere ab, was soviel bedeutet wie „an der Hand führen“ – wie Staehle anmerkt, eine Deutung, in der sich begrifflich die „Kontroll- und Disziplinierungsfunktion“ der Führungskräfte wider-
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spiegelt (1999, 69). Der Begriff des Managers respektive des Managements ist im Vergleich jüngeren Datums. Zwar ist Manager als one who manages bereits 1588, Management als act of managing bereits 1598 belegbar, die spezifische Wortbedeutung in der Verwendung „one who conducts a house of business or public institution“ jedoch erst 1705. Für das Jahr 1739 lässt sich belegen, dass die Leitung (governing body) eines Theaters als Management bezeichnet wurde.58 Ein bloß begriffsorientierter Ansatz ist freilich mit Schwierigkeiten behaftet, wie Bentele (1997b, 141) geltend macht. Konsequent angewandt verleitet er dazu, das Phänomen Management – wie das fälschlicherweise auch bei Public Relations geschah – zu einer angloamerikanischen „Erfindung“ zu deklarieren. Ganz und gar widersinnig begönne in Deutschland die Managementgeschichte damit erst nach dem Zweiten Weltkrieg, denn der Begriff wurde erst mit der 1948 vorgelegten deutschen Übersetzung von James Burnhams The Managerial Revolution gängig (Staehle 1999, 71). Vertreter eines tätigkeitsorientierten Ansatzes argumentieren demnach, dass wohl kaum der Begriff, sondern Praktiken, Techniken und Muster, ja die Funktion des Managens, das entscheidende Kriterium darstellen – und dabei handelt es sich um Phänomene, die historisch belegbar sind zu Zeiten, da die englische Sprache noch nicht einmal existierte. Scott (2005, 9), um nur ein Beispiel zu nennen, verweist in seinem praxisorientierten Lehrbuch darauf, dass an der Konstruktion der großen ägyptischen Pyramiden Expertenschätzungen zufolge 10 000 Menschen zwanzig Jahre lang arbeiteten. Dass derartige Projekte zum Erfolg geführt werden konnten, ist seiner Ansicht nach Beweis genug, dass sie kompetent gemanagt wurden: „It took scores of competent managers to organize the stone cutters, labor crews, artists, and planners; as well as those who fed thousands of people everyday, provided medical assistance, ran the housing areas, and so on”. Das Manko tätigkeitsorientierter Ansätze, wie sie auch in der PR-Geschichtsschreibung vorgeschlagen wurden, besteht häufig in der Theorielosigkeit. Wenn schon in der Antike Praktiken, Techniken und Muster nachweisbar sind, die man einerseits als Management bezeichnen könnte, andererseits aber nicht als Management im heutigen Sinne anspricht, dann stellt sich die Frage, wie sich der Unterschied exakt und präzise fassen lässt. Der Autor vermutet, dass auch die ausgefeilteste Managementtheorie ebenjenes exakte und präzise Erfassen nicht zu leisten vermag. Denn die Schwierigkeiten, so die These, resultieren aus der Tatsache, dass das Konzept des Managers sowohl ein zeitgenössisches als auch ein sehr stark angereichertes Konzept darstellt – noch sehr viel stärker ausgeprägt ist das bei Public Relations der Fall (vgl. I.). Das Konzept des Soldaten, als Gegenbeispiel, ist weder zeitgenössisch noch ist es begrifflich angereichert. Deswegen fällt es nicht schwer, im heutigen Soldaten den direkten und unmittelbaren Nachfahren des napoleonischen Grenadiers, des römischen Legionärs, des griechischen Hopliten zu sehen. Bei den altägyptischen Baumeistern fehlen in unserer Vorstellung aber determinierende Elemente: sei es der allgegenwärtige Drang, „auf die Kosten zu schauen“ oder „Prozesse zu optimieren“, sei es die demonstrativ zur Schau gestellte Dynamik, sei es die dicke Geldbörse, das gegelte Haar, die randlose Brille.
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Alle etymologischen Deutungen entstammen dem Online Etymology Dictionary http://www.etymonline.com
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Abbildung 36: Ein funktional-integratives Schichtenmodell der Managementgeschichte (Quelle: angelehnt an Bentele 1997b, 157) Funktionen, Attribute und Konnotationen Was wir heute unter Managern verstehen, hat, so die These des Autors, einen funktionalaufgabenbezogenen Kern, der umlagert ist von Attributen und Konnotationen. Die Attribute und Konnotationen sind, so eine weitere These, mehr oder minder zum Bestandteil der Institution Manager geworden. Ob es sich um konstitutive Bestandteile handelt, sei dahingestellt. Tatsache ist, dass sie sich nur unter Schwierigkeiten von ihr separieren lassen. Insofern verstehen sich die folgenden Abschnitte gleichermaßen als Versuch, Management als Funktion wie auch als Institution nachzuspüren. Es geht gleichermaßen darum, den roten Faden zu finden, der sich bis zu den ägyptischen Baumeistern und noch weiter zurückverfolgen lässt, als auch die Genese und Evolution der Attribute und Konnotationen zu klären, die wir heute mit dem Begriff Manager verbinden. 1. Führung: Hierarchie und Autorität Auf der ersten Ebene geht der vorgeschlagene Schichtenansatz davon aus, dass menschliches Zusammenleben, vor allem aber menschliches Zusammenwirken zwar selbstkoordinierend und hierarchiefrei geschehen kann,59 gewöhnlich aber der Steuerung bedarf. Das ist 59 Auch wenn modernere Management- und Organisationstheorien, wie etwa die Soziokybernetik, die menschliche Fähigkeit zur Selbstorganisation betonen, lässt sich doch nicht leugnen, dass das Ergebnis genuiner Selbstorgani-
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insbesondere dann der Fall, wenn das Zusammenwirken erfolgs- respektive resultatsorientiert geschieht: wie etwa bei der Jagd oder im Krieg. Schon bei primitiven Steinzeitmenschen auf Jagd- oder Beutezug dürfte so etwas wie Führung durch ein herausgehobenes Individuum beobachtbar gewesen sein (vgl. auch Habermas TdKH II, 242ff., der sich auf anthropologische Studien bei australischen Buschbewohnern stützt). Dass es sich dabei nicht immer um Führung durch ein funktional qualifiziertes Individuum, sondern durch eines handelte, welches eine alle Aspekte des Zusammenlebens umgreifende Herrschaft ausübte, – dass die Jagdsippe keine Organisation darstellte (vgl. Kieser/Walgenbach 2003, 4ff.) –, ist zunächst nicht von entscheidender Bedeutung.60 Hierarchie Mit Blick auf Sippen steinzeitlicher Jäger von Management zu sprechen ist freilich nicht plausibel. Gleichwohl setzt auch das Management in einem Unternehmen des 21. Jahrhunderts – und das ist ja die Kernaussage eines Schichtenansatzes – auf anthropologischen Gegebenheiten auf, die sich bereits in frühesten und primitivsten Ausprägungen humaner Kooperation nachweisen lassen. Anders als alleinlebende Tiere, wie etwa Tiger, sind menschliche Individuen in der Lage, sich in ein soziales Gefüge einzufinden, sich, aus welchen Gründen auch immer, unterzuordnen. Wie Wölfe oder unsere engsten Verwandten, die Affen, bilden Menschengruppen Hierarchien aus, Hackordnungen, Rangfolgen etc. Wie die weitere Schichtenentwicklung zeigt, ist der Mensch als höhere Intelligenz aber in der Lage, nicht nur herrschaftliche, sondern organisationale, ja funktionale Hierarchien auszubilden: Der Werksleiter muss nicht zwangsläufig der Kapitän der Werksfußballmannschaft sein, sondern kann, wenn er überhaupt mitspielt, ein Auswechselspieler der zweiten Garde bleiben. Bundeskanzler Schröder übernahm nicht automatisch die Befehlsgewalt über die Einheiten der Bundeswehr, die er am Oderbruch besichtigte. Das war noch anders bei einem mittelalterlichen Prinzen, der aufs Schlachtfeld galoppierte. Er übernahm automatisch die Befehlsgewalt von niedrigerrangigen Befehlshabern. Politisch-gesellschaftliche Herrschaft und die Befehlskette der militärischen Organisation waren noch nicht separiert, die Befehlsgewalt war auch eine völlig andere.61
sation häufig in der Bestimmung eines Anführers oder in der Festlegung von Verfahren liegt. Wo genuine Selbstkoordination stattfindet, geschieht das häufig in einem gesetzten Rahmen, es handelt sich also, wie Zerfaß es ausdrückt, um „gesteuerte Selbststeuerung“ (Zerfaß 2004, 244, FN 898). 60 Baecker (2003, 61) weist darauf hin, dass der Erfolgsdruck bei überlebenswichtigen Projekten wie etwa Krieg oder Jagd gelegentlich auch in primitiven Gesellschaften zu einer Separation von Herrschaft und Funktion führte: „Umgekehrt kann hohe Leistungsfähigkeit oft nur über eine markante Ausdifferenzierung der Arbeit aus der Gesellschaft erreicht werden. Beispiel dafür ist die Jagd in manchen Stammesgesellschaften, die einer so fremden sozialen Organisation folgte, dass sie nur zugelassen werden konnte, weil sie weit weg vom Lager stattfand und die Rückkehr der Jäger mit eigenen Ritualen der Wiedereingliederung begleitet wurde.“ Unabgängig davon gilt es aber immernoch, analytisch strikt zwischen der Steuerung und Kontrolle kooperativen Zusammenwirkens einerseits, sowie gesellschaftlicher Herrschaft andererseits zu unterscheiden. 61 Das hat sich gerade im militärischen Bereich, nicht zuletzt wegen negativer bis katastrophaler Auswirkungen, grundlegend geändert; übrigens bis in den Mikrobereich: Solange die Maschine am Boden ist, unterstehen beispielsweise britische Militärtransporthubschrauber nicht dem Kommando des Piloten, sondern dem des Lademeisters – obwohl der Pilot ein Offizier, der Lademeister ein Unteroffizier ist, darf der Pilot, selbst unter Beschuss, nicht abheben, bis der Lademeister Startfreigabe erteilt. Die situative Befehlskette „übersteuert“ hier sogar die organisationseigene Hierarchie, die ja eigens geschaffen wurde, um in jeder Situation genau eine Person auszuweisen, die das Kommando hat.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Autorität Umgekehrt ist der Mensch zwar ein soziales, nicht aber ein kollektives Wesen wie etwa Bienen, Termiten oder Ameisen, die in genetisch angelegter Arbeitsteiligkeit zusammenleben (vgl. Mitchell 2009, 55-65). Das heißt, dass die Autorität der Führungsperson in menschlichen Gruppen einer wie auch immer gearteten Basis bedarf, welche – mehr oder minder bereitwillig – Akzeptanz von Seiten der Geführten findet. Im Mainstream der verhaltenswissenschaftlich gestützten Managementlehre besteht heute im Großen und Ganzen Einigkeit darüber, dass es sich bei der Etablierung ebenjener Akzeptanz a) um einen dynamischen Prozess handelt, der sich b) in der Interaktion zwischen Führern und Geführten abspielt, c) rückwärtsgerichtet auf einer vorangegangenen Führungsgeschichte aufsetzt, diese vorwärtsgerichtet fortschreibt, wobei es d) über die Zeit zu einer Etablierung stabilerer Identitäten oder Rollen kommt (vgl. für einen Überblick Staehle 1999, 328ff.). Steinmann und Schreyögg (2002, 579ff.) sehen vier Variablenkomplexe, welche Erfolg oder Misserfolg konkreter Führungsepisoden, verstanden als Beeinflussungsprozesse, determinieren: die Persönlichkeit des Einflusssenders (= Führungskraft), wie etwa seine Werte, Ziele, Bedürfnisse, Einstellungen, aber auch Erfahrungen und Erwartungen aus vorangegangenen Führungsepisoden; die Persönlichkeit der Einflussadressaten (= Mitarbeiter), wobei die führungsrelevanten Aspekte im Prinzip die gleichen sind, naturgemäß aber die Wahrnehmung und Einschätzung der Führungsperson eine zentrale Rolle spielt; Charakteristika des sozialen Systems (= Organisation), in welchem der Beeinflussungsversuch, die Führungsepisode, stattfindet, insbesondere natürlich Rollen- und Statusstrukturen, der Kohäsions- und Konformitätsgrad der Organisation etc.; Randbedingungen der Situation (= Situation), so etwa der Charakter der Aufgabe oder der Ziele, die Zusammensetzung der Gruppe, Faktoren wie Zeit- oder Erfolgsdruck etc. Das vergleichsweise simple Modell ist vor dem Hintergrund des Denkens zu sehen, welches die Führungsforschung bis etwa 1950 dominierte, und das Alltagsdenken noch immer dominiert. Der so genannte Eigenschaftsansatz oder trait approach ging davon aus, dass der erfolgreiche, überlegene Führer über seltene und wertvolle Kombinationen verschiedener führungsrelevanter Persönlichkeitseigenschaften wie etwa Selbstvertrauen, Entschlussund Durchsetzungskraft oder Intelligenz verfügt. Zu einem definitiven Set von Führungseigenschaften gelangte die durchaus substanzielle Führungsforschung jedoch nie. Bereits 1959 zeigte Mann, dass über 500 Eigenschaften in Betracht gezogen worden waren – wobei nur einige wenige in mehr als vier Untersuchungen zutage traten. Insofern verwundert es nicht, dass der Glaube an die angeborenen Führungseigenschaften „großer Männer“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend in Zweifel gezogen wurde. „Trotz intensiver Bemühungen“, resümieren Steinmann und Schreyögg (2002, 574), „ist es auch nicht ansatzweise gelungen, einen Cluster von typischen Führungseigenschaften geschweige denn eine Art Generalfaktor ‚Führungsbegabung’ zu finden.“ Nicht nur, dass sich erstens erfolgreiche Führungskräfte in ihren Eigenschaften unterschieden; zweitens variierten die Eigenschaften einzelner Führungskräfte von Situation zu Situation; und drittens erwies sich in Abhängigkeit von der zu führenden Gruppe manchmal die eine, manchmal die andere Eigenschaft als entscheidend.
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Die naheliegende Schlussfolgerung war, dass die ideale Führungskraft anscheinend sehr viele Talente benötigt, ein ganzes Bündel. Gegen ebenjene Anspruchsinflation, welche in letzter Konsequenz das „Universalgenie“ verlangt, polemisiert der Managementforscher Malik: „Auf eigentümliche Weise ist die Vorstellung in die Welt gekommen, Manager – und insbesondere Top-Manager – müssten eine Kreuzung aus einem antiken Feldherrn, einem Nobelpreisträger für Physik und einem Fernseh-Showmaster sein“ (Malik 2006, 35). Eine andere Interpretation führte zu der Überlegung, dass es die ideale Führungskraft nicht gibt, sondern lediglich funktionierende, wirksame Kombinationen von Führungskraft und Mitarbeitern. Führungseigenschaften stellen nicht oder nicht ausschließlich Charakteristika der Person, sondern Attributionen62 von Seiten der Geführten dar – eine Führungskraft ist nicht durchsetzungsstark, sondern bietet einem spezifischen Team in einer spezifischen Organisation eine mehr oder weniger geeignete Projektionsfläche, ihr, auch auf Basis ihrer Führungsgeschichte, Durchsetzungsstärke zuzuschreiben. So erklärt sich, dass auf körperlicher Überlegenheit beruhende Drohgebärden, die in der steinzeitlichen Jagdsippe eine Erfolgsstrategie darstellen mögen, in einem Team von Molekularbiologen als Bankrotterklärung gelten. Natürlich fügt sich nur ein differenziertes Verständnis von Führung als dynamischem Interaktionsprozess mit Vergangenheit und Zukunft in das übergreifende Verständnis, welches unter A entwickelt wurde, und auch Kommunikation vor dem Hintergrund einer systemischen und historischen Relation sieht. Es ist darüber hinaus aus drei Gründen wichtig. Erstens, weil die Eigenschaftstheorie, wie auch Steinmann und Schreyögg geltend machen (2002, 576), noch immer die implizite, unreflektierte Alltagstheorie darstellt: in Annoncen werden führungsstarke Persönlichkeiten gesucht. Abgesehen davon glauben die Führungskräfte gewöhnlich selbst, nachvollziehbarermaßen, dass sie ihre Position aufgrund ihrer eigenen Eigenschaften, nicht aufgrund eines Fits zwischen ihrer Person und ihrem Team innehaben (vgl. Staehle 1999, 334-342; Steinmann/Schreyögg 2002, 574-578). Zweitens gilt es zu sehen, dass die Eigenschaftstheorie von Zeit zu Zeit Renaissancen in anderem Gewand erfährt. So kehrte der Typus des charismatischen Führers, wie er bei Max Weber63 beschrieben worden war, Ende der siebziger Jahre zurück in der Unterscheidung zwischen Manager und Leader: Als Abraham Zaleznik (1977) das strahlende Bild eines charismatischen, visionär führenden Leader zeichnete und es mit dem blassen, grauen Bild eines administrativ-trockenen Managers kontrastierte (etwas anders gelagert, mit Fokus auf Change, auch Kotter 1990), traf er einen Nerv.64 Ob das lediglich der wunde Punkt einer darniederliegenden US-amerikanischen Wirtschaft war, die mit der damaligen Übermacht ihrer japa62 Für die Attributionstheorie vgl. Calder 1977; Mitchell/Smyser/Weed 1975; Lord/Foti/DeVader 1984; ein Überblick bei Staehle 1999, 368ff. 63 Weber (WuG, I.3, § 3-12a) unterscheidet klassisch drei Typen von Führung: Autokratische und patriarchalische Herrschaft sind Typen traditionaler Herrschaft. Demgegenüber steht die charismatische Herrschaft, welche an besondere Persönlichkeitszüge der Führungsperson gebunden ist – sowie die bürokratische Herrschaft, welche weitestgehend depersonalisiert ist und sich an Verfahren und Regeln knüpft. 64 Aber auch, wenn Charisma als jener mythische Faktor X begriffen wird, über welchen so verschiedene Persönlichkeiten wie Gandhi und Hitler im Übermaß verfügt haben sollen, und von welchem der Leader-Manager eben eine gute Dosis braucht, geht die Forschung gleichwohl davon aus, dass es sich auch hier größtenteils um ein Ergebnis von Zuschreibung handelt. Conger und Kanungo (1987; vgl. auch Steinmann/Schreyögg 2002, 576; Staehle 1999, 334) etwa zeigen, dass Führungspersönlichkeiten besonders dann Charisma zugeschrieben wird, wenn sie 1. griffige, weitreichende, aber dennoch verständliche Visionen entwickeln; 2. Selbstaufopferung inszenieren; 3. ein hohes persönliches Risiko eingehen; 4. erfolgreich sind; 5. die Motivation ihrer Führung klar und deutlich zum Ausdruck bringen.
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nischen Konkurrenz nicht zurechtkam, sei dahingestellt. Der Autor wagt die Vermutung, dass der Mensch ein tiefverwurzeltes, mythisches Bedürfnis nach charismatischen Führern hat, welche sich nicht in verwickelte Probleme verstricken, sondern den gordischen Knoten mit großer Geste zerschlagen: Insofern unterscheiden sich der steinzeitliche Jäger und das „corporate animal“ des 21. Jahrhunderts nicht wesentlich. Malik (2006, 47) zeigt sich freilich amüsiert: „Plötzlich sollen auch regionale Sparkassen, Do-it-yourself-Ladenketten, Wursthautfabriken und Rasierschaumhersteller, zuvorderst selbstverständlich die Konzerne, nicht nur gute Manager, sondern Führer – Leader – haben.“ Bereits angedeutet wurde, drittens, dass Führung und Struktur, Hierarchie und Organisation nicht voneinander losgelöst zu sehen sind. Sie sind miteinander verwickelt in einem dynamischen Prozess, der mit jeder Führungsepisode Rollen und Identitäten definiert oder re-definiert, und damit auch zu einer weiteren Verfestigung oder Aufweichung von Hierarchiestrukturen führt. 2. Management als Funktion Neben den eingangs erwähnten ägyptischen Pyramiden werden in der Literatur gewöhnlich der Bau der Chinesischen Mauer oder der mittelalterlichen Kathedralen, der römische Staatsverwaltungsapparat sowie jedwede größere militärische Operation als Beispiele für frühe Managementleistungen angeführt. Explizit oder implizit geht mit der Erwähnung derartiger „Großprojekte“ die Annahme einher, dass zwei Aspekte entscheidend sind, um plausibel von Management als Funktion zu sprechen. Erstens handelt es sich bei den ins Feld geführten Projekten um ambitionierte Unternehmungen, die nicht lediglich kooperativ, sondern ausschließlich arbeitsteilig zu bewältigen sind. Anders als in der exemplarischen Sippe steinzeitlicher Jäger, wo in der Arbeitsorganisation Neigungen, Fähigkeiten und situativ oder traditionell zugewiesene Aufgaben eine Rolle spielten, lässt sich mit einem Mal von einem arbeitsteiligen Zusammenwirken verschiedener Spezialisten sprechen. Daraus resultiert ein Koordinationsproblem, das sich von der Komplexität her völlig von der Führung einer Jagdsippe unterscheidet. Unter der Funktion des Managements – losgelöst von der Begrifflichkeit und ganz und gar abstrakt – ist demnach die Lösung ebenjener Koordinationsprobleme, Probleme der Arbeitsteiligkeit von Spezialisten zu verstehen. Zweitens, und auch das führt zu einer qualitativ anderen Situation, geht die Koordinierung über persönliche Anweisung und direkte Führung hinaus. Von der Managementfunktion ist demnach die Rede, wenn Strukturen geschaffen und Prozesse festgelegt werden. In der Jagdsippe gibt es keine „Stellen“ zu besetzen, in der antiken Großorganisation wie sie schon die Ägypter, Hebräer, Chinesen und Römer kannten dagegen schon. Neben die Autorität als Prinzip der Koordinierung tritt bei genuinem Management demnach die Organisation, neben die Führung tritt Struktur. Koordination: Management als Querschnittsfunktion Das Beispiel der ägyptischen Pyramiden und anderer historischer Mammutprojekte von der Chinesischen Mauer bis zur Etablierung der Eisenbahnnetzwerke in Nordamerika vergegenwärtigte: von Management im basalsten, funktionalen Verständnis lässt sich sprechen, wo (1) das arbeitsteilige Zusammenwirken von mehr oder minder spezialisierten Kräften zu etablieren, zu dirigieren, zu kontrollieren ist, und (2) wenn das in einer Organisation, für und durch sie geschieht. Der Manager tritt im Zusammenhang mit der arbeitsteiligen Organisation auf den Plan. Steinmann und Schreyögg (2002, 7) sprechen deshalb, mit Blick auf
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betriebliche Manager, von Management als einer Querschnittsfunktion, die zu den originären betrieblichen Sachfunktionen in einem komplementären Verhältnis stehe: „Man kann sich das Management als eine komplexe Verknüpfungsaktivität vorstellen, die den Leistungserstellungsprozess gleichsam netzartig überlagert und in alle Sachfunktionsbereiche steuernd eindringt.“
Abbildung 37: Management als Querschnittsfunktion (Quelle: Steinmann/Schreyögg 2002, 7) Mit Abbildung 37 legen Steinmann und Schreyögg demnach ein „Minimalmodell“ des Managements vor. Es zeigt eine Organisation in ihrer abstrakten Gestalt als Input, Throughput und Output, Management in seiner reduziertesten Gestalt als Planung, Organisation, Kontrolle. Der entscheidende Gedanke ist, dass die Koordination dadurch geschieht, dass Managementfunktionen Sachfunktionen als Querschnittsfunktionen durchdringen. Wie die Ausführungen unter B gezeigt haben, lässt sich der Kanon der Managementfunktionen beliebig ausweiten. Eine der populärsten Darstellungen ist der „eherne Fünferkanon“ (vgl. Abb. 38), welcher bereits in den fünfziger Jahren von den Managementtheoretikern Koontz und O’Donnell entwickelt wurde (vgl. B.I). Im „ehernen Fünferkanon“ drückt sich die Idee der Koordination arbeitsteiligen Zusammenwirkens besonders stark aus. Von Koordinationsleistung zu Komplexitätsbewältigung Abbildung 37 vermittelt ein sehr sauberes Bild. Management plant, organisiert und kontrolliert als Querschnittsfunktion die Sachfunktionen. Ohne damit Steinmann und Schreyögg zu kritisieren, die in ihrer systemtheoretisch angelehnten Konzeption über Abbildung 37 hinausgehen, gilt es jedoch zu sehen: Das saubere Bild ist Ausfluss eines Denkens, welches
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der Autor als „Werkshallendenken“ etikettiert. Unter „Werkshallendenken“ ist die Annahme zu verstehen, dass störungsfreies Agieren, dass reibungslose Funktion der Normalzustand ist, nicht ein hypothetisches Ideal. Sieht man sich jedoch die Arbeit von Managern an, wie sie beispielsweise Mintzberg, Kotter oder Stewart beschreiben – oder wie man sie täglich an sich selbst oder an Vorgesetzten beobachtet –, dann stellt man fest: Die Notwendigkeit zu managen erwächst nicht primär aus der Kooperation, aus der bloßen Tatsache arbeitsteiligen Zusammenwirkens. Arbeitsteiliges Zusammenwirken koordiniert sich oft, gerade wenn man es mit knowledge workers zu tun hat, von selbst. Primär erwächst die Notwendigkeit zu managen aus der Interaktion zwischen dem operierenden System und der von der Operation betroffenen, ja durch die Operation geschaffenen Umwelt. Analytisch – ohne dass der Manager es also immer weiß oder sich darum scheren würde, um welchen Typ es sich handelt – unterscheidet der Autor drei Ebenen der Perturbation und Irritation: Friktion, Tension und Kompetition.
Abbildung 38: Der „eherne Fünferkanon“ (Quelle: eigene Darstellung nach Koontz/O’Donnell 1955) Friktion. Auf der ersten Ebene sind unsystematische, kontingente Umwelteinflüsse zu sehen. Hier handelt es sich um ebenjene zahllosen, unvorhersehbaren Schwierigkeiten, welche schon bei Clausewitz unter der Überschrift ‚Friktion’ erörtert werden (vK I.I.7).65 Sie beginnen bei ärgerlichen technischen Details wie etwa, um ein Beispiel aus der Studie vorwegzunehmen, dass im Augenblick der Versendung einer internen Benachrichtigung an die Mitarbeiter weder Internet noch E-Mail zur Verfügung stehen. Wenn Clausewitz Friktion (a.a.O.) als dasjenige ausweist, was den Krieg auf dem Papier vom wirklichen unterscheidet, so lässt sich das analog auf andere Bereiche übertragen: Friktion unterscheidet die Werkshalle auf dem Papier, die ohne Werkmeister auskommt, von der wirklichen; die theoretische Krankenstation auf dem Papier, die ohne Stationsschwester auskommt, von der praktischen. Friktion unterscheidet den kreativen, perfekten Kampagnenplan von der Kampagne, wie sie de facto stattgefunden hat. Insofern ist Malik beizupflichten, wenn er die 65 Für eine ausführliche Würdigung preußisch-militärstrategischen, Clausewitz’schen Denkens in Managementund Strategielehre vgl. etwa Hinterhuber 1990, Kap. 1, 2; vgl. auch Oetinger/Ghyczy/Bassford 2003.
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illusionäre Idee reibungsloser Prozesse als typisches Symptom des „Werkshallendenkens“ diagnostiziert, und ihr ein realistischeres systemisches Denken gegenüberstellt – eines, welches Friktion von vorneherein als gegeben und unvermeidlich akzeptiert: Untersucht man die Managementliteratur, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass viele Konzepte von der stillschweigenden Annahme ausgehen, dass es durch entsprechende Systeme möglich sei – oder zumindest möglich werde – zu einem weitreichenden Abbau dieser als Friktion empfundenen Dinge zu kommen. Gesunder Menschenverstand und praktische Erfahrung legen aber eher den Schluss nahe, dass es sich dabei um eine unvermeidliche Facette praktischer Unternehmensführung handelt. Führungskräfte, die sich von vornherein darauf einstellen, dass ihre Zeit weitgehend durch diese dispositive Tätigkeit absorbiert wird, müssen und werden sich anders einstellen, als jene, die von der Vorstellung geleitet werden, eine Unternehmung könne jemals auch nur annähernd friktionsfrei funktionieren. (Malik 2004, 305)
Entscheidend ist, dass Friktion schon bei Clausewitz als zufällig, keineswegs aber als untergeordnet oder von nachrangiger Bedeutung angesehen wird – denn, was der Preuße der Friktion entgegensetzt, ist nichts geringeres als der „eiserne Wille des Feldherrn“. Clausewitz macht geltend: Ein mächtiger eiserner Wille überwindet diese Friktion […] Diese entsetzliche Friktion, die sich nicht wie in der Mechanik auf wenig Punkte konzentrieren läßt, ist deswegen überall im Kontakt mit dem Zufall und bringt dann Erscheinungen hervor, die sich gar nicht berechnen lassen, eben weil sie zum großen Teil dem Zufall angehören. (vK, I.I.7)
Tension. Von der zufälligen Friktion zu unterscheiden sind Spannungsverhältnisse, welche systematisch mit der Operation des Systems zusammenhängen, und insbesondere an Schnittstellen zwischen System und Umwelt zutage treten. Hier handelt es sich nicht um „Sand im Getriebe“, sondern um Kräfte, Interessen oder Ansprüche, die vor allem von der Input- (etwa Lieferanten) und der Output-Seite (z. B. Kunden), zunehmend aber auch von anderer Seite (Aktivisten, Verbraucherschützer etc.), auf das System und seine Operationen wirken. Die Kunden eines Supermarktes wollen billige Preise und große Auswahl, Gedrängel und an der Kasse anstehen wollen sie nicht. Waren, Verkaufsfläche und Anzahl der Kassen mit Kosten auszubalancieren ist Aufgabe der Supermarktleitung. Auf der Angebotsoder Lieferantenseite ist an die alte Ingenieursregel zu erinnern: „Du kannst es schnell haben, du kannst es billig haben oder du kannst es gut haben. Such dir zwei davon aus.“ In der PR-Lehre spiegeln sich die Spannungsverhältnisse in der Grunig’schen Konzeption der zweiseitig symmetrischen PR wider, gemäß der der PR-Praktiker derjenige ist, welcher zwischen einer Bezugsgruppe und der Unternehmung eine Win-win-Situation herbeiführt (vgl. Grunig/Grunig/Dozier 1996). Kompetition. Auf der dritten Ebene potenziert sich das Problem dadurch, dass Organisationen nicht lediglich um des Operierens willen operieren, sondern Ziele verfolgen, seien es Sach- oder Formalziele. Ebenjene, z. B. der Ausbau von Marktanteilen, die Eroberung eines Hügels, die Meinungsführerschaft in einem Themengebiet, konfligieren mit den Zielen anderer Organisationen, stehen in Konkurrenz zu Intentionen anderer Player. Insofern kommt es nicht nur zu Spannungsverhältnissen, welche in einer Win-win-Situation aufgelöst werden können, sondern zu Wettbewerb.66 66 Wenn die Erstürmung eines Hügels, Marktanteilsgewinne und publizistischer Meinungskampf in einem Atemzug genannt werden, ist freilich Vorsicht angebracht: Militär- und Managementtheorie, Krieg und Wirtschaft weisen Gemeinsamkeiten auf, insofern sie von Wettbewerb, von Konflikt handeln. Die Gemeinsamkeiten werden
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3. Management als Beruf: Ökonomisierung Die dritte Schicht unterscheidet sich von der zweiten sowohl mit Blick auf ein institutionelles wie auch mit Blick auf ein funktionales Managementverständnis, wobei es sich um Kehrseiten ein und derselben Medaille handelt. Institutionell bildet sich nach und nach der Beruf des Managers heraus (3.1). Funktional erweitert sich das Managementverständnis um eine zusätzliche Dimension: die der ökonomischen Effizienz (3.2). Wie der Autor zeigen möchte, diffundierte ebenjener ökonomische Effizienzdruck schließlich in Bereiche, die ihm gar nicht per se unterliegen (3.3). 3.1 Management als Beruf Ein Blick in die Zivilisations- und Managementgeschichte zeigt: Während sich mit heutigen Managementaufgaben vergleichbare Herausforderungen lange nur im Zusammenhang mit staatlicher Verwaltung oder im Rahmen von „Großprojekten“ militärischer, architektonischer oder religiöser Provenienz stellten, steigert sich nach und nach die Komplexität der „alltäglichen“ Lebensumstände, des Wirtschaftens. Die allmähliche Steigerung erfährt schließlich eine explosionsartige Beschleunigung durch die industrielle Revolution, welche während der letzten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts in Großbritannien ihren Anfang nimmt, die Vereinigten Staaten erfasst und im Deutschen Kaiserreich von etwa 1840 bis 1870 währt (Kocka 1999, 137). Noch im 18. Jahrhundert stellt der vergleichsweise simple Handwerksbetrieb die dominierende Form der gewerblichen Organisation dar. Jedoch entwickeln sich bereits komplexere Formen, etwa der Verlag, die Manufaktur, schließlich die Fabrik (vgl. Staehle 1999, 8). Schon in der Manufaktur ist dabei eine Separation von Leitungs- und Ausführungsaufgaben festzustellen, welche im Handwerksbetrieb dergestalt noch nicht beobachtbar war. Mit der Weiterentwicklung von Manufaktur- zu Fabrikarbeit kommt es nicht nur zu einer Spezialisierung des Arbeiters auf wenige, leicht zu erlernende Verrichtungen, sondern zu einer weiteren Differenzierung zwischen Ausführung und Leitung, zwischen Arbeitern und Management. So entstehen beispielsweise Hierarchieebenen wie die des overlooker (Aufseher), und genuine Managementfunktionen wie Planung, Organisation und Kontrolle werden nicht nur sporadisch, sondern systematisch und kontinuierlich notwendig. Die Qualifikation für derartige Steuerungsfunktionen erwächst ferner nicht mehr wie selbstverständlich aus der Beherrschung der zu steuernden Sachfunktion durch die Person selbst – wie das bei Handwerksmeistern der Fall war –, es handelt sich um spezialisierte Management Skills. Was die zweite von der dritten Schicht unterscheidet, ist demnach nicht die prinzipielle Qualität der Organisations- und Führungsprobleme, die ja ähnlich gelagert blieb wie bei religiösen, militärischen oder architektonischen Großprojekten. Es sind die Rahmenbedingungen. „Früher war Management das Privileg, vielleicht auch die Bürde, einiger weniger Menschen“, resümiert Malik (2006, 65): „Die Zahl der Leitenden, Führenden, Kommandierenden, Regierenden war klein; die wenigen Führungspositionen waren auch nur auf ganz bestimmten Wegen erreichbar. Man war dazu geboren, wenn man adelig war, oder man wurde berufen, wenn man der Kirche angehörte“ (vgl. dazu auch Malik 2004, 7-23). Mit jedoch überwogen durch Unterschiede: Wirtschaftlicher Wettbewerb ist wünschenswert, ist Ergebnis und Bedingung der Marktwirtschaft. Publizistischer Wettbewerb ist wünschenswert als Bedingung wie Ergebnis genuinen politischen Pluralismus (vgl. I.2, I.3). Militärischer Wettbewerb, sei es Krieg, sei es Konflikt, sei es Konfrontation, mag Tatsache, mag sogar notwendig sein, ist jedoch niemals wünschenswert.
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der Transformation von agrarischen Gesellschaften in Industriegesellschaften ändert sich das fundamental. Es kommt zu der von Karl Marx diagnostizierten gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Weil die tief und ausgefeilt organisierte, dadurch komplexe, steuerungsbedürftige und störungsanfällige Großorganisation ganz und gar alltäglich wird, entwickelt sich der ganz und gar alltägliche Beruf des Managers. Von den Leitenden, Führenden, Kommandierenden und Regierenden unterscheidet sich der Manager des Industriezeitalters aber durch einen entscheidenden Aspekt. Der ökonomische Zusammenhang erzwingt nicht nur Effektivität – das Projekt muss zum Erfolg geführt werden –, sondern Effizienz. Es geht nicht lediglich darum, einmalig eine Kathedrale zu bauen, ließe sich sagen: Die Herausforderung besteht darin, Kathedralen zu marktfähigen Preisen, billiger und schneller als die Konkurrenz anzubieten. Dass Unternehmungen wie etwa Verlage, Handelshäuser oder Manufakturen unter Markt- und Konkurrenzbedingungen agieren ist zwar keineswegs neu. Wie Kocka geltend macht, kommt es bei der Großunternehmung aber zu einer Kombination verschiedener Faktoren, die zu Problemstellungen führt, für die es bis dato keine bewährte Lösung, keine „Blaupause“ gab: Im Grunde war die Vorbildlosigkeit das Problem. Es ging ja – bei den industriellen Großbetrieben, den Eisenbahnen, den neuen Universalbanken und den großen Versicherungsanstalten – um die Organisation relativ großer, zentralisierter Einheiten, die sich unter marktwirtschaftlichen Bedingungen bewähren und zu rascher Anpassung fähig sein mussten. Diese Kombination – Größe und Flexibilität, Zentralisierung und Marktbezogenheit – war einigermaßen neu, jedenfalls im Vergleich zur Kaufmannstradition (marktwirtschaftlich, aber dezentralisiert), im Vergleich zu den großen landwirtschaftlichen Gütern (weniger wettbewerbsorientiert und teilweise feudal eingebunden), im Kontrast zum kleinen und oft zünftigen Handwerksbetrieb und erst recht im Unterschied zu Bürokratien und Heeren, d.h. zu Typen von Großorganisationen ohne Marktbezug. (Kocka 1999, 141)
3.2 Ökonomisierung: Der Effizienzgedanke Die Industrialisierung und der Bedarf der Industrie an betriebswirtschaftlichen Führungskräften stellte ohne Zweifel eine wesentliche Triebfeder dar, ohne welche die Genese des Managements als Institution67 schwer oder gar nicht denkbar wäre. Aus der Sicht der Organisations- und Managementsoziologie diagnostiziert Baecker deshalb, dass Management wie wir es heute kennen, grundsätzlich von einem ökonomischen, betriebswirtschaftlichen Kalkül durchdrungen sei: Wer glaubt, dass Management eine Führungs- und Gestaltungskunst sei, die unterschiedlos allen Organisationen, also nicht nur Unternehmen, sondern auch Behörden, Kirchen, Vereinen, Schulen, Universitäten, sozialen und kulturellen Einrichtungen sowie Armeen verschrieben werden könne, weiß nicht mehr, dass dieses Management ein Produkt der Anwendung eines wirtschaftlichen Kalküls auf einen diesem Kalkül fremden Gegenstand, die Organisation, ist. (Baecker 2003, 15)
Baeckers Diagnose ist im Prinzip beizupflichten, sie bedarf aber der Differenzierung. Denn grundsätzlich ist davor zu warnen, Management in toto mit Betriebs- oder Unternehmensführung, mit industriellem Management gleichzusetzen, wie es verschiedene Autoren tun – die Überblickswerke von Staehle (1999) oder Steinmann und Schreyögg (2002) heißen Management, handeln aber von Management in Unternehmen. Baecker selbst konzediert, dass die Betriebswirtschaftslehre etwas anderes ist als die angelsächsischen ‚Management Studies’ oder die französische ‚Science des Gestion’ (2003, 10). Viele Managementtheore67
Auf die Ambivalenz der Vokabel geht der folgende Abschnitt ein.
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tiker wie auch Managementpraktiker – pointiert etwa Mintzberg oder Malik – würden sich dagegen verwehren, ausschließlich Führungskräfte in erwerbswirtschaftlichen, profitorientierten Organisationen als Manager anzusehen. In der „Gesellschaft der Organisationen“ heutzutage ist die Generalsekretärin einer Menschenrechtsorganisation ebenso Managerin wie der Dekan einer Universität oder der Verwaltungsdirektor eines Landkrankenhauses. Auch historisch stellt es eine Verzerrung dar, die Entwicklung des Berufes Manager allein als Ausfluss und Ergebnis der wirtschaftlichen Industrialisierung zu begreifen. Wie Kocka aufzeigt, bestehen gerade in Deutschland enge und wichtige Wechselwirkungen zwischen dem Beamtentum der staatlichen Verwaltung und dem Militär einerseits, den industriellen Führungskräften andererseits. Anders als in den Vereinigten Staaten, wo die schwache, ineffektive öffentliche Verwaltung gemäß des Vorbilds des industriellen Managements umgestaltet wurde, nehmen deutsche Unternehmen, gerade umgekehrt, Anleihen bei Administration und Militär: Wenn Krupp und Siemens in den 70er Jahren das Informations- und Kontrollproblem an der Spitze ihrer rasch wachsenden Unternehmen mit dem Erlaß von Generalregulativen und Geschäftsordnungen in den Griff zu bekommen versuchten; wenn die großen Unternehmen ihre leitenden Angestellten personalpolitisch wie Beamte stellten (und auch als „Privatbeamte“ bezeichneten); und wenn die Eisenbahnen zwischen 1835 und 1875 zu den Pionieren systematischen Managements wurden, die Raum, Zeit, Technik und Wirtschaftlichkeit auf neue Weise und vorbildhaft koordinierten – dann spielten in all diesen Fällen Vorbilder, Grundsätze, Techniken und Mentalitäten aus dem Bereich der in Deutschland besonders starken und prägenden öffentlichen Verwaltungen, aus der Welt der Beamten und der Bürokratie eine große Rolle […] (Kocka 1999, 141)
3.3 Die Diffusion Für unser heutiges Verständnis professionellen Managements sind also zwei Aspekte entscheidend: Erstens, dass annähernd alle Organisationen des täglichen Lebens so komplex und in ihrer Komplexität so steuerungsbedürftig respektive störungsanfällig sind, dass sie eines genuinen Managements durch mehr oder minder professionelle, dezidierte Manager bedürfen. Und zweitens: Was die Maßstäbe anbelangt, die an „richtiges“ und „echtes“ Management angelegt werden, fanden und finden darüber hinaus Diffusionsprozesse zwischen marktorientierten und nicht-marktorientierten Organisationen statt. Wie selbstverständlich erwarten die Bürgerinnen und Bürger heutzutage, dass auch öffentliche Organisationen, wie etwa die Bundeswehr, Universitäten oder die Agentur für Arbeit, nicht lediglich effektiv funktionieren, sondern effizient mit Ressourcen – z. B. Steuergeldern – umgehen. Und das Modell, das man wie selbstverständlich als das der Effizienz zugrunde legt, ist das Modell des betriebswirtschaftlichen Managements.68 Dadurch erklärt es sich, wie Baecker (2003, 219) geltend macht, dass heutzutage jedwedes Management „zum einen als Koordinationsaufgabe zu verstehen ist und zum anderen als Wahrnehmung dieser Koordinationsaufgabe im Schnittpunkt technischer Effektivität und ökonomischer Effizienz“. Dass ein derartiges „Mischmodell“ nicht ohne Probleme ist – zumal, wenn es in einem beruflichen Selbstverständnis respektive in Rollenvorstellungen verborgen bleibt –, darin ist Baeckers eingangs geschilderter Diagnose voll und ganz beizupflichten. Das Problem ist also nicht die Mana68
Umgekehrt erwarten Kunden und Kundinnen übrigens, dass sich Unternehmen nicht ausschließlich auf rücksichtslose Profiterwirtschaftung verlegen, sondern sich auch gesellschaftlicher Verantwortung stellen – ein Aspekt, der im Kontext des Kommunikationsmanagements unter der Überschrift ‚Corporate Social Responsibility’ oder ‚Corporate Citizenship’ diskutiert wird.
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gementlogik an sich, sondern das Faktum, dass die betriebswirtschaftliche Logik bereits betriebswirtschaftsfremde Diskurse kolonialisiert hat, dass uns die Managementlogik nicht als sie selbst, sondern als „Rationalität“ gegenübertritt. Baecker sieht die Diffusion, die damit stattgefunden hat, sehr genau. Er fordert ihre Diskussion: Das erspart es uns jedoch nicht, uns wieder und wieder damit zu beschäftigen, mit Hilfe welchen Typs von Theorie die Betriebswirtschaftslehre welchen Typ von Praxis in die Welt setzt. Wir können sie nicht als Sachwalter der Rationalität inklusive Effizienz und Effektivität auf Erden akzeptieren, ohne einmal nachzufragen, was es mit dieser Rationalität auf sich hat. (Baecker 2003, 13)
4. Exkurs: Reflektion und Theoretisierung Wie auch in der PR-Forschung gab und gibt es immer wieder Versuche, der Auseinandersetzung mit Managementfragen durch Schlagen einer historischen Brücke eine Patina der Ehrwürdigkeit zu verleihen (vgl. auch I.). Die Kunst des Krieges aus der Feder des chinesischen Generals Sun-Tzu, im 5. oder 6. Jahrhundert vor Christus verfasst; die Schriften eines Julius Caesar (100-44 v. Chr.), eines Marc Aurel (121-180 n. Chr.), eines Niccolò Machiavelli (1469-1527), eines Carl von Clausewitz (1780-1831) sind daher große Werke, die immer wieder als Managementklassiker tituliert werden (vgl. etwa Bunken 2006, der mit Sun-Tzu, Seneca, Hagakure, Machiavelli, Musashi und Clausewitz „Die 6 Meister der Strategie“ anempfiehlt). Aus Sicht des Autors führt es jedoch irr, die genannten Werke als Managementliteratur anzusehen. Wiewohl es sich um fruchtbringende und empfehlenswerte Lektüre für Manager handelt, handeln die Bücher nicht von Management per se. Sie geben primär sachbezogene Empfehlungen für die Kriegs-, Staats- oder Lebensführung, wobei sie sekundär Aspekte tangieren, die man heutzutage wohl als Managementfragen ansehen würde. Genuin mit Management als eigentlichem Thema befasste und theoretischsystematische Werke entstehen erst später – als sich der Beruf des Managers etabliert. 4.1 Die Entwicklung der frühen Management- und Organisationstheorie Die theoretisch-systematische Durchdringung arbeitsteiliger Prozesse schreitet dabei, vereinfacht gesagt, von zwei Seiten voran (vgl. Schienstock 1991). Während sich eine Annäherung sozusagen bottom-up von der Mikroebene der tatsächlichen Arbeitsverrichtung (v. a. in der industriellen Massenproduktion) nähert, geht die andere, top-down, von der Makroperspektive der Organisation, von großen komplexen Unternehmen insgesamt aus.69 Der erste Ansatz ist in der angloamerikanischen Tradition verwurzelt, welche den Manager als Synthese von Kaufmann/Buchhalter (accountant) und Ingenieur sieht.70 Er stellt sich die Frage, wie basale Arbeitsverläufe zu gestalten sind. Die zweite Perspektive fragt, wie und
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Beide Annäherungen zielen auf Effizienz und Optimierung – im ersten Fall aber vornehmlich auf effizientes Handeln, im zweiten Fall vornehmlich auf effiziente Strukturen. Bereits hier scheint die Dualität von Struktur und Handeln auf, die sich wie ein roter Faden durch die Management- und Organisationslehre zieht und in der Giddens’schen Strukturationstheorie einen Versuch der Auflösung erfährt (vgl. Schienstock 1991, 363ff.). 70 The Engineer als Economist ist der Titel einer Rede, die Henry Towne, Präsident der American Society of Mechanical Engineers, im Jahr 1886 vor seiner Gesellschaft hielt. Die Rede gilt amerikanischen Managementhistorikern gemeinhin als Geburtsstunde der Managementwissenschaft. Ein Jahr später legten Garcke und Fells mit Factory Accounting in Großbritannien eine Analyse vor, die den Manager ebenso in die Traditionen des Ingenieurs einerseits, des accountant andererseits stellte (vgl. Staehle 1999, 22f.).
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gemäß welcher Prinzipien ein Unternehmen, präziser gesagt: die Menschen in einer Organisation, zu organisieren, zu steuern, zu führen, ja zu verwalten sind. Der Taylor’sche Geist: Bottom-up, Management als Engineering der Organisation Das früheste, allgemein bekannte Beispiel aus der von der Arbeitsverrichtung ausgehenden Tradition dürfte aus der Feder des britischen Ökonomen Adam Smith71 stammen. Bereits 1776, also in der Frühphase der industriellen Revolution, verwies Smith auf die produktivitätssteigernden Effekte der Arbeitsteilung. So beobachtete der Ökonom in einer Stecknadelmanufaktur, wie zehn Arbeiter durch einen arbeitsteiligen Prozess – der ihre Tätigkeit auf einfache, wohl geübte Handgriffe reduzierte – in die Lage versetzt wurden, 48 000 Nadeln täglich zu produzieren: „Hätten sie jedoch alle einzeln und unabhängig voneinander gearbeitet und wär keiner für sein besonderes Geschäft angelernt worden, so hätte gewiss keiner zwanzig, vielleicht nicht eine Nadel täglich machen können“ (Smith 1905, S.8; zit. n. Staehle 1999, 23). Als Gründungsvater der wissenschaftlich fundierten, metikulös erforschten Arbeitsteilung gilt Frederick Winslow Taylor, der Begründer des so genannten Taylorismus (vgl. auch Kieser 2002b). Taylors Hauptwerke Shop Management (1903) sowie Principles of Scientific Management (1911) werden, wie es Staehle (1999, 24) ausdrückt, „als die Geburtsstunde der wissenschaftlichen Erforschung des Managements angesehen“. Kennzeichnend für das System Taylor sind systematische wissenschaftliche Studien, um die rationalsten, effizientesten Arbeitsabläufe festzulegen. Ferner gilt es Taylors Managementprinzipien (vgl. auch Staehle 1999, 24) zu sehen, die in ihrer Wirkmächtigkeit gar nicht überschätzt werden können:
Trennung der Planung von der Ausführung Wissenschaftliche Arbeitsmethode Kontrolle durch das Management Funktionale Organisation
Der Taylorismus findet seine Fortsetzung im Industrial Engineering, welches der TaylorSchüler Frank B. Gilbreth gemeinsam mit Henry Gantt und Taylors Partner Carl Barth vorantreibt. Zu Taylors Methode hinzu treten akribische Bewegungs- und Arbeitsablaufstudien (sog. Zyklogramme), welche handwerkliche Arbeit optimieren mit dem Argument, dass jede unnütze Bewegung verschwendetes Geld sei – wie Staehle (1999, 24) anmerkt, eine Überzeugung, die auch den REFA-Studien im deutschsprachigen Raum zugrunde lag. Eine Perfektionierung erfährt das System Taylor in der industriellen Arbeit, in der Fließfertigung. 1905 in den Chicagoer Schlachthöfen eingeführt, verbindet man das Fließband heutzutage zuvorderst mit der Automobilproduktion (1913, Highland Park-Werk), mit Henry Ford und dessen Managementansatz, dem Fordismus. Berühmt geworden ist Fords zynisches Diktum, in welchem er sich beklagte, weshalb er jedesmal einen ganzen Menschen bezahlen müsse, wo er doch lediglich seine Hände benötige. Neben der Mechanisierung und Standardisierung der Produktion sowie Eignungsuntersuchungen ist an Fords 71
Adam Smith (1723-1790), britischer Nationalökonom. Smith, der als Verfechter einer Laissez-faireMarktwirtschaft die bis heute übliche Rede von der „unsichtbaren Hand“ prägte, gilt als einer der Begründer der Wirtschaftswissenschaften als eigenständige Wissenschaftsdisziplin. Wichtigstes Werk: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations (1776).
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Managementansatz aber zu erwähnen, dass er die Arbeiter dadurch an der enormen Produktivitätssteigerung teilhaben ließ, dass er vergleichsweise hohe Löhne zahlte und die Arbeitszeit verkürzte. Wie Staehle anmerkt, ist ein weiterer Faktor bedeutsam: Bereits in der industriellen Fließbandproduktion wurde die Leistung des First-Line-Supervisor, der ersten Managementebene, drastisch reduziert, und zwar durch Technologie. „Das unpersönliche Kontrollinstrument ‚Montageband’ übernimmt jetzt die Arbeit der Aufseher tayloristischer Prägung“ (Staehle 1999, 26). Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeigte sich also, dass Koordination durch Technologie in der Lage war, Koordination durch Menschen, also Manager, zu substituieren. Wie die Arbeit noch zeigt, setzte sich ebenjener Substitutionsprozess im Verlauf des 20. Jahrhunderts fort. Was in der größer und größer werdenden bürokratischen Organisation oder Fabrik des 19. Jahrhunderts eine unverzichtbare Leistung des mittleren Managements war, wurde einerseits mehr und mehr nach unten delegiert, andererseits von oben usurpiert – wobei Technologie die Lücke schloss. Der Fayol’sche Geist: Top-down, die Lehre von der Führung und Verwaltung Was die Makroperspektive, also die Perspektive auf die Unternehmensführung insgesamt, anbelangt, gilt das während des Ersten Weltkrieges veröffentlichte Werk des Franzosen Henri Fayol als ein Meilenstein der Management- wie auch der Organisationslehre. Kocka (vgl. 1999, 145f.) weist jedoch darauf hin, dass Fayols Bedeutung häufig überschätzt werde. Bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts war man dazu übergegangen, Erfahrungsregeln aus der Praxis wissenschaftlich zu systematisieren und in eine allgemeine Organisationsund Managementlehre zu integrieren. Für Deutschland zeigt das etwa die Entstehung der Zeitschriften Organisation (1899), Werkstattechnik (1907) oder System (1908). An einem der ersten deutschsprachigen Bücher zu Unternehmens- und Betriebsführung (vgl. Kocka 1999, 138) zeigt sich zweierlei: Erstens, dass die wissenschaftliche oder auch nur systematische Reflektion der Speerspitze der Entwicklung hinterherhinkte – 1875 gab es in Deutschland immerhin 87 Betriebe mit 1 000 Arbeitern und mehr. Zweitens, dass sich die betriebliche Realität in Deutschland im Großen und Ganzen noch immer übersichtlich und durchschaubar gestaltete. 1868, also bereits gegen Abschluss der industriellen Revolution in Deutschland, gibt Arwed Emminghaus’ Allgemeine Gewerkslehre (Emminghaus 1868, 164; zit. n. Kocka 1999, 138) noch immer die Empfehlung, der Unternehmer möge alles selbst, persönlich und vor Ort im Auge behalten: „Die beste Instruktion ist die mündliche, die der allezeit und überall gegenwärtige, alles durchschauende Unternehmer selbst giebt (sic), und die, welche ein Beispiel den Angestellten fortwährend vor Augen führt.“ Henri Fayol72 legte 1916 mit Administration Industrielle et Générale eine systematisierte Annäherung an Fragen der Gestaltung und Steuerung von Organisationen vor, die sich als überaus wirkmächtig für die weitere theoretisch-systematische Beschäftigung mit Management erweisen würde. Dabei drückt der Titel bereits aus, dass es Fayol vorrangig, keineswegs aber ausschließlich um Industrieunternehmen ging. Die unter B bereits dargestellte funktional-analytische Tradition der Managementlehre begründend, setzt Fayol mit einer Analyse abstrakter Funktionen an, die er in jeder Organisation notwendig vorhanden glaubt (Fayol 1916, zit. n. Staehle 1999, 33): „Toutes les opérations auxquelles donnent lieu les enterprises peuvent se répartir entre les six groups suivantes: (1) Opérations techniques; (2) Opérations commerciales; (3) Opérations financières; (4) Opérations de securi72
Fayol, Henry (1841-1925), Direktor einer französischen Bergbaugesellschaft.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
té; (5), Opérations comptabilité; (5) Opérations administratives.“ Die letzte Gruppe, die opérations administratives – die Verwaltung, die das darstellt, was man heutzutage als Management73 bezeichnen würde – lässt sich nach Fayol weiter in die bereits erwähnten Funktionen des Managements (vgl. B.I) zerlegen (a.a.O.): (1) Vorschau und Planung (prévoir); (2) Organisation (organiser); (3) Leitung (commander); (4) Koordination (coordonner); (5) Kontrolle (controler). Als Ergebnis entwirft Fayol 14 Prinzipien, die explizit und implizit auch heute noch Vorstellungen davon bestimmen, was „sauberes“ Management, was klare Strukturen, was ordentliche Verhältnisse sind. Am bekanntesten ist sicherlich Fayols Prinzip der Einheit der Auftragserteilung („Einliniensystem“), wonach eine untergeordnete Instanz jeweils nur von einer übergeordneten Instanz Anweisung entgegenzunehmen hat; nicht, wie noch bei Taylor, von mehreren („Mehrliniensystem“). Etwas relativiert wird der „Dienstweg“ durch die so genannte Fayol’sche Brücke („passerelle“) die, unter Duldung des Vorgesetzten, laterale Kommunikation zwischen zwei Instanzen gestattet. Auch wenn Kocka Fayols zeitgenössische Bedeutung relativiert, Fayols „Verwaltungslehre“ kann von ihrer theoretischen Wirkung kaum überschätzt werden. De facto begründet Fayol zwei sehr langlebige und wichtige Ansätze: Erstens die funktionale Analyse, die danach fragt, welche Funktionen der Manager wahrnimmt und erfüllt; zweitens die Formulierung von Prinzipien, wie eine effektive und effiziente Organisation zu gestalten und zu führen sei. Wie unter B gezeigt wurde, blieb die funktionale Perspektive – mit USamerikanischen Weiterentwicklungen, etwa durch Mooney und Reiley (1931) Gulick und Urwick (1937), Urwick (1952) – bis in die sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts der dominante analytische Ansatz. Erst mit der Perspektive der verhaltenswissenschaftlich ausgerichteten, empirischen Forschung gerät er – ob zu Recht, sei dahingestellt – in die Kritik. Die Formulierung von mehr oder minder situativen Managementprinzipien war und blieb jedoch immer ein Lieblingskind der reflektierenden Praktiker respektive der „Managementgurus“. Der Weber’sche Geist: Rationalismus und bürokratische Herrschaft In der angloamerikanischen Tradition à la Taylor und Ford entwickelt sich der Manager aus einer Synthese zwischen Ingenieur und Buchhalter. Der Franzose Fayol ist von der Geisteshaltung her gleichermaßen Ingenieur wie Verwalter. Er steht damit mit einem Bein in der deutschen Tradition, in welcher die neu entstehenden Großunternehmen, wie aufgezeigt wurde, höhere Beamte aus Staatsdiensten, Bürokraten, rekrutierten. „Die Geburtsstunde der Organisationstheorie ist Max Webers Theorie der Bürokratie“, führt Baecker deshalb mit Fug und Recht aus (2003, 24). Und für diejenigen, welche die Wirkungsmacht der preußischen Verwaltungstradition auf unser zeitgenössisches Verständnis von Effizienz und Effektivität anzweifeln, setzt er hinzu (a.a.O.): „Diese Theorie ist so sehr preußisch eingefärbt, dass die Organisationstheorie sich für eine geraume Weile mit kaum etwas anderem beschäftigte als mit einer ebenso verzweifelten Rechtfertigung wie unnachgiebigen Kritik der Bürokratie.“ Wer das Erbe des preußischen Militarismus in der Bürokratietheorie, und damit in der Managementtheorie, nicht anerkennt, sei auf Webers Ausführungen zum staat-
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Der prestigeträchtige Abschluss, der im angloamerikanischen Raum für Managementpositionen prädestiniert, heißt heute noch ‚Master of Business Administration’.
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lichen Herrschaftsbetrieb als Verwaltung, zu politischer Leitung und Beamtenherrschaft verwiesen, wo es heißt: Von dem bürgerlichen Verwaltungsbeamten unterscheidet sich der militärische Herrschaftsträger, der Offizier, in dem hier entscheidenden Punkt nicht. Auch das moderne Massenheer ist ein bürokratisches Heer, der Offizier eine Sonderkategorie des Beamten im Gegensatz zum Ritter, Kondottiere, Häuptling oder homerischen Helden. Auf der Dienstdisziplin beruht die Schlagkraft des Heeres. Nur wenig modifiziert vollzieht sich der Vormarsch des Bürokratismus in der Gemeindeverwaltung. (WuG, II.9.7, §3)
Heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, hat der Begriff der Bürokratie freilich den Beigeschmack der Trägheit, der Starrheit, des systemhaft-verkrusteten. Es gilt jedoch zu sehen, dass der Impetus Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts ein völlig anderer war. Baecker macht geltend: Max Weber, Frederick Taylor und die anderen Helden der klassischen Organisationstheorie hatten ganz anderes im Sinn. Ihnen ging es darum, den wohldefinierten Systemen des traditionellen Klientelismus, der Vetternwirtschaft, und der bäuerlichen und handwerklichen Arbeitsgewohnheiten ein anderes, eben ‚rationaleres’ System entgegenzusetzen. Ihre Organisationen waren Instrumente der Emanzipation, des gesellschaftlichen Fortschrittes, des Misstrauens gegenüber den traditionellen Konventionen der Gesellschaft. Ihnen ging es darum, der Korruption, also dem Netzwerk der persönlichen Gunsterweise, ein Ende zu bereiten. (Baecker 1999, 18)
Rationalität, die Abkehr von traditionellen Lebensformen, die Hinwendung zu rationaler Lebens-, Arbeits- und Gesellschaftsgestaltung stellt also die Klammer dar, welche die Fayol’sche, Taylor’sche und Weber’sche Welt verbinden (vgl. auch Kieser/Walgenbach 2003, 32ff.). Neben die Ingenieurstradition und die Verwaltungstradition, welche technische Machbarkeit und damit Fortschrittsglauben respektive Quantifizierbarkeit und damit Bilanzierbarkeit betonte, tritt der Aspekt der bürokratischen „Geregeltheit“, der Kontrolle. Bürokratische „Geregeltheit“ stellt einen Komplex vieler verschiedener, aber miteinander verknüpfter Ideale dar, wie Weber in Wirtschaft und Gesellschaft (zit. n. Kieser/Walgenbach 2003, 38) geltend macht: „Präzision, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Aktenkundigkeit, Kontinuierlichkeit, Diskretion, Einheitlichkeit, straffe Unterordnung, Ersparnisse an Reibungen, sachlichen und persönlichen Kosten.“ Vieles, was Weber als Vorzug der Bürokratie ins Feld führt, tritt uns heutzutage zwar geradezu als Gegenbild der Bürokratie gegenüber: Der moderne Mensch empfindet Bürokratien z. B. eher als langsam. Ein Ideal, welches übriggeblieben ist, weil es Ausdruck einer höheren Idee ist, die sich nicht aus dem Ingenieurs- und Buchhalterdenken heraus verstehen lässt, möchte der Autor jedoch hervorheben: Aktenkundigkeit (vgl. auch Weber WuG, II.9.2). Das Loblied der Akte stehe noch aus „in unserer an Geschichten des Pfeffers, der Gerüche und des Alkohols reichen Literatur“, schreibt Baecker (2003, 26), und arbeitet heraus, dass die Akte in letzter Konsequenz ein Instrument der Kontrolle ist, denn sie ersetzt „mündliche Unkontrollierbarkeit“ durch „schriftliche Kontrollierbarkeit“. Die Kontrolle hat jedoch einen Preis. Auf einer niedrigeren, unmittelbareren Ebene betont Baecker, dass der Preis die „Aktenförmigkeit“ jeder Entscheidung ist: Bürokratie, die Herrschaft des Büros: das ist letztlich nichts anderes als die Einführung der Bedingung, dass jede relevante Entscheidung Aktenform annehmen muss; dass relevant nur das ist, was Aktenform hat; und dass jede Änderung der Relevanzbedingungen eine aktenförmige Entscheidung voraussetzt. […] Entscheidung folgt auf Entscheidung, wenn und nur wenn sie als Aktenvorgang darstellbar und schriftlich fixierbar ist. (Baecker 2003, 25)
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Der mittelbarere, höhere Einfluss der bürokratischen Geisteshaltung ist der, dass die Organisation die Welt mehr und mehr in Vorgänge zergliedert, für die „richtige“, weitere Schritte vorgesehen sind: denn dokumentieren, um zu kontrollieren, ob etwas „richtig“ gemacht wurde, ist nur plausibel, wenn es auch ein „Falsch“ gibt. Die Bearbeitung geschieht dann in einem Vorgang, bei welchem jederzeit bekannt sein sollte, wo und an welcher Stelle des Verfahrens man sich befindet. In der Bürokratie mit ihren starren Regeln, dem „stahlharten Gehäuse“, wie es Weber fordert, tritt das Bedürfnis nach „Geregeltheit“ ausgeprägt hervor und ist durch einen außenstehenden Beobachter leicht als unangemessen, bisweilen weltfremd, manchmal unmenschlich zu entlarven (vgl. Kiesers Darstellung zu Webers Bürokratietheorie, Kieser 2002a). Wie der Autor unter III. herausarbeitet, wurde das Ideal der „Geregeltheit“, kybernetisch das Konzept der Regelung, jedoch niemals wirklich aufgegeben. Das Konzept kleidete sich lediglich in andere Vokabeln, wurde von Variablen überlagert, subtiler dargestellt: Der Prozess der strategischen Planung stellte beispielsweise sicher, dass das Unternehmen für die Zukunft „mit Sicherheit“ richtig aufgestellt ist, der Prozess des strategischen Managements stellte sicher, dass das Unternehmen auch in Zukunft „mit Sicherheit“ in der Lage sein würde, sich richtig für die Zukunft aufzustellen (zu Konzepten der Unternehmensstrategie und ihrer Entwicklung kritisch und instruktiv Mintzberg 1994a; auch Mintzberg/Ahlstrand/Lampel 1998). Die Geschichte der Managementtheorie und auch der Theorie der Unternehmensführung im Mainstream, behauptet der Autor unter III., lässt sich als eine Ausweitung des Regelungsgedankens lesen, bis er alles umfasste, was auch nur irgendwie Einfluss auf die Unternehmung und ihren „geregelt“ herbeigeführten Erfolg haben könnte. In der Praxis scheiterte die Regelung natürlich an Kapazitätsgrenzen der Komplexitätsverarbeitung. Durch die Diagnose „menschlichen Versagens“ geriet der Grundgedanke, der der Regelung, aber nicht in die Schusslinie. Dass niemand die Probleme sah, behauptet der Autor freilich nicht. Vielmehr war und ist in der Managementtheorie und Theorie der Unternehmensführung ein und dasselbe Wechselspiel zu beobachten, wie es auch in der Soziologie als Theorie der Gesellschaftssteuerung und -regelung während der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts auftrat: „Man erinnere sich nur daran,“, polemisiert Baecker (2003, 15), „dass man damals aus der Einsicht, dass komplexe Phänomene nicht steuerbar sind, die Konsequenz abgeleitet hat, dann müsse man auf informiertere und indirektere Art und Weise, also trotzdem, steuern.“ Natürlich gab es immer realistische Denker, sei es in der Theorie, sei es in der Praxis, welche die Grenzen des Regelungsgedankens klar und deutlich sahen. In der Praxis stand dem bürokratischen Geist ohnehin der unternehmerische gegenüber, welcher geregelten Verhältnissen ein Agieren „auf eigene Rechnung“, Wagemut und persönliche Verantwortung gegenüberstellte. In der Theorie zog die Systemtheorie, insbesondere in Verbindung mit dem Konstruktivismus, dem althergebrachten Regelungsideal mehr und mehr den Boden unter den Füßen weg. Gleichwohl, der Regelungsgedanke ist noch immer attraktiv, und der Autor behauptet weder, dass systemtheoretische und kybernetische Theoretiker ihn tatsächlich überwunden haben – noch, dass er ihn für sich selbst überwunden hat. Am Anfang des 21. Jahrhunderts stehen jedoch der althergebrachte Regelungsgedanke und ebenjene „informierteren“ und „indirekteren“ Konzepte nebeneinander. Anders ist es nicht zu erklären, dass sich die Schriften systemtheoretisch-kybernetisch argumentierender Autoren wie etwa Baecker (1999; 2003), Willke (2001; 2005a; 2005b), Simon (2007a; 2007b), Degele (1997) oder die älteren Schriften Maliks (2002; 11984 und 2004; 11993) noch immer
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wie ein Anrennen gegen die „Logik des Misslingens“ lesen, die Dörner bereits 1989 diagnostizierte. Anders ist es auch nicht zu erklären, dass die Logik des Misslingens erst zaghaft als solche erkannt und ihr gegenübergetreten wird. 4.2 Ein Beruf ohne Ausbildung? „Management ist der wichtigste Beruf einer modernen Gesellschaft, und es ist, leider kommt man um die unangenehme Wahrheit nicht herum, ein Beruf ohne Ausbildung“, resümiert Malik (2006, 67) in Führen Leisten Leben, einem Managementklassiker, der, ähnlich wie die Werke Peter Druckers, eine eigene Domäne zwischen Wissenschaft und Praxis beansprucht. Malik macht geltend, dass ein erheblicher Anteil, wenn nicht sogar die Mehrheit der Führungskräfte heutzutage ein Universitätsstudium abgeschlossen hat. Die universitäre Ausbildung ziele aber nicht darauf, Manager auszubilden, sondern akademische Spezialisten, etwa in der Juristerei, der Psychologie, oder eben in Public Relations. Das sei ein gravierender Missstand. „Niemand würde in ein Flugzeug steigen“, so Malik, „wenn die Piloten eine den Managern vergleichbare Ausbildung hätten, und genauso wenig würde sich jemand einer chirurgischen Operation unterziehen, wenn dasselbe für die Ärzte gälte“ (ebd.). Es gäbe, so Malik, nach wie vor lediglich zwei Organisationen, die ihre Führungskräfte wirklich im engeren Sinne, „volle vier Jahre und full-time“ auf Führungsaufgaben vorbereiteten: die Streitkräfte mit ihren Militärakademien und Offiziersschulen, etwa die Heeresakademien West Point in den Vereinigten Staaten und Sandhurst in Großbritannien; sowie die katholische Kirche mit der Pontifikalakademie. Für die MBA-Programme hat Malik nicht viel übrig: „Die MBA-Programme tun genau das, was ihren Bezeichnungen entspricht: Es wird Business Administration vermittelt, aber kaum Management. Diese beiden Gebiete sind keineswegs identisch; sie haben – im Gegenteil – wenig gemeinsam“ (2006, 69). Managementvordenker wie Malik oder Mintzberg werden nicht müde, auf die Differenz zwischen Business Administration und Managementlehre zu pochen, vor allem mit Blick auf die Qualifizierungssituation und ihre Strukturen: Managers, not MBAs lautet Mintzbergs programmatischer Buchtitel (2004). Wills malt 1982 (und neun Jahre später wieder) ein „General Management Paradox“ an die Wand, wenn er diagnostiziert, dass angehende Manager in General Management Programmes alles lernen, nur eben nicht General Management: „Instead of teaching what a general manager’s job involves we teach him the several functions and techniques“ (1991, 119; Wiederabdruck von 1982). Obwohl er Management Skills als den entscheidenden Karrierefaktor ansieht, geht es Malik jedoch weder um individuelle Karrieren noch um High-Performance-Organizations, sondern um die volkswirtschaftliche Dimension. Die Professionalität der einer Gesellschaft zur Verfügung stehenden Manager, die Qualität der Managementkultur in einem Land, sieht er als einen Faktor, der sich wie kaum ein anderer Einzelfaktor – vielleicht abgesehen vom „Arbeitsethos“ der Bevölkerung – auf die Wettbewerbs- und Konkurrenzfähigkeit einer Gesellschaft, ihre Wertschöpfung, ihr Wohlstandsniveau auswirkt. Malik geht sogar soweit, die immensen wirtschaftlichen und sozialen Probleme der unterentwickelten und der Schwellenländer auf ebenjenen Aspekt zurückzuführen: Auf allen Ebenen, in der Politik und Administration wie auch in der Wirtschaft, fehle es an fähigen Managern. „Wenn man die ideologischen und sozialromantischen Erklärungen für den Zustand der unterentwickelten Welt beiseite lässt, kommt man zum Ergebnis, dass die Entwicklung eines Lan-
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
des vor allem mit seiner Managementqualität zusammenhängt. In Wahrheit gibt es keine unterentwickelten Länder, sondern nur unterentwickeltes oder auch fehlentwickeltes Management in diesen Ländern, wozu auch Nepotismus und Korruption gehören“ (Malik 2006, 64). Als Gegenbeispiel führt er die Schweiz an: Kaum mit Ressourcen gesegnet, gründet das Land sein wirtschaftliches Wohlergehen, seinen Wohlstand, auf eine über Jahrhunderte gewachsene Tradition professionellen Managements (Malik 2006, 63).74 Dass eine reife Managementtradition einen immensen volkswirtschaftlichen Standortvorteil birgt, darin sieht sich der Autor einig mit Malik. Über Malik hinausgehend möchte der Autor aber geltend machen, dass die akademische Ausbildung an Universitäten und Fachhochschulen sehr viel mehr zu einer derartigen Tradition beiträgt, als die Inaugenscheinnahme der Curricula verrät. Viele der Fähigkeiten, die heute von einer Führungskraft verlangt oder bei ihr vorausgesetzt werden, werden durchaus an Universitäten und Fachhochschulen vermittelt. Dabei geht es auch, aber nicht primär darum, dass ein Studium Schlüsselqualifikationen vermittelt wie das management of self, Kommunikationskompetenz – oder die Befähigung, mit Microsoft Word, Powerpoint oder Excel umzugehen. Primär geht es darum, dass modernem Management – und deswegen lohnt die Analyse der historischen Wurzeln und Ursprünge des Konzeptes – eine bestimmte, keineswegs eine selbstverständliche Auffassung von der Welt, vom Verhältnis des Menschen zur Welt zugrunde liegt. Management – und zwar so, wie es Malik versteht – ist die Anwendung einer Methode. Der Autor erörtert die Methode als rational-systematisches Problemlösen (vgl. III.3.1). Er stellt sich damit gegen Autoren wie z. B. Weick (1979, Kap. 5-8), die mit Selection-Retention-Modellen das blind-evolutionäre betonen, die „Probierbewegungen“ der Popper’schen Amöbe sehen (vgl. Popper 2006, 15-45). 4.3 Strategie: Das Erbe des Militarismus Der Begriff der Strategie stellt eine der schillerndsten Vokabeln in der Managementlehre dar (vgl. auch Schienstock 1991, 356ff.), und entsprechend vieldeutig und missverständlich spiegelt sich seine Verwendung in der PR-Lehre – weswegen der Autor aus der Systematik ausbricht und Management- und PR-Strategie gemeinsam erörtert. Tatsächlich entsteht bei der Rezeption älterer PR-Literatur oftmals der Eindruck, dass die Vokabel Strategie der Schlüssel ist, der die gepolsterten Türen zur Chefetage, zur „C-Suite“, aufschließen soll. Für die PR-Lehre kommentiert Tibbie (1997, 356), der Begriff der Strategie sei in der einschlägigen PR-Literatur herumgereicht worden wie ein Mantra: „[B]andied around like a mantra“. Bentele und Nothhaft ergänzen, strategische PR sei von den Agenturen wie ein „Zauberwort“ in den Diskurs eingebracht worden, „das professionellen Fortschritt gegenüber nicht-systematisch geplanter PR (‚Bauch-PR’) signalisieren sollte“ (2007, 366). Mit einem Mal, so ließe sich polemisch sagen, konnte die PR in Anspruch nehmen, konzeptionell auf Augenhöhe mit den Unternehmenslenkern zu agieren: eben strategisch.
74 Derartige Generalerklärungen sind keine Seltenheit: Der amerikanische Soziologe Arthur Stinchcombe postulierte schon 1974, dass sich ein Großteil der politischen und wirtschaftlichen Probleme der Entwicklungsländer allein dadurch lösen ließe, dass man das Prinzip der schriftlichen Aktenführung einführte und durchsetzte (zit. n. Baecker 2003, 25).
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Zauberwort einer Offiziersklasse Ein ähnlicher Erfolgsmechanismus hatte Jahrzehnte zuvor – je nach Betrachtungsweise schon in den zwanziger und dreißiger Jahren, zweifelsohne aber in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts – in der Management- und Betriebswirtschaftslehre gegriffen: Beratungsunternehmen, in vorderer Front die Business-Schools, und in vorderster die Harvard Business School (HBS), brachten den ursprünglich militärischen Terminus wie ein „Zauberwort“ in den Diskurs ein (für einen gedrängten Überblick vgl. Müller-Stewens/Lechner 2005, 8-15; extensiv, aber bisweilen polemisch Mintzberg/Ahlstrand/Lampel 1998). Auf die nahezu zweitausendjährige Geschichte des Strategiebegriffes, auf die systematisch-theoretische Entwicklung durch den preußischen Militärtheoretiker Clausewitz, auf die hundert Jahre Entwicklung von Business Policy und Long-Range-Planning zu Strategic Management geht die Arbeit noch ein. Vorerst festzuhalten ist eines: In einer Gesellschaft, in der das Militär enormes Prestige genoss, in der ganze Jahrgänge einen oder sogar zwei Weltkriege mitgemacht hatten, wertete der Strategiebegriff die Business-Manager auf, stellte Anschluss an Vertrautes her. Das Top-Management sah sich nunmehr auf Augenhöhe mit den großen Feldmarschällen Eisenhower, Montgomery oder von Manstein, das mittlere mit den Generälen, das untere mit den Offizieren. Micklethwait und Wooldridge kommentieren: „If nothing else, managers have always fancied themselves as an officer class. Strategy is what separates them from the sergeants” (1996, 160). Freilich, Staehle (1999, 601) ist zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass heutzutage alles strategisch gesehen wird und dass der Begriff seine ursprüngliche Bedeutung nahezu verloren hat – Mantras und Zauberwörter zeichnen sich gewöhnlich nicht durch begriffliche Schärfe und konzeptionelle Präzision aus. Insofern verwundert es nicht, dass die PRLehre einerseits Schwierigkeiten hatte, ihr eigenes Verständnis von Strategie präzise auszubuchstabieren. Andererseits hatte sie Schwierigkeiten, Anschluss an den zwar etwas genaueren, aber noch immer facettenreichen Begriff der Unternehmensstrategie herzustellen. Die Bedeutung von „strategischer PR“ blieb genauso vage wie das Verhältnis von strategischer PR zu Kommunikationsmanagement. Verkompliziert wurde die Debatte in der PR-Lehre darüber hinaus durch eine sozialtheoretisch-philosophische Interpretation des Strategiebegriffes, die neben der betriebswirtschaftlichen stand. Für Habermas etwa ist strategisches Handeln ein Typus erfolgsorientierten Handelns, stellt instrumentelles Handeln in einem sozialen Kontext dar: Strategisch nennen wir eine erfolgsorientierte Handlung, wenn wir sie unter dem Aspekt der Befolgung von Regeln rationaler Wahl betrachten und den Wirkungsgrad der Einflussnahme auf die Entscheidungen eines rationalen Gegenspielers betrachten. (TdKH I, 385)
Das Habermas’sche Verständnis ist in sich zwar nachvollziehbar, taucht als „spieltheoretisches Strategieverständnis“ im Begriff der Kompetition in der vorliegenden Arbeit auf. Wo Habermas jedwedes kalkuliertes Handeln als strategisch deklariert, öffnet er jedoch Tür und Tor für ein Verständnis, das auch jedwede sozial-intendierte, jede zwischenmenschlichzweckgerichtete Kommunikation, ja persuasive Kommunikation in toto mit strategischer Kommunikation äquivalent setzt. Das führt weg von der Interpretation der Managementund Betriebswirtschaftslehre. Ebenjene Disziplinen tun sich schwer, auf einen anderen bezogenes, kalkuliertes Handeln als Strategiekriterium gelten zu lassen, weil es im wirtschaftlichen Handeln nahezu überall, auf jeder Ebene zutage tritt: Auch der Pressesprecher, der einen Journalisten anruft, handelt erfolgsorientiert und rational und geht davon aus, dass
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
er es mit einem rationalen „Gegenspieler“ zu tun hat. Es wäre aber irreführend, seine Entscheidungen gleichermaßen als strategisch anzusehen wie die der Direktorin Unternehmenskommunikation, die eine über Jahre in die Zukunft weisende Entscheidung trifft, die mehrere Divisionen einer multidivisionalen Holding, hunderttausende von Mitarbeitern und dutzende Standorte weltweit tangiert. 4.3.1 Exkurs: Das synoptische vs. das strategische Managementverständnis Wie der Autor meint, gelang es in der PR-Konzeptionslehre nie, ein klares, sauberes Strategieverständnis zu entwickeln. Von einigen Ausnahmen abgesehen hat die PRKonzeptionslehre diejenigen Fehler wiederholt, welche die Managementlehre zwanzig, dreißig Jahre zuvor beging. Dass das geschah, ist zwei miteinander verschränkten Ursachen geschuldet: Erstens ist schlicht und einfach zu sehen, dass man in der PR-Lehre die gedankliche Weiterentwicklung in der Managementlehre nicht zur Kenntnis nahm, was u. a. Zerfaß (1998) bereits bemängelte. Zweitens sucht die PR-Lehre sozusagen parasitär Anschluss an das Denken der maßgeblichen, der hohen Entscheider auf Managementseite, und ebenjenes repräsentiert gewöhnlich den Mainstream der Managementideen, nicht die Avantgarde. Anders ausgedrückt, die Zeitverzögerung ist der Tatsache geschuldet, dass Agenturvertreter und Kommunikationschefs ihre Arbeit an Vorstandsvorsitzende und Geschäftsführer „verkaufen“ müssen: Insofern sind sie gut beraten, die Ideen ebenjener zu bedienen, die Sprache ebenjener zu sprechen, die Rationalität ebenjener zu kopieren und zu imitieren – und dazu gehörte der Begriff der Strategie, der irgendwo, irgendwie untergebracht werden musste. Sieht man genauer hin, stellt man fest, dass viele der Prozessmodelle im Bereich PRund Kommunikationsmanagement eigentlich Konzeptionsmodelle sind. Sie schreiben vor, wie ein Kommunikationskonzept systematisch, in aufeinanderfolgenden Schritten zu entwickeln ist. Das heißt, es handelt sich nicht um Modelle des Kommunikationsmanagements, sondern um Modelle der Kommunikationsplanung; ihr Äquivalent sind Modelle der strategischen Planung, wie sie etwa von Chandler (1962), Ansoff (1965), Steiner (1969) oder Andrews (1971), implizit oder explizit auf militärische Planung rekurrierend75, vorgezeichnet wurden. Prozessmodelle des Managements sind dagegen als Versuch zu lesen, den Prozess des Managens auszubuchstabieren. Der Unterschied zeigt sich, wo Konzeptionsmodelle einen Schritt der Realisierung – Umsetzung, Implementierung, Operationalisierung – differenzieren, der in Managementmodellen fehlt oder mit Führung, Leitung oder Lenkung etikettiert ist. Bildlich ließe sich sagen, dass im Zentrum der Konzeptionsmodelle das PR-Konzept, der Plan steht – im Zentrum der Prozessmodelle steht jedoch der Manager, das Management. Ohne eine Nuance überbetonen zu wollen, zeigt die Differenz, dass in der akademischen PR-Lehre und auch in der Praktikerliteratur zu Konzeptionslehre systematisches Vorgehen noch immer sehr stark mit der Realisierung eines systematisch entwickelten Planes, eben eines Kommunikationskonzeptes, verknüpft ist. Das sieht Zerfaß genauso, wenn er nach Durchsicht der Prozess- respektive Konzeptionslogiken in USamerikanischen Textbooks folgert (2004, 321, FN 1137): „Diese Autoren beziehen sich 75 Für einen ausgezeichneten Überblick vgl. Mintzberg/Ahlstrand/Lampel 1998, Kap. 2, 3; erhellend ferner Micklethwait/Wooldridge 1996, Kap. 7; Müller-Stewens/Lechner 2005, 8-15; äußerst explizit in die preußische Militärtradition stellt sich Hinterhuber 1990.
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jedoch noch auf ein synoptisches Managementverständnis und nicht auf die tragfähigere strategische Managementkonzeption.“ Das ist in dreifacher Hinsicht bedauerlich: Aus managementtheoretischer Sicht ist es bedauerlich, weil in der strategischen Managementlehre ein starres, verkürztes Denken, welches Planung und planmäßig-systematisches Vorgehen mit im Vorhinein festgeschriebenen Plänen und sturer, gedankenloser Planerfüllung gleichsetzt, bereits vor geraumer Zeit überwunden wurde. Die Managementlehre hat zum ehemaligen US-Präsidenten und Oberbefehlshaber der alliierten Landung in der Normandie Dwight D. Eisenhower aufgeholt, der einst zu Protokoll gab, dass Pläne nutzlos seien, Planung aber unverzichtbar. Dabei geht es nicht um das „thriving on chaos“, wie es „Managementguru“ Tom Peters (1987) postuliert, oder um den „Abschied von den kalten Strategien“, wie sie der Trendpopulist Gerd Gerken prophezeit (1995). Managementtheoretiker wie Steinmann und Schreyögg legen eine unaufgeregte Analyse vor, die zeigt, dass die „plandeterminierte Unternehmensführung“ unter realistischen Bedingungen kaum eine Chance hat zu funktionieren.76 An die Stelle eines synoptischen, alles in einem Plan zusammendenkenden Managementmodells sei ein strategisches zu setzen, welches jede Managementfunktion, im Prinzip jedes Handeln an den Rückkoppelungs- oder Lernkreislauf „anschließt“. Aus PR-theoretischer Sicht ist das verkürzte Strategieverständnis bedauerlich, weil Public Relations eine Praxis ist, die sich mit einem linearen Planungsverständnis besonders schwer tut. Benita Steyn, die sich in Forschungsprojekten mit PR-Strategieentwicklung auseinandergesetzt hat, macht ebendies geltend: Corporate communication strategy does not follow the traditional ‘linear’ approach to strategy development, where the emphasis is on planning. Rather, it is moulded on the more modern approaches to strategy development, e.g. adapting the organisation to trends, events and stakeholders in the environment (adaptive strategy). It also focuses on relationships, symbolic actions and communication that are the essence of interpretive strategy. (Steyn 2003, 180)
Zu guter Letzt ist das verkürzte Strategieverständnis aus praktischer Sicht bedauerlich, weil die Fokussierung auf das Kommunikationskonzept nach Ansicht des Autors ganz und gar unrealistisch ist. Unrealistische theoretische Entwürfe von systematischer Kommunikation tragen aber dazu bei, PR-Praktiker von der Theorie zu entfremden. Auch der wissenschaftsaffinste Praktiker wird sich abwenden, wenn er sich kontinuierlich mit Idealbildern konfrontiert sieht, denen er mit seiner Arbeit nicht annähernd nahe kommt – und der wissenschaftsphobe Praktiker sieht sich in seiner Überzeugung bestätigt, dass der „akademische Kram“ weltfremd und realitätsfern ist. Kaum ein PR-Praktiker darf sich wohl rühmen, am Anfang des Jahres einen Plan entworfen und ebenjenen Plan über die nächsten zwölf Monate konsequent eins zu eins umgesetzt zu haben. Selbst wenn der Praktiker guten Willens ist, macht ihm die Realität einen Strich durch die Rechnung: Nach einem halben Jahr wechselt der Vorstandsvorsitzende, der ausgefeilte Plan ist null und nichtig, und in der hektischen turbulenten Zeit nach einem Vorstandswechsel findet sich nicht die Zeit, einen neuen zu entwerfen. Aber heißt das, dass die Kommunikation nicht gestaltet, gelenkt und entwickelt, nicht systematisch gemanagt wurde?
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Die Argumente Steinmanns und Schreyöggs hat Steinmann-Schüler Zerfaß auch in die PR-Lehre eingeführt, vgl. Zerfaß 2004, 241ff.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
4.3.2 Der historische Strategiebegriff, bis Clausewitz und nach Clausewitz Die Wurzel des Strategiebegriffes, auch etymologisch, ist im militärischen Bereich zu suchen. Allgemein bekannt ist (vgl. auch im Folgenden Nothhaft/Bentele 2009), dass in der Athener Demokratie (5. Jahrhundert v. Chr.) der Begriff strategos einen Heer- oder Flottenführer bezeichnet: die zehn strategoi, zu denen auch Perikles zählte, bildeten das Athener „Oberkommando“. Im Römischen Imperium stellt die strategia eine eroberte Provinz dar, der strategus ist ein Militärgouverneur. Die Strategie ist ganz allgemein die Lehre und Praxis der Kriegsführung, die Unterscheidung einer höheren und niederen Ebene tritt noch nicht so klar hervor (lesenswert hierzu noch immer Delbrück GdK IIa, IV., der die Bedingungen für genuin strategische Heeresführung analysiert; Hinterhuber 1990, 3-7, anders, sieht bereits in der Antike eine Strategie als „Heeresleitung im großen Stil“). Obwohl das Thema Kriegsführung neben Praktikern immer wieder auch theoretische Köpfe77 bewegt, vergehen über 2 000 Jahre und es ändert sich am Begriffsverständnis nicht viel: Strategie bleibt die Kriegskunst, auch und weitestgehend im technischen Sinne. 1779 jedoch legt der französische Militärtheoretiker, Heeresreformer und spätere Feldmarschall Guibert (1743-1790) mit Défense du système de guerre moderne eine Schrift vor, die einen sich verändernden Sprachgebrauch theoretisch fasst. Der Franzose sieht in den Feldzügen des preußischen Königs Friedrich II. eine höhere, neue, andere Ebene, wie sie vielleicht unter Perikles, Alexander, Hannibal oder Caesar verwirklicht gewesen sein mag, danach aber allenfalls in Ansätzen. Wie kaum ein anderer vor ihm verstand es Friedrich der Große, seine begrenzten Kräfte durch enorme Beweglichkeit, durch Begrenztheit von Zielen, durch kluges Schlagen von Schlachten zu vervielfachen. Bei Guibert taucht der Begriff der stratégique in seiner heutigen Bedeutung auf: als höhere Kriegskunst (vgl. Oetinger/ Ghyczy/Bassford 2003, 37ff.). Doch Guiberts zweibändiges Werk, zu seiner Zeit viel gelesen, gerät in Vergessenheit. 1832, posthum, erscheint Vom Kriege. Verfasser ist der preußische General Carl von Clausewitz, der auch über Erfahrung als „PR-Mann“ verfügt, unter Scharnhorst als Presseadjutant dient.78 Auch Clausewitz hat die Kampagnen des preußischen Königs studiert. In preußischen wie in russischen Diensten ist er darüber hinaus selbst einem weiteren Meister des Fachs im Felde entgegengetreten, Napoleon Bonaparte. Was Clausewitz als Lebens- und Hauptwerk zusammengetragen hat und was seine Frau posthum veröffentlichte, lehren Militärakademien auf der ganzen Welt bis heute. Vor allem die Clausewitz’sche Differenzierung von Strategie und Taktik ist geradezu klassisch geworden. Strategie nach Clausewitz ist demnach […] die Lehre vom Gebrauch des Gefechts zum Zwecke des Krieges; sie muss also dem ganzen kriegerischen Akt ein Ziel setzen, welches dem Zweck desselben entspricht, d.h. sie entwirft den Kriegsplan, und 77 Für einen Überblick über die historischen Militärschriftsteller, insbesondere die der Antike, vgl. etwa Hinterhuber 1990, 3-14. Für eine Würdigung vgl. auch Delbrück GdK Ia, Ib, IIa, IIb, der die viel zitierten Werke des Vegetius oder auch des Machiavelli sehr stark herabwürdigt (Machiavelli verfasst um 1520 ein Werk über die Kunst der Kriegsführung, Dell’ arte della guerra, das zwar sehr viel über die Technologie des Kriegsführens enthält, aber sehr wenig über genuine Strategie). 78 In einer Biographie des Freiherrn von Stein (Ritter 1931, 46) findet sich folgender, auch PR-geschichtlich hochinteressanter Absatz: „Scharnhorst besaß, ähnlich wie Gneisenau, einen klaren Instinkt für die Notwendigkeit publizistischer Bearbeitung der öffentlichen Meinung, um sie für die Sache der Reformpartei zu gewinnen. Um seine Armeereformen ins rechte Licht zu stellen, setzte er viele Federn in Bewegung und hielt sich ein so großes schriftstellerisches Talent wie Clausewitz. Die Zivilreformer, trotz aller neuen Ideen doch aufgewachsen in der Tradition des alten bürokratischen Absolutismus, waren darin viel schwerfälliger.“ (Für diesen Hinweis Dank an Prof. Dr. Günter Bentele von der Universität Leipzig.)
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an dieses Ziel knüpft sie die Reihe der Handlungen an, welche zu demselben führen sollen, d.h. sie macht Entwürfe zu den einzelnen Feldzügen und ordnet in diesen die einzelnen Gefechte an. (vK, I.III.1)
Der Gegenbegriff zu Strategie ist bei Clausewitz die Taktik, die er als „die Lehre vom Gebrauch der Streitkräfte im Gefecht“ (vK, I.II.1.) definiert. Strategie und Taktik definieren sich damit über die Zweck-Mittel-Relation, in der das Gefecht, „die eigentliche kriegerische Tätigkeit“ (vK, I.IV.2), steht. Auf taktischer Ebene ist das Gefecht der Zweck, während es auf strategischer Ebene Mittel ist. Ein versierter Taktiker vermag auch einmal eine schwierige Schlacht für sich zu entscheiden. Der Stratege aber denkt und handelt auf einer anderen Ebene. Ihm geht es darum, die eigene Position durch Gefechte mit Blick auf ein übergeordnetes, gewöhnlich längerfristiges Ziel zu entwickeln. Clausewitz ist derjenige, der dem Begriff seine heutige moderne Bedeutung in der Militärwissenschaft gibt – diejenige Bedeutung, welche dann von der Betriebswirtschaftslehre aufgegriffen wurde. Clausewitz’ Differenzierung ist allerdings keine Setzung, um das noch einmal zu betonen. Clausewitz beruft sich auf die damalige Majorität des Gebrauchs, auf die Sprachverwendung seiner Zeitgenossen (vgl. vK I.II.1; vgl. Oetinger/Ghyczy/ Bassford 2003, 106). Freilich stellt sich die Frage, weshalb die Idee theoretischer Prinzipien einer höheren Kriegskunst erst zu Zeiten des Siebenjährigen Krieges aufkommt, da doch die Geschichte zahlreiche große Feldherren kennt, angefangen von einem strategos wie Perikles über Alexander, Hannibal und Caesar. Clausewitz selbst analysiert (vK, I.II.2), dass Autoren vor ihm […] unter dem Namen von Kriegskunst oder Kriegswissenschaften immer nur die Gesamtheit derjenigen Kenntnisse und Fertigkeiten verstanden, welche sich mit den materiellen Dingen beschäftigten. Die Einrichtung und Zubereitung und der Gebrauch der Waffen, der Bau von Festungen und Schanzen, […].
Strategie in der Clausewitz’schen Bedeutung konnte erst zu Relevanz gelangen, als die Kriegsführung einen gewissen Grad der Komplexität erreicht hatte, wie das z. B. während der Napoleonischen Kriege der Fall war. Solange Kriege durch ein Aufeinanderprallen gleichförmiger, unstrukturierter Heerhaufen entschieden wurden, solange die größte Leistung die war, die Heerhaufen während der Kampagnensaison zusammenzuhalten, zu ernähren, vor Seuchen zu bewahren und schließlich einigermaßen geschlossen zu einer Schlacht zu bringen – solange fiel der Begriff der Strategie mit der Taktik zusammen. Bei Ritterheeren, die aus persönlichen Ruhm und Ehre suchenden Individuen bestanden und keine taktischen Körper bildeten, gab es nicht einmal Taktik im heutigen Verständnis (lesenswert Delbrück GdK IIa, GdK IIb). Clausewitz’ Erörterungen zum instrumentellen Verständnis von Kriegsführung sind von einigem Interesse, weil in ihnen eine Diskussion aufscheint, die bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Debatten aufweist, wie sie heute über das Verhältnis von Management-Lehre und Management, insbesondere aber über PR-Wissenschaft und PR-Praxis geführt werden. So äußerte ein ehemaliger Präsident der Deutschen Public Relations-Gesellschaft – gegen die Überbewertung der universitären PR-Ausbildung argumentierend – PR sei „ein Kunsthandwerk“.79 Und auch Clausewitz setzt sich mit Versuchen auseinander, die Kriegsführung als Wissenschaft, Kunst oder eben Handwerk zu etikettieren. „Man hat dies schon 79
Pitzer (2003): „PR ist ein Kunsthandwerk, bei der die Kunst im schöpferischen Anteil der Arbeit besteht, in Ideen und Konzepten. Das Handwerk hingegen in der erforderlichen absoluten Präzision der Umsetzung.“
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früher gefühlt und deswegen behauptet, der Krieg sei ein Handwerk“, macht er geltend (vK, I.II.2.): „… damit war aber mehr verloren als gewonnen, denn ein Handwerk ist nur eine niedere Kunst und unterliegt als solche auch bestimmteren und engeren Gesetzen.“ Clausewitz geht es um die Lehre von der Kriegsführung. Sein Argument, im Kern systemisch (äußerst lesenswert ist Clausewitz’ Analyse der Wechselwirkungen in vK I.I.3, 4, 5), trägt aber gleichermaßen für Management oder eben Kommunikationsmanagement. Es lautet, dass, […] der Krieg keine Tätigkeit des Willens ist, die sich gegen einen toten Stoff äußert wie die mechanischen Künste, oder gegen einen lebendigen, aber doch leidenden, sich hingebenden Gegenstand, wie der menschliche Geist oder das menschliche Gefühl bei den idealen Künsten, sondern gegen einen lebendigen, reagierenden. (vK, I.II.3)
Für Clausewitz lässt sich Krieg am ehesten mit Handel oder Politik vergleichen. „Besser als mit irgendeiner Kunst ließe er sich mit dem Handel vergleichen, der auch ein Konflikt menschlicher Interessen und Tätigkeiten ist, und viel näher steht ihm die Politik, die ihrerseits wieder als eine Art Handel in größerem Maßstabe angesehen werden kann“ (ebd.). Public Relations als Handwerk oder Kunsthandwerk zu bezeichnen, stellt demnach, folgt man Clausewitz’ Argument, einen Beschreibungsversuch dar, der am entscheidenden Kriterium vorbeizielt: dass es sich um einen „Akt des menschlichen Verkehrs“ handelt (ebd.).80 Bereits bei Clausewitz scheint damit das Argument auf, dass „Akte menschlichen Verkehrs“ niemals vergleichbar sind mit formgebenden gestalterischen Aktivitäten, die sich gegen einen „toten Stoff“ oder ein lediglich „leidendes“ Publikum richten – wie etwa in Kunst, Technik oder Handwerk. Ohne kybernetisch-systemtheoretischen Jargon zu gebrauchen, aber in der Aussage gleichlautend, macht Clausewitz deutlich, dass es sich bei Handel, Politik und Krieg um Phänomene handelt, die als soziale Systeme zu rekonstruieren sind. 4.3.3 Der Strategiebegriff in der Managementlehre Wie gelangt eine ursprünglich militärtheoretische, „martialische“ Vokabel in die Vorstandsetagen der Unternehmen (vgl. auch im Folgenden Nothhaft/Bentele 2009)? Das ist zwei Entwicklungen geschuldet, einer praktischen, einer theoretischen. Die praktische Entwicklung ist die, dass das Militär seit jeher ein Führungskräftepool ist, und während der prägenden Kindheitsjahre des Managementgedankens stellten die Streitkräfte ein Sammelbecken der gesellschaftlichen Eliten dar. Wiewohl das in Deutschland aus historischen Gründen zurückgegangen ist, bleibt der Transfer zwischen Militär und Wirtschaft beispielsweise im angloamerikanischen Sprachraum bis heute gang und gäbe. Die theoretische Entwicklung ist verknüpft mit den US-amerikanischen Business Schools. Insbesondere die Harvard Business School tut sich hervor (vgl. Müller-Stewens/Lechner 2005, 8ff.): 1911 nimmt sie einen Kurs ‚Business Policy’ in ihr Curriculum für das Senior Management auf, ein ähnliches Konzept im deutschsprachigen Raum nennt sich ‚Unternehmenspolitik’. Der missverständliche Politikbegriff gerät außer Mode oder wird auf eine höhere Ebene normativer Grundsatzentscheidungen abgedrängt, aber der Weg führt weiter. 80 Davon völlig unberührt bleibt die Frage, welchen Status das von der PR-Lehre bereitgestellte Wissen besitzt, inwiefern es „Wissenschaftlichkeit“ beanspruchen darf.
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Von der so genannten Langfristplanung (Long-range Planning) führt er zu strategischer Planung (Strategic Planning), schließlich zu strategischem Management (Strategic Management). Die Tendenz ist ebenjene, welche die PR-Konzeptionslehre während der siebziger und achtziger Jahre nur halb und unausgegoren aufgriff: eine Abkehr von statischen, formalisierten Plänen, Hinwendung zu dynamischen Konzepten wie Organisationslernen, gestaltetem Wandel, geplanter Evolution. Die grundsätzliche Idee bleibt aber die, die sich abstrahiert bei Guibert und Clausewitz findet: Dass es nicht genügt, heute in der Schlacht zu siegen respektive Geld zu verdienen. In einer Welt, die sich verändert – und in Auseinandersetzung mit kalkulierenden Antagonisten, der Konkurrenz – gilt es, die eigene Position zu entwickeln, in eine günstigere Situation zu gelangen. Es geht also um heute, morgen und übermorgen. Vereinfacht ließe sich sagen: Unternehmen müssen gleichermaßen dafür sorgen, dass sie heute, in der Gegenwart, Geschäfte machen – und in der Zukunft, morgen und übermorgen, noch ein Geschäft haben. Und um das zu gewährleisten, bedarf es natürlich besonderer Führungskräfte, die über ebenjene Fähigkeiten und Begabungen verfügen, die in einer langen Tradition des mehr oder minder verdeckten Militarismus sehr stark idealisiert wurden: etwa den „eisernen Willen des Feldherrn“, der bereits bei Clausewitz die Friktion überwindet. 5.
Institutionalisierung: Der professionelle Manager vom 19. zum 21. Jahrhundert Es gibt in der Gesellschaft insgesamt und unter den professionals selbst heute ausgeprägte Vorstellungen darüber, was ein „echter“ Manager ist, was einen „guten“, was einen „richtigen“ Manager auszeichnet. Die Vorstellungen sind teilweise tief verwurzelt, oftmals nicht hinterfragt. Unter der Überschrift ‚Institutionalisierung’ ist demnach eine Entwicklung zu sehen, die sich aus zwei Blickwinkeln beschreiben lässt: Zum einen, sozusagen „naiv“, als gegebenes Faktum; zum anderen aus einer kritischen Perspektive, als zu dekonstruierender Prozess. Dies spiegelt sich auch in der Ambivalenz der Begrifflichkeit Institution wider, welche im akademischen Diskurs sowohl naiv als auch kritisch Anwendung findet. Die naive Perspektive Aus einem „naiven“ Verständnis heraus ist unter Institutionalisierung die simple Tatsache zu verstehen, dass Organisationen ihre Steuerungs- und Abstimmungsprobleme wie selbstverständlich dadurch lösen, dass sie ein Management institutionalisieren, ein Management im institutionellen Begriffsverständnis etablieren: Es werden also Hierarchieebenen geschaffen, die ausschließlich oder zuvorderst für Planungs-, Organisations- oder Kontrollaufgaben verantwortlich sind. Dass das keineswegs so selbstverständlich ist, zeigt sich an professional service organizations wie etwa Anwaltskanzleien (law firms) und Unternehmensberatungen sowie bei Ärzten oder Wissenschaftlern. Der Aufstieg auf der Karriereleiter bedeutet hier keineswegs, dass der Managing Partner, der Chefarzt, der Professor aufhört zu praktizieren, also Mandanten oder Klienten zu beraten, Patienten zu heilen, Studenten zu belehren. Die kritische Perspektive Ideen der institutionensoziologischen Organisationstheorie aufgreifend (für einen Überblick vgl. Wilkens/Lang/Winkler 2003; Kieser/Walgenbach 2003, 46-49; Walgenbach 2001),
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
gelangt man zu einer Perspektive, in der die Institutionen Management und Manager zwar nicht in toto, wohl aber verborgene und unausgesprochene Selbstverständlichkeiten hinterfragt werden. Denkfiguren der neo-institutionalistischen Organisationstheorie wie „Isomorphiedruck“ (DiMaggio/Powell 1983) und „Rationalitätsmythen“ (Meyer/Rowan 1977) drängen zu folgenden Fragen: Stellt Management, so wie es sich heute gestaltet, tatsächlich jene selbstverständliche, durch und durch rationale Antwort auf die individuelle Anforderungs-, Bedürfnis- und Problemsituation jeder einzelnen Organisation dar? Ist aus der Ähnlichkeit der Managementstrukturen vieler verschiedener Organisationen zwangsläufig zu schlussfolgern, dass es sich dabei um die überlegene Methode, den besten Ansatz handelt? Inwieweit ist davon auszugehen, dass die bisher geschilderte managementhistorische Entwicklung einzig und allein von Rationalität getrieben wurde, könnten nicht andere Mechanismen und Effekte gegriffen haben? Diese Fragen sind insofern von Bedeutung, weil sie an der Überzeugung rühren, dass Organisationen über die Jahrhunderte und Jahrtausende immer „besser“ im Sinne von effektiver und effizienter geworden sind. Die neoinstitutionalistische Organisationstheorie zieht in Zweifel, dass Institutionen, wozu nach Ansicht des Autors auch Management zu zählen ist, ausschließlich als zwingend-rationale Antwort auf die Anforderungen und Bedürfnisse jeder einzelnen Organisation zu begreifen sind, dass die Managementgeschichte eindimensional als Geschichte der Effizienz- und Effektivitätssteigerung zu erzählen ist. Die Gegenthese ist, dass ein verborgener, subsidiärer Mechanismus wirkt, nämlich Isomorphismus (vgl. DiMaggio/Powell 1983, S. 150ff; Walgenbach 2001, S. 334): Organisationen gleichen sich nicht nur deshalb aneinander an, weil sie unabhängig voneinander zu einem one best way gelangen, sondern aufgrund von drei miteinander verwickelten Bewegungen: (1) Durch Zwang oder sozialen Druck. Andere Organisationen, insbesondere aber Staat und Gesellschaft, üben Druck aus, wenn sie davon ausgehen, dass bestimmte Verhaltensweisen von einer Organisation verlangt werden können, „weil sich das heutzutage so gehört“. So ist es selbstverständlich geworden, von Unternehmen zu verlangen, dass sie sich über die geltenden Gesetze hinausgehend in irgendeiner Art und Weise engagieren: zu Umweltschutz bekennen, soziale Verantwortung übernehmen, gegen Kinderarbeit eintreten. Aus der umgekehrten, der Organisationsperspektive bedeutet dies, dass derartiges Engagement nicht geschieht, weil es „gut“ oder „rational“ ist, sondern weil die Organisation versucht, den verschiedenen Anspruchsgruppen gerecht zu werden. Folgt man der neoinstitutionalistischen Organisationstheorie, geht dies mitunter soweit, dass für verschiedene Anspruchsgruppen unabhängig voneinander „Legitimationsfassaden“ aufgebaut werden, die vom eigentlichen Geschäft ganz und gar abgekoppelt sind (vgl. etwa Türk 1989; Kieser/Walgenbach 2003, 46ff.). (2) Durch Nachahmung oder mimetischen Druck. Wenn eine Organisation erfolgreich ist beziehungsweise als erfolgreich wahrgenommen wird, tendieren andere Organisationen dazu, das „Erfolgsmodell“ zu kopieren. Hierin sind sich neo-institutionalistisch argumentierende und Autoren des strategischen Managements, wie etwa Michael Porter, in ihrer Warnung ganz und gar einig.81 Die Praxis und Methode des Benchmarkings lässt sich, wie 81 Die Schlussfolgerungen, die Porter (a.a.O.) zieht, sind freilich völlig andere: Porter warnt davor, dass die Angleichung der Unternehmen aneinander lediglich zu einer allgemeinen branchenübergreifenden Steigerung der operational effectiveness führt – mit dem Ergebnis, dass es zu mehr und mehr Konkurrenz auf immer höherem Niveau, zu einem Abnutzungskrieg (war of attrition) kommt, nicht aber zu einem genuinen Wettbewerbsvorteil. Ein derartiger Wettbewerbsvorteil lässt sich nur auf strategischer Ebene anstreben, wo er dadurch erzielt wird,
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Jörges-Süß und Süß (2004, 4) geltend machen, als ein systematisches Mimeseverfahren begreifen. „Strategieguru“ Porter (1996, 64) drückt es lakonischer aus: „The more benchmarking companies do, the more they look alike“. Dass Nachahmen mehr oder minder oberflächlich geschehen und zu bizarren Fehlleistungen führen kann, zeigt sich an einem historischen Beispiel. Michaelson (2001, 7) berichtet, wie der britische Generalstab nach den überwältigenden Siegen der preußischen Armee im preußisch-französischen Krieg eine Delegation entsandte, um die „Erfolgsfaktoren“ zu erforschen. Die Delegation berichtete, dass die preußischen Soldaten glatt rasiert seien, mit kurzgeschorenem Haar. Die Vorschrift wurde für die britische Armee übernommen; sie ist bis heute geltendes Regularium. (3) Durch Vereinheitlichung oder normativen Druck. Wenn professionelles Personal im Rahmen der Qualifikation sehr starker Sozialisierung unterworfen ist (Rechtsanwälte, Ärzte), oder wenn berufsständische Organisationen ihre Angehörigen auf Codizes verpflichten (man denke an die Bemühungen des Deutschen Rates für Public Relations), dann führt das, beabsichtigtermaßen, zu einer Vereinheitlichung von Denk- und Verhaltensweisen. Derartige Denk- und Verhaltensweisen werden dann in die Organisationen getragen, wo sie wiederum limitierend, „mimetisierend“ wirken. 5.1 Management als Karriere Als das wichtigste Ergebnis der flächendeckenden Institutionalisierung von Management, sei sie naiv oder kritisch perspektiviert, ist eine kaum jemals in Frage gestellte Selbstverständlichkeit anzusehen: dass Manager nicht nur einen Beruf, sondern eine Karriere darstellt. De facto stellt die Managementkarriere in einigen Bereichen die einzige, den „Königsweg“ dar, denn spezialisierte, nicht-managerielle Karriereleitern enden früh, auf hierarchisch und kompensatorisch niedrigem Niveau. Damit ist freilich nicht gemeint, dass Spezialisten wie etwa Chefkonstrukteure oder Lead Programmierer dadurch zu Managern werden, dass sie im Zuge ihres Aufstieges Personalverantwortung, sei es für ein Team, sei es für eine Sekretärin, übernehmen. Um die oberflächliche Übernahme von Managementfunktionen qua „Chef-Sein“ – wiewohl die eigentlichen Aufgaben ausführende, inhaltliche bleiben – geht es nicht. Mit der institutionalisierten Managementkarriere ist eine sehr viel tiefgreifendere Entwicklung angesprochen: nämlich, dass wie auch immer geartete, übergreifende Management Skills unternehmens-, ja branchenunabhängig als das eigentlich entscheidende, wertschöpfende Element an einer Führungskraft angesehen werden. Auch das ist keineswegs selbstverständlich. Wie Stewart zeigte, bestand gerade in Deutschland traditionell die Tendenz, in einer einmal gewählten Branche zu verbleiben, Führung auf langjährige Kompetenz und Expertise zu gründen (lesenswert Stewart et al. 1995; Stewart 1996): Der Geschäftsführer einer Brauerei möge zuallererst etwas vom Bierbrauen verstehen. In den angloamerikanischen Ländern sieht das anders aus: Deutsche Tugenden wie „von der Pike auf“ gelernte handwerkliche oder technische Fähigkeiten, über Jahre und Jahrzehnte erworbene Branchenkenntnis, die Verwurzelung in der Unternehmung treten hier zurück gegenüber blanken Management Skills. Ein richtiger, ein guter Manager sei in der Lage, alles zu managen, so die unausgesprochene Annahme – so wie ein exzellenter Fußballtrainer eben nicht nur ein spezifisches Team zu coachen versteht, sondern jedes. Schon der Fußballvergleich hinkt, weil der Fußballtrainer eben auch ein Hockeyteam madass man nicht die gleichen Dinge besser tut als der Wettbewerber, sondern andere Dinge anders. Wettbewerbsvorteile, wie dauerhaft oder flüchtig sie sein mögen, sind nicht das Thema der Neo-Institutionalisten.
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nagen müsste – und Forschungsergebnisse, etwa von Stewart oder Kotter, relativieren den angloamerikanischen Optimismus entsprechend. Die Skepsis gipfelt in Kotters Diktum „General managers are not generalists“ (Kotter 1982b). 5.2 Management durch Nicht-Manager: Der gute Arbeiter ist ein kleiner Manager Die eine Entwicklung stellt die dar, dass die Institution und Hand in Hand damit die Karriere entstand. Management, wie wir es heute verstehen, entwickelte sich a) mit der Separation von Planung/Überwachung und Ausführung; nahm b) Konturen an zwischen den zwei Eckwerten Effektivität und Effizienz; und c) durchlief Moden und lagerte Mythen an, was „richtiges“, „echtes“, „wahres“ Management, was ein entsprechender Manager sei. Eine weitere, simultane Entwicklung verlief in die umgekehrte Richtung: De facto übernahmen im Verlauf des 20. Jahrhunderts wieder mehr und mehr Organisationsangehörige Managementverantwortung – ja, sie wurde ihnen zugewiesen. Was in der mass production des Taylorismus und Fordismus noch als ultima ratio galt, begann an Grenzen zu stoßen. Die Separation zwischen Planung/Überwachung durch ein Management zum einen, Ausführung durch Arbeiter zum anderen warf mehr und mehr Probleme auf. Und das ist nicht nur dem Aufstieg des knowledge worker, des informationsverarbeitenden und wissensproduzierenden Mitarbeiters geschuldet, wie ihn Peter Drucker bereits 1959 prognostizierte. Auch die Automobilfabrikation – die Wiege der Fließbandarbeit und Spielwiese innovativer Produktionsorganisation – ist vielerorts zurückgekehrt zu Konzepten, die der Manufaktur des 19. Jahrhunderts plus Roboter gleicht. Was führte also dazu, dass das zwar etwas inhuman anmutende, aber militärisch straffe System unternehmerischer Organisation à la Taylor und Ford nach und nach aufgelöst wurde? Den vielfältig verwickelten Zusammenhängen en detail nachzuspüren, würde den Rahmen der Arbeit sprengen. Um die weitere Argumentation zu verstehen, genügt es, die wichtigsten Aspekte zu streifen. Es sind (1) das Erbe der neuen, überlegenen preußischen Militärdoktrin; (2) die Human Relations-Bewegung; (3) der Aufstieg des knowledge worker; (4) die Reengineering-Welle, welche die industrielle Revolution umzukehren suchte. Führung durch Befehl vs. Führung durch Auftrag, Befehl vs. Direktive Ein selten in wirtschaftswissenschaftlichen Darstellungen erwähnter Zusammenhang ist der, dass die strikte Separation von Planung und Ausführung schon in ebenjenem Bereich in Auflösung begriffen war, der als Musterbeispiel für Befehl und Gehorsam galt: dem militärischen (vgl. auch im Folgenden Hinterhuber 1990, 15ff.). Der Übergang von der Befehlstaktik zur Auftragstaktik – präziser, der Übergang von Führung durch Befehl zu Führung durch Auftrag – ist einer der Gründe, weshalb die deutsche Wehrmacht ihren Kontrahenten in punkto Flexibilität bis in die späten Jahre des Zweiten Weltkrieges überlegen blieb, insbesondere auf operativer und taktischer Ebene. Die überlegene Doktrin der Wehrmacht ist freilich nicht das Verdienst der Nationalsozialisten, sondern geht zurück bis auf die Napoleonischen Kriege und die Reform des preußischen Heeres im frühen 19. Jahrhundert. Unter dem Eindruck der überlegenen operativen Flexibilität der Grande Armée Napoleons, suchten Reformer wie Gerhard von Scharnhorst82 oder August von Gneisenau nach Wegen und Möglichkeiten, das monarchisch-preußische Heer in eine moderne Streitkraft 82
Gerhard Johann David von Scharnhorst (1755-1813), preußischer General und Heeresreformer.
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zu verwandeln, die Napoleons von nationaler Begeisterung getragener Bürger- und Wehrpflichtarmee die Stirn zu bieten vermochte. Die Lösung sah man in einer Aufwertung des Soldaten, in Ausbildung (Reservistensystem) sowie in überlegener Doktrin. Die Prügelstrafe und andere Disziplinierungsmethoden, wie etwa das Spießrutenlaufen, wurden abgeschafft. Die Soldaten erhielten eine sorgfältigere Ausbildung, in der man Flexibilität ein höheres Gewicht beimaß. Um den Offizieren des Generalstabes eine einheitliche Doktrin zu vermitteln, gründete von Scharnhorst 1810 die Kriegsakademie zu Berlin, die ab 1818 Clausewitz, ohne Lehrerlaubnis, leitete. Das Verdienst des anderen großen Heeresreformers, August von Gneisenau83, ist es, das flexible Konzept der Intention anstelle des starren Befehls eingeführt zu haben, um den „denkenden Soldaten“ zu fördern: „[T]hinking soldiers who followed the spirit of a command rather than its letter“, wie es der Militärtheoretiker Rupert Smith, ehemaliger stellvertretender NATO-Oberbefehlshaber, ausdrückt (Smith 2006, 52). Die Gneisenau’sche Begrifflichkeit spiegelt sich noch heute, zweihundert Jahre später, in Hamel und Prahalads Konzept des strategic intent (Hamel/Prahalad 1989) oder in der Führung durch Direktive (vgl. etwa Hinterhuber 1990, 241ff.) wider. Die Human Relations-Bewegung Der Übergang von Befehls- zu Auftragstaktik lässt sich als Effektivitätssteigerung durch Flexibilisierung lesen. Die Human Relations-Bewegung, welche zwischen den Weltkriegen einsetzt und gemeinhin mit den so genannten Hawthorne-Experimenten84 verknüpft wird, lässt sich dagegen verstehen als Effizienzsteigerung durch Motivierung. Beiden gemeinsam ist, dass sie Ausführung und Steuerung/Planung wieder näher aneinanderrücken, wieder verbinden wollen. Freilich, der preußischen Heeresreform fehlt der humanistische Impetus, welcher aus der Human Relations-Bewegung erwächst – auch wenn Staehle zu Recht geltend macht, dass die Hawthorne-Experimente zunächst ganz und gar in der Tradition der Psychotechnik, also der bloßen Arbeitsplatzoptimierung, stehen (1999, 33ff.). Der Aufstieg des knowledge worker Dem Konzept des „denkenden Soldaten“ preußischer Tradition stand mit dem auf Gehorsam gedrillten bloßen Befehlsempfänger noch eine potenzielle Alternative gegenüber, und auch das Problem der Human Relations war das, effizienter zu werden – nicht das, überhaupt effektiv zu bleiben. Mit den vielen grundlegenden technologischen Revolutionen im Verlauf des 20. Jahrhunderts, Automatisierung, Computerisierung, Wandel von der Industrie- zur Wissens-, Informations-, Medien- oder „Computergesellschaft“ (Baecker 2007b) änderte sich die Problemsituation jedoch: Bereits 1959 postulierte Peter Drucker das Konzept des knowledge worker, der nicht hauptsächlich mit Materie agiert, sondern mit Information. Der knowledge worker, etwa ein Lehrer, Anwalt oder Chemiker ist nicht nur deshalb in einem Unternehmen beschäftigt, weil er Dinge tut, sondern weil er Dinge weiß – und in der Lage ist, sich selbst „auf dem neuesten Stand“ zu halten. Aus der Managementperspektive erzeugt die zunehmende Abhängigkeit eines Unternehmens von knowledge workers ein ausgeprägtes Problem. Denn die Arbeit des 83 August Wilhelm Antonius Graf Neidhardt von Gneisenau, preußischer Generalfeldmarschall (1760-1831). Gneisenau war Blüchers Stabschef während der Schlacht von Waterloo, die Napoleons Schicksal besiegelte. 84 Zu den Hawthorne-Experimenten, die von 1924-1932 im Werk Hawthorne der Western Electric Co. durchgeführt wurden, vgl. im Überblick etwa Staehle 1999, 33-36, der der Meinung ist, dass die Bedeutung der Studien überschätzt werde; vgl. auch Steinmann/Schreyögg 2002, 51-60; vgl. ferner Kieser/Walgenbach 2003, 36-38.
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knowledge worker ist mit den herkömmlichen Techniken des Managements, der Etablierung einer Struktur, eines Kreislaufes von Planung und Kontrolle, nicht oder nur äußerst begrenzt zu beherrschen. Ob ein Lehrer sich wirklich Mühe gibt, lässt sich nicht hundertprozentig evaluieren. Ob der Justitiar des Unternehmens wirklich alles unternommen hat, lässt sich nicht neutral, auf Basis objektiver Parameter bewerten. Ob ein Chemiker die Hälfte seiner theoretischen Fortschritte in einer Schublade verwahrt, um notfalls gegenüber einem anderen Arbeitgeber attraktiv zu sein, lässt sich nicht mit Sicherheit ausschließen. Die Lösung, welche zumindest nach Ansicht kritischer Managementtheoretiker gefunden wurde, ist im Prinzip die logische Verlängerung des denkenden Soldaten, des qua Human Relations menschlich bewegten Mitarbeiters. Die Lösung war, die Kontrolle in die Köpfe der knowledge worker zu verlegen. Anstatt knowledge worker zu managen, „programmiert“ man sie, sich selbst zu managen: man sozialisiert sie in eine professionelle Praxis (instruktiv und kritisch Holtzhausen 2002, 256-258, die im Rahmen ihres Plädoyers für eine postmoderne Forschungsagenda die postmoderne Kritik gedrängt zusammenfasst und die Aufdeckung derartiger Strukturen fordert). Die Reengineering-Welle Eine vierte Entwicklung, welche zu einem enormen Schub der Abwärtsdelegation von faktischer Managementverantwortung führte – ja komplette Hierarchieebenen en bloc eliminierte – ist in der Reengineering-Welle zu sehen (vgl. Hammer 1990; Hammer/Champy 1993). Der Mathematiker Michael Hammer, einer der „Gurus“ der Bewegung, pflegte gar von sich selbst zu sagen, sein Job sei „reversing the industrial revolution“, die industrielle Revolution rückgängig zu machen (zit. n. Micklethwait/Wooldridge 1996, 29). Die Ausgangsbeobachtung des Reengineerings ist, dass Unternehmen dort „Reibungsverluste“ erzeugen, wo Vorgänge und Abläufe funktionale Grenzen überqueren, von einem „Kamin“ in den anderen überwechseln: also etwa, wenn Spezialisten der Forschung und Entwicklung einen Prototyp entwerfen, der dann, wenn er fertig ist, von Spezialisten der Marketingabteilung auf Vermarktbarkeit geprüft wird. Wenn im Alltagsgeschäft die Bearbeitung eines Kreditantrages sechs Wochen dauert, stellt der Reengineer zu Recht die Frage, warum. Er zeigt, dass die Bearbeitung darin besteht, dass dutzende verschiedener funktionaler Spezialisten jeweils eine Zeile ausfüllen; alles in allem ein Gesamtvorgang, der von einem Sachbearbeiter mit PC in neunzig Minuten erledigt werden könnte (vgl. auch Micklethwait/Wooldridge 1996, 31). Der Gegenentwurf der Reengineers ist die Reorganisation der Unternehmung entlang der Achsen ihrer wesentlichen Prozesse, anstelle ihrer Funktionen. Don’t automate, obliterate lautete der Titel von Hammers erster einschlägiger Publikation in Harvard Business Review (1990): Die Idee sei es nicht, die althergebrachten Prozesse per Computer zu automatisieren, sondern sie zu zerstören, zu zerschmettern – und durch neue, den neuen Möglichkeiten angemessene zu ersetzen. Die Produktentwicklung übernimmt also ein gemischtes Team, eine mit verschiedenen Spezialisten besetzte, vernetzte „Taskforce“; die Bearbeitung des Kreditantrages übernimmt ein einzelner, verantwortlicher Sachbearbeiter, ausgestattet mit einem Computer. Die theoretische Idee war an sich eine vernünftige. Das Problem – wie es Micklethwait und Wooldridge (1996, 27ff.) in ihrer pointierten Darstellung aufzeigen – zeigte sich jedoch in der praktischen Implementierung. Konkret, wobei die Verkaufsargumente der „Reengineering-Gurus“ eine Rolle gespielt haben dürften, führte Reengineering zuvorderst zu Downsizing. Der Fokus verschob sich von Prozessoptimierung auf Kostenreduktion,
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insbesondere Personalabbau. De facto ist Reengineering – ob falsch oder richtig verstanden, sei dahingestellt – eines der Konzepte, welches hinter den Wellen enormer Arbeitsplatzabbauten der 1990er Jahre steckt. Aus Managementperspektive von besonderer Brisanz ist, dass es mit Reengineering weniger die ausführenden Arbeiter, mehr die Manager traf. Insbesondere das mittlere Management wurde zum erklärten Feind der Reengineers, und die moderne Informationstechnologie zu ihrem bevorzugten Verbündeten.85 Während der achtziger Jahre hatte der Computer in den Organisationen Einzug gehalten, ohne dass die versprochenen substanziellen Produktivitätssprünge erzielt worden waren: Jetzt glaubte man herausgefunden zu haben, warum. Der Produktivitätssprung ließ sich nicht dadurch erzielen, dass man mittleren Managern einen PC auf den Schreibtisch stellte. Er ließ sich dadurch erzielen, dass man den mittleren Manager entließ. Seine Leistung – ebenjene, traditionell dem mittleren Management obliegende Koordinations- und Liaisonaufgabe – würde obsolet werden in der neuen, verschlankten Unternehmung. Wo die Technologie Unternehmensführung und ausführende Sachbearbeiter direkt und in Echtzeit vernetzte, gab es dramatisch weniger Bedarf an mittleren, als Supervisor und Controller agierenden Managern. Die Automatisierung hatte die Kopfarbeit eingeholt. Wie der Autor unter 5.3 zeigen möchte, hielt die Technologie jedoch keineswegs das Versprechen, das Koordinationsproblem zu lösen. 5.3 Gegenthese: Designed by geniuses, to be run by idiots Obwohl die Fabrik Taylor’scher Prägung mit Sicherheit nicht optimal menschengemäß war, möchte der Autor weder prä-industrielle Arbeitsverhältnisse idyllisieren noch die Dekonstruktion der Taylor’schen Welt zu wohlwollend als (Re-)Humanisierung der Arbeitswelt interpretieren. Wie schon das preußische Heer delegierten Organisationen Verantwortung deshalb abwärts, weil sie sich davon mehr Anpassungsfähigkeit, mehr Geschwindigkeit versprachen – die Separation von Ausführung und Planung führte zu Schwerfälligkeit. Die Taylor’sche Fabrik und Fließfertigung à la Ford entfremdeten die Arbeiter, und das führte zu Produktivitätsproblemen – die zu lösen, und nichts anderes, war zunächst der Impetus der Human Relations-Bewegung. Die Arbeit des knowledge worker, übrigens wie die des Managers, erwies sich als schwer zu überwachen, weswegen man andere Kontroll- und Steuerungsmodi entwickelte. Reengineering diente nicht dem „Empowerment“ der Sachbearbeiterin, sondern der Einsparung entbehrlich gewähnter mittlerer Manager. Die Probleme des Managements änderten sich, das Managementproblem blieb jedoch gleich: Wie ist das arbeitsteilige Zusammenwirken zu organisieren, um Effektivität (z. B. eine schlagkräftige Armee) und Effizienz (z. B. kostengünstige Produktion) zu gewährleisten? Was sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts herauskristallisierte, war lediglich, dass man die Intelligenz jedes einzelnen Organisationsangehörigen nutzen konnte, ja nutzen musste – dass es darum ging, ein durch und durch kollektiv lernendes System zu schaffen.
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Das verwundert nicht, sind doch die „Gurus“ der Bewegung, Champy und Hammer, mit der Sloan Management School des Massachussetts Institute of Technology (MIT) affiliiert, sowie eng verbunden mit CSC, der Computer Science Corporation, einem der weltgrößten IT-Beratungsunternehmen.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Komplexität für jedermann: Das Kind mit dem Bade ausgeschüttet Wie es oft geschieht wurde zunächst einmal das Kind mit dem Bade ausgeschüttet. Reengineering führte zu einer Auszehrung des mittleren Managements, und zu einer Zerstörung über Jahre gewachsener, wertvoller Unternehmenskulturen. Im Rahmen der New Economy-Blase wurde Chaos, mit Rückendeckung durch „Managementgurus“ wie Tom Peters (1987) zum Prinzip stilisiert. In Vergessenheit geriet, dass es niemals die Idee der Organisation war, vom Unternehmen abgekoppeltes Abteilungsdenken zu fördern oder mittleren Managern einen Druckposten zu sichern. Schon der Manufaktur lag die Überlegung zugrunde, die Komplexität arbeitsteiligen Zusammenwirkens durch Strukturierung und Organisation aufzunehmen, das schwierige Ganze in einzelne Aufgaben zu zerlegen, welche im Vergleich einfacher zu erledigen sind: Ent- statt Vernetzung also. Baecker macht darauf aufmerksam, dass schon Talcott Parsons’ Analyse der Organisation in Structure and Process in Modern Societies (Parsons 1960) dies herausarbeitete: Parsons beschrieb die Hierarchie nicht als Einrichtung von Befehlsketten, die von oben nach unten führen […], sondern als Einrichtung voneinander unabhängiger Ebenen. Ebenentrennung leistet zweierlei: Erstens können Arbeiter, Manager und Vorstand ihrer Arbeit nachgehen, ohne alle anderen ständig bei der ihren zu stören; und zweitens können sie gerade dank dieser Trennung in ausgewählten und genau bestimmten Hinsichten in das, was andere tun, eingreifen. (Baecker 2003, 26)
Dass dies unter Taylor und später Ford zu einer perversen Perfektionierung geführt wurde, welche Arbeiter reduzierte und in dysfunktionaler Art und Weise von ihrer Arbeit entfremdete, bedeutet keineswegs, dass der Umkehrschluss richtig ist. Mitarbeiter wünschen sich nicht ein Höchstmaß an Komplexität und Vernetzung, sondern ein ihren Fähigkeiten, ihrem Ausbildungsstand und ihrem Berufsverständnis angemessenes. Oder, wie es Malik in einer zeitgenössischen Reinterpretation des Babbage-Prinzips86 (2006, 57ff.) formuliert: Organisationen tun gut daran, sich so zu organisieren, dass auch der „gewöhnliche“ Mensch – der in großer Zahl zur Verfügung steht – dauerhaft und erfolgreich mit und in ihnen arbeiten kann, ohne überfordert zu sein, ohne Schaden zu nehmen. Das kollektive Genie und der gewöhnliche Mitarbeiter Managementvordenker wie eben Malik (a.a.O.) argumentieren bereits seit längerem, dass es gerade Sinn und Zweck von Organisation sei, aufgaben- und unternehmensinhärente Komplexität auf ein Maß herunterzuschrauben, das von „gewöhnlichen Mitarbeitern“ verund bearbeitbar sei. Wenn für die exzellente Organisation die Forderung „Designed by geniuses, to be run by idiots“ gilt, dann ist damit nicht der Konzernlenker als Genie und der Mitarbeiter als Idiot angesprochen. Vielmehr besteht die Herausforderung darin, dass kollektive Genie der Organisation zu nutzen, um zu einem System zu gelangen, welches die Arbeit vereinfacht, ohne sie damit zwangsläufig zu mechanisieren oder zu trivialisieren. Konzepte, die das mittlere Management dadurch substituieren, dass sie ausführenden Mitarbeitern mehr und mehr Komplexität aufbürden, stellen das Gegenteil manageriellen Or86 Charles Babbage (1792-1871), Mathematikprofessor an der Universität Cambridge und einer der frühesten theoretischen Computerpioniere, wies bereits 1832 – also lange vor Taylor – darauf hin, dass der Unternehmer durch Aufspaltung der auszuführenden Arbeit in einfachste Verrichtungen in die Lage versetzt werde, exakt jene Arbeit, jenen Grad an Kraft und Geschicklichkeit, zu kaufen, die er brauche. Ein Arbeiter, der über die Kraft und Geschicklichkeit für viele verschiedene Arbeiten verfüge, sei seltener und teurer (vgl. Staehle 1999, 25; Bravermann 1977, 70).
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ganisierens dar. „Empowerment“, das Tag für Tag Geniestreiche verlangt, das Chaos zum Prinzip erhebt, stellt nichts anderes dar als „Abwälzen“ von Führungsverantwortung (vgl. Bentele/Nothhaft 2008a, 464-465). „Abwälzen“ von Managementverantwortung auf untergeordnete Ebenen ist in doppelter Hinsicht bedenklich. Zum einen führt es über kurz oder lang zu einem Versagen der Organisation, insbesondere dann, wenn die Komplexität, etwa durch Wachstum der Unternehmung, weiter und weiter steigt. Viele junge Unternehmen beginnen zu scheitern, sobald die Unternehmenskomplexität eine bestimmte Schwelle überschreitet: Die Komplexität ist von einem einzelnen „hemdsärmeligen Gründer“ ohne ein mittleres Management, ohne einen Apparat mit definierten Prozessen und adäquaten Strukturen, nicht länger zu beherrschen. Zum anderen bedenklich ist das „Abwälzen“ von Managementverantwortung, weil es verantwortungsloses unternehmerisches Handeln darstellt. Mitarbeiter sind durchaus in der Lage, und in der Regel auch gewillt, Defizite der Organisation durch Engagement zu kompensieren. Das ist jedoch nur bis zu einem Grad und über einen begrenzten Zeitraum möglich; danach versagt entweder die Organisation, wie eingangs dargestellt – oder der Mitarbeiter. Auf kommunikationstheoretische Überlegungen – insbesondere auf die von der Palo-Alto-Gruppe um Gregory Bateson entwickelte Double-Bind-Theory der Schizophreniegenese gestützt – gehen Bentele und Nothhaft sogar soweit, ebenjenem „Abwälzen“ von Managementverantwortung pathogene Wirkung zuzuschreiben. Nicht ohne Grund, so die Autoren (2008, 464ff.), seien psychische Erkrankungen zu einer der wichtigsten Ursachen für Arbeitsausfälle und Frühverrentungen in Deutschland geworden. Baecker (2003, 27) sieht das ähnlich: Es ist ganz und gar kein Zufall, dass die Stressbelastung von Organisationsmitgliedern enorm zugenommen hat, seit allerorten Anstrengungen unternommen werden, Hierarchien abzubauen. […] Kaum etwas ist der klaren Orientierung und damit der Seelenruhe der Mitarbeiter einer Organisation förderlicher.
6. Die Top-Manager als soziale Elite Die fünfte Schicht, die von der Chronologie her die vierte und dritte Schicht durchdringt, ist charakterisiert durch das, was Berle und Means bereits 1932 (11932, 21968) unter der Überschrift ‚managerial revolution’ diagnostizierten.87 Mit der Herausbildung und Vermehrung von Aktiengesellschaften und der zunehmenden Zersplitterung des Aktienbesitzes wurde die Eigentümerunternehmung als das dominante Modell der Großunternehmung abgelöst. Es kam, wie Staehle (1999, 423) es ausdrückt, zu einer Trennung von Eigentum und Verfügungsmacht (ausführlich Schreyögg/Steinmann 1981; auch Kocka 1981; kurz und gedrängt Schienstock 1991, 352ff.). Den Aktionären „gehörte“ zwar das Unternehmen, das TopManagement aber schaltete und waltete. Das Vertrauensproblem – aus der Tatsache resultierend, dass Management nicht ähnlich kontrollierbar ist wie industrielle Arbeit – bestand von Anfang an. In der Anfangsphase der Industrialisierung lösten Unternehmerdynastien das Vertrauensproblem so, wie es bereits die römischen Patrizierfamilien gelöst hatten: Die unternehmerische Führungsspitze wurde aus Verwandtschaft und/oder Freundeskreis rekrutiert, so etwa bei Siemens & 87 Wiewohl der Begriff von Berle und Means stammt, war es James Burnham, der 1941 ebenjene „managerial revolution“ prophezeite, in welcher die „Klasse“ der Manager die soziale und politische Macht übernehmen und Arbeiter wie Kapitalisten „zur Bedeutungslosigkeit verdammen“ würden. Aber auch der spätere Reichsaußenminister Walter Rathenau äußerte sich schon 1918 mit ähnlicher Stoßrichtung, wie Kocka belegt (1999, 35).
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Halske, wo die drei Siemens-Brüder die drei Hauptniederlassungen in Berlin, St. Petersburg und London leiteten. „Oft war der erste besoldete Angestellte der Firma ein Bruder oder ein Neffe des Gründers, der erste Verwaltungsleiter ein enger Freund von der Schule oder der Militärzeit her“, führt Kocka (1999, 140) aus und resümiert (a.a.O.): „‚Nepotismus’ war funktional.“ Solange das Unternehmen in Privatbesitz blieb, solange es sich um eine Eigentümerunternehmung handelte, war auch die Überwachung/Steuerung der Steuerer und Überwacher ein privates Problem. Zu einem gesellschaftlichen Problem wurde die Vertrauensfrage durch eine doppelte Entwicklung. Zum einen, auf einer niedrigeren Ebene, durch die Kapitalgesellschaft, welche gerade bei zerstreutem Aktienbesitz das Top-Management gegenüber den Eigentümern begünstigte. Eine Studie von Steinmann, Schreyögg und Dütthorn (1983) belegte beispielsweise, dass 1979 57 Prozent der 300 größten deutschen Unternehmen managerkontrolliert waren (das heißt, die Unternehmen gehörten zu weniger als 75 Prozent einer Privatperson wie etwa einem Großaktionär). Die mit der Unternehmensführung betrauten Manager bleiben in derartigen Konstellationen zwar Agenten des Kapitals, nicht immer ist das Kapital (oder der Prinzipal88) aber so organisiert, die Situation so transparent, dass die Eigentümer in der Lage sind, faktisch Kontrolle über „ihre“ Manager auszuüben. Entsprechend, wiewohl in letzter Konsequenz aus bezahlten Angestellten bestehend89, emanzipiert sich das Top-Management. Die zweite Entwicklung setzt auf der ersten auf und besteht darin, dass große Kapitalgesellschaften, die „Multinationals“, zu wesentlichen Playern nicht nur in der Wirtschaft, sondern in der Gesellschaft generell wurden. Die großen Konzerne, wie etwa die DAX-30Konzerne in Deutschland, verfügen schon aufgrund ihrer Visibilität über gewaltigen gesellschaftlichen Einfluss. Dass der Einfluss der Konzerne auf konkrete, praktische Politik (via Lobbying90) sowie auf grundlegende gesellschaftliche Rahmenbedingungen (via Public Affairs) nicht in einem repräsentativen Verhältnis zu ihrer zahlenmäßigen Bedeutung als Arbeitgeber und Steuerzahler steht, sei am Rande erwähnt. Von größerer Bedeutung ist, dass es den westlich-liberalen Demokratien bisher nicht gelungen ist, die gesellschaftliche Macht der Konzerne und die ihrer Lenker mit einer entsprechenden Verantwortung zu verknüpfen. Wenn Ambrose Bierce die Kapitalgesellschaft, die Corporation, als geniale Einrichtung bezeichnet, um individuellen Profit ohne individuelle Verantwortung zu erzielen, dann verweist er auf ebenjenen Sachverhalt: Der DAX-30-Konzern mag mit seinem Vorstand über ein verantwortliches Gremium verfügen – anders als beim Eigentümerunternehmer, der mit seinem Privatvermögen gerade steht, geht die Verantwortung aber letztlich ins Leere. Wie bizarr die Konstellation ist, zeigt sich jedes Mal, wenn die Europäische Kommission Millionenstrafen verhängt, wie das regelmäßig gegen Siemens oder die Volkswagen AG geschieht: Womöglich wird der Vertrag des Vorstands nicht verlängert, aber in letzter Konsequenz trifft die Strafe die Aktionäre, die Mitarbeiter, die Kunden. Aus den Reihen der professionellen, beruflichen Manager rekrutiert sich demnach eine kleine, aber mächtige soziale Elite, die der Top-Manager. Die Elite der Top-Manager steht 88 Für die so genannte Principal-Agent-Theorie, welche Ruß-Mohl/Fengler (2007) auch auf das Verhältnis von Journalismus und PR anwenden, vgl. z.B. früh und wegweisend Furubotn/Pejovich 1972. Vgl. auch Staehle 1999, 423. 89 Die alternative etymologische Deutung Boettichers (1963) rekurriert hierauf: Boetticher leitet Management von lateinisch mansionem agere ab, was soviel heißt wie „ein Haus für einen Eigentümer zu bestellen“. 90 Es ist bezeichnend, dass Konzerne wie Siemens nicht nur über ihre Spitzenverbände in Berlin und Brüssel repräsentiert werden, sondern eigene Repräsentanzen an den Regierungssitzen etabliert haben.
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zwischen Arbeitnehmern und Kapitaleigentümern – und kontrolliert de facto und qua Position, wenn auch nicht de jure, einen substanziellen Prozentsatz der Ressourcen einer Volkswirtschaft. Freilich, Kommunikationsmanagern ist es kaum einmal vergönnt, in die Riege der „angestellten Unternehmer“ (Kocka) aufzusteigen, welche in der geschilderten Art und Weise schaltet und waltet. Der Zusammenhang mit Public Relations bleibt aber brisant, denn Kommunikationsmanager agieren an ebenjener Schnittstelle zwischen TopManagement einerseits, der Gesellschaft andererseits. Hochrangige PR-Praktiker, die funktionslebensweltlich in das innere Sanktum eintreten, die Argumente und Gegenargumente live am Konferenztisch hören, stehen deshalb vor ganz anderen ethischen Entscheidungen als diejenigen, die bereits mit der offiziellen, der „sozialverträglichen“ Version der Unternehmensstrategie konfrontiert werden. Konzepte wie Stakeholder Relationship Management, Corporate Governance, Corporate Social Responsibility, Sustainability Reporting, freiwillige Selbstverpflichtungen von Branchen etc. sind demnach so oder so zu lesen. Einerseits als Versuch der Gesellschaft, die Konzerne und ihre Lenker stärker im Auge zu behalten, sie effektiver zu kontrollieren. Andererseits und umgekehrt, als der Versuch derselben, eine Legitimationsfassade (vgl. 5.) aufrechtzuerhalten, die ein wirkliches Im-Auge-Behalten abwehrt, eine effektive Kontrolle vermeidet. Welche Situation gegeben ist, ist wohl von zu Fall zu Fall verschieden. Wie sich in der funktional-integrativen Schichtenanalyse von Public Relations unter I. zeigte, führte die sozialevolutionäre Entwicklung eines „PR-Systems“ der Tendenz nach jedoch dazu, dass zumindest die demokratietheoretisch vorgesehenen normativen checks und balances geschwächt wurden. Berger bringt das klar und deutlich auf den Punkt, wenn er geltend macht: There is little doubt that public relations has effectively served capitalism and powerful economic producers for many years, but whether it has served or can serve stakeholders and society as well from inside or outside the dominant coalition is a contested issue. (Berger 2005, 6)
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III)
C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Kommunikationsmanagement als wohlgeformte Praxis
Mit der historischen Spurensuche unter C spürt der Autor einer These nach, die von der Form her eine sehr einfache ist. Sie besagt: In der Verschiebung, welche unter A erörtert wurde, hat sich die professionelle Organisationspraxis – ehemals Public Relations, jetzt Kommunikationsmanagement – der betriebswirtschaftlichen Logik, der Managementlogik unterworfen. Das geschah auf allen drei Ebenen, die angesichts einer in der Reflexivität der späten Moderne (vgl. A.III.1) stehenden Praxis relevant sind: Auf der Ebene der jeweils spezifischen, von Person zu Person und Organisation zu Organisation verschiedenen Organisationspraxis; auf der Ebene des professionellen Diskurses, der sich von Land zu Land und Kulturkreis zu Kulturkreis unterscheidet; sowie, zumindest im Mainstream, auf der Ebene der wissenschaftlichen Theoriebildung, der Reflektionsebene. Dass die drei Ebenen miteinander verwickelt sind, wurde herausgearbeitet, die interessante Frage nach Henne und Ei überantwortet der Autor aber der PR-Historiographie. Es ist müßig darüber zu streiten, ob zuerst mehr und mehr Praktiker im Einzelfall feststellten, dass die Übernahme des Managerhabitus91 samt einer betriebswirtschaftlichen Argumentationslogik ihnen Machtzuwachs, Zugang zur Unternehmensführung, Budgets und Ressourcen bescherte – denn es ist genauso möglich, dass das zunächst Vordenker forderten, seien es Wissenschaftler oder herausragende Branchenvertreter. Ebenso ist es müßig darüber zu debattieren, ob und inwieweit wissenschaftliche Theorien, wie etwa die Exzellenztheorie, die Unterwerfung unter die Managementlogik tatsächlich vorgedacht haben. Genauso ist es möglich, dass sie in einem Nachdenken einer bereits in Gang gesetzten Branchenpolitik das theoretische Fundament lieferten. Ja, wenn man einzelne Individuen als Analyseeinheit heranzieht, werden wohl einige Praktiker ganz und gar unabhängig von Branche und Theorie festgestellt haben, dass die Unterwerfung unter die Managementlogik, der Managerhabitus, ihnen Vorteile in der Organisation verschafft; andere werden nach und nach über ihre professionellen Peers sozialisiert worden sein; gerade auch in der Karriereentwicklung; wiederum andere werden ihre Karrieren bereits mit einem in der universitären Aus- oder Weiterbildung vermittelten mindset begonnen haben. An anderen schließlich ist die Entwicklung vorbeigegangen, und wenn es sich nicht um eine bewusste und absichtsvolle Verweigerung handelt, wundern sie sich, weshalb sie in der Organisation an eine gläserne Decke zu stoßen scheinen. Von der Form ist die These also einfach, vom Inhalt her ist es schon etwas schwieriger, sie in wenigen kurzen Sätzen auszubuchstabieren. Der historische Abriss sollte aber eines gezeigt haben: dass sowohl Public Relations/Kommunikationsmanagement als auch General Management Phänomene sind, die zwar in der Retrospektive einen abstrahierbaren Kern haben, um ebenjenen Kern hat sich aber viel historisch und kulturell Kontingentes angelagert. „Historisierungsversuche“, „ein reputationsheischender wissenschaftlicher Brauch“, wie es Ronneberger und Rühl ausdrücken (vgl. II.1), verschleiern ein klares Verständnis. Natürlich müssen Großprojekte wie der Bau der ägyptischen Pyramiden im Prin91 Zum Begriff des Habitus, wie er in den Sozialwissenschaften angewandt wird, vor allem natürlich bei Bourdieu, vgl. A.III.
III. Kommunikationsmanagement als wohlgeformte Praxis
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zip genauso gemanagt worden sein wie Großprojekte heute. Aber Koordinationsleistung und Komplexitätsbewältigung in der Abstraktion genügen nicht, um die Managementlogik im 21. Jahrhundert, um den Managerhabitus zu verstehen, wie er uns heute gegenübertritt. Natürlich arbeiteten historische Figuren wie Julius Caesar, Elizabeth I. oder Napoleon, wenn man es in der heutigen Terminologie ausdrückt, an ihren „Images“, und sie taten das durch Kommunikation. Aber Kommunikation in der Abstraktion allein genügt nicht, um das präzise zu fixieren, was wir heute unter Public Relations, was wir als Kommunikationsmanagement verstehen wollen. Unter III. fasst der Autor kurz, in wenigen Sätzen zusammen, zu welcher Analyse der Managementlogik und des Managerhabitus er auf Basis der historischen Spurensuche gelangt (1.). Dann erörtert er in gedrängter Form, ob und inwiefern es Sinn macht, von einer PR-Logik und einem entsprechenden Habitus des PR-Praktikers zu sprechen (2.). In einem dritten Schritt versucht der Autor, Management- und wie auch immer geartete PR-Logik zu vereinen (3.). 1.
Die Managementlogik, der Managerhabitus: Ingenieur, Buchhalter, Beamter, Offizier Von Anfang an verdächtig ist, dass das, was uns heute als Theoretisierung über Manager gegenübertritt, auf der Oberfläche seltsam neutral und generisch anmutet: Wenn Malik kurz und bündig definiert, Manager sei „der Beruf des Resultate-Erzielens“ (2006, 84; vgl. auch A.I), dann pflichtet ihm der Autor zunächst einmal bei. Tatsächlich ist der Autor überzeugt, dass der ungeheure Erfolg westlicher Gesellschaften im Vergleich zu anderen im 18., 19. und 20. Jahrhundert nicht zuletzt auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass eine professionelle Managerklasse entstand (vgl. C.II.3). Die professionellen Manager spiegelten die Abkehr von einer traditionellen und die Hinwendung zu einer rationalen Lebensweise in ihrer Art zu arbeiten: Probleme, die in realen Organisationen auftraten, wurden nicht „irgendwie“ oder der Tradition gemäß gelöst, sondern einem spezifischen Kalkül unterworfen, welches sie rational und systematisch lösbar machte. Nach und nach begannen Manager ihren Job nicht in der Ausübung von Tätigkeiten zu sehen, sondern in der Verantwortung für Resultate im Rahmen ebenjenes Kalküls; die Aufgabe des Managers ist in letzter Konsequenz die kontinuierliche Durchsetzung des Kalküls gegenüber den kalkülfremden Trägheits-, Verkrustungs- und Verselbstständigungstendenzen „realer“ Organisationen. Das betriebswirtschaftliche Kalkül revisited Das Kalkül in seiner reinen, unverfälschten Form ist das betriebswirtschaftliche, wie es Gutenberg formulierte (vgl. A.II.3). Der Autor wagt aber die These, dass Manager eben gerade nicht das betriebswirtschaftliche Kalkül in seiner reinen Form durchsetzen, weil das in seiner Abstraktheit gar nicht handhabbar ist (es ist ein theoretisches, welches von der olympischen Perspektive ausgeht) – an die Stelle des genuinen betriebswirtschaftlichen Kalküls tritt die Managementlogik, welche durch einzelne Akteure handhabbar ist. Ingenieur, Buchhalter, Beamter, Offizier Bohrt man tiefer und gräbt die Wurzeln aus, dann tritt zutage, dass Management eben nicht der abstrakte Beruf des Resultate-Erzielens, sondern, salopp ausgedrückt, der Beruf des bestimmte Resultate-Erzielens in einer bestimmten Art und Weise darstellt. Die historische
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Spurensuche versuchte zu zeigen, dass der Managerhabitus – zumindest in westlichen Gesellschaften, und dazu gehört auch Japan – das technische Machbarkeitsdenken des Ingenieurs verbindet mit dem Ideal eines quantifizierbaren und jederzeit kontrollierbaren, geregelten Prozesses, wie ihn der Buchhalter, wie ihn der Verwaltungsbeamte in preußischWeber’scher Tradition schätzt. Ebenjenes etwas graue Bild ist ferner überlagert und durchsetzt vom Erbe des Militarismus. In Deutschland besteht eine nachvollziehbare Tendenz, das Erbe des Militarismus auszublenden, aber jeder ernstzunehmende Versuch, Management und Manager im hier und jetzt zu verstehen, muss in Rechnung stellen, dass die prägenden Kindheitsjahre des Managementgedankens im 18. und 19. Jahrhundert in eine Zeit fallen, da das Militär in westlichen Gesellschaften höchstes Prestige genoss und das Sammelbecken der gesellschaftlichen Elite darstellte. Noch für die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts gilt, dass eine ganze Generation von Führungskräften auf aktiven Militärdienst im Zweiten Weltkrieg zurückblickt. Das spiegelt sich, direkt und indirekt, in der Theoriebildung durch die Universitäten und Business Schools wider – ganz abgesehen davon, dass das Militär grundsätzlich über die längste ungebrochene Tradition der Theoriebildung zu Großorganisationen respektive -operationen verfügt. Anders ausgedrückt: Das Leitbild des Top-Managements ist eben nicht nur der große Unternehmer, der das große Geld macht. Das Leitbild ist auch der große Ingenieur, der die perfekte Struktur zeichnet. Und es ist eben auch der große Feldherr, der die brillante Strategie entwirft. Dass ein Konzept auf der Oberfläche neutral anmutet, während es sich bei näherer Betrachtung als überaus historisch und kulturell bedingt entpuppt, erklärt der Autor mit der Institutionalisierung der Managementlogik in unserer heutigen Gesellschaft: Die Schlagwörter auf der Oberfläche sind Effizienz, Effektivität und Optimierung, aber das eigentlich determinierende Element in der Tiefenstruktur ist die Äquivalentsetzung der buchhalterisch-quantifizierbaren Wertschöpfungslogik, der technischen Strukturlogik und der militärischen Strategielogik mit Rationalität – ebenjener „Rationalitätsmythos“ ist es auch, der von der neo-institutionalistischen Organisationstheorie aufs Korn genommen wird (vgl. 5.). Der Autor gesteht wie erwähnt gerne zu, dass es u. a. ebenjener Rationalitätsentwurf war, welcher westlichen Gesellschaften ihre ungeheuren ökonomischen Erfolge bescherte. Es gilt jedoch klar und deutlich zu sehen, dass die Managementlogik keine ultima ratio darstellt – sie hält nicht Antworten auf alle Fragen bereit, sondern bestimmte Antworten auf bestimmte Fragen. Keine Antwort auf alle Fragen Das hat zwei Konsequenzen, die es zu bedenken gilt: Für Kommunikationsmanagement hat es die Konsequenz, dass es eben nicht von vornherein selbstverständlich ist, dass sich die Managementlogik nahtlos und bruchlos jedem Gegenstand überstülpen lässt. Baecker machte geltend, dass schon die Überstülpung der betriebswirtschaftlichen Managementlogik auf Krankenhäuser, Universitäten und Schulen eine bedenkliche Operation darstellt (vgl. II.3.2). Genauso gut lässt sich aber die Frage stellen, ob es nicht Bereiche in Unternehmen gibt, die unter dem betriebswirtschaftlich-manageriellen Kalkül, besonders im Hinblick auf Quantifizierbarkeit, eines großen Teils ihrer Wirkungsmacht beraubt werden. Für Kommunikationsmanager ist die Konsequenz eine andere, aber verwandte: Sie besteht in der Einsicht, dass auch in der „rationalsten“ Organisation der Punkt kommt, an dem in einem Diskurs – der treffendere Ausdruck ist „Kräftemessen“ oder „Machtspiel“ – entschieden wird, was rational ist und was nicht. Das ist die Erkenntnis, die Organisationstheo-
III. Kommunikationsmanagement als wohlgeformte Praxis
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retiker wie H. Simon (1957, 1960), Cyert und March (1963) oder Crozier und Friedberg (1977) zunächst einmal der rein rationalen Organisationstheorie entgegenstellten, die dann in der systemisch-kybernetischen Organisationstheorie, etwa in der St. Galler Schule (Hans Ulrich, Fredmund Malik) aufging, die sich in der vorliegenden Arbeit in der Rede von einem Management Game spiegelt (zum „systemischen Spiel“ lesenswert Willke 2005b, 174-181). In der modernen Organisation ist das Spielfeld ebenjenes Top-ManagementDiskurses zwar durch das Vokabular „moderner“ Unternehmensführung begrenzt – Argumente, die nicht mit der betriebswirtschaftlichen Logik kompatibel sind, werden unter „Profis“ nicht ernst genommen. Unterm Strich ändert das aber nicht viel. Zerfaß, sicherlich der am tiefsten in der Betriebswirtschaftslehre verwurzelte PR-Theoretiker, gesteht das klar und deutlich zu. Unter Bezug auf die Arbeiten von Scherer und Braun macht er geltend, dass die betriebswirtschaftliche Logik sich eben nicht fundamental von der Common Sense-Logik oder „dem gesunden Menschenverstand“ unterscheidet, sondern lediglich in ihren Bezugspunkten, in Situationsdeutungen. So heißt es bei Zerfaß, ohne Effizienz, Effektivität und Optimalität von vornherein als ein Apriori zu setzen: [E]inem strategischen Plan ist umso mehr Rationalität zuzusprechen, je mehr gute Gründe und praktische Erfahrungen für die zugrunde liegenden Situationsdeutungen, Ziele und Mittelselektionen sprechen. (Zerfaß 2004, 247)
Im Rahmen der betriebswirtschaftlichen Logik bleibt also genügend Spielraum, um über „gute Gründe“ und „praktische Erfahrungen“ grundsätzlich zu streiten – und um grundsätzlich eigene Interessen hinter, neben oder gar vor den Interessen der Organisation zu verfolgen. Wenn der Autor argumentiert, dass Public Relations-Praktiker sich mit der Restilisierung zum Kommunikationsmanager auf ein völlig neues und anderes Spielfeld begeben, dann meint er damit genau das: Was auf der Oberfläche wie ein Diskurs um den vernünftigsten Kurs des Unternehmens aussieht, ist in der Tiefe der „existenzielle Dreikampf“ par excellence. Führungskräfte kämpfen um ihr eigenes Standing im Unternehmen, sie kämpfen um den Zusammenhalt des Unternehmens, und schließlich kämpfen sie um das Standing des Unternehmens gegenüber anderen. Die Argumente, mit welchen der Diskurs geführt wird, behauptet der Autor, sehen natürlich wie rein funktionale, rein managementpraktische aus: man argumentiert, dass etwas rational und funktional für die Organisation sei, und dass es dem State of the Art der Management- respektive Kommunikationsmanagement-Praxis entspreche. 2. Die PR-Logik, der PR-Habitus: Die Logik des dritten Weges Mit dem Versuch, die PR-Logik oder einen PR-Habitus aufzudecken, geht der Autor – anders als beim Managementhabitus, der das eigentliche Thema darstellt – sehenden Auges über das hinaus, was ihm die historiographische Spurensuche liefert. Gleichwohl glaubt der Autor, dass es möglich und sinnvoll ist, Mustern in der Geisteshaltung und Weltwahrnehmung von PR-Praktikern/Kommunikationsmanagern nachzuspüren (vgl. ähnlich, aber weitergehender auch L’Etang 2008). Der Autor argumentiert, dass eines der wichtigsten Muster das der „Logik des dritten Weges“ ist, das Entry der Öffentlichkeit als ein Tertium, die „gute“ Kommunikation (vgl. historisch aufschlussreich Hoy/Raaz/Wehmeier 2007).
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
a) Der dritte Weg: Soft Power In einem Aufsatz stellt Vercic, zweifelsfrei einer der Treiber hinter einem europäischen Forschungsprojekt „Public Relations“, das Konzept der Soft Power vor, wie es vom USamerikanischen Politikwissenschaftler Joseph Nye, Jr. entwickelt wurde: The basic concept of power is the ability to influence others to get them to do what you want. There are three major ways to that: One is to threaten them with sticks; the second is to pay them with carrots; the third way is to attract them or co-opt them, so that they want what you want. If you can get others to be attracted, to want what you want, it costs you much less in carrots and sticks. (Nye/Myers 2004; zit. n.Vercic 2008, 271)
Vercic konzediert, dass das Konzept ursprünglich entwickelt wurde, um eine Abgrenzung zwischen „harter“, militärischer oder ökonomischer Macht einerseits, „weichem“ kulturellideologischem Einfluss andererseits herzustellen, insbesondere im Kontext internationaler Beziehungen. Aber Vercic postuliert darüber hinaus einen Gedanken: „However, what I intend to demonstrate in this text is that soft power is nothing but public relations“ (Vercic, 2008, 271). Klarer und deutlicher tritt, wie der Autor glaubt, eine verborgene Grundannahme der Public Relations, sowohl der Theorie wie der Praxis, kaum einmal ans Tageslicht. Die verborgene Annahme ist die Idee, dass es neben den harten Fakten der Belohnung und Bestrafung einen dritten Weg, einen „third way“ gibt.92 Die Annahme spiegelt sich wider im zweiseitig symmetrischen Modell der Public Relations, wie es die Grunig’sche Exzellenztheorie entwickelt (z. B. Grunig/Grunig/Dozier 1996); im Burkart’schen Konzept der Verständigungsorientierten Öffentlichkeitsarbeit (VÖA), welches auf das Habermas’sche Konzept des eigentümlich zwanglosen Zwang des besseren Arguments setzt (vgl. jüngst Burkart 2008); in der Ronneberger’schen Argumentation, die PR als „Legitimation durch Information“ (Ronneberger 1977) auch unter Rückgriff auf öffentliche vs. Arkanpolitik ausarbeitet – ja, in jedem Konzept, welches Public Relations gleichzeitig als Durchsetzung eigener Interessen und gute, nicht-manipulative Kommunikation stilisiert. Symptomatisch ist z. B., was Spicer an prominenter Stelle, in einer Sonderausgabe des Journal of Public Relations Research forderte, wo er sich mit Public Relations in demokratischen Gesellschaften auseinandersetzt: „[P]ublic relations should serve as the referee for the often contentious problem-solving conversations necessary for a democratic society to thrive“ (2000, 129). Freilich, nach einer Win-win-Zone, einem Konsens oder zumindest nach einem Kompromiss zu suchen, ist im Einzelfall ein ehrenwertes Unterfangen – auch der Schiedsrichter ist ein ehrenwerter Beruf. Etwas problematischer gestaltet sich das Argument, wenn die Annahme die ist, dass es neben Belohnung und Bestrafung immer einen dritten Weg gibt. Und noch problematischer gestaltet sich es, wenn die Annahme ist, dass der dritte Weg immer der kostengünstigste ist. Wie L’Etang mit historischem Blick auf eine ähnliche Argumentation und unter Heranziehung des Mills’schen Power-Elite-Approaches (Mills 1956) herausgearbeitet hat, ist die Annahme äußerst gewagt, dass es aufgrund einer inhärenten, prästabilisierten „balance of power“ der Welt, immer einen dritten Weg gibt: Viele Interessen und Werte sind eben nicht und niemals miteinander zu vereinbaren. „It is clear that much public relations theory has been built on these shared and evidently flawed assumptions. If we fast-forward Mill’s critique to the present day and a globalized world, we 92
Für den Hinweis auf die Logik des dritten Weges dankt der Autor Prof. Dr. Bernd Schuppener.
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can see that such presumptions for public relations theory are not based on empirical evidence: the world is not stable, many interests and values are irreconcilable” (L’Etang 2008, 263). Und was die „Kostengünstigkeit“ anbelangt: Wie wir heute aus der Retrospektive auf das 20. Jahrhundert wissen, steht hinter der diplomatischen Soft Power keineswegs die Ehrenhaftigkeit demokratischer westlicher Politiker oder die Selbstevidenz der internationalen Erklärung der Menschenrechte, sondern nichts anderes als Hard Power, ökonomische Karotten und militärische Stöcke. Dem Autor geht es dabei nicht darum, dass vermeintlich smarte Versuche der Kooptation langfristig gesehen mehr Schaden angerichtet und mehr gekostet haben, als eine direkte, unverhohlene Politik von Zuckerbrot und Peitsche: Insbesondere die Geschichte der US-amerikanischen Diplomatie, einschließlich der Geheimdiplomatie, im 20. Jahrhundert zeigt das. Dem Autor geht es um die grundsätzliche Logik, welche postuliert, dass es nichts oder nur minimal kostet, Alter dazu zu bringen, zu wollen, was Ego will. Das ist eine Verschleierung, wie der Autor meint. Sie verdrängt, dass Alter in der Regel aus gutem Grund dasjenige will, was er will – genauso wie das bei Ego der Fall ist. Die Rede von Power impliziert, dass es grundsätzlich um Situationen geht, in welchen Ego seinen Willen gegen Alters durchzusetzen sucht. Wenn Alter sein Wollen ändert und jetzt mit einem Mal will, was Ego von Anfang wollte, obwohl sich die Hard Facts nicht geändert haben, dann kann der Sinneswandel eigentlich nur auf drei Veränderungen zurückzuführen sein: eine Veränderung der Wahrnehmung der angedrohten Bestrafung, eine Veränderung der Wahrnehmung der versprochenen Belohnung oder eine Veränderung der Wahrnehmung des Konfliktes zwischen Alter und Ego (vgl. auch Zerfaß 2004, 208-231). Der Autor betont also, dass die Karotten und Stöcke Bestandteil der Gleichung bleiben. Was eigentlich geschieht, ist, dass Ego versucht Alters Interpretation der Konfliktsituation, einschließlich des Verhältnisses von Belohnung und Bestrafung, zu verändern. Er versucht, um es klar und deutlich auszudrücken, Alter zu manipulieren – wobei die Manipulation nicht durch Karotten oder Stöcke, sondern durch Kommunikation (ähnlich Holtzhausen 2002) erfolgt. Anders ist die Aussage, dass Soft Power weniger oder gar nichts kostet, nicht zu erklären – denn ein „echtes“ Entgegenkommen kostet Ego Zugeständnisse, kostet Ego bei irreconcilable interests and values, den eigenen Standpunkt. Manipulation ist freilich ein Begriff, welchem sich der PR-Diskurs verwehrt; das zeigt sich an der Diskussion um Mertens Rede von der Lizenz zur Täuschung oder die Abgrenzung von PR und Propaganda. Der Habitus vieler PR-Theorien ist unausgesprochen der, dass gerade nicht Manipulation stattfindet, sondern Überzeugung, dass Ego Alter durch „gute Kommunikation“ zu einer Einsicht führt – so ähnlich wie die „Hebammenkunst“ des Sokrates die Gesprächspartner der platonischen Dialoge zur Wahrheit. Der Autor glaubt, dass die stillschweigende Annahme in toto zwar falsch ist, dass sie aber einen wahren Kern in sich birgt. Wo der wahre Kern liegt, erörtert die Arbeit noch. Worum es hier und jetzt geht, ist zu zeigen, dass der PR-Habitus zunächst einmal der des dritten Weges ist insofern, als PR-Praktiker tatsächlich nach Konsens, Kompromiss, nach einer Win-win-Zone suchen. Der PR-Habitus geht aber, wie der Autor glaubt, darüber hinaus. Denn der PR-Habitus sucht im Rahmen des dritten Weges abermals nach einem dritten Weg. Der Konsens, Kompromiss, die Win-win-Zone soll möglichst nicht durch Zugeständnisse seitens Ego hergestellt werden, denn dann verschwindet die eigentliche Leistung der Kommunikation. Er soll auch nicht durch Belügen, Täuschen oder Manipulieren des Alter
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hergestellt werden, denn das rückt die PR an Propaganda. Der dritte Weg im dritten Weg ist besagte „gute Kommunikation“.
Abbildung 39: Hard Power vs. Soft Power (Quelle: eigene Darstellung) b) Der dritte Weg im dritten Weg Abbildung 39 zeigt die drei Konstellationen. Oben links stehen Alter und Ego in einem offenen Aushandlungsverhältnis, bei welchem wechselseitig sticks und carrots angedroht bzw. angeboten werden. Oben rechts ist Ego dargestellt, welcher in irgendeiner Art und Weise, aber ohne wiederum sticks und carrots einzusetzen, Einfluss auf das Kräftefeld nimmt, welches Alters Wahrnehmung der Situation prägt. Ego „manipuliert“ Alter dahingehend, die seitens Ego ins Feld geführten Karotten und Stöcke zu über-, die eigenen Karotten und Stöcke zu unterschätzen oder den Konflikt anders wahrzunehmen als er ihn bisher wahrgenommen hat. Wie sieht der dritte Weg im dritten Weg aus? Der Autor glaubt, dass Public Relations ein Spezialfall von Soft Power ist. Abbildung 39 zeigt das. Stöcke und Karotten der dritten Art Wie ausgeführt ist der stillschweigende Rekurs auf eine „Hebammenkunst“, welche eine höhere Einsicht gebiert, in toto zwar falsch, aber sie enthält einen wahren Kern. Alter ist zunächst einmal kein Schüler, der durch den Lehrer, Ego, zu einer höheren Einsicht in das geführt wird, was er wirklich will – zu seinem Besten, versteht sich. Konflikte verschwinden nicht durch Zauberhand. Die PR-Logik operiert aber damit, dass sie in die Gleichung
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des Ego-will-dieses und Alter-will-jenes ein Tertium einführt. Das dritte Argument lautet, salopp ausgedrückt: „Was werden die anderen sagen?“. Die Einsicht, welche die Wahrnehmung von Alter verändert, ist die, dass von dritter Seite Karotten zu erwarten und Stöcke zu befürchten sind. Und die dritte Seite ist die wichtigste überhaupt: die der Ingroup, in der das eigene Standing gewahrt werden, die in ihrem Zusammenhalt gesichert werden muss. Public Relations/Öffentlichkeitsarbeit beginnen also, wenn Ego gegenüber Alter die Ingroup in generalisierter Gestalt als ein drittes Element invoziert, z. B. als Gesellschaft. Wie Heath (2006, 109) jüngst wieder herausgearbeitet hat, ist es ebenjene Argumentationsstruktur, die kritische PR-Theoretiker und -Historiker keineswegs als unproblematisch hinnehmen: „Olasky (1987) critiqued public relations for its tendency to privilege one interest over another while seeming to couch its claims in the larger public good. His indictment demonstrates the dark side of public relations, which, in this approach to the public interest, actually advances some private interest to the likely disadvantage of other interests.” Es ist erstaunlich, dass die Kommunikations- und Medienwissenschaft die zwei Phänomene in seltener Klarheit herausgearbeitet hat, welche öffentliche Karotten respektive öffentliche Stöcke konstituieren: Es handelt sich um den Bandwagon Effect auf der einen Seite, die Theorie der Schweigespirale auf der anderen Seite. Noelle-Neumann, als Autorin der Schweigespirale, arbeitet die zwei gegenläufigen Effekte heraus, wenn sie geltend macht: Die Schweigespirale ist nicht identisch mit dem bekannten Bandwagon Effect, der besagt, Menschen würden ‚dem Wagen mit der Musikkapelle’ nachlaufen, weil jeder, so wird dieser ‚Mitläufereffekt’ erklärt, auf der Seite der Sieger stehen wolle. Richtig ist, das beides – Bandwagon Effect und Schweigespirale – Reaktionen auf die Umweltbeobachtung sind, welches Lager stärker wird und welches schwächer. Der Unterschied ist: Beim Bandwagon Effect winkt eine Belohnung, nämlich die, auf der Seite des Siegers zu sein. Die Schweigespirale wird dagegen von Furcht vor Bestrafung in Gang gesetzt, von der Furcht, isoliert, ausgestoßen zu werden. (Noelle-Neumann 2002, 404)
Die dritte Instanz: Die öffentliche Meinung Sticks und carrots bleiben also, wie bereits angedeutet, Teil der Gleichung, aber es kommt ein neuer und mächtiger Akteur ins Spiel, der sie schwingt: Das Allgemeininteresse, das in der Habermas’schen Lesart freilich ein fingiertes ist, die öffentliche Meinung oder öffentliche Meinungen, um das wunderschöne Bild Ferdinand Tönnies’ (1922) zu gebrauchen, in entweder festem, flüssigem oder gasförmigem Aggregatszustand (vgl. auch Imhof 2003, 197ff.). Ansätze, welche Public Relations in Richtung Konfliktlösung drängen, Public Relations auf nichts anderes als Verständigung zwischen zwei Parteien zurückführen, gehen damit an einem entscheidenden Wirkungszusammenhang vorbei – auch wenn man eine Partei als eine Teilöffentlichkeit zeichnet. Theoriebildung, welche Public Relations als dyadische Relation zwischen zwei Akteuren, zwischen Organisation und Stakeholdern konzipiert, driftet in Sphären ab, welche zwar noch immer viel mit Kommunikation, aber nach Ansicht des Autors nicht mehr viel mit Öffentlichkeitsarbeit zu tun haben. Public Relations ist dann, wenn man nicht wiederum stillschweigende Definitionskriterien voraussetzt, sehr schwer zu unterscheiden von Stakeholder-Management. Abbildung 40 vergegenwärtigt die zwei Modi, einmal eine dyadisch-private Beziehung „hinter den Kulissen“, einmal dieselbe Beziehung als dyadisch-öffentliche, bei der die Akteure eben berücksichtigen müssen, dass ihre Entscheidungen, Handlungen und Aussa-
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gen in der Öffentlichkeit „gespiegelt“ werden. Und nicht nur gespiegelt. Abbildung 40 zeigt, dass die Akteure nicht nur jeweils berücksichtigen müssen, dass ihre jeweiligen Entscheidungen, Handlungen und Aussagen gegenüber dem anderen Einfluss haben auf ihr eigenes Standing in der Ingroup wie auch auf das Standing des anderen. Sie müssen darüber hinaus noch berücksichtigen, dass die Spiegelung ihrer Entscheidungen, Handlungen und Aussagen gar keine authentische Spiegelung ist, sondern eine Rekonstruktion gemäß der Logik des jeweiligen „Spiegels“, der eben auf bestimmte Cues und Marker anspricht, auf andere eben nicht. In der Verallgemeinerung lässt sich darüber hinaus sagen, dass der Prozess der Spiegelung oder Rekonstruktion eines Sachverhaltes in der Arena der Öffentlichkeit ebenjenen Kräften unterliegt, welche, wie der Autor meint, jedes soziale Geschehen durchwirken, nämlich Friktion, Tension und Kompetition. Friktion bedeutet, dass Details abgeschliffen werden, sie gehen verloren: Was sechs Ecken hat, ist in der Öffentlichkeit quadratisch, was acht Ecken hat ist rund. Tension bedeutet, dass die Rekonstruktion in einem Spannungsfeld geschieht. Dass insbesondere die journalistische Rekonstruktion eigenen Regeln folgt, wurde in der Arbeit erörtert. Ego möchte die Geschichte in dieser Art und Weise erzählt haben, Alter in jener, ein Journalist möchte eine Geschichte erzählen, die wirklich eine Geschichte ist – er möchte einen großen schwarzen Goliath und einen kleinen weißen David, wie in Abbildung 40. Kompetition bedeutet schließlich, dass die Rolle des Goliath und des David nicht nur vom Akteur selbst abhängt, sondern auch davon, wer ihm in der Geschichte gegenübersteht. Im Kontrast mit Shell Deutschland fand sich Greenpeace in der David-Rolle, im Kontrast mit einem ausgebeuteten Mitarbeiter der eigenen Organisation sieht das mit einem Mal anders aus.
Abbildung 40: Die Arena revisited (Quelle: eigene Darstellung) Dyadische private Struktur und öffentliche Meinung Um es noch einmal herauszuarbeiten: Es ist irreführend, Public Relations als eine private dyadische Kommunikation zwischen einer Organisation und einem Stakeholder zu zeichnen, in der sich die zwei Parteien wie bei einem Schachspiel gegenübersitzen und in Privatheit, hinter verschlossenen Türen, Manöver vollführen, dann aber aufgrund „guter Kommunikation“ feststellen, dass der Wettkampf nichts bringt, ein Remis eintragen und Arm in
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Arm von dannen ziehen. Shell wurde nicht durch Greenpeace oder durch die GreenpeaceKommunikation gezwungen, im Fall der Brent Spar klein beizugeben, sondern durch öffentlichen Druck (vgl. Vowe 1997), der durch Greenpeace initiiert, aber nicht generiert wurde. Wenn man das Bild des Schachspiels beibehalten möchte, dann gilt es herauszuarbeiten, dass die Spieler wie bei einem Wettkampf in einer Arena sitzen. Dann gilt es auch herauszuarbeiten, dass die Arena in der Regel nicht nur ein schweigendes, wohlinformiertes Fachpublikum beherbergt, welches jedes Manöver der Parteien en detail analysiert. In der Arena ist es laut, Publikum und andere Akteure kommen und gehen, einige wenige sehen genau hin, die Mehrzahl hat andere oder mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Ob ein Zug „wirklich“ richtig und falsch, gut oder schlecht war, wer „wirklich“ gewonnen oder verloren hat, weiß niemand. Da das niemand weiß, orientiert sich das Publikum an Cues und Markern. Ein strahlender, lächelnder Spieler muss wohl gewonnen haben, ein verbitterter muss wohl ein Verlierer sein. Und jetzt versucht der verbitterte Verlierer, seine Niederlage in ein „akzeptables Resultat“ umzumünzen – wie peinlich. Die Auseinandersetzung mit Gegenstandpunkten hebt den des Autors noch einmal hervor: Erstens ließe sich ins Feld führen, dass Fälle wie Greenpeace und Brent Spar, große, öffentliche Auseinandersetzungen, eben Ausnahmen darstellen. Das tägliche Brot der Öffentlichkeitsarbeit ist jedoch nicht die Auseinandersetzung mit einer zweiten Partei, sondern schlicht und einfach die Information – das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung setzt die Bürgerinnen und Bürger von einer Initiative der Regierung in Kenntnis, klärt sie darüber auf. Der Autor meint: Sieht man genauer hin, stellt man fest, dass es sich dennoch um eine dyadisch-private Struktur vor dem Hintergrund der öffentlichen Meinung handelt, nur in Millionen und Abermillionen einzelner Fälle. Die Regierung versucht, jeden einzelnen Bürger dazu zu bringen, das zu wollen, was sie auch will – und sie tut das durch Suggerierung, dass er es wollen sollte, weil es im öffentlichen Interesse, im Interesse der Gemeinschaft, im Interesse der Ingroup ist. Werbung, im Gegensatz, versucht das nicht. Um in die Terminologie zurückzukehren, die unter A. eingeführt, unter I. weiter entwickelt wurde: die Regierung spricht den Resonanzboden des Staatsbürgers, spricht die internalisierte öffentliche Meinung an (oder das, was sie für die internalisierte öffentliche Meinung hält). Zweitens ließe sich ins Feld führen, dass der Autor mit der Orientierung auf das Tertium der öffentlichen Meinung ein altmodisches PR-Denken vertritt. Die „eigentliche“ PR bestehe doch darin, wie es etwa die Exzellenztheorie herausarbeitet, gute Beziehungen zu Stakeholdern, Anspruchsgruppen, Interessens- oder Bezugsgruppen herzustellen, und zwar bevorzugt in bilateraler, dialogischer, symmetrischer Art und Weise. Dem möchte der Autor die Frage entgegnen, weshalb die Organisation versucht, bilaterale gute Beziehungen herzustellen, wodurch Anspruchsgruppen überhaupt erst zu Anspruchsgruppen werden? Da der Autor, anders als die Stakeholder-Theorie, weder der PR-Logik noch der unternehmerischen Logik ein Kant’sches ethisches Rational unterschieben möchte, welches Anspruchsgruppen nicht nur als Mittel, sondern als Zweck sieht93, bleibt nur eine Antwort übrig: Die Organisation anerkennt Anspruchsgruppen nur, wenn sie auch nur annähernd in der Lage ist, sich auszumalen, dass das Anliegen der Anspruchsgruppe durchsetzungsfähig ist – oder 93
Anders Bowen (2004, 2005), die genau das vorschlägt. Vgl. ferner auch die wirtschaftsethische Argumentation bei Ulrich (1998), die zwischen einem machtstrategischen und einem normativ-kritischen Verständnis des Begriffes unterscheidet und auch bereits in die PR-Lehre eingeführt wurde (vgl. etwa Karmasin 2007).
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in der öffentlichen Meinung anschlussfähig, darüber wiederum durchsetzungsfähig. Erst dann setzt ein wie auch immer geartetes ethisches Kalkül ein. Eine Organisation mit hohen ethischen Ansprüchen anerkennt eine Gruppe als Anspruchsgruppe, wenn sie theoretisch ein berechtigtes Anliegen hat. Eine Organisation mit niedrigen ethischen Ansprüchen beschäftigt sich nur mit Anspruchsgruppen, die praktisch willens und fähig sind, ihre Ansprüche auch anzumelden und durchzusetzen. Ob ein Anliegen berechtigt ist, lässt sich aber nicht aufgrund eines voraussetzungslosen Kalküls entscheiden, sondern stellt im Prinzip die Frage nach der öffentlichen Anschlussfähigkeit im anderen Gewande dar. c) Die drei Charakteristika des PR-Habitus Im Lichte der vorgestellten Überlegungen zum modus operandi der Public Relations, vulgo „PR-Denke“, postuliert der Autor drei Charakteristika des PR-Habitus. Um Missverständnisse zu vermeiden: Der Autor behauptet nicht, dass jeder PR-Praktiker diese als eine déformation professionelle aufweist. Er behauptet, dass der PR-Habitus ein bestimmter ist, der sich von den Geisteshaltungen anderer Berufe und Professionen – etwa von Ingenieuren, Soldaten, Buchhaltern, Managern – unterscheidet. Die drei Charakteristika sind (1) eine Tendenz, Konflikte aufzulösen statt sie auszutragen; (2) eine empfindliche soziale Haut; (3) eine ausgeprägte Bewusstheit für die Unterscheidung von Sein und Schein respektive eine Multiperspektivierung der Welt. Konflikte auflösen statt sie auszutragen Wenn man konzediert, dass die Public Relations-Logik diejenige ist, welche den dritten Weg im dritten Weg sucht, dann ist es plausibel zu postulieren, dass das erste Charakteristikum des PR-Habitus die Tendenz ist, Konflikte aufzulösen statt sie auszutragen. Das ist bei militärischem Personal, das gezielt auf die gewaltsame Durchsetzung in Konflikten vorbereitet wird, völlig anders. Insofern war es für den Autor interessant, Konfliktsituationen zu beobachten. Und von ganz besonderem Interesse war es, Konfliktsituationen zu beobachten, in denen der Kandidat die prinzipielle Möglichkeit hatte, „die Muskeln spielen zu lassen“ und Macht auszuüben – etwa in Führungssituationen. Die Frage nach der Machtausübung stellte für viele der beobachteten Praktiker ein Thema dar, welches in den Interviews und auch in Feldgesprächen, in Episoden und Anekdoten angesprochen wurde. An sich ist das nicht überraschend: Durchsetzung stellt für jede Führungskraft ein entscheidendes Thema dar. Die Art und Weise, wie die Thematik problematisiert wurde, wertet der Autor jedoch als Indiz dafür, dass der PR-Habitus des Konflikte-Auflösens und der „klassische“ Führungskräftehabitus sich nicht hundertprozentig vertragen. Für Kommunikationsmanager, das ist die These des Autors, stellt es eine Herausforderung dar, nach innen, in der Führung ihrer Mitarbeiter aus dem Habitus herauszutreten, der im Umgang mit Journalisten sowie inner- und außerorganisatorischen Interessengruppen gerade das Charakteristikum des PR-Agierens ist. Das Spannungsfeld, in welchem zunächst einmal jede Führungskraft steht, in welchem Kommunikationsmanager in besonderer Art und Weise stehen, spiegelt sich augenfällig in der Sowohl-als-auch-Struktur der Ausführungen, die Managerin B zu ihrem Führungsstil macht. Obwohl Managerin B subjektiv als äußerst durchsetzungsstark empfunden wurde, ist selbst bei ihr eine Logik des dritten Weges am Werk.
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Ich lege sehr viel Wert darauf, dass Entscheidungen, die ich hier treffe – im Team – nach Möglichkeit auch durch einen Konsens getragen werden. Denn sonst funktioniert das nicht. Es gibt natürlich einen Prozentsatz an Entscheidungen, wo ich sage: Ihr könnt mir jetzt erzählen, was ihr wollt, aber das entscheide ich anders. Das kommt sehr selten vor. Weil ich jemand bin, der Entscheidungen gerne mal auf eine breitere Basis stellt – damit alle mitmachen. Ich habe nichts davon, wenn ich alleine eine Entscheidung einsam treffe – und den Rest der Truppe nicht mitnehme. Weil die das ganz anders sehen. So was kann schon mal passieren – aber, wie gesagt, ich kann mich kaum an derartige Dinge erinnern. Und wenn, dann versuche ich es den Leuten so klarzumachen, dass sie auch meine Motivation verstehen. Warum ich es anders entscheide. Aber grundsätzlich ist die Grundlage meiner Entscheidung: Gespräche mit den Leuten, die etwas davon verstehen – und denen, die es nachher umsetzen müssen.
Eine Episode verdeutlicht, dass in der konkreten Situation der Wechsel von einem Habitus in den anderen nicht immer gelingt. Manager C focht während der Beobachtungswoche einen Strauß mit einer seiner Sekretärinnen aus. Der Konflikt kulminierte in einem klärenden Gespräch, an welchem der Autor natürlich nicht teilnahm. Um sich auf das Gespräch vorzubereiten, zog Manager C aber seine Abteilungsleiter zu Rate, wobei der Autor teilnahm. Ohne eine derartige Momentaufnahme überzubewerten, war es erstaunlich zu verfolgen, welche Anstrengungen Manager C unternahm, um gemeinsam mit seinen Abteilungsleitern eine „diplomatische“ Herangehensweise zu finden, welche eine Auseinandersetzung vermeiden würde. Nicht ein einziges Mal kam das Argument der Hard Power, der sticks and carrots zur Sprache: dass man der Dame einfach sagen sollte, was zu tun und zu lassen sei. Als der Autor zu einem späteren Zeitpunkt auf die Episode zu sprechen kam, zeigte sich Manager C nicht überrascht. Er gestand zu, dass er oft „zu nett“ sei. In einer Anekdote berichtete er, dass er nach einem seiner höchst seltenen Wutausbrüche von verschiedenen Mitarbeitern das Feedback bekommen habe, dass man sich das, „eine klare Ansage“, schon lange von ihm gewünscht habe. Eine empfindliche soziale Haut Das zweite Charakteristikum des PR-Habitus ist eine empfindliche soziale Haut im NoelleNeumann’schen Sinne, denn um den sozialen Druck einer Ingroup instrumentalisieren und auch dosieren zu können, muss ein Akteur die Sensibilität besitzen, diesen Druck selbst – in Simulation der Perspektive des anderen (unter D führt die Arbeit das noch aus) – wahrzunehmen und einzuschätzen. Managerin B brachte das auf den Punkt, als sie im Interview auf die Frage antwortete, welche Kompetenzen sie besäße, ohne welche sie jetzt nicht in ihrer derzeitigen Position wäre: Wenn ich jetzt einen Schritt zurücktrete, würde ich sagen: Ich bin jemand, der relativ schnell bestimmte Strömungen aufnehmen kann. Zwischenmenschlicher Art. Was es mir ermöglicht, auch die Zwischentöne relativ schnell zu realisieren – die in der Kommunikation ganz wichtig sind. Sie müssen ja immer verschiedene Interessen bündeln. Und dann muss ich sie nach außen kommunizieren. Und wenn man dann nicht hört: Was könnte noch so dazwischen hängen? – dann können sie ganz schnell auf dem falschen Pferd sitzen. Und das gibt dann ganz große Schwierigkeiten, wenn in der externen Kommunikation alles nicht so rüberkommt, dass auch der interne Teil damit leben kann. […] Und ich glaube, dass ich auch einigermaßen einschätzen kann: Wo steht er? Was will er? Welche Interessen hat er? Und kann die dann auch mit anderen Interessen einigermaßen ausgleichen. Ich bin also auch ein ausgleichender Mensch. Das muss man sein, wenn man so viele Interessen – die es immer in einem Unternehmen oder einer Institution gibt – zusammenführen will. Um sie dann mit einer Sprache nach draußen zu vertreten. Da muss der interne Bereich mit leben können. Da müssen alle sich committen können. Alle müssen das Gefühl haben, dass sie berücksichtigt worden sind. Das ist natürlich schon eine große Herausforderung. Aber das ist es, was ich – glaube ich – kann.
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Was Managerin B beschreibt, stellt in der Verallgemeinerung eine soziale Kompetenz dar, welche man eher besitzen sollte als nicht. Eine derartige generische Kompetenz als Charakteristikum des PR-Habitus zu kennzeichnen, führt erst dann zu einem Erkenntnisgewinn, wenn man sie in ein Akteurskonzept integriert, das von einer begrenzten Kapazität der Komplexitätsverarbeitung ausgeht und die Beschränktheit unseres Erkenntnisapparates ernst nimmt. Dann tritt hervor, dass es ein Charakteristikum des PR-Habitus ist, dort Probleme zu entdecken, wo andere – die aus einer anderen Geisteshaltung heraus operieren – entweder gar nichts sehen oder nichts als neu oder wichtig begreifen: in Relationen. Das ist sowohl als Vorteil als auch als Nachteil zu werten. Es ist ein Vorteil, wenn die subtile Balancierung tatsächlich erforderlich ist, um ein Projekt zum Erfolg oder ein Unternehmen aus der Krise zu führen: Der sturköpfige Unternehmenspatriarch ist nicht in der Lage, sich selbst aus der Krise zu befreien, weil er die Legitimität der an ihn herangetragenen Ansprüche gar nicht sieht. Es ist ein Nachteil, wenn die Sensibilität gegenüber dutzenden und aberdutzenden von Anspruchs-, Bezugs- und Interessengruppen dazu führt, dass sich ein gordischer Knoten entwickelt: Manchmal „ist“ die Situation de facto simpel und der sturköpfige Unternehmenspatriarch hat Recht, wenn er sich entschließt, sie auszusitzen oder den gordischen Knoten zu zerschlagen. Schein und Sein: Multiperspektivierung der Welt Das dritte Charakteristikum des PR-Habitus ist, wie der Autor glaubt, dass PR-Praktiker konsequenter als andere Akteure parallel in zwei oder mehreren „Welten“ leben und handeln. Derjenige, der die „PR-Denke“ verstanden hat, stellt einen dreifachen Zusammenhang in Rechnung, welchen schlechte, unbegabte „Kommunikatoren“ nicht in Rechnung stellen. Erstens ist das der bereits erwähnte Zusammenhang, dass für Menschen ihre jeweilige Ingroup der Rationalitätshintergrund ist, durch den „Fakten“ Sinn, Wert und Bedeutung erhalten, auf welchem Kommunikation resoniert. Zweitens ist es der Zusammenhang, dass die Wahrnehmung des Menschen, gerade wo es sich um schwierige Zusammenhänge und Angelegenheiten dritter Parteien handelt, eine sehr oberflächliche ist: eine, die von Cues und Markern gesteuert wird. Drittens determinieren in vielschichtigen Gesellschaften derartige Cues und Marker auch, auf welcher von mehreren Resonanzebenen ein Kommunikationsakt resoniert. In der Terminologie der Branche ausgedrückt: Erstens muss man die Leute dort abholen, wo sie stehen. Zweitens ist es möglich – wenn man weiß, wo die Leute stehen – ein und derselben „Story“ einen solchen oder solchen „Spin“ zu geben. Drittens ist es möglich, ein Faktum so oder so zu „framen“, ohne das Faktum selbst zu verändern. Dem Autor geht es nicht darum, die Rede von Wahrheit und Lüge aufzugeben, wie das bei einigen konstruktivistisch inspirierten Autoren gelegentlich aufscheint, zuletzt bei Merten, der Public Relations eine „Lizenz zur Täuschung“ ausstellte (Merten im Juni 2008 auf dem Careers Day der Universität Münster). Wenn ein Unternehmen 5 000 Personen entlässt, dann entlässt es 5 000 Personen. Jeder ist in der Lage zu begreifen, was das als nackte Tatsache bedeutet – wer versucht, auf dieser Ebene etwas anderes zu behaupten, ist ein Lügner. Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass nicht die nackten Tatsachen interessant sind, sondern ihre Resonanz in der jeweils spezifischen und konkreten Situation, in der jeweiligen Ziel-, Bezugs- oder Anspruchsgruppe. Wer die Unterscheidung von Fakten auf der einen Seite, Resonanz der Kommunikation der Fakten bei bestimmten Individuen oder Gruppierungen auf der anderen Seite auflöst, ist nicht in der Lage, gute von schlechten, richtige von falschen Public Relations zu unterscheiden. Das trifft auf diejenige Theoriebil-
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dung zu, welche gute Public Relations gemäß des naiv-journalistischen Ideals als Darstellung der Dinge „so wie sie sind“ begreift, alles andere aus der Praxis herausdefiniert. Das trifft aber auch auf die konstruktivistische Theoriebildung zu, so sie die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion aufgeben möchte. Im theoretischen Teil D geht der Autor der erkenntnistheoretischen Herausforderung noch einmal ausführlich nach. Worum es dem Autor hier und jetzt geht, ist die Feststellung, dass der PR-Habitus in äußerst starkem Maße davon gekennzeichnet ist, dass die Frage, wie sich ein bestimmter Sachverhalt für einen Praktiker selbst verhält („Sein“) mehr und mehr getrennt gesehen wird von der Frage, wie er bei diesem oder jenen Individuum, bei dieser oder jener Gruppierung wirkt („Schein“). Ob das eine Prädisposition der in diesen Beruf drängenden Akteure ist oder eine Lernerfahrung aus der Berufskarriere, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass die Multiperspektivierung von „Fakten“, das Agieren in mehreren „Welten“, das ständige, alltägliche Erleben eines Unterschiedes zwischen Sein und Schein nicht selbstverständlich ist. Es gibt Berufe, im Rahmen derer die Akteure in ihrer „Welt“, in ihrem professionellen Zirkel verbleiben – und demnach, gerade umgekehrt, Tag für Tag die Erfahrung machen, dass andere die gleichen Probleme sehen, und zwar in der gleichen Art und Weise wie sie selbst. Seine These, dass das Agieren in einem multiperspektivischen Modus zwar stimulierend sein mag, aber zu einer enormen, das Individuum belastenden Komplexitätssteigerung führt, möchte der Autor der Berufsfeldforschung ans Herz legen. 3.
Fazit: Kommunikationsmanagement und die Synthese von Management- und PR-Denken Nach einer Betrachtung der Managementlogik und des Managementhabitus auf der einen, der PR-Logik und des PR-Habitus auf der anderen Seite, stellt sich schließlich die Frage nach der Synthese respektive Unterwerfung. Was bedeutet es, nicht nur der Form, sondern dem Inhalt nach von einer Unterwerfung der Öffentlichkeitsarbeit unter die Managementlogik zu sprechen? Und inwiefern sind die Logiken überhaupt miteinander vereinbar? Was er mit Unterwerfung meint, diskutiert der Autor anhand von fünf Facetten, auf die im Rahmen der historischen Spurensuche ein Licht geworfen wurde, die jetzt in ihrer Bedeutung für Public Relations und Kommunikationsmanagement ausgeleuchtet werden. Die Facetten bilden die Struktur der folgenden Kapitel ab:
Management als rational-systematisches Problemlösen Management und Arbeitsteiligkeit Gesamtverantwortung in Raum und Zeit: Strategie Regelung statt Steuerung: Resultatsorientierung Autonomie hinsichtlich Job-Framing: Verantwortung für den wohlgeformten Job
Der Autor versucht, die fünf Facetten so weit wie möglich auf Basis der PR-Theorie zu diskutieren, weil sie sich vor einem theoretischen Hintergrund klarer abheben, die Diskussion dadurch abgelöst von der Spekulation über Praktikerdispositionen geschieht. Der Autor ist jedoch überzeugt davon, dass es sich bei den fünf Aspekten um ebenjene handelt, welche sich nicht nur theoretisch niedergeschlagen haben, sondern auch in die Köpfe der Praktiker eingedrungen sind. Um zu A zurückzukehren: Es geht in erster Linie um die sub-
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jektiv-impliziten, stillschweigenden working theories der Praktiker, erst in zweiter und nachgeordneter Linie um die objektiv-expliziten Theorien der Theoretiker (vgl. A.II.7). Wie der Autor glaubt, stehen die einzelnen Aspekte nicht gleichberechtigt nebeneinander. Die Facetten, die der Autor zuerst diskutiert, sind auf der Oberfläche angesiedelt. Sie stehen reflektierenden Praktikern bewusst vor Augen, werden absichtsvoll als ein Ideal verfolgt – und finden entsprechend, objektiv und explizit, einen Niederschlag in der Theorie. Je weiter die Diskussion voranschreitet, desto mehr handelt es sich um Ideen, die abgesunken sind und im Verborgenen wirken. Das führt dazu, dass sie sich nicht objektiv und explizit in der Theorie niederschlagen, sondern subjektiv und implizit in der Metaphorik. 3.1 Rational-systematisches Problemlösen Die erste Facette – die Abkehr von einer traditionellen und die Hinwendung zu einer rational-systematischen Vorgehensweise – spiegelt sich in der PR-theoretischen Literatur wie kaum eine andere: Kaum ein wissenschaftliches Werk versäumt es, mehr Systematik und größere Methodik in der PR- respektive Kommunikationsarbeit zu fordern.94 Das verwundert nicht. Als bloße Form verstanden, präsentiert sich der Managementgedanke nüchtern und inhaltsleer – bereit, jeder beliebigen Fragestellung übergestülpt zu werden. Der Autor möchte jedoch herausarbeiten, dass der Managementgedanke einen Inhalt hat, der reicher ist und tiefer greift als eine nüchterne, inhaltsleere Systematik. Der Managementgedanke geht Hand in Hand mit einer spezifischen, die Weltwahrnehmung und Problemlösung determinierenden Rationalität. Das lässt sich dann herauspräparieren, wenn man Systematik und Rationalität separiert. 3.1.1 Systematik: Von Affen und Menschen Autoren, welche die Managementkomponente von PR- oder Kommunikationsmanagement ausbuchstabieren, verweisen gewöhnlich auf einen vierstufigen Prozess. Zerfaß beispielsweise differenziert die Phasen des Managementprozesses in (1) PR-Analyse, (2) Planung von PR-Programmen, (3) Realisation von Kommunikationskonzepten, (4) PRErgebniskontrolle (2004, 320). Kenner der PR-Konzeptionslehre werden in Zerfaß’ vier Schritten den Four Step Public Relations-Process ausmachen, wie er von Cutlip, Center und Broom (vgl. 2006, 283) ausgearbeitet wurde, und sie werden wissen, dass er sich als Blaupause durch die PR-Konzeptionslehre zieht. Kenner der betriebswirtschaftlichen Literatur und der Managementliteratur, wie etwa Zerfaß selbst, sind sich darüber hinaus der Tatsache bewusst, dass die vier Schritte nichts anderes darstellen als die Phasen des klassischen Zyklus der Unternehmenssteuerung, auch wenn zwischen einem strategischen und einem synoptischen Managementkonzept Welten liegen. Das Problem ist, dass der vierstufige Prozess ein generischer ist; per se hat er nichts mit Management oder Kommunikationsmanagement zu tun. Wer im Mathematikunterricht aufmerksam war oder sich für mathematische Pädagogik interessiert, hat nicht den Zyklus der Unternehmenssteuerung oder die PR-Konzeptionslehre vor Augen, sondern George Pólyas four principles des systematischen Problemlösens. Pólyas four principles sind als 94
Für einen Überblick über die Logik der PR-Konzeptionslehre vgl. Bentele/Nothhaft 2007, 359-362; Bentele/Nothhaft 2008, 50-55; lesenswert ferner Liebert 2008; Szyska 2008a; Merten 2000; Baerns 2005.
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Standardmethode in US-amerikanische Mathematik-Textbooks eingegangen. Sie lauten im Original: (1) Understand the Problem; (2) Devise a Plan; (3) Carry out the Plan; (4) Review/Extend.95 Was Cutlip, Center und Brooms vier Schritte beschreiben, stellt nicht einmal ein exklusives Charakteristikum menschlicher Problemlösung dar. Wer sich für biologische Verhaltensforschung interessiert, fühlt sich an die klassischen Experimente erinnert, welche der Gestaltpsychologe Wolfgang Köhler Anfang des 20. Jahrhunderts auf Teneriffa durchführte. Wie sie belegten, lässt sich der Prozess systematischer Problemlösung bereits bei höher entwickelten Tieren beobachten. In Köhlers Fall geschah das bei Schimpansen. Ein frei nacherzähltes Beispiel aus Köhlers Versuchsanordnungen vergegenwärtigt die vier Schritte:
Analyse. Es wird ein Problem oder mehrere miteinander verknüpfte Probleme festgestellt. Der Schimpanse stellt beispielsweise fest, dass er hungrig ist, dass an der Decke des Käfigs eine Banane hängt, dass er aber nicht an die Banane gelangt. Konzeption. Es wird ein Verfahren entwickelt, welches mutmaßlich, aus der subjektiven Sicht des Problemlösers geeignet ist, das Problem zu lösen. Der Schimpanse „überlegt“ sich beispielsweise, dass er vielleicht an die Banane gelangt, wenn er sich auf diese Kiste dort drüben stellt oder jenen Stock ergreift. Implementation. Das entwickelte Verfahren wird durchgeführt. Der Schimpanse schiebt also eine Kiste unter die Banane, klettert auf die Kiste. Evaluation. Ist das Problem gelöst, das gewünschte Ergebnis erzielt? Wenn ja, ist der Prozess beendet. Wenn nein, wird er iteriert – entweder wird das entwickelte Verfahren besser wiederholt oder aber, ausgehend von einer wiederholten Analyse, ein besseres Verfahren entwickelt. Der Schimpanse stellt die Kiste also beispielsweise hochkant. Oder er stellt fest, dass noch eine Armeslänge fehlt und überlegt sich, dass ihm ein Stock helfen würde. Oder er überlegt sich, mehrere Kisten übereinander zu stapeln.
Aus Köhlers Beschreibungen (Köhler 31992) geht eindeutig hervor, dass die geschilderten Handlungsweisen nicht aus bloßem, unsystematischem Experimentieren resultierten oder, wie Popper sagen würde, „Probierbewegungen“ darstellen (2006, 17). Was die Schimpansen taten, unterscheidet sich ferner von bloßem Kopieren respektive Emulieren, bei welchem z. B. zufällig durch Probierbewegungen entdeckte oder bei anderen beobachtete Vorgehensweisen ins Verhaltensrepertoire übernommen werden.96 Sie beruhten auf der geistigen Vorwegnahme eines geeigneten Lösungsweges: Die Schimpansen saßen zunächst ruhig da und blickten zwischen der Frucht, den Kisten sowie dem Platz unter der Frucht hin und her. Erst dann stapelten sie die Kisten, holten die Frucht herunter. Wenn Merten (2000), wenn Bentele und Nothhaft (2007; 2008) argumentieren, dass es in der PR-Konzeptionslehre zwar dutzende von Modellen gibt, dass sich aber jedes Modell 95 Die „Erfindung“ derartiger basaler und generischer Modelle einem definitiven Autor zuzuschreiben ist zwar gewöhnlich vergeblich, gleichwohl sei erwähnt, dass sich der vierstufige Prozess in How To Solve It (1945), einem Lehrbuch über systematisches mathematisches Problemlösen, findet. George Pólya (1887-1985) war Professor für Mathematik an der Harvard University und ein Mentor des Spieltheoretikers John von Neumann, über den er sagte, er sei der einzige Schüler gewesen, der ihm Angst gemacht habe. 96 Junge Schimpansen „lernen“ etwa, wie man Termiten mit Stöckchen aus ihrem Bau stochert – im Unterschied zu Menschen lernen sie es aber ausschließlich durch Beobachtung; erwachsene Schimpansen gehen nicht soweit, ihnen Werkzeuggebrauch beizubringen. Vgl. hierzu ausführlich Tomasello 2006, Kap. 2.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
auf die vier Phasen reduzieren lässt, dann hat das eine einfache Begründung. Bei den vier Phasen handelt es sich um nichts anderes als den Prozess systematischen Problemlösens: (1) Analyse des Problems; (2) Konzeptionierung einer Problemlösung; (3) Implementierung der Problemlösung; (4) Evaluation, ob und inwieweit das Problem gelöst wurde – schließlich, das ist der zyklische Charakter, Iterierung. Dass Cutlip, Center und Broom (vgl. Abb. 41) ebenjenen durch und durch generischen Prozess in „Effective Public Relations“ zum Four Step Public Relations-Process stilisieren, verwundert insofern.
Abbildung 41: Der Four Step Public Relations-Process (Quelle: aus Cutlip/Center/Broom 2006, 283) Um es klar und deutlich herauszuarbeiten: Der Autor glaubt, dass Management grundsätzlich als eine bestimmte Spielart, als eine Variation und Extension rational-systematischen Problemlösens zu begreifen ist. Ja, managerielles Problemlösen zeichnet sich dadurch aus, dass es zum einen grundsätzlich dem vierphasigen, zyklischen Prozess folgt, zum anderen geschieht die Zweck-Mittel-Wahl rational, anhand verstandesmäßig zu durchdringender, im Prinzip begründbarer Annahmen und Vermutungen.97 Der erste Schritt von PR-Arbeit zu 97 Wenn Theoretiker wie Mintzberg (1987a, 1987b) geltend machen, dass Manager eine Neigung haben, de facto zufällig oder unsystematisch zustande gekommene Ergebnisse ex post zu ausgeklügelter Strategie geschuldeten Erfolgen umzustilisieren (für die PR-Lehre vgl. auch Nothhaft/Wehmeier 2007; 2009), dann liegt das daran, dass
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PR-Management ist also in der Übernahme des vierstufigen Problemlösungsprozesses zu sehen, und im Problemlösungsprozess liegt auch die Wurzel der Resultatsorientierung, die Malik diagnostiziert, wenn er Management als „den Beruf des Resultate-Erzielens“ etikettiert (vgl. A.I). Wie das Beispiel der Schimpansen gezeigt hat, reicht die generische Schrittfolge aber nicht, um Management von bloßem Problemlösen durch geistige Vorwegnahme eines geeigneten Lösungsweges zu unterscheiden – Problemlösen, wie es jederzeit und allerorten geschieht, nicht nur durch Menschen. Die entscheidenden Fragen sind, um welche Variationen und Extensionen und um welche Rationalität es sich handelt. Der Autor geht der Rationalitätsfrage im nächsten, der Frage nach der Variation und Extension im übernächsten Abschnitt nach. 3.1.2 Rationalität: Von Bienen, Fliegen und Flaschen Die Systematik des rational-systematischen Problemlösens liegt in der Schrittfolge, insbesondere aber an der Nahtstelle der „Zwillingsfunktionen“ (Steinmann/Schreyögg 2002, 10), welche sich in PR-Prozessmodellen in Analyse und Evaluation, in der Managementlehre in Planung und Kontrolle widerspiegeln.98 Worin die Rationalität besteht, ist eine sehr viel schwierigere, aber auch die weiterführendere Frage. Viele, um das Thema des Problemlösens kreisende Überlegungen erörtern Rationalität gar nicht, sie setzen sie in der stillschweigenden Annahme, dass es nur eine, die „wahre“ Rationalität der „reinen“ Vernunft gibt. Der Autor versucht zu zeigen, dass das ein Fehler ist. Er geht, im Gegenteil, davon aus, dass es die eine Rationalität nicht gibt – und wirft die Frage auf, welches die Grundlagen und Maßstäbe der manageriellen sind. Unabhängig davon, wie man Rationalität konzipiert, ist managerielles Problemlösen rational insofern, als Management einerseits über „blinde Probierbewegungen“ hinausgeht, Manager viele von vorneherein zum Scheitern verurteilte Lösungen a priori ausscheiden; andererseits nutzen sie die Ratio, um a posteriori die richtigen Lehren aus der Erfahrung zu ziehen. Der Autor stellt das nicht in Abrede. Was er in Abrede stellt ist, dass der Hintergrund vor dem das geschieht, ein neutraler ist. Vor einem neutralen Hintergrund würden sich, bildlich gesprochen, alle Zusammenhänge, Möglichkeiten, Lösungen, Erkenntnisse und Lehren gleichermaßen abzeichnen. Einen derartigen Hintergrund gibt es jedoch, davon ist der Autor überzeugt, nicht. Tatsächlich ist es immer ein bestimmter Hintergrund, vor welchem sich bestimmte Zusammenhänge abzeichnen, während dies andere, gerade deswegen, nicht tun. In der strategischen Managementliteratur klassisch geworden ist die Anekdote der Bienen und Fliegen in der Flasche, welche sich schon bei Peters und Waterman in Search of Excellence (Peters/Waterman 1982, 198; vgl. auch Mintzberg/Ahlstrand/Lampel 1998, 216) findet. Die diversen Autoren berichten von einem Experiment, in welchem ein halbes Systematik der Methode und korrektes, präzises geistiges Vorwegnehmen von Ursache und Wirkung ein zentraler Bestandteil unseres Bildes vom „guten“ Manager sind. Einem Kommunikationsmanager, welcher eingesteht, dass er in Seancen mit Albert Oeckl zu seinen Strategien gelangt, verzeiht man keine Fehler. 98 Dass sich die Schrittfolge bei guter, professioneller Praxis nicht in den vier Phasen erschöpft, wie sie die Konzeptions- und Managementlehre zeichnen, dass das entscheidende Element Lernen in einem Single- und einem Double-Loop darstellt, hat der Autor bereits unter A.III.6 herausgearbeitet. In der Argumentation hier und jetzt entscheidend ist jedoch das grundsätzliche Element: Der Prozess ist problem-, ja ergebnis- respektive verantwortungsgetrieben, nicht etwa von der Gefühlslage des Akteurs oder von Traditionen, Aberglauben, Dienstvorschriften, Stellenbeschreibungen, dem Wortlaut eines Befehls.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Dutzend Bienen und Fliegen in einer transparenten Glasflasche gefangen wurden, die man dann, mit dem Boden voraus, ans taghelle Fenster legte. Beide Spezies versuchten natürlich, aus der Flasche zu entkommen, aber unterschiedlich. Die Bienen strebten systematisch zum Licht und arbeiteten sich am Boden der Flasche ab. Die Fliegen flogen unsystematisch umher. Nach kürzester Zeit waren die Fliegen entkommen; die Bienen starben in der Flasche an Hunger und Erschöpfung. Für die Authentizität des Experiments möchte der Autor nicht bürgen, aber es sind verschiedene Lehren daraus zu ziehen. Die gewöhnlich daraus gezogene Lehre ist die, dass methodisches, systematisches Vorgehen einer inhärenten Logik folgt, die richtig oder falsch sein kann. Ist die Logik richtig, gut; ist sie aber falsch, dann wäre es besser gewesen, gar keiner Logik zu folgen, blind herumzuprobieren. Die Logik der Bienen – der Ausweg ist dort, wo es hell ist – erwies sich im geschilderten Fall als fatal. Hätte man die Flasche andersherum gelegt, wäre sie bestätigt worden. Die Situation ist deshalb interessant, weil es sich um ein menschengemachtes Experiment handelt, der Beobachter „weiß“, was den Bienen zum Verhängnis wurde, nämlich, dass ihre „Bienenlogik“ systematisch mit der Situation über Kreuz gestellt wurde. Mit Hilfe transparenten, aber undurchdringlichen Glases – etwas, was so in der Natur nicht vorkommt – wurde eine Situation konstruiert, in der die eine, in der Bienenlogik „rationale“ Lösung die falsche ist. Für die Fliegen hingegen stand ihre „Rationalität“ nicht mit der Situation über Kreuz, weil die „Fliegenlogik“, nämlich Trial-and-error, nicht mit Helligkeit vs. Dunkelheit verknüpft war. oben
unten
rechts
links
hinten
vorne
Biene zu „hell“
Try-again (dunkel)
Try-again (dunkel)
Try-again (dunkel)
Try-again (dunkel)
EXIT (dunkel)
Try-again (hell)
Fliege zu „egal“
Try-again (egal)
Try-again (egal)
Try-again (egal)
Try-again (egal)
EXIT (egal)
Try-again (egal)
Abbildung 42: Bienenlogik vs. Fliegenlogik, Komplexität (Quelle: eigene Darstellung) Abbildung 42 vergegenwärtigt, dass die Situation „eigentlich“ simpel war – prinzipiell stand jeder Biene die Option in die Freiheit zu gelangen zur Verfügung. Spätestens nach vergeblichem „Abarbeiten“ des Flaschenbodens, ist man versucht zu sagen, hätte auch eine Biene auf die Idee kommen können, dass es so nicht weitergeht. Genauso gut lässt sich aber sagen, dass die Annahme, den Bienen stand die Option in die Freiheit zu gelangen prinzipiell zur Verfügung, nur aus Beobachterperspektive richtig ist, aus Bienenperspektive ist sie falsch. In Abbildung 42 sind die Optionen deshalb abgegraut. Das Bienenexperiment vergegenwärtigt, dass Rationalität aus subjektiver Akteurssicht ein fundamentales Konzept, aus einer übergeordneten „objektiven“ Beobachterperspektive aber ein relatives darstellt. Um die Biene einmal bewusst und absichtlich zu anthropomorphisieren: Für die Biene ist die Option, in der Dunkelheit nach einem Ausweg zu suchen, völlig „unsinnig“, ganz und gar „irrational“, nachgerade „verrückt“, „Ressourcenverschwendung“. Von der Warte des menschlichen Beobachters aus verhalten sich Bienen stupide, weil sie auf einer erfolglosen Strategie beharren, wo die erfolgreiche durch simples Trial-and-error zu finden gewesen wäre. Menschen, um die es in letzter Konsequenz ja in der Arbeit geht, würden sich niemals in vergleichbarer Art und Weise verhalten.
III. Kommunikationsmanagement als wohlgeformte Praxis
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Wie Experimente mit hirngeschädigten Personen zeigen, ist das nicht hundertprozentig richtig. Aus der klinischen neurobiologischen Forschung (dezidiert Förstl 2002) wissen wir, dass Menschen mit Verletzungen im Stirnhirnbereich oft ähnliche, perseverierende Verhaltensweisen zeigen. Bei Problemlösungsaufgaben wiederholen sie hartnäckig eine erfolglose Strategie und zeigen sich nicht in der Lage, andere Strategien zu entwickeln oder auszuprobieren; sie haben Schwierigkeiten, induktiv zu denken, um bestehende Erfolgsstrategien auf neue Probleme zu übertragen; sie tun sich schwer, relevante Information von irrelevanter zu unterscheiden (vgl. Roth 2003, 185f.). Was der Autor damit verdeutlichen möchte, ist, dass die Fähigkeit, die eigene derzeitige Rationalität zu hintergehen, eine spezifische Fähigkeit darstellt, die relativ und limitiert ist. a) Komplexität: Die Bienen revisited Unter Rekurs auf das Konzept der Komplexität lässt sich die Situation der Bienen – genauer gesagt, jeder einzelnen Biene – folgendermaßen fassen: Auf der Oberfläche bestand die Malaise der Bienen darin, dass sie mit einem Problem konfrontiert wurden, das theoretisch sechs Handlungsoptionen bot: nach oben, unten, links, rechts, hinten und vorne zu fliegen. Praktisch, aus Sicht jeder einzelnen Biene, gab es aber nur eine „plausible“ Option, und die führte zu einem ewigen Try-again, bis die Bienen starben. Die Bienen wurden also mit einer Situation konfrontiert, die, um auf Ashbys law of requisite variety zuzugreifen (Ashby ItC, Kap. 11), eine höhere Varietät erforderte als ihr Repertoire an Optionen. Das ist zunächst einmal banal. Bohrt man jedoch tiefer, stellt man fest, dass in der Tiefenstruktur das eigentliche Problem der Bienen darin bestand, dass sie nach einem Ausweg aus der Flasche suchten, aber sich an der Unterscheidung Helligkeit vs. Dunkelheit orientierten. Das heißt, das selbst gesetzte Ziel ihrer Aktionen (Bienen, zur Sonne, zum Licht!) war nicht deckungsgleich mit dem Zweck ihrer Aktionen (Raus aus der Flasche!), weswegen wieder und wieder das falsche Mittel, der Flug gegen den Flaschenboden, gewählt wurde. Die eigentliche Komplexität, welche die Bienen nicht „durchschauten“, ist die einer durchsichtigen Glasflasche, in welcher der in der Natur nahezu immer gegebene Zusammenhang zwischen „auf die Sonne zu“ und „Freiheit“ gerade nicht gegeben ist. In einer vorläufigen, bewusst und absichtsvoll alltagssprachlichen Annäherung an Komplexität ließe sich also sagen (vgl. auch Nothhaft/Wehmeier 2007; 2009): In komplexen Situationen wird es für einen Akteur immer schwieriger, Zwecke durch Setzen verfolgbarer Ziele und Wahl geeigneter Mittel zu verfolgen, weil der Zusammenhang zwischen den drei Aspekten, aus Sicht des Akteurs, immer undurchsichtiger und schlechter definiert wird (hochinteressant aus naturwissenschaftlicher und wissenschaftstheoretischer Perspektive zu Komplexität vgl. Mitchell 2009). Baecker definiert Komplexität entsprechend einmal alltagssprachlich, einmal in systemtheoretischer Terminologie. „Man nennt etwas ‚komplex’, wenn zu viel miteinander auf zu überraschende, das heißt unberechenbare Art und Weise zusammenhängt“ heißt es in einfachen Worten (1999, 27). In der Terminologie der Systemtheorie heißt es: Von der Komplexität eines Systems spricht man, wenn es eine große Anzahl von Elementen aufweist, die in einer großen Zahl von Beziehungen zueinander stehen können, die verschiedenartig sind und deren Zahl und Verschiedenartigkeit zeitlichen Schwankungen unterworfen sind. (Baecker 1999, 28)
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
b) Kontrolle: Die Fliegen revisited Was das zu Komplexität komplementäre Konzept der Kontrolle bedeutet, lässt sich vergegenwärtigen, wenn man das Experiment ändert. Nehmen wir eine riesige Flasche, groß wie ein Gaskessel, bei der zwar der Ausgang auf die Sonne am Himmel zeigt, bei der aber die Wände mit Fliegenleim beschmiert sind. Jetzt sieht die Situation völlig anders aus, wie Abbildung 43 zeigt, denn aus dem Try-again wurde Game-over, und aus den sechs Richtungen wurden n Richtungen plus die eine, richtige Richtung. Die Bienen werden im Großen und Ganzen heil ins Freie gelangen; je nachdem wie groß die Flasche ist, werden die Fliegen alle in ihr verenden, entweder an der Wand klebend oder an Hunger und Erschöpfung. Das Problem der Fliegen im Gegensatz zu den Bienen ist, dass sie zwar eine größere Varietät an praktischen Optionen zur Verfügung haben, ihr Verhalten aber nicht kontrolliert, sondern erratisch ist. Die Fliegen unterschieden nicht zwischen wünschenswerten und nicht-wünschenswerten, plausiblen und unplausiblen Optionen. Richtung 1
Richtung 2
Richtung 3
…
richtig
Richtung n
Biene zu „hell“
Game-over (dunkel)
Game-over (dunkel)
Game-over (dunkel)
Game-over (dunkel)
EXIT (hell)
Game-over (dunkel)
Fliege zu „egal“
Game-over (egal)
Game-over (egal)
Game-over (egal)
Game-over (egal)
EXIT (egal)
Game-over (egal)
Abbildung 43: Bienenlogik vs. Fliegenlogik, Kontrolle (Quelle: eigene Darstellung) In einem Setting, das Trial-and-error gestattet, also Fehlversuche verzeiht und ein günstiges Verhältnis von richtigen und falschen Lösungen bietet, kommen die Fliegen mit ihrem Verhalten durch, in einem Setting wie dem skizzierten die Bienen. Solange der Experimentierer das Setting nicht ändert, haben die Bienen die Situation „unter Kontrolle“. Eine Situation „unter Kontrolle“ zu haben, bedeutet also, dass einem Akteur immer zumindest eine praktische, plausible Option zur Verfügung steht, von der er „weiß“, dass sie richtig, also wünschenswert ist. Umgekehrt formuliert: Wenn es eine realistische Situation gibt, von der der Akteur sagt, „wenn das geschieht, weiß ich nicht mehr weiter“, dann hat er die Situation nicht unter Kontrolle. Der Einwand, dass es sich um ein subjektives Konzept von Kontrolle handelt, ist berechtigt, aber es ist zu fragen, inwiefern wirklich ein objektives oder ob lediglich ein höherkomplexes, jedoch wiederum subjektives Kontrollkonzept eines anderen gedacht werden kann, sei es ein Beobachter oder Teilnehmer. Aus Sicht des menschlichen Experimentierers kontrollieren die Bienen die Situation natürlich nicht, sondern er selbst – aber eine derartige Beschreibung geht Hand in Hand mit einem Beobachterwechsel. Es ist also die Frage aufzuwerfen, ob überhaupt ein endliches Lebewesen gedacht werden kann, welches eine Situation objektiv unter Kontrolle hat; es müsste allmächtig sein. c) Managementrationalität Wir gehen davon aus, dass Menschen, und insbesondere Manager, nicht in derselben Art und Weise enden würden wie Bienen und Fliegen. Die Frage, die sich die theoretische Fundierung stellt, ist jedoch: Weshalb? Auch auf die Gefahr der Trivialität hin würde die vorläufige Antwort vermutlich lauten: Anders als Bienen und Fliegen sind Menschen nicht
III. Kommunikationsmanagement als wohlgeformte Praxis
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in einem Verhalten gefangen, welches das Problem entweder löst oder nicht. Sie verstehen das Problem, entwerfen eine mögliche Lösung, probieren sie aus, verstehen wiederum den Erfolg oder Misserfolg, entwerfen eine neue. Was sie dazu befähigt, ist, dass sie erstens in der Lage sind, sich selbst raumzeitlich als Akteur in einem Prozess zu denken, der Zwecke, Ziele und Mittel in einer geistigen Vorwegnahme verknüpft; zweitens sind sie in der Lage, ebenjenen Prozess trotz Ablenkung und Fehlschlägen zu verfolgen; drittens erinnern sie sich an alte Fehlversuche. Der Autor stimmt zu, dass Menschen bessere Problemlöser sind als Bienen. Es gilt jedoch zu sehen, dass der Prozess humanen Problemlösens zwar weiter greift als der der Bienen, im Prinzip aber auch ein begrenzter ist: Die menschliche Fähigkeit, den Ausgang statt des Lichts zu identifizieren, wenn viele Zusammenhänge dazwischentreten, ist limitiert. Das gilt für die Gattungsgeschichte der Menschen, das gilt insbesondere aber für das jeweilige einzelne Individuum. Das gilt noch einmal in Potenz für das sozialisierte, ja institutionalisierte Individuum – nach zwanzig Jahren Managementkarriere in einem Konzern ist „Betriebsblindheit“ Regel, nicht Ausnahme. Freilich, um das Phänomen der Betriebsblindheit einzuführen, hätte es nicht des Beispiels bedurft. Dem Autor geht es auch nicht um Betriebsblindheit, sondern um die Scheuklappen, die das Konzept des Managements einerseits so erfolgreich gemacht haben, die Manager andererseits aber in bestimmten Winkeln „blind“ machen. Unter 1. wurde herausgearbeitet, dass der Managerhabitus, wie er sich heute präsentiert, historisch aus einer Kombination von Buchhalter, Konstrukteur und Offizier erwuchs. Das Erbe des Buchhalters, respektive des Verwaltungsbeamten, ist eine Fixierung auf Quantifizierbarkeit und auf Prozesse, insbesondere auf betriebswirtschaftliche Quantifizierbarkeit und „geregelte“ Prozesse, die der schriftlichen Aktenführung vergleichbar sind. Das Erbe des Konstrukteurs, respektive des Ingenieurs, ist eine Fixierung auf Struktur – die Organisation, und zwar samt ihrer Organisationskultur, die oftmals als besonderer Teil angesehen wird, ist mit einer Maschine vergleichbar. Das Erbe des Offiziers, respektive des Generals, ist eine Fixierung auf Strategie, und zwar im Rahmen eines Diskurses, der Sieg und Niederlage unterscheidet. Denkt man jetzt nicht einen, sondern viele, in der geschilderten Art und Weise sozialisierte Manager – die einen mehr so, die anderen mehr so, denn niemand hat ja wirklich „von der Pike auf“ Manager gelernt – dann ist verständlich, weshalb in „professionell gemanagten“ Organisationen ein Milieu entsteht, welches, vorsichtig ausgedrückt, bestimmte Lösungen gegenüber anderen präferiert. Das Milieu ist von Organisation zu Organisation verschieden, und die Unterschiede zwischen einem naturwissenschaftlich geprägten Chemieunternehmen und einem Konsumgüterhersteller, um Beispiele aus der Beobachtungsstudie zu wählen, sind gewaltig. Der Autor wagt jedoch die Behauptung, dass keine Organisation heutzutage derartig abgeschottet ist, dass sich nicht hinter den organisationsspezifischen Besonderheiten das Erfolgsmodell des Managers westlicher Prägung abzeichnet. Der Autor verleugnet nicht, dass es ungeheure Anstrengungen von verschiedenen Seiten gab, die Managementrationalität zu verändern. Sieht man genauer hin, stellt man jedoch fest, dass Argumentation gegen einen Aspekt häufig auf Grundlage der anderen geschieht – die Debatte um das Chandler’sche „Structure follows Strategy“ versus „Strategy follows Structure“ ist ein harmloses Beispiel (aufschlussreich der Sammelband Ortmann/Sydow 2001; insbes. Sydow/Windeler 2001). Sieht man von der kritischen Theorie ab, geschieht oftmals nichts anderes, als dass man die Redeweise verlagert. Man müsse an der Organisationskultur, an „weichen Faktoren“ arbeiten, heißt es dann, und das bedeutet, das techno-
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
morphe Denken der Unternehmung als beliebig dekonstruierbare Maschine aufzugeben. Gerade deshalb gelte es aber, Prozesse zu etablieren, die eine Regelung der Organisationskultur in Abhängigkeit von der jeweils geltenden Strategie gewährleisten. Ja, Strategien können sich als falsch erweisen, die großen Pläne der Unternehmenslenker scheitern häufiger als sie glücken – gerade deshalb gelte es, Strukturen zu schaffen, die, aber bitte in geregelter Art und Weise, eine learning organization sicherstellen. Der Diskurs, wie er um Kommunikations-Controlling geführt wurde, ist ein weiteres Beispiel. Mit ein bisschen Polemik ließe sich die Debatte als der Versuch lesen, doch endlich die durch Kommunikation zweifelsfrei geschaffenen, aber eben nicht quantifizierbaren Werte, die intangible assets, in die Managementlogik zu integrieren, einem Controlling zu unterwerfen – bevorzugt dadurch, dass man sie doch quantifizierbar, doch tangible macht.99 Dem Autor geht es nicht um Polemik, sondern um das Herauspräparieren seiner Überzeugung, dass die Managementrationalität eben nicht offen für jedes Organisationsproblem, jede Lösung ist. Vor dem Hintergrund der Managementrationalität, um zu der eingangs gewählten Redeweise zurückzukehren, zeichnen sich bestimmte Probleme und Lösungen scharf und deutlich ab, andere bleiben verschwommen. Wie der Autor glaubt, treten besonders diejenigen Probleme und Lösungen als manageriell hervor, die quantifizierbar sind, denen durch Etablierung von Struktur oder durch Implementierung von Strategie zu begegnen ist oder die sich in einem geregelten Prozess, in einer Routine, fassen lassen. 3.1.3 Exkurs: Management und Wissenschaft als rational-systematisches Problemlösen Unter II. widersprach der Autor dem Managementtheoretiker Malik, als der behauptete, der heutige angehende Jungmanager, obwohl in der Regel Akademiker, sei für Management nicht ausgebildet. Wie der Autor argumentierte, stimmt das lediglich zu zwei Dritteln: Der Akademiker – der Geistes- und Sprachwissenschaftler anders als Sozial- und Naturwissenschaftler, aber gleichwohl – ist grundsätzlich geschult in der rational-systematischen Methode. Dass George Pólya den vierstufigen Prozess entwickelte, um mathematische Probleme zu lösen, wurde erörtert. Der Akademiker, insbesondere der Geistes- und Sozialwissenschaftler, ist darin geschult, seine mentalen Modelle und Theorien zu reflektieren, gegebenenfalls in Frage zu stellen, durch neue, angemessenere zu ersetzen, selbst neue und angemessenere zu entwickeln. Er ist freilich nicht geschult im Umgang mit den Variationen und Extensionen, die das rational-systematische Problemlösen im Management von der wissenschaftlichen Problemlösung, als eine andere Spielart, unterscheiden. Und er ist erst Recht nicht geschult im Umgang mit den limitierenden Bedingungen. Gerade die sind, zugegebenermaßen, von besonderer Bedeutung: Management geschieht unter gravierenden limitierenden Bedingungen, während Wissenschaft – zumindest so, wie sie theoretisch konzipiert wird – unter Idealbedingungen geschieht. Schirmer hält entsprechend fest (vgl. auch A.II.7), […] dass das Modell des ‚Wissenschaftlers als Theoretiker’, der in der Regel handlungsentlastet Theorien entwickelt, und die wissenschaftsbezogenen Standardkriterien der Theoriebewertung nicht bruchlos auf
99
Wie Zerfaß (2005) überzeugend herausarbeitet, handelt es sich um „Rituale der Verifikation“, um „Redeinstrumente“ im Rahmen einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr zur „Audit Society“ wandelt. Das entspricht der Komplexität III, die der Autor unter A.II.6.1. diagnostiziert.
III. Kommunikationsmanagement als wohlgeformte Praxis
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handlungsbedrängte Alltagstheoretiker, speziell auf ‚Manager als Theoretiker’ und deren Theoriebestände, angewendet werden können. (Schirmer 1992, 146)
a) Ein anderer Skopus: Verantwortung vs. Gegenstand, Wirksamkeit vs. Wahrheit Wie Mintzberg (1994, 12) zeigt, sehen sich Manager grundsätzlich einer oder mehreren von drei Aufgaben gegenüber:
Sie kreieren einen neuen Teil der Organisation, eine neue Organisation, oder sie rekreieren einen bereits bestehenden (sie „re-engineeren“ eine Abteilung, eine Kampagne, bauen ein neues Werk etc.) Sie passen eine Organisation oder einen Teil der Organisation an neue oder veränderte Rahmenbedingungen an (arbeiten Personal an einem neuen IT-System ein, stellen einen Studiengang um) Sie sorgen dafür, dass eine Organisation oder ein Teil einer Organisation in möglichst effizienter Art und Weise „läuft“ so wie er ist (führen eine Abteilung, befehligen einen Zug Panzergrenadiere)
Manager-Sein stellt demnach im Prinzip kontinuierliches, rational-systematisches Problemlösen im Rahmen der skizzierten Komplexe dar. Anders als Wissenschaft ist Management weder objekt-, problem- noch methoden-, sondern ergebnis- respektive verantwortungsgetrieben. Der Skopus, auf den sich das Problemlösen, auf den sich Verantwortung gepaart mit Macht bezieht, ist ein anderer. Wissenschaftliches Problemlösen zielt, um es etwas unbekümmert auszudrücken, auf Wahrheit; managerielles dagegen auf Wirksamkeit (Malik 2006, 84-97). Wenn Hales (1999) argumentiert, die Essenz des Managements liege in responsibility, in Verantwortung – für eine Abteilung, für ein Ergebnis, für den turn-around der Unternehmung – dann drückt er ebenjenen Zusammenhang aus: Ein Manager zeichnet per definitionem für irgendetwas gesamtverantwortlich. Seine Aufgabe ist es, jedes wie auch immer geartete Problem zu lösen, das in den Rahmen seiner Gesamtverantwortung fällt (vgl. auch A.I). b) Eine Erschwernis: Problemlösung am offenen Herzen Die erste limitierende Bedingung ist, dass Management in der Regel in Echtzeit geschieht, also während operative Geschäfte, während der Alltag unter Zeit- und Ergebnisdruck „weiterläuft“. Dass Interventionen in soziale Systeme nicht unter Suspendierung ebenjener geschehen, dass soziale Systeme niemals, auch nicht „zu Reparaturzwecken“ dekonstruierbar sind, ist zwar eine vielerorts theoretisch herausgearbeitete Selbstverständlichkeit (vgl. etwa Degele 1997; Malik 2002; 2004; Nothhaft/Wehmeier 2007; 2009). Erst der Vergleich mit Ingenieurs- und Naturwissenschaften zeigt aber, wie einschneidend die Bedingung ist. Kaum jemand käme auf die Idee, eine Herzoperation an einem Patienten unter der Maßgabe durchzuführen, dass er als unverzichtbarer Experte jederzeit arbeitsfähig am Computer sitzen bleiben muss: dass der Patient lebt, macht die Sache schwierig genug. Kein Mensch würde ein fahrendes Auto reparieren. Die Reparatur mit „Bordmitteln“, an Schiffen durchgeführt, stellt immer eine Behelfslösung dar; um ernsthafte Schäden zu beheben, muss das Schiff ins Dock.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Einer der Gründe, weshalb Management immer schwieriger wird, je höher ein Manager steigt, ist demnach in der Tatsache zu suchen, dass die Gesamtverantwortung zunehmend komplexe soziale Systeme umfasst, die immer weniger suspendierbar und dekonstruierbar werden. Der Teamleiter mag einen renitenten Mitarbeiter noch beiseite nehmen, um ein ernsthaftes Wort mit ihm zu sprechen, ein unproduktives Werk stillzulegen, um zu sehen, was schiefläuft, steht aber gewöhnlich außer Frage. Dabei würde es sich sogar empfehlen: Eines der wenigen, weil seltenen Beispiele ganz und gar erfolgreichen Reengineerings ist der Fall der Reorganisation bei Corning, einem Technologieunternehmen, das über mehrere Monate ungewöhnliche viele eigene Manager freistellte, um das Reengineering zum Erfolg zu führen (Micklethwait/Wooldridge 1996, 43ff.). c) Eine weitere Erschwernis: Die Popper’sche Amöbe und der Manager Eine zweite limitierende Bedingung resultiert aus der ersten und ist in der Evolutionsdynamik zu suchen, die in der Durchschnittsorganisation greift. Denn die Mechanismen, anhand derer die Durchschnittsorganisation unwirksame Problemlösungen ausscheidet und wirksame befördert, steht zwischen der kruden individuengebundenen Evolution auf der einen, dem theoriegebundenen wissenschaftlichen Fortschritt Popper’scher Prägung auf der anderen Seite. Popper (vgl. gedrängt etwa Popper 2006, 25ff.) arbeitet ja als eine der großen Errungenschaften der wissenschaftlichen Methode heraus, dass Theorien eliminiert werden, nicht jedoch ihre Proponenten: die Wissenschaftler. Manager, die unwirksame Problemlösungen vorschlagen, werden zwar nicht wie die Amöbe an sich eliminiert, der fehlgeschlagene Lösungsversuch bleibt aber an ihrer Person, an ihrem track record hängen. Sie werden als Generäle ohne Fortune abgestempelt. Wenn Manager Problemlösungen vorschlagen, handelt es sich also keineswegs um die Elimination objektivierter Theorien, die ganz und gar unabhängig von der Person vorgeschlagen werden. Das ist schon in der Wissenschaft nicht der Fall – und im Management, unter einem ökonomischen Kalkül, noch sehr viel weniger. 3.1.4 Managementsystematik begrüßen, Managementrationalität mit Vorsicht genießen Abschließend führt der Autor die Analyse der Systematik und Rationalität manageriellen Problemlösens zusammen mit der Analyse von Public Relations/Kommunikationsmanagement als sozialer, professioneller Organisationspraxis, als Zweck-Ziel-MittelKombination. Der Kerngedanke ist simpel: Management stellt genauso wie Public Relations eine soziale Organisationspraxis dar, welche in der jeweiligen Organisation durch die jeweiligen Praktiker eine jeweils individuelle Ausprägung erfährt. Hinter oder unter der konkreten und spezifischen Ausprägung stehen Leitideen, welche reflektiert oder unreflektiert die Praxis determinieren, nicht immer vollständig, aber teilweise. Der Unterschied zwischen Public Relations und Management, unter I. und II. versuchte der Autor das zu zeigen, ist jedoch der, dass ersteres derzeit eine professionelle Praxis darstellt, letzteres eine institutionalisierte. Während Public Relations sowohl in der Organisation als auch im flankierenden, professionellen Diskurs noch immer nach einem Selbstverständnis, nach einer Funktion, nach einer Rolle in der Organisation, nach einer Antwort auf die Frage „Was bin ich?“ sucht, geschieht das mit Blick auf Management kaum einmal. Die Frage, welches Selbstverständnis, welche Rolle oder Funktion das Management in
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einer Organisation, der Manager auf einem bestimmten Sessel hat, stellt sich – das ist die These des Autors – nicht in der Was-, sondern in der Wie-Form: Man wünscht sich einen anderen Manager auf dem Sessel, nicht jedoch einen Nicht-Manager. Das Was der sozialen Praxis des Managements ist selbstverständlich geworden, es ist zu einer Institution avanciert. Der Autor zeigte das unter II. unter Verweis darauf, wie nachgerade selbstverständlich es ist, dass die Karriere als Manager in vielen Bereichen heutzutage die einzige ist, die an die Spitze führt. Die Unterwerfung der Public Relations unter die Managementlogik lässt sich demnach als der isomorphische Prozess verstehen (vgl. C.II.5), in welchem die Praxis der Public Relations der Praxis des Managements immer ähnlicher wird. Das bedeutet konkret und spezifisch, dass Managementsystematik und Managementrationalität zunehmend, und zunehmend stillschweigend als die „richtige“, als die „professionelle“ angesehen werden. Das entscheidende Argument des Autors ist, dass die Unterwerfung unter die Systematik relativ problemlos, ja begrüßenswert ist. Im Prinzip ist die Systematik des Managements ein und dieselbe wie die der Wissenschaft. Mit großer Vorsicht zu genießen ist aber eine stillschweigende Unterwerfung unter die Managementrationalität, welche, wie gezeigt wurde, Kontrollierbarkeit, Quantifizierbarkeit und Prozessualität präferiert. Was bedeutet das konkret und praktisch? Es bedeutet, dass mehr und mehr nur diejenigen Probleme angegangen werden, die mit managementtypischen Lösungen lösbar sind, weil alles andere Praktiker in ein ungünstiges, unprofessionelles Licht taucht. Über die Zeit, in der Sozialisierung einer Berufskarriere, bedeutet es, dass mehr und mehr nur diejenigen Probleme gesehen werden, die mit managementtypischen Lösungen lösbar sind.100 Ein und derselbe Sachverhalt lässt sich unter Rekurs auf typische Zwecke, typische Ziele und typische Mittel im Rahmen der sozialen Praxis darstellen. Wenn Public Relations die Managementrationalität übernimmt, verändert sich die Zwecksetzung der Praxis grundlegend. Egal, welche Zwecksetzung bestand – sei es das Image zu gestalten, sei es soziale Integration zu gewährleisten, sei es die licence to operate zu erhalten: die Verfolgung einer konkreten und spezifischen Idee erfährt eine Überlagerung durch die abstrakte Idee der Kontrolle, wie sie sich im Beamtenideal schriftlicher Aktenführung, im Ideal „geregelter Verhältnisse“ widerspiegelt. Kontrolle bedeutet, um zu den Bienen und Fliegen zurückzukehren, dass für jede Eventualität eine adäquate Reaktion vorgedacht zur Verfügung steht, von der man mit einiger Sicherheit davon ausgehen darf, dass sie die Auslenkung oder Störung beseitigt, das anvisierte, präferierte Stadium wieder herstellt. Die Frage, die es zu stellen gilt, ist, ob dieses Ideal einer „gut geölten Imagemaschinerie“ angesichts der typischen Zwecke von Public Relations und Kommunikationsmanagement, angesichts des typischen modus operandi nicht über-ambitioniert ist – ja Hybris darstellt. Dass man den öffentlichen Diskurs um das Unternehmen konsequent unter Kontrolle hält, ist eine wohlklingende Forderung – sie hat jedoch in ihrer klinischen Sterilität, wie der Autor glaubt, wenig mit der oft chaotischen Realität der Praxis zu tun.101 100
Der Zusammenhang ist bewusst und absichtsvoll im Passiv formuliert, weil es nicht notwendig ist, dass das im Einzelfall im Rahmen einer wissenschaftlich begleiteten, von der Branche verfolgten Strategie der Professionalisierung via Managerialisierung geschieht: Es ist genauso gut möglich, dass der jeweilige einzelne Praktiker über die Zeit mehr und mehr manageriell agiert, weil er es für rationaler hält, oder weil er seine Peers in der Organisation bewusst oder unbewusst imitiert. Gleichwohl glaubt der Autor, dass es eine derartige Strategie der Branche gibt. 101 In der Politikwissenschaft und der Soziologie, das sei am Rand erwähnt, hat sich der Mainstream weitgehend davon verabschiedet, dass Policy-Maker in der Lage seien, die Gesellschaft in der geschilderten Art und Weise zu
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Wo man von PR-Arbeit zu PR-Management übergeht, verändern sich auch die typischerweise gesetzten und verfolgten Ziele in ihrem Charakter. Sie sind einem Druck in Richtung Quantifizierbarkeit ausgesetzt: „Richtige“ Ziele sind quantifizierbar, heißt es – idealerweise sind sie, des Buchhalters Freude, sogar monetarisierbar. Wehmeier (2006) hat in Auseinandersetzung mit Kommunikations-Controlling und Balanced Communication Scorecards herausgearbeitet, dass nicht-quantifizierbare Ziele, über die man in einem PRDiskurs noch sinnvoll sprechen konnte, aus dem Diskurs des Kommunikationsmanagements herausgedrängt werden. Die Frage ist, ob eine derartige administrative Simplifizierung der Komplexität eines ambitionierten Kommunikationsmanagements Rechnung trägt, welches Sinn stiftet und Bedeutungen schafft, eher tief denn flach wirkt: Ob ein Konfirmand die Moral der Geschichte vom verlorenen Sohn verstanden hat, fragt der Pfarrer auch nicht dadurch ab, ob das Wort Vater mit einer positiven, negativen oder neutralen Konnotation verknüpft ist. Ferner gilt es zu sehen, dass die Verknüpfung von quantifizierbaren Zielen mit der Karriereentwicklung individueller Akteure zu kurzfristigem Agieren führt, was, wie der Autor glaubt, der längerfristigen, grundsätzlicheren PR- und Kommunikationsmanagementlogik entgegensteht (vgl. auch A.III.2; A.III.3; A.III.6). Ökonomisierung, die Frage nach der Effizienz des Mitteleinsatzes, ist vermutlich diejenige, die man von vornherein mit der Idee einer Managementrationalität in Verbindung bringt. Die große Gefahr besteht nach Ansicht des Autors aber nicht darin, dass man eine generelle Bilanzierung von Aufwand und Ertrag auch für Kommunikation fordert – das ist eine Frage der Systematik, wie der Autor meint, und notwendig und begrüßenswert. Die große Gefahr besteht darin, dass man eine Aufschlüsselung fordert, in der Deutungsangebote und Sinnstiftungen in ähnlicher Art und Weise bilanziert werden wie Schrauben, Muttern und Unterlegscheiben. 3.2 Arbeitsteiligkeit: Management in drei Dimensionen Unter II. arbeitete der Autor heraus, dass eine der maßgeblichen treibenden Kräfte hinter der Entwicklung des Managementgedankens die Entwicklung der Arbeitsteiligkeit war, und zwar nicht nur als Kooperation, sondern als Kooperation von Spezialisten in etablierten Organisationen und funktionalen Hierarchien. Im folgenden Abschnitt entwickelt der Autor die These, dass dem Prinzip der Arbeitsteiligkeit und der funktionalen „Organisation“ von Organisationen im Rahmen der PR-Theorie nicht gebührend Rechnung getragen wurde. Präziser: In der Verschiebung von Public Relations zu Kommunikationsmanagement weitete man den Verantwortungsbereich der Praxis immer weiter aus. Man beschäftigte sich aber vergleichsweise nachrangig mit der Frage, wie Macht und Einfluss – welche mit der Verantwortung Hand in Hand gehen sollten, um ihr auch gerecht zu werden – in der Organisationsrealität aussehen. Zugang zur oder Teilhabe an der Unternehmensführung blieb oftmals die Zauberformel, welche das Problem mit einem Schlag auflöste. Eine andere Zauberformel stellte die Matrixorganisation dar, welche es PR- und Kommunikationsverantwortlichen theoretisch gestattete, überall Einfluss zu nehmen. Eine Auseinandersetzung mit der Art und Weise, wie das „Managementspiel“ in realen Organisationen gespielt wird, findet sich in der PR-Theorie nicht oder nur bruchstückhaft. Die PR-Theorie blieb in der Hinsicht, wie in vielen anderen Hinsichten auch, ihrer eigenen Logik des dritten Weges kontrollieren – weshalb ausgerechnet Unternehmen dazu in der Lage sein sollten, ist dem Autor noch nicht ausführlich begründet worden.
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III. Kommunikationsmanagement als wohlgeformte Praxis
verhaftet: nach und nach würde die Organisation zu der Einsicht gelangen, dass Kommunikation wichtig sei – spätestens in einer heilsamen Krise. Der Autor möchte der Logik des dritten Weges nicht eine Abfuhr erteilen, im Gegenteil. Er ist aber der Meinung, dass es zunächst einmal eines genauen Hinsehens bedarf, wie das Spielfeld, das funktionale Netzwerk, die Interessen-, Macht- und Kräftekonstellation sich gestaltet, wer was im Rahmen welcher Verantwortung auf der Grundlage welcher Macht managt. Sobald man die Frage stellt, tritt klar und deutlich hervor, dass Kommunikationsmanagement in drei Dimensionen geschieht: Erstens geschieht Kommunikationsmanagement in sich arbeitsteilig; zweitens geschieht Kommunikationsmanagement in einem Management zweiter Ordnung dadurch, dass Kommunikationsmanagement in das Management anderer interveniert; drittens geschieht Kommunikationsmanagement, von der Zweck- und Zielsetzung her, mit Blick auf Phänomene, die ganz und gar außerhalb der formalen Autorität des Managements der Organisation liegen. 3.2.1 Kybernetischer Exkurs: Steuern und Regeln, Regler und Reglerstrecke Ehe der Autor sein Verständnis von Management zweiter und dritter Ordnung in Kontrast zu Management erster Ordnung expliziert, ist zu unterscheiden zwischen Public Relations einerseits, PR-Arbeit und PR-Management andererseits. Organisationen „haben“ Public Relations, also öffentliche Beziehungen; sie „betreiben“ aber Public Relations- oder Öffentlichkeitsarbeit. Ebenso, um das vorwegzunehmen, findet in, für und durch Organisationen ständig und unvermeidlicherweise Kommunikation statt, nur ein Bruchteil davon ist aber Ergebnis von Kommunikationsarbeit. Ferner stellt sich die Frage, inwiefern die PR-Arbeit oder die Kommunikationsarbeit im Rahmen eines übergeordneten Managements geschieht oder nicht. Abb. 44 vergegenwärtigt die Unterscheidungen.
Modus: Arbeit Modus: Management
Gegenstandsbereich „Public Relations“
Gegenstandsbereich „Kommunikation“
PR-Arbeit
Kommunikationsarbeit
PR-Management
Kommunikationsmanagement
Abbildung 44: Arbeit vs. Management (Quelle: eigene Darstellung) Arbeit vs. Management Szyszka (Bentele/Fröhlich/Szyszka 2008, 600), unter präziser Verwendung kybernetischer Vokabeln102, definiert Kommunikationsmanagement im Glossar eines Standardwerkes als einen „mit regelnder Absicht organisationsseitig vorgenommenen Eingriff in die kommunikativen Beziehungen zwischen einer Organisation und den für diese Organisation relevanten Bezugsgruppen“. Mit „Regelung“ spricht Szyszka das an, was PR-Arbeit von PRManagement, Kommunikationsarbeit von Kommunikationsmanagement unterscheidet, spricht er die Wurzel der Resultatsorientierung an. Was ein geregelter Prozess ist, lässt sich nach Ansicht des Autors am klarsten mit Hilfe der Kybernetik herausarbeiten, und zwar mit 102
Für einen Überblick über die Rezeption kybernetischer Ideen in der PR-Theorie vgl. Wehmeier 2008; Nothhaft/Wehmeier 2007; 2009.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
der Differenzierung zwischen Steuern und Regeln.103 In der technischen Kybernetik vergegenwärtigt man den Unterschied zwischen Steuern und Regeln gewöhnlich durch Vergleich zwischen einem echten Tempomaten im Auto und einem „Do-it-yourself“-Tempomaten, bei welchem der Fahrer schlicht und einfach das Gaspedal festklemmt. Im ersten Fall „weiß“ das Fahrzeug, mit welcher Geschwindigkeit es fährt, gibt bergauf Gas, nimmt bergab Gas weg, um ein konstantes Tempo beizubehalten – die faktische Fahrzeuggeschwindigkeit ist in das System rückgekoppelt, das System ist geregelt. Im zweiten Fall kennt das Fahrzeug seine eigene Geschwindigkeit nicht, es wird bergauf langsamer werden, bergab schneller – das System ist gesteuert, nicht aber geregelt. Prima facie ließe sich also sagen, dass PR-Management sich im Kern von PR-Arbeit dadurch unterscheidet, dass ersteres, wie der Tempomat, ein gleichermaßen ziel- wie ergebnisgeregelter Prozess ist (Abgleich von Soll-/Ist-Geschwindigkeit). Zweiteres geschieht aufwands-, ressourcen-, inputgesteuert, im Prinzip also „blind“ und „unkontrolliert“ – wie, um es krude auszudrücken, das festgeklemmte Gaspedal. An der technokybernetischen Illustration zeigt sich, dass die prinzipielle Möglichkeit, den faktischen Ist-Zustand zu einem Zeitpunkt x festzustellen, ihn rückzukoppeln und mit dem angestrebten Soll-Zustand zu vergleichen, als die entscheidende Vorbedingung für den Übergang von PR-Arbeit zu PR-Management anzusehen ist. Insofern ist die PR-Evaluationsdebatte, welche in Deutschland zu Anfang der 1990er Jahre aufkam, als notwendige Voraussetzung für die Entwicklung eines genuinen PR-Managements zu werten. Die derzeitige Debatte um Kommunikations-Controlling stellt insofern ein Prärequisit für die Entwicklung eines genuinen Kommunikationsmanagements dar (vgl. auch Bentele/Nothhaft 2007; 2008). Regler und Reglerstrecke in der Technokybernetik Sobald man von Management, nicht von Arbeit spricht, verändert sich das Steuerungsproblem zu einem Regelungsproblem – ein Umstand, der unter 3.5 noch einmal erörtert wird. Der Unterschied besteht in der Tatsache, dass es bei einem Regelungsproblem sehr entscheidend ist, was Gegenstand der Regelung ist. Auch das lässt sich unter Rekurs auf kybernetische Theorie präzisieren. Schon die vergleichsweise krude Technokybernetik genügt, die angesprochene Unterscheidung zu vergegenwärtigen. Technokybernetische Theorie, wie sie bereits in maßgeblichen Modellen auf PR angewandt wurde104, bietet insbesondere einen Einstieg, wenn sie zwischen Regler und Regelstrecke unterscheidet. Bei einem Thermostaten ist der Raum die Regelstrecke, in der die Temperatur zu regeln ist. Der Regler ist der Thermostat, der die Temperatur mit Hilfe eines Detektors misst und mit Hilfe eines Effektors verändert. Auf die PR-Fragestellung übertragen lässt sich sagen, dass etwa der öffentliche Raum einer Organisation die Regelstrecke darstellt, der Temperatur entspricht die öffentliche Meinung hinsichtlich der Organisation – manchmal ja auch als „Meinungsklima“ etikettiert. Unter Public Relations-Arbeit ist, grob gesagt, die Einheit aus Detektor, Regler und Effektor zu verstehen (eine weitere Differenzierung möchte der Autor nicht vornehmen, da damit eine Übertragung der Technokybernetik auf sozio- und managementkybernetische Fragestellungen einherginge). 103
Zur grundsätzlichen Anwendbarkeit der Kybernetik auf Management, zur Managementkybernetik, vgl. grundlegend Beer 1959; 1972; Malik 2002 (11984); Malik 2004 (11993). 104 Die maßgeblichen Modelle sind natürlich das Open Systems-Modell von Cutlip/Center/Broom (1994) sowie das von Long/Hazleton (1987) vorgeschlagene Modell.
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Regler und Reglerstrecke in der Theorie des Kommunikationsmanagements Dass sich in der professionellen Terminologie die Unterscheidung zwischen dem Handlungsfeld oder Verantwortungsbereich „öffentliche Beziehungen“ (Regelstrecke) und entsprechend gerichteten Steuerungs-, Regelungs- oder Interventionshandlungen verwischte, ist verständlich. Der angloamerikanische Begriff Public Relations bezeichnet das eine wie das andere, der deutsche Begriff Öffentlichkeitsarbeit jedoch nur eines: wie Oeckl (1967, 15) es ausdrückt, die Arbeit in der Öffentlichkeit, für die Öffentlichkeit, mit der Öffentlichkeit. Abgesehen davon war die Unterscheidung mit Blick auf das klassische, das „unverschobene“ PR-Verständnis nicht von großer Bedeutung. Solange Public RelationsArbeit äquivalent gesetzt wurde mit Presse- und Medienarbeit, solange muckraking journalists und niemand anderes de facto die Öffentlichkeit repräsentierten, waren Handlungsfeld und Handlung mehr oder minder identisch. Heutzutage jedoch, da Konzepte wie Organisationskommunikation, Unternehmenskommunikation, Corporate Communications, Integrierte Kommunikation, Strategische Kommunikation und Kommunikationsmanagement nebeneinander gestellt werden, ist eine präzise Differenzierung fundamental (vgl. ähnlich auch Szyszka 2009, 138-139): Möchte man die Unternehmenskommunikation oder Public Relations durch Kommunikationsmanagement steuern? Oder sind Unternehmenskommunikation und Public Relations ein Instrument, um etwas anderes, etwa Image, Marke oder Reputation zu steuern, um in letzter Konsequenz zu Wertschöpfung zu gelangen?105 Die Differenzierung ist umso fundamentaler, wenn man sich übergreifend mit der Frage nach der prinzipiellen Steuerbarkeit (respektive Nicht-Steuerbarkeit) öffentlicher Kommunikation auseinandersetzt – denn ebenjene verwischt die Gleichsetzung von Regler und Regelstrecke ganz und gar. Macht und Verantwortung revisited Wenn Zerfaß (vgl. Zerfaß 2008, 541; vgl. auch 2007, 56) Kommunikationsmanagement als „den Prozess der Planung, Organisation und Kontrolle der Unternehmenskommunikation“ definiert, wenn Grunig und Hunt (1984) und Bentele (1997a) Kommunikationsmanagement als das Management der Kommunikation zwischen einer Organisation und ihrer Umwelt definieren (vgl. A.), dann geschieht zunächst einmal nichts anderes, als dass sie ein Objekt des Gemanagt-Werdens, ein Problemfeld, einen Verantwortungsbereich, eine Regelstrecke, in den abstrakten, formalen Prozess des Managements, des Regelns, einsetzen. Mit der theoretischen Definition einer Regelstrecke geht jedoch nicht automatisch ein kongruenter Regler einher, der per definitionem über adäquate Detektor- und Effektorkapazitäten verfügt. Die technokybernetische Metaphorik, das Bild eines Thermostaten, verdüstert ebenjenes Problem. Es ist also mit Vorsicht zu genießen, wenn Leipziger in seiner Konzeptionslehre technokybernetisches Gedankengut sozialen Zusammenhängen überstülpt und, wohl auch aufgrund der Griffigkeit, folgendes Bild gebraucht: Vom Prinzip her funktioniert die Strategische Kommunikation wie jedes rückgekoppelte Steuerungssystem. Ein Beispiel einer solchen Funktionsweise ist eine automatische Klimaanlage, die über ein Thermostat gesteuert wird. Der Thermostat steuert die Temperatur eines Raumes und sorgt dafür, dass sie konstant
105
Vgl. etwa die Begriffsverwendungen bei Will 2008, 63 mit Fokus auf Kommunikationsmanagement; Karmasin 2007 mit Fokus auf Stakeholder-PR; Zerfaß 2008, 541; 2007, 56 mit Unternehmenskommunikation als Fokus; Bentele/Will 2006, 160ff. mit PR und Kommunikationsmanagement synonym; Herger 2008 mit Fokus auf Unternehmenskommunikation.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik bleibt. Zu diesem Zweck wird diese permanent gemessen und bei entsprechenden Schwankungen mittels heißer oder kalter Luftzufuhr korrigiert. (Leipziger 2004, 12)
Was die Thermostatmetaphorik (vgl. Bentele/Nothhaft 2008) verschleiert ist die Tatsache, dass ein Thermostat eine Maschine ist, die von einem Konstrukteur für einen definierten Zweck konstruiert wurde – von einem Thermostat an einer Heizung erwartet niemand, dass er kühlt. In der Sozio- und Managementkybernetik stellt sich das Problem der „Konstruktion“ eines rückgekoppelten Steuerungssystems aber in ganz anderer Art und Weise. Detektor und Effektor können und dürfen nicht bereits in der Konstruktion als zwei Seiten ein und derselben Medaille gedacht werden. Dass die Kommunikationsabteilung eines Unternehmens ein Bewusstsein dafür entwickelt, dass es ihre Aufgabe ist, das Image der Unternehmung zu steuern, dass die Akteure Veränderungen der Wahrnehmung des Unternehmens in der Öffentlichkeit registrieren (= Detektor), bedeutet eben gerade nicht zwangsläufig, anders als bei einer konstruierten Maschine, dass die Abteilung automatisch über entsprechende, ihrer Zwecksetzung entsprechende Steuerungs-, Regelungs- oder Interventionsmöglichkeiten verfügt. Verantwortung und Macht, um zu einer zentralen Denkfigur zurückzukehren, hängen in der Logik moderner Organisationen zwar voneinander ab, sie verhalten sich aber nicht zueinander wie Regler und Regelstrecke, Detektor und Effektor.
Abbildung 45: Management in drei Dimensionen (Quelle: Mintzberg 1994, 14)
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Eine Differenzierung: Inside, Outside, Within Gerade weil die simple, technokybernetische Metaphorik in die Irre führt, argumentiert der Autor für eine Differenzierung, welche der Unterscheidung zwischen Verantwortung und Macht Rechnung trägt. Abbildung 45 vergegenwärtigt die Differenzierung. In seinem integrativen, holistischen Nussschalenmodell weist Mintzberg darauf hin, dass Management de facto in drei Kontexten geschehe (vgl. auch B.I): (1) inside, hinsichtlich der Abteilung, für die der Manager verantwortlich zeichnet und über die er Autorität besitzt; (2) within, in der Organisation und hinsichtlich Fragestellungen, für die der Manager verantwortlich ist, aber gegenüber anderen Akteuren und Managern, über die er keine formale Autorität besitzt; schließlich (3) outside, wiederum hinsichtlich Fragestellungen, für die der Manager verantwortlich ist, aber gegenüber Akteuren, die weder der Autorität des Managers selbst noch einer dritten, übergeordneten Autorität unterworfen sind, der der Manager auch, im Sinne eines gemeinsamen „Im-Boot-Sitzens“, unterworfen ist: etwa einem Geschäftsführer oder Vorstandsvorsitzenden. Die simple Mintzberg’sche Differenzierung erschließt drei Komplexe, die ohne sie in Vagheit und Diffusität gehüllt bleiben: Erstens lässt sich sehr viel präziser die Frage stellen, was ein konkreter Kommunikationsmanager praktisch, in der spezifischen Konstellation, managt, wofür er de facto verantwortlich gemacht wird, wo er de facto Autorität ausübt. Zweitens lässt sich präziser analysieren, welcher Verantwortungsbereich oder welche Regelstrecke von welchen Autoren theoretisch konzipiert wird. Drittens lässt sich analysieren, wo Kommunikationsmanager wie agieren, auf welcher Basis. Der Autor möchte alle drei Fragen im Rahmen seiner Untersuchung ansprechen, hier und jetzt aber vor allem die letzte: Wo agieren Kommunikationsmanager wie? 3.2.2 Inside: First-Order-Management – die These von der Ausdehnung des Managers Bentele und Nothhaft (2007) legen eine Darstellung vor, welche den systematischen PRProzess und den systematischen Managementprozess, wie sie sich ähnlich in vielen, jeweils einschlägigen Lehrbüchern finden, zusammenführt. Abbildung 46 zeigt die Zusammenführung. Im Rahmen des „ehernen Fünferkanons“ (vgl. II.2) geschieht Management als Planung, Führung, Personaleinsatz, Organisation und Kontrolle. Um zu Mintzbergs Analyse der generischen purposes von Managern zurückzukehren, wie sie unter 3.1.3 vorgestellt wurde: In der horizontalen Dimension kreiert ein Kommunikationsmanager eine neue Kommunikationsabteilung oder rekreiert eine bereits bestehende; wenn sich die Rahmenbedingungen verändern, passt er die Einheit an die veränderten Bedingungen an; grundsätzlich sorgt er dafür, dass die Organisation reibungslos läuft. Aber das geschieht nicht um ein Leerfeld herum, sondern es geschieht, um einen „Apparat“ zu gestalten, zu entwickeln und zu lenken, der „etwas“ tut: im Idealfall, wie in Abbildung 46, die rational-systematische Lösung von Kommunikationsproblemen. Bentele und Nothhaft stellen heraus, dass Kommunikationsmanager sich nicht zwangsläufig von Kommunikationsfragen entfernen, wenn sie zum Manager avancieren, sie bearbeiten sie nur durch eine Struktur bzw. in einer solchen: arbeitsteilig, mit Hilfe eines „Apparates“: Was tut ein Kommunikationsmanager also? „Managt“ er in der geschilderten Art und Weise oder ist er damit beschäftigt, Kommunikationskonzepte zu entwickeln und durchzuführen? Die Frage ist in dieser Form des „entweder/oder“ falsch gestellt. Es ist davon auszugehen, dass mit Führungsverantwortung aus-
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik gestattete, an der Spitze einer arbeitsteilig operierenden, funktional spezialisierten Einheit (Kommunikationsabteilung) stehende Kommunikationsmanager de facto beides tun. Der Fünferkanon bildet ab, was jeder Manager stets und notwendig tut, die Konzeptionslehre bildet ab, was Kommunikationsmanager tun – freilich nicht immer in der sauberen Abfolge, die ein solches Modell suggeriert. (2007, 361f.)
Abbildung 46: Management in zwei Dimensionen (Quelle: Bentele/Nothhaft 2007, 362) Management in einer horizontalen und einer vertikalen Dimension zu denken, wirft das Licht auf drei typische „Managerprobleme“, die aus einer einzigen Wurzel erwachsen: Die Wurzel ist die, dass Manager in resultatsorientierter Verantwortung nicht nur reibungsloses Funktionieren in der horizontalen Dimension, sondern Leistungen und Erfolge in der vertikalen Dimension anstreben. a) Problem 1: Management ist nicht die Ausdehnung der Person des Managers Sieht man sich die Darstellung bei Bentele/Nothhaft genauer an, fällt eines auf: dass der Kommunikationsmanager, obwohl von ihm die Rede ist, fehlt – das ist bei Mintzberg anders. Bentele und Nothhaft106 gehen also über die Konzeptionslehre in der PR-Lehre hinaus, wenn sie Struktur und Arbeitsteiligkeit problematisieren, sie gehen aber noch nicht den entscheidenden Schritt: Erst wenn man die Person eines Kommunikationsmanagers in die Gleichung einsetzt, tritt das Managementproblem des Akteurs klar und deutlich hervor: dass der „Apparat“, wie es Bentele und Nothhaft nennen, nicht eine natürliche Ausdehnung des Managers ist, sondern bereits in sich selbst ein verwickeltes, zu managendes Gebilde dar106 Die Theorieentwicklung in der PR-Lehre vernachlässigte das Thema Struktur, und damit das Thema Arbeitsteiligkeit über lange Zeit. Erst Konzepte wie Integrierte Kommunikation oder Issues Management respektive ein erwachendes Interesse an Agenturmanagement führten, so wie es der Autor überblickt, zu einer Beschäftigung der PR-Lehre mit Kommunikationsmanagement als Management von Kommunikationspersonal.
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stellt. In der kybernetischen Terminologie ausgedrückt: Der Manager als Akteur instrumentalisiert nicht in trivialer Art und Weise einen Apparat, um in die Kommunikationsaktivitäten einer Organisation zu intervenieren, etwa so, wie man das Lenkrad eines Fahrzeuges in trivialer Art und Weise benutzt, um ein Auto zu lenken. Der „Apparat“ selbst bedarf der Aufmerksamkeit, bedarf, um die Dreierfigur der St. Galler Managementschule heranzuziehen, der Gestaltung, Entwicklung und Lenkung. Eine Abteilung zu führen ist, der Eindruck entstand aus den Interviews und der Studie, mit der langjährigen, geduldigen Erziehung eines Kindes zu vergleichen. Manager D bindet ebenjenes Problem an konkrete Aktivitäten, wenn er formuliert107: Eine der wesentlichen Erkenntnisse, die Sie irgendwann haben werden, wenn Sie aus einer Referententätigkeit in eine Managementposition kommen, ist, dass Ihre Mitarbeiter die Dinge nicht zwingend so machen, wie Sie sie sich vorstellen. Was einerseits daran liegt, dass Sie es in der Regel nicht gut genug kommunizieren. Was aber auch daran liegt, dass Leute andere Ideen haben – über eine und dieselbe Lösung. Und sei es nur, dass einer einen Text anders formulieren würde. Wenn ich jemanden briefe und sage, ich will den Text so und so haben, dann wird der nie so sein wie ICH ihn schreiben würde. Das muss man irgendwann einmal für sich selbst akzeptieren. Ansonsten saufen Sie komplett ab. Und da gibt’s zwei Möglichkeiten ranzugehen: Entweder Sie schreiben am Ende alles selber. Dann machen Sie sich ziemlich kaputt dabei und verlieren den Überblick. Oder Sie fangen an, Dinge zu redigieren. Und versuchen, Leute dahin zu bringen, Dinge ähnlich zu machen, wie Sie sie sich vorstellen. Verändern das Briefing. Briefen anfangs genauer. Das ist der Weg, den ich gegangen bin.
b) Problem 2: Manager delegieren Arbeit, nicht Verantwortung Dass Manager delegieren, den Überblick behalten, weniger machen, mehr machen lassen sollten, ist konventionelle management wisdom. Zu einem Erkenntnissprung führt es, wenn man Manager Ds Zitat im Licht der Rede von Verantwortung und Macht re-analysiert – die Frage stellt, was Manager delegieren. Prima facie beschreibt Manager D, dass er Teile der ihm übertragenen und von ihm angenommenen Verantwortung auf einen anderen Akteur überträgt, ihn möglichst auch mit entsprechender Macht, mit Ressourcen ausstattet, um der übertragenen Verantwortung gerecht zu werden. Wenn Manager D einem Mitarbeiter die Aufgabe überträgt, einen Text zu verfassen, fühlt sich der Mitarbeiter schließlich verantwortlich für die Zeilen, die er schreibt. Liest man das Zitat noch einmal, tritt jedoch hervor, dass Manager D sich auch und immer noch verantwortlich fühlt. Das zu verstehen ist entscheidend, um das Problem des First-Order-Managements – insbesondere, wenn es um Kommunikationsmanagement geht – herauszuarbeiten. Die duale Natur lässt sich auflösen, wenn man Verantwortung nicht verdinglicht, sondern als Beziehung begreift, konsequent eine Akteursperspektive aufrechterhält: Manager Ds Mitarbeiter fühlt sich Manager D gegenüber verantwortlich, Manager D gegenüber seinem Vorgesetzten, dem Geschäftsführer. Freilich, im ersten Fall ist die Verantwortung feiner und konkreter, im zweiten Fall ist sie gröber und abstrakter. Die fundamentale Idee des Managements ist aber ein und dieselbe: dass Manager mit Blick auf ihren Verantwortungsbereich neue, untergeordnete Arbeitsbereiche (Arbeitspositionen) oder neue Verantwortungsbereiche (Managementpositionen) schaffen (Organisation, Personaleinsatz), dann einen Schritt zurücktreten, um die Durchführung der Arbeit oder die Übernahme der Teilverantwortung lediglich zu planen (Pla107
Interessant ist ferner die Antwort, die Manager D auf die Frage gab, ob er durch sein Studium der Betriebswirtschaftslehre auf diese Problemstellung vorbereitet gewesen sei – ein emphatisches „Nein“ war die Antwort, was die Thesen von der Differenz zwischen Betriebswirtschafts- und Managementlehre tendenziell bestätigt.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
nung), lediglich die Resultate (Kontrolle) zu kontrollieren, bei Störungen einzugreifen (Führung). Da auch der arbeitswütigste Manager nur begrenzte Kapazitäten zu Verfügung hat, bleibt es nur durch das Zurücktreten plausibel – plausibel in der Organisationslogik –, dass Akteure die Verantwortung für Bereiche übernehmen, die sie de facto, als Menschen, gar nicht überblicken. Für den einzelnen Akteur, das muss ganz klar gesehen werden, stellt das Zurücktreten jedoch nicht Ent-, sondern Belastung dar, nicht Komplexitätsverringerung, sondern Komplexitätssteigerung – zumindest, wenn er seine Verantwortung ernst nimmt. Das ist einerseits der Organisationslogik geschuldet, vor dem Hintergrund lebensweltlich-menschlicher Logik potenziert es sich aber. Vor dem Hintergrund der Organisationslogik ist der Manager nach Delegation für einen größeren Verantwortungsbereich verantwortlich, weil er zusätzlich für die Bereiche Verantwortung trägt, in welche die von ihm verantworteten Akteure auf Basis ihres „Ermessensspielraums“ drängen. Vor dem Hintergrund der lebensweltlichen-menschlichen Logik ist er für die Personen, die er „unter sich hat“, verantwortlich. c) Problem 3: Komplexitätstreiber „Ganzheitlichkeit“ – der Teufel steckt im Detail Dass Manager „managen“ ist natürlich nicht neu. Gerade mit Blick auf Kommunikationsmanagement gilt es aber zu fragen, unter welchen Voraussetzungen das Zurücktreten um einen Schritt, das Agieren mit Planung und Kontrolle plus x, besser oder schlechter funktioniert. Dabei ist es verführerisch, die Frage in Bausch und Bogen unter Rekurs auf das Konzept der Komplexität zu beantworten; zu sagen, dass Management unter Bedingungen hoher Komplexität schwieriger, unter Bedingungen niedriger einfacher ist. Das stellt aber eine Leerformel dar. Die eigentliche Frage ist, welche Komplexitätstreiber in einem Verantwortungsbereich wirken und inwiefern sie durch kluges und geschicktes Management neutralisierbar sind oder nicht. Um die Diskussion, die bereits unter A angerissen wurde, kurz und bündig zu halten, diskutiert der Autor ausschließlich einen Komplexitätstreiber, der im Kommunikationsmanagement besonders bösartig wirkt, nicht oder nur begrenzt durch klassisches Management neutralisierbar ist. Es ist der Aspekt der Ganzheitlichkeit, welcher bereits in verschiedenen Zusammenhängen angesprochen wurde, welcher den obersten Kommunikationsverantwortlichen mit dem obersten Strategieverantwortlichen und dem obersten Gesamtverantwortlichen zu einer Trias verschweißt: Diese drei Akteure stehen vor der Herausforderung, sich wechselseitig und die Organisation in toto verstehen zu müssen. Anders ausgedrückt: sie müssen mit mentalen Modellen arbeiten, die die Organisation als „großes Ganzes“ in ihrer Umwelt repräsentieren. Der Ganzheitlichkeitscharakter eines jeden Versuches, die Repräsentation einer Organisation in der Öffentlichkeit zu regeln, verschärft die Managementproblematik auf allen drei Ebenen: des First-, Second- und Third-Order-Managements. Manager Ds Zitat vergegenwärtigt, dass es aber bereits auf der ersten Ebene voll und ganz durchschlägt. Um seiner Verantwortung gerecht zu werden, müsste der oberste Kommunikationsverantwortliche im Prinzip jedes Schriftstück lesen, welches die Abteilung verlässt. Das ist einerseits einem Macht-, andererseits einem Verantwortungsaspekt geschuldet. Dem Machtaspekt ist es insofern geschuldet, weil Kommunikationsmanager durch ihre Befugnis, stellvertretend für das Unternehmen und die Unternehmensführung zu sprechen, mit jedem Kommunikationsakt ungeheure Werte des Unternehmens, strategische Assets,
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einsetzen und damit „aufs Spiel“ setzen: die Glaub- und Vertrauenswürdigkeit, die Reputation, das Image, etc. Anders ausgedrückt, in der PR- und Kommunikationsarbeit ist es enorm schwierig, einzelne Handlungsbereiche als weniger wichtig und von untergeordneter Tragweite zu kompartmentalisieren (vgl. auch A.II.5; A.II.6), um sie „in Seelenruhe“ untergeordneten Mitarbeitern zu überantworten. Wenn die Macht, die man von Seiten des Unternehmens überantwortet bekommt, in einem Forschungsbudget von einer halben Million Euro besteht, ist der potenziell maximale Schaden limitierbar, und er ist kompartmentalisierbar. Wenn ein Direktor Unternehmenskommunikation einer Pressesprecherin gestattet, Journalisten gegenüber die Unternehmensstrategie darzulegen, ist der potenzielle Schaden einer unvorsichtigen Randbemerkung ungleich höher, wenn auch womöglich reparabel. Um es salopp auszudrücken: In der Kommunikationsarbeit steckt der Teufel im Detail – jede Formulierung könnte Dynamiken in Gang setzen, die in ihren Konsequenzen nicht zu überblicken sind. Managerin B bringt das auf den Punkt, wenn sie im Interview auf die Frage nach der Bedeutung jahrelang gewachsener Kontakte im Unternehmen ausführt: Ja, ich sehe das an meiner Stellvertreterin. Die ist jetzt ein gutes Jahr hier. Und die ist eigentlich schon richtig gut vernetzt. Aber ich sage Ihnen, das ist so schwierig. Und dann noch dazu in einem Unternehmen, das so diversifiziert aufgestellt ist wie wir. Die verschiedenen Sparten, dann so viele Töchter, dann der politische Rahmen. Je länger Sie dabei sind, desto mehr machen Sie durch Erfahrung. Das ist dann fast schon wieder so etwas wie Intuition. Wenn ich beispielsweise zu meiner Stellvertreterin sage: Da hakt was bei der Pressemitteilung, da stimmt doch was nicht, und sie sagt dann: Das habe ich aber mit dem und dem so abgestimmt. Dann sage ich: hmm-hmm-hmm – und erinnere mich an einen Fall, der fünf oder sechs oder acht Jahre zurückliegt und denke mir: Mensch, das hast du schon mal… und meine nur: Fragen Sie lieber noch mal den und den. Und in 99% der Fälle war genau da die Krux. Hand auflegen sage ich dazu. Und das können Sie natürlich nur, wenn Sie einen gewissen Erfahrungskorridor im Unternehmen haben.
Aus der enormen Macht, die Kommunikationsmanager von der Organisation überantwortet bekommen, resultiert daher – das Zitat zeigt es – auch eine enorme Verantwortung, wenn die Macht an Mitarbeiter überantwortet wird: die Verantwortung, das Unternehmen und die Mitarbeiter selbst davor zu bewahren, Fehler zu begehen, die sie selbst nicht als Fehler zu erkennen in der Lage sind: weil ihnen der Blick auf das „große Ganze“ fehlt, weil sie nicht genauso wie der ranghöhere Direktor Unternehmenskommunikation in das Management Game der Kommunikation eingebunden sind. 3.2.3 Within: Second-Order-Management – Was ihr säet, das werdet ihr ernten Der Manager einer Fertigungshalle eines Automobilzulieferers managt, das ist eine Selbstverständlichkeit, die Strukturen, Prozesse und Ressourcen in ebenjener Fertigungshalle. Sein Ziel ist der wohlgeordnete (geregelte), effektive (zielgerichtete) und effiziente (ressourcenschonende) Ablauf in seinem Verantwortungsbereich. Entsprechend ließe sich vermuten, dass der Kommunikationsmanager die Kommunikationsaktivitäten, die symbolischen Handlungen der Organisation managt – und im Prinzip ebenjene Ziele verfolgt, die auch der Werkshallenleiter verfolgt: wohlgeordnete, zielgerichtete und ressourcenschonende Kommunikation. Oberflächlich betrachtet ist das der Fall. Bohrt man tiefer, stellt man jedoch fest, dass die Formulierung nicht präzise genug gefasst ist.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
So wie Kommunikationsmanagement häufig ausgestaltet ist, versucht der Kommunikationsmanager, den symbolischen Gehalt der Handlungen des Unternehmens zu managen, ihre Resonanz – wozu er sich auf der Oberfläche symbolischer Handlungen, Kommunikation, bedient; wozu er in der Tiefe Cues und Marker setzt, die die nackten Sachverhalte in dieses oder jenes Licht rücken. Wenn das Unternehmen 5 000 Personen entlässt, liegt es in der Verantwortung des Kommunikationsmanagers, dass die Massenentlassung nicht als zynischer Akt des Großkapitalismus, sondern als notwendige Maßnahme zur Rettung der restlichen 25 000 Arbeitsplätze verstanden wird – man muss das zunächst einmal mit machiavellistischem Realismus aussprechen, um sich nicht in Widersprüche zu verwickeln. Die Verantwortung für den mutmaßlichen, erwartbaren symbolischen Gehalt von Unternehmenshandlungen, ihre Resonanz in der Öffentlichkeit, ist freilich etwas völlig anderes als die bloße Verantwortung für die eigenen symbolischen Handlungen und die der Mitarbeiter der eigenen Abteilung – über die man formale Autorität besitzt. Die fundamentale Differenz charakterisiert der Autor mit dem Begriff des Second-Order-Managements, des Managements zweiter Ordnung. Während Management erster Ordnung aus „Macht über“ erwächst, was wiederum „Verantwortung für“ erzeugt, verhält es sich bei Management zweiter Ordnung genau umgekehrt: Der Kommunikationsmanager hat „Verantwortung für“, aus der „Macht über“ erwächst. Da der Direktor Unternehmenskommunikation für den symbolischen Gehalt bestimmter Handlungen verantwortlich ist, entsteht Einfluss, entsteht ein Mitspracherecht, entsteht in einigen Organisationen sogar formale Autorität.
Abbildung 47: Management in zwei Dimensionen (Quelle: eigene Darstellung)
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Management zweiter Ordnung bedeutet also, dass der Kommunikationsmanager in das „eigentliche“ Management anderer eingreift. Während die Managementfunktionen die Performanzfunktionen der Organisation bereits netzartig überlagern, steht Management zweiter Ordnung quer zu den Managementfunktionen. Abbildung 47 vergegenwärtigt den Gedanken. Die Abbildung zeigt, wie das Management eine Entität und eine Position kreiert und ihr, in einem Re-entry in der originären Bedeutung der Begrifflichkeit – als Wiedereintritt –, die Verantwortung dafür überträgt, hinsichtlich bestimmter Fragestellungen, wenn bestimmte Probleme auftreten, in den Performanzprozess und in den Managementprozess zu intervenieren. Abbildung 47 suggeriert eine sterile Prozessualität, ähnlich der Bedienung einer komplizierten Anlage. Sterile Prozessualität möchte der Autor nicht in die Organisationsrealität, nicht in das Erleben des Akteurs hineinprojizieren: Bereits das Management erster Ordnung war weniger mit dem Fahren eines Autos, mehr mit der Erziehung eines Kindes vergleichbar. Management zweiter Ordnung hat weniger Ähnlichkeit mit der Bedienung einer komplizierten Anlage, sehr viel mehr mit dem Spielen eines komplexen Spieles. Ja, aus der Beobachtungsstudie bietet sich eine weitere, anders gelagerte Metaphorik an, die ein völlig neues Licht darauf wirft, wie Management zweiter Ordnung aussieht. Im Rahmen der Beobachtung begleitete der Autor Manager H zu einer Veranstaltung, auf der Neueinsteiger in das Unternehmen in die wichtigsten Unternehmenszweige eingeführt und mit den verschiedenen Bereichen und Abteilungen vertraut gemacht werden sollten. Die Veranstaltung dauerte beinahe den ganzen Tag und im Verlauf der Veranstaltung hielt Manager H sieben Mal den gleichen Vortrag über die Abteilung Unternehmenskommunikation, insbesondere aber über die Markenphilosophie und die Markenwerte des Unternehmens, beantwortete Fragen, erläuterte. Nach der Veranstaltung, auf dem Rückweg zum Büro, warf der Autor die Frage auf, ob Manager H es sich denn leisten könne, de facto den ganzen Tag „außer Gefecht“ zu sein. Manager H antwortete zunächst mit seinem Credo, dass eine gut funktionierende Abteilung reibungslos funktionieren müsse, ohne dass der Chef als Aufpasser vor Ort sei. Dann hielt er aber inne und erwiderte (Zitat aus handschriftlicher Notiz des Autors): Das ist meine wichtigste Aufgabe. Heute habe ich meinen Job gemacht. Veranstaltungen wie diese geben mir die Möglichkeit, mein Verständnis der Markenwerte des Unternehmens, unsere Philosophie, den Leuten zum frühestmöglichen Zeitpunkt einzupflanzen. Was ich jetzt an Zeit und Mühe investiere, wird sich dutzendfach auszahlen. Was ich jetzt säe, wird mein Nachfolger in drei, fünf oder zehn Jahren ernten.
Die Anekdote vergegenwärtigt, dass Management zweiter Ordnung nicht zwangsläufig krudes „hineinmanagen“ in andere Verantwortungsbereiche bedeutet. Unter E unternimmt der Autor den Versuch zu rekonstruieren, wie das skizzierte Second-Order-Management in der Realität aussieht, wie Kommunikationsmanager in das Management anderer eingreifen. Es geschieht, um das vorwegzunehmen, zum einen in formalisierter Art und Weise, zum anderen in informeller, beiläufiger. Formelle Einflussnahme geschieht beispielsweise durch Teilnahme an Meetings, Präsenz in Steuerungskomitees; informelle Einflussnahme geschieht durch das Ausbauen und Nutzen persönlicher Netzwerke, durch „zufälliges“ Treffen von Personen, durch Gespräche „zwischen Tür und Angel“. Es erfordert, und das ist ein äußerst interessanter Aspekt, die Entwicklung von Rollen, welche mit der „Einmischung“ in das Management anderer kompatibel sind.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
3.2.4 Outside: Third-Order-Management Obwohl übergeordnete Zwecke von Anfang an mitgedacht wurden, verkürzte und vereinfachte die Diskussion des First- und Second-Order-Managements bis jetzt sehenden Auges, welche Zwecke Organisationen und Organisationsakteure gewöhnlich mit Public Relationsund Kommunikationsarbeit respektive -management verfolgen, welche Ziele man sich in der Praxis steckt. Gewöhnlich erschöpft sich der Zweck der Praxis nicht darin, eine Abteilung zu gestalten, zu entwickeln und zu lenken oder in Performanz und Management einer Organisation zu intervenieren. Der Zweck liegt, in der managementtypischen Resultatsorientierung, außerhalb des eigenen Funktionsbereiches, außerhalb der Organisation. Auf die Frage, was seine Aufgabe im Unternehmen sei, antwortete Manager D wie erwähnt: Wir sind eigentlich dafür da, unser Geschäftsmodell abzusichern gegenüber allen Schnittstellen mit der Umwelt, die nicht zwangsläufig geschäftsbedingt sind. So würde ich es mal versuchen zu definieren. Das heißt, ich würde bei uns jetzt Kunden rausnehmen. Weil wir die hier nicht betreuen. Sondern wir sind verantwortlich für all diejenigen Bereiche, die außerhalb des reinen Geschäfts liegen – die aber über die Gestaltung des Wettbewerbsumfeldes und des gesellschaftlichen Umfeldes in dem wir agieren sehr wohl einen Einfluss auf das Geschäftsmodell haben. […] Da spielt Politik eine Rolle. Da spielt aber auch die öffentliche Wahrnehmung des Unternehmens eine Rolle. Das ist Presse. Das geht aber ein ganzes Stück weiter. Wir haben Konsumentenhotlines, die wir eingerichtet haben. Hotlines, an die sich alle wenden können – nicht nur Konsumenten, sondern auch Menschen, die Fragen rund um unser Produkt haben. Die kriegen dann die entsprechenden Antworten. Also wir sind die Schnittstelle zur Umwelt. Zum externen Umfeld. Also sozusagen das operative Geschäft gegen Durchgriffe von außen abzupuffern? Genau.
Macht und Verantwortung revisited Die Verantwortungslogik, in der Kommunikationsmanagement geschieht, ist also eine dreifaltige, von außen nach innen argumentierende: Der Kommunikationsmanager ist im Rahmen der Organisationslogik verantwortlich dafür, ein spezifisches Image, eine gute Reputation, Akzeptanz für das Geschäftsmodell etc. „herzustellen“; deswegen muss er in die Performanz der Organisation und in ihr Management eingreifen; deswegen, weil das eine vielschichtige, nicht allein zu bewältigende Aufgabe ist, braucht er einen „Apparat“, der ihm dabei hilft. Analysiert man das Verhältnis von Macht und Verantwortung, tritt hervor, dass es hinsichtlich Macht mit einem Mal, auf der dritten Ebene, zu einem Bruch kommt: Kommunikationsmanager wie Manager D übernehmen Verantwortung für Bereiche, über die sie de facto keine Macht ausüben, weder direkte, auf formale Autorität im Rahmen der Organisationslogik gegründete, noch indirekte, noch Einfluss: Die Anrufer der Hotline sitzen eben nicht mit ihm „im Boot der Organisation“ – aus der Tatsache, dass er aus Perspektive der Organisation verantwortlich dafür ist, dass die wütenden Anrufe aufhören, erwächst ihm keine Macht gegenüber den Anrufern. Um nicht missverstanden zu werden: Der Autor postuliert keineswegs, dass Organisationen und die in ihnen, durch und für sie agierenden Akteure gar keine Macht gegenüber der Öffentlichkeit, Bürgern oder Akteuren außerhalb der Organisation verfügen. Organisationen verfügen natürlich über sticks und carrots, wie jeder Akteur auch. Was der Autor postuliert ist, dass Organisationen und ihre Kommunikationsmanager nicht über die Macht verfügen, das herbeizuführen, was sie typischerweise mit Kommunikationsmanagement herbeiführen wollen: ein spezifisches Image, eine gute Reputation, die Akzeptanz eines Geschäftsmodells, Glaubwürdigkeit, Vertrauen. Auf einer
III. Kommunikationsmanagement als wohlgeformte Praxis
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primitiveren kommunikationstheoretischen Ebene haben sie nicht die Macht, weil sie nicht über die ungeheuren Ressourcen verfügen, die man benötigt, um derartige Effekte „künstlich“, gegen den Widerstand der Bürgerinnen und Bürger zum Zeitpunkt t herbeizuführen – vermutlich verfügen nur Nationalstaaten über derartige Ressourcen. Auf einer elaborierten gesellschaftstheoretischen Ebene haben sie nicht die Macht, weil Organisationen nicht in der Lage sind, die Bürgerinnen und Bürger in „Tälern der Ahnungslosen“ zu isolieren, ihnen die Möglichkeit zu nehmen, andere Standpunkte zu hören – eine Macht, die nur totalitäre Staaten mit Propagandaapparaten besitzen. Der dritte Weg revisited Es ist nicht die Absicht des Autors, Kommunikationsmanagement als ein leeres Ritual zu entlarven, wie das bei Proponenten der kritischen PR-Theorie gelegentlich durchschimmert (vgl. jüngst etwa L’Etang 2008). Dass und wie Kommunikation im Prinzip „wirkt“, haben Autoren wie Zerfaß oder James und Larissa Grunig überzeugend ausgearbeitet, im Rahmen der Diskussion des dritten Weges griff die vorliegende Arbeit das Thema auf. Worum es dem Autor hier und jetzt geht, ist herauszustellen, dass Kommunikationsmanagement auf drei Ebenen geschieht, die fundamental differieren. Und es geht auch darum, die Frage aufzuwerfen, inwiefern der Begriff des Managens auf der dritten, ja teilweise bereits auf der zweiten Ebene Konnotationen trägt, die den tatsächlichen modus operandi eher verschleiern als enthüllen. Derzeitige und zukünftige Kommunikationsmanager sollten sich der Tatsache bewusst werden, dass Kommunikationsmanagement das Spielen verschiedener Rollen in verschiedenen Spielen erfordert. Welche Spiele wie gespielt, welche Rollen Direktoren Unternehmenskommunikation etwa gegenüber Journalisten spielen, erörtert die Arbeit unter D allgemein, unter E konkret und spezifisch. 3.2.5 Vorsicht vor einem „Werkshallendenken“, Höhlenblick und Tunnelblick Der Autor schließt die Diskussion der drei Managementebenen mit einer Warnung vor „Werkshallendenken“ und mit der Unterscheidung von Höhlenblick und Tunnelblick, die er Managerin B verdankt. „Werkshallendenken“ Unter „Werkshallendenken“ versteht der Autor das Leitbild, dass wohlgeordnete Abläufe („null Fehler“) als der Normalzustand, Abweichungen davon als genau das anzusehen sind: als Abweichungen. Für ambitioniertes Kommunikationsmanagement ist es fatal, wie der Autor glaubt, sich an einem „Werkshallendenken“ zu orientieren. Dass ein Direktor Unternehmenskommunikation auf der ersten Managementebene möchte, dass in seiner Abteilung geregelte Verhältnisse herrschen, ist selbstverständlich. Wenn etwas nicht so geschieht, wie er es angeordnet hatte oder angeordnet zu haben glaubt, dann stellt das durchaus eine Abweichung dar. Was die Ebene des Second- und insbesondere des Third-OrderManagements anbelangt, ist die Definition „geregelter Verhältnisse“ aber immer lockerer und lockerer zu sehen, ist gegenüber Abweichungen großzügiger zu verfahren. Ein schwer zu belegender, aber prägender Eindruck der Beobachtungsstudie war es, dass je älter und erfahrener der beobachtete Praktiker war, desto mehr richtete er seine Aufmerksamkeit auf grundsätzliche Tendenzen. Dass diese Entscheidung unternehmensintern genau so getroffen (Second-Order-Management) und jener Zeitungsartikel präzise so geschrieben war (Third-
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Order-Management) war den betreffenden Personen weniger wichtig. Sehr viel wichtiger war es ihnen, Tendenzen zu identifizieren, die eine womöglich gefährliche Eigendynamik indizierten. Höhlenblick und Tunnelblick Die Differenzierung zwischen First-, Second- und Third-Order-Management gestattet es, Jobs danach zu differenzieren, auf welcher Ebene Verantwortung übernommen, Macht ausgeübt, insbesondere aber welche Komplexitätstreiber wo gesehen werden. Es stellt einen fundamentalen Unterschied dar, ob eine Führungskraft ihr Handeln unter einige wenige „große“ Imperative stellt, die in letzter Konsequenz in Sieg oder Niederlage gegenüber „den anderen“ ausdrückbar sind – oder ob es viele „kleine“ Faktoren und Aspekte zu berücksichtigen gibt, die letzten Endes in der Rede von Gleichgewicht und Ungleichgewicht, Harmonie und Disharmonie, Ordnung und Unordnung „bei uns“ ihren Ausdruck finden. Managerin B unterschied diesbezüglich „typische“ Frauen und „typische“ Männer. Dem „Höhlenblick“ der Frau, wie Managerin B ihn charakterisierte, stellt der Autor den „Tunnelblick“ der Männer gegenüber. Im Interview äußerte Managerin B auf die Frage, wie das Kommunikationsverhalten jeweils bei Frauen und Männern sei: Also grundsätzlich anders. Das Kommunikationsverhalten von Männern ist grundsätzlich anders geprägt als das von Frauen. Frauen – das führe ich schlicht und ergreifend auf die Steinzeit zurück… Es gibt ja eine sehr bekannte Verhaltensforscherin, Frau Professor Höhler, die ich mir dazu auch immer gern anhöre: Die Frauen waren früher in der Höhle fürs Feuer zuständig und mussten sich da darum kümmern, dass alle Generationen, die sie unter einen Hut bringen mussten, sich nicht in die Haare kriegen. Damit es nicht Mord und Totschlag in der engen Höhle gibt. Dass das Feuer nicht ausgeht. Dass immer genügend zu Essen da ist. Und ansonsten Friede, Freude, Eierkuchen herrscht. Weil, wenn die Männer von Jagd und sonstigen Dingen zurückkamen, dann musste der Laden ja irgendwie laufen. Die konnten ja dann nicht eine Bruchbude vorfinden. Männer dagegen waren nun mal draußen. Mussten in der feindlichen Umwelt – zwar gemeinsam, aber doch letztendlich jeder für sich – klarkriegen, dass sie genügend Nahrung rangeschafft haben. Und ansonsten ums Überleben gekämpft haben draußen. Und das hat einen anderen Kommunikationsstil. Die Männer sind grundsätzlich sehr viel mehr auf ein Ziel fokussiert. Ja, geben sie einer Gruppe von Männern ein Ziel, dann haben die alle nur dieses eine Ziel im Auge. Wie können wir dieses Ziel erreichen? Da wird nicht mehr geguckt. Frauen haben eher einen Panoramablick – sprich: Höhle, in der man auch in die letzte Ecke noch kucken muss. Dass da nicht irgendjemand sein eigenes kleines Feuerchen anmacht oder so etwas. Und die Männer haben das Ziel: Wir müssen diesen Löwen jagen, damit unsere Leute in der Höhle genügend zu Essen haben. […] Aber im Grunde genommen sind die Frauen auch heute noch in der Höhle und die Männer draußen und jagen den Löwen. Und wenn wir uns darüber mal klar werden – wo jeder so herkommt – dann ist es auch viel einfacher – oder würde jedenfalls sehr viel einfacher sein – dass Männer und Frauen eigentlich ein ziemlich gutes Team bilden. Wenn nur jeder vom anderen anerkennt, dass das wichtig ist, was er da macht.
Dem Autor geht es nicht um die Stichhaltigkeit der These Prof. Höhlers, die er nicht nachgeprüft hat. Ihm geht es um die Unterscheidung zwischen Jobs, die ein Austarieren vieler kleiner, subtiler und sensibler Einflüsse verlangen – und Jobs, die das Be-, ja Überwältigen einiger weniger Faktoren verlangen. 3.3 Strategie: Gesamtverantwortung in Raum und Zeit Ist der Gedanke der rational-systematischen Problemlösung einmal in Anschlag gebracht, besitzt er die „logische“ Tendenz, sich zu verselbstständigen und zu einer Ausweitung des Verantwortungsbereiches zu führen. Das lässt sich an der militärischen Logik historisch besonders gut zeigen: Wie unter II.4.3.2 ausgeführt wurde, war das größte Problem der Kriegsführung über lange Zeit das, überhaupt eine Armee ins Feld zu führen, sie zu ernäh-
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ren und vor dem Zerfall durch Hunger, Abnutzung, Fahnenflucht und Krankheiten zu bewahren – mit historischen Ausnahmen eigenmotivierter Bürgerheere wie während der Athener Demokratie oder hochdisziplinierter Berufsarmeen wie etwa den römischen Legionen. Vor diesem Hintergrund war es ratsam, selbst unter suboptimalen Bedingungen eine Entscheidungsschlacht anzunehmen, ehe die eigene Streitkraft sich auflöste: viele unter ungünstigen Vorzeichen geschlagene Schlachten erklären sich aus diesem Dilemma. Nach und nach gelang es aber, die Probleme der Kampagnenführung in den Griff zu bekommen, wobei viele Faktoren zusammenspielten, etwa die Verbesserung landwirtschaftlicher Methoden, die Konservierung von Nahrung, die Einführung von Berufsarmeen, die Verbesserung medizinischer Versorgung etc. Die Konsequenz, um die es geht, ist jedoch eine einzige: Armeen wurden zu militärischen Apparaten, die genuin durch den Willen des Feldherrn kontrolliert wurden, nicht durch die Notwendigkeiten und Bedürfnisse der Logistik oder andere Dynamiken. Es ist keineswegs ein Zufall, dass die Entwicklung der Militärtheorie mit ebenjener Entwicklung Hand in Hand geht (vgl. hierzu in einem großen Bogenschlag Delbrück GdK Ia, Ib, IIa, IIb; vgl. gedrängt auch Smith 2006, 29-147; Oetinger/Ghyczy/Bassford 2003, 3-50). Die Kontrolle, welche der Feldherr über die Streitkraft erlangte, führte in Synthese mit einem rational-systematischen Herangehen – einer Behandlung der Kriegsführung in einer genuinen Kriegswissenschaft – zu einer logischen Ausdehnung. Der Gedanke ist simpel: Wenn eine Schlacht durch die Qualität, Quantität und Disposition der Truppen auf dem Felde entschieden wurde, dann hieß es, von der Schlacht ausgehend zu fragen, welche Faktoren die Bedingungen des Schlachtfelds diktierten. Wieviele Truppen welcher Qualität wie in der tatsächlichen Schlacht zum Anschlag gelangten, hing zunächst einmal vom Aufmarsch, den Manövern vor der Schlacht, ab. Also durfte der Aufmarsch nicht länger nur „irgendwie“ durchgeführt werden, sondern war bereits Teil der Schlacht: eine Geisteshaltung, die Napoleon Bonaparte perfektionierte. Wieviele Truppen welcher Güte aber in einem Aufmarsch zu einer konkreten und spezifischen Schlacht realistischerweise zusammengeführt werden konnten, hing von der Verteilung der Truppen in Friedenszeiten, ihrer Ausbildung, der Bereitstellung von Waffen und Munition, der Vorbereitung von Aufmarschwegen und Lagern, der Struktur, ab. Die militärische Logik dehnte sich also, soweit es andere Belange gestatteten, von der eigentlichen Begegnung auf dem Felde rückwärts aus. Zu guter Letzt hatte sich in einigen westeuropäischen Staaten, etwa in Preußen, die militärische Logik auf die Gesellschaft insgesamt ausgeweitet: Die gesamte Gesellschaft war ein Apparat geworden, der die Strategie eines als unvermeidlich angesehenen Existenzkampfs trug (vgl. Smith 2006; 29-147). Was wir als Strategie bezeichnen – die Ausweitung der Kontrollsphäre in Raum und Zeit soweit, wie es nur in irgendeiner Art und Weise plausibel ist, und soweit nicht andere, noch übergreifendere Interessen entgegenstehen – ist also eine notwendige Konsequenz der rational-systematischen Methode. Es ist genauso notwendig wie das Faktum, dass Wissenschaftler nach einer „Weltformel“, dass Philosophen nach einer Letztbegründung, dass Physiker nach der theoretischen Fusion von Theorien des Mikro- und Makrokosmos oder des Physischen und Psychischen suchen. Dass wir das, wo wir es mit Organisationen und insbesondere Unternehmen zu tun haben, in Übernahme eines militärischen Begriffes als Strategie etikettieren, ist, wie der Autor meint, historisch gewachsen. Es erklärt sich aus zwei miteinander verknüpften Gründen: Erstens war es das Militär, welches den Strategiegedanken nicht nur konsequent durchdachte, sondern auch durchsetzte: Preußen ist ein
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Paradebeispiel. Zweitens ist wie bereits erörtert zu sehen, dass Strategie das „Zauberwort“ einer Managergeneration darstellte, die sich, auch aufgrund ihrer Biographien, als Offiziersklasse verstand: Die Vorbereitung auf und die Beschäftigung mit Strategie differenzierte den akademisch ausgebildeten mittleren Manager mit Karriereambitionen vom unteren Manager – der in der Regel aus der Reihe der Arbeiter stammte. Die Darstellung verdeutlicht, weshalb Manager und Management heutzutage nicht ohne Rekurs auf das Element des Strategischen zu diskutieren sind, auch wenn das Erbe des Militarismus in den Hintergrund getreten ist – zumindest in Deutschland. Die Anschlussfrage ist freilich, inwiefern das managerielle respektive betriebswirtschaftliche Strategieverständnis, wie es die Business Schools, „Managementgurus“ und die universitäre Strategielehre ausarbeiteten, mit der Strategielehre in Public Relations und Kommunikationsmanagement kompatibel ist. Präziser: Inwiefern ist der manageriellbetriebswirtschaftliche Strategiegedanke der Praxis der Public Relations/des Kommunikationsmanagements tatsächlich überstülpbar? Um die Diskussion nicht zu verkomplizieren, möchte der Autor nur ein betriebswirtschaftliches Verständnis vorstellen – dasjenige, welches er für das generische hält. 3.3.1 Der betriebswirtschaftliche Strategiebegriff, abstrahiert In der Betriebswirtschaftslehre hat sich ein Verständnis durchgesetzt, welches die Unterscheidung zwischen operativ und strategisch an die Ebene unternehmerischen Erfolges knüpft, welche sich wiederum, der betriebswirtschaftlichen Logik folgend, in ebenenspezifischen finanziellen Parametern widerspiegelt. Allerdings lässt sich die Rede von Unternehmen und ihren Geschäften vergleichsweise problemlos auf Organisationen als Systeme übertragen, also abstrahieren. Auch ist es nicht erforderlich, die Ebenen des Erfolges an die Abbildung als Parameter im Managementprozess zu knüpfen, sie treten gleichermaßen im Realgüterprozess auf. Ebenen der Organisationssteuerung Abbildung 48 vergegenwärtigt, dass Unternehmen auf der niedrigsten Ebene zunächst einmal Liquidität gewährleisten müssen. Abstrakter ausgedrückt gilt es, die Operationen eines Systems am Laufen zu halten, was klar und deutlich hervortritt, wenn Liquidität und Ressourcen nicht gegeneinander substituierbar sind, etwa wenn es gilt, Streitkräfte im Feld mit Proviant und Munition zu versorgen. Auf der nächsthöheren betriebswirtschaftlichen Ebene geht es um Rentabilität – darum, Aufwand und Ertrag der Operationen in einem positiven Verhältnis zu halten oder jenes zu verbessern. Für Unternehmen bedeutet das, Produkte und Dienstleistungen gewinnbringend zu vermarkten, was „unterm Strich“ zu einem Bilanzerfolg führt. In abstracto geht es darum, dass Operationen des Systems zu einem Erfolg zu führen respektive dass das System die gewünschte oder erwartete Leistung bringt (Systemperformanz), wie auch immer man Erfolg/Leistung definiert, sei es als Formalziel wie Wertschöpfung, sei es als Sachziel wie die Bekehrung der Heiden, die Rettung der Wale, die Bekämpfung des weltweiten Terrorismus. Der Wechsel auf die nächste Ebene geht einher mit einer Perspektivenverschiebung, welche, wie die Abbildung zeigt, den Übergang vom Operativen zum Strategischen markiert. Der Blick wendet sich ab von der Realisierung, hin zu Potenzialen und Konditionen – von Gegenwart auf Zukunft. Auf der dritten Ebene geht es darum, bestehende Erfolgspo-
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tenziale – bei Unternehmen etwa eine vorteilhafte Marktposition – zu halten, sie auszubauen. Abstrahiert heißt das: die Konditionen erfolgreicher Operation sichern und verbessern (Systemposition). Auf der höchsten Ebene schließlich geht der Blick über die derzeitigen Operationen hinaus und wendet sich der Frage zu, welche neuen und anderen Operationen erfolgsversprechend sind. Sieht man von Organisationen wie etwa der Treuhandgesellschaft ab, welchen die „Selbstabschaffung“ als inhärenter raison d’être vorgegeben wurde, ist das übergeordnete Ziel jeder Organisation in letzter Konsequenz der Selbsterhalt.
Abbildung 48: Die betriebswirtschaftlichen Strategieebenen (Quelle: adaptiert aus Malik 2004, 52; basierend auf Gälweiler 1987) Strategisches Management, strategisches Kommunikationsmanagement Mit Blick auf Kommunikationsmanagement hat Zerfaß unter Rekurs auf ökonomische Theorie breit und umfassend nachgewiesen, dass Unternehmen den geschilderten vier Problemebenen grundsätzlich in zwei Dimensionen gegenüberstehen: der ökonomischen und der sozialen (vgl. ausführlich Zerfaß 2004; Zerfaß 2007; 2008). Die Unterscheidung lässt sich einerseits differenzieren, wie das etwa mit der Triple-Bottom-Line (people, profit, planet) oder in Konzepten wie der Balanced Scorecard (grundlegend Kaplan/Norton 2004; 2006) geschieht, welche vier oder fünf Dimensionen unternehmerischen Erfolges ausbuchstabieren. Andererseits, wiederum auf Systeme abstrahiert, lässt sich sagen, dass Organisationen in zwei Problemfeldern agieren. Zum einen agieren sie in einem „inneren“, organisationsoder systemlogischen Problemfeld. Zum anderen agieren sie in einem „äußeren“, lebensweltlich-gesellschaftlichen Problemfeld, welches über ihre Organisations- oder Systemlo-
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gik hinausgeht. Es handelt sich übrigens um eine Unterscheidung, die sich in der Spiegelung in der Gesellschaft wieder findet: Eisenegger macht geltend (2005, 37), dass zwischen funktionaler und sozialer Reputation zu unterscheiden ist. Die Gesellschaft unterscheidet also zwischen der Fähigkeit, selbstgesetzte Zwecke zu verfolgen und selbstgesteckte Ziele zu verwirklichen einerseits, andererseits der Legitimität ebenjener. Zerfaß ist also beizupflichten, wenn er die Differenzierung von Strategischem und Operativem Kommunikationsmanagement mit der betriebswirtschaftlichen verschränkt. Für ihn definiert sich strategisches Management darüber, dass es in die Zukunft gerichtet Erfolgspotenziale der Unternehmung sichert, erweitert und erschließt. Unternehmenskommunikation, Public Relations oder Kommunikationsmanagement werden dadurch strategisch, dass sie auf der strategischen Ebene agieren. Zum einen geht es darum, durch Kommunikation ökonomische Erfolgspotenziale aufzubauen und zu erschließen; zum anderen geht es, vermutlich in noch ausgeprägterem Maße, um gesellschaftspolitische Erfolgspotenziale (vgl. Abb. 49).
Abbildung 49: Strategisches und Operatives Management (Quelle: Zerfaß 2008, 538) Strategisches Kommunikationsmanagement als höherkomplexer Problemlösungsmodus Freilich, der Betriebswirtschaftslehre gelingt die Verortung des Strategischen, weil sie von einem gesetzten Objekt der Analyse mit einem gesetzten Formalziel ausgeht: der Unternehmung, der der erwerbswirtschaftliche Zweck gegeben ist. Leider hilft die Verortung nicht sehr viel weiter, wenn es darum geht, (1) zu einem Verständnis des Strategiebegriffes in der PR-Konzeptionslehre zu gelangen; (2) strategisches und operatives Agieren als verschiedene Typen rational-systematischen Problemlösens zu integrieren; in letzter Konse-
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quenz (3) die grundverschiedenen kognitiven Modi zu verstehen, welche strategischem und operativem Agieren zugrunde liegen. Der Autor möchte deshalb eine weitere, nicht alternative, sondern parallele Perspektive skizzieren. Das parallele Verständnis fügt sich in das bereits geschilderte ein, wirft aber ein Licht auf die drei Problemstellungen. Es handelt sich, wie unter A, um eine komplexitätstheoretische Perspektive. 3.3.2 Strategisches Problemlösen? Komplexität und Kontrolle Im Rahmen der Unterscheidung zwischen den Modi Arbeit und Management hob der Autor hervor, dass Manager sich dadurch auszeichnen, dass sie Gesamtverantwortung für eine Organisationseinheit übernehmen, sei es für eine Abteilung, für ein Projekt, eine Kampagne oder, wie das bei Vorständen der Fall ist, für die Organisation in toto. Gesamtverantwortung bedeutet, dass Manager nicht nur für ihr eigenes Handeln und von ihnen steuer- oder beeinflussbares Handeln ihrer Mitarbeiter Verantwortung übernehmen, sondern in letzter Konsequenz für die Resultate, für Erfolg oder Misserfolg der Einheit.Ebenso herausgearbeitet wurde (vgl. II.2; III.1), dass das Metier des Managers – eben um Resultate zu erzielen oder zu erwirken – die Beherrschung von Komplexität ist, ihre Kontrolle. Management stellt, in abstracto, nichts anderes dar als resultatorientierte Kontrolle über Organisationen oder Organisationseinheiten, die, wiederum abstrahiert, nichts anderes als komplexe soziale Systeme in Umwelten sind. Gesamtverantwortung, Resultatsorientierung und Komplexität sind jedoch Kehrseiten ein und derselben Medaille: Wer nur für sich selbst, für direkt und unmittelbar beeinflussbares Handeln Verantwortung übernimmt, macht es sich leicht – man geht der Komplexität aus dem Weg. Wer hingegen Verantwortung für Resultate übernimmt, die in der arbeitsteiligen Organisation lediglich indirekt und mittelbar erwirkt werden, stellt sich einem Problem von sehr viel höherer Komplexität. Natürlich gibt es auch Verantwortungsbereiche, die an sich, ohne Arbeitsteiligkeit, komplex sind. Aber auch hier gilt, dass Komplexität vor allem dadurch entsteht, dass man nichts anderes als Kriterium gelten lässt als Resultate, als Erfolg: Das Schachspiel ist ein komplexes, aber auch gegen einen Großmeister zu spielen ist entspannend, wenn man sich von vornherein von der Idee verabschiedet hat zu gewinnen. Der erste Schritt in Richtung Komplexität ist also der, Verantwortung für Resultate zu übernehmen – das tun Manager in der Regel. Der zweite Schritt ist die Frage nach dem Horizont der Verantwortung, und zwar nicht einem Lippenbekenntnis nach, sondern wirklich.108 Drittens stellt sich die Frage, welche Faktoren im Verantwortungsbereich wirksam sind, welche Kräfte greifen und ineinandergreifen. Komplexitätstreiber Ohne das en detail zu erörtern, lässt sich sagen, dass in abstracto folgende Faktoren und Kräfte Managementkomplexität treiben: Ressourcenquantität und -qualität, Raum und Zeit, 108
Der wirkliche Horizont der Verantwortung ist nach Ansicht des Autors in Politik wie Wirtschaft häufig zu kurzfristig angesetzt: Das heißt, es werden zwar langfristige Strategien formuliert, aber Regierungen oder Vorstände sehen klar und deutlich, dass sie selbst, qua Person, für Erfolg oder Misserfolg nicht geradestehen werden. Dabei ist das gerne und oft beklagte Agieren von Quartalszahlen zu Quartalszahlen ein typisches Beispiel für Willkes Argumentation (vgl. etwa 2005b, Kap. 1), dass kurzfristige Komplexitätsreduktion mittel- bis langfristig Komplexität potenziert.
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Interdependenz und Intransparenz sowie die Kräfte Friktion, Tension und Kompetition. Einige Anmerkungen verdeutlichen, wie sie zusammenhängen. Je mehr Ressourcen quantitativ gemanaget werden müssen und je höher ihre Qualität ist (das heißt, je schwieriger es ist, sie optimal auszuschöpfen), umso größer ist die Komplexität. Dass zehn Personen zu führen ceteris paribus größere Komplexität bedeutet als drei Personen zu führen, versteht sich von selbst. Von größerer Bedeutung als Quantität ist aber die Verteilung der Verantwortung, respektive die Distribution der Ressourcen, in Zeit und Raum – wobei der Autor Zeit und Raum hier weit, quasi metaphorisch versteht. Was Raum anbelangt, gilt es beispielsweise zu sehen, dass die Führung eines zehnköpfigen Teams für Presse- und Medienarbeit eines ausschließlich in Deutschland operierenden Konzerns weniger komplex ist als die eines identischen Teams, das in Europa, Amerika und Asien agiert. Ebenso ist es komplexer, zehn Personen zu führen, die nicht nur Media Relations, sondern darüber hinaus Investor Relations und Lobbying/Public Affairs verantworten. Ein wirkungsmächtiger Komplexitätstreiber ist der Faktor Zeit. Zunächst einmal gilt, dass Kommunikationsmanagement in einer dynamischen „schnellen“ Branche komplexer ist als in einer „langsamen“. Die Komplexität potenziert sich jedoch, wenn sich hohe Innovationsgeschwindigkeit mit einem langfristigen Investitionshorizont paart, so wie etwa in der Hochtechnologie. Turbulenz, Dynamik und Innovation in einer Branche wirken sich umso bösartiger aus, je längerfristiger die Akteure eigentlich in die Zukunft planen müssten, weil sie „sunk costs“ verursachen: einer der Gründe, weshalb manchmal der Staat interveniert. Was die Komplexität in den geschilderten Fällen bereits treibt, ist Interdependenz. Ein börsennotiertes Unternehmen mag in verschiedenen Ländern verschiedene, voneinander unabhängige Marketingstrategien verfolgen, die Corporate Communications und insbesondere die Investor Relations müssen angesichts weltweiter Finanzmärkte aber synchronisiert sein – das heißt, die Investor Relations an der Wall Street, in London oder Tokio sind untereinander dependent, diese wiederum dependent mit weltweiten Corporate Communications, und diese wiederum dependent mit der Geschichte, welche den Mitarbeitern im eigenen Hause erzählt wird. Und da das noch nicht genügt, kommt ein weiterer, häufig außer Acht gelassener Faktor hinzu: der, der dem „fog of war“, dem „Nebel des Krieges“ der Militärtheorie entspricht – Intransparenz. Das heißt, unvollständige und fehlerbehaftete Information über die tatsächliche Qualität der eigenen Ressourcen und der Ressourcen anderer – sowie Zusammenhänge, die weniger kausaler, denn statistischer, ja stochastischer Natur sind. Zu den Kräften ist zu sagen: Sensible Operationen – also Operationen, die anfällig gegenüber zufälligen Störungen, Fehlern, eben Friktion sind – setzen, ceteris paribus, ein höheres Maß an Komplexitätsbewältigung voraus als robuste. Multitensionale Operationen, die ein „unter den Hut bringen“ vieler verschiedener auseinanderstrebender Faktoren erfordern, sind komplexer als solche, die ein Balancieren einiger weniger oder zueinanderstrebender Faktoren erfordern (vgl. Höhlen- vs. Tunnelblick). Dies dürfte einer der Gründe dafür sein, dass etwa die Kommunikation einzelner Großunternehmen schlagkräftiger wirkt als die von Verbänden oder gar Spitzenverbänden. Zu einer ungeheuren Komplexitätssteigerung führt schließlich Kompetition. Wo Antagonisten existieren, die direkt oder indirekt gegen die Operationen des eigenen Systems agieren, potenziert sich die Komplexität, die Plan- und Steuerbarkeit geht rapide gegen Null. „Kein Plan überlebt die erste Feindberührung“ – das Diktum des „großen Schweigers“, des preußischen Feldmarschalls Helmuth
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von Moltke (vgl. zu Moltke und seiner Rezeption in der Strategielehre Hinterhuber 1990, 28ff.), drückt plastisch aus, weswegen ein Wahlkampf die sehr viel größere Herausforderung darstellt als eine AIDS-Aufklärungskampagne. Der strategische Horizont Inwiefern Kommunikationsmanagement eine Organisationspraxis darstellt, die einigen Komplexitätstreibern übermäßig, anderen weniger bis gar nicht ausgesetzt sind, möchte der Autor hier nicht weiter erörtern. Die These des Autors jetzt ist, dass strategisches Denken und Handeln dann notwendig ist, wenn die Komplexität des übernommenen oder zugewiesenen Verantwortungsbereiches (Verantwortung für Resultate) eine spezifische, bis zu einem Grad individuell verschiedene Komplexitätsschwelle überschreitet.
Abbildung 50: Der strategische Horizont (Quelle: eigene Darstellung) Abbildung 50 zeigt den so genannten Planungshorizont oder strategischen Horizont und vergegenwärtigt, dass konkrete und spezifische Pläne immer „falscher“, immer „unsicherer“ werden, je weiter sie vorgreifen, je ausgedehnter ihr Skopus in die Zukunft reicht. Was ich morgen tun werde, kann ich in der Regel mit relativ großer Sicherheit planen; was ich nächste Woche tun werde, kann ich bei geregelten Lebensverhältnissen evtl. genau, bei ungeregelten ungefähr angeben. Ob sich das in jedem Fall als richtig herausstellt, ist irrelevant – relevant ist die Frage, inwiefern ich meiner Prognose soweit vertraue, meine Planung hier und jetzt auf sie zu stützen. Relevant ist ferner die Frage, wie konkret und spezifisch die Planung ist, wenn ich sie auf meine Prognosen stütze. Abbildung 50 differenziert zwischen taktischer und strategischer Planung, genauer zwischen taktischer Planung, taktischer Vorausplanung, strategischer Planung und strategischer Vorausplanung. Die strategische Domäne liegt jenseits des Horizonts taktischer Vorausplanung. Sie zeichnet sich dadurch aus, dass genuines strategisches Agieren mit abstrakten Problemlösungen hantiert, sprich: Konzepten, Prinzipien, Maximen, Regeln.
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Der Konzernlenker ist nicht in der Lage, alle Schritte konkret und detailliert vorzuzeichnen, die zu seiner Vision Weltmarktführerschaft führen. Die Vision Weltmarktführerschaft setzt aber einen archimedischen Punkt der Unternehmensrationalität, der bei jeder Entscheidung und jedem Handeln als Prinzip und Maxime herangezogen werden kann: Taktische Aktionen und operative Manöver, die als auf diesen Punkt zustrebend dargestellt werden können, sind, um den üblichen Jargon zu gebrauchen, „zielführend“; im umgekehrten, wegstrebenden Fall sind sie Irrwege, Sackgassen, Nebenschauplätze. Strategie machen Neben der Formulierung von „Leitbildern“ gibt es noch andere Mittel und Wege, derartige Rationalitätspunkte zu setzen, z. B. durch Pläne, Sub-Pläne und Sub-Sub-Pläne, durch Ziele etc. Die Frage, wie Strategie gemacht wird, ist aber nicht Gegenstand der Erörterung. Warum Strategie gemacht wird, lässt sich vorwegnehmen. Es geschieht einerseits, um interdependente operative Manöver und taktische Aktionen in Raum und Zeit zu koordinieren. Es geschieht andererseits, um aktuelle und potenzielle Ressourcen gegeneinander in Raum und Zeit dergestalt zu disponieren, dass die Organisation auf allen vier Problemebenen (Operation, Performanz, Position, Potenzial) handlungs-, erfolgs-, wachstums- respektive überlebensfähig bleibt. Anders ausgedrückt: Strategie zu machen heißt ein Prinzip zu formulieren, durch welches aus der großen Menge potenzieller Lösungen für einzelne Probleme diejenigen ausgewählt werden, die auch mit über- oder nebengeordneten Problemen kompatibel sind. Die strategische Ebene ist demnach, das zeigt auch die betriebswirtschaftliche Modellierung, die höchste Ebene der Steuerung einer Organisation – wobei Steuerung nahtlos von Positionierung in Markt- und Gesellschaft übergeht in Transformation des raison d’être der Organisation. Wo der strategische Horizont der Organisationsführung liegt, hängt von vielen Faktoren ab, unter anderem von Dynamik oder Statik der Umwelt – in einer statischen Umwelt ist es plausibel, zehn Jahre in die Zukunft zu planen, in einer dynamischen lachhaft. Unabhängig davon, wo die Schwelle liegt: Jenseits des strategischen Horizonts ist, um zum Thema zurückzukehren, nicht mehr von Management zu sprechen, nicht einmal mehr von strategischem.109 Der Grund ist, dass die Formulierung abstrakter Problemlösungen jenseits des strategischen Horizonts nicht mehr nur spekulativ oder riskant ist – denn das ist Strategieformulierung immer –, sondern schlechterdings illusionär. Ob ein Unternehmen sich darauf vorbereiten soll, in dreißig Jahren offensiv oder defensiv auf dem Telekommunikationsmarkt zu agieren, ist eine nutzlose Frage. Sie ist nicht deshalb nutzlos, weil sie sich niemals auf Basis existierender Informationen vollumfänglich beantworten ließe – das ist bei strategischen Fragen ohnehin selten der Fall. Sie ist nutzlos, weil fraglich ist, ob das Problem in dreißig Jahren überhaupt noch existiert. Subjektiv, bis zu einem Grad individuell, ist die Komplexitätsschwelle, weil der verantwortliche Akteur sich unter Umständen täuscht, zu früh oder zu spät in den strategischen Modus wechselt. Ein voreiliges Wechseln in den strategischen Modus ist insofern problematisch, weil mit dem Ebenenwechsel ein Verlust an Kontrolle einhergeht: Wer eine abstrakte Strategie formuliert, übt nicht das gleiche Maß an Kontrolle über seinen Verantwor109
Gleichwohl ist, wie der Autor unter A.II.6 argumentiert, die Domäne jenseits des Strategischen eine für Kommunikationsmanagement hochinteressante. Hier sind, so die These, die generalisierten Regeln der Organisation verortet, welche nicht mehr oder kaum noch in Frage gestellt werden.
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tungsbereich aus wie jemand, der verschiedene operative Manöver „in groben Zügen“, also nicht detailliert, aber doch konkret und spezifisch vorzeichnet. Gleichwohl glaubt der Autor, dass der umgekehrte Fall häufiger auftritt, also der zu späte Wechsel, das übermäßige Festhalten und Beharren auf Kontrollkonzentration in der Organisationsspitze. Wenn systemtheoretisch und kybernetisch inspirierte Managementberater etwas populistisch argumentieren, dass Führung stört (vgl. Bittelmeyer 2003), dann ist das differenzierter zu interpretieren: Es bedeutet, dass die mit Autorität ausgestattete übergeordnete Instanz in die Operationen der untergeordneten Einheit im falschen Modus eingreift. Sie versucht, „zu schlau“ zu sein, gleichzeitig Kontrolle auszuüben und Komplexität zu bewältigen. Komplexität vs. Kontrolle: Taktischer vs. strategischer Modus der Kontrolle Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das parallele Verständnis des Autors Strategie nicht an der Wertschöpfungsebene festmacht, sondern an der Komplexitätsebene des Verantwortungsbereiches respektive an der Art und Weise, für welche Ebene Verantwortung übernommen wird, wie die verantwortlichen Personen Komplexität bewältigen. Etwas pedantisch ließe sich der Argumentation entgegenhalten, dass Führungskräfte nunmehr gerade dadurch zum Strategen reüssieren, dass sie über wenig Komplexitätsbewältigungskapazität verfügen, schon bei geringerer Komplexität gezwungen sind, in den strategischen Modus zu wechseln. Polemisch: Der alternde Behördenleiter avanciert deshalb zum Strategen, weil er aufgehört hat, sein Amt zu verstehen – und sich deshalb damit begnügt, Honoratiorengerede und Allgemeinplätze zu entäußern, anstatt das Tagesgeschäft im Griff zu halten. Dazu ist dreierlei zu sagen: Erstens ist der Komplexitätsgrad eines Managementproblems lediglich bis zu einem Grad subjektiv, im Großen und Ganzen aber objektiver Einschätzung durch Managementprofis zugänglich, auch wenn das erfordert, hinter die Kulissen zu blicken. Hat man sich einmal ein Bild gemacht, wie komplex das Managementproblem „objektiv“ ist und wie sich die Resultate gestalten, lässt sich die Frage stellen, ob der Manager richtig oder falsch agiert. Einschätzungen wie „Frau Meier sollte einen Schritt zurücktreten und das große Bild im Auge behalten“ oder „Von Herrn Schmidt würde ich mir wünschen, dass er die Zügel ein bisschen mehr in der Hand behält“, spiegeln derartige Erfahrungsregeln wider. Der Grund für derartige verallgemeinerbare Einschätzung ist, zweitens, dass die Bandbreite an managerieller Komplexität diejenige menschlicher Komplexitätsbewältigungskapazität um Größenordnungen übersteigt. Obwohl der Autor von der Intelligenz der Konzernlenker und ihrer Kommunikationschefs überzeugt ist, gilt es zu sehen, dass die Komplexität der Managementprobleme dazu nicht in einem proportionierten Verhältnis steht. Top-Manager oder Top-Kommunikationschefs sind mit Sicherheit in der Lage, ein im Vergleich überdurchschnittliches Komplexitätspensum zu bewältigen. Verglichen mit der Differenz in der Komplexität der Probleme sind die Differenzen der kognitiven Kapazität jedoch marginal. Der Unterschied liegt darin, dass geeignete Top-Manager den strategischen Modus der Komplexitätsbewältigung – der mehr und größere Komplexität „verträgt“ – besser und sicherer beherrschen. Drittens, und das steht wiederum mit der Richtig-falsch-Einschätzung in Zusammenhang, geht die Wahl des strategischen Modus gegenüber dem operativen und taktischen Modus mit Trade-Offs einher: Das heißt, es zieht Nachteile nach sich, strategischen Problemen mit operativen oder gar taktischen Denk- und Handlungsweisen zu begegnen, und umgekehrt. Im ersteren Fall gibt man Kontrolle auf, im zweiten Fall „stört“ man die untergeordneten Managementebenen
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oder perturbiert Prozesse der Selbstorganisation. Man macht sich ihre Rationalität und Komplexitätsverarbeitungskapazität nicht zunutze, sondern schränkt sie, im Gegenteil, ein. 3.3.3 Unternehmensstrategie und Kommunikationsstrategie Der Begriff der Strategie lässt also zwei Interpretationen zu: Auf der einen Seite steht die betriebswirtschaftliche respektive organisationstheoretische Interpretation, welche sich an die Wertschöpfungsstufe der Unternehmung respektive die Systemebene knüpft. Auf der anderen Seite steht die komplexitätstheoretische Interpretation. Von Bedeutung ist nochmals (1) der Zusammenhang der zwei Interpretationen, (2) der Zusammenhang mit der Interpretation von Management als Typus rational-systematischen Problemlösens sowie wiederum (3) der Zusammenhang mit der PR-Konzeptionslehre. Zu (1) ist zu sagen: Der Zusammenhang zwischen der betriebswirtschaftlichen und der komplexitätstheoretischen Interpretation ist der, dass Probleme auf der höchsten und zweithöchsten Ebene der Unternehmenssteuerung nahezu immer, ja geradezu notwendig die Komplexitätsschwelle des Strategischen überschreiten. Oder, umgekehrt formuliert: Wer wirklich die Gesamtverantwortung für das Wohl und Wehe eines Unternehmens übernimmt, sieht sich gezwungen, weit in die Zukunft zu blicken und grundlegende Weichenstellungen vorzunehmen, die nicht konkreter, sondern konzeptioneller, ja abstrakter Natur sind. Der Zusammenhang zwischen Strategie und Problemlösung, wie er bereits dargestellt wurde, tritt hier zutage. Zu (2) ist zu sagen: In Organisationen treten ständig und überall konkrete und praktische Probleme auf, die es zu lösen gilt. Die Formulierung einer übergreifenden Strategie gewährleistet, dass sie in komplexen, raumzeitlich interdependenten Zusammenhängen gelöst werden, ohne andere, gravierende Probleme anderswo (Raum) oder zu einem anderen Zeitpunkt (Zeit) aufzuwerfen. Anders ausgedrückt: Unternehmensstrategie stellt sicher, dass die Unternehmenszukunft und Unternehmensoperation A nicht wegen der Unternehmensgegenwart und Unternehmensoperation B aufs Spiel gesetzt wird, und umgekehrt. Der Zusammenhang mit der PR-Konzeptionslehre, Frage (3), zeigt sich auf beiden Ebenen. Wie Bentele und Nothhaft (vgl. 2007, 371f.) herausgearbeitet haben, ist der Strategiebegriff in der PR-Lehre ein doppelter. „Um zu einem reifen Verständnis von Kommunikationsstrategie zu gelangen“, schreiben die Autoren (ebd.), gelte es zu sehen, dass Kommunikationskonzepte
einerseits strategisch sind, wenn die Unternehmensführung top-down ihre „kritische Relevanz für übergeordnete Unternehmensziele“ (a.a.O.) anerkennt oder wenn die Kommunikationsverantwortlichen, bottom-up, Anschluss an derartige Ziele, an kritische Relevanz herzustellen suchen. Das heißt, das strategische Element resultiert hier aus Rekurs auf die hohen, die strategischen Wertschöpfungsebenen. Andererseits, so Bentele/Nothhaft, „sind Kommunikationskonzepte strategisch – binnenstrategisch sozusagen –, wo sie sich selbst systematisch aus einer Einheit stiftenden Leitidee entfalten“ (a.a.O.). Das strategische Element resultiert demnach aus der Tatsache, dass sich das Kommunikationskonzept aus abstrakten oder konzeptionellen Gedanken heraus entwickelt. Die unausgesprochene Idee bei Bentele und Nothhaft ist, das darf der Autor in diesem Fall unterstellen, dass strategische Kommunikationskampagnen, die mit derartigen Konzepten geplant und vorgedacht wer-
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den, in sich eine derartige Eigenkomplexität aufweisen, dass sie eines einenden Gedankens bedürfen. Wie Bentele und Nothhaft (2007, 374) an anderer Stelle geltend machen, wirkt Strategie wie ein Filter: Maßnahmen, die nicht strategisch zielführend sind, werden ausgeschlossen. Umgekehrt sind die Kriterien der Filterung heuristisch, ideengenerierend, zu nutzen. Ein abschließender Gedanke: Es ist interessant, aber keineswegs überraschend, dass sich der Strategiebegriff als ein skalierbarer entpuppt. Der Managementtheoretiker Richard Rumelt drückt das aus, wenn er formuliert, dass des einen Strategie des anderen Taktik sei (zit. n. Mintzberg 1994a, 27). Was Kommunikationsstrategie anbelangt, hat das vor allem einen Grund: Die PR- oder Kommunikationsstrategie eines Unternehmens lässt sich als funktionale Teilstrategie der Unternehmensstrategie lesen, so dass sie sozusagen vertikal schmaler skaliert ist. Der allgemeinere Grund aus system- und komplexitätstheoretischer Perspektive ist der, dass jeder Abteilungsleiter zunächst einmal als ein „kleiner Stratege“ hinsichtlich seiner Einheit, seines Verantwortungsbereiches agiert. Das ist der Tatsache geschuldet, die man in der populären Managementliteratur als „Fraktalität“ apostrophiert. Präziser gesagt liegt der Grund in der Erkenntnis, die von Stafford Beer im Viable Systems Model (vgl. grundlegend Beer 1972; vgl. auch Malik 2002) besonders gut herausgearbeitet wurde, nämlich dass Rekursivität das Organisationsprinzip lebensfähiger Systeme darstellt. Anders ausgedrückt: Die Struktur der überlebensfähigen Unternehmung, die eben auch über das Verhältnis zwischen Heute und Morgen nachdenkt, wiederholt sich auf der Ebene der Geschäftsbereiche, der Abteilungen, der Gruppen, der Teams. Nicht immer, das sei gesagt, mit positiven, zielführenden Konsequenzen für das Gesamtgebilde. 3.4 Der geregelte Prozess und Kontrollmetaphorik Eine der wichtigsten verborgenen Annahmen des Managementdenkens sieht der Autor in der Bedeutung geregelter Prozesse, die jederzeit unter Kontrolle stehen. Mit der aus der behördlichen Mentalität erwachsenden Forderung, alles möge seinen geregelten Gang gehen, steht das Managementdenken über Kreuz mit dem unternehmerischen Denken – und vor ebenjenem Hintergrund sind Postulate zu begreifen, welche den grauen, administrativen Manager durch den visionären, charismatischen Führer abzulösen versuchen (vgl. II.1). 3.4.1 Eine kleine Geschichte der Theorie der Unternehmensführung Die klassische Vorstellung von Management ist die, dass das Unternehmen seine eigene Leistungserstellung regelt, dass das Management durch Planung, Organisation und Kontrolle Input (I), Throughput (T) und Output (O) koordiniert. Der Skopus der Regelung, die Regelstrecke der Unternehmensführung ist also, wie auf der linken Seite in Abbildung 51 dargestellt, das Unternehmen im alltäglichen Verständnis: Dinge, Menschen, Geld, der Realgüterprozess. Die Geschichte der Theorie der Unternehmensführung im 20. und 21. Jahrhundert lässt sich jetzt als Geschichte der Ausdehnung der Regelung auf alle möglichen und unmöglichen Bereiche erzählen. Die Darstellung auf der rechten Seite von Abbildung 51 zeigt bereits die kybernetische Rekonstruktion der womöglich wichtigsten Ausdehnung: Marketing. Marketing, verstanden als „marktorientierte Unternehmensführung“ (vgl. bereits den Titel des Bandes Meffert/Burmann/Kirchgeorg 2007), bedeutet, dass das
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Unternehmen den Skopus seiner Regelung auf den Absatzmarkt ausweitet. Der Absatzmarkt lässt sich als Verlängerung des Unternehmens denken; was früher einmal naiv der Markt war, ist jetzt eine Funktion des Unternehmens, seiner Aktivitäten und Produkte. Dazu gehört, dass das Unternehmen versucht, etwa via Werbung und Öffentlichkeitsarbeit, den Markt steuern. Aber das eigentliche Ziel des Unternehmens ist es nicht, naiv Produkte herzustellen, sondern erfolgsträchtige Produkt-Markt-Kombinationen.
Abbildung 51: Skopus der Regelung I (Quelle: eigene Darstellung) Marketing und verwandte Konzepte wie etwa Customer-Relationship-Management stellen lediglich die naheliegendste, folgerichtigste Ausdehnung dar, aber die Idee wurde im Prinzip auf jeden Prozess angewandt: Supply-Chain-Management110 und Demand-ChainManagement sind Beispiele, die Entwicklung von Führungssystemen, die wiederum das Management „managen“ ist ein weiteres (vgl. Siebert 2005). Strategisches Management (Abb. 52) bedeutet, dass sich die Organisation auf die Regelung ihrer eigenen Zukunft, auf ihren Planungshorizont ausdehnt. 110
Das Council of Supply Chain Management Professionals (CSCMP) definiert Supply-Chain-Management wie folgt: „Supply chain management encompasses the planning and management of all activities involved in sourcing and procurement, conversion, and all logistics management activities. Importantly, it also includes coordination and collaboration with channel partners, which can be suppliers, intermediaries, third party service providers, and customers. In essence, supply chain management integrates supply and demand management within and across companies. Supply chain management is an integrating function with primary responsibility for linking major business functions and business processes within and across companies into a cohesive and high-performing business model. It includes all of the logistics management activities noted above, as well as manufacturing operations, and it drives coordination of processes and activities with and across marketing, sales, product design, finance, and information technology” (www.cscmp.org). Demand-Chain-Management repräsentiert ein und dasselbe Konzept mit umgekehrtem Fokus, aus einer Outside-In-Perspektive. In der Online-Enzyklopädie Wikipedia (http://en.wikipedia.org/wiki/Demand_chain_management) findet sich folgende Definition (06.06.2009): „Demand chain management is the management of upstream and downstream relationships between suppliers and customers to deliver the best value to the customer at the least cost to the demand chain as a whole. The term demand chain management is used to denote the concept commonly referred to as supply chain management, however with special regard to the customer pull. In that sense, demand chain management software tools bridge the gap between the customer relationship management and the supply chain management.”
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Abbildung 52: Skopus der Regelung II (Quelle: eigene Darstellung) Abbildung 53 zeigt schließlich die kybernetische Rekonstruktion des StakeholderManagements. Der Kerngedanke des Stakeholder-Managements ist der, dass eben nicht nur Absatz- und Beschaffungsmarkt oder Kapitaleigentümer von Interesse für das Wohl und Wehe der Organisation sind, sondern im Prinzip jede Gruppierung, die einen „stake“ in der Organisation hält, die von Aktivitäten der Organisation tangiert wird oder sie in ihren Aktivitäten tangiert (vgl. Evan/Freeman 1983).111 Eine Unternehmung, die dem Leitbild des Stakeholder-Managements folgt, lässt sich kybernetisch rekonstruieren als eine Organisation, die sich auf jede Gruppierung ausweitet, mit welcher sie, über einen Schwellenwert hinaus, in Kontakt gerät. Freeman und Evan formulieren das in ihren so genannten „Stakeholder Principles“ unmissverständlich. Prinzip No.1 des Stakeholder-Managements lautet: „The corporation should be managed for the benefit of its stakeholders, its customers, suppliers, owners, employees, and local communities” (Freeman/Evan 1993, 262). Es ist von Bedeutung, die Definition von Stakeholder einmal wortwörtlich zu nehmen, und das Konzept konsequent zu Ende zu denken (vgl. auch Karmasin 2007; 2008). Zu Ende gedacht, heißt Stakeholder-Management: Nichts, was die Organisation in relevanter Art und Weise tangiert, bleibt ungemanagt, ungeregelt. Theoretisch hat die Organisation kein unkontrolliertes Außen mehr, keine relevante, aber ungemanagte Umwelt. Praktisch natürlich schon – aber nur, wenn das Stakeholder-Management versagt. Die Perspektive des Stakeholder-Managements ist die Interpretation, welche gewöhnlich verwandt wird, um Public Relations in das betriebswirtschaftliche Kalkül der Unternehmung zu integrieren: etwa in der Exzellenztheorie, welche wie gesagt Kommunikationsmanagement im Prinzip gleichsetzt mit Stakeholder-Management.
111 Vgl. ferner Freeman 1984; Freeman/Evan 1993; vgl. auch Donaldson/Preston 1995. Für einen gedrängten Überblick und eine PR-theoretische Interpretation vgl. Karmasin 2007; 2008. Freeman/Wicks/Parmar (2004) verteidigten sich lesenswert gegen falsche Interpretationen ihres Ansatzes durch Sundaram/Inkpen (2004).
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Abbildung 53: Skopus der Regelung III (Quelle: eigene Darstellung) 3.4.2 Grenzen der Ausdehnung, Limit der Regelung Man übersieht leicht, dass Szyszkas Definition in präziser Terminologie von „regelnder Absicht“, nicht von Regelung spricht (zu Regelung und Steuerung vgl. auch Bentele/Nothhaft 2008, 78ff.). Die vorsichtige Formulierung indiziert, unterstellt der Autor, dass Organisationen zwar versuchen, ihre Umwelten, ihre Stakeholder, ihr Image, ihre Reputation unter Kontrolle zu bringen – aus der wissenschaftlichen Beobachterperspektive heraus ist aber kritisch zu fragen, wie weit Organisationen via PR-Arbeit und Kommunikationsmanagement de facto kontrollieren, was sie zu kontrollieren intendieren. Die Frage lässt sich umkehren und erörtern, welches Konzept von Kontrolle adäquat und präzise die Kontrolle beschreibt, welche Organisationen via PR-Arbeit, Unternehmenskommunikation, Reputation Management etc. über die Art und Weise ausüben, wie in ihnen, über sie und für sie kommuniziert wird. Die Frage, die der Autor angesichts der Stakeholder-Management-Perspektive aufwirft, ist demnach: Ist es nicht plausibel anzunehmen, insbesondere vor dem Hintergrund der Überlegungen in A, dass mit der Gesellschaft, der Gemeinschaft, der Lebenswelt, die Ausdehnung in jedem Fall an ihre Grenze stößt? Oder, umgekehrt gefragt: Ist es plausibel anzunehmen, dass eine Organisation die Öffentlichkeit in der geschilderten Art und Weise, nämlich regelnd, managt? Ist der zugrunde liegende Managementbegriff der gleiche wie der in Supply-Chain-Management oder Customer-Relationship-Management? Der Autor möchte sich nicht in eine Diskussion um Sinn und Unsinn der StakeholderPerspektive verstricken, insbesondere nicht, wenn es sich um wirtschaftsethische Fragen handelt (lesenswert etwa Barry 2002, der aufzeigt, dass das Stakeholder-Konzept, wie es
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sich heute präsentiert, „illogical“ und „impractical“ ist; lesenswert ferner Ulrich 1998). Dem Autor geht es um eine simple Argumentation. Er argumentiert, dass der Sinn und Zweck der Ausdehnung natürlich nachvollziehbar und verständlich ist: Mit jeder Ausdehnung versuchen Organisationen, externe Faktoren, die sie per definitionem nicht beherrschen, zu verwandeln in quasiinterne Faktoren – die sie angeblich oder auch tatsächlich beherrschen. Sie zahlen aber, und das ist das Argument des Autors, einen Preis dafür. Mit jedem Schritt der Ausdehnung werden sie selbst, als Organisation, komplexer und komplexer, und in heterarchischen Anspruchslagen auch immer weniger handlungsfähig, immer langsamer. Und deswegen ist der Autor überzeugt davon, dass der Ausdehnung eine Grenze gesetzt ist – und zwar in praktischer wie in theoretischer Hinsicht. Egal, wie ausgeklügelt und erfolgreich ein wie auch immer geartetes Stakeholder-Management ausgestaltet ist – es wird darüber hinaus immer Themen, Issues, Konflikte, oder auch Gruppierungen und Teilöffentlichkeiten mit Interessen etc. geben, auf die der Skopus der Regelung nicht ausgedehnt wurde, so dass es zu einer Überraschung der Organisation kommt, die Organisation vor einem Rätsel steht (lesenswert hierzu Baecker 2003, 18-40). Und zwar zunächst einmal aus praktischen, in letzter Konsequenz aber aus theoretischen Gründen.
Abbildung 54: Skopus der Regelung IV (Quelle: eigene Darstellung) Aus praktischen Gründen ist der Ausdehnung schon zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt eine Grenze gesetzt, weil die Organisation aus Kapazitätsgründen nicht in der Lage ist, alles zu regeln. Aus theoretischen Gründen ist der Ausdehnung eine prinzipielle Grenze gesetzt, weil eine Organisation aufhört, eine Organisation zu sein, wenn sie die Komplexi-
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tät der Umwelt in toto reflektiert. Salopp gesagt: Eine Organisation sieht die globale Erwärmung nicht nur deshalb durch die Brille eines Autoherstellers, weil sie Autos herstellt. Sie ist auch deshalb ein Autohersteller, weil sie die globale Erwärmung durch die Brille eines Autoherstellers sieht. Die Organisation würde nicht als Autohersteller „funktionieren“, wenn jeder Angehörige der Organisation sich in Wirklichkeit als „Klimakiller“ begreifen würde. 3.4.3
Kommunikationsmanagement, Regelung, Steuerung: Plädoyer für eine alternative Kontrollmetaphorik Die Rede von Überraschung und Rätsel suggeriert, dass sich die Organisation mit einem Mal von unvorhergesehenen Ereignissen überrascht sieht, die in ihrer Rätselhaftigkeit unvorhersehbar waren. Das ist jedoch nicht der Fall. Baecker (2003, 18-40) arbeitet heraus, dass Organisationen sich selbst überraschen, sich selbst vor Rätsel stellen – für andere, außenstehende Beobachter sind die Probleme der Organisation keineswegs überraschend oder rätselhaft, sie liegen geradezu auf der Hand. Den einzigen Weg, die Traumata derartig rätselhafter Überraschungen im Bereich der Public Relations und Unternehmenskommunikation zu vermeiden oder abzuschwächen, sieht der Autor daher in einem anderen Selbstverständnis der funktionierenden Organisation, in einem anderen Verständnis von Kontrolle – konkret und praktisch in einem, welches die Maschinenmetapher nicht in Kontexte einführt, in denen sie in die Irre führt. Der Autor betont aber ausdrücklich, dass sich sein Plädoyer ausschließlich auf den Bereich des Kommunikationsmanagements bezieht: in anderen Kontexten, z. B. bei der Etablierung eines Logistiksystems, ist das technischnaturwissenschaftliche Ursache-Wirkungs-Denken zielführend, hat die Maschinenmetapher ihre Berechtigung. Was heißt es, ein anderes Verständnis von Kontrolle zu entwickeln, und wie sieht das andere Verständnis aus? Der Autor glaubt, dass die diskutierten und diskutablen Konzepte von Kontrolle über die jeweils zugrunde gelegte Metaphorik zu beschreiben sind (zu Organisationsmetaphern grundsätzlich Morgan 1986; zu einer PR-Theorie, die auf Organisationsmetaphern aufsetzt, vgl. Christensen/Morsing/Cheney 2008). Der Maschinenmetapher, die eine Organisation als gut geölte Maschine beschreibt, in der auch die einzelnen Mitarbeiter à la Charlie Chaplins Modern Times Rädchen im Getriebe sind, stehen demnach andere Metaphern gegenüber, die zu anderen Vorstellungen führen, wann die Organisation „funktioniert“, „auf Kurs ist“, „im grünen Bereich ist“, „wächst und gedeiht“. Dass der Autor gegenüber der Konstruktions- die Kultivierungsmetaphorik bevorzugt, wurde ausgeführt (vgl. A.II.5). Neben der Metapher der Maschine und des Gärtnerns möchte der Autor aber noch einige andere Metaphernsets erörtern. Dabei geht es nicht darum, dass Praktiker ein Metaphernset wählen und beibehalten. Sehr viel mehr geht es darum, die „verhaltensprägende Kraft“ der verschiedenen Metaphoriken aufzudecken, vor allem dann, wenn man sie zusammendenkt mit den verschiedenen Dimensionen des Managements erster, zweiter und dritter Ordnung. Pilotieren und Navigieren Unter Pilotieren versteht der Autor direkte, quasikausale Kontrolle, die dem Fahren eines Autos oder dem Fliegen eines Flugzeuges unter Normalbedingungen entspricht. Pilotieren spiegelt sich in Metaphern, wie man sie neuerdings ausgeprägt in termini technici des
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Kommunikations-Controllings findet, insbesondere, wo es sich an Ideen Kaplan und Nortons (1996; 2004; 2006), wie Balanced Scorecard und Strategy Maps, anlehnt: Rolke propagiert etwa einen „Stakeholder Compass“ (Rolke 2002), konzipiert gar ein „CommunicationControlCockpit“ (Rolke 2005), LautenbachSass bieten als Beratungsunternehmen „Communication Dashboards“ an (vgl. www.communication-dashboards.de). Die in der Metaphorik verborgene, gefährliche Suggestion entsteht, wenn die Steuerung von Images oder Reputation oder anderer „Konstrukte“ dadurch de-problematisiert wird: Sobald man einmal weiß, wo man steht und wo man sein Image, seine Reputation, seine Marke hinbewegen möchte, so die Suggestion, ist das eigentliche „Ansteuern“ unproblematisch. Das heißt, es findet von vornherein eine Verschiebung vom Pilotierungs- zum Navigierungsproblem statt (vgl. in der Sache ähnlich Wehmeier 2006). Konstruieren (und Bilanzieren) Konstruktion stellt ohne Zweifel eine zentrale Metapher des Managementdenkens dar. Dies dürfte u. a. darauf zurückzuführen sein, dass der Manager in der angloamerikanischen Tradition, wie unter II. gezeigt wurde, als Hybrid aus Ingenieur und Buchhalter entstand. Die Prämisse, dass sich soziale Systeme, Organisationen, ähnlich konstruieren lassen wie Maschinen, und bei Problemen auch wieder de- und rekonstruierbar sind, etikettiert Malik als technomorphes Denken (vgl. etwa Malik 2004, 119). Das technomorphe Ingenieursdenken im PR- und Kommunikationsmanagement beginnt bei Bernays’ „engineering of consent“ (1952, Kap. 14; 1969) und setzt sich mit der Rede von Imagekonstruktion, Markenarchitekturen, Vertrauensaufbau etc. fort. Die buchhalterische Seite bedienen Metaphern wie „Reputationskapital“ oder Bilanzierungstechniken wie die Kalkulation eines „return-oncommunication“ (Rolke 2006). Dirigieren Die Metaphorik des Dirigierens ist eine Lieblingsmetapher in der Theoriebildung zu Integrierter Kommunikation (vgl. Nothhaft/Bentele 2009). Van Ruler (2004) identifizierte den Dirigenten darüber hinaus als eines von sieben metaphorischen Leitbildern, welche aus der Literatur herausdestilliert wurden, um die Arbeit des obersten Kommunikationsverantwortlichen zu beschreiben. Auch in der Managementliteratur ist der Dirigent eine beliebte Metapher, insbesondere um das Management hochqualifizierten Personals, von Experten, zu beschreiben: Mintzberg beobachtete im Rahmen einer Studie (1998) einen „echten“ Dirigenten, Bramwell Tovey, bei der Arbeit, beschrieb die Arbeit des Dirigenten als Managementarbeit. Als Kontrollmetaphorik interpretiert, markiert der Übergang vom Bild des Konstruierens zum Dirigieren den Übergang von der physischen Kausalität, wie er noch im Maschinenmodell mitschwingt, zu sozialer Macht, zu sozialem Einfluss. Der Taktstock des Dirigenten führt nicht in physischer Kausalität dazu, dass die Musiker aufspielen, sondern weil die Musiker hochqualifizierte Experten sind – die Qualität des Taktstock-Schwingens hängt von der „Eingespieltheit“ des Orchesters ab. Kultivieren Das Kultivierungskonzept spiegelt sich z. B. in der populären Managermetaphorik vom Trainer oder Coach, der ja einen schwächeren, mittelbareren Einfluss auf sein Team ausübt als etwa der Dirigent aufs Orchester. Noch schwächer, noch mittelbarer ist die Rede, wie sie Friedrich von Hayek vorschlägt, wenn er die Empfehlung gibt, der Mensch möge seine
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Gestaltung der Gesellschaft weniger an der Arbeit eines Handwerkers, mehr an der eines Gärtners orientieren (Hayek 1975). Dies entspricht, das sei am Rand erwähnt, der Kontextkontrolle, wie sie von Willke als systemtheoretisches Steuerungs- und Regelungskonzept ausgearbeitet wurde (Willke 1989; 1992; Degele 1997, Kap. 2; kritisch etwa Münch 1996, 113-116); es entspricht auch dem systemisch-evolutionären Management der St. Galler Schule, wie es beispielsweise Malik ausarbeitet (vgl. Malik 2004, Kap. 3). Imaginieren Der Metaphorik des Pilotierens und Navigierens, quasi Allmacht, steht am einen Ende des Spektrums. Am anderen Ende steht ihr imaginierte Kontrolle gegenüber. Wenn Führung stört, überschreibt etwa Bittelmeyer (2003) einen Artikel über systemtheoretisch inspirierter Managementseminare, welche mit pointierter Irritation die These ins Feld führen, dass Management eigentlich ganz und gar unmöglich sei, dass Manager ohnmächtig seien gegenüber der Eigendynamik komplexer sozialer Systeme. Was Manager subjektiv als Kontrolle empfinden, sei „Pseudokontrolle“. Die Kontrolle, welche spätmoderne Manager ausüben, ähnelt der Macht, die der König in Der kleine Prinz über Tag und Nacht ausübt (de Saint-Exupéry 2007, Kap. 7): „Deinen Sonnenuntergang wirst du haben.“, entgegnet der König, als der kleine Prinz ihn bittet, die Sonne untergehen zu lassen. „Ich werde ihn befehlen. Aber in meiner Herrscherweisheit werde ich warten, bis die Bedingungen dafür günstig sind.“112 Der Wert der Metaphorik des Imaginierens liegt, wie der Autor glaubt, in ihrem Irritationspotenzial: Zumindest einmal anzunehmen, dass ich selbst, als Führungskraft, gar nichts zur Bewältigung einer Situation beizutragen vermag bzw. gar nichts beigetragen haben könnte, erweitert das Verständnis der eigenen Arbeit. Es entspricht der wissenschaftlichen Systematik, eine „Null-Hypothese“ zuzulassen – die Null-Hypothese ist es, die den modernen Wissenschaftler vom „Regentänzer“, vom archaischen Medizinmann unterscheidet. Gerade bei Case-Studies zu Krisen und Krisenkommunikation drängt sich gelegentlich der Eindruck auf, dass die Möglichkeit der „Null-Hypothese“ völlig außer acht gelassen wurde: die nämlich, dass die Krise „von allein“, wie eine Erkältung, aufkam und wieder abflachte. Jeder Schritt, der gegangen wurde, so scheint es, wird in der Retrospektive als ein entscheidender, die Krise überwindender rekonstruiert. Die Möglichkeit, dass die Krisenkommunikation unterm Strich genauso wenig zur Beseitigung der Krise beigetragen hat wie der Regentanz des Schamanen zum Regenfall, wird nicht systematisch berücksichtigt. 3.5 Die wohlgeformte Konstellation Abbildung 55 fasst die Überlegungen zusammen. Es zeigt den Akteur, den Manager, in einem Kräftefeld. Das Kräftefeld wird aufgespannt durch Verantwortung und richtige und gute Praxis des Managements einerseits, durch richtige und gute Praxis der Kommunikation, lies Öffentlichkeitsarbeit, andererseits – die kräftigeren Pfeile deuten das an. Analytisch ist Kommunikationsmanagement zu verstehen, indem man zwei Praktiken separiert, die im Kopf des Kommunikationsmanagers zusammenfließen. Beide Felder dehnen sich aus über die eigene Abteilung, das Managementspiel in der Organisation, die Organisation insgesamt und ihre Umwelt. Es ist also gerade nicht der Fall, dass der Akteur nach innen „Mana112
Zum „kleinen Prinzen“ vgl. auch Mintzberg/Ahlstrand/Lampel 1998, Kap. 12.
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ger“ ist, nach außen „Kommunikator“: Das wäre eine naive Konzeption, welche Abkoppelung von organisationsinternen Prozessen und organisationsexterner Kommunikation suggerierte. Kommunikation bezieht sich auf etwas, und das Etwas ist im Fall der Unternehmenskommunikation das Unternehmen. Ein Kommunikationsmanager zeigt beispielsweise Journalisten gegenüber, dass er auch Manager ist, dass er auch in Lohn und Brot eines Unternehmens steht. Und er legt seinen Kollegen, Untergebenen und Vorgesetzten gegenüber keine „Anything goes“-Attitüde an den Tag, sondern versucht, unternehmensinterne Entscheidungen unter der Maßgabe zu beeinflussen, dass dieses oder jenes „nicht kommunizierbar“ sei. 3.5.1 Die wohlgeformte Konstellation im Kräftefeld Die interne Organisations- mit der externen Umweltlogik zu kontrastieren, stellt freilich keinen Erkenntnissprung dar. Was der Autor mit C herausgearbeitet hat ist, dass die Organisationslogik nicht lediglich Organisationslogik, die Umweltlogik nicht lediglich Umweltlogik ist. Die Organisationslogik ist überlagert von einer Managementlogik, die Umweltlogik überlagert von einer PR- oder Kommunikationslogik, die beide durchaus spezifisch sind. Den spezifischen Logiken vermag sich kein Praktiker zu entziehen, weil sie ihm überall begegnen, in der Aus-, Fort-, Weiterbildung; in der Fachliteratur, die er liest; in Diskursen der Branche, die er verfolgt; im „Branchengeplauder“, welches er aufschnappt etc. Aber die Logiken treten ihm nicht geschlossen und einheitlich gegenüber, sondern bruchstückhaft, als „buzzwords“, „Theoriefragmente“, „management fads“, „neueste wissenschaftliche Erkenntnisse“ etc. Die Konsequenz ist, dass dem Praktiker das Bild einer professionellen Praxis vor Augen geführt wird, die „richtig“ ist – was soviel heißt wie, dass sie ihm in seiner konkreten und spezifischen Praxis mit großer Wahrscheinlichkeit „gute“ Ergebnisse verspricht. Das Problem ist jedoch, dass das Bild der „richtigen“ Praxis keine fertigen Rezepte liefert, denn das ist überhaupt nicht möglich: Die Variablen, welche im Rezept zu berücksichtigen sind, sind viel zu vielfältig. Die Kunst ist daher nicht, um in der Metaphorik zu bleiben, das Rezept eins zu eins umzusetzen. Die Kunst besteht darin, es auf die eigene Küche, den eigenen Geschmack, die vorhandenen Zutaten etc. abzustimmen. Es gibt also richtige und falsche Praxis, gute und schlechte. Richtige und gute Praxis zeichnet sich bildlich gesprochen dadurch aus, dass sie „wohlgeformt“ ist. Das heißt, dass die Zwecke, Ziele und Mittel, welche die Praxis, welche das Wahrnehmen und Handeln des Praktikers determinieren, sich in harmonischer Art und Weise fügen, einerseits zueinander, andererseits in die Organisation-Umwelt-Konstellation. Die Metapher des Kochens drängt sich wieder auf, ebenso aber die der Musik, des Orchesters. Das ist auf der Oberfläche eine einfache Forderung, in der Tiefe birgt sie jedoch Schwierigkeiten. Jedem Praktiker mit einiger Erfahrung ist voll und ganz bewusst, dass eine nationale Markeneinführung mit ein bisschen Presseund Medienarbeit nicht zu stemmen ist: Aufwand (Mittel) und Ertrag (Zweck, Ziel) sind diskrepant. Schon sehr viel schwieriger zu sehen ist die schleichende Unterwanderung einer ehemals richtigen, deshalb auch guten Praxis durch Ansprüche dieser oder jener Gruppierung in der Organisation. Man nimmt derartig schleichende Unterwanderung im Einzelfall oft nur vorbewusst, als „Bauchschmerzen“ wahr, aber über die Jahre häuft sie sich auf: Der Vorstandsvorsitzende möchte die Mitarbeiterzeitschrift mehr als Raum zur Selbstdarstellung nutzen, die Personalabteilung möchte mehr Arbeitsanweisungen veröffentlichen, das
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Marketing möchte mehr Produktinformationen in die Unternehmenskommunikation „einfließen“ lassen etc. Nahezu gar nicht mehr vom Praktiker selbst zu sehen sind stillschweigende Annahmen, welche unbewusst seine Praxis verzerren: Jemand, der in der Werbung sozialisiert ist, mag die grundsätzlichen, nicht-werblichen Zwecke der Unternehmenskommunikation vom „Kopf“ her anerkennen – der „Bauch“ sagt, dass die vor ihm liegende, nach allen Regeln journalistischen Handwerks verfasste Presseinformation „langweilig“ ist, weswegen sie einer Aufwertung durch Einstreuung superlativischer Adjektive bedarf.
Abbildung 55: Das Kräftefeld der wohlgeformten Konstellation (Quelle: eigene Darstellung)
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3.5.2 Unterwerfung unter die Managementlogik, das Management Game Angesichts der geschilderten Schwierigkeiten ist es verständlich, dass sich noch größere Problematiken ergeben, wenn zwei oder mehr Praktiken ineinanderfließen. Dass Praktiken ineinander fließen, die teilweise über Kreuz stehen, ist aber im Prinzip gang und gäbe: Ein Zahnarzt mit eigener Praxis ist zugleich Zahnarzt und Unternehmer, mit divergierenden Zielen und Zwecken: Heilen und Geldverdienen. Von besonderer Brisanz ist die Konstellation, wenn die eine Praxis eine institutionalisierte Praxis ist, die nicht als spezifischer, professioneller Habitus auftritt, sondern als optimalste, rationalste, effizienteste, effektivste, eben als „richtige“ Praxis eine Institutionalisierung erfahren hat. Baecker (2003, 13) hatte, wie erwähnt, neben vielen anderen herausgearbeitet, dass in der Moderne die Logik der Betriebswirtschafts- und Managementlehre zunehmend als „Sachwalter“ der Rationalität auftritt, und das ist in der Spätmoderne noch nicht überwunden. Die These des Autors ist, dass sich Praktiker und Theoretiker ebenjener Situation derzeit in der Praxis des Kommunikationsmanagements gegenübersehen: eine „alte“ Praxis der Öffentlichkeitsarbeit und Public Relations, welche einer Veränderung unterliegt und im Rahmen der Veränderung mit der Praxis des Managements zusammenfließt – aber eben auch von ihr unterworfen wurde respektive unterworfen zu werden droht. Oder umgekehrt ausgedrückt: Das „neue“ Kommunikationsmanagement ist das Resultat des Zusammenfließens und der Unterwerfung. Weshalb es zu Zusammenfluss und Unterwerfung kam, wurde erörtert. Anstatt die Faktoren und Aspekte en detail zu wiederholen, die mit wissenschaftlicher Flankierung zum Konzept des Kommunikationsmanagements geführt haben, möchte der Autor etwas anderes betonen: nämlich, dass sich Kommunikationsmanagement vor ebenjenem Problemhintergrund in geradezu managementtypischer Art und Weise als Lösung präsentierte: „Man muss das richtig managen“, war die Antwort, welche keine weiteren Fragen gestattete. Die Brisanz steigert sich noch, wenn die Wahrnehmung als kompetenter Praktiker in der einen Praxis überhaupt erst die Möglichkeit gibt, in der anderen Praxis kompetent zu agieren. Das ist bei Organisationspraktiken der Fall, die nicht nur in und für Organisationen durchgeführt werden, sondern durch Organisationen. Was der Autor als Management Game etikettiert, ist das Spiel, welches derartige höhere und offenere Praktiken miteinander verknüpft. Da derartige Praktiken nicht kompartmentalisierbar, nicht über einige wenige, wohldefinierte Beziehungen an die Organisation anschließbar sind, muss derjenige, der in ihnen Verantwortung trägt und formale Autorität, Macht und Einfluss benötigt, das Managementspiel mitspielen. Wenn er dazu nicht in der Lage ist, wenn er nicht „den Talk“ beherrscht, dann kompartmentalisiert er sich selbst – und ist entsprechend nicht in der Lage, seiner Verantwortung gerecht zu werden, büßt Macht ein, verliert an Einfluss. Wie angedeutet wurde, war das bei klassischer Presse- und Medienarbeit unter den stabileren Konditionen der Mitte des 20. Jahrhunderts noch anders: Es genügte, dem Pressechef eine wohldefinierte Verantwortung zu geben, sein Anschluss an die Unternehmung war durch die „Nabelschnur“ seines Vorgesetzten gewährleistet. Unter den turbulenten Bedingungen Ende des 20. und Anfang des 21. Jahrhunderts genügt das nicht mehr, die „communication consciousness“ musste zunehmend das gesamte Unternehmen durchdringen. Dass das geschah, führte aber gerade nicht dazu, dass der oberste Kommunikationsverantwortliche das Managementspiel Kommunikation übernahm und nach Belieben gestaltete, entwickelte und lenkte – wie es einige Theoretiker nahelegen (in einigen Darstellungen
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
der Integrierten Kommunikation, z. B. Bruhn 2006, 521ff.). Keine einzelne Person tat das, weil keine einzelne Person das Management Game beherrscht. 3.5.3 Generische Managerialität zwischen Über- und Unter-Manager Abbildung 55 stellt im Prinzip eine Überlagerung von zwei Abbildungen dar. Zum einen ist der Praktiker als Person eingebettet in seinen Job, die Abteilung, das Management Game, die Organisation, und die wiederum in ihre Umwelt. Zum anderen zeigen die Pfeile Kräfte auf, welche den Manager in die eine und in die andere Richtung ziehen, wobei das kürzere Ende die „natürlichere“ Richtung, das längere Ende die „künstlichere“ anzeigt. Was die Grafik veranschaulicht ist letzten Endes, dass es dem Manager gelingen muss, die Kräfte dergestalt zu beherrschen, dass sie in der Toleranz der Organisation-Umwelt-Kombination liegen. Ist das der Fall, dann lässt sich von einer wohlgeformten Konstellation sprechen – die Toleranzzone ist also relativ groß. Jeder Managementjob, das ist in der Literatur allgemein anerkannt (vgl. Staehle 1999, 87-89) besteht in letzter Konsequenz darin, Spannungen auszuhalten, Gleichgewichte herzustellen, Paradoxien zu tolerieren. Solange man sie als typische Managementprobleme begreift, sind die in Abbildung 55 aufgezeichneten Pfeilachsen deshalb im Prinzip vermehrbar: andere Aspekte, die in der Literatur genannt werden, sind z. B. Dezentralisierung vs. Zentralisierung; Führung vs. Eigenverantwortung, etc. Dem Autor geht es aber nicht nur um typische Managementprobleme, sondern um das besondere Problem, Anschluss an das Management Game herzustellen und aufrechtzuerhalten. Insofern beschränkt er sich auf diejenigen Aspekte, welche erörtert wurden und besondere Berücksichtigung im Rahmen des Kommunikationsmanagements verdienen. Es handelt sich um die Aspekte, die der Autor als Konstituenten generischen Managements identifiziert hat, wie es sich heute präsentiert. Wer mit jedem dieser Pfeile nach unten aus der Toleranzzone herausragt, ist nicht nur ein schlechter, falscher Manager, sondern im Prinzip gar keiner: man untermanagt – es fehlt an der managementtypischen Systematik, an Kontrolle, an strategischem Horizont, an Lern- und Wandlungsfähigkeit. Wer mit jedem Pfeil nach oben aus der Toleranzzone herausragt, ist das Zerrbild eines Managers – man übermanagt. Worum es dem Autor geht, ist also erstens die Erkenntnis, dass mehr Kontrolle, mehr Strategie, mehr Systematik, mehr Wandel und Lernen nicht notwendig besser ist – es gilt, das richtige Maß zwischen Über- und Unter- zu finden. Es geht dem Autor jedoch, zweitens, noch um eine andere Erkenntnis, die sich in den horizontalen, bipolaren Pfeilen spiegelt. Es handelt sich um die Einsicht, die unter 1. und 2. ausgearbeitet wurde, dass mehr Managementrationalität in vielerlei Hinsicht weniger Kommunikationsrationalität bedeutet: Der Habitus des Managers ist nicht der Habitus des Kommunikators – der eine sieht Probleme, wo der andere keine sieht. Die Frage, welche sich jeder Praktiker stellen muss, der als Kommunikationsmanager agiert, als Kommunikationsmanager Verantwortung übernommen hat oder zugewiesen bekam, auf das Management Game angewiesen ist, lautet demnach: Wie weit agiere ich im Managementhabitus, wie weit agiere ich im PR- oder Kommunikationshabitus, wie fusioniere ich das eine mit dem anderen? Agiert der Kommunikationsmanager nur im Managementhabitus, dann ist sein „Mehrwert“ im Management Game begrenzt. Genau wie der „Stratege“ eben weiter und klarer in die Zukunft blickt als andere, der „geniale Ingenieur“ die Lösung findet, die andere nicht finden, muss ein Mehrwert – ein „Wie hat er das wieder hingekriegt?“-Effekt –
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über das bloße Management hinaus bestehen. Wie Manager G in einer Nebenbemerkung feststellte: „Die Zeitung lesen andere Manager auch.“ Kommunikationsmanagement darf sich also nicht darauf beschränken, mehr Ressourcen für Kommunikation zu fordern, ihren effektiveren und effizienteren Einsatz zu versprechen, von Optimierung und Controlling zu reden, andere „buzzwords“ des Managements im Mund zu führen. Agiert der Kommunikationsmanager aber nur im PR- oder Kommunikationshabitus, führt er nur die „buzzwords“ des PR- und Kommunikationsdiskurses im Mund, dann ist sein Zugang zum, dann ist sein Gewicht im Management Game begrenzt. Denn in der Organisations- und Managementlogik sind Argumentationen gefragt, die anschlussfähig sind, in einer Sprache, die verständlich ist – und anschlussfähig sind die Vokabeln der Effektivität, der Effizienz, der Optimierung, der Kontrolle, der Rationalität. 3.5.4 Die Kräfte en detail Der Sinn und Zweck von Abbildung 55 ist es, einen Überblick über die Kräfte zu liefern, welche den Kommunikationsmanager einerseits in Richtung einer spezifischen Kommunikationsrationalität, andererseits in Richtung einer spezifischen Managementrationalität ziehen, darüber hinaus aber der Spannung aussetzen, das richtige Maß an generischer Managerialität zu gewährleisten, um im Management Game anerkannt und durchsetzungsfähig zu sein. Das Ziel ist eine wohlgeformte Konstellation: Dann entsteht ein Job, der machbar ist, der tatsächlich das beiträgt, was er beizutragen verspricht. Um zwei möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Dem Autor geht es erstens nicht darum, dass Kommunikationsmanager „den Manager geben“, um sich dann ungestört ihrer eigentlichen Arbeit zu widmen, die die „Erbsenzähler“ ohnehin nicht verstehen. In zwei oder mehr Welten leben zu wollen, und in einem dritten Weg das Beste beider verwirklichen zu wollen, ist typisch für das PR- und Kommunikationsdenken – es funktioniert aber nicht immer und nicht auf Dauer. Dem Autor geht es zweitens nicht darum, dass der oberste Kommunikationsverantwortliche auslotet, mit wieviel Manager-Sein er gerade so durchkommt. Auch das Kommunikationsmanagement, behauptet der Autor, profitiert von generischer Managerialität – so man das richtige Maß findet. Das Ziel ist es, um das noch einmal zu betonen, eine wohlgeformte Praxis-Konstellation zu generieren. Macht, Verantwortung, formale Autorität Bei den Kräften, die in Abbildung 55 abgebildet sind, handelt es sich um diejenigen, die unter A angesprochen, unter C ausgearbeitet wurden. Die Janusköpfigkeit von Verantwortung und Macht, mit ihrem Anhängsel der formalen Autorität, wurde herausgestellt. Überverantwortung bedeutet demnach, dass man den Kommunikationsmanager in der Organisation für weitreichende Zusammenhänge, Resultate, verantwortlich macht, ihm aber nicht die Macht, die Ressourcen, an die Hand gibt, dieser Verantwortung gerecht zu werden; gemessen an seiner Verantwortung ist der Manager machtlos. Das ist beispielsweise der Fall, wenn man eine Direktorin Unternehmenskommunikation für Anfeindungen gegenüber einem Unternehmen verantwortlich macht, die aus dem derzeitigen gesellschaftlichen Meinungsklima und dem dauerhaften unternehmerischen Fehlverhalten diesbezüglich erwachsen. Niemand hat die Macht, derartige Konflikte durch quasimagische Kommunikation aufzulösen.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Das Gegenteil von Überverantwortung ist nicht Übermacht, denn Macht ist aus der Perspektive des singulären Akteurs immer eher gut denn schlecht. Das Gegenteil ist Unterverantwortung, die in Einflusslosigkeit resultiert: Der Direktor Unternehmenskommunikation ist zwar nicht verantwortlich für die Unternehmensstrategie und entsprechende Fehlentscheidungen, wiederum Resultate, aber aus seiner Nichtverantwortung resultiert auch eine Nichtberücksichtigung, ein Nichteingebundensein. Da er nicht die Mitverantwortung trägt, darf er auch nicht mitreden. Unterstrategisch vs. überstrategisch Überstrategisch ist ein Akteur dann, wenn er jenseits des realistischen Planungshorizonts operiert respektive wenn er unterdetailliert agiert – wenn er z. B. die Gegenwart zugunsten der Zukunft opfert, wenn er in der Auseinandersetzung mit abstrakten, langfristigen Fragen konkrete, praktische Fragen aus den Augen verliert. Der Überstratege tritt, wie gefordert, einen, zwei, sogar drei Schritte zurück, um das große Bild zu sehen – aber was er sieht, ist nicht ein großes, sondern ein weit entferntes Bild (vgl. Schuppener/Andriof 2006). Der typische überstrategische Fehler in der Unternehmensstrategie ist es, langfristige Investitionen zu entwickeln, ohne den Cashflow von Tag zu Tag im Auge zu behalten. Unterstrategisch heißt, dass die verantwortliche Führungskraft sich in Details verliert und mit Blick auf kurzfristige, „low-hanging-fruit“ das große Ganze aus den Augen verliert. Der typische unterstrategische Fehler in der Unternehmensstrategie ist es entsprechend, in kurzfristigen Planungshorizonten aktuelle Cash Cows zu melken, ohne Potenziale für die nächste und übernächste Cash Cow zu entwickeln. In der Kommunikationsstrategie ist einer der typischen überstrategischen Fehler die Entwicklung einer langfristigen Perspektive auf die Unternehmensmarke, bei der man die Tatsache verkennt, dass das Unternehmen schon mit einem Bein in einem Akquise- oder Mergerprozess steht, der die Marke zerstören wird – man zahlt auf etwas ein, was in drei Jahren verschwunden sein wird. Der typische unterstrategische Fehler sind entsprechend Aktionen, die gar nicht auf eine Marke einzahlen, sie aufbauen, sondern nichts anderes darstellen als erratisches „Hinterherhecheln“ hinter kurzfristigen Trends. In der Kommunikationsstrategie zu berücksichtigen ist jedoch das so genannte metastrategische Missverständnis, welches unter A.II.6 behandelt wurde: Wie der Autor glaubt, liegt jenseits des Planungshorizontes eine Domäne, in der einfache Regeln des Anstandes und des zwischenmenschlichen Miteinanders greifen. In der Domäne jenseits des Planungshorizontes kann noch nichts gewonnen, sondern nur verloren werden. Man kommuniziert nicht, um etwas Bestimmtes zu erreichen – man kommuniziert, um nicht abgekoppelt zu werden von etwas Unbestimmtem. Untersystematik vs. Übersystematik Die Gefahren der Unter- respektive Übersystematik sind in den Formulierungen „Extinction by instinct“ und „Paralysis by analysis“ anschaulich vergegenwärtigt. Untersystematik bedeutet, dass eingefahrene Routinen, gewachsene Traditionen, gewohnte Interpretationsmuster das Denken und Handeln bestimmen – und gerade nicht durch systematisches Fragen, durch Analyse, Konzeption, Implementation, Evaluation flankiert und konterkariert werden. Anstatt die eigene Bequemlichkeit systematisch zu überwinden, rationalisiert man sie um in „Bauchgefühl“, welches aus dreißig Jahren „Berufserfahrung“ stammt. Die Gefahr der Untersystematik besteht besonders bei Praktikern ohne Schulung in der wissen-
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schaftlichen Systematik, die eine Tendenz haben, in hohem Maß unwissenschaftlich, auch unreflektiert zu arbeiten. Übersystematik bedeutet, dass der systematische Prozess das Denken und Handeln lähmt: Anstatt zu akzeptieren, dass auch die systematischste Vorgehensweise nicht den sicheren Erfolg gewährleistet, deshalb akzeptable Risiken auf sich zu nehmen, erstarrt das Denken angesichts der Ungewissheit, erlahmt das Handeln angesichts der Gefahren. Übersystematik bedeutet, dass die Standards wissenschaftlicher Prozedur – die für andere Ziele und einen anderen Kontext entwickelt wurden – auf die „Live-Action“ des Managements angewandt werden. Übersystematiker verkennen, dass eine Operation am offenen Herzen etwas anderes ist als eine Autopsie. Unterwandel vs. Überwandel Dass es Organisationen im Überwandel bereits vor zweitausend Jahren gab, zeigt das einigermaßen bekannte Zitat des römischen Senators Titus Petronius ‚Arbiter’ (14 v. Chr. – 66 n. Chr.), der der Überlieferung nach feststellte: We trained hard - but it seemed that every time we were beginning to form up into teams we were reorganized. I was to learn later in life that we tend to meet any new situation by reorganizing, and what a wonderful method it can be for creating the illusion of progress while actually producing confusion, inefficiency, and demoralization.
Ein Unternehmen oder eine Abteilung ist im Überwandel, wenn das ständige Lernen im Denken, der ständige Wandel im Handeln ebenjene „confusion, inefficiency, and demoralization“ generiert, die Titus Petronius um die Zeitenwende diagnostiziert. Um die Tönnies’sche Unterscheidung der Aggregatzustände im anderen Kontext zu gebrauchen: Die Struktur der Organisation, ihre Interpretationsmuster („Mythen“) verflüchtigen sich zur Gasförmigkeit. Auf die umgekehrte Gefahr, die Erstarrung, ist in der strategischen Managementliteratur wieder und wieder hingewiesen worden. Leonard-Barton (1992) stellte wirkmächtig fest, dass es gerade ebenjene Kernkompetenzen von Unternehmen sind, die über die Zeit zu Kernrigiditäten werden, welche letzten Endes den Niedergang herbeiführen. Unterkontrolle vs. Überkontrolle Eine Situation „unter Kontrolle“ zu haben, definierte der Autor unter 3.1 dergestalt, dass einem Akteur zumindest eine praktische, plausible Option zur Verfügung steht, von der er „weiß“, dass sie „richtig“, also „wünschenswert“ ist. Und umgekehrt wurde formuliert: Wenn es eine realistische Situation gibt, von der der Akteur sagt, „Wenn das geschieht, weiß ich nicht mehr weiter“, dann hat er die Situation nicht unter Kontrolle. Realiter und als ein subjektiviertes Konzept ist Kontrolle verwickelt mit der Toleranz des Akteurs gegenüber Deviationen, mit der Art und Weise der Abweichung, die der Akteur für bedrohlich hält. Der Autor versucht das herauszuarbeiten durch die Analyse verschiedener Kontrollmetaphoriken, welche jeweils unterschiedliche Schlaglichter auf Kontrolle werfen. Die Pilotierungsmetaphorik hält kleinste Abweichungen in der Reaktion auf Steuer- und Regelungsakte bereits für bedrohlich: „Das Auto fährt sich komisch, etwas stimmt nicht.“ Die Navigationsmetaphorik hält es für bedrohlich, wenn der eigene Standort nicht exakt lokalisierbar ist: „Wir wissen nicht, wo wir stehen.“ Die Kultivierungsmetaphorik ist sehr viel toleranter. In der Kultivierungsmetaphorik sind erst pathologische Entwicklungen bedrohlich, insbesondere dann, wenn sie epidemischer Natur sind. Eine gewünschte
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
Pflanze mag so oder so wachsen, sich da oder dorthin vermehren – Hauptsache ist, die Pflanze ist kein Unkraut, nicht krank, sie steckt nicht andere mit ihrer Krankheit an, oder überwuchert andere. Mit Wechsel von einer Metaphorik zur anderen verschieben sich also die Verständnisse von Kontrolle, Regelung und Steuerung. Überkontrolle, alternativ Überregelung oder Übersteuerung, lässt sich also als eine unrealistische Kontrollmetaphorik begreifen, die den Manager nach mehr Kontrolle streben lässt, als praktikablerweise im Aufwand- und Nutzenverhältnis zu erwarten ist. Das führt beispielsweise dazu, dass die untergebenen Einheiten in „Ritualen der Verifikation“ (vgl. Zerfaß 2005) Ressourcen verschleißen, einem „Kontrollwahn“ anheim fallen. Unterkontrolle ist das Gegenteil: Der Manager lässt – insbesondere im Vergleich mit dem, was die anderen im Management Game von ihm erwarten würden – „die Zügel schleifen“. Das führt beispielsweise dazu, dass Ressourcen verschwendet werden, weil zentrifugale Tendenzen nicht kompensiert werden, die eine Hand nicht weiß, was die andere macht. Mngt 1, Mngt 2, Mngt 3 Die Darstellung der drei Ebenen Mngt 1, Mngt 2 und Mngt 3 ruft ins Gedächtnis zurück, dass die Wurzel, welche Management notwendig macht, die aus der Arbeitsteiligkeit von Spezialisten erwachsende Komplexität, der Koordinierungsbedarf ist. Abbildung 55 deutet an, dass sich die Spannungsverhältnisse zwischen Über- und Unter- auf die drei Dimensionen beziehen, jedoch jeweils unterschiedlich. Von einem Kommunikationsmanager ist z. B. gefordert, dass er die Umwelt in einem bestimmten Grad „unter Kontrolle“ hat, wie auch die Organisation, wie auch seine Abteilung, wie auch die Management- und Direktionsebene der Organisation. Der Grad der Kontrolle, beschreibbar in der gewählten Metaphorik, variiert jedoch. Um als „richtiger“ Manager anerkannt zu werden, könnte sich die Führungskraft gefordert sehen, die eigene Abteilung entlang der Pilotierungsmetaphorik zu führen, gegenüber der Umwelt, der öffentlichen Meinung, jedoch eine Kultivierungsmetaphorik zugrunde zu legen. Ähnliches gilt für Kontrolle, Systematik, Wandel/Lernen. 3.5.5 Wohlgeformtheit, Struktur und die viable Position des Praktikers Abbildung 55 vergegenwärtigt, was die Arbeit, in Verschränkung von Theorie- und Feldforschung, soweit aufgezeigt hat. Kommunikationsmanagement geht in zwei Aspekten über Public Relations und Öffentlichkeitsarbeit hinaus: (1) Zum einen, weil die PR- und Kommunikationslogik von der Managementlogik durchdrungen, ja unterworfen wird, so dass Praktiker zwischen zwei grundlegenden, tief verwurzelten Geisteshaltungen (Habitus) und in zwei Praktiken stehen, welche entlang verschiedener Achsen von gut und schlecht, falsch und richtig angelegt, entlang ihrer jeweiligen Achsen beurteilbar sind. (2) Zum anderen, weil der Praktiker auf die Partizipation im Management Game angewiesen ist, um seiner Position gerecht zu werden. Das zwingt ihn wiederum dazu, (3) entsprechend der Organisation ein Mindestmaß an generischer Managerialität an den Tag zu legen: Systematik, Strategie, Kontrolle, Lernen und Wandel. Die viable Position des Praktikers selbst Dem einzelnen Praktiker bleibt es in der Regel selbst überlassen, im Spannungsfeld zwischen zwei Praktiken eine viable Position zu identifizieren respektive für sich selbst zu der generischen Managerialität zu gelangen, die es ihm gestattet, richtige und gute Öffentlich-
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keitsarbeit zu machen, komplementär richtig und gut zu managen, ein richtiger und guter Kommunikationsmanager zu sein. Für den Autor ist es zwar kein Kriterium, aber ein Charakteristikum des Managers, dass er seinen Job mehr und mehr selbst gestaltet je höher er steigt.113 Insofern, und das ist von entscheidender Bedeutung, ist ein Manager für die wohlgeformte Konstellation größtenteils genauso resultatsverantwortlich wie für die Resultate an sich: Entweder er gelangt zu einer Konstellation, in der der Job realistisch ist – oder er zieht die Konsequenzen. Nur mit einem wohlgeformten Job tut der Praktiker sich und der Organisation dauerhaft einen Gefallen, behauptet der Autor. Ein machtloser Kommunikationsmanager ist genauso nutzlos wie ein einflussloser. Quasimagische Heilsversprechungen, die einen ominösen schamanischen Einfluss auf alles und jeden begründen, werden als „Scharlatanerie“ entlarvt werden. Kommunikationsmanagement als ein Ritual, welches sich auf die definierte, formale Autorität des Administrators stützt, existierende Zwecke, Ziele und Mittel reproduziert, ohne der Organisation neue dritte Wege zu eröffnen, ist nichts anderes als Verwaltung dessen, was der Gestaltung, Entwicklung und Lenkung bedarf. Der viable Apparat Es ist, wie der Autor glaubt, von ganz entscheidender Bedeutung zu begreifen, dass Strukturen in Organisationen de facto nichts anderes sind als Verantwortungs- und Machtverhältnisse. Abgesehen davon, dass sich viele Organisationstheoretiker darin einig sind, dass Organigramme gewöhnlich wenig mit der Organisationsrealität zu tun haben (lesenswert Mintzberg/van der Heyden 1999, die „Organigraphen“ statt „Organigrammen“ vorschlagen), laufen reporting relationships, job descriptions, Abteilungs- und Bereichsbeschreibungen in letzter Konsequenz darauf hinaus zu verbriefen, wer offiziell welche formale Autorität, welche Macht wem gegenüber, welche Verantwortung wiederum wem gegenüber hat. Wenn unter 3.2 herausgearbeitet wurde, dass Manager einen „Apparat“ gestalten, entwickeln und lenken, dass Manager Strukturen schaffen, dann bedeutet das, dass sich das Jobdesign rekursiv auf der Ebene unterhalb der eigenen wiederholt. Der Manager ist gefordert, nicht nur für sich selbst viable Positionen zu finden, sondern auch für seine Mitarbeiter: Es gilt, wohlgeformte Jobs zu framen. Je enger die Spielräume sind, desto weniger handelt es sich um Managementjobs, die mit genuiner Resultatsorientierung Hand in Hand gehen. Dass Manager niemals Verantwortung teilen, sondern nur Arbeit, wurde ausgeführt. Das Management Game Das richtige Maß an generischer Managerialität und eine viable Position für gutes, richtiges Kommunikationsmanagement zu finden und zu halten, hört sich in abstracto einfach an, ist es in concreto jedoch nicht. Dreh- und Angelpunkt ist, wie gezeigt wurde, das Management Game. Das Management Game ist es demnach, welches im nächsten Schritt einer Betrachtung zu unterziehen ist. Der Autor holt dazu, das sei vorweggenommen, weit aus. Der Bogenschlag ist jedoch gerechtfertigt, weil mit dem folgenden Teil D das theoretische Fundament der Arbeit in dreierlei Hinsicht ausgearbeitet wird: Erstens fundiert der Autor sein theoretisches Verständnis des Agierens von Akteuren in Organisationen; zweitens fundiert er Kommunikationsmanagement als Praxis, die in, für und durch Organisationen geschieht, 113
Rosemary Stewart drückt das in der analytischen Separation von demands, constraints und choices aus. In ihren verschiedenen Untersuchungen (Stewart 1982) zeigte sie auf, dass Manager umso mehr Entscheidungsspielräume (choices) haben, je höher sie steigen – die demands (Ansprüche) und constraints (Begrenzungen), die Entscheidungen abnehmen und erleichtern, nehmen demgegenüber ab.
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C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik
zwar auf lebensweltlichen Bedürfnissen des Menschen aufsetzt, aber systemischen und funktionalen Brechungen unterliegt; drittens und en passant fundiert der Autor sein eigenes Verständnis von sich selbst als wissenschaftlichem Beobachter.
D)
Das Management Game als Funktionslebenswelt – theoretische Fundierung
Schon die Metapher des Spieles deutet an, dass das Management Game etwas anderes ist als das Management einer Organisation in Aktion. Das Management Game ist ganz und gar nicht das Arbeiten der Manager einer Organisation im institutionalen Verständnis – der Personen also, die man als Manager etikettieren würde. Das unternehmenspolitische Spiel ist auch nicht völlig deckungsgleich mit dem „Funktionieren“ des Managements einer Organisation im funktionalen Verständnis, losgelöst von Personen. Das Management Game, insbesondere aber die Kommunikationsfunktion im Management Game, lässt sich, wie der Autor glaubt, nur adäquat verstehen, wenn man zwei Pole in Rechnung stellt: Einerseits gilt es viele, sehr viele Menschen zu sehen, die sich einer Organisation bedienen, um ihre eigenen Zwecke durch Verfolgen von Organisationszwecken zu verwirklichen – die sich eine Lebenswelt schaffen. Andererseits ist ein komplexes, sehr komplexes soziales „System“ zu sehen, welches sich, etwas ungelenk ausgedrückt, der Menschen bedient – das sich „Funktionäre“ generiert. Der Punkt, an welchem sich die Gegensätze vereinigen, ist das Denken und Handeln, das Observieren und Agieren des einzelnen Individuums. Denn das Individuum erlebt sich in der Regel nicht als Funktionär, der ominöse Systemlogiken reproduziert. Zwar gibt es Augenblicke, in welchen das Ominöse, dem „gesunden Menschenverstand“ diametral Konträre erlebt wird. In der Regel erlebt sich das Individuum aber als Person mit einem Standing in einer Organisation, das es sich erworben hat, weil es Dinge tut, die man für richtig und gut hält, die vernünftig sind. Das Individuum erlebt sich ferner als umgeben von anderen Individuen, die wie es selbst sind – nicht Funktionäre und Rollen bevölkern die Büros, sondern Menschen, vorgesetzte, untergebene und gleichgestellte Personen. Neben Menschen umgeben das Individuum schließlich auch Dinge, ist das Individuum eingebunden in Zusammenhänge und Verhältnisse, ist es Ideen, Theorien und Konzepten ausgesetzt – und diese Dinge, diese Zusammenhänge und Verhältnisse, diese Ideen, Theorien und Konzepte sind manchmal selbstverständlich so und nicht anders, manchmal können sie jedoch so verstanden werden oder anders. Selektivität, Perspektivität, Konstruktivität und der „Realitätskorridor“ Es ist die Selektivität, Perspektivität und Konstruktivität der Wahrnehmung, welche dazu führt, dass Menschen hypothetisch ein und dieselbe Situation verschieden, aber eben nicht völlig verschieden wahrnehmen: es existiert ein „Realitätskorridor“ (vgl. Bentele 2008, 151-158). Die verschiedene Wahrnehmung summiert und potenziert sich auf zu verschiedenen Erklärungs- und Deutungsmustern der Welt, verschiedenen subjektiven Theorien und mentalen Modellen, so dass Menschen auch verschieden handeln. Die Interaktion mit ande-
H. Nothhaft, Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis, DOI: 10.1007/978-3-531-92671-1_4, © VS Verlag fuሷr Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
ren Menschen in Szenen geteilter Aufmerksamkeit und der dabei erlebte „Einblick“ in ihr Denken und Handeln (Theory of Mind) führt zwar in vielen Fällen wiederum zu einer Synchronisierung – gleichwohl bleibt ein Oszillieren zwischen der eigenen Wirklichkeit, einer geteilten Welt und einer gegebenen Realität. Gäbe es nur objektive Fakten, wäre die Wahrnehmung des Homo sapiens eine Widerspiegelung der Welt „dort draußen“ im jeweiligen Inneren des Subjektes, wäre seine Kommunikation der kongruente Austausch von Bewusstseinsinhalten, wäre sein Handeln einzig und allein durch bewusste Prozesse und eine schematische Anlage von Stimulus-Response gesteuert, dann gäbe es so etwas wie unternehmenspolitische Spiele, dann gäbe es auch Public Relations, Öffentlichkeitsarbeit, Kommunikationsmanagement nicht. Die Annahme, welche der Autor unter I. entfaltet, ist demnach das konstruktivistische Postulat, dass der Mensch als Person, Ich oder Selbst in einer Lebenswelt lebt, die der Organismus sich selbst erschafft. Der Autor präzisiert das Postulat in den ersten Kapiteln (1., 2., 3.): es ist entscheidend, dass der Organismus eine Lebenswelt erzeugt, nicht der Akteur. Mit den weiteren Kapiteln wendet er das Postulat an, um zu einem Verständnis des „existenziellen Dreikampfes“ zu gelangen, der die soziale Existenz des Menschen prägt. Wie der Mensch in Gemeinschaften, Gesellschaften, aber eben auch in Organisationen, Unternehmungen und im Management Game agiert, lässt sich verstehen, wenn man davon ausgeht, dass (1) der Organismus für sich eine Lebenswelt sucht, in welchem er eine gesicherte Position in einer Ingroup zu erobern und mit vertretbarem Aufwand zu halten vermag. Das führt notwendig zu den zwei anderen Disziplinen des „Dreikampfes“; nämlich, (2) dass am Zusammenhalt der Ingroup sowie (3) an der Durchsetzung gegenüber anderen Outgroups „mitgearbeitet“ wird. Lebenswelt, System, Funktionslebenswelt Mit II. stellt der Autor dem Konzept der Lebenswelt und dem des „existenziellen Dreikampfes“ das des Systems gegenüber. Das geschieht, um den Begriff des Systems zu klarifizieren und zu entmystifizieren. Gleichwohl gesteht der Autor zu, dass der Systembegriff ambivalent bleibt: Er bezeichnet einerseits eine dem direkten und unmittelbaren „Erleben“ entzogene, „ominöse Ebene“, durch Rekurs auf die das faktische „Funktionieren“ der Welt erklärt zu werden versucht, wenn es von der alltäglichen, intuitiv-zwischenmenschlichen Lebenserfahrung abweicht. Er bezeichnet andererseits ein Erkenntnismodell, welches das Individuum auch lebenspraktisch-alltäglich auf sich selbst anzuwenden vermag: Durch systemisches Denken (nicht Systemtheorie) vermag sich das Individuum selbst zu transzendieren, um hernach sich selbst und die Welt besser zu verstehen als vorher.114 114
Eine äußerst lesenswerte Kritik des Begriffes systemisch legt Rademacher (2009) vor, der darauf hinweist, dass insbesondere psychologisch und psychotherapeutisch verwurzelte Autoren wie der in der Arbeit gelegentlich angeführte Fritz B. Simon einen „weichgespülten“ Systembegriff in die Sozialwissenschaften „rückübersetzen“, der vage, diffus und damit „unkritisierbar“ bleibe (2009, 45-46). Rademachers Kritik entfaltet sich vor einem doppelten Hintergrund: Erstens bemängelt er, dass die Auseinandersetzung mit der Systemtheorie, insbesondere der Luhmann’schen, sich oftmals in „anonymen Referenzen“ und bloßem „Namedropping“ erschöpfe (2009, 4445), weil der komplexe systemtheoretische Diskurs gar nicht mehr überschaubar sei. Zweitens (2009, 45, FN 76, 77) würde im Halbverständnis immer wieder versucht, theoretische Ansätze miteinander in Verbindung zu bringen, die theoriegeschichtlich nicht in Verbindung zu bringen seien, wie etwa die soziologische Systemtheorie à la Luhmann und die Habermas’sche Theorie des kommunikativen Handelns (für eine polemische Kritik an entsprechenden Versuchen Rolkes vgl. Kocks 2009). Der Autor pflichtet Rademachers Kritik voll und ganz bei, zieht aber andere Schlussfolgerungen: Die erste Schlussfolgerung ist die, dass der bloße Rekurs auf einige systemtheoretisch-systemische Autoren nicht genügt, sondern dass die für die Arbeit beanspruchten Erkenntnisgewinne
D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
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Die Kontrastierung von Lebenswelt und System ist von Interesse, weil der Autor postuliert, dass das Agieren in, für und durch Organisationen als Agieren in einer Funktionslebenswelt vor sich geht. Für Managementfragen ist das Konzept der Funktionslebenswelt von Bedeutung, weil die Komplementarität von System und Lebenswelt Interventionsmöglichkeiten auftut, die von der systemischen Organisationstheorie, insofern ist Habermas Kritik an der Systemtheorie beizupflichten (TdkH II, 277), etwas voreilig unter den Tisch gekehrt wurden: Mit allen maßgeblichen Entscheidern von Angesicht zu Angesicht zu sprechen, dem anderen in die Augen schauen, ist etwas völlig anderes, als in einem System in der Art und Weise zu intervenieren, die die systemische Organisationstheorie zeichnet. Re-Embedding und der Kafka-Effekt Für Kommunikationsmanagement ist das Konzept der Komplementarität von Lebenswelt und System noch in einem anderen Zusammenhang relevant. Die größte Herausforderung des Kommunikationsmanagements in der Spätmoderne ist die, das ominöse Bestehen und Wirken komplexer sozialer Systeme in die Lebenswelten der Menschen rückzubetten – „reembedding“ in der Giddens’schen Theorie.115 Der Autor diskutiert das unter der Überschrift des Kafka-Effektes. Re-embedding, Rückbettung – das gelingt nicht, um naiv realistischen Theorien des Kommunikationsmanagements von vornherein eine Absage zu erteilen, indem man die Organisation so kommuniziert, wie sie wirklich ist. Das gelingt aber auch nicht, um der Theoriebildung bei Merten und Kückelhaus (sehr ausführlich ausgearbeitet in Kückelhaus 1998) entgegenzutreten, durch ein bindungsfreies Gespinst. Die große Kunst ist es – und der Ausdruck Kunst ist absichtsvoll gewählt –, ein Konstrukt anzubieten, welches die avisierte Position in der Lebenswelt der Menschen einerseits erobert, andererseits haltbar ist (ähnlich auch Schmid/Lyczek 2006). Die Formulierung deutet bereits an, dass sich der „existenzielle Dreikampf“ für Organisationen auf höherer Ebene wiederholt – aber, um es noch einmal zu betonen: Das Problem mag das gleiche sein, die Probleme sind andere.
möglichst scharf und klar herausgearbeitet werden müssen. Das geschieht unter D.III. Die zweite Schlussfolgerung ist die, dass die vorliegende Arbeit auf den prestigiösen Rekurs auf die angeblich sauberes Denken erfordernde Luhmann’sche Systemtheorie verzichten muss (ganz anders sieht das „saubere Denken“ Bühl 2003), um die Freiheit zu gewinnen, das theoretisch zu fassen, was man fassen möchte. Das geschieht in D.II. Zu Rolkes Ansatz ist anzumerken, dass der Verweis auf theoriegeschichtliche Schwierigkeiten ein bloßes Belesenheitsargument darstellt; entscheidend ist die Plausibilität der Argumentation. Abgesehen davon ist Lothar Rolke nicht der einzige Autor, der die Engführung des Luhmann’schen Theoriediskurses – ob sie dem Luhmann’schen Werk oder dogmatischen Exegeten geschuldet ist, sei dahingestellt – zu überwinden sucht. 115 Zu Entbettung vgl. etwa Giddens 1996, 33ff; zu Rückbettung 1996, 102ff.
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I)
D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
Die Lebenswelt: Mensch, Organismus, Person
Ausgangs- und Endpunkt der theoretischen Fundierung ist die Tatsache, dass Menschen als Organismen existieren, als Akteure oder Personen sehen sie sich in ihrer Lebenswelt Problemen gegenüber, sie agieren, um Probleme zu lösen, sie kommunizieren, sie reflektieren. Aus dieser einfachen, alltagssprachlich gefassten Annahme entfaltet sich die theoretische Basis. Die terminologische Frage: Organismus, Mensch, Person und/oder Akteur Die allererste Frage ist eine terminologische. Weshalb, ließe sich fragen, redet der Autor gelegentlich von Menschen, gelegentlich von Personen oder Akteuren, gelegentlich von Organismen? Die Antwort lautet: Der Wechsel der Terminologie spiegelt wider, dass es zwar irreführend ist, den Menschen auf sein Selbsterleben als handelnde Person hier und jetzt zu reduzieren, da vieles unbewusst oder vorbewusst geschieht, sich dem Selbsterleben als fait accompli darstellt. Genauso irreführend ist es jedoch, den Menschen als Organismus zu rekonstruieren, der sich nicht selbst erlebt, der andere nicht als seinesgleichen, als MitMensch erlebt. Und um noch einen Schritt weiterzugehen: Große Teile unseres sozialen Zusammenlebens machen nur dann Sinn, sind nur dann bedeutungshaft zu verstehen, wenn wir andere genauso wie uns selbst als in sozialen Zusammenhängen bedeutungsvoll handelnde, sinnverstehende Akteure begreifen (zum „vermeintlichen Ende des handelnden Subjekts“, welches im Gefolge der Gehirnforschung voreilig beschworen wurde, vgl. die verschiedenen Beiträge in Reichertz/Zaboura 2006; insbesondere Reichertz 2006). Das zentrale Thema des ersten Abschnittes ist es, ein Personen- oder eben Akteurskonzept zu entwickeln, welches rückgebunden ist an die menschliche und die organische Ebene, vorwärts anschlussfähig an die soziale. Die große Herausforderung ist mit der Tatsache zurechtzukommen, dass der Mensch in letzter Konsequenz ein Organismus ist; dass seine Existenz als Organismus aber nicht die Art und Weise ist, wie er sein In-derWelt-Sein, um einen Heidegger’schen Begriff zu gebrauchen, erlebt. Der Organismus Mensch erlebt sich selbst als Person. Der Organismus Mensch erlebt sich als Akteur, der (1) ein psychisches „Innenleben“, den Geist, besitzt; (2) über eine „Verkörperung“ in der physischen Außenwelt, den Körper, verfügt; der sich (3) in sozialen Zusammenhängen bewegt, die weder rein physisch noch rein psychisch zu verstehen sind. Vieles, was wir hier und jetzt als selbstverständlich und unhintergehbar ansehen, lässt sich als historisch kontingent dekonstruieren. Einen Schritt von hinc et nunc entfernt sieht der Mensch, dass sein eigenes vergangenes Handeln oder das der anderen von Zufällen, unterbewussten Antrieben, vorbewussten Entscheidungen getrieben war, wenn er auch die derzeit greifenden Kräfte gerade nicht sieht. Der Konstruktivismus nach Gerhard Roth Der Autor glaubt, dass der Konstruktivismus, wie ihn Gerhard Roth auf neurobiologischkognitionswissenschaftlicher Grundlage entwirft, eine geeignete theoretische Grundlage bietet, um die geschilderte Konstellation zu verstehen. Roths Entwurf liefert demnach das
I: Die Lebenswelt: Mensch, Organismus, Person
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Grundgerüst, in das sich die anderen Konzepte und Modelle integrieren – aus dem sie emergieren. Das Problem des Roth’schen Konstruktivismus ist, dass er erklärungsbedürftig ist. Er ist erklärungsbedürftig, weil Roth das konventionelle Akteurskonzept aus den Angeln hebt.116 Unter einem konventionellen Akteurskonzept versteht der Autor jedes, welches die grundsätzliche und jahrtausendealte Fragestellung nach dem Verhältnis von Mensch und Welt nicht an der Wurzel packt, sondern pragmatisch verkürzt. Das Modell des klassischen Homo oeconomicus, des rational nutzenmaximierenden Akteurs, ist das Paradebeispiel pragmatischer Verkürzung117, und natürlich sind die in der Attribuierung oeconomicus verborgenen Verkürzungen ausgiebig kritisiert worden. Die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Welt an der Wurzel zu packen, bedeutet aber gerade nicht, das qualifizierende Attribut neu oder anders auszubuchstabieren, etwa den Homo psychologicus zu postulieren. An der Wurzel packen heißt, die grundsätzliche Konstitution des Homo in Augenschein nehmen. Um in systemtheoretischer Terminologie zu sprechen: Es gilt zu thematisieren, über welches „System“ man spricht, wenn man vom Akteur, von der Person, von ebenjenem Homo spricht – über das des Organismus, das der kognitiven Verarbeitung oder das des bewussten Erlebens. Auf Grundlage des Roth’schen Konstruktivismus geht der Autor davon aus, dass jener Akteur, von dem wir als unser Selbst oder Ich sprechen, auf der Ebene bewussten Erlebens anzusiedeln ist. Organisch-neurophysiologisch betrachtet findet alles, was wir bewusst erleben, in der Großhirnrinde statt, stellt also lediglich einen Bruchteil der organischen Gehirnaktivität dar, die wiederum nur einen Bruchteil der organischen Aktivität insgesamt darstellt. Was wir als Akteure verarbeiten, ist demnach nur indirekt und mittelbar Input aus der Welt, direkt und unmittelbar ist es Input aus verschiedenen Subsystemen des Organismus, insbesondere den kognitiven. Aber: Der Akteur, die Person, das Selbst oder Ich, welche Formulierung man auch bevorzugt, erlebt das In-der-Welt-Sein ganz und gar anders. Die Person lebt in einer Wirklichkeit, die in eine erlebte Außenwelt und eine erlebte Innenwelt zerfällt, wobei der Körper teilweise als das eine, teilweise als das andere wirklich wird. Obwohl der Akteur de facto die Spitze des Eisberges darstellt, erlebt er sich als der Eisberg insgesamt. Die Frage, wer, was oder warum ich bin, mag von philosophischer Verstricktheit zeugen, jedoch dürfte jeder sie schon einmal gestellt haben. Die Frage, weshalb ich überhaupt über ein bewusstes Selbst verfüge, weshalb ich ein Ich habe, wirkt schon von vorneherein verkehrt. Exakt auf ebenjene Frage – Weshalb entwickelt ein Organismus (eine Spezies) ein Bewusstsein seiner (ihrer) selbst? – versucht Roth eine Antwort zu geben. Die Antwort ist im Prinzip simpel: Roth (1997; 2003; kurz und gedrängt in 2007) argumentiert, dass die Konstitution eines bewussten Ich notwendige Vorbedingung für längerfristige, komplexe und flexible Handlungsplanung, insbesondere in sozialen Zusammenhängen, ist. Für simple
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Vorwegzunehmen ist, dass der Autor Roth in vielem, nicht jedoch in allem folgt. Roth wird gewöhnlich mit zwei Standpunkten in Verbindung gebracht: a) einem ultraradikalen Konstruktivismus, der b) einen biologischen Determinismus fundiert. Aus der Annahme, dass unser Ich in letzter Konsequenz eine Konstruktion unseres Gehirns ist, leitet Roth ab, dass der Mensch nicht in der Art und Weise willensfrei ist, wie das die Philosophie, insbesondere die Rechtsphilosophie, gemeinhin unterstellt (vgl. Roth 1997, 303-311; Roth 2003, Kap. 15, Exkurs 3; Roth 2007; Pauen 2005, 236-297; Pauen/Roth 2008). Hinsichtlich a) folgt der Autor Roth nahezu ganz und gar; hinsichtlich b) ist der Autor etwas vorsichtiger, was vor allem begrifflichen Unterschieden geschuldet ist. 117 Ein aufgeklärtes, organisch gewendetes Rational-Choice-Modell liegt jedoch, wie Roth geltend macht, nahe an der neurobiologischen Realität (vgl. Roth 2003, 557).
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
Problemlösungsszenarien mag ein vages, vorbewusstes „Gefühl“ der raumzeitlichen Integrität genügen, nicht aber für komplexe, soziale.
Abbildung 56: Organismus, Mensch, Akteur (Quelle: eigene Darstellung) Das Selbst als Akteur Für derartige Szenarien benötigt das Gehirn sozusagen einen Platzhalter für sich selbst, seinen Organismus, wenn es in die Lage versetzt sein soll, komplex und flexibel in die Zukunft zu denken und sich etwa die Frage zu stellen: Wie würde ich mich fühlen, wenn ich dieses oder jenes tue, was würden die anderen von mir denken? Das Selbst entspricht, salopp ausgedrückt, der Spielfigur in einem Spiel. Wenn wir an einem Spiel wie Risiko teilnehmen, planen wir unsere Züge vorausschauend, um zu gewinnen. Würde von Zug zu Zug zufällig wechseln, wer welche Spielfiguren zieht, würde unser vorausschauendes Planen ad absurdum geführt: es gäbe keine intentionalen Akteure, sondern nur Figurbewegungen. Weicks berühmtes Beispiel der vier Golfspieler, die bestürzt sind, als Professor Bavelas ihnen vorschlägt, die Zweierteams erst nach dem Spiel zu bilden, spiegelt die Problematik wider (Weick 1979, 1). Aus genau dem gleichen Grund benötigt der humane Organismus eine symbolische Repräsentation seiner selbst, um komplexere Ursa-
I: Die Lebenswelt: Mensch, Organismus, Person
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che-Wirkungs-Ketten zu durchdenken, insbesondere mit Rückwirkungen, wie sie in sozialen Zusammenhängen gang und gäbe sind. Die Annahme, dass das Selbst nicht etwa ein archimedischer Punkt ist, sondern selbst ein Konstrukt darstellt, welches dann noch, darüber hinaus, eine konstruierte Welt „erlebt“, ist der Gedankensprung, der den Roth’schen Konstruktivismus von anderen, nicht zu Ende gedachten Spielarten unterscheidet. Abbildung 56 zu Anfang des Abschnittes zeigte bereits die wesentlichen Zusammenhänge: Das In-der-Welt-Sein erlebt der Organismus Mensch über ein Subsystem, das kognitive, genauer gesagt über ein Subsystem des kognitiven Systems, das Bewusstsein. Das Bewusstsein, neurobiologisch in verschiedenen Arealen der Großhirnrinde angesiedelt, generiert einen Akteur. Der Akteur ist das, was wir als unser Ich oder Selbst bezeichnen; der Freud’sche Anklang, und auch der an Mead, ist durchaus beabsichtigt. Da das Ich der Fokuspunkt unseres phänomenalen Erlebens ist, hat das von verschiedener Seite dazu geführt, den Menschen zuvorderst und in allererster Linie als ein kognitives oder psychisches System zu verstehen. Das ist nach Ansicht des Autors und neurobiologisch argumentierender Autoren irreführend. Richtig ist, dass der Mensch ein Organismus ist, der sich über ein ausgeprägtes psychisch-kognitives Subsystem als Selbst in der Welt erlebt. Richtig ist ferner, dass auch das psychisch-kognitive Subsystem, sei es das Gehirn insgesamt oder aber das Bewusstsein, als System rekonstruierbar ist. Die Irreführung beginnt, wenn Organismus und der durch das Bewusstsein generierte, sich seiner selbst bewusste Akteur gleichgesetzt werden. Wo ein Akteur die Welt um sich herum erlebt, nehmen die entsprechenden Großhirnareale Input auf – der Input stammt aber nicht aus der Welt, sondern aus Subsystemen des Organismus, die dem bewussten Erleben ganz oder teilweise verborgen bleiben. Wenn der Akteur Problemlösungen entwickelt, die Welt versteht, findet ein Throughput statt – die Art und Weise des Throughputs, des Prozessierens, ist aber wiederum von Erfahrungen determiniert, die teilweise bewusst sind, teilweise aber vorbewusst und unbewusst bleiben. Wenn der Akteur agiert, und dazu gehört auch das Kommunizieren, findet ein Output statt. Systemisch gesehen ist der Output aber, das dürfte deutlich geworden sein, nicht Ergebnis der Willensfreiheit eines weiteren, in unserem Kopf freischwebend aufgehängten autonomen Agenten (die Denkfigur des Descartes’schen Theaters), sondern schlicht und einfach Ausfluss des Prozessierens. Das schließt es jedoch keineswegs aus, wie der Autor glaubt, von menschlicher Willensfreiheit zu sprechen. Eine dreifache erkenntnistheoretische Grundlage Da die Erörterung erkenntnistheoretischer Fragestellungen vergleichsweise umfangreich ausfällt, möchte der Autor verdeutlichen, dass er damit ein dreifaches Ziel verfolgt, und zwar ein materiales, ein wissenschaftstheoretisches und ein forschungslogisches. Erstens geht es wie geschildert darum, ein Akteurskonzept zu entwickeln, aus dem sich wiederum ein Organisations-, Management- und Kommunikationskonzept entwickelt. Zweitens geht es darum, den Status wissenschaftlicher Erkenntnis zu präzisieren, um Prozesse des Wissenschaft-Praxis-Transfers zu entmythologisieren. Drittens ist es selbstverständlich ein Anliegen, die eigene Beobachtungsstudie zu fundieren; der Autor versteht sich also selbst als ein Akteur, wie er ihn theoretisch postuliert. Erkenntnistheorie tritt heutzutage oftmals als Wissenschaftstheorie auf, in der verschiedene Disziplinen in erster Linie die Grenzen ihrer eigenen, ihrer wissenschaftlichen Geltungsansprüche erörtern. Erst in zweiter Linie dient die Erkenntnistheorie als Fundament materialer disziplinärer, also etwa soziologischer, politikwissenschaftlicher, kommu-
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
nikationswissenschaftlicher oder betriebswirtschaftlicher Theorien. Das ist einer wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung geschuldet, bei der sich die Philosophie im Gefolge des Siegeszuges der Naturwissenschaften re-definierte (vgl. Schnädelbach 2004, Kap. 0). Die originäre philosophisch-epistemische Frage zielte jedoch nicht lediglich darauf, was der Mensch prinzipiell, etwa unter Bedingungen akribischer wissenschaftlicher Standards, wissen könnte. Sie zielte eben auch darauf, wie, wann und warum wir berechtigt sind davon zu sprechen, dass wir, als Personen, etwas sicher wissen, dass wir „unserer Sache gewiss“ sind. Ebenjene Frage gelangt, wie der Autor meint, zu besonderer Brisanz in einer Zeit, in der zwei vermeintlich gegenläufige Strömungen am Werk sind: Denn zum einen proklamieren Theoretiker der Postmoderne wie z. B. Lyotard (vgl. Lyotard 1979), dass die Suche nach einer letztgültigen ultima ratio ultimativ ins Leere der Nichtrationalität läuft118; zum anderen diagnostizieren Theoretiker der späten Moderne wie Giddens (1996), dass unsere Zeit durch eine Verwissenschaftlichung des Alltags gekennzeichnet ist (vgl. auch A.II.7). Anders ausgedrückt: die Wissenschaft ist nicht mehr, wie es noch Hegel beschwor (GdPdR, Vorrede), der schauende Flug der Eule der Minerva, die sich in der Abenddämmerung erhebt, wenn die Ereignisse des Tages vorüber sind – die Wissenschaft steht Tag für Tag im Alltag der Menschen, im Rahmen professioneller Praxis stellt sie einen vermeintlich festen Boden gesicherter Grundlagen bereit. Der Begriff der Lebenswelt Das Spannungsfeld Wissenschaft vs. Alltag, wissenschaftliche Erklärung vs. „Erleben“ und „Verstehen“, Rationalität vs. Diskurs gestattet es, das Konzept der Lebenswelt, wie es bereits unter A.III angerissen wurde, etwas näher zu bestimmen. Der Autor ist sich der Tatsache bewusst, dass es sich um einen großen und umkämpften Begriff handelt, der über eine lange, philosophisch-soziologische Tradition verfügt. Gerade deshalb ist es für den Autor entscheidend, von Anfang an mit einem eigenständigen Begriffsverständnis zu operieren, das die Arbeit nicht in philosophisch-soziologische Debatten verstrickt. Unter der Lebenswelt versteht der Autor die schlichte und einfache Tatsache, dass jede Person sich selbst als in einer Umwelt verortet erlebt, die es im Großen und Ganzen versteht respektive zu verstehen glaubt. Präziser gesagt: Die Lebenswelt definiert sich als die Sphäre, welche der Akteur grundsätzlich und mit einiger Selbstverständlichkeit als bedeutungsvoll und sinnhaft, vor allem aber als „verstanden“, als „seine Welt“ begreift. Die Lebenswelt eines Kleinkindes ist beispielsweise klein und fragmentiert, beschränkt sich auf die elterliche Wohnung, die Eltern, Geschwister, den Kindergarten und die anderen Kinder im Kindergarten, verschiedene, durch Autofahrten verknüpfte „Orte“ wie etwa das Schwimmbad, die Turnhalle, die Musikstunde. Die Welt jenseits der vertrauten Orte mit ihren vertrauten Gesichtern ist einerseits spannend, andererseits bedrohlich. Insofern liegt für Kinder jenseits der Lebenswelt eine Sphäre, die genauso ominös ist wie „der Wald“, „die Berge“ oder „die Götterwelt“ für unsere Vorfahren und Ahnen ominös war. Für moderne Erwachsene ist die Lebenswelt sehr viel komplexer, vor allem aber komplexer strukturiert, weil die Lebensweltwahrnehmung sich von der Raum-ZeitWahrnehmung abgelöst hat, nur gelegentlich kommt es zu Überschneidungen, Durchdringungen und Überlagerungen. Eine Soziologin, die sich in der „Welt der Wissenschaft“ 118
Für eine „postmoderne Agenda“ der PR-Theorieentwicklung unter Rekurs auf Lyotard, Foucault, Derrida, Deleuze, Bourdieu etc. plädiert Holtzhausen 2002.
I: Die Lebenswelt: Mensch, Organismus, Person
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bewegt, mag etwa feststellen, dass sie die „Welt der Investmentbanker“ nicht versteht, dass es nicht „ihre Welt“ ist. Vor Augen geführt wird ihr die Existenz und Realität dieser anderen Welt aber erst, wenn sie es mit Investmentbankern zu tun hat. Das geschieht insbesondere, wenn sie „Orte“, etwa Restaurants oder Bars, aufsucht, an denen sie es mit Investmentbankern „unter sich“ zu tun hat. Ähnlich verhält es sich mit Zeit: Wenn sich sehr viele gesellschaftliche Praktiken sehr schnell verändern, tut sich eine Kluft auf zwischen älteren und jüngeren Menschen. Jüngere Menschen, für die das Internet, moderne Telekommunikation wie etwa Skype und Social Software wie etwa Facebook selbstverständlich sind, leben beispielsweise in einer Welt, in der Raum und räumliche Entfernung nicht die Rolle spielen wie für ältere Menschen (zu Raum und Zeit in der Spätmoderne vgl. auch Giddens 1986, Kap. 3; 1991, Kap.1). Die Rekonstruktion suggeriert, dass jeder in seiner Lebenswelt allein ist. Das ist ein doppeltes Missverständnis. Es ist ein Missverständnis einerseits, weil das Konzept eines außenstehenden Beobachters auf die Rede von der Lebenswelt, anders als auf den konstruktivistisch-philosophischen Begriff der Realität, von vornherein nicht anwendbar ist. Es stellt andererseits ein Missverständnis dar, weil, im Unterschied zum konstruktivistischphilosophischen Begriff der Wirklichkeit, gerade das Gegenteil der Fall ist. Der Autor postuliert, dass Menschen zwar jeweils in ihrer eigenen persönlichen und individuellen Lebenswelt leben, dass die Lebenswelten vieler Menschen sich aber derartig überschneiden, dass die Rede von einer geteilten Lebenswelt richtiger ist als die Rede von einzelnen Lebenswelten. Der Grund dafür ist die soziale Natur des Menschen, die den anderen nicht nur als bloße Entität im eigenen Weltwahrnehmungsbereich rekonstruiert, sondern als „Person wie ich“. Diese erstaunliche Fähigkeit ist die eigentliche Grundlage höherer menschlicher Kommunikation. Syntaktisch und semantisch sind wir in der Lage, mit einem Computer zu kommunizieren. Seine pragmatische Dimension entfaltet der Kommunikationsbegriff aber erst, wenn wir ein anderes Wesen wie wir selbst es sind als Kommunikationspartner unterstellen, wie das in A.I dargestellt wurde – anders ausgedrückt: ein Wesen, das uns versteht. Das gegenseitige Verstehen von Menschen lässt sich, das ist eine These des Autors sehr viel weiter ausdehnen als es die Rede von der „Welt der Investmentbanker“ vs. „Welt der Soziologin“ suggeriert. Und eine weitere These ist, dass gerade die Rede der Soziologin davon, dass der Investmentbanker in einer „anderen Welt“ lebe, der Beweis dafür ist, dass sie die Lebenswelt doch grundsätzlich mit ihm teilt. Damit kehrt die Arbeit zurück zu der Rede von Resonanzböden, wie sie bereits unter A angedeutet wurde. Die Soziologin mag den Investmentbanker nicht als Investmentbanker verstehen, sie unterstellt aber mit ihrem Versuch des Verstehens von vornherein, dass er ein Mensch wie sie selbst ist. Sie versteht ihn nicht als Investmentbanker. Sie versteht ihn aber basalhuman, als Menschen. Sie versteht ihn auf Grundlage ihres eigenen Verständnisses der Faktizität gemeinschaftlichen Zusammenlebens, z. B. als Familienvater, Ehemann, Einwohner eines Dorfes. Sie versteht ihn aufgrund ihres eigenen Verständnisses gesellschaftlichen Zusammenlebens, z. B. als Bürger. Diese drei Verständnisebenen, vor allem aber die basalhumane und die gemeinschaftliche, sind selbstverständlich – und sie sind nicht oder nur unter größten Anstrengungen hintergehbar.119 Die Wurzel dieser geteilten Lebenswelt ist aber keineswegs mysteriös. 119
Der eine Weg sind traumatische Erfahrungen – etwa mit pathologischen Individuen, seien es Autisten, seien es soziopathische Individuen –, die erlebbar machen, dass nicht jeder menschliche Organismus zwangsläufig ein Mensch im lebensweltlichen Sinne ist. Der andere Weg ist die Anwendung fortgeschrittener wissenschaftlicher Methoden auf die eigene Lebens- und Welterfahrung.
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
Sie liegt in der Tatsache, dass Menschsein in letzter Konsequenz auch eine biologische Kategorie darstellt. Egal, in welcher Kultur man lebt – die Artefakte, welche die Kultur hervorgebracht hat, sind in letzter Konsequenz Artefakte eines intelligenten Organismus, der nach Überleben oder Weitergabe seines Erbgutes strebt. Egal, in welcher „Welt“ man sonst lebt, man weiß beispielsweise, was es bedeutet, Hunger zu haben, Durst zu verspüren, ein Kind zu haben etc. Man entwickelt ein Verständnis dafür, was derartige Grundbedürfnisse bedeuten. Lebenswelt vs. System Freilich, die Rede von einer Lebenswelt führt nur zu einem Erkenntnisgewinn, wenn ihr etwas gegenüber steht, was nicht wiederum Definiens der Lebenswelt ist. Die Rede von der ominösen Sphäre jenseits der Lebenswelt definiert zwar, was die Lebenswelt ist – sie beantwortet aber nicht die Frage, warum man das Konzept benötigt. Der erste Gedanke ist der, mit Habermas (TdkH II, Kap. 6) das System als das Gegenüber zu definieren. Der Grund ist nicht nur die Habermas’sche Begriffsverwendung, sondern auch, dass es heutzutage die Systemtheorie in Verbindung mit dem Konstruktivismus ist, welche darüber aufklärt, dass unsere Lebenswelt ein Konstrukt ist, welches nicht immer rekonstruiert, wie die Welt tatsächlich „funktioniert“ – und das umso weniger tut, desto komplexer die Welt ist. Die Wahrnehmung eines Individuums, dass die Lebenswelt „feindselig“ oder dass ein Unternehmen ein „Haifischbecken“ ist, wird dann nicht als „richtig“ bestätigt oder als „falsch“ entlarvt, sondern als eine lebensweltliche Erfahrung beteiligter Erlebenssubjekte akzeptiert. Die lebensweltliche Erfahrung hat jedoch nichts mit den Kategorien zu tun, die der außenstehende, auf das System an sich fokussierte Beobachter, etwa der Therapeut oder der Wissenschaftler, verwendet: Und insofern liegt in ihnen die einzige Möglichkeit, die Lebenswelterfahrung, wenn sie nicht mehr funktioniert, wenn die Erwartungen des Individuums öfter enttäuscht als bestätigt werden, systematisch zu hinterzugehen – natürlich mit dem Ziel, die Lebenswelterfahrung wieder mit dem System, in welchem sich das Individuum bewegt, in Einklang zu bringen. Auch der Autor verwendet Systemtheorie und Kybernetik, systemisches Denken, um der Arbeit diese wichtige Perspektive zu eröffnen – und redet entsprechend von Systemen, als handle es sich um ontische Entitäten. Systemtheorie und Kybernetik sind jedoch wissenschaftliche Erkenntnismodelle, welche vermutlich irgendwann durch weiterführende, andere ersetzt werden. Insofern ist der Begriff des Systems in der Verwendung des Autors etwas ambivalent: Vom System zu sprechen, bedeutet zunächst einmal nur Verweis auf die systemische Rekonstruktion einer sozialen Situation durch einen außenstehenden Beobachter, einen Beobachter zweiter Ordnung (von Foerster), die auf das System insgesamt fokussiert. Die Rekonstruktion mag im Prinzip wiederum falsch oder verkürzt sein, sie geht aber über die begrenzte Perspektive des im System verwickelten Akteurs hinaus. Andererseits schwingt in der Verwendung der Systemperspektive mit, dass die Rekonstruktion des Systems das „eigentliche“ Geschehen rekonstruiert, die Situation „richtiger“ oder „genauer“ erfasst, als es der Akteur aus seiner lebensweltlichen Wahrnehmung vermag. Habermas, der natürlich nicht mit einem systemtheoretischen Systembegriff im Luhmann’schen Verständnis operiert, stellt in seiner Diagnose der Entkoppelung von System und Lebenswelt gleichwohl ganz einschlägig fest, dass „das System“ gegenüber der Lebenswelt als eine „normfreie Sozialität“, als ein „versachlichter Lebenszusammenhang“ auftritt, dem Aktor als „etwas in der objektiven Welt“ gegenübersteht:
I: Die Lebenswelt: Mensch, Organismus, Person
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Die Entkoppelung von System und Lebenswelt spiegelt sich innerhalb moderner Lebenswelten zunächst als Versachlichung: das Gesellschaftssystem sprengt definitiv den lebensweltlichen Horizont, entzieht sich dem Vorverständnis der kommunikativen Alltagspraxis und ist nur noch dem kontraintuitiven Wissen der seit dem 18. Jahrhundert entstehenden Sozialwissenschaften zugänglich. (TdKH II, 258)
Es ist erstaunlich, wie sich in Habermas’ Formulierung die Doppelnatur des Systembegriffes als „wirklicher“ Zusammenhang und wissenschaftliches Erkenntnismodell widerspiegelt. Die Naivität, die Habermas in der „kommunikativen Alltagspraxis“ sieht, sieht der Autor jedoch teilweise, teilweise nicht. Dem Akteur in der späten Moderne steht klar vor Augen, dass er sich in komplexen Systemen bewegt, wenn er vielleicht auch eine andere Terminologie wählt, von „unüberschaubaren Zusammenhängen“ wie der „globalisierten Wirtschaft“ oder „denen da oben“ spricht. Er repräsentiert derartige Systeme mental in ihrer groben, vereinfachten Funktionsweise – oder glaubt, sie zu repräsentieren. Die Repräsentation wird in jedem Fall feinkörniger und genauer, je näher das System dem Erleben des Akteurs rückt: Die eigene Abteilung mit den geschätzten Kollegen ist nicht nur System, sondern eben auch Lebenswelt, sie ist in das System eingebettete Lebenswelt, Funktionslebenswelt. Insofern ist der Gegensatz zwischen System und Lebenswelt der, dass die Lebensweltperspektive die begrenzte, individuelle Erfahrung des Subjekts, die Systemperspektive aber die Analyse eines außenstehenden Beobachters widerspiegelt, die postuliert zu rekonstruieren, „wie es wirklich funktioniert“. Wenn Simon in seiner Einführung in die systemische Organisationstheorie das Konzept der Macht diskutiert, dient das als ein Beispiel dafür, was gemeint ist: Aus der lebensweltlichen Perspektive mag sich jemand, etwa ein Manager, wie selbstverständlich als eine Person sehen, die Macht „besitzt“. Die Person geht dann etwa davon aus, dass sie eine „natürliche Autorität“ ausstrahlt und dass andere, ihr untergebene Organisationsangehörige ihre Anweisungen deshalb befolgen: „Mitarbeiter tun etwas, weil ich ihnen sage, dass sie es tun sollen“ – eine geradlinige Kausalität. „Dass Macht so simpel nicht funktioniert, weiß jeder, der schon einmal versucht hat, sein Kleinkind zu zwingen, den ungeliebten Spinat zu essen,“ schreibt Simon (Simon 2007b, 87) – und bietet eine andere, systemische Perspektive an, die auf das System insgesamt fokussiert, zu einer etwas anderen Rekonstruktion gelangt. „Dass die Anweisungen eines Vorgesetzten von einem Untergebenen befolgt werden, kann daher auch ohne geradlinige Kausalität erklärt werden: Er entscheidet sich, das zu tun, was jemand, dem er Macht zuschreibt, von ihm erwartet, weil er die Konsequenzen der Enttäuschung dieser Erwartung befürchtet“ (Simon 2007b, 88). Es sind zwei Punkte, die es aus der geschilderten Situation herauszuarbeiten gilt. Der erste Punkt der, dass die lebensweltliche Art und Weise die Dinge zu sehen, sich durchaus an die systemische annähern mag: der Manager könnte sich selbst und die Situation im Prinzip genauso sehen wie der Beobachter aus seiner systemischen Perspektive. Der zweite Punkt ist der, dass er es vermutlich solange nicht tut, bis er mit einer Reihe von Erfahrungen konfrontiert ist, in der seine, aus seiner Selbstwahrnehmung resultierenden Erwartungen enttäuscht wurden. Erst dann begreift er, dass Macht anders „funktioniert“ als er geglaubt hatte – gibt bis dato selbstverständliche Annahmen auf, ändert sein Verständnis der Lebenswelt.
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
1.
Erkenntnistheoretische Grundlagen: Definierung, Präzisierung, Orientierung Ein Akteurs- oder Personenkonzept des Menschen zu entwickeln, wie pragmatisch es auch sein mag, heißt Fragen zu berühren, die epistemischer, ontologischer, ja metaphysischer Natur sind. Die Fragen grundsätzlich zu erörtern, führt von der Arbeit ab. Um Ausschweifungen zu vermeiden, begründet der Autor deshalb seine eigenen Standpunkte hinsichtlich der wichtigsten Konzepte und Vokabeln nicht, sondern setzt sie. Die Frage, ob wir die Welt erleben wie sie ist, oder inwiefern unsere Lebenswelterfahrung uns täuscht, ein Schleier zwischen uns und der „wahren“ Welt liegt, ist eine jahrtausendealte. Sie ist eng und unauflöslich mit einer weiteren, ebenso alten verwickelt: der, wie man sich die wahre Welt vorstellt. Die Verwickelung gab Vertretern verschiedenster Positionen viel Manövrierraum, sowohl vom einen wie auch vom anderen Ende her zu argumentieren. Der Autor möchte deshalb vermeiden, einzelne Positionen zu diskutieren, die eine „über den Kamm“ als idealistisch oder rationalistisch, die andere als empiristisch realistisch, die dritte als skeptisch zu apostrophieren. Wie Rorty (1987, 9) als Kritiker des philosophischen Projektes der Erkenntnistheorie geltend macht, lässt sich die Geschichte der Philosophie nicht als Abfolge alternativer Lösungsversuche ein und derselben Probleme begreifen, sondern als Abfolge verschiedener Probleme mit verschiedenen Lösungen. Eine Diskussion zu referieren, die zu den schwierigsten der Philosophie gehört, führt auf philosophiegeschichtliche Abwege. Es genügt anzudeuten, dass die Diskussion in der alten Welt mit skeptischen Fragmenten bei Demokrit, Heraklit und Alkmaion (vgl. den gedrängten Überblick bei Glasersfeld 2008, 9; vgl. auch Pörksen 2006, 25-69) einsetzt, zu einem ersten Höhepunkt im vierten vorchristlichen Jahrhundert bei Platon (ca. 430 bis ca. 370 v. Chr.) gelangt, und erst 2000 Jahre später mit Descartes (1596-1650), Locke (1632-1704) und Kant (1724-1804) einen über Platons Höhlengleichnis hinausgehenden Gipfelpunkt erreicht. Anerkennung verdient jedoch, dass die philosophische Erkenntnistheorie120 viele der Fragen gestellt und viele der Antworten gegeben hat, die heutzutage gemeinhin in der Gegenüberstellung zwischen Realismus und Konstruktivismus gestellt respektive gesucht werden (Pörksen tut sich schwer, das anzuerkennen, vgl. Pörksen 2006, 47-50). Anders als der Realismus der evolutionären Erkenntnistheorie und der neurobiologisch fundierte Konstruktivismus ist die Philosophie darüber hinaus als eine Keimzelle unserer westlichen Kulturgeschichte anzusehen: Sie ist als Zeugnis des Ringens mit fundamentalen Fragen der Verfasstheit des Menschen zu lesen. 1.1
Definition fundamentaler Konzepte
Realität, Wirklichkeit, Welt Unter Realität versteht der Autor die physisch-materielle Welt121, die objektive Welt in Abbildung 56, in der auch unser Organismus als Organismus existiert. Ob es sinnvoll und zweckmäßig ist davon zu reden, dass die physisch-materielle Welt von Tischen und Stühlen bevölkert ist – von Objekten also, die wir als Tisch oder Stuhl erkennen, die für uns eine 120
Für einen Überblick über die philosophische Erkenntnistheorie vgl. Kutschera 1981; Schnädelbach 2004; Baumann 2006. Rorty (1987) liest das Projekt der philosophischen Erkenntnistheorie insgesamt kritisch. 121 Zum Begriff des Physischen und des Materiellen in Abgrenzung zum Physikalischen, zum Physikalismus kritisch Pauen 2005, 26-29.
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Bedeutung haben – ist eine der entscheidenden erkenntnistheoretischen Fragen. Der Autor geht zunächst davon aus, dass die physisch-materielle Welt nicht direkt und unmittelbar, also „objektiv“ erkennbar ist. Es ist jedoch davon auszugehen, dass sie existiert, es ist ferner davon auszugehen, dass in der Welt „dort draußen“ Äquivalente oder isomorphe Korrelate der Dinge existieren, die wir als mehr oder minder bedeutungshaft wahrnehmen, erkennen und verstehen. Über ebenjene Äquivalente und Korrelate, in etwa die Kant’schen noumena, die Dinge an sich, vermögen wir prima facie nichts auszusagen. Der Autor setzt ihre Existenz voraus, ohne das zu problematisieren, weil er sie als simpelste Erklärung dafür ansieht, dass wir in Szenen geteilter Aufmerksamkeit mit anderen die gleichen Dinge wahrnehmen: Wir sehen, dass drei Stühle und ein Tisch in einem Raum sind, wir hören Donner, wir riechen einen Geruch etc. – der Grund ist, weil es „etwas“ gibt, was wir sehen, hören, riechen. Ob wir die gleichen Dinge gleich wahrnehmen, ist eine andere Frage, die das Konzept der Wirklichkeit tangiert. Unter der subjektiven Wirklichkeit versteht der Autor das individuelle, phänomenale Erleben der Welt. Versuche, die subjektive Wirklichkeit über mediale Expression hinausgehend zu objektivieren, sieht der Autor skeptisch: Ein Mensch vermag zu sagen, „Ich sehe einen Baum“, und wenn ein anderer Mensch in derselben Szene geteilter Aufmerksamkeit das Gleiche sagt – auf einer Wiese mit einem Baum –, dann ist das Grund genug anzunehmen, dass sie dasselbe sehen, dass sie auf dasselbe Ding in der „Welt dort draußen“ Bezug nehmen. Die Erörterung, ob Einen-Baum-sehen für den einen das gleiche bedeutet wie für den anderen, führt in eine Sackgasse. Das schließt jedoch nicht die wichtige Fähigkeit des Menschen aus, Szenen geteilter Aufmerksamkeit durch Kommunizieren nicht nur herzustellen, sondern zu präzisieren und zu fokussieren, so dass auch auf einer Wiese mit mehreren Bäumen der Bezug auf einen Baum hergestellt werden kann (zu geteilter Aufmerksamkeit und kulturellem Lernen vgl. Tomasello 2006, Kap. 3) . Auf ebenjene Fähigkeit des Menschen gründet sich die Rede des Autors von einer geteilten, gemeinsamen Welt. Der Autor gebraucht den Begriff, um das Erleben einer Welt „dort draußen“ zu charakterisieren, das sich wesentlich vom Erleben der Geistes- und Körperwelt unterscheidet. Das Erleben einer geteilten, gemeinsamen Welt ist wesentlich dadurch charakterisiert, dass es vermeintlich eben nicht subjektiv, nicht abhängig von unserem Bewusstsein ist, weil es vermeintlich, anders als die Geisteswelt, die physischmaterielle Realität repräsentiert. Ein subjektiv wirkliches Erlebnis, bei welchem wir davon ausgehen, dass es nicht „dort draußen“ ist, ist von anderer Qualität. Die drei Sphären in Abbildung 56 haben einen unterschiedlichen Status gegenüber der objektiven, physischmateriellen Realität – den erlebten Geist zählen wir gewöhnlich nicht dazu, die erlebte Welt schon, den erlebten Körper teilweise ja, teilweise nein. Für den Autor entscheidend ist jedoch, dass alle drei Sphären, einschließlich des Selbst, welches die drei Sphären erlebt, Konstrukte eines organischen, materiell-physischen, realen kognitiven Apparates sind. Das Sehen von etwas, um das dominierende Bild der Erkenntnistheorie zu gebrauchen, ist ein Erlebnis der Außenwelt, weil in einem „gesunden“ Gehirn die Prozesse der Verarbeitung von Signalen des Sehnerves so und nicht anders angelegt und ausgereift sind, auch so und nicht anders ablaufen. Genauso verhält es sich mit der Körper- und Geisteswelt. Wir träumen beispielsweise, und der normale, erwachsene, gesunde Mensch geht davon aus, dass seine Träume wirklich sind, aber nicht in die Welt „dort draußen“ gelangen, wo sie andere erleben. Der normale, gesunde, erwachsene Mensch geht davon aus, dass andere seinen
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Körper zwar als Ding in ihrer Außenwelt erleben, nicht aber wie ihren eigenen Körper oder ihren eigenen Geist. Schon die Beispiele zeigen, dass das Erleben anderer Menschen für uns von großer Wichtigkeit ist: Gelegentlich sind wir uns ja unsicher und stellen in Frage, ob und inwiefern etwas „wirklich“ so in der Außenwelt ist, wie wir es erleben. Wenn wir dann in Szenen geteilter Aufmerksamkeit feststellen, dass andere annähernd dasselbe erleben wie wir, empfinden wir das als starke Rückversicherung, dass es sich um ein Stück gemeinsame, geteilte Welt handelt. Umgekehrt empfinden wir es als enorm beunruhigend, als Realitätsverlust, wenn wir etwas als selbstverständlich wahrnehmen, andere das jedoch nicht oder nicht mit ähnlicher Selbstverständlichkeit tun. Welt und Organismus Die Frage, ob die objektive, physisch-materielle Welt existiert oder nicht, möchte der Autor nicht problematisieren. Angesichts der skizzierten Konstellation gesteht er zu, dass der prinzipielle Verdacht nicht ausräumbar ist, dass wir in einer Höhle gefangen lediglich die Schatten der wirklichen Welt sehen, wie es Platons Höhlengleichnis andeutet (Pol VII, 106a-106c; lesenswert auch Russell HoWP I.II.15); alles träumen wie in Zhuangzis122 Schmetterlingstraum; von einem bösartigen Dämon getäuscht werden, wie es Descartes hypothetisch ins Feld führte (Med, II; lesenswert Russell HoWP III.I.9); oder Gehirne im Tank sind, wie es der populäre Film Matrix zeichnet. Einem echten ontologischen Idealisten – einem Solipsisten, der davon ausgeht, die Welt sei eine von ihm selbst generierte Illusion – sind pragmatische, aber nicht logische Argumente entgegenzusetzen (lesenswert zu philosophischer Erkenntnistheorie im Licht naturwissenschaftlicher Erkenntnis Roth 1997, Kap. 14; zur Erfindung des Mentalen Rorty 1987, 27-84; zu ontologischer Sicherheit Giddens 1991, Kap. 2; zu Universalien und Konstruktivismus Hejl 2001). Der Ausgangspunkt des Akteurskonzeptes, welches der Autor entwickelt, ist jedoch ganz klar ein anderer: der, dass unser Organismus, unser realer Körper, der unser reales Gehirn versorgt, ein Objekt in ebenjener Welt „dort draußen“ ist. Jenes Gehirn, welches unsere Wirklichkeit generiert, ist ein Objekt der realen Welt. Wenn unser realer Organismus stirbt, stirbt auch unser Gehirn und unsere Wirklichkeit verlischt, in der Regel zuerst die höheren, energieaufwändigen Funktionen wie das Bewusstsein, zuletzt die niedrigeren, vegetativen. Wenn unserem realen Gehirn etwas geschieht, wenn Areale zerstört oder geschädigt werden, verändert sich unsere Wirklichkeit, obwohl es für uns aussieht, als verändere sich die Realität „dort draußen“. Wie die Gehirnforschung zeigt, führen Veränderungen in bestimmten Bereichen unseres Gehirns zu mehr oder weniger vorhersagbaren phänomenalen Resultaten, auch wenn das Gehirn als komplexes System lediglich irritierbar, nicht dirigierbar bleibt. De facto sind wir also Gehirne im Tank unseres Organismus. Die fundamentale Differenz zwischen der Gehirn-im-Tank-These und der Konstellation wie sie der Autor skizziert ist funktional: nämlich, dass das Gehirn funktional dazu veranlagt ist, dem Tank das Überleben in der Welt „dort draußen“ zu ermöglichen, weshalb es Input über sensorische Nervenfasern erhält, Output über motorische abgibt. Der Autor geht also davon aus, und das ist abermals eine Setzung, dass unsere kognitiven Funktionen dazu dienen, den Organismus tangierende Probleme in der physisch122 Zhuangzi, auch Zhuang Tse, Zhuang Zou, Dschuang Si, Tschuang-Se, gilt neben Lao-Tse als der zweite wichtige Taoist. Er lebte von 365 v. Chr. bis 290 v. Chr.
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materiellen Realität zu erkennen, zu verstehen und zu lösen. Abermals zu betonen ist, dass der Organismus zur physisch-materiellen Realität dort draußen gehört: Was wir als unseren Körper erleben, ist der erlebte Körper, der genauso ein Konstrukt der Kognition ist wie unsere subjektiv erlebte Geisteswelt und die subjektiv erlebte Außenwelt. Ferner zu betonen ist, dass es Fehlveranlagungen im Gehirn sowie vor- und nachgeburtliche Fehlentwicklungen gibt, die dazu führen, dass das System nicht wie vorgesehen funktioniert. Beispielsweise kommt es zu Vermischungen der drei Sphären – dann haben wir es mit Menschen zu tun, die unter Realitätsverlusten leiden, die beispielsweise davon überzeugt sind, dass die Welt insgesamt ein Gespinst ihrer Einbildung ist. Wissen, Gewissheit, Sicherheit Allgemein anerkannt ist, dass Philosophen, welche Zweifel an der Existenz einer Welt dort draußen nährten, wie etwa Descartes, Berkeley oder Leibniz, das methodisch taten – sie zweifelten nicht wirklich. Zweifel an der Realität als Pathologie und Zweifel an der Realität als Methode sind also zu unterscheiden. „Die Philosophen stellen zwar Fragen über das Wesen des Seins, doch was ihre normalen Handlungen betrifft, sind sie, wie wir annehmen dürfen, nicht ontologisch unsicher, und in dieser Einstellung stimmen sie mit der großen Mehrzahl der Bevölkerung überein“, macht Giddens deshalb zu Recht geltend (1996, 118). „Dies gilt aber nicht für eine Minderheit von Personen, die unsere Unfähigkeit zur Gewissheit in derartigen Dingen nicht nur als beunruhigendes intellektuelles Problem auffassen, sondern als tiefe Sorge, die in viele ihrer Tätigkeiten eindringt.“ Was Giddens heraushebt, berührt die altehrwürdige platonische Definition von Wissen als Gewissheit, als einer „wahren, gerechtfertigten Überzeugung“ (Theä, 201-206), die im Prinzip, sieht man von Gettiers Herausforderung ab (Gettier 1963), bis heute ihre zentrale Stellung behalten hat. Giddens reißt das Problem aber in einer anderen Art und Weise auf und löst ein gravierendes Problem: dass des unendlichen Begründungsregresses. Dass die Definition von Wissen als wahrer Überzeugung mit einem Grund in einen unendlichen Regress mündet, weil jeder Grund im Prinzip wieder unter Rekurs auf einen weiteren Grund zu begründen wäre, beschäftigte die Philosophie sowohl auf individueller wie auch auf kultureller Ebene. Auf individueller Ebene stellte sich die Frage, wann wir gerechtfertigt sind, eine Überzeugung als wahr oder gewiss anzusehen. Auf der kulturellen Ebene verfolgte man das metaphysische Projekt, welches die Welt insgesamt aus den ersten Dingen (arché) heraus zu verstehen sucht, die selbst nicht hinterfragbar sind, nicht der Begründung bedürfen. Die grundsätzliche Annahme, die Giddens mit seiner Randbemerkung in Frage stellt, ist jedoch, inwieweit Für-wahr-Halten in letzter Konsequenz auf Begründungen aufsetzt. Der Autor geht davon aus, dass das nicht der Fall ist. Unter Für-wahr-Halten versteht der Autor, phänomenal ausgedrückt, die mitunter sogar vor- oder unterbewusste „Überzeugung“, dass sich etwas selbstverständlich so oder zumindest so ähnlich verhält und nicht anders. Beispielsweise ist sich der Autor sicher, dass morgen die Sonne wieder aufgeht. Er ist sich sicher, obwohl er in der Lage ist, sich Szenarien auszumalen, weshalb die Sonne morgen nicht aufgeht. Er ist sicher, obwohl er weiß, dass er nicht in der Lage ist, seine Überzeugung letztzubegründen. Das ist das, was Giddens unter „trust“ versteht, und was einem Individuum die eigentliche ontologische Sicherheit gibt (vgl. insbesondere Giddens 1991, Kap. 2). Die entscheidende Denkfigur ist die, zu akzeptieren, dass die Kapazität des menschlichen Gehirns, insbesondere aber des Bewusstseins begrenzt ist, und dass es deshalb Prob-
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leme „abhakt“, wenn sie nicht wieder und wieder mit lebenspraktischer Relevanz rekurrieren. Um Missverständnisse zu vermeiden, ist zu betonen, dass der Standpunkt des Autors zwar ein pragmatischer ist, aber kein „hemdsärmeliger“ Pragmatismus. „Ich gehe mal davon aus, dass die Sonne morgen aufgeht“, also ein unverbindliches Statement, trifft ganz und gar nicht, was der Autor meint. Was der Autor meint, ist ein Set von tiefverwurzelten und miteinander verwickelten unbewussten, vorbewussten und bewussten „Annahmen“, welches in letzter Konsequenz neurologischer Natur ist. Alltagssprachlich ausgedrückt und auf das Beispiel bezogen: Wir verlieren die Fähigkeit uns auszumalen, dass die Sonne morgen wirklich nicht aufgeht (zur Ökonomie des Organismus vgl. 4.) – wir können uns das schlicht und einfach nicht vorstellen. Welt und Wissenschaft Was das Verhältnis von Welt und Wissenschaft anbelangt, ist der Autor von Popper geprägt, vor allem von einem Popper, der unter Wissenschaft nicht reine, unverfälschte Welterkenntnis, sondern Problemlösung versteht (pointiert 2006, 15-45). Wissenschaftliche Methoden gestatten es dem Menschen demnach, Aspekte der Realität wirklich zu machen, welche für uns gewöhnlich nicht wirklich sind, weil sie sich unserem Erleben entziehen. Das bedeutet einerseits, Aspekte erlebbar zu machen, die sich unserem Zugriff entziehen: Ein Geigerzähler macht radioaktive Strahlung wahrnehmbar, die unser Körper zwar erfährt – Zellschädigung zeigt das – aber nicht wahrnimmt. Mit entsprechenden Geräten werden Ultraschallwellen wahrnehmbar, welche wir nicht wahrnehmen, Fledermäuse aber schon. Andererseits bedeutet es, Aspekte aus der Realität herauszupräparieren, die sich direktem und unmittelbarem Zugriff entziehen, weil sie über Raum und Zeit verteilt oder in der Komplexität der Welt „verborgen“ sind: Eine Medienresonanzanalyse zeigt uns das Verhältnis positiver, negativer und neutraler Berichterstattung über einen Gegenstand in der Aggregation, welche so, als Aggregation, von niemandem direkt und unmittelbar erfahrund wahrnehmbar ist. Die wissenschaftliche Methode gestattet es, die Wahrnehmung soweit wie möglich ihrer Subjektivität zu entkleiden, sie zu objektivieren oder, was dasselbe ist, intersubjektiv verfügbar, wechselseitig überprüfbar, zu einer „Wirklichkeit erster Ordnung“ zu machen (Watzlawick). Das ist ganz und gar kein metaphysischer oder rätselhafter Vorgang, sondern schlicht und einfach der Prozess, Erkenntnisse, auch und gerade durch Begriffe, in einer Schärfe und Eindeutigkeit zu fassen, dass der Common Sense es verbietet, das Gegebene als Gegebenes in Frage zu stellen. Ein Ergebnis steht dann als Ergebnis einer Methodenapplikation vor uns, nicht als Meinung, Einschätzung oder Urteil eines Forschers, nicht als Wirklichkeit zweiter Ordnung – es ist objektiviert im Popper’schen Sinne. Dass die Methodenapplikation ihre Letztbegründung im gleichen Common Sense findet, der zur Anwendung gelangt, wenn wir die Beine an einem Stuhl zählen, sieht der Autor ganz und gar nicht als problematisch an. Wahrheit Der ausgeprägt konstruktivistische Charakter der bisherigen Ausführungen und die Rede von einem Für-wahr-Halten lässt vermuten, dass der Autor Wahrheit für ein Auslaufmodell hält. So wie Für-wahr-Halten konzipiert wurde, gibt es keinen Unterschied zwischen einer für selbstverständlich gehaltenen, unhinterfragten Überzeugung und einer „wirklich“ wahren. Das Beispiel der aufgehenden Sonne verschleiert das etwas. Bei der Frage, ob der Stuhl in Abbildung 56 drei oder vier Beine hat, würde sich das anders verhalten.
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Das Wahrheitskonzept des Autors ist jedoch, von einem entscheidenden Aspekt abgesehen, ein konventionelles. Der entscheidende Aspekt ist der, dass in der konstruktivistischen Konstellation alle drei erlebten Welten Konstrukte des realen organischen Gehirns sind – auch die erlebte Außenwelt, die sich, salopp ausgedrückt, aus sporadisch, bei Wichtigkeit und Neuigkeit upgedateten Gedächtnisinhalten (vgl. Roth 2003, Kap. 5) konstituiert. Insofern stellt sich das Problem der Repräsentation von Objekten der Außenwelt im Geist gar nicht. Wenn ich einen Stuhl wie in Abbildung 56 sehe, entsteht nicht eine mentale Repräsentation eines Stuhles in meiner erlebten Geisteswelt, sondern in meiner erlebten Außenwelt. Die mentale Repräsentation in der Außenwelt entsteht, weil ich ein physischmaterielles Objekt in der Welt meines Organismus als Stuhl sehe.123 In meiner erlebten Geisteswelt entsteht sie, wenn ich mich an diesen oder jenen Stuhl erinnere. Wenn ich mich vergewissern möchte, dass ich mich exakt und präzise an den Stuhl erinnere – etwa, ob er drei oder vier Beine hat – suche ich das Objekt in meiner Außenwelt auf. Ich sehe es mir nochmal an, richte meine bewusste Aufmerksamkeit auf die Zahl der Beine, zähle. Was jetzt entsteht, ist ein verändertes mentales Konstrukt des Stuhles; jetzt bin ich mir sicher, dass er vier Beine hat – und die Episode, dass ich bewusst und absichtsvoll nachgesehen habe, gehört zu meiner Erinnerung an den Stuhl dazu. Dass ich den Stuhl jeden Tag gesehen habe, ohne die Anzahl der Beine zur Kenntnis zu nehmen, zeigt, dass Weltwahrnehmung/Umwelt(re-)konstruktion selektiv ist. Dass ich gleichwohl davon ausgegangen bin, dass der Stuhl eine bestimmte Zahl an Beinen hat, die ich aber bei genauerer Überlegung nicht weiß, zeigt, dass sie konstruktiv ist: Ich habe mich nicht an einen Stuhl ohne Beine erinnert, aber bei genauerer Überlegung zeigt sich, dass ich die Zahl der Beine nicht sicher weiß. Dass Wahrnehmung darüber hinaus perspektivisch ist, zeigt sich, wenn ich mich mit jemand anderem über den Stuhl in meiner Wohnung unterhalte und er mich fragt: „Stuhl? Du meinst den Sessel?“ (zu Selektivität, Perspektivität, Konstruktivität grundlegend Vollmer 1995, 107ff.; Bentele 2008, 153-155; vgl. I.9). Für das Wahrheitsverständnis des Autors ist ferner entscheidend, dass unser Gehirn mit komplexen mentalen Modellen arbeitet, die die Konstrukte in den verschiedenen Sphären der Welt, Geistes-, Körper- und Außenwelt, in Raum und Zeit miteinander verknüpfen. Beispielsweise hat jeder von uns ein mentales Modell seiner räumlichen Umgebung im Kopf. Wie mentale Modelle und ihre Konsequenzen zu denken sind, erörtert die Arbeit ausführlich unter 7. und 8. Für Wahrheit wichtig ist, dass weder die Modelle noch die Konstrukte in der Außen-, Geistes- und Körperwelt beliebig sind: Wir bilden sie nicht primär bewusst, primär entstehen sie in unterund vorbewussten Prozessen. Sie formen sich sowohl in Auseinandersetzung mit anderen mentalen Modellen als auch in Auseinandersetzung mit unserem Erleben. Es gibt jedoch keine neutrale Instanz, welche multiple alternative Modelle entwirft und sich dann, je nach Gusto, für das eine oder das andere entscheidet: Wir haben ein mentales Modell unserer Umgebung im Kopf, und wenn sich das als falsch erweist, weil wir nicht nach Hause gelangen, sind wir verstört und beunruhigt. Unter Wahrheitsgesichtspunkten ausgeleuchtet, repräsentieren die mentalen Modelle Erwartungen. Dass ich davon überzeugt bin, einen Stuhl in der Küche stehen zu haben, heißt also, kompliziert formuliert: Ich gehe davon aus, dass ich bei Rückkehr in meine Küche jenen Stuhl vorfinden würde, welchen ich als Stuhl in meiner Küche in Erinnerung habe. Wenn das nicht der Fall ist, weil meine Freundin den 123
Zu den verschiedenen Variationen des Kausalprinzips der Perzeption, eingebettet allerdings in ein konventionelles, nicht-konstruktivistisches Verständnis, vgl. etwa Baumann 2006, 47-55.
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Stuhl von der Küche ins Schlafzimmer verrückte, ist meine Überzeugung falsch und sie wurde falsch in dem Augenblick, da der Stuhl verrückt wurde. Das ultimative Kriterium ist, dass ich selbst ehrlich und aufrichtig zugeben würde, dass meine Erwartungen bezüglich des Stuhls zu diesem oder jenem Zeitpunkt, wäre ich heimgekehrt, nicht bestätigt worden wären. Von Bedeutung ist das alles jedoch einzig und allein dann, wenn ich das erfahre oder auf Grundlage einer Überzeugung handle. Die Rede, dass sich in dem Augenblick, da der Stuhl verrückt wurde, die Anzahl der wahren Überzeugungen in meinem Kopf um eins verringerte, ist abwegig. Sie ist abwegig, weil sie eine direkte und unmittelbare Verbindung mit ebenjenem Korrelat oder Äquivalent des Stuhles in der physisch-materiellen Welt postuliert – welches ich jedoch nur wahrnehme, wenn ich den verrückten Stuhl vor Augen habe. Solange ich friedlich im Büro sitze, besteht keine derartige Verbindung. Wenn ich aber heimkehre und die Wohnung in Aufruhr vorfinde und meine Freundin mir mitteilt, sie habe seit frühmorgens umgeräumt, vermag ich mir rückwirkend einzugestehen, dass meine Überzeugungen hinsichtlich des Stuhls zu dieser oder jener Zeit falsch waren. Das vermag ich deshalb, weil ich mich als Person raumzeitlich konstant, in Raum und Zeit existierend erlebe. 1.2 Präzisierung: Reduktionismus Gegen Ansätze, welche mentale Vorgänge, welche insbesondere aber Bewusstsein auf neurophysiologische Prozesse reduzieren, wird oft voreilig der Vorwurf erhoben, sie argumentierten reduktionistisch.124 Da der Autor sein Akteurskonzept nicht als reduktionistisch versteht, umreißt er seinen diesbezüglichen Standpunkt. System und Emergenz Mit den Zusammenhängen zwischen organisch-hirnphysiologischen und psychischphänomenologischen mentalen Prozessen setzt sich die Philosophy of Mind auseinander. Die ausgedehnte und verästelte Debatte dort nachzuzeichnen, vermag der Autor nicht zu leisten. Der Überblick bei Pauen (Pauen 2005; vgl. auch Roth 1997, 271-311; Roth 2003, 241-256) zeigt jedoch, dass ein großer Teil der philosophischen Argumente die naturwissenschaftlich-empirische Perspektive von vornherein durch die Kontrastierung feuernder Neuronen und Verstehen, von naturwissenschaftlicher Determinierung und menschlicher Autonomie ausblenden, ohne sich mit Emergenzphänomenen auseinanderzusetzen, die in der System-, Komplexitäts- und Chaostheorie ausgearbeitet wurden. Der Autor geht davon aus, dass das Mentale ein emergentes Phänomen darstellt, das aus der Vernetzung millionen und abermillionen von Neuronen resultiert, nicht jedoch auf ebenjene Vernetzung reduzierbar ist: Genauso wie der menschliche Körper aus Zellen aufgebaut ist, aber sich nicht darin erschöpft, eine Anhäufung von Zellen zu sein; genauso wie das Phänomen einer Gesellschaft aus zusammenlebenden Menschen resultiert, aber nicht auf zusammenlebende Menschen reduzierbar ist. Das ist ein derartig alltägliches Phänomen, dass Willke Ausführungen Varelas „zur Beruhigung“ heranzieht: Für diejenigen, die Emergenz immer noch für ein Zauberwort der Scholastik oder der Systemtheorie halten, zur Beruhigung: „Es gibt keine einheitliche formale Theorie emergenter Eigenschaften. Es steht je124
Zum Begriff der Reduktion und seiner missverständlichen Verwendung als „Verkürzung“ instruktiv Pauen 2005, 18ff; vgl. auch Popper 2006, 47-92.
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doch fest, dass sich derartige emergente Eigenschaften überall gefunden haben, in Strömungswirbeln und Lasern, in chemischen Oszillationen, in genetischen Netzwerken, in Entwicklungsmustern, in der Populationsgenetik, in Immunsystemen, in der Ökologie und Geophysik.“ (Varela 1990, 62) „Es scheint in der Tat schwierig zu sein, dass irgendein in sich dicht verknüpftes Aggregat keine emergenten Eigenschaften ausbildet.“ (Varela 1990, 67) (Willke 2005b, 53, FN1)
Das Problem, welches die philosophische Debatte belastet, ist die altehrwürdige Unterscheidung zwischen der physischen Welt der Dinge und der psychischen Welt des Geistes – das Leib-Seele-Problem, wie es Descartes ausarbeitet, wie es bereits bei Platon auftaucht (vgl. Pauen 2005, 34-170). Die Trennlinie, die sich durch die Philosophie des Geistes zieht, ist die zwischen Dualisten und Monisten. Dualisten gehen, wie weiland Descartes, davon aus, dass die Domäne des Geistes und die der Dinge zwei völlig verschiedene Welten sind, und haben entsprechend Probleme zu erklären, weshalb Affekte, Emotionen, Gedanken und Ideen durch elektrische Stimulation von Hirnarealen ausgelöst werden können, wenn auch im Fall der Gedanken und Ideen nicht konkret, sondern vage und diffus. Monisten glauben, dass das Psychische und das Physische tatsächlich ein und dasselbe sind, was entweder bedeutet, dass es „in Wirklichkeit“ nur Geist, oder dass es nur Materie gibt. Die idealistischen Monisten, welche glauben, dass es nur Geist gibt, verfolgt der Autor nicht weiter, weil er bereits eine physisch-materielle Welt gesetzt hat. Die materialistischen Monisten – welche glauben, dass unsere psychischen Zustände restlos auf physische Zustände unseres Gehirns zurückzuführen sind – sehen sich dem bereits erwähnten Problem gegenüber, dass sie ihren dualistischen Kollegen erklären müssen, wie materielle Zustände, also feuernde Neuronen, nicht-materielle Zustände wie z. B. Intentionen oder Qualia, etwa Schmerz, hervorbringen. Das bewusste Selbst Der Autor glaubt, dass es sich hier um eine Kategorienverwechslung handelt, die aus unserer Sprachverwendung und der Selbstanwendung unseres verstehenden Denkens auf unser neuronenbasiertes, reales Gehirn resultiert: Im realen Gehirn der Neuronen und Synapsen nach mentalen Zuständen zu suchen, führt genauso in die Irre, wie in den Geldströmen des Finanzwesens nach einem spezifischen Geldschein zu suchen (Nothhaft/Wehmeier 2008, 18). Physiologische Vorgänge, feuernde Neuronen, sind an sich bedeutungslos, dem Bewusstsein unzugänglich. Ihre Bedeutung ist in letzter Konsequenz nur darauf zurückzuführen, dass das System Gehirn zu einem gegebenen Zeitpunkt so und nicht anders „verdrahtet“, modular verschaltet ist – wobei es außer Zweifel steht, dass Umverdrahtung bis zu einem Grad geschieht. Ein Gehirnareal generiert, prozessiert oder memoriert nicht z. B. visuelle Information, sondern die Information wird als visuell generiert, prozessiert oder memoriert, weil sie aus visuellen Arealen stammt, dort und nicht woanders verarbeitet oder gespeichert wurde. Analog lässt sich sagen, und die Begrenztheit der Analogie beschäftigt die Arbeit noch: Eine Entscheidung des Bundesgerichtshofes ist nicht deshalb abschließend, weil der Bundesgerichtshof ein für allemal Gerechtigkeit findet; sie ist deshalb endgültig, weil der Bundesgerichtshof die letzte und höchste Instanz der ordentlichen Gerichtsbarkeit darstellt. Wenn der Ausfall eines spezifischen Hirnareals vorhersagbar, bei jedem Menschen, einen Ausfall spezifischer kognitiver Funktionen nach sich zieht, dann ist die Vermutung schwer von der Hand zu weisen, dass die Funktion in ebenjenem Areal angesiedelt ist. Wenn die Funktionen Objektbewusstsein und Objektwahrnehmung trennbar und an verschiedene Hirnareale geknüpft sind, dann liegt der Verdacht nahe, dass „ein Objekt
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bewusst wahrnehmen“ in letzter Konsequenz ein Zusammenspiel verschiedener, modular interagierender Hirnfunktionen darstellt – nicht die Manifestation eines geistigen Substrats, das einer anderen Welt angehört. Ein häufig angeführtes Beispiel ist Blindsight oder visuelle Agnosie. Das „Blindsehen“ ist der Verlust bewussten Sehens, wie es bei Verletzung des primären visuellen Cortex, der primären Sehrinde, auftritt. Das Phänomen, bereits bei Seneca beschrieben, wurde von Psychiatern um Lawrence Weiskrantz (vgl. Roth 2003, 231f.; auch Weiskrantz 1986) Mitte der achtziger Jahre erforscht. Blindsehende verhalten sich wie Blinde, weil ihr Sehen auf untergeordneten Ebenen der Kognition funktioniert, jedoch nicht bis auf die höchste, die des Bewusstseins gelangt. Fordert man sie auf, auf einen Gegenstand vor ihnen zu deuten, tun sie es nicht – sie sehen ja gar keinen. Beharrt man darauf, dass sie auf die Stelle zeigen, wo ein Gegenstand sein könnte, zeigen sie in der Regel auf die richtige, obwohl sie es selbst phänomenal als ins Leere deuten empfinden. In ähnlicher Art und Weise sind sie in der Lage, die Form, Farbe oder Größe von Gegenständen zu „erraten“, obwohl sie selbst sie nicht sehen. Bewusstsein von etwas entsteht erst, wenn aufgrund spezifischer Konstellationen spezifische cortikale Gehirnareale, Areale in der Großhirnrinde, „hinzugeschaltet“ werden: Der primäre visuelle Cortex etwa macht uns, alltagssprachlich ausgedrückt, bewusst, was wir sehen. Die operative Geschlossenheit des kognitiven Systems, um den gängigen terminus technicus zu gebrauchen, ist hinlänglich bekannt, in Systemtheorie und Konstruktivismus ausgiebig erörtert worden, und mehr oder minder freizügig auf viele andere „Systeme“, bis hin zur Gesellschaft als sozialem System, übertragen worden. Wie die Debatte in der Philosophie des Geistes zeigt, ist eine andere Vorstellung aber tief in der menschlichen, insbesondere der westlichen Kultur verwurzelt. Implizit oder explizit halten sehr viele Autoren, so der Eindruck des Autors, an der Idee eines bewussten Selbst oder Ich fest, das neben oder über dem organischen System existiert. Dieses mentale Ich ist es dann, das die vom Gehirn konstruierte Wirklichkeit „erlebt“. Wie es bereits anklang, ist die Frage umzukehren, vom Menschen als einem Organismus, nicht als einem bewussten Selbst auszugehen: Auch das Selbst, welches Schmerz bewusst erlebt, ist ein Produkt des organischen Gehirns. Nicht-reduktionistisch, nicht-trivialisierend Womit die Philosophy of Mind, so wie sie der Autor über weite Strecken liest, Schwierigkeiten hat ist, drei Dinge zu akzeptieren: Erstens, dass Bewusstsein und bewusstes Erleben von Bedeutung nicht-reduktionistisch auf physiologische Prozesse im Organismus zurückzuführen sind; zweitens, dass die Bestimmung des Geistes, des Mentalen oder Seelischen als Funktion des Organismus nicht zwangsläufig heißt, dass wir jetzt trivialisierend ein für allemal wissen, was es damit auf sich hat; drittens, dass Willensfreiheit und Autonomie keinen freischwebenden, aus der physischen Welt herausgelösten Akteur voraussetzen, sondern lediglich ein komplexes System. Der Schlüssel ist, wie der Autor glaubt, das systemische Denken und das Denken von Emergenzphänomenen. Das aus Vernetzung von Neuronen emergierende bewusste Selbst ist, ohne Abstriche, das mentale Selbst. Da dem mentalen Selbst nur ein winziger Bruchteil der im Organismus und Gehirn ablaufenden Prozesse zu Bewusstsein gelangt, wissen wir darüber hinaus nicht, ob wir unterbewusst oder vorbewusst Einflüsse verarbeiten, die von der modernen Naturwissenschaft bislang noch nicht erkannt, nicht anerkannt oder in Abrede gestellt wurden. Dass feinstoffliche oder nichtstoffliche Sphären existieren oder dass die Gehirne anderer Felder erzeugen, die unser Gehirn beeinflussen, dass wir über soziale
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Synchronisierungsfunktionen verfügen, die die Naturwissenschaft derzeit als parapsychologisch oder esoterisch abtut, möchte der Autor gar nicht ausschließen. Er geht nur davon aus, dass der Organismus der Träger ist, und dass die bisher erkannten und untersuchten Phänomene und Prozesse viel erklären, wenn auch nicht alles. Willensfreiheit ist schließlich aus der Innen- und Außenperspektive zu beleuchten, einmal als Freiheit, einmal als Wille (vgl. Pauen 2005, 268-298; Roth 1997, 303-311; Roth 2003, Kap. 15, Exkurs 3; Roth 2007; Pauen/Roth 2008). Aus der Außenperspektive gilt es schlicht und einfach, mit Blick auf Freiheit zu sehen, dass Menschen füreinander, aber auch für sich selbst nicht abschließend „berechenbar“ sind; mit großer Wahrscheinlichkeit sind die Prozesse im menschlichen Gehirn nicht einmal theoretisch abschließend berechenbar (Bremerman’sches Limit): Der Mensch ist, um Heinz von Foersters Formulierung zu gebrauchen, eine nicht-triviale Maschine (vgl. exemplarisch Foerster 2008, 59ff.). Es ist niemals reduktionistisch zu prophezeien, wie er auf einen Stimulus reagiert – wobei es von Anfang an mitzudenken gilt, dass nicht nur das beobachtbare Verhalten und Handeln Reaktion ist, sondern auch die unbeobachtbare Änderung von Dispositionen (vgl. die Beispiele in A.I). Ein Mensch kann sich genauso verhalten, wie man es vorhergesehen hat, aber aus völlig anderen Motiven heraus. Aus ebenjenem Grund ist die Innenperspektive mit Blick auf Wille zu denken: Gerade weil er über eine Selbstrepräsentation verfügt, verfügt der Mensch über ein exekutives System125, welches es ihm gestattet, aktuelle Handlungs- oder Verhaltensantriebe zurückzustellen, um ein potenzielles, mental repräsentiertes Ziel zu verfolgen, unangenehme Konsequenzen zu vermeiden, angenehme anzustreben. Insofern ist Verantwortung voll und ganz vereinbar mit der geschilderten Perspektive. 1.3 Orientierung: Die entscheidende Frage Die entscheidende Frage, wie sie der Autor für sich formuliert, lautet: Wie trägt Erkenntnis, Weltwahrnehmung, Umwelt(re-)konstruktion dazu bei, dem Organismus Überleben, Erfolg, möglicherweise auch Weitergabe seines Erbgutes, in der vorausgesetzten Welt zu ermöglichen? Sie lässt sich auch anders formulieren: Was bedeutet es, wenn ein Akteur seine Umwelt versteht? Das ist die Frage, der die folgenden Kapitel etwas ausführlicher nachgehen. Ihre ausführliche Behandlung auf der Akteursebene löst, wie der Autor glaubt, viele Verwickelungen und Verwirrungen im Verständnis höherer sozialer Konstrukte, wie Organisationen, auf. Die Frage nach Überleben und Erfolg in der Umwelt ist, wie der Autor glaubt, niemals ohne Rekurs auf die Realität, die physisch-materielle Welt in Abbildung 56, zu beantworten. Insofern bringt er der Argumentation der Evolutionären Erkenntnistheorie – wie sie etwa von Vollmer ausgearbeitet wurde126, und wie sie Bentele in die medienepistemische Debatte der Kommunikations- und Medienwissenschaft eingeführt hat (Bentele 2008) – Sympathie entgegen. Ihren epistemologischen Schluss, den hypothetischen Realismus, teilt 125
„Unter exekutiven Funktionen“, definiert Sodian (2007, 53), „versteht man die Prozesse bei der Verhaltenskontrolle, die notwendig sind, um auf ein mental repräsentiertes Ziel zu fokussieren und die Zielrealisation gegen konkurrierende Handlungsalternativen abzuschirmen. Die wichtigsten Dimensionen der exekutiven Funktionen sind inhibitorische Kontrolle, Arbeitsgedächtnis und, Aufmerksamkeitsflexibilität.“ Zu exekutiven Funktionen vgl. ferner die Arbeiten des Developmental Neuropsychology Lab der Denver University, insbesondere: Pennington et al. 1997. 126 Für einen Überblick vgl. Vollmer 1995. Ferner lesenswert Riedl 1979. Eine kritische Lesart bietet Engels 1999 an; ablehnend steht der Evolutionären Erkenntnistheorie Roth gegenüber (vgl. 1997, 344f.).
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er jedoch nicht völlig. Die Schlussfolgerung der Evolutionären Erkenntnistheorie, dass Selektionsdruck Organismen evolutionär, über Jahrtausende und Jahrmillionen dazu bringt, die Welt um sie herum mehr und mehr zu sehen, wie sie wirklich ist – dass sich unsere erlebte Welt mehr und mehr an die physisch-materielle Welt angleicht – sieht der Autor nicht als stichhaltig an. Durchaus als stichhaltig sieht er hingegen an, dass Organismen die Welt in einer Komplexität sehen, die an ihre Lebensumstände angepasst ist. Insofern ist das Vollmer’sche Argument (vgl. etwa Vollmer 1995, 113ff.), die Erkenntnisapparatur passe auf die Welt wie ein Schlüssel ins Schloss, auf die (Über-)Lebenswelt zu beziehen, nicht auf die physisch-materielle Umwelt. Als stichhaltig sieht der Autor ferner an, dass eine ähnlich komplexe Weltwahrnehmung oder Umwelt(re-)konstruktion die Organismen dazu berechtigt, so sie das überhaupt vermögen, von einer gemeinsamen, geteilten Realität zu reden. Schließlich sieht er die umgekehrte Argumentation als stichhaltig an: Ohne Zweifel ist die Selektion darauf zurückzuführen, dass es eine Lebenswelt „dort draußen“ gibt, an die sich der kognitive Apparat eines Organismus, in irgendeiner Art und Weise, anpasst – und zwar nicht nur gattungsgeschichtlich, sondern auch während der beim Menschen langen, individuellen Entwicklung. Insofern, um vom anderen Ende des Spektrums zu denken, bringt der Autor der gängigen konstruktivistischen Schlussfolgerung genauso Sympathie entgegen, teilt sie aber auch nicht uneingeschränkt. Wie Viabilität zu denken ist, ohne zumindest von einer minimalen strukturellen oder aber funktionalen Isomorphie unserer Weltwahrnehmung mit der Welt auszugehen, versteht der Autor schlicht und einfach nicht. Wenn der Realismus und der Konstruktivismus gegenübergestellt werden (5.), kehrt die Arbeit zu der Frage zurück. 2.
Lebenswelt I: Etwas von der Umwelt verstehen: Die Suche nach dem festen Boden Was bedeutet es, dass ein Akteur seine Umwelt versteht, eine Lebenswelt entwickelt? Das ist die Frage, welcher der Autor in den folgenden drei Kapiteln nachspürt. Das geschieht in drei Teilfragen, aber aus einer Perspektive heraus. Die erste Teilfrage lautet: Was bedeutet es, wenn ein Akteur etwas von seiner Umwelt versteht? Um die Fragen zu beantworten, unterwirft der Autor sie von vornherein unter seine eigene Sichtweise und argumentiert aus der mit der Definition fundamentaler Konzepte skizzierten Perspektive: Der Mensch als Organismus, der sich selbst als Akteur, als Person erlebt. Von der geschilderten Sichtweise ausgehend, lässt sich Leben als Problemlösen „im Auftrag“ des Organismus begreifen. Die Unterschiede liegen, wie der Autor glaubt, im phänomenalen Erleben – was wiederum der Vielschichtigkeit des kognitiven Subsystems geschuldet ist, der Verarbeitung von Zuständen auf unbewusster, vorbewusster und bewusster Ebene. Das ist der Grund, weshalb wir als Akteure selbst basalste organische Probleme, wie z. B. regelmäßige Nahrungsaufnahme, nicht als Reflex, als von außen empfundenen Zwang-zu-Essen oder als Information über den eigenen Blutzuckerspiegel, sondern als Hungergefühl erleben. Das exekutive System – das System der Aufmerksamkeitssteuerung, welches es uns gestattet, bei einer Aufgabe zu bleiben – vermag das Hungergefühl zeitweilig „wegzuschieben“, aber es kehrt wieder zurück und es verschafft sich darüber hinaus über Umwege Zugang zum Bewusstsein.
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a) Der Mensch als Organismus und Akteur: Mentale Modelle Das Konstrukt, über das der Autor redet, wenn er über derartige verwickelte Zusammenhänge wie Hungergefühl spricht, ist das bereits erwähnte des mentalen Modells.127 Der Autor gebraucht den Begriff demnach sehr viel weiter und offener als in der Kognitionswissenschaft. Er gebraucht ihn auch nicht, um propositionale Architekturen im Kopf des Menschen, also aus Sätzen bestehende Gedankengebäude zu bezeichnen – obgleich das wohl der einzige Weg ist, mentale Modelle mit Dritten zu teilen, und auch der Weg ist, wie die klassische philosophische Erkenntnistheorie Wissen operationalisiert. Wie die weiteren Überlegungen zeigen werden, führt die Rede von mentalen Modellen lediglich dann zu einem Erkenntnissprung, wenn sie konsequent als neuronale Netzwerke, als „Vernetzungen“ gedacht werden. Das entspricht der „Naturalisierung“ der Erkenntnistheorie, die Quine gefordert hat (1969), die Pauen und Roth (2008) fordern. Glasersfeld (2001, 73) gibt ein Beispiel dafür, wie das, was man in der Philosophie üblicherweise als einen Begriff von etwas bezeichnet, naturalisiert als Matrize respektive neuronale Vernetzung zu denken ist: Wie allgemein bekannt haben Lettvin, Maturana, Pitts und McCulloch (1959) gezeigt, dass das Nervensystem des Frosches „Beute entdeckt“, wenn vier verschiedene Faserzüge des Sehnerves Reize an die Ganglionzellen weiterleiten, die sozusagen das exekutive System des Frosches bilden. Die einzelnen Reize spiegeln wider, was wir als (1) örtlichen Hell-Dunkel-Kontrast, (2) Konvexität eines kleinen dunklen Gegenstandes, (3) Bewegung eines Umrisses sowie (4) Verdunkelung des Gesichtsfeldes beschreiben würden. 1, 2 und 3 reagieren also auf alles, was sich annähernd so verhält wie ein kleines Insekt auf hellerem Hintergrund, und lösen gemeinsam die Handlung des Frosches aus, die ihm die Beute einbringt (je nach der Art, Schnappen oder Zungenreflex). Impuls 4 dient dazu, die Handlung zu verhindern, wenn die Verdunkelung des Gesichtsfeldes die Möglichkeit einer Gefahr für den Frosch anzeigt. Man kann also sagen, das Zusammenwirken von 1, 2 und 3 stellt die Matrize dar, aufgrund deren der Frosch seine Nahrung „erkennt“, was dazu führt, dass er auf einen kleinen sich bewegenden Schatten oder ein rollendes Schrotkorn ebenso reagiert wie auf eine Fliege. (Glasersfeld 2001, 73)
Was Glasersfeld als Matrize etikettiert, ist also, salopp gesagt, die Repräsentation der Welt im Gehirn eines epistemischen Subjektes: In ihnen ist niedergelegt, warum wir glauben, dass bestimmte Dinge in der Realität „dort draußen“ so sind wie sie sind, so zusammenhängen wie sie zusammenhängen, nicht anders. Für den Frosch ist das dunkle, sich bewegende, kleine Ding Beute. Natürlich sind die vielen, über Jahre und Jahrzehnte „erlernten“ Matrizen, über welche der Mensch verfügt, sehr viel differenzierter und komplexer als die kruden Schemata des Frosches. Und natürlich verfügt der Mensch über die Fähigkeit, sie sich, via Erinnerung an vergangenes Handeln, bewusst zu machen – genau deswegen spricht der Autor auch von mentalen Modellen, nicht kruden Matrizen oder primitiven Schemata. Eine Rede von mentalen Modellen, die das Selbst selbst anlegt, führt jedoch in die Sackgasse.128 Das Gehirn generiert mentale Modelle, nicht der Akteur, der sie zugegebenermaßen manchmal bewusst und absichtsvoll korrigiert. Mentale Modelle wie sie der Autor versteht, treten, wenn sie aktiviert werden, lediglich teilweise ins Bewusstsein, und sie treten auch nicht als mentale Modelle ins Bewusstsein, sondern wie beschrieben: z. B. 127
Zum Konzept des mentalen Modells vgl. grundlegend Johnson-Laird 1980; 1983; Gentner/Stevens 1983; Held/Knauff/Vosgerau 2006; vgl. auch die Ausführungen unter 7., 8., 9. 128 Das schließt nicht aus, dass Kontemplation und Therapie vorbewusste und unbewusste Assoziierungen freilegen, aber das ist eine Gedächtnis- und Selbstbeobachtungsleistung. Dass mentale Modelle völlig freigelegt und beliebig gestaltbar gemacht werden, hält der Autor für ausgeschlossen.
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als Hungergefühl. Wir empfinden Hunger als den Wunsch zu essen und nicht als Information über unseren Blutzuckerspiegel, die uns überlegen lässt, was wir zum Zweck der Steigerung desselben tun können. Das Beispiel des Frosches und des menschlichen Hungergefühls zeigte, dass Problem und Lösung in mentalen Modellen bereits miteinander verwickelt sind. An erkenntnistheoretische Fragen via mentale Modelle heranzugehen, führt demnach dazu, dass nicht Erkenntnis als Repräsentation der Welt wie sie wirklich ist, sondern Erkenntnis als Erwartung im Fokus steht. Anders als bei Erkenntnis, die sich auf etwas anderes in der Welt bezieht, bezieht sich Erwartung auf den Zusammenhang von Verhalten und Handlungen einerseits, ihren Folgen und Ergebnissen andererseits. Das ist der große Vorteil der Problemlösungsperspektive: Versteht man Erkenntnis als eine Repräsentation der Welt, wie das gängigerweise geschieht, dann ist sie nur im Vergleich mit der Erkenntnis anderer oder mit einer hypothetischen Welt der Dinge an sich vergleichbar. Erwartungen sind jedoch für das Individuum selbst überprüfbar, wenn man das tatsächliche Ergebnis des eigenen Verhaltens/Handelns mit den erwarteten Ergebnissen vergleicht. Individuen stellen ihre mentalen Modelle also andauernd auf die Probe, wobei die Überprüfung keineswegs immer bewusst, sondern oftmals vorbewusst oder unbewusst geschieht. Wir wenden Energie und Ressourcen auf, um an Essen zu gelangen und essen, der Hunger verschwindet – unser mentales Modell, wie die Dinge funktionieren, wurde wieder einmal bestätigt. b) Der feste Boden unter unseren Füßen Wie Popper (exemplarisch und pointiert 2006, 15-46) klar und deutlich herausarbeitete, tun Organismen aus einer spezifischen Perspektive betrachtet nichts anderes, als herumzuprobieren („Probierbewegungen“), eine Hypothese aufzustellen, sie zu prüfen. Auf Menschen bezogen heißt das: Sie bilden Theorien über die Welt, über Objekte, über sich selbst, aber auch über die anderen. Freilich, um das zu betonen, handelt es sich nicht um wissenschaftliche Theorien, sondern um Annahmengefüge, Gedankengebäude, Erklärungsmuster, die teils bewusster, teils vorbewusster, teils unbewusster Natur sind – entscheidend ist aber, dass es sich um mentale Modelle handelt, die zu Erwartungen führen, die wiederum Handlungen leiten können respektive könnten. Wenn ein Akteur isst, um seinen Hunger zu stillen, ist natürlich nicht von Erkenntnis zu sprechen. Die Erkenntnis steckt in der Erwartung, dass unter ähnlichen Bedingungen wieder Ähnliches geschieht, weil die relevanten Parameter der Situation identifiziert wurden. Popper macht geltend (2006, 16): „Wir können sagen, dass das Verhalten von Tieren und auch Pflanzen zeigt, dass Organismen auf Regelmäßigkeiten eingestellt sind. Sie erwarten Regelmäßigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten in ihrer Umgebung, und die meisten dieser Erwartungen sind, vermute ich, genetisch bedingt, das heißt, angeboren.“ Was Popper ebenso klar und deutlich herausarbeitet ist, dass enttäuschte Erwartungen ein gravierendes Problem darstellen (a.a.O.): „Wenn ein höherer Organismus zu oft in seinen Erwartungen getäuscht wird, so bricht er zusammen. Er kann das Problem nicht lösen; er geht zugrunde.“ Um Missverständnisse zu vermeiden: Was Popper meint, ist die „Erwartung“ einer Blume, die sich bei Sonnenschein in der Erwartung öffnet, das Wetter werde warm – jedoch setzt ein plötzlicher Frost ein, die Blume stirbt ab. Auf einer kruden und existenziellen Ebene geschieht das mit Menschen genauso, wenn Erwartungen über Tage, Wochen und
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Monate von der Welt „enttäuscht“ werden, wenn ressourcenaufwändiges, kräftezehrendes Handeln nicht zu gewünschten Ergebnissen führt. Der Mensch unterscheidet sich freilich von der Blume genauso, wie er sich vom Frosch unterscheidet: Erstens darin, dass die neuronal-mentalen Modelle gegenüber den zellulären Modellen der Pflanzen um Potenzen differenzierter und komplexer sind. Zweitens darin, dass der in der Kindheit hilflose, heranwachsende Mensch umsorgt bleibt, bis er über einigermaßen erfolgsversprechende mentale Modelle verfügt – was Jahre und Jahrzehnte in Anspruch nimmt. Drittens, dass er mit der Entwicklung eines Selbst nach und nach in der Lage ist, das Nichtfunktionieren seiner mentalen Modelle eigenständig festzustellen, „sich selbst“ an sich verändernde Umwelten anzupassen. Das ist jedoch nur bis zu einem Grad möglich. c)
Erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Zwischenbetrachtung: Der feste Boden unter dem festen Boden Der feste Boden unter unseren Füßen sind also mentale Modelle, die selbstverständlich sind, die wir nicht in Frage stellen. Sie sind transparent, wir sehen durch sie hindurch – genauso wie der Frosch durch sein Beuteschema. Es handelt sich, erstens, um neuronale Vernetzungen, die uns entweder angeboren sind und in der frühen Kindheit bis zum Alter von etwa drei Jahren ausreifen, Modelle unseres Körpers etwa; zweitens handelt es sich um mentale Modelle, die im Verlauf unserer Entwicklung solange bestätigt wurden, bis sie als unhinterfragte Selbstverständlichkeiten ins Vorbewusste oder Unbewusste abgesunken sind, ein grundsätzliches Vertrauen in Menschen etwa. Das Problem ist jedoch, dass wir im Verlauf unserer Entwicklung die Erfahrung machen, dass scheinbar Selbstverständliches keineswegs selbstverständlich ist. Wir machen die Erfahrung, dass einige unserer mentalen Modelle falsch, viele lediglich halbrichtig oder semifalsch sind – der feste Boden unter unseren Füßen ist ein Balanceakt. So wie der Autor sie liest, stellt die westliche philosophische Erkenntnistheorie daher, beginnend mit Platons Höhlengleichnis über Descartes und Locke bis zu Kant, im Großen und Ganzen zunächst einmal einen Versuch dar, einen ewiggültigen sicheren Boden unter den Füßen zu finden, einen sicheren Boden unter dem sicheren Boden. Wenn wir im Laufe unserer Individualund unserer Gattungs-, Zivilisations- und Kulturgeschichte falsche mentale Modelle aufgeben, um zu richtigen zu gelangen, dann drängt sich die Idee auf, dass alle richtigen Modelle ein identisches Konstruktionsprinzip aufweisen, das die falschen nicht aufweisen. Wenn wir ebenjenes Konstruktionsprinzip fänden, dann könnten wir zurückgehen und rückwirkend alles auf einen sicheren Boden stellen. Wir würden nicht nur etwas wissen, wir würden auch wissen, dass wir es wissen. Im Prinzip also das metaphysische Projekt, epistemisch gewendet. Es gilt zu sehen, dass die philosophische Erkenntnistheorie an sich zwar ein intellektuelles Projekt darstellt, aber eines, das direkt und unmittelbar an Grundprobleme der menschlichen Verfasstheit geknüpft ist. Insofern ist verständlich, weshalb Erkenntnistheorie in der Moderne in Wissenschaftstheorie mündete (vgl. Schnädelbach 2004, 8-12). Und insofern ist verständlich, weshalb uns die Wissenschaft heutzutage, in der Spätmoderne, als der sichere Boden unter dem sicheren Boden entgegentritt. Der spätmoderne Mensch lebt, da geht der Autor mit Giddens überein (zu Vertrauen in abstrakte Systeme vgl. 1996, Kap. 3, 5), in einer Doppelkonstellation: Zum einen erlebt er jeden Tag konkret und praktisch, dass vieles ungewiss, unüberschaubar und unkontrollierbar ist; zum anderen geht er davon
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aus, dass es im Prinzip gewiss gemacht, überschaut und kontrolliert werden könnte – ja, dass jemand das tut, Expertensysteme etwa, die in letzter Konsequenz wissenschaftlich abgesichert sind. Die Idee, aus welcher sich das alles sehr erfolgreich und wirkmächtig entfaltete, ist, dass privilegierte Erkenntnismodi existieren, die von sich aus, qua Methode, zu immer richtigen Modellen führen, beispielsweise die unmittelbare und direkte Perzeption, wie es die Empiristen annahmen, oder die Ratio, wie es die Rationalisten annahmen. Die Frage, die der Autor mit Blick auf das Verhältnis von Wissenschaft und Management in komplexen sozialen Systemen aufwirft, ist jetzt, inwiefern die gesicherte Erkenntnis eines Teilaspekts dem Akteur im ganzheitlichen Zusammenhang überhaupt möglich ist und, wenn sie möglich ist, dem Akteur überhaupt etwas bringt. Ist in komplexen sozialen Zusammenhängen die Regelmäßigkeit überhaupt erwartbar, welche die aufwändige Suche nach „gesicherter“ Erkenntnis voraussetzt? Der Autor glaubt, dass viel Regelmäßigkeit in der sozialen Umwelt nicht zu erwarten ist, aber dass es doch Muster, Gravitationspunkte und Entwicklungspfade (vgl. III.) gibt, auf welche die wissenschaftliche Methode anwendbar bleibt. Der entscheidende Schritt ist der, dass jeder Akteur, in Übernahme der Akteurim-System-Perspektive für sich selbst, die Begrenztheiten und Verzerrungen der eigenen Wahrnehmungs- und Handlungsmuster aufdecken, das eigene Verstehen des Agierens im System schärfen und vertiefen muss. 3.
Lebenswelt II: Die Umwelt im Großen und Ganzen verstehen Die erste Teilfrage lautete, was es bedeutet, wenn ein Akteur etwas von seiner Umwelt versteht. Die Antwort lautete: Der Akteur beginnt die Umwelt als Lebenswelt zu erfahren, wo er anfängt, mit selbstverständlich gewordenen mentalen Modellen zu operieren, die wieder und wieder bestätigt wurden, und auch in der konkreten und spezifischen Situation bestätigt werden. Ob er die Welt „wirklich“ versteht, wird der Akteur niemals sicher wissen, ob sein heutiges Modell morgen noch gültig ist, wird er auch niemals sicher wissen. Das Einzige, was geschieht ist, dass Modelle durch wiederholte Bestätigung selbstverständlich werden, absinken, sich eingraben, wie auch immer man das ausdrückt. Die zweite Teilfrage lautet jetzt, was es bedeutet zu sagen, ein Akteur verstehe seine Umwelt insgesamt oder im Großen und Ganzen. a) Die Lebenswelt Bereits angedeutet wurde, dass eines der wichtigsten Konstrukte unserer kognitiven Subsysteme das Selbst ist, der Akteur, der mit einigem Recht wiederum als ein mentales Modell höherer Ordnung zu bezeichnen wäre (zu einer soziologischen Analyse der Konstitution des „Self“ in der Spätmoderne lesenswert Giddens 1991). Eine der wichtigsten Funktionen unseres Selbst ist es, das Funktionieren unserer mentalen Modelle zu bilanzieren: Ein sich raumzeitlich konstant erlebendes Selbst blickt zurück und stellt fest, dass es sich damals geirrt hat. Das geschieht im Einzelnen nicht immer bewusst, sondern vorbewusst, tritt aber klar und deutlich zutage, wenn man sich vergegenwärtigt, wie der Akteur die Bilanz insgesamt erlebt.
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Lebenswelt statisch: Selbstverständliches Wenn unsere Erwartungen wieder und wieder bestätigt werden, haben wir das Lebensgefühl, dass wir die Welt mehr oder minder so erfahren, wie sie wirklich ist. Um die dominierende Metapher der Erkenntnistheorie zu gebrauchen: Wir trauen unseren Augen. Viele Dinge sind sicher oder vergleichsweise sicher, Sein ist Sein. Das ist die Weltwahrnehmung eines mit beiden Beinen auf dem Boden stehenden Menschen, der erfolgreich in seiner Lebenswelt agiert – was nichts anderes heißt, als dass er sich in seinen Urteilen über die Welt und andere Menschen selten getäuscht sieht – und wenn er sich getäuscht sieht, hinterher herauszufinden vermag, warum. Ist das nicht der Fall, stellen sich unsere Erwartungen, wie sich Dinge verhalten werden, wieder und wieder als irrig heraus, gelangen wir zu einem anderen Lebensgefühl. Anscheinend teilen wir unsere Lebenswelt nicht eins zu eins mit anderen Menschen, andere Menschen erleben die Welt anscheinend ganz oder teilweise anders. Wir wissen eben nicht, was wir sehen, sondern wir glauben zu wissen. Gelegentlich fühlen wir uns getäuscht – nicht in Kleinigkeiten und Einzelfällen, wie das bei optischen Täuschungen der Fall ist, wenn wir mal belogen werden oder uns das Gedächtnis im Stich lässt – sondern weiter- und tiefergreifend. Die Welt erscheint uns irreal, das heißt nicht von Regel- und Gesetzmäßigkeiten beherrscht, sondern von Willkür und Beliebigkeit, gar von einem Arbeiten gegen uns. Das ist die Weltwahrnehmung eines Menschen, dem der Boden unter den Füßen weggezogen ist, der nicht-erfolgreich in seiner Umwelt agiert – was nichts anderes heißt, als dass er sich in seinen Urteilen über die Welt und andere Menschen häufig getäuscht sieht und nicht herauszufinden vermag, warum. Natürlich geht es nicht um von vornherein unsicherheitsbehaftete Erwartungen, sondern um selbstverständliche. Wenn wir uns eine Chance ausgerechnet haben, einen Porsche zu Weihnachten zu bekommen, letztlich bleibt es aber bei einer Krawatte, dann ist das bedauerlich, aber mit Blick auf unsere Weltwahrnehmung irrelevant. Es ist die Erfahrung des Nichtverstehens von als selbstverständlich angesehener, aber enttäuschter Erwartung, die uns dazu führt, das Agieren auszusetzen, mit der Kontemplation einzusetzen. Wir haben es wieder mit Problemlösung tun, allerdings, vermeintlich, auf einer anderen Ebene. Um den festen Boden zurückzugewinnen, stellen wir viele unserer selbstverständlichen Annahmen in Frage. Wir tun das, um zu neuen zu gelangen, die erfolgsversprechender sind, die aber, um uns festen Boden zu bieten, wieder selbstverständlich sein müssen. Das InFrage-Stellen selbstverständlicher Erwartungen geschieht in der frühen Kindheit andauernd, weil es Hand in Hand geht mit der Reifung unseres Gehirns. Beispielsweise gelangt der Mensch in seiner ontogenetischen Entwicklung nach und nach zu der selbstverständlichen Erkenntnis, dass die Rede von einer gemeinsamen, mit anderen geteilten Realität mit Vorsicht zu genießen ist, weil andere Menschen manchmal nicht wissen, was wir wissen, und umgekehrt wissen wir nicht, was andere wissen. Uns geht auf, was subjektiv bedeutet, und das führt zu völlig neuen mentalen Modellen – ein Schritt, der bei Kindern mit der „Neunmonatsrevolution“ im Alter von etwa neun bis zwölf Monaten einsetzt. Der Schritt ist belegbar in der so genannten Maxi-Aufgabe oder im Smarties-Test: Drei- bis vierjährige Kinder verstehen, dass andere Menschen z. B. einen anderen Wissensstand haben können als sie selbst; jüngere Kinder verstehen das nicht.129 Eine ähnliche Erkenntnis machen erwach129
Vgl. zu Neunmonatsrevolution im Überblick Tomasello 2006, 83-94; zu Smarties-Test und Maxi-Aufgabe etwa Sodian 2007. Vgl. zu den ersten drei Lebensjahren und zu der provokanten These, dass der Mensch mit drei Jahren „fertig“ sei, auch Roth 2003, 406-410.
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sene Menschen noch einmal, wie der Autor glaubt, wenn sie begreifen, dass andere Menschen andere Werte haben, etwa wenn performance- oder karriereorientierte Manager begreifen, dass einige ihrer Mitarbeiter keine Versager sind, sondern mehr Leistung bringen, mehr Karriere machen könnten – sie wollen es aber nicht, weil ihnen etwa ein Ausgleich zwischen Beruf und Privatleben wichtiger ist. Ein Schritt, der als soziale Reifung einer Führungskraft zu bezeichnen ist. Manager A brachte diese „Reifung“ für sich persönlich auf den Punkt: Da gibt es auch Kollegen, die können das nicht, die werden das nicht können, die wollen das vielleicht auch nicht. Deswegen sind sie ja auch nicht Abteilungsleiter, sondern Mitarbeiter – aber das ist ja in Ordnung. Jeder hat seine Talente, ist ja nicht schlimm.
Es ist verführerisch, die epistemische Dimension derartiger Alltagserkenntnisse herunterzuspielen, gerade im Erwachsenenalter: der Manager habe im Beispiel ein simpleres mentales Modell durch ein komplexeres substituiert. Das geschieht jeden Tag und hat ganz und gar nichts mit den dramatischen fundamentalen Reflexionen eines Descartes zu tun. Der Autor ist anderer Meinung. Von entscheidender Bedeutung ist, wie wir – zumindest, wenn wir westlich sozialisiert sind –, das Übernehmen neuer Modelle erleben: Wir erleben es als Aufgeben falscher Annahmen, die selbstverständlich schon immer falsch waren, als Übernehmen neuer, die selbstverständlich schon immer richtig waren – es sei denn, wir unterstellen, die Welt habe sich fundamental geändert. Das ist etwas völlig anderes als etwas zu lernen, was wir vorher nicht wussten, hinterher wissen. Wir erleben einen Schritt zu einer wahreren Weltwahrnehmung, nicht lediglich von einer beliebigen zu einer anderen beliebigen. Der Grund ist, dass Modelle, die uns helfen sollen, existenziell mit der Welt zurechtzukommen, nicht tentativ sein dürfen, sie müssen fundamental sein, das heißt sie müssen auch einer Kontemplation standhalten, so sie denn, weil sie notwendig ist, stattfindet.130 Lebenswelt dynamisch: Aufmerksamkeit Etwas vereinfachend machte der Autor geltend, dass der Akteur das Funktionieren der mentalen Modelle bilanziert. Das war vereinfachend, weil das kaufmännische Bild der Bilanz dreierlei impliziert: Erstens, dass es einen archimedischen Punkt gibt, der eine neutrale objektive Bilanzierung gestattet; zweitens, dass die mentalen Modelle separate Entitäten sind; drittens, dass sie gleichwertig sind respektive sich ihr Wert in einer Währung angeben lässt. Der Autor wählte das vereinfachende Bild aber nur, um zu vergegenwärtigen, dass der Mensch die Bilanz phänomenal als ein Verhältnis von Akteur und Welt erlebt. Ist die Bilanz gut, fühlt sich der Akteur als Herr der Lage; ist sie schlecht, ist er verstört, beunruhigt, unsicher. Was das Bild der Bilanz impliziert, trifft natürlich nicht zu: Es gibt fundamentale mentale Modelle, die tief und unauflöslich mit „uns“ verknüpft sind – und andere, die oberflächlich und flach sind und schlicht und einfach irgendetwas in der Welt „dort draußen“ erklären. Die tiefen, fundamentalen Modelle sind deshalb tief und fundamental, weil sie 130
Mitterer (vgl. 1992, 2001) arbeitet das in seiner nondualistischen Redeweise heraus, wenn er von der Unterscheidung einer alten Deskription „so far“ und einer neuen „from now on“ spricht. Mitterer argumentiert aber von der Perspektive des neutralen Beobachters, beschreibt nicht das phänomenale Erleben. Der Mensch braucht irgendwo, irgendwie sicheren Boden unter den Füßen, er ist nicht in der Lage, alles gleichzeitig zu problematisieren – das ist, wie der Autor noch an anderer Stelle zeigt, physiologisch begründbar.
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vielen anderen mentalen Modellen zugrunde liegen: Ob etwas im mentalen Modell unserer räumlichen Umgebung „weit“ oder „nah“ liegt, hängt von unserem Modell unseres Selbst ab, das uns sagt, welche Strecken wir zu Fuß bewältigen können – deswegen leben alte, gebrechliche Menschen in einer „kleineren“ Welt. Als Laien stellen wir uns Elektrizität dadurch vor, dass wir Strom mit Wasser vergleichen, das durch ein Kabel fließt – ein oberflächliches und flaches Bild, das der Profi nach und nach ablegt, ohne deshalb in persönliche Krisen zu geraten. Das für die folgenden Erörterungen wichtigste, bereits betonte Postulat ist jedoch, dass mentale Modelle nicht von einem archimedischen Punkt aus aktiviert werden, sondern dass sie ebenjenen, vermeintlich archimedischen Punkt aktivieren. Der archimedische Punkt, der die mentalen Modelle vermeintlich aktiviert, tatsächlich aber von ihnen aktiviert wird, ist das Bewusstsein. Wenn das Bewusstsein gesteuert wird, empfindet der Mensch das phänomenal als Fokussierung, Defokussierung und Refokussierung seiner Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeitssteuerung ist ein Prozess, über den nicht ein wie auch immer geartetes Selbst im Selbst verfügt, auch wenn wir die Operationen unserer exekutiven Funktionen gelegentlich phänomenal als „sich zusammenreißen“ oder „sich zwingen, dabei zu bleiben“ erleben. Aufmerksamkeitssteuerung ist im wahrsten Sinne des Wortes selbstreferenziell: Aufmerksamkeit fokussiert sich, um die zentrale These des nächsten Abschnittes vorwegzunehmen, auf Neues und auf Wichtiges (vgl. zu der kulturkritischen These eines Verlustes der gesellschaftlichen Aufklärung aufgrund einer Kultivierung, ja Kolonialisierung der Aufmerksamkeit durch „Psychotechniken“ respektive „Nootechniken“ der Konsumindustrie jüngst Stiegler 2009). b) Neues und Wichtiges Der Anfangs- und Endpunkt der Betrachtungen ist, um das noch einmal zu wiederholen, dass der Mensch sich Problemen gegenübersieht, dass er denkt, handelt, redet, um die Probleme zu lösen. Das geschieht jedoch nicht von singulärem Problem zu singulärem Problem, sondern in einem größeren und höheren Zusammenhang. Der größere und höhere Zusammenhang ist durch das Selbst gezogen, das sich raumzeitlich erlebt: Das Selbst erkennt, dass es eine relevante Umwelt hat. Oder umgekehrt: Durch die Definition des Selbst konstituiert sich eine relevante Umwelt. Darüber hinaus mag es mehr und andere Umwelt geben, aber sie ist nicht relevant, solange sie keine Probleme generiert, die das Selbst tangieren. Wonach der Mensch in letzter Konsequenz strebt ist, ebenjene relevante Umwelt zu beherrschen. Der Organismus drängt zu einem Punkt, an welchem das Selbst seine Umwelt als „im Griff“ erlebt, an welchem der Akteur festen Boden unter den Füßen hat oder, anders ausgedrückt, die Welt versteht – was auch dadurch geschehen kann, dass die Umwelt simplifiziert, das Selbst reduziert, die Welt „verkleinert“ wird. Der Mensch strebt im Großen und Ganzen danach, von Schwellenbereichen abgesehen, die Komplexität seiner Umwelt unter Kontrolle zu bringen. Das Meistern der Umwelt ist zunächst ein einfaches, vorbewusstes Unternehmen, an welches wir uns aufgrund der infantilen Amnesie nicht erinnern, welches wir jedoch an Kindern beobachten. Der feste Boden bezieht sich zuerst auf einfache, lebensweltliche Zusammenhänge, etwa Objekterkenntnis, wenn wir schon als Säugling unsere Umwelt durch „Herumexperimentieren“ sensomotorisch be-greifen wollen, wie das Piaget (1974) in seinen Arbeiten betonte. Er erweitert sich aber zunehmend auf komplexer und komplexer werdende, z. B. kausale Zusammenhänge, Ursache-Wirkungs-Beziehungen. Die Erweite-
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rung der als Probleme identifizierten Zusammenhänge geht, wie erwähnt, Hand in Hand mit Aufbau und Erweiterung des eigenen Selbst – das eine ist de facto Ergebnis des anderen: Wir betrachten z. B. die Zukunft als Problem, weil wir ein Selbst haben, das sich raumzeitlich konstant erlebt, weil wir heute davon ausgehen, dass wir morgen noch leben werden. Mit der Neunmonatsrevolution, wenn wir beginnen, andere als intentionale Akteure zu verstehen, weil wir selbst intentionale Akteure sind, werden wir zu genuin sozialen Wesen. Deshalb wird der soziale Bereich zu einem Problembereich – was zu einem Quantensprung an Komplexität gegenüber tierischen Umwelten führt (vgl. Tomasello 2006, Kap. 2, 3). Was es heißt, wenn wir sagen, ein Organismus bringe die Komplexität seiner Umwelt unter Kontrolle, wurde unter Rekurs auf das Beispiel der Bienen und Fliegen erörtert (vgl. C.III.3). Der Schlüsselbegriff ist hier wie dort der Begriff des mentalen Modells, das zu Erwartungen führt. Wir bilden Erwartungen aus und auf Grundlage ebenjener Erwartungen halten wir Handlungen bereit. Unsere Aufmerksamkeit richten wir, wenn wir Erwartungen haben, nur auf etwas, das nicht unseren Erwartungen entspricht. Etwas reicher und dichter ist die Beschreibung, wenn wir uns vergegenwärtigen, was es bedeutet, eine Person kennenzulernen, eine neue Kollegin etwa. Am Anfang beobachten wir die Person sehr genau, machen uns sehr viele Gedanken, gehen mit ihr in einer Art und Weise um, die es gestattet, sie in verschiedenen Umständen kennenzulernen – im Prinzip ein Drehen und Wenden, wie es der Säugling mit seiner Rassel tut. Das geschieht nicht alles hundertprozentig bewusst und absichtsvoll, aber es ist doch ein betriebenes Unternehmen. Nach und nach gelangen wir zu einem als stimmig empfundenen Bild der Person, in letzter Konsequenz nichts anderes als eine kohärente Theorie, eine Theory of Mind (zum Begriff vgl. 8.). Wenn unsere Theorie über die Person fertig ist, empfinden wir das, als würden wir die Kollegin jetzt kennen. (Um zu Mitterers Redeweise zurückzukehren, die Kollegin „so far“ ist jetzt die Kollegin „from now on“ – die ich jetzt aber besser kenne, ja, so die Rede, wirklich kennengelernt habe.) Wieder abstrahiert heißt das nichts anderes, als dass ich mir jetzt vergleichsweise sicher bin, dass die Kollegin dieses und jenes selbstverständlich niemals tun würde, dieses und jenes wahrscheinlich nicht, dieses und jenes ist ihr zuzutrauen etc. Unsere Theorie gibt uns, was die Person anbelangt, festen Boden unter den Füßen. Abgesehen von der völlig anderen Frage, dass wir die Kollegin womöglich menschlich interessant finden, werden wir erst wieder aufmerksam, wenn es zu einer Episode kommt, in der unsere Erwartungen sich als falsch erweisen, die Kollegin also etwas tut, was wir ihr nicht zugetraut hätten, was neu ist. Das Beispiel der zwischenmenschlichen Interessiertheit deutet bereits an, dass der beschriebene Mechanismus, der Übergang von subjektiv „neu“ zu „alt“ (oder „unbekannt“ zu „bekannt“) lediglich eine Seite der Aufmerksamkeitssteuerungsmedaille darstellt. Die andere Seite der Medaille ist die Unterscheidung zwischen subjektiv „wichtig“ und „unwichtig“. Ob jemand für uns wichtig oder unwichtig ist, ist nicht aus der Person selbst und unserer Theorie über sie heraus zu erklären. Es erklärt sich aus der Gesamtheit unserer anderen Theorien, bewusst, vorbewusst, unbewusst. Personen, die unserer Gesamttheorie nach in der Lage sind, uns sehr viele Probleme zu bereiten, wie etwa Vorgesetzte, empfinden wir deshalb von vornherein als „stressiger“. Wie wichtig wir unseren Chef nehmen, hängt aber von unserem Weltbild insgesamt ab, welche Rolle der Beruf in unserem Leben spielt, welche Alternativen wir haben, welches Ethos etc. Wenn wir es mit Personen zu tun haben, die von existenzieller Bedeutung, aber unberechenbar sind und bleiben, empfinden wir das als extreme psychische Belastung. Am wirkmächtigsten ausgearbeitet ist ebenjener letzte Fall
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in der Theorie der Double-Bind-Beziehungen, wie sie von der Palo-Alto-Gruppe um Gregory Bateson entwickelt wurde (vgl. Bateson/Jackson/Haley/Weakland 1956; auch Bentele/Nothhaft 2008). c) Agenda, Projekt, Chunk: „Baustellen“ und Bälle Die Konzepte der Aufmerksamkeit, der Neuheit und Wichtigkeit gestatten es, die erkenntnistheoretische Argumentation zusammenzuführen mit ähnlichen Überlegungen, die in der Managementlehre angestellt wurden: gewöhnlich ohne eine erkenntnistheoretische Basis. Managementtheoretiker wie etwa Kotter (1982a, 1982b, 1982c), Carroll und Gillen (1987), später auch Mintzberg (1994) haben auf Grundlage ihrer Forschung bereits auf die Bedeutung der mentalen Struktur des Managerjobs hingewiesen. Exkurs: Die mentale Struktur des Managementjobs: Mintzbergs Nussschalenmodell Mintzberg hat in seinem Nussschalenmodell (1994), neben anderen, nicht-kognitiven Ebenen, die kognitiven Ebenen der (1) Person im Job, (2) den Frame des Jobs und (3) die Agenda differenziert. Sich über die Basisparameter der eigenen Arbeit Klarheit zu verschaffen, einen überzeugenden Rahmen um die eigene Arbeit zu ziehen, sie auszugestalten – das sieht Mintzberg als die erste und entscheidende Rolle eines Managers an, er nennt sie conceiving. Abstrahiert, das wurde unter C.III.3 dargestellt, sehen sich Manager einer oder mehreren von drei Aufgaben gegenüber: (1) Sie kreieren oder re-kreieren etwas (eine Abteilung, eine Kampagne, ein neues Werk etc.); (2) sie passen etwas an neue oder veränderte Rahmenbedingungen an; oder (3) sie sorgen dafür, dass etwas, so wie es ist, in möglichst effizienter Art und Weise „läuft“. In jedem Fall macht sich der Manager ein Bild davon, welchen Zweck er mit seiner Tätigkeit verfolgt, welche Ziele er zu verwirklichen sucht: „[…] purpose, namely what the manager is seeking to do fundamentally with the unit he or she is supposed to manage“ (1994, 12). Das Verständnis der Zweck- und Zielsetzung einer Managementposition wirkt sich fundamental auf die Arbeit aus: Die Führungskraft, welche beispielsweise eine Abteilungsleiterposition mit der Maßgabe übernimmt, die Abteilung „umzukrempeln“, agiert völlig anders als jene, die mit der Maßgabe antritt, ein eingespieltes Team in bewährter Art und Weise weiterzuführen. Ähnlich fundamentale Auswirkungen hat in Mintzbergs Augen die perspective der Führungskraft. Unter der perspective ist ein sehr grundsätzliches, quasi weltanschauliches Verständnis davon zu verstehen, wie ein Unternehmen zu leiten, eine Abteilung zu führen oder Management generell zu bewältigen ist – tatsächlich gebraucht Mintzberg an anderer Stelle das deutsche Wort Weltanschauung, um das Konzept zu verdeutlichen: Anthropologists refer to the ‘culture’ of a society and sociologists to its ‘ideology’; military theorists write of the ‘grand strategy’ of armies, while management theorists have used terms as the theory of business and its ‘driving force’, behavorial scientists who have read Kuhn on the philosophy of science refer to the ‘paradigm’ of a community of scholars; and Germans best capture it with their word ‘Weltanschauung’, literally ‘worldview’, meaning collective intuitions about how the world works. (Mintzberg 1987a, 16f.)
Die perspective ist demnach ein Verständnis von so tiefgreifender Natur, dass es, wie eben Paradigmen, Ideologien, Doktrinen oder Weltanschauungen, für die davon geprägten bzw. darin befangenen Akteure nahezu unhintergehbar wird. Von derartigen perspektivisch-
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paradigmatischen Einengungen betroffen sind dabei keineswegs nur Personen131, sondern gerade auch Organisationen. Während mit perspectives Wahrnehmungsmuster, wie sie in den Köpfen der individuellen und/oder kollektiven Akteure angelegt sind, angesprochen werden, wendet sich das Modell mit positions der Frage zu, wie die betreffende Organisation in ihrer Umwelt lokalisiert, ihr gegenüber aufgestellt, an sie angepasst ist. Mit Blick auf Unternehmen ist hier der vorrangige, wenn auch keineswegs der einzige Aspekt die Wettbewerbsposition – wobei aus unternehmensstrategischer Perspektive die Besetzung einer Nische oder der Aufbau eines Monopols als optimale Position ausgezeichnet ist. Andere Aspekte der Position sind die produzierten Produkte, die bedienten Märkte, die Systeme und Strukturen, über welche die Organisation verfügt, etc. „Wir als B-to-B-Unternehmen“ oder „als Anbieter in einem heiß umkämpften Markt“ sind Formulierungen, die ein Verständnis von der position einer Organisation zum Ausdruck bringen. Das conceiving gipfelt letzten Endes in der Frage: Was ist eigentlich mein Job? Freilich wirft das Bild eines seine Aufgabe selbst definierenden Managers Fragen auf. Es stellt sich die Frage, inwiefern Führungskräfte, vor allem auf höheren Ebenen, einen vorgegebenen Job ausfüllen – wie das Nicht-Führungskräfte tun. Oder aber die Tätigkeit eines Managers stellt eine durch seine Person selbst ausgestaltete Arbeit dar. Mintzbergs Modell greift das Problem aus zwei Blickwinkeln auf. Zum einen diskutiert er die Frage, inwiefern der Frame selbst ausgestaltet (invented) oder aber von anderer Seite vorgegeben (imposed) wurde. Zum anderen gilt es, die Konkretheit eines Frame zu berücksichtigen: Konkretheit kann, um Mintzbergs Beispiel zu gebrauchen, von einer klaren Zielsetzung wie „Kosten um zehn Prozent senken“ bis zu einer durchaus nicht weniger anspruchsvollen, aber vagen Vorgabe wie „den Laden wieder in Schwung bringen“ reichen. Die genannten Dimensionen über Kreuz anordnend, entwirft Mintzberg das Bild vier verschiedener Stile, eine Managementposition zu framen (vgl. Abb. 57). Zwar stellt er die Stile nicht explizit in eine Präferenzordnung, aus seinen Ausführungen ist jedoch herauszulesen, dass er scharfe Frames vagen sowie durch den Manager selbst ausgestaltete Frames von anderer Seite auferlegten vorzieht. Während sich das Framing einer manageriellen Aufgabe als Suche nach Antwort auf die Frage, worin, angesichts der vorliegenden Bedingungen, der zu erledigende Job bestehe, so schließt sich in der Sphäre der Agenda die Frage an, wie der Job zu erledigen sei. Mintzberg differenziert hier zwischen zwei Ebenen: Issues einerseits, Schedules andererseits. Was der Manager letztendlich tut, geschieht letzten Endes immer im Rahmen eines Scheduling, eines raumzeitlichen Einplanens, wie es insbesondere durch die Forschung Kotters ins Blickfeld der Managementlehre geraten ist. Unter Issues sind Aufgaben, separierbare Komplexe, zu verstehen. „Ask any manager about his or her work“, formuliert Mintzberg (1994, 14), „and the inevitable reply will be about the ‚issues’ of central concern, those things ‚on the plate’, as the saying goes.” Die Manager in der Beobachtungsstudie sprachen von „Projekten”, „Angelegenheiten“, „Geschichten” oder, wo es sich um Projekte in Schieflage handelte, von „Baustellen”. Der Kern ist, dass Manager ihre Arbeit nicht 131
Es steht zu bezweifeln, dass derartige tief verwurzelte Ideologien immer das Ergebnis der Prägung durch die betreffende Organisation sind, wie es das Mintzberg’sche Modell suggeriert. Mintzberg vernachlässigt, wie der Autor meint, den identitätsstiftenden professionellen Diskurs, der sich in der Fort-, Aus- und Weiterbildung und in der professionellen Lektüre von Publikationen wie PRMagazin, prreport, Managermagazin, Harvard Business Review etc. konstituiert.
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primär als Wahrnehmung verschiedener Funktionen (Planen, Organisieren, Personal besetzen etc.), sondern als Verfolgung verschiedener Issues begreifen. Wenn Issues thematische Blöcke darstellen, spiegelt die Ebene der Schedules die zeitliche und – damit einhergehend, denn auch die energetischste Führungskraft verfügt nur über eine begrenzte Anzahl von Arbeitsstunden – die Dimension der Priorität wider.
Clarity of Frame Vague
Sharp
Imposed
Passive Style
Driven Style
Invented
Opportunistic Style
Determined Style
Selection of Frame
Abbildung 57: Frames – vague vs. sharp, imposed vs. invented (Quelle: Mintzberg 1994, 13) Viele der vorgestellten Untersuchungen, die sich mit managerial work beschäftigen und die Verteilung der Tätigkeiten über einen Tag oder über eine Woche untersuchen (vgl. auch B.I), ließen sich demnach als Annäherungen an managerielle Schedules qualifizieren. Wie auch Mintzberg geltend macht (1994), handelt es sich bei Prioritisierung um ein Thema, das nicht nur in der Managementforschung Aufmerksamkeit auf sich zog, sondern Manager sehr konkret und praktisch beschäftigt, wie die Erfolge von Zeitmanagementseminaren zeigen. Deutlich geworden sein dürfte, dass Issues und Schedules die Operationalisierung eines Frames darstellen: Weil ein Manager dieses oder jenes Verständnis seiner Arbeit entwickelt hat, gelangen diese oder jene Issues auf die Agenda. Umgekehrt gilt das jedoch gleichermaßen, Frame und Issues stehen in einem Wechselverhältnis. Durch die Beschäftigung mit bestimmten, von der Umwelt aufgezwungenen Issues ändert sich auch der Frame, das Verständnis der eigenen Arbeit. Aufmerksamkeit, neu und wichtig revisited Mintzbergs Gedanken, die sich wie gesagt auch bei anderen Managementtheoretikern finden, fügen sich eins zu eins in die erkenntnistheoretische Argumentation – zumindest wenn man die bei Mintzberg immer sorgsam gewahrte Souveränität des Managers relativiert. Der Autor möchte Mintzbergs Überlegungen aber vereinfachen, wenden – und dem Erleben, Denken und Handeln einer Führungskraft überstülpen: Die Argumentation geht aus von einem Selbst, welches sich selbst in der Organisation mit einem bestimmten sozialen Standing sieht, das mit einer bestimmten Verantwortung und bestimmten Möglichkeiten, Macht und Einfluss, verwickelt ist. Im Rahmen der Konstellation „entdeckt“ die Führungskraft Probleme in der Umwelt, die „ihre“ Probleme sind, die „neu“ oder „wichtig“ sind. Wenn also, wie etwa bei Mintzberg (vgl. B.II.), von der Fragmentierung der Arbeit des Managers die Rede ist, dann gilt es klar und deutlich zu sehen, dass die Einheit der Arbeit
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aus der retrospektiven Rekonstruktion und Defragmentierung durch das Selbst erwächst, sie erwächst aus Sinnstiftung und Bedeutungswahrnehmung. Zwar ist der Giddens’schen Analyse beizupflichten, dass spätmoderne Lebenswelten in sehr viel höherem Maße durch raumzeitliche Fragmentierung (1996, 28-33; 1986, Kap. 3) geprägt sind als etwa moderne oder prämoderne. Schon an der eigenen Person, nahezu unabhängig davon, was man tut, lässt sich aber beobachten, dass die Wirklichkeitswahrnehmung durch kontinuierliches Fokussieren, Defokussieren und Refokussieren der Aufmerksamkeit auf Neues geschieht, was dann, vereinfacht gesagt, zu einer Qualifizierung als entweder „wichtig“ oder „unwichtig“ führt. Unter 5. verdeutlicht der Autor den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Realität noch etwas ausführlicher. Agenda, Projekt, Chunk Vor dem Hintergrund der vorgestellten Gedanken definiert der Autor die Vokabeln Agenda, Projekt und Chunk, welche die Arbeit unter E aufgreift: Unter der Agenda eines Managers versteht der Autor eine mentale Liste, welche die Projekte enthält, die der Akteur derzeitig verfolgt: die „Bälle“, die in der Luft sind, die „Baustellen“, die „Geschichten“. Die mentale Liste mag mit einer manifesten identisch sein, ist aber in der Regel fluider und skalierbarer. Was exakt die Grenzen eines Projektes sind, weiß der Manager selbst nicht immer: Das Projekt existiert als Kern, um den sich dazugehöriges anlagert, von welchem sich anderes unterscheidet. Die Projekte zerfallen in Chunks (Tom Peters), Stücke oder Bruchstücke. Die Chunks sind es, die der Akteur als Probleme aufgreift und zu lösen versucht oder an andere zum Zwecke der Lösung weitergibt. 4.
Ökonomie des Organismus: Management und die persönliche Komplexitäts- und Ambiguitätsschwelle Die Literatur zu strategischer Unternehmensführung ist reich an Geschichten über Unternehmenslenker, die „verkrusteten“ Denk- und Handlungsmustern verhaftet blieben, die Zeichen der Zeit nicht erkannten, das Unternehmen in den Abgrund führten. Die Tatsache, dass Menschen lange und hartnäckig an vereinfachten oder veralteten Modellen festhalten, obwohl Erwartungen bereits mehrfach nicht bestätigt wurden, erklärt viele Misserfolge (lesenswert zu menschlicher Irrtumsanfälligkeit Baecker 1999, 14-20). Die Frage ist, weshalb der Organismus mit sich verfestigenden Mustern arbeitet, weshalb er Probleme als gelöst ansieht. Weshalb, ließe sich fragen, bleiben wir nicht auf der Hut. Was der Organismus versucht, ist ja letzten Endes die Umwelt zu trivialisieren – nicht völlig, aber unter eine Schwelle, die von Individuum zu Individuum verschieden sein dürfte. Trivialisierung und Komplexitätsreduktion: „Energiesparmodus“ des Organismus Die Antwort der Neurobiologie, wie sie Roth (vgl. Roth 2003, Kap. 16) vorschlägt, ist eine physiologische: Auf Trivialisierung, im Prinzip nichts anderes als Komplexitätsreduktion, drängt der Organismus, um den Betrieb der extrem sauerstoff- und traubenzuckerzehrenden Areale bewussten, problemlösenden Denkens, die höchste Stufe unseres Bewusstseins, wieder zurückzufahren oder – das ist der Fall des „Nicht-abschalten-Könnens“ – für das nächste Problem zu verwenden. Roth formuliert: Das Gehirn hat die Tendenz, bewusste und damit stoffwechselphysiologisch teure, langsame und fehleranfällige Funktionen zu überführen in unbewusste und damit stoffwechselphysiologisch billige, schnelle
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und präzise Funktionen. Dies wird jedoch erkauft mit einem Verzicht auf intermodalen Transfer, auf Flexibilität und das Erfassen semantischer Tiefe. Wir Menschen leben jedoch in einer hochkomplexen natürlichen und sozialen Umwelt, in der Bewusstsein als eine besonders aufwendige Form der Informationsverarbeitung unverzichtbar ist. Bewusstseinszustände überwinden funktionale Beschränktheiten unbewusster Informationsverarbeitung zugunsten einer kreativen Handlungsplanung. (Roth 2003, 549)
Die schnellen, aber fehleranfälligen und energieaufwändigen Prozesse in der Großhirnrinde, wo das bewusste Denken stattfindet, sollen möglichst abgelöst werden durch die langsameren, sichereren und energieunaufwändigeren in anderen Arealen, die auch über eine sehr viel höhere Kapazität verfügen. Deshalb empfinden wir bewusstes Problemlösungsdenken phänomenal zunächst einmal als anregend, dann aber als anstrengend. Deswegen empfinden wir Situationen, wo nichts sicher ist, wo wir uns auf nichts verlassen können, etwa ein anspruchsvolles neues Arbeitsumfeld, als belastend. Deshalb lösen, umgekehrt, ältere und erfahrene Menschen manche Aufgaben mit Leichtigkeit, die jüngere, unerfahrene nur mit großem Denk- und Problemlösungsaufwand bewältigen. Der Organismus ist es, der auf Trivialisierung drängt, weil eine einfachere (nicht einfache), überschaubarere, beherrschbarere, verständlichere und sinnmachendere Welt, von Schwellenbereichen einmal abgesehen, einem präferierten gehirnphysiologischen Zustand entspricht. Beliebiger Trivialisierung, und das ist Spielarten des vulgären Konstruktivismus entgegenzuhalten, steht jedoch eines entgegen: Dass unsere Theorien über die Welt, über andere und über uns selbst in Erwartungen über die Welt „dort draußen“ resultieren. Das ist nachvollziehbar, wenn man in Rechnung stellt, dass der Organismus ebenjenes sauerstoff- und traubenzuckerfressende Gehirn132 „betreibt“, um sein Überleben in ebenjener physischen Welt „dort draußen“ zu gewährleisten. Ebenjene „hartcodierte“ Bindung an die Welt, das reality monitoring, das Freud’sche „Realitätsprinzip“, welches uns zwingt zwischen Imagination und Perzeption zu unterscheiden, macht auch verständlich, dass Theorien durch die Welt entweder bestätigt oder widerlegt werden, selbst wenn das unbewusst oder vorbewusst, durch „mentales Testen“ („Was würde passieren, wenn…“) und nicht scharf, sondern vage und diffus („satisficing“) geschieht. Wenn sie nicht oder nicht genügend bestätigt werden, dann kehrt die Aufmerksamkeit zurück, dann ist das Problem wieder wichtig, dann verspüren wir Beklemmung, Unbehagen, Verstörung, dann machen wir uns Sorgen – es ist doch alles nicht so einfach, wie wir uns das vorgestellt haben. Komplexitätsprozessierung und Ambiguitätstoleranz Was hat das mit Management, insbesondere mit Kommunikationsmanagement zu tun? Die Antwort hat zwei Seiten. Die eine Seite ist die der Komplexitätsprozessierung und Ambiguitätstoleranz des Managers selbst, die andere Seite ist ein Bewusstsein für die Toleranzen anderer. Ähnlich wie Dörner (2006, 88) die eigentliche Aufgabe von Führungskräften darin sieht, die Komplexität für andere zu bewältigen, arbeitet Simon die Fähigkeit, mit Unsicherheit umzugehen, als die entscheidende Fähigkeit von Führungskräften heraus: Zwischen entscheidbaren und unentscheidbaren Fragen unterscheiden zu können und Uneindeutigkeit auszuhalten, auch und gerade, wenn von aller Welt klare Vorgaben erwartet werden, fällt den meisten Menschen schwer. Wenn man diese Fähigkeit als Persönlichkeitsmerkmal definieren wollte, über das Führungskräfte verfügen sollten, so könnte es am besten als Ambiguitätstoleranz charakterisiert werden.
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Das menschliche Gehirn verbraucht im Normalbetrieb etwa 20% der Energie im menschlichen Körper, obwohl es lediglich 2% des Körpergewichts ausmacht (Brüne 2007, 36).
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt […] Gemeint ist damit die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit, Ambivalenz, Antinomie und Unsicherheit zu ertragen und Widersprüche nicht sofort durch eine Schwarz-Weiß-Logik zu beseitigen. (Simon 2007b, 122)
Roths neurophysiologische Konzeption erklärt tiefgreifend, weshalb Manager etwas tun, was, wie es Simon (2007b, 122) ausdrückt, den meisten Menschen schwer fällt, was viele Menschen entweder gar nicht vermögen oder auf Dauer gar nicht durchhalten. Was die Fähigkeiten anbelangt, ist es, wie der Autor glaubt, das Charakteristikum guter Manager, dass sie bereit und in der Lage sind, ein höheres Maß „managementtypischer“ Komplexität schneller zu verarbeiten als der „gewöhnliche“ Mensch. Das heißt zunächst einmal, dass sie zu Anfang ihrer Karriere bereit sind, sich tiefer in Probleme hineinzuarbeiten, eben nicht voreilig trivialisieren, um Komplexität zu reduzieren. Aber es geht darüber hinaus, weil selbst die komplexesten Modelle nicht zu Eineindeutigkeit, zu „klaren Vorgaben“ führen. Wenn andere bereits nach Sicherheit streben, auf Selbstverständlichkeit drängen, toleriert der gute Manager Ambiguität. Das führt im Verlauf ihrer Karriere dazu, dass die mentalen Modelle des guten Managers einerseits komplexer und differenzierter werden, dass die Person andererseits autonomer in der Verfolgung ihrer Ziele vorgeht. Manager sehen, salopp gesagt, Unterschiede, die andere nicht sehen. Sie lassen sich, vereinfacht ausgedrückt, nicht Entscheidungen aufzwingen, um ihre Ruhe zu haben. Das führt im weiteren Verlauf ihrer Karriere entweder dazu, dass sie davon ausgehen, ihr „Geschäft“ ein für allemal „verstanden“ zu haben (unreflektierte Praktiker) – oder es führt dazu, dass sie die Fähigkeit und Bereitschaft, sich tiefer in Probleme hineinzuarbeiten, als die entscheidende Kompetenz begreifen und Sorge dafür tragen, dass sie ihren Vorsprung in Tiefe und Weite aufrechterhalten (reflektierte Praktiker). Die andere, komplementäre Seite ist die Anerkenntnis durch den Manager selbst, dass die ihm unterstellten Mitarbeiter über unterschiedliche Bereitschaften und Fähigkeiten verfügen, Ambiguität zu tolerieren, Komplexität zu prozessieren. Jede Person – veränderlich im Verlauf der persönlichen Entwicklung – verfügt aber über zwei Schwellenbereiche: Liegt die Komplexität der übertragenen Verantwortung dauerhaft unter der ersten Schwelle, wird die Person unterfordert (Boreout) sein; liegt sie dauerhaft über der zweiten ist die Person überfordert (Burnout). 5.
Lebenswelt III: Was ist Umwelt? Realismus vs. Konstruktivismus Die dritte Teilfrage wendet die erste und die zweite: Während in der ersten Frage erörtert wurde, wann ein Akteur etwas von seiner Umwelt versteht, die Teilfrage darauf zielte, wann er seine Umwelt insgesamt oder im Großen und Ganzen versteht, geht es jetzt um die Frage, was denn eigentlich unter Umwelt respektive Lebenswelt zu verstehen ist. Zu Anfang merkte der Autor an, dass die erkenntnistheoretische Debatte in den Geistes-, Verhaltens- oder Sozialwissenschaften, wie der Kommunikations- und Medienwissenschaft, nicht der altehrwürdigen philosophischen Traditionslinie folgte. Sie kam mit der Verarbeitung erkenntnistheoretischer Diskurse aus materialen Wissenschaften in Gang. Es kam zu vielen verschiedenen erkenntnistheoretischen, ja ontologischen und metaphysischen Diskursen, jeweils in den Einzeldisziplinen, jeweils – vermeintlich – auf die Erfordernisse und Bedürfnisse des Faches bezogen (zu Erkenntnistheorie und Wissenschaftstheorie zusammenfassend Schnädelbach 2004, 12-16). Stellt man in Rechnung, dass interdisziplinäre Felder wie die PR-Lehre oder die Managementlehre den Theorieimport zum Exis-
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tenzprinzip erhoben haben und sich allüberall bedienen, erklärt sich, weshalb die Debatte des Realismus vs. Konstruktivismus – genauso wie die systemtheoretische – vielschichtig und von Irrungen und Wirrungen durchzogen ist. Um das auszublenden, fokussiert der Autor von vornherein: Erstens fokussiert er auf menschliche Erkenntnistheorie, sei sie realistisch oder konstruktivistisch. Das bedeutet, dass das individuelle, epistemische Subjekt ein spezifisches, empirisches ist, ein Homo sapiens, wie wir ihn auf unserem Erdball in verschwenderischer Zahl vorfinden, mit einem im Prinzip typischen Primatengehirn. Es geht nicht um beliebige intelligente Wesen oder beliebige kognitive Systeme, wenn auch an verschiedenen Stellen andersartige Systeme zum Zweck der Illustration herangezogen werden. Zweitens fokussiert der Autor auf die zwei Positionen, die seiner Ansicht nach Plausibilität beanspruchen dürfen: Es ist einerseits ein durch die Evolutionäre Erkenntnistheorie gestützter Realismus, wie er von Vollmer (vgl. 1975, im Überblick 1995) oder Riedl (vgl. 1979) vertreten wird – der, der von Bentele (2008) als Rekonstruktivismus in die kommunikations- und medienwissenschaftliche Debatte eingeführt wurde. Es ist andererseits ein Konstruktivismus, wie ihn der Autor mit viel Wohlwollen und gutem Willen aus der Vielzahl der einschlägigen, bisweilen missverständlichen Publikationen herausliest133, und wie ihn Bernhard Pörksen (2006, 37) jüngst weniger als in sich stringente Theorie, eher als „Set von miteinander verwobenen, Postulaten und Leitmotiven“ gekennzeichnet hat. Der Autor gesteht zu, dass weder die realistische noch die konstruktivistische Position, wie er sie im Folgenden darstellt, auf einen einzelnen Autor zurückführbar ist. Da der Sinn und Zweck des Abschnittes der ist, eine Folie zu liefern, gegen die sich der Roth’sche Entwurf gut abhebt, steht Kritik und Detaildifferenzierung an einzelnen Autoren zurück hinter der grundsätzlichen Frage. Eine Diskussion, bei der Proponenten der einen Position die jeweils andere zu einem naiven „Strohmann“ (vgl. auch Pörksen 2006, 49; vgl. ferner Bentele 1993, 156; Neuberger 1996, 238) aufbauen, führt die Arbeit nicht weiter. Der Autor versucht vor allem zu zeigen, dass die Debatte über weite Strecken eine begriffliche ist (lesenswert Mitterer 2001, Anhang 2), dass in ihrem Zentrum aber das Konzept der Aufmerksamkeitssteuerung („neu“ und „wichtig“) steht. Welt oder Wirklichkeit Von der Warte des jeweiligen Gegenstandpunktes gesehen stehen sich Realismus und Konstruktivismus folgendermaßen gegenüber: Die Realisten, sagt der Konstruktivist, behaupten, der menschliche Erkenntnisapparat liefert ein Abbild der Realität. Der Realist sagt: Die Konstruktivisten behaupten, dass unser Erkenntnisapparat nichts anderes zur Verfügung stellt als ein im Prinzip bindungsfreies, sozial abgesichertes Konstrukt. Der Autor vermutet, dass Realisten wie Konstruktivisten die jeweilige Darstellung ihres Standpunktes zurückweisen würden: Der Realist würde erklären, dass er keineswegs ein naiver Realist sei, keineswegs von einem Abbild der Realität spreche. Der Konstruktivist würde in Abrede stellen, dass die Realitätskonstruktion des konstruktivistisch konzipierten epistemischen Subjekts „bindungsfrei“ sei: erstens und grundsätzlich, weil der Konstruktivismus keine beliebige Realitätskonstruktion gemäß Gusto des epistemischen Subjekts postuliert, zweitens und am Rande, weil soziale Absicherung gerade Bindung repräsentiert – alles andere zu behaupten sei Vulgärkonstruktivismus. 133
Für die Kommunikations- und Medienwissenschaft von äußerster Wirkmächtigkeit Merten/Schmidt/ Weischenberg 1994; Rusch/Schmidt 1997.
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Forderte man ihn auf, seine Theorie in Abgrenzung zum Konstruktivismus zu präzisieren, würde der in der Tradition der Evolutionären Erkenntnistheorie stehende Realist wohl behaupten: Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf unsere Umwelt richten, was wir keineswegs immer tun, generiert unser kognitiver Apparat eine Repräsentation der Welt „dort draußen“, die dieselbe Welt zwar nicht eins zu eins abbildet, aber in wesentlichen Zügen das darstellt, was für unser Überleben relevant ist. Insofern besteht also eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen der Welt „dort draußen“ und der Welt, wie wir sie wahrnehmen: eine strukturelle Isomorphie. Salopp gesagt: Wir sehen Steine im unserem Weg liegen, weil „dort draußen“, in der Realität, Objekte mit bestimmten Eigenschaften liegen. Dass wir nicht alle Eigenschaften der Objekte „dort draußen“ erkennen, gesteht der Realist zu, und insofern gesteht er auch zu, dass wir die Welt nicht hundertprozentig erkennen wie sie ist. Was er aber nicht zugesteht ist, dass die Erkenntnis der Steine in irgendeiner relevanten Art und Weise ein Konstruktionsprozess ist, wie das der Konstruktivist postuliert – denn der Verweis auf die Psychologie der Wahrnehmung wie die Gestaltgesetze oder der linguistische Zusammenhang, dass vereinzelte Sprachen oder Fachsprachen eine differenzierte Wahrnehmung von Stein gestatten (Fels, Granitplatte, Schieferbruchfläche etc.), ist in diesem Zusammenhang banal. Dass Perzeption selektiv, perspektivisch und konstruktiv ist, dass unser Erkenntnisapparat „rechnet“, um relevante Umweltstimuli hervorzuheben, irrelevante abzuschwächen, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass der Realist davon ausgeht, nicht ohne Grund, dass er sich mit jedem gesunden, erwachsenen Menschen auf unserem Globus hier und jetzt darauf einigen könnte, dass dort drüben ein Stein liegt, weil dort drüben ein Stein liegt. Und das ist auch logisch, denn wie anders ist es zu erklären, dass unsere Spezies bis heute überlebt hat, wenn wir abgekoppelt von der Welt lebten, wie es der Vulgärkonstruktivismus behauptet. Forderte man einen Konstruktivisten auf, seine Theorien in Abgrenzung zu präzisieren, dann würde er wohl entgegenhalten: Dass du gemeinsam mit einem anderen Menschen einen Stein siehst, ist das Ergebnis geteilter Aufmerksamkeit, die ihr durch Fingerzeig oder gar durch die Frage „Siehst du den großen, weißen Stein?“ herstellt. Niemand bestreitet, dass vermutlich jeder in einer derartigen Szene einen großen, weißen Stein sehen würde. Aber berechtigt dich das, von einer gemeinsamen, geteilten Realität zu reden? Stell’ dir vor, du würdest mit einer anderen Person durch den Wald marschieren, einen großen weißen, wie ein aufgerichteter Bär aussehenden Stein passieren, aber eben nicht an Ort und Stelle, sondern erst eine halbe Stunde später fragen: „Hast du den großen, weißen Stein gesehen, der wie ein Bär aussah?“ Du wärest vermutlich nicht verwundert, wenn die andere Person sagte: „Nein, habe ich nicht gesehen.“ Wie verträgt sich das mit deiner Rede von einer gemeinsamen, geteilten Realität? Ist es angesichts derartiger Dinge nicht geradezu zwingend zuzugestehen, dass wir in unserer eigenen subjektiven Wirklichkeit leben, die wir gelegentlich mit anderen parallelisieren? In der nächsten Argumentationsschleife würde der Realist vermutlich entgegenhalten, dass die Rede von unserer eigenen subjektiven Wirklichkeit so aufgefasst eine banale sei. Denn natürlich weiß jeder, dass wir mit unseren Gedanken oft woanders sind. Anhand derartiger Szenarien zu zeigen, dass die Rede von einer gemeinsamen geteilten Realität ins Leere geht, ist ein Trick: Denn wenn wir unseren Gedanken nachhängen, haben wir unsere Aufmerksamkeit ja gerade von der gemeinsamen geteilten Realität abgewandt, haben wir uns in uns selbst gekehrt. Der Konstruktivist würde vermutlich entgegnen, dass die entscheidende Frage nicht die ist, dass wir uns gelegentlich, von Zeit zu Zeit der so genannten
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geteilten Realität zuwenden – die entscheidende Frage ist, wie oft und in welchem Maße wir das tun. Er würde behaupten, dass wir größtenteils eben nicht in einer mit anderen parallelisierten, aktuellen Welt leben, sondern in unserer eigenen. Steine „dort drüben“ wirken sich im Vergleich zu über Jahre und Jahrzehnte aufgehäuften Erinnerungen, Einstellungen, Meinungen, Erwartungen und Erwartungserwartungen marginal aus. Ja, sie sind überhaupt erst interessant und unserer Aufmerksamkeit würdig, weil sie uns an einen aufgerichteten Bären erinnern – und die hunderte und aberhunderte anderer Steine, die wir auch am Wegesrand gesehen haben, gelangen nicht einmal in unser Bewusstsein. Sie sind Realität – sie sind aber nicht die Wirklichkeit, in der wir leben. Der Realismus als Spezialfall des Konstruktivismus Das dialektische Hin und Her zeigte, dass die Positionen des Realismus und des Konstruktivismus in einer merkwürdigen wechselseitigen Verschränkung zu stehen scheinen: Sie widersprechen sich nicht, sondern entziehen einander die Grundlage.134 Das ineinander geschachtelte Verhältnis vergegenwärtigen die typischerweise gewählten, quer zueinander stehenden Beispiele: Der Realist wählt gewöhnlich simple Perzeptionen und Szenen bereits hergestellter, abgesicherter gemeinsamer Aufmerksamkeit – zwei Personen sehen einen Stein. Der Konstruktivist wählt typischerweise soziale Szenen mit Ambivalenz – zwei Personen unterhalten sich über die Vergangenheit, was der eine sah, was der andere. Der Realist ist also ein Konstruktivist, der Situationen postuliert, die wenig bis gar keinen Selektions-, Perspektivitäts- und Konstruktions-„Spielraum“ gestatten. Von ebenjenen Situationen ausgehend postuliert er, mit Fug und Recht, die Rede von einer gemeinsamen, geteilten Realität, von objektiven Fakten. Wenn ich mich mit jedermann auf der Erde darauf zu einigen vermag, dass dort drüben ein Stein liegt, dann ist es widersinnig und umständlich davon zu reden, dass dort drüben ein Etwas ist („ein Ding an sich“), was ich und alle anderen als Stein perzipieren. Insofern ist es nicht nur Ökonomie, sondern Präzision der Sprache zu sagen, dass dort drüben ein Stein ist. Das Problem der Konstruktivisten ist, so der Realist, dass sie die Existenz einer gemeinsamen, geteilten Realität, in der eben verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Meinungen und Überzeugungen leben über die Gebühr problematisieren. Nothhaft und Wehmeier (2008, 25) formulieren die Position eines hypothetischen Realisten im Streitgespräch mit seinem konstruktivistischen Konterpart: „[W]enn ich Konstruktivisten reden höre, habe ich immer das Gefühl, dass das simple Faktum einer gemeinsam, überaus realen und echten Wirklichkeit von hinten durch die Brust ins Auge als eine kollektive Massenpsychose erklärt wird.“ Der Konstruktivist geht in der Regel zwar genauso davon aus, dass es ein Etwas gibt, das wir als Stein perzipieren, aber er gesteht sehr viel Konstruktionsspielraum zu. Weshalb er das tut, ist nach Ansicht des Autors eine Quelle von Missverständnissen. Denn der Konstruktivist, so wie ihn der Autor als plausibel liest, behauptet nicht, der eine sehe einen Stein, der andere einen Baum, der dritte ein Einkaufszentrum. Was er behauptet ist, dass derartige Szenen der perfekten Parallelisierung eher sporadisch, eher punktuell zustande kommen. Ihr gelegentliches Zustandekommen versetzt uns keineswegs in die Lage, vernünftig und redlich von einer gemeinsamen, geteilten Realität zu sprechen. Das Problem 134
Entsprechend gelangt Mitterer (2001, Anhang 2, #5) in Auseinandersetzung mit seinem eigenen Entwurf einer nondualistischen Redeweise, zu der Einschätzung, dass der Realismus einen Spezialfall des Konstruktivismus darstellt, entsprechend gelangt Bentele (2008) zu einem Ansatz, der Realismus als Rekonstruktivismus begreift.
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des Realismus ist, so der Konstruktivist in Retour, dass Realisten ebenjene, auf den Stein bezogene, objektivierende, verdinglichende Redeweise kurzerhand und leichtfertig auf die Gesamtsituation ausdehnen, einschließlich Situationen, die einen sehr viel weiteren Spielraum gestatten: Dann, mit einem Mal, ist nicht mehr die Rede von einer Situation, die mehrere bestimmte, subjektive Beobachter ähnlich oder auch genau gleich sahen; mit einem Mal ist die Rede von einer Situation wie sie wirklich war – Sachzwang heißt es mit einem Mal, Faktenlage, objektive Verhältnisse. Synthese von Realismus und Konstruktivismus So wie der Autor die Debatte überblickt, ist das derzeitige Resultat nicht ein Sieg der einen oder anderen Seite, sondern wechselseitige Klärung und Schärfung. Der Konfliktpunkt ist der Status der Rede davon, dass wir die Welt erkennen, wie sie wirklich ist. Wie der Autor meint, liegen zwei verschiedene Konzepte zugrunde: Der kritische Realismus der Evolutionären Erkenntnistheorie geht davon aus, dass wir die Dinge erkennen wie sie wirklich sind, weil nur Erkenntnis der Realität „dort draußen“ unserem in der Realität „dort draußen“ existierenden Organismus das Überleben gestattet. Wenn wir sagen, dass dort wirklich ein Stein ist, postulieren wir zwar nicht eine Äquivalenzbeziehung wie der naive Realist, durchaus aber eine Isomorphiebeziehung: Unsere Erkenntnis spiegelt in wesentlichen Zügen die überlebensrelevanten Strukturen unserer Umwelt wider, und weil auch unser Erkenntnisapparat der Selektion über die Jahrmillionen unterlag, tut er das recht gut und verlässlich. Hier gehört etwa das Vollmer’sche Postulat (im Zusammenhang 1984) hin, dass wir die physische Welt als dreidimensional wahrnehmen, weil sie dreidimensional ist.135 Was oft in Vergessenheit gerät, ist freilich, dass wir die Verlässlichkeit und Güte unserer Erkenntnis oft nur dadurch festzustellen vermögen, dass wir im Rahmen unserer Sozialisation mit anderen über die Welt reden. Und wenn wir das tun, stellen wir fest, dass es Bereiche gibt, wo jeder seine eigenen Meinungen, Überzeugungen und Erwartungen hat. Das sind aber Bereiche, die erkenntnistheoretische Realisten nicht interessieren: sie gehören der Geisteswelt an. Was erkenntnistheoretische Realisten interessiert ist, dass es Bereiche gibt, in denen – mutmaßlich, hypothetisch – niemand die Dinge ernsthaft und aufrichtig anders sehen würde, wie etwa bei basalen Perzeptionssituationen.136 Aus ebenjener Beobachtung sind jedoch zwei extreme Pole des Realismus mit verschiedenen Abstufungen ableitbar: Auf der einen Seite steht ein universaler Realismus, der behauptet, dass jedes beliebige erkenntnisfähige System in derselben Situation genau das gleiche erkennen würde, weil die Dinge eben so sind, wie sie sind. Das ist ein Realismus, der sich tatsächlich der von Foerster’schen Kritik (jüngst Foerster/Pörksen 2004, 155) aussetzt, Beobachtung ohne einen Beobachter zu postulieren. Auf der anderen Seite steht ein Realismus, der behauptet, dass Systeme mit ähnlichen oder vergleichbaren Erkenntnisapparaten ein und dasselbe erkennen würden, wenn sie Bewusstsein und Aufmerksamkeit auf ein und denselben Ausschnitt der Realität, der Welt „dort draußen“ fokussieren würden. Das ist ein Realismus, der bei genauerer Betrachtung nicht ohne einen Beobachter, sondern mit einem hypothetischen Minimal- oder neutralen Standardbeobachter argumentiert, er 135
Ein vielkritisiertes Postulat, denn die Wahrnehmungsforschung zeigte, dass wir die Welt gar nicht dreidimensional wahrnehmen (vgl. Roth 1997, 348). 136 Das in diesem Zusammenhang oft angeführte psychologische Experiment der Längenwahrnehmung unter Gruppendruck (Asch 1955) führt in die Irre, wie der Autor glaubt. So wie es der Autor liest, beweist es nichts anderes, als dass Menschen sich Gruppendruck beugen.
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argumentiert auch nicht mit der einzig wahren Wahrnehmung der Welt, sondern mit einem Korridor akzeptabler Wahrnehmungen – was natürlich wiederum Probleme aufwirft, was aber die von von Foerster’sche Kritik ins Leere gehen lässt. Der Konstruktivist hält die Rede von der Welt wie sie wirklich ist von vornherein für problematisch und diskutabel, weil wir nicht in der Welt „dort draußen“, in der Realität leben, sondern in unserer eigenen, subjektiven Wirklichkeit. Es ist also ein fundamentaler Fehler überhaupt die Frage zu stellen, wie die Dinge wirklich sind, weil subjektive Wirklichkeit für einen bestimmten epistemischen Beobachter A eben so ist wie sie ist, für Beobachter B ist sie anders. Aus ebenjener Grundüberzeugung lassen sich jedoch wiederum zwei Standpunkte mit verschiedenen Abstufungen ableiten: Auf der einen Seite steht hier der Standpunkt des totalen Relativismus, der postuliert, dass subjektive Weltbilder, Umweltkonstruktionen, unhintergehbar, demnach nicht kritisierbar sind, weil es nichts gibt anhand der sie sich hintergehen oder kritisieren ließen. Auf der anderen Seite steht der Standpunkt, dass sie durchaus hintergehbar und kritisierbar sind: Man mag das mit der Kategorie der Wahrheit tun, wie das Jahrtausende lang geschah, man mag wie in der Wissenschaftstheorie von Objektivität und Intersubjektivität reden, man mag höher- und niedrigerkomplexe Weltbilder unterscheiden oder von Viabilität sprechen, wie die Konstruktivisten selbst, man mag onto- oder phylogenetische Anpassungserfolge heranziehen – in jedem Fall setzt man voraus, dass es eine Ebene hinter der Weltbildebene gibt, und für ebenjene Ebene kennt der Autor keinen treffenderen Begriff als Realität. Die Probleme der jeweils ersten, der Extremstandpunkte des universalen Realismus und des relativistischen Konstruktivismus zu diskutieren, führt auf Abwege. Für den Autor liegt es aber auf der Hand, dass die Rede von objektiven Gegebenheiten („Steinen“) im Rahmen der Terminologie und Diktion des zweiten, gemäßigten realistischen Standpunktes, des Minimalrealismus, ganz und gar plausibel ist – Gedankenexperimente, die ein Subjekt postulieren, das aus irgendwelchen, an den Haaren herbeigezogenen Gründen nicht zu der Überzeugung gelangt, dass dort drüben ein Stein ist, hält er für in die Irre führend oder mit begrifflichen Ebenen spielend. Natürlich gibt es geistig kranke Menschen, die keinen Stein wahrnehmen – aber es gibt auch Menschen im Koma, die gar nichts wahrnehmen. Ein Konstruktivismus, der uns veranlasst, so zu tun, als zweifelten wir an der Tatsache, dass dort drüben ein Stein liegt, ist widersinnig. Auf der Hand liegt jedoch die Plausibilität des konstruktivistischen Einwurfs insofern, als dass objektive Gegebenheiten, wie sie der Realist als Exempel heranzieht, lediglich einen Bruchteil unserer subjektiv empfundenen, relevanten Wirklichkeit ausmacht. Eine sehr viel größere Rolle spielt, welche Bedeutung die jeweiligen Subjekte den objektiven Gegebenheiten beimessen, welchen Sinn sie ihnen zuweisen, wie die objektiven Gegebenheiten im Gesamtzusammenhang resonieren. Gegebenheiten, die im Hier und Jetzt als faktisch erlebt werden, sind so aus einer anderen Perspektive als soziale Artefakte de-konstruierbar. 6. Die Erfindung der Gesellschaft, Mythos und Logos Unter 3. argumentierte der Autor, dass die Erkenntnissprünge des Kindes, die zur Zerstörung alter und zur Anlage neuer, sehr viel komplexerer mentaler Modelle führen, Hand in Hand gehen mit der ontogenetischen Entwicklung des Gehirns. Hejl (2008; vgl. auch Hejl 1982; 2001) entwickelt eine Argumentation, in der er die „Erfindung der Gesellschaft“ auf einen ähnlichen Zusammenhang zurückführt: auf die phylogenetische Kapazitätszunahme
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des menschlichen Gehirns (zur Evolution des menschlichen Gehirns, etwas abweichend, auch Roth 2003, 81-93). In der Entwicklung seiner konstruktivistischen Sozialtheorie argumentiert er, dass die Evolution des menschlichen Gehirns gegenüber den Gehirnen anderer Primaten der Spezies gleichermaßen Vorteile wie auch Nachteile bot. Die neuen Fähigkeiten, die der Mensch im Vergleich zu seinen Verwandten besaß, warfen Probleme auf, die gelöst werden mussten. Und umgekehrt: Sie wurden gelöst, weil der Mensch ebenjene neuen Fähigkeiten besaß. Es zeigt sich also das verwickelte Muster, welches bereits mehrfach identifiziert wurde: Es sind im Großen und Ganzen ein und dieselben Kapazitäten, die wir verwenden, um einerseits funktionierende Problemlösungen zu finden und ihr Funktionieren zu beobachten und zu überprüfen; andererseits, um überhaupt erst die Notwendigkeit für eine funktionierende Lösung hinsichtlich dieses oder jenes Problems zu erkennen. Die Fähigkeiten, die wir benutzen, um die Komplexität unserer Umwelt unter Kontrolle zu bringen, sind dieselben wie die, durch die wir unsere Umwelt überhaupt als komplex wahrnehmen. Hejl geht als Konstruktivist grundsätzlich davon aus, dass unsere genetischen Vorfahren im Prinzip in ihrer Welt zurechtkamen, genauso wie die Popper’sche Amöbe, die Fliege, die Biene, die unter C.III.3 eine Rolle spielen. Dann setzte, aus welchem Grund auch immer, die Evolution des Menschen ein, die vor allem in einer Kapazitäts- und Komplexitätszunahme des Gehirns bestand (Roth 2003, Kap. 2; Tomasello 2006, Kap. 1). Hejl fragt: Was passiert, wenn lebende Systeme in einer relativ invarianten Umwelt ihre Kapazität zur Erzeugung neuer Beziehungen zwischen den Zuständen jener Subsysteme ganz erheblich steigern, die zum Teil ‚von außen’ und zum Teil von den Regionen moduliert werden, die das Phänomen des Gedächtnisses oder von Folgerungen verschiedenster Art erzeugen? (Hejl 2008, 121f.)
Die Antwort lautet: Einerseits erwirbt die komplexere Spezies gegenüber der primitiveren neue und andere, im Prinzip aber mehr Arten und Weisen, die Welt wahrzunehmen – eine Umwelt zu erzeugen, in konstruktivistischer Terminologie. Das macht die Spezies insgesamt anpassungsfähiger, stellt also einen evolutionären Vorteil dar. Andererseits wird die Weltwahrnehmung/Umweltkonstruktion von Individuen der komplexeren Spezies im Vergleich mit anderen Individuen kontingent – was für das Individuum Belastung, ja Gefährdung, in jedem Fall einen Nachteil darstellt. Hejl glaubt, dass die Lösung ebenjenes Belastungs- und Gefährdungsproblems, welches durch abweichende Weltwahrnehmungen zustande kommt, in der Erfindung der Gesellschaft liegt: Die Antwort auf dieses Problem war meiner Meinung nach die ‚Erfindung’ von Gesellschaft. Diese ‚Erfindung’, sicherlich ein sich über lange Zeiträume erstreckender evolutionärer Prozess, erlaubt nicht nur die Kanalisierung potentiell gefährlicher Wirkungen unserer an Kapazität zunehmenden, selbstreferentiellen Gehirne durch die ‚Erfindung’ von Mythen, Religionen, Kunst und schließlich Wissenschaft, sondern verwandelte auch mögliche Gefahren in Elemente des Zusammenhaltes. Durch die Verknüpfung individueller mit sozialen Realitätsdefinitionen, wobei sozial ausgearbeitete Festlegungen die individuellen in vielen Bereichen weitgehend ersetzt haben, wurde es möglich, biologisches Überleben zu sichern und gleichzeitig Bereiche zu erzeugen, in denen die selbstreferentiellen Kapazitäten unserer kognitiven Systeme ihre innovativen Möglichkeiten wirksam werden lassen konnten. (Hejl 2008, 122)
Der Autor hält Hejls Idee, die bis zu einem Grad ja eine gewisse Umkehrung des Sozialkonstruktivismus darstellt137, für plausibel. Sie bedarf aber der Präzisierung. In der Darstel137
Für Hejls Kritik am Sozialkonstruktivismus à la Berger/Luckmann vgl. grundlegend Hejl 2001.
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lung, die der Autor zugrunde legt, arbeitet Hejl nicht klar und eindeutig heraus, dass das eigentliche Problem in der Tatsache besteht, dass das Individuum seine Welt im Vergleich mit anderen Individuen als anders erlebt. Hejl ließe sich anders lesen, nämlich dergestalt, dass das Individuum die eigene Welt von vornherein als kontingent erlebt. Das ist, wie der Autor glaubt, ein konstruktivistischer Fehlschluss: Wir erleben unsere Weltwahrnehmung nicht als kontingent; wir stellen lediglich fest, dass andere eine andere haben. Da Hejl jedoch eine Sozialtheorie entwickelt und es nicht darum geht, anderen Autoren auf die Schliche zu kommen, neigt der Autor dazu, Hejls Erfahrung abweichender Weltwahrnehmungen als eine soziale zu lesen. Die soziale Erfahrung setzt allerdings voraus – und das nimmt Hejl anscheinend als selbstverständlich an –, dass die Individuen über die Fähigkeit verfügen, sich in andere hineinzuversetzen. Die Arbeit kehrt verschiedentlich noch einmal zu diesen entscheidenden, aber keineswegs selbstverständlichen Fähigkeiten zurück. Mythos Folgt man Hejls Argumentationslinie und ergänzt sie um die Argumentation des Autors, dann stellt die Erfindung von Mythen, Religionen, Kunst – höherer Kulturprodukte und Zivilisationsartefakte also – in letzter Konsequenz einen funktionalen Trick dar. Der Trick stellt das soziale Zusammenleben von Individuen einer Spezies her, die über die erstaunliche kognitive Kapazität verfügen, im Vergleich zwischen sich und den anderen festzustellen, dass die Welt keineswegs zwangsläufig so ist, wie man sie selbst als Individuum erlebt: Andere erleben sie anders, und das ist erklärungsbedürftig. In isolierten, archaischen Gesellschaften, mutmaßt der Autor, funktionierte der Trick – wenn auch die Rolle des existenziellen sozialen Drucks zu berücksichtigen ist: Ob jeder die Deutungsangebote der Sippe „wirklich“ annahm, ist irrelevant; relevant ist, dass sie niemand „öffentlich“ in Frage stellte. Habermas drückt ein und denselben Gedanken aus soziologisch-sozialphilosophischer Sicht aus, wenn er in Auseinandersetzung mit anthropologisch gestützten Lebensweltüberlegungen formuliert (vgl. Habermas TdKH II, 237-240ff.): Der Mythos bindet das kritische Potenzial verständigungsorientierten Handelns, verstopft gleichsam die Quelle innerer, der Kommunikation selbst entspringender Kontingenzen. Der Spielraum für innovative Eingriffe in die kulturelle Überlieferung ist verhältnismäßig eng; das Kulturelle wird mündlich tradiert und beinahe distanzlos eingeübt. (TdKH II, 238)
In Gefahr gerieten die Deutungsangebote, als sich das Problem der Individualebene auf Gruppenebene wiederholte. Das geschah, als die Gruppe mit anderen Gruppen in Kontakt geriet und im wechselseitigen Versuch einander zu verstehen, die Kontingenz des eigenen Deutungsangebots zutage trat. Xenophanes (zwischen 570 – 470 v. Chr.), ein wandernder Rhapsode, der „die Welt gesehen“ hatte, stellte bekanntlich fest, dass die „Äthiopen“ ihre Götter schwarz und stumpfnasig, die Thraker sie blauäugig und rothaarig zeichneten, und er schlussfolgerte, dass Kühe, Pferde und Löwen vermutlich kuh-, pferd- und löwenähnliche Götter zeichnen würden (zit. n. Wuchterl 2000, 25f.). Auch wenn der Autor überzeugt ist, dass sich vergleichbare Entwicklungen zu verschiedenen Zeiten an verschiedenen Orten vollzogen, ohne jedoch zu einem System und einer Tradition codifiziert zu werden, ist es nicht zufällig, dass die Wiege der westlichen Philosophie in Ionien, an der heutigen südtürkischen Mittelmeerküste stand. Drei Gründe werden in jeder Philosophiegeschichte angeführt (vgl. Wuchterl 2000, 5-22; Höffe 2001, 17-32), und sie stützen die Hejl’sche Argumentation: Erstens handelte es sich um eine Gegend, in der viele verschiedene Kulturen
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miteinander in Berührung kamen, miteinander interagierten, aber auch konkurrierten. Zweitens stellte das antike Griechenland zum einen einen vergleichsweise wohlhabenden Kulturkreis dar, der zum anderen in Kleinstaaten zersplittert war – im Unterschied zu Babylonien, Ägypten oder auch Rom konstituierte sich der Staat nicht als ein übermächtiger Apparat, der die Ressourcen auf Großprojekte wie die Bändigung der großen Ströme Euphrat, Tigris und Nil, auf sakrale Bauten oder auf militärische Eroberung lenkte. Drittens begünstigt die Struktur der griechischen Sprache das Philosophieren, denn sie gestattet die Bildung substantivierter Abstrakta wie z. B. das Gute, das Seiende. Logos Akzeptiert man Hejls Argumentationslinie, ohne sich auf Details zu versteifen, hebt sich mit einem Mal anfangs Philosophieren, später Wissenschaft als eine zivilisatorische, kulturelle Praxis ab, zu der es über kurz oder lang kommen musste – eine These, die auch Rorty, einer der dezidiertesten Kritiker der Privilegiertheit einer philosophischen Erkenntnistheorie, teilt (vgl. insbesondere 1987, 50ff.): Hätte unsere Rasse sich darauf beschränkt, auf einzelne Sachverhalte hinzuweisen, vor Klippen oder vor Regen zu warnen, individuelle Geburten oder Todesfälle zu begehen, so hätte niemand an die Existenz eines Problems der Natur der Vernunft gedacht. Die Dichtung spricht jedoch von dem Menschen, der Geburt und dem Tod als solchen, und die Mathematik ist stolz darauf, über individuelle Details hinwegzusehen. Als Dichtung und Mathematik sich ihrer selbst bewusst wurden, als Männer wie Ion oder Theaitet sich mit ihrem Gegenstandsbereich identifizieren konnten, war die Zeit gekommen, über unsere Kenntnis von Universalien etwas Allgemeines zu sagen.
Es ist gang und gäbe, die Geburt der westlichen Philosophie mit der Ablösung des Mythos durch den Logos zu identifizieren. Das philosophische Projekt, welches unsere westliche Wissenschaft hervorbrachte, ist nichts anderes, als den Menschen vom Glauben an ein kontingentes Deutungsangebot zu lösen und das beliebige, historisch gewachsene durch das vermeintlich zwingende, ewiggültige zu ersetzen. Die Idee ist, sich von Deutungen zu verabschieden, die deshalb selbstverständlich sind, weil sie überliefert sind und sie niemand in Frage stellt – es gilt, zu einer Deutung zu gelangen, die deshalb selbstverständlich ist, weil jeder durch eigene Fakultäten, durch Observation oder Kontemplation einsieht, dass sie richtig und wahr ist. Der Mythos ist insofern „nur“ selbstverständlich für denjenigen, der an ihn glaubt – der Logos ist für alle selbstverständlich oder, salopp gesagt, selbstverständlichselbstverständlich – der feste Boden unter dem festen Boden. Angehrn, der eine „Philosophie des Mythos“ anbietet, macht in seiner Beschreibung auf die doppelte Bewegung aufmerksam, die zwischen Selbstanpassung und Realitätsprinzip oszilliert: Es geht um eine Wirklichkeitsaneignung, die dem Menschen Halt und Sicherheit bietet, indem einerseits die Welt selber Konsistenz annimmt und ihre Begründetheit und Stabilität erweist, andererseits der Mensch sich in seiner Eigenmächtigkeit affirmiert; Seinsdenken und Selbstwerdung sind die zwei teils parallelen, teils gegenläufigen Tendenzen dieser Denkbewegung. (Angehrn 1996, 410)
Der Logos als Metamythos Der Siegeszug des Logos setzte freilich nicht mit der griechischen Antike ein und verlief ungebrochen, bis der Logos auch den letzten Mythos aus den Köpfen der Menschen verdrängt hatte. Das geschah niemals. Der eigentliche Siegeszug des Logos begann, als die Wissenschaft mit ihrer rational-systematischen Methode die ungeheuren Erfolge zu erzielen
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begann, die uns heute als „Technik“ allüberall umgeben und unser Leben einfacher oder auch schwieriger machen – in Europa grob gesagt also mit der Renaissance. Es ist im Rahmen einer Arbeit über Management und Kommunikationsmanagement nicht möglich, die Entwicklung der modernen Wissenschaft aus dem philosophischen Projekt der Erkenntnistheorie nachzuzeichnen (vgl. etwa Schnädelbach 2004, Kap. 0; äußerst kritisch Rorty 1987). Es ist aber von Bedeutung zu begreifen, dass das wissenschaftlichrationale Weltbild, wie es sich derzeit präsentiert, in letzter Konsequenz nichts anderes als ein Metamythos ist (lesenswert Angehrn 1996, Kap. 8). Das wissenschaftliche Weltbild war in einer bestimmten, vereinfachten Gestalt lange Zeit nichts anderes als ein weiterer Mythos des Seinsdenkens – und in einigen Bereichen ist das noch immer der Fall. Der Mythos war der, dass das wissenschaftliche Projekt zu einem Endpunkt gelangen würde, an dem die Welt „verstanden“, an dem sie „beherrschbar“ sei. Der Punkt sei zwar noch nicht gekommen, er würde aber bei konsequenter, systematischer Verfahrensanwendung kommen. Die Parallele zu religiösen Heilsgeschichten liegt auf der Hand. Der Logos ist aber über religiöse Heilsgeschichten hinausgegangen. Als einen Metamythos apostrophiert der Autor den Logos einerseits, weil die rational-systematische Methode, das BOT-BOT (Beobachten, Operieren, Testen etc.), einen Diskurs eröffnet hat, der es gestattet, Mythen aus dem Halbdunkel zu holen, zu entmystifizieren, zu prüfen, zu verwerfen – ähnlich wie das Xenophanes getan hat, ähnlich wie der postmoderne wissenschaftliche Diskurs rekursiv, zumindest für Insider, den Mythos des wissenschaftlichen Weltbildes zerstört hat. Die andere Seite des metamythischen Charakters ist, dass der Metamythos nicht in der Lage ist, Mythen zu ersetzen. Die kluge Bemerkung des Xenophanes mag mich ins Zweifeln bringen, sie gibt mir, anders als die Rede von der Erlösung durch Jesus Christus, jedoch kein Deutungsangebot, welches, wenn ich es einmal verinnerlicht habe, die Welt einfacher und sinnvoller macht. Ein und dieselbe Asymmetrie findet sich im Bereich des Managements und des Kommunikationsmanagements: Die Rede davon, eine starke Corporate Identity zu kreieren, ist metamythisch. Sie ist insofern typisch für Akteure, die mit einem Fuß im wissenschaftlichen Weltbild stehen. Eine starke Corporate Identity ist eine konkrete, spezifische, mit Vorteilen und Nachteilen – ebenso wie eine starke Religion, eine starke Marke, ein starkes nationales Bewusstsein konkret und spezifisch ist. Dass wissenschaftliche Erkenntnis, popularisiert in Lebensratgebern, heutzutage das Leben des „Otto Normalverbrauchers“ bestimmt wie früher der Pfarrer, der christliche Glaube und die Bibel das Leben des Bauern auf dem Land bestimmt haben, wurde unter Rekurs auf Giddens und die Reflexivität spätmoderner Gesellschaften herausgearbeitet (vgl. A.II.7). Obwohl das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft ein Thema darstellt, welches die Arbeit an anderen Stellen beschäftigt138, möchte der Autor hier und jetzt nur auf einen Punkt hinaus: den, dass Menschen den Mythos, dass menschliche Gemeinschaften Mythen brauchen – ja, dass sie Mythen kreieren werden, so oder so. Das ist trivial, solange das Postulat nichts anderes besagt, als dass Menschen an „irgendetwas“ glauben 138 „Vereinfachungen, die funktionieren, nennen wir Technik“, macht Baecker geltend (1999, 32) und legt den Finger auf den wunden Punkt: Denn die erstaunlichen Erfolge, die durch die rational-systematische Methode und durch rücksichtsloses Eliminieren dem im Wege stehender Mythen zweifelsfrei erzielt wurden, sind größtenteils technisch-naturwissenschaftliche Erfolge; Erfolge, die auf den Gebieten erzielt wurden, auf denen Vereinfachung erfolgsversprechend war. Dass es sich um Erfolge im Kleinen handelt, die im größeren, eben nicht vereinfacherbaren Zusammenhang womöglich irreparable ökologische Schäden verursacht haben, sei am Rande erwähnt.
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wollen, ja müssen. Nicht trivial ist es, wenn man postuliert, dass die Gattung Mensch manche „Geschichten“ einfacher glaubt, manche schwieriger. Ganz und gar untrivial in die Tiefen und Untiefen der Gattungs-, Zivilisations- und Kulturgeschichte führt es, wenn man, etwa wie C.G. Jung (Jung/Jung 2001), von einem kollektiven Unbewussten der Menschheit als Spezies, von Archetypen ausgeht, die als starke, verborgene Cues und Marker des Vertrauens via Vertrautheit wirken. 7. Lebenswelt IV: Mentale Modelle und die „reale“ Welt Das Konzept der mentalen Modelle wurde bereits angerissen, in Grundzügen erläutert. Die Keimzelle der Theorie der mentalen Modelle sieht man gemeinhin in der Idee, die der Philosoph und Psychologe Kenneth Craik (1914-1945) bereits 1943 in der Auseinandersetzung mit der Frage äußerte, was eine Erklärung ist. Craik ging davon aus, dass der Organismus Modelle der Realität in kleinem Maßstab erzeugt, die er zum „Durchspielen“ alternativer Problem- und Lösungsszenarien gebraucht: If the organism carries a ‘small-scale model’ of external reality and of its own possible actions within its head, it is able to try out various alternatives, conclude which is the best of them, react to future situations before they arise, utilise the knowledge of past events in dealing with the present and future, and in every way to react in a much fuller, safer and more competent manner to the emergencies which face it. (Craik 1943, 61)
Craiks Postulat ist derartig nah an alltagspsychologischen Vorstellungen, dass sich das Verdienst der Mental-Model-Theoretiker wie Johnson-Laird erst dann abhebt, wenn man es mit Alternativen kontrastiert. Die Alternative, welche auf Piaget zurückgeht, aber erst mit der Computermetaphorik anhebt, ist die Annahme einer angeborenen mentalen Logik, die sich aus verschiedenen Schlussfolgerungsregeln zusammensetzt (vgl. Held/Knauff/ Vosgerau 2006, 10ff.). Die Annahme derartiger Logiken verleitete die Kognitionswissenschaft dazu, den menschlichen Verstand wie einen Computer zu rekonstruieren. Man ging davon aus, der Mensch verfüge über zwei Gedächtnisse: ein prozedurales, welches die Regeln enthält und ein deklaratives „Arbeitsgedächtnis“, welches Propositionen beinhaltet. „Denken“ bedeutet dann nichts anderes als die syntaktische Verarbeitung der Sätze im deklarativen Gedächtnis auf Basis der Regeln im prozeduralen. Die Doktrin der mentalen Logik, wie sie Johnson-Laird nennt (vgl. Johnson-Laird 1983), ist jedoch problembehaftet: Erstens ist zu erklären, woher die Regeln der mentalen Logik stammen. Zweitens ist zu erklären, weshalb Menschen in abstrakten Schlussfolgerungssituationen vergleichsweise horrende Fehlbarkeit zeigen, in konkreten aber ein gutes „Bauchgefühl“. Theoretiker mentaler Logik erklären irrige Schlussfolgerungen häufig mit Überlastung des Arbeitsgedächtnisses, aber das erklärt nicht, weshalb abstraktes und konkretes Denken unterschiedlich schwierig respektive leicht sind (vgl. ausführlich Johnson-Laird 2006a, 2006b). Drittens ist ganz schlicht und simpel zu erklären, weshalb wir zwar angeblich propositionale Sätze prozessieren, dies aber nicht oder völlig anders erleben. Laien, welche nicht mit psychologisch-philosophischen Theorien des Denkens vertraut sind, beschreiben ihre geistigen Vorgänge nämlich häufig so, wie sie Craik beschreibt. Der Autor vermeidet die Auseinandersetzung mit alternativen Erklärungen, wie etwa dem Pictorialismus (vgl. Kosslyn 1994), der auf Wittgensteins „Bildtheorie“ (TLP 2.1ff.) zurückgeht (für einen Vergleich mit der Theorie der Mental Models vgl. Gottschling 2006).
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Grundsätzlich ist jedoch einem Eindruck entgegenzutreten: dass sich die Theorie der Mental Models in einer alltagspsychologischen Metaphorik erschöpft. Für die Arbeit ist es deshalb entscheidend, die Theorie mentaler Modelle zu verbreitern und zu vertiefen. Das geschieht in drei Schritten. Erstens zeigt der Autor, wie mentale Modelle in den Rahmen des Roth’schen Konstruktivismus zu integrieren sind. Zweitens ist aus einer statischen Perspektive zu fragen, was ein mentales Modell konstituiert, was es „enthält“, wie es „aussieht“. Drittens und in einer dynamischen Perspektive ist zu erörtern, wie das Entstehen und Vergehen mentaler Modelle zu denken ist.
Abbildung 58: Mentale Modelle, erlebte Geistes- und erlebte Körperwelt (Quelle: eigene Darstellung) 7.1 Mentale Modelle im Rahmenkonzept Wie unter 2. angedeutet geht der Autor davon aus, dass die Rede von mentalen Modellen im Rahmen des Roth’schen Konstruktivismus nur plausibel ist, wenn man sie als neuronale Vernetzungen anerkennt, sie auch in der physisch-materiellen Welt ansiedelt. Mentale Modelle instantiieren sich als Gedanken in der Geisteswelt, aber sie tun das genauso in der Sphäre des erlebten Körpers und der erlebten Außenwelt. Dass ich mich als „hier in meiner Küche“ erlebe, ist einem integrierten mentalen Modell meiner räumlichen Umgebung geschuldet, welches mir versichert, dass ich von der Küche ins Wohnzimmer, in den Flur,
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durch die Tür nach draußen zum Einkaufen gehen könnte. Wenn ich woanders sitze und mir vorstelle, in der Küche zu sitzen, greife ich auf ein und dasselbe mentale Modell meiner Wohnung zurück. Wo der Unterschied liegt, zeigt Abbildung 58: Wenn ich a) in der Küche bin, erlebe ich das mentale Modell einerseits als Außenwelt, andererseits erlebe ich mich körperlich als in der Außenwelt und in der Küche anwesend. Wenn ich mir b) vorstelle, in der Küche zu sein, erlebe ich die Wohnung in der Geisteswelt, nicht in der Außenwelt, mein Selbst erlebe ich zwar in der Küche, nicht aber meinen Körper. Die Schattierung deutet an, dass das mentale Modell im ersten Fall transparent ist, im zweiten Fall opak (vgl. Held 2006, 238-245). Wenn ich in der Küche bin, erlebe ich dies nicht als Operieren mit einem mentalen Modell, obwohl das Vertrautsein mit der Küche ganz und gar davon abhängt. Wenn ich mir die Küche vorstelle, operiere ich mit einem mentalen Modell als Objekt, welches ich ähnlich inspiziere wie ein präsentes. Dem Autor liegt es fern, den Unterschied zwischen Erleben und Vorstellen zu relativieren. Er geht im Gegenteil ganz und gar realistisch davon aus, dass das Erleben der Anwesenheit des Organismus „in der Küche“ geschuldet ist. Der Unterschied ist fundamental, weil der Mensch in einigen Aspekten auf die Umwelt „hartcodiert“ ist: Wenn ich weiß, dass ich etwas „real“, körperlich-außenweltlich erlebe, werde ich das Erlebnis benutzen, um mein mentales Modell anhand meiner Wahrnehmung der Situation zu überprüfen, anzupassen und zu verändern. Ich sehe mich beispielsweise in der Küche um und stelle fest, dass sie gar nicht rechteckig ist, sondern gewinkelt – dass mentale Modelle vereinfacht sind, ist typisch –, und bin beunruhigt, dass ich mich jahrelang über meine Küche getäuscht habe. Wenn ich weiß, dass ich mir etwas vorstelle, werde ich das nicht tun, sondern mir die Frage stellen, ob ich das überhaupt alles richtig erinnere. Wenn ich z. B. sicher weiß, dass man von der Küche auf den Balkon gelangt, werde ich mein Modell entsprechend korrigieren, so dass Küche und Balkon eine gemeinsame Wand haben. Schon die Dreiteilung der Welt in Geistes-, Körper- und Außenwelt ist ein grundsätzliches mentales Modell, welches, wie der Autor glaubt, im Kern angeboren ist, aber kulturelle Modifizierungen erfährt. Der zivilisierte westliche Mensch glaubt gewöhnlich nicht, dass jemand anderes seine Gedanken lesen kann; eine basale und fundamentale Erkenntnis, die man in der Kindheit mit einiger Angst erwirbt, wenn man Lügen lernt. Religiöse Menschen gehen jedoch weiterhin davon aus, dass Gott ihre Gedanken kennt. Ferner gibt es Menschen, die die Grenzen zwischen Körper-, Geistes- und Außenwelt anders ziehen als der Durchschnitt und z. B. ihre inneren Gedanken als Stimmen von außerhalb hören – eine Symptomatik, die wir als psychische Krankheit zu verstehen suchen. Realität und Realitätsverlust Was hat das mit Management-, Organisations- und PR-Theorie zu tun? Der Autor glaubt, sehr viel. Jeder Manager einer Organisation arbeitet mit mentalen Modellen, die ihm das „Funktionieren“ der Organisation in der Umwelt erklären. Viele der Modelle entstehen in der langjährigen Praxis, andere werden von Business Schools fix und fertig geliefert, gewöhnlich kommt es zu einer Fusion oder Synthese. Ein Beispiel sind die S-Kurven, wie sie verwandt werden, um Change-Verläufe in einem Geschäftsfeld, insbesondere die Substitution einer Technologie durch eine neue zu beschreiben (Pfeiffer et al. 1997, 126ff.; Zollenkopp 2006, 107ff.). Die Kurven suggerieren, dass sich jedes Geschäftsfeld zu jedem Zeitpunkt als auf einer S-Kurve verortet beschreiben lässt; z. B. befindet sich eine ProduktMarkt-Kombination in einer Sättigungsphase. Die Frage ist jetzt, wie Manager mit dem
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Modell umgehen: Benutzen sie es als ein opakes Objekt, welches sie heranziehen, um über die weiteren Schritte zu reflektieren? Oder sehen sie die Welt durch das transparente mentale Modell, so dass die Modellhaftigkeit aus dem Blickfeld gerät? Im ersteren Fall gehen sie von einem komplexeren mentalen Modell aus, das transparent bleibt und eine tiefere, als selbstverständlich angesehene Modellierung beinhaltet. Im zweiten Fall ist das, was sie in der S-Kurve sehen Realität: Das Produkt ist in der Sättigungsphase. 7.2 Mentale Modelle statisch Es ist verführerisch, mentale Modelle als Bilder „vor dem geistigen Auge“ zu begreifen. Die Vorstellung führt in die Sackgasse. Der Versuch, mentale Modelle auf eine universale Sprache oder einen universalen Code des Bewusstseins zurückzuführen, seien es Bilder, seien es Sätze, muss scheitern. Beschränkt man sich aber darauf, mentale Modelle auf die Sprache des Gehirns, den Code neuronaler Erregung zurückzuführen, stellt sich die Frage nach dem Erkenntnisgewinn. Um zu einem Erkenntnisgewinn zu führen, muss das Konzept der mentalen Modelle die Lücke schließen zwischen bewusstem Denken und Problemlösung einerseits, neuronaler Erregungsverarbeitung und Gehirnaktivität andererseits. Der Autor geht davon aus, dass das Konzept der mentalen Modelle selbst die Lücke schließt. Das geschieht einerseits dadurch, dass Modelle durch Erleben gebildet und verbessert oder aufgegeben werden, also evolvieren; das Erleben geschieht aber wiederum durch, mit Hilfe von und im Lichte der existierenden Modelle. Wir verstehen Elektrizität zunächst, „so far“, wie einen Wasserstrom, der durch ein Kabel fließt – was vergegenwärtigt, dass nichterlebbare Zusammenhänge in der Welt durch Verknüpfung mit mentalen Modellen erlebbarer Zusammenhänge vorstellbar gemacht werden. Wenn wir im Physikunterricht139 mit entsprechenden Experimenten konfrontiert werden, die zeigen, dass sich Elektrizität nicht wie Wasser verhält, gelangen wir von unserem alten zu einem neuen Modell „from now on“ – welches, bei Bedarf, wiederum Grundlage für ein weiterführendes Verständnis darstellt, z. B. für das eines Computers. Insofern stellt Verstehen einen selbstreferenziellen Prozess dar, hat das Denken keinen Anfang und kein Ende. Mentale Modelle sind also, wenn man ein Bild benötigt, wie Netze zu denken, die, um zu Hejls Metaphorik zurückzukehren, aus Knoten und Fäden bestehen. Die Knoten sind identifizierbare Entitäten oder Tokens, die in sich mehr oder weniger eigenkomplex sind, die Fäden Relationen von mehr oder minder großer Eigenkomplexität. Daraus besteht das Netz, einen anderen, darunteroder darüberliegenden Code gibt es nicht. Insbesondere gibt es keinen Code, der es gestatten würde, eine Entität unabhängig von der Vernetzung zu fixieren.140 Was Entitäten zu Entitäten macht, ist die mentale Modellierung als Entität, die wiederum auf anderen, grundsätzlichen mentalen Modellen basiert: So gehen wir davon aus, dass Menschen ihren Charakter nicht von heute auf morgen ändern, dass unsere Kollegin von gestern heute auch noch dieselbe ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, gilt es zu sehen, dass die Theory of Mental Models keine Gedächtnistheorie141 darstellt, sondern eine Theorie des Denkens. Der Autor geht 139
Zu pädagogischen Implikationen der Theory of Mental Models vgl. etwa Seel 2006. Viele der subtilen philosophischen Argumente, etwa gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit, z.B. das Slingshot-Argument, setzen jedoch stillschweigend voraus, dass eine Entität in der Welt durch genau eine Entität im Verstand repräsentiert ist. Für eine Zusammenfassung vgl. Baumann 2006, 155. 141 Zu Interaktion von Arbeitsgedächtnis und Wissen vgl. Vandierendonck/Dierckx/Van der Beken 2006. 140
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zwar davon aus, dass mentale Modelle sich in irgendeiner Art und Weise verfestigen und auch wieder verflüssigen, aber für die Fragestellung wichtig ist zunächst nicht ihre Speicherung, sondern ihre Nutzung. Die Theorie postuliert nämlich, dass die Modelle des Menschen bestimmte Eigenschaften aufweisen, die zum Teil empirischer Forschung zugänglich sind, für die zum Teil auch verhaltenswissenschaftliche Belege gefunden wurden. Es sind die Eigenschaften (1) der „Natürlichkeit“; (2) der Abstraktheit; (3) der Isomorphie; (4) der Ökonomie; (5) der Multimodalität. „Natürlichkeit“ Das Postulat der „Natürlichkeit“ ist einer der Pfeiler und Säulen der Theory of Mental Models. Der Kern ist, dass die Theorie der mentalen Modelle, anders als die der mentalen Logik, keine angeborenen logischen Kompetenzen postuliert. Ein derartiges Postulat wäre widernatürlich, weil Menschen enorme Schwierigkeiten haben, die klassische Logik theoretisch zu erlernen und anzuwenden – in der Praxis ziehen sie aber logische Schlussfolgerungen, die teilweise verblüffend richtig sind, teilweise erschreckend falsch. „Natürlichkeit“ beansprucht die Theorie der mentalen Modelle, weil sie die Fähigkeit zum Vor- und Nachdenken sparsam aus einigen wenigen grundlegenden Kompetenzen heraus erklärt, die wir unzweifelhaft „natürlicherweise“ besitzen. Wie Held (2006) herausarbeitet, bleibt JohnsonLairds Theorie vage und diffus hinsichtlich der Frage, um welche „natürlichen“ Kompetenzen es sich handelt. Der Autor geht davon aus, dass es sich um Wahrnehmung, insbesondere räumliche Wahrnehmung, Vorstellung sowie die Übertragung von mentalen Modellen des einen Sachverhalts auf einen anderen handelt (ähnlich auch Knauff 2006). Das entspricht der Untersuchungsanlage, welche die experimentelle Kognitionspsychologie gewöhnlich verwendet, um die Mental-Model-These zu erforschen: Wenn wir also mit Aufgaben konfrontiert werden aus Sätzen wie (1) „Die Gabel liegt links des Tellers.“ und (2) „Das Messer liegt rechts des Tellers.“ herauszulesen, wo die Gabel in Relation zum Messer liegt, dann geschieht das gerade nicht durch Prozessieren der Propositionen, der Sätze, sondern durch Konstruieren eines mentalen Modells (Vorstellung), in welchem wir die Zusammenhänge „sehen“ (Wahrnehmung). Abstraktheit Die Rede davon, dass mentale Modelle es gestatten, Zusammenhänge zu sehen, stellt vermeintlich eine Rückkehr zum Bild vom Bild dar. Dass es so verführerisch ist, mentale Modelle als Bilder zu denken, ist einem verwickelten Zusammenhang geschuldet. Auf der einen Seite steht der jahrtausendealte Sprachgebrauch142, welcher Erkenntnis mit unserem Gesichtssinn verknüpft. Die Konsequenz ist, dass die Sprache, in der wir uns über mentale Modelle auseinandersetzen, von visueller Metaphorik durchdrungen ist. Mentale Modelle gelangen auch oft als Bilder ins Bewusstsein, gerade wenn sie als opake Objekte inspiziert werden. Auf der anderen Seite steht, dass mentale Modelle anscheinend in einigen, aber nicht allen Fällen aus Bildern generiert werden und räumliche Konstrukte darstellen. 142 Vgl. anders Rorty 1987, 50ff., der aus philosophischem Räsonnement heraus die Verwendung der visuellen Metaphorik für kontingent und prinzipiell durch die Metaphorik des Berührens ersetzbar hält: „Es ist jedoch fruchtlos die Frage aufzuwerfen, ob die griechische Sprache oder die griechischen ökonomischen Bedingungen oder die müßige Phantasie eines namenlosen Vorsokratikers dafür verantwortlich sind, dass dieses Wissen als ein Sehen von etwas aufgefasst wurde (statt etwa als ein Sichreiben gegen etwas, oder als ein Am-Boden-Zertreten von etwas, oder als den Umstand, mit ihm Geschlechtsverkehr zu haben).“ (Rorty 1987, 51)
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Knauff (2006) arbeitet heraus, dass Menschen logische Rätsel wie das bereits erwähnte Teller-Gabel-Messer-Rätsel durch Imaginieren eines Bildes der Situation lösen, dass das detaillierte Bild (mit einem bestimmten Teller etc.) dann jedoch im Denkprozess durch ein Modell abgelöst wird, welches immer noch räumlich, jedoch nicht länger bildlich ist. Knauffs Untersuchungen mit Hilfe bildgebender Verfahren zeigen, dass die Aktivierung von Gehirnarealen, die für räumliches Denken verantwortlich sind, immer auftritt; die Aktivierung visueller Areale tritt jedoch in Abhängigkeit von der Visualisierbarkeit der Aufgabe auf. Verschiedene Untersuchungen zeigten ferner, dass Menschen logische Rätsel schneller und einfacher lösen, wenn sie auf Basis von simplen, assoziationsfreien Objekten wie Dreieck, Kreis und Quadrat formuliert werden, dass zusammengesetzte Objekte – der Mann mit den großen Ohren steht rechts der Frau mit dem gelben Hut – das Denken der Tendenz nach verlangsamen. Knauffs Erklärung lautet, dass die visuelle Information eines Mannes mit großen Ohren im Arbeitsgedächtnis „mitgeschleppt“ werden muss. Es gilt also, zwei Perspektiven zu unterscheiden: Zum einen die, welche fokussiert, wie und als was mentale Modelle ins Bewusstsein gelangen; zum anderen die, welche die Elemente und die Konstitution mentaler Modelle fokussiert. Dass mentale Modelle als Bilder ins Bewusstsein treten ist nicht zu verwechseln mit der Idee, dass es sich um Bilder handelt: „Mental models, though, must not be confused with images. A mental model often forms the basis of one or more visual images, but some of them represent situations that cannot be visualized“ (Held/Knauff/Vosgerau 2006, 12). Das Organisationsprinzip mentaler Modelle, das legen die Untersuchungen Knauffs nahe, ist nicht Bildlichkeit, sondern Räumlichkeit. Die Entitäten und Relationen im Raum sind Abstrahierungen, funktionale Konstrukte, die im Prinzip wiederum, rekursiv, mentale Modelle in sich tragen mögen. Die in der Situation irrelevanten Charakteristika gehen jedoch in der spezifischen, problembezogenen Modellierung regelmäßig verloren: Dass Top-Manager in der Generalisierung in Humanressourcen, Generäle in Fähnchen auf der Karte denken, stellt also nicht per se Zynismus, sondern Ökonomie des Denkens dar. Es kann zynisch sein; es kann aber vor allem falsch sein, wenn die abstrahierende Modellierung Resultate und Konsequenzen nicht berücksichtigt, die aus der Tatsache resultiert, dass die Humanressourcen Menschen mit Familien sind. Dass die Entitäten im mentalen Modell so erscheinen wie sie erscheinen, ist demnach vielfachen Verknüpfungen geschuldet, die ganz, lediglich halb oder gar nicht ins Bewusstsein treten und genauso wenig oder viel mit der Realität gemein haben. Je komplexer man eine Entität denkt, desto weniger Kapazität bleibt jedoch für das Modell insgesamt. Das zeigt sich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie man beispielsweise über die Beziehungen zwischen drei Personen in einem bestimmten Zusammenhang nachdenkt (vgl. Abb. 59). Entweder es gelingt, die Beziehung der drei untereinander zu durchdenken, wobei die einzelnen Personen auf die im Zusammenhang relevanten Charakteristika reduziert werden. Oder es gelingt nicht, so dass sich das Denken z. B. auf Person C richtet, die noch nicht im Zusammenhang „verstanden“ wurde: Man beginnt also, die Werte oder Eigenschaften oder den Charakter der Person zu durchdenken, um sie zu reduzieren. Wie man den Charakter einer Person durchdenkt, hängt wiederum von subsidiären mentalen Modellen ab, die ausbuchstabieren, wie Menschen „ticken“. Während man über eine bestimmte Person nachdenkt, bleiben diese mentalen Modelle jedoch wiederum transparent und im Hintergrund. Das Konzept der Abstraktheit erklärt sich aus der Fähigkeit des Menschen zu abstraktem Denken respektive, umgekehrt, erklärt abstraktes Denken. „Abgehakte“ Modelle rekursiv in andere Modelle zu integrieren versetzt uns in die Lage, eine große Zahl Menschen im Den-
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ken auf eine Masse zu reduzieren, eine große Zahl Bäume auf einen Wald, eine große Zahl Probleme zu einem übergeordneten Problem etc. Die Gefahr ist jedoch, dass in der Abstraktion dasjenige verloren geht, was mentale Modelle zu funktionierenden mentalen Modellen macht – die Isomorphie.
Abbildung 59: Mentales Modell als abstraktes Konstrukt (Quelle: eigene Darstellung) Isomorphie Neben der Natürlichkeit ist der dritte Pfeiler der Theory of Mental Models das Postulat der Strukturerhaltung oder Isomorphie. Schlicht und einfach zu postulieren, mentale Modelle seien, anders als Sätze, strukturerhaltend oder isomorph zu der durch sie repräsentierten Situation in der Wirklichkeit, ist jedoch problematisch. Präziser ist es zu sagen, dass erfolgreiche mentale Modelle wohl deshalb erfolgreich sind, weil sie isomorph zu der Situation sind, die sie für das jeweilige Subjekt repräsentieren. Noch präziser ist zu sagen, dass sie deshalb erfolgreich sind, weil sie für das jeweilige Subjekt die jeweilige Problemsituation repräsentieren. Das eigentliche Konzept ist also das der funktionalen Isomorphie. In Abbildung 59 könnte A z. B. die kollegialen Beziehungen zwischen sich selbst, B und C genauer durchdenken, wenn es um ein berufliches Problem geht; das geschieht aber unter Vernachlässigung der privaten Seite, die Akteure werden also auf berufliche Rollen reduziert. Oder A könnte, ungenauer, die Beziehungen insgesamt durchdenken. Es ist jedoch illusorisch, ein mentales Modell der Beziehung zwischen A, B und C zu verlangen, welches, wenn es einmal gefunden wurde, alle Fragen beantwortet. Deshalb ist dem Autor die Problemlösungsperspektive wichtig: Der Verstand konstruiert mentale Modelle, wenn es ein Problem gibt, um das Problem zu lösen; er konstruiert sie nicht, um Bilder der Welt für alle Fälle zu generieren. Im Licht der erkenntnistheoretischen Erörterung ist grundsätzlich einzugestehen, dass es niemals ein subjekt- oder beobachterunabhängiges Kriterium gibt, das die Isomorphie der Modellierung von vornherein und für immer gewährleisten würde. Mentale Modelle sind jedoch, dies beschäftigt die Arbeit noch, in Raum und Zeit zu denken, und sie sind nicht losgelöst zu sehen vom Gedächtnis des Subjekts. Ultimativ getestet werden mentale Modelle in der „realen“ Aktion und Interaktion, wenn Erwartungen bestätigt oder nicht
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bestätigt werden. Sie sind jedoch auch, die gewöhnlichen Beispiele verschleiern das, hypothetisch testbar – das unterscheidet sie von Bildern und einer Perspektive, welche mit der Metaphorik der statischen Repräsentation statt der dynamischen Modellierung arbeitet. Wenn ich mir also als A vorstelle, dass meine Beziehung zu B so und nicht anders aussieht, kann ich mir in einer Hypothetik erster Ordnung vergangene Szenen und Episoden ausmalen und mir die Frage stellen, ob das Geschehen seinerzeit durch meine Modellierung vorhergesagt worden wäre. In einer Hypothetik zweiter Ordnung kann ich hypothetische Szenen und Episoden und die hypothetische Reaktion von B imaginieren. In beiden Fällen reproduziere ich natürlich zum Teil, was bereits im mentalen Modell steckt; ich aktiviere aber auch, was in der derzeitigen Modellierung transparent war, verborgen blieb. Das Testen in der Realität ist härter und verlässlicher, aber es ist, das muss gesehen werden, genauso mit Spekulation verbunden: Wenn meine Erwartungen bestätigt wurden, weiß ich, dass meine Erwartungen bestätigt wurden; nicht weshalb. Ökonomisch: Das law of parsimony Das Prinzip der Sparsamkeit, wie es Johnson-Laird formuliert, stellt eine subtile, aber gravierende Erkenntnis über die Art und Weise wie Menschen denken dar. Johnson-Laird (2006b) vergegenwärtigt sein law of parsimony an einer Beispielaufgabe, welche er über Jahre Ingenieuren stellte. Ihre Aufgabe war es, die gültigen Schlussfolgerungen aus folgenden Sätzen zu ziehen: (1)
Wenn ein Dreieck auf der Tafel ist, dann ist auch ein Kreis auf der Tafel.
(2)
Es ist kein Kreis auf der Tafel.
Wie Johnson-Laird berichtet, ziehen über die Hälfte der Ingenieure gewöhnlich die gemäß der klassischen Logik falsche Schlussfolgerung, dass nichts folgt, während die richtige die ist, dass auch kein Dreieck auf der Tafel ist. Umgekehrt liegen nahezu alle richtig, wenn (2) postuliert, es sei ein Dreieck auf der Tafel – woraus zu schlussfolgern ist, dass auch ein Kreis auf der Tafel ist. Johnson-Laird und die Theoretiker mentaler Modellierung leiten daraus das principle of parsimony ab; das Postulat, dass mentale Modelle reduziert sind insofern als sie die möglichen Möglichkeiten widerspiegeln, nicht die unmöglichen. Den Grund sehen Johnson-Laird und seine Mitarbeiter in der Tatsache, dass das Arbeitsgedächtnis, und damit auch die Komplexität mentaler Modelle, äußerst begrenzt ist. Da es in der Regel zu nichts führt, die unmöglichen Möglichkeiten zu durchdenken, ist es unökonomisch, sie „mitzuschleppen“. Die Autoren gestehen aber zu, dass der Mensch mit einiger Anstrengung in der Lage ist, ein reduziertes mentales Modell zu einem fully explicit model auszubauen, insbesondere, wenn Papier und Bleistift zur Verfügung stehen. Multimodal, Marker und Cues Wenn man sich einmal von der Vorstellung verabschiedet hat, mentale Modelle seien Bilder, fällt es leichter anzuerkennen, dass mentale Modelle multimodal sind, das heißt in ihnen verknüpfen sich verschiedenste Erlebnisformen: Bilder, Geräusche und Töne, Gerüche, Berührungen, andere diffuse Wahrnehmungen und Empfindungen, aber auch Wörter und Sätze, Gedanken etc. Das verbindende Element ist, dass es sich um Erinnerungen handelt. Die Bildmetaphorik verschleiert das, weil die Redeweise bei Erinnerung an Bilder häufig die ist, dass man die Mona Lisa vor seinem inneren Auge sieht. Das ist de facto, wie
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Gilbert Ryle (1969) ausführlich gezeigt hat (für eine Zusammenfassung vgl. Schnädelbach 2004, 105-108) genauso wenig oder viel der Fall, wie beim Hören von Musik bei Erinnerung an eine Bachkantate oder dem Fühlen einer Berührung bei Erinnerung an Barfußgehen. Der Autor stellt nicht in Abrede, dass der Mensch in der Lage ist, nahezu genauso gut mit der Vorstellung eines Sachverhaltes zu operieren wie mit der Wahrnehmung: man denke an den tauben Beethoven oder an blind spielende Schachgroßmeister. Er stellt auch nicht in Abrede, dass die visuelle Erinnerung den meisten Menschen leichter fällt, bewusster erscheint, realer wirkt als die akustische, olfaktorische, gustatorische oder taktile. Was der Autor in Abrede stellt, ist der prinzipielle Unterschied. Ein konsequent multimodales Denken mentaler Modelle bewahrt davor, die Isomorphierelation zwischen Objekten in der physisch-materiellen Welt mit Objekten in der erlebten Außenwelt, die als Entitäten in mentale Modelle integriert werden, „durch die Hintertür“ als Abbildung zu sehen. Die Entitäten in mentalen Modellen bestehen im Prinzip aus Gedächtnisinhalten, die auf Objekte in der Außenwelt – und dazu gehören Personen und unser eigener Körper – projiziert werden. Ebendiese Projektion gestattet es, sowohl uns selbst als auch anderen Personen und Dingen Konstanz zuzuschreiben. Mit der Konstanz, um zu Popper und 2. und 3. zurückzukehren, verknüpfen wir Erwartungen. Das bestätigt sich in vielen Fällen, in einigen Fällen bestätigt es sich nicht; in Fällen einer dritten Kategorie führt enttäuschte Erwartung dazu, dass die Erwartung der Konstanz aufgegeben wird. Wenn man als Bachenthusiast der Aufführung eines Violinkonzerts in der Leipziger Thomaskirche beiwohnt, erwartet man, das Stück wiederzuerkennen, welches man so oft und mit so großem Genuss gehört hat. Geschieht das ganz und gar nicht, ist man verärgert, zweifelt an sich selbst, glaubt an einen Druckfehler im Programmheft. Erkennt man etwas, verschiedene Motive und Passagen, bescheidet man sich mit der Anerkenntnis, dass es sich eben nicht um das Original, sondern um eine Adaption gehandelt hat. Entscheidend ist, dass der Übergang ein fließender ist. Entscheidend ist ferner, dass der Verstand mit verschiedenen Cues oder Markern arbeitet, um Dinge zu identifizieren, sie als konstant zu etikettieren, mit Gedächtnisinhalten zu assoziieren. 7.3 Mentale Modelle dynamisch Die Ausführungen deuteten bereits an, dass mentale Modelle nicht statisch, sondern in der Dynamik des Denkens zu sehen sind. Sie sind zu sehen in der Dynamik des Denkens eines Akteurs, der (1) sich seiner selbst bewusst ist; (2) sich raumzeitlich konstant erlebt, entsprechend auf ein Gedächtnis, auf Erinnerung zurückgreift; (3) über ein exekutives System verfügt, welches es gestattet, im Denken bei einem Problem zu bleiben oder nach einer Abschweifung der Aufmerksamkeit zurückzukehren. Sieht man mentale Modellen nicht reifiziert als Objekte im Kopf, sondern systemisch, als voneinander abhängige, ineinander verschachtelte Prozesse des Denkens, lösen sich, wie der Autor glaubt, viele der Probleme der Mental Model Theory auf. Die systemische Perspektive vergegenwärtigt, dass mentale Modelle Grundlage des Agierens wie auch des Reflektierens und des Kontemplierens sind. Erstens liefern sie eine transparente Folie, auf der sich Neues und Wichtiges als unerwartet und daher der Aufmerksamkeit würdig abhebt; zweitens bilden mentale Modelle ein opakes small-scale-model of reality, welches komplexe, multidimensionale Planung sowie das mentale Testen von Hypothesen gestattet; drittens sind wir in der Lage, mentale Modelle teil- oder ausschnittsweise zu intransparenten Objekten zu verdinglichen, die der Inspektion und Korrektur zugänglich sind: das ist es, was geschieht, wenn wir darüber nachdenken, ob
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die Dinge wirklich so „funktionieren“ wie wir uns das vorstellen. Wir vergleichen die Vielfalt an Daten und Informationen in unserem Kopf mit dem vereinfachten Bild, welches wir uns bisher modellhaft von unserem Gegenstand gemacht haben. Dass ein ganzer Forschungszweig nicht auf einigen wenigen Seiten abschließend zu erörtern ist, versteht sich von selbst. Einige Fragen, die sich mit Fug und Recht stellen, möchte der Autor jedoch erörtern. Es sei ihm verziehen, wenn er manchmal über den harten Theoriekern hinausgeht, weil reale Situationen sich gewöhnlich diffuser und weicher gestalten als in der Laborsituation der experimentellen Kognitionspsychologie – wenn das geschieht, versucht er es als eigene Meinung zu kennzeichnen.
Abbildung 60: Mentale Modelle transparent, opak, solid (Quelle: eigene Darstellung) Konstruktion, Inspektion, Variation Die erste Frage, die es zu erörtern gilt ist, wie das Entstehen und Vergehen mentaler Modelle zu denken ist. Die Theorie mentaler Modelle unterscheidet gewöhnlich drei Operationen oder Phasen (vgl. Held/Knauff/Vosgerau 2006, 12ff.): In der Konstruktionsphase konstruiert der Verstand ein mentales Modell, welches die zur Verfügung stehenden Informationen integriert. In der Inspektionsphase sucht er das mentale Modell nach Informationen ab, die sich aus der Zusammenschau „herauslesen“ lassen, in der Betrachtung der einzelnen, voneinander getrennten Informationen nicht zu Tage traten. In der Variationsphase werden schließlich Versuche unternommen, alternative Modelle zu konstruieren, die die vorläufige Schlussfolgerung auf Basis der zur Verfügung stehenden Informationen widerlegen würden. Gelingt das nicht in absehbarer Zeit und mit absehbarem Aufwand („satisficing“), hält man die Schlussfolgerung für wahr und richtig.143 Der Verstand integriert dabei Informationen aus Wahrnehmung, Vorstellung, Erinnerungen und Gesprächen. Untersuchungen haben gezeigt (vgl. Glenberg 1997; Zwaan et al. 2002), dass Leser von Romanen nach und nach ein mentales Modell der Romanwelt aufbauen und überprüfen. Die Informationen, auf 143 Die Parallelen zum Weick’schen Enactment-Selection-Retention-Modell liegen auf der Hand und sind, wie der Autor glaubt, notwendig – es handelt sich mehr oder weniger um ein und dieselbe Sache.
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welche wir zurückgreifen, um mentale Modelle zu konstruieren und zu variieren, haben also nicht ein spezifisches Format. Gewohnheitsmäßiges, Bekanntes und Neues: Marker und Cues revisited Eine zweite Frage der Theory of Mental Models ist, ob wir für jedes Problem ein neues mentales Modell konstruieren oder ob wir in der überwiegenden Zahl der Fälle mit existierenden, allenfalls „upgedateten“ operieren. Der Autor glaubt, dass drei Konstellationen zu differenzieren sind, die fließend ineinander übergehen – nämlich (1) gewohnheitsmäßige Handlungen, (2) Handlungen in bekannten Situationen sowie (3) Handlungen in neuen Situationen. Bei gewohnheitsmäßigen Handlungen greifen wir definitiv auf präexistierende mentale Modelle zu: Unseren täglichen Weg zur Arbeit legen wir oft gedankenverloren zurück und werden nur aufmerksam, wenn unsere gewohnte Straße gesperrt ist. Bei Handlungen in neuen Situationen generieren wir definitiv ein neues mentales Modell, wobei die interessante Frage die ist, ob wir ein von Grund auf neues Modell generieren, ein Derivat eines existierenden oder eine Instanz eines tieferliegenden, allgemeineren Metamodells aktivieren. Ist das mentale Modell des Flughafens Amsterdam-Schiphol ein ganz und gar eigenständiges, ist es ein Derivat des Flughafen, der den stärksten und nachhaltigsten Eindruck auf uns gemacht hat, oder ist es eine Instanz eines Metamodells von Flughäfen, welches sich nach und nach aus unseren Reiseerfahrungen abstrahiert? Der Autor vermag es nicht zu sagen und vermutlich handelt es sich um eine eher analytische, weniger empirische Frage. Sie ist aber deshalb interessant, weil erfahrene Reisende schon von vorneherein, aus vergleichsweise spärlichen Informationen, ein funktionierendes mentales Modell eines ihnen unbekannten Flughafens zusammensetzen werden; so wie erfahrene Manager „schwache Signale“ zu lesen vermögen, „Bauchgefühl“ haben, unerfahrene jedoch nicht. Anders ausgedrückt: Für einen erfahrenen Reisenden ist ein neuer Flughafen nicht eine neue Situation, sondern eine andere; für einen erfahrenen Manager genauso. Die Thematisierung, wie neue Modelle generiert werden, führt geradewegs zum schwierigsten Fall – Handlungen in bekannten Situationen –, und zu einer retrospektiven Relativierung der Ausführungen bisher. Der Fall der gewohnheitsmäßigen Handlung ist einfach, weil zunächst die Frage gar nicht ins Bewusstsein gelangt, ob es sich hier um eine neue oder um eine bekannte Situation handelt. Der Fall der echten neuen Handlungssituation ist etwas schwieriger, aber immer noch einfach, weil man weiß, dass man über nicht genügend Informationen verfügt, ein funktionierendes mentales Modell zu konstruieren – entweder man spekuliert oder recherchiert. Wenn man jedoch postuliert, dass bekannte Situationen diejenigen Situationen sind, da mentale Modelle bewusst angewandt und zum Zwecke des Durchdenkens genutzt werden, muss man auch das umgekehrte Postulat berücksichtigen: Situationen sind deshalb bekannte Situationen, weil man ein präexistierendes mentales Modell heranzieht, um die Situation auf Basis eines präexistierenden mentalen Modells zu interpretieren. Der Autor behauptet nicht, dass die Entscheidung darüber, dieses oder jenes mentale Modell anzuwenden willkürlich ist; er glaubt nicht einmal, dass sie im Belieben des Subjektes steht. Die Entscheidung trifft sich auf Basis von Markern und Cues, teils bewusst, teils vor- und unbewusst, und sie mag falsch oder richtig sein. Die Entscheidung ist auch vergleichsweise unproblematisch, solange es starke, unverwechselbare Marker und Cues und die von Popper angesprochene Gesetz- und Regelmäßigkeit gibt: Eine Person erkenne ich gewöhnlich wieder und ich gehe mit einigem Recht davon aus, dass sich ihr Charakter seit unserer letzten Begegnung gestern nicht dramatisch verändert hat.
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Problematisch wird es, wenn die Marker und Cues schwach und unzuverlässig werden und/oder die Gesetz- und Regelmäßigkeit in Frage steht. Der Journalist führt die Worte im Munde, die ein Journalist des alten Schlages auch im Munde führte, und deswegen vertraut der Pressesprecher ihm – de facto unterliegt der Journalist längst nicht mehr einem journalistischen Arbeitsethos alten Schlages, sondern dem Zwang und Druck, von Monat zu Monat als Freelancer genügend nach Hause zu bringen: manchmal hält er sich an die Regeln, manchmal nicht. Exklusivität, Parallelität Eine dritte Frage, die sich in Auseinandersetzung mit mentalen Modellen gelegentlich stellt, war die, inwiefern jeweils ein Modell ins Bewusstsein gelangt oder ob unter Umständen auch mehrere parallel prozessiert werden. Die Frage stellt sich vor allem, wenn man mentale Modelle sehr weit und offen versteht, beispielsweise davon ausgeht, dass auch semiroutinisierten Erlebnis- und Handlungszusammenhängen wie etwa Autofahren, ja sogar unserer Selbstwahrnehmung mentale Modelle zugrunde liegen, die in der Regel jedoch transparent bleiben. Soweit der Autor das überblickt, fehlt es hinsichtlich Parallelität an dezidiert mentalmodel-bezogener Forschung. De facto ist es jedoch so, dass wir in der Lage sind, gleichzeitig Auto zu fahren und einer Unterhaltung zu folgen, wobei wir sowohl auf Wichtiges und Neues im Gespräch als auch im Straßenverkehr reagieren. Umgekehrt ist es jedoch genauso eine Tatsache, dass wir bei Bewältigung herausfordernder Aufgaben – etwa einer komplizierten mathematischen Gleichung – gelegentlich vergessen, wo wir sind und was um uns herum vorgeht; wir reagieren nur noch auf Alarmsignale wie plötzliche, laute Geräusche, die im Menschen „hartcodiert“ sind. Der Autor geht also davon aus, dass der Mensch durchaus mehrere mentale Modelle gleichzeitig und mit unterschiedlicher Priorität zu verarbeiten in der Lage ist, wobei es für die Erörterungen unwesentlich wäre, wenn es sich de facto um ein unbewusstes Hin- und Herschalten handelte. Die äußerst begrenzte Kapazität vollbewussten „Durchdenkens“ sowie die etwas größere, aber noch immer begrenzte des halbbewussten „Im-Hinterkopf-Behaltens“ scheint jedoch flexibel handhabbar, wobei die Ebene der Vigilanz, der grundsätzlichen Wachsamkeit, aufrechterhalten wird. Rekursivität, Subsidiarität Als vierter Komplex sind Rekursivität und Subsidiarität anzusprechen. Unter Rekursivität ist zu verstehen, dass mentale Modelle ineinander geschachtelt werden. Wir verfügen über ein mentales Modell, wie eine Person „tickt“. Wenn die Person als Entität in einem Modell der Beziehungen in unserem Arbeitsumfeld rekurriert, bedeutet dies, dass der Verstand bei Bedarf auf das eingeschachtelte Modell zurückgreift, z. B. um das Fühlen, Denken und Handeln der Person zu durchdenken. Da man die Person für konstant hält, sieht man sich prima facie berechtigt, ebenjenes Modell auch hinsichtlich anderer Zusammenhänge, z. B. privater, heranzuziehen. Das führt zu mehr oder minder korrekten respektive inkorrekten Erwartungen. Wenn man via enttäuschte und bestätigte Erwartungen feststellt, dass die Person „privat ganz anders“ ist, gelangt man zu einem komplexeren, mentalen Modell, welches die zwei Seiten integriert. Wenn es nicht gelingt, die verschiedenen Seiten einer Person zu integrieren, hält man sie für „vielschichtig“, „abgründig“, „unberechenbar“. Unter Subsidiarität versteht der Autor das Postulat allgemeiner Modelle, die zum Tragen gelangen, wenn spezifischere nicht zur Verfügung stehen. Aus der Vielzahl der Interak-
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tionen mit Menschen generiert der Verstand nach und nach ein Modell, wie Menschen im Allgemeinen funktionieren, wie Management im Allgemeinen funktioniert, wie die Welt im Allgemeinen funktioniert. Das Beispiel des Flughafens Amsterdam vergegenwärtigte das bereits: Auch wenn ein erfahrener Flugreisender nichts über Schiphol weiß, vermag er angesichts der Tatsache, dass es sich um einen Flughafen in einem westeuropäischen Land handelt, ein abstraktes, funktionierendes mentales Modell der Abläufe die ihn dort erwarten zu generieren. Ähnlich geht es einem erfahrenen Manager, der auf Basis zunehmend differenzierter, zunehmend subtiler werdender Erfahrungen zu logisch absurden, psychologisch aber plausiblen Postulaten gelangt wie, dass jede Krise anders, Krisen in der Essenz aber immer gleich sind. Muster und „Bauchgefühl“ Subsidiarität, Marker und Cues führen zu einem fünften und letzten Punkt. Wie bereits mehrfach angedeutet, treten mentale Modelle nach Ansicht des Autors lediglich teilweise ins Bewusstsein, viele der Verknüpfungen bleiben halbbewusst und vorbewusst. Auch wurde angedeutet, dass die Rede von der Wiederverwendung mentaler Modelle zu differenzieren ist: Wieder und wieder verwandt, differenziert und präzisiert werden die Modelle, die in Entitäten eingeschachtelt sind, die wir als konstant begreifen: Modelle unserer räumlichen Umgebung etwa, oder die Vorstellungen und Einschätzungen, die wir von einer Person haben. Wenn wir jedoch mit einer Problemsituation wie den logischen Exempeln der experimentellen Kognitionspsychologie konfrontiert werden, generieren wir ein neues, der Situation entsprechendes Modell. Ebenjenes Modell ist es, welches wir zum Durchdenken der Implikationen der Prämissen – „Der Teller liegt links des Messers.“ etc. – verwenden. Wie jeder weiß, der das Schachspielen gelernt hat, fällt das Durchdenken im Prinzip neuer Situationen jedoch einfacher, wenn sie bereits durchdachten Situationen ähnlich sind. Der Autor geht dementsprechend davon aus, dass der Verstand jede Situation mit ähnlichen Situationen vergleicht und bei der Generierung neuer mentaler Modelle Fragmente alter heranzieht – im simpelsten Fall schlicht und einfach Wissen. Das ist ein etwas anderer Vorgang als der, dass erfahrene Flugreisende ein mentales Modell von Amsterdam-Schiphol auf Basis ihres grundsätzlichen Wissens über Flughäfen zusammensetzen, aber es ist mit Sicherheit ein verwandter. Ab einem Punkt ist es höchstwahrscheinlich plausibler, bei derartigen Vorgängen nicht mehr von subsidiären Modellen, sondern von Mustern zu sprechen, die darüber liegende, durchdenkbare Modelle vorprägen, vermutlich ihre Genese vereinfachen und beschleunigen, die Funktion vermutlich ebenso. Der Autor glaubt, dass das „Bauchgefühl“ aus derartigen Prozessen resultiert. Für die Erörterung mentaler Modelle ist festzuhalten, dass die Akquirierung von Erfahrung nicht eindimensional als kontinuierliche Ausweitung und Verfeinerung einiger weniger berufsrelevanter mentaler Modelle zu denken ist. Neben der Ausweitung und Verfeinerung einer subjektiven theory of the job, theory of the business, theory of the organization etc. baut das Individuum Erfahrung auf, wenn es wieder und wieder andere, aber verwandte Probleme durchdenkt, also mentale Modelle generiert.144 Der Erfahrung kommt insofern eine doppelte Rolle zu: Zum einen verfügen Personen, die 144
Für die Didaktik und Pädagogik im Managementbereich ist es jedoch, wie der Autor glaubt, von entscheidender Bedeutung, dass Situationen nicht nur durchdacht, sondern Schlussfolgerungen geprüft werden müssen, und zwar unter emotionalem Involvement. Leider führt das benotete Durchdenken von Case-Studies nur zu einer Hälfte des angestrebten Ergebnisses: Die Kandidaten durchdenken, was der Dozent wohl hören oder lesen möchte.
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viele verschiedene, aber ähnliche Situationen durchlebt haben, über viele Bruchstücke oder Spuren mentaler Modelle. Zum anderen verfügen sie aufgrund dieser Bruchstücke und Spuren über ein sehr viel differenzierteres und subtileres Inventar von Cues und Markern. Das ist insofern entscheidend, als es die Cues und Marker sind, anhand derer ähnliche Situationen als ähnlich identifiziert werden. Obwohl der Autor „Bauchgefühl“, Intuition, Instinkte, den „richtigen Riecher“ etc. gerade im Bereich Public Relations und Kommunikationsmanagement für einen enorm wichtigen, leider in der Forschung unterbelichteten Komplex hält, gilt es vor einer Mystifizierung zu warnen: „Bauchgefühl“ so wie der Autor es konzipiert stellt vor- und unterbewusste Informationsverarbeitung dar und ist deshalb nicht per se richtig, sondern kann genauso falsch und irreführend sein. Gerade wenn sich die „Spielregeln“ in einem Bereich, etwa aufgrund veränderter Technologien, fundamental geändert haben, werden die sprichwörtlichen dreißig Jahre Berufserfahrung und die Indoktrinierung in einer spezifischen Geisteshaltung zu einem Hindernis: Streitkräfte sind berühmt dafür, jeweils den letzten Krieg vorzubereiten, nicht den nächsten. Hinsichtlich Fragen des Managements und des Kommunikationsmanagements ist freilich festzuhalten, dass sich im Bereich des direkten menschlichen Miteinanders von Angesicht zu Angesicht in den vergangenen Jahrtausenden nicht sehr viel verändert hat. 8. Lebenswelt V: Theory of Mind und die „soziale“ Welt Der Anthropologe Michael Tomasello (2006) geht davon aus, dass der Grundbaustein der humanen Sozialität die Fähigkeit des Menschen ist, sich in andere hineinzuversetzen und sie auf Basis ebenjenes Hineinversetzens als intentionale Akteure zu rekonstruieren, als Akteure, die „wie ich“ sind, Dinge wollen. Das und nichts anderes bedeutet die Rede davon, dass man den anderen „versteht“.145 Tomasello selbst zeigt auf (2006, 9f.), dass ebenjene These im Kern bereits von Seiten der philosophischen Hermeneutik ausgearbeitet wurde, insbesondere von Wilhelm Dilthey, der als Begründer der Geisteswissenschaften gilt.146 Tomasellos These ist aber, und das stellt einen wesentlichen Unterschied dar, nicht philosophisch-kontemplativ fundiert, sondern naturwissenschaftlich-experimentell. Michael Tomasello steht also in der Tradition der „genetischen Epistemologie“ Piagets oder der Arbeiten George A. Kellys; darüber hinaus in der George Meads (einem Dilthey-Schüler).
145
Der Turing-Test wurde 1950 vom britischen Mathematiker und Informatiker Alan Turing vorgeschlagen, um die leidige Frage, ob Maschinen denken können, ob Computer Intelligenz besitzen, nicht argumentativ, sondern durch ein Experiment zu entscheiden: Der Test sieht vor, dass der Tester über eine Tastatur und einen Bildschirm mit zwei Gesprächspartnern interagiert, ihnen Fragen stellt, um ihre Meinung bittet etc. Der eine Gesprächspartner ist ein Mensch, der andere ein Computer. Die Aufgabe des Testers lautet, herauszufinden, wer Mensch, wer Computer ist; beide versuchen, umgekehrt, den Tester davon zu überzeugen, dass sie Menschen sind. Bislang ist es noch nicht gelungen, ein Programm zu entwickeln, das den Turing-Test in der von Turing selbst geforderten Version bestand, bei der der Tester aktiv versucht herauszufinden, ob sein Gesprächspartner ein Mensch ist; auch Programme wie ELIZA nicht. Der mit 100 000 Dollar dotierte Loebner-Preis wurde entsprechend noch nicht verliehen. Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Turing-Test. 146 Dilthey übte wiederum Einfluss auf Heidegger, Gadamer, Habermas und Ricoeur aus. Dass wechselseitiges Verstehen nicht nur die Grundlage der humanen Sozialität, sondern damit auch die Grundlage interpretierender Wissenschaft – wie etwa der Geisteswissenschaften, aber eben auch der qualitativen Sozialforschung darstellt – ist für eine Beobachtungsstudie natürlich von doppelter Bedeutung: nämlich fundamentaltheoretisch und methodisch.
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Theory of Mind Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen und auf Basis eines Perspektivenwechsels eine Vorstellung darüber zu entwickeln, wie der andere fühlt und denkt und warum er so und nicht anders handelt, entwickelt sich, wie Tomasello (insbesondere 2006, Kap. 2) nachgewiesen hat, in der frühen Kindheit. Sie setzt definitiv mit der „Neunmonatsrevolution“ ein, wenn sich spezifische kognitive Kapazitäten herausbilden. Die neurobiologische Forschung hat gezeigt, dass sie an das Funktionieren verschiedener, aber spezifischer Areale geknüpft ist, die als ToM-Netzwerk apostrophiert werden (vgl. Sodian 2007; Ferstl 2007; vgl. auch Frith/Frith 2003; Gallagher/Frith 2003).147 Unserem Wissen nach verfügt nur der Mensch vollumfänglich über diese Fähigkeit. Andere Primaten, wie etwa unsere engsten Verwandten, die Schimpansen, verfügen zugegebenermaßen über Problemlösungskompetenz und gegenüber anderen Säugetieren höherentwickelte soziale Kompetenzen, nicht aber über die Fähigkeit, eine vollwertige Theory of Mind des anderen zu entwickeln. Der Begriff der Theory of Mind wurde Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts von Jerry Fodor (1978) sowie Premack und Woodruf (1978) von verschiedenen Seiten in die Diskussion eingebracht, von philosophischer und von biologischer. Das Konzept ist heute ein interdisziplinäres, welches in der kognitionspsychologischen und neurobiologischen Forschung ebenso diskutiert wird wie in der Anthropologie. Wie Förstl (2007, 4-5) herausarbeitet, etikettiert der wissenschaftliche Komplex jedoch einen Nexus, welcher so verschiedenen Phänomenen wie Empathie, hermeneutischem Verstehen, sozialer Intelligenz sowie, ganz allgemein, der Alltags- und Küchenpsychologie, der folk psychology, zugrunde liegt, mit der wir unsere Zeitgenossen mehr oder weniger gut verstehen. Der Zusammenhang mit Fragen des Managements und Kommunikationsmanagements liegt, wie der Autor glaubt, auf der Hand. Wie schon bei mentalen Modellen gilt, dass der begrenzte Rahmen der Arbeit es nicht gestattet, ein komplexes, interdisziplinäres Forschungsfeld in toto zu erörtern. Deswegen sieht der Autor vor, die Konzepte der Theory of Mind von Anfang an in den bisher aufgespannten Theorierahmen zu integrieren. Das ist vergleichsweise simpel und lässt sich in einem Dreischritt nachvollziehen: Im ersten, oberflächlichen Schritt sind die konkreten und spezifischen Theories of Mind – also Theorien darüber, wie andere „ticken“ – als ein Spezialfall mentaler Modelle zu sehen. Die Konsequenz des ersten Schrittes ist, dass der junge Mensch andere Lebewesen als bis zu einem Grad als konstante und kalkulierbare Akteure erlebt, womöglich sogar ausgeprägter, als sie das selbst tun. Als Kinder lernen wir etwa nach und nach vorherzusagen, was andere tun werden, wie sie sich verhalten werden; wir lernen, wie wir etwas bei unseren Eltern bewirken. Im zweiten, tieferen Schritt geht uns auf, dass der andere nicht nur ein konstanter, kalkulierbarer und manipulierbarer Akteur in unserer Welt ist, sondern dass wir selbst, umgekehrt, auch als ein ebensolcher in der Welt des anderen erscheinen. Die zweite Konsequenz verändert die Welt tiefergehend: Das Individuum begreift, dass andere Menschen Akteure sind wie es selbst, dass sie sich über andere eine Meinung bilden, falsche und richtige Überzeugungen haben, Pläne verfolgen. Die Formulierung „wie wir“ ist dabei von großer Bedeutung, denn wir können, salopp gesagt, 147
Dazu gehören direkt und unmittelbar vor allem der anteriore parazinguläre Kortex, der mit der mentalen Repräsentation von möglichen, aber nicht vorliegenden Weltzuständen in Verbindung gebracht wird; der anteriore Temporallappen, der mit semantischer Prozessierung, dem Aufruf von episodischen und autobiographischen Gedächtnisinhalten in Verbindung steht; sowie der posteriore temporale Sulcus, der vor allem bei der Beobachtung zielgerichteter Handlungen von Lebewesen aktiviert wird.
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in die Interpretation anderer nur das hineinstecken, über was wir selbst verfügen. In einem dritten Schritt taucht der junge Mensch, wenn er sich „normal“ entwickelt, dann voll und ganz in die soziale Welt ein, bildet in der Generalisierung der anderen ein soziales Selbst, um die altehrwürdige Mead’sche Unterscheidung zu gebrauchen, nicht nur ein I sondern ein Me (vgl. Mead 1967, Kap. 3) aus. Findet dieser Schritt aufgrund organischer oder psychischer Fehlentwicklung nicht statt, wie etwa beim Autismus, haben wir es mit einem Individuum zu tun, das nicht oder lediglich eingeschränkt in der sozialen Welt lebt. 8.1 Der Akteur revisited: Die soziale Welt Die häufig herangezogene Abbildung 56 war also von Anfang vereinfacht. Der Mensch lebt nicht nur in einer erlebten Außen-, Geistes- und Körperwelt, sondern darüber hinaus, in mehr oder minder starkem Maße, in einer sozialen Welt, welche die drei anderen Sphären durchdringt. Abbildung 61 zeigt das durch die graue Überlagerung, welche die Durchdringung der Objekte und Subjekte mit unbewussten, vorbewussten und bewussten sozialen Wertungen und Erwartungen vergegenwärtigt. In der sozialen Welt erlebt der Akteur nicht nur andere Akteure, sondern sich selbst als mehr oder minder akzeptables und akzeptiertes Me. Das bezieht sich einerseits auf den eigenen, erlebten Körper, andererseits auf die erlebte Geisteswelt. In beiden Fällen verfügt der Autor über ein Rahmenkonzept davon – ein Metamodell, wie es angesprochen wurde – welche Ausschnitte des Körpers und des Geistes tatsächlich in der sozialen Welt stehen, welche vor der sozialen Welt verborgen sind, ihr entzogen werden. Das Rahmenkonzept des eigenen sozialen Selbst, das ist eine These des Autors, prägt maßgeblich, welche Aspekte des anderen der „realen“ sozialen Welt oder der eigenen Spekulation über den anderen zugerechnet werden. Um ein etwas skurriles Beispiel zu wählen: In der Regel gesteht sich jemand selbst ein, dass er eine Glatze hat und eine Perücke trägt; die Frage ist, ob er sich selbst in der sozialen Welt als mit dichtem Haarschopf gesegnet oder als Kahlkopf mit Perücke gespiegelt sieht. Der Zusammenhang bezieht sich aber, Abbildung 61 zeigt das, nicht nur auf den Körper, sondern auch auf die eigene Geisteswelt, sogar auf Objekte in der Außenwelt: Akteure gehen in der Regel davon aus, dass sie ausschnittsweise von anderen verstanden werden, eine Annahme, die sich bereits in populären Illustrationen wie dem so genannten JohariFenster widerspiegelt. Ein Akteur geht beispielsweise davon aus, dass bestimmte seiner Standpunkte in der sozialen Welt außer Zweifel stehen, und vor ebenjener Hintergrundüberzeugung, vor jenem Frame seiner selbst, agiert und kommuniziert er. Wenn ein Politiker glaubt, dass sein Standpunkt als überzeugter Demokrat allgemein bekannt ist, wird er sich womöglich die eine oder andere demokratiekritische Bemerkung herausnehmen – und verwundert sein, wenn man ihn in Bausch und Bogen als Faschisten brandmarkt. Ähnlich verhält es sich mit Objekten, die wir gewöhnlich einerseits als Objekte im eigenen Recht, andererseits als Träger sozialer Bedeutung verstehen. Einen Designerstuhl wie in Abbildung 61 sehen wir beispielsweise einerseits neutral und funktional als Stuhl, andererseits sind wir uns als sozial kompetente Akteure klar darüber, dass ein Designerstuhl ein Statussymbol darstellt. Dass ein kompetenter sozialer Akteur einen Designerstuhl als Statussymbol ansieht, ist seinen Vermutungen darüber geschuldet, was die Allgemeinheit mit einem Stuhl ebendieser Marke verbindet. In Analogie zu den drei Stadien mentaler Modelle von transparent über opak zu solid ist jedoch zu sehen, dass auch die Objektwahrnehmung in drei Komponenten
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zerfällt, im Prinzip als mentale Modellierung zu denken ist. Außerhalb der sozialen Welt dargestellt ist das Objekt insofern, als der Akteur hier Eigenschaften sieht, die nicht sozial konstruiert sind – die seiner Ansicht nach beibehalten blieben, wenn er den Stuhl auf eine einsame Insel mitnähme.
Abbildung 61: Außenwelt, soziale Welt, Geisteswelt (Quelle: eigene Darstellung) Auf der zweiten, opaken Stufe geht es um Eigenschaften, die der Akteur generalisiert auf das Objekt projiziert. Auf der dritten, soliden Stufe ist die reflektierte Analyse zu sehen, in der der Akteur den Statussymbolcharakter eher auf die Überzeugungen einer Gruppe oder der Allgemeinheit zurückführt. Der Unterschied zwischen Stufe zwei und drei ist nicht lediglich analytisch, sondern spiegelt wider, dass der Akteur einerseits Eigenschaften sieht, die wohl niemand in Abrede stellt; andererseits sieht er Eigenschaften, die wohl nur eine bestimmte Gruppe so und nicht anders sieht. Beispielsweise ist der Akteur überzeugt davon, dass wohl jeder mit ihm übereinstimmt, dass der Designerstuhl „besser“ ist als ein Stuhl von IKEA; er gesteht aber zu, dass nicht jeder den Designerstuhl für ästhetischer hält
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als das IKEA-Äquivalent. Nochmals zu betonen ist, dass die Unterscheidung eine zwar kritisierbare, aber völlig subjektive des Akteurs darstellt.148 Obwohl letztere für die Genese ersterer von entscheidender Bedeutung sind, gilt es generalisierte Überzeugungen analytisch strikt zu separieren von Überzeugungen über die Überzeugungen konkreter anderer Akteure. Überzeugungen über die Überzeugungen anderer sind nach Ansicht des Autors am besten zu erörtern, wenn man über einen Akteur spricht – weswegen in Abbildung 61 der Akteur A links als der fokale Akteur mit einem Asterisk gekennzeichnet, Akteur B abgegraut wurde. Der Sachverhalt ist also der, dass Akteur A Überzeugungen über B im Kopf hat, wobei er davon ausgeht, dass Teile davon seine eigenen, persönlichen Ansichten sind, andere Teile sind selbstverständlich und in der sozialen Welt allgemein bekannt und unangezweifelt (die Denkblase von A reicht in die soziale Welt hinein). Ferner nimmt Akteur A den Akteur B in der Außenwelt und in der sozialen Welt wahr, wobei er ihm genauso Eigenschaften zuschreibt wie das bei Objekten, bei Designerstühlen, geschieht: etwa objektive Befugnisse und Verfügungsgewalten in der Organisation einerseits, ein subjektives Prestige oder Standing andererseits. Schließlich schreibt A dem B ein eigenes Geistesleben zu und nimmt an, dass er selbst, A, darin in irgendeiner Art und Weise auftaucht. Auch darüber, wie er in B auftaucht, hat A Vermutungen, wobei er mehr oder weniger davon ausgeht, dass sich Bs Überzeugungen um das in der Öffentlichkeit stehende Bild anlagern. Versteht sich A selbst als öffentliche Person geht er darüber hinaus davon aus, dass es hinsichtlich seiner selbst generalisierte Überzeugungen in der Allgemeinheit gibt: Er hat ein Image. Die Analyse illustriert einzig und allein das subjektive Erleben von A; für B kann sich derselbe Sachverhalt völlig anders aufgeteilt gestalten. Dies ist besonders mit Blick auf die Sphären von Bedeutung, die als „generalisierte Geisteswelt“ und „objektive Geisteswelt“ gekennzeichnet wurden. Zu ersterer ist zu sagen: Während B kaum As grundlegende Überzeugung, dass das Objekt zwischen ihnen ein Stuhl ist, in Abrede stellen dürfte, mag B sehr wohl die von A unterstellte Generalisierung in Abrede stellen, dass ein Designerstuhl „besser“ ist als ein IKEA-Modell. A glaubt also generalisierend, dass viele sich keine Designerstühle kaufen, weil sie sie sich nicht leisten können; B glaubt generalisierend, dass viele sich keine kaufen, weil sie sich nicht für dumm verkaufen lassen wollen. Zu zweiterer ist zu sagen, dass die Annahme einer objektiven Geisteswelt spekulativ bleibt, sie ist von Poppers Annahme einer Welt 3 der Geistesdinge inspiriert und auch mit einem Fragezeichen gekennzeichnet.149 Für den Autor ist die Popper’sche Welt 3 weniger als metaphysische Spekulation, mehr als phänomenaler Erlebensstatus eines epistemischen Subjekts interessant: Schließlich macht es einen Unterschied, ob der Angehörige einer Religionsgemeinschaft an die Existenz des gemeinsam verehrten Gottes glaubt oder an die Praxis der gemeinsamen Verehrung. Die Erkenntnis der Kontingenz, damit der sozialen Konstruiertheit, stellt, um zu 148
Die Darstellung ist übrigens, das sei am Rand erwähnt, kompatibel mit der Markentheorie, die Kocks entwickelt: Kocks geht davon aus, dass eine Marke einerseits das Versprechen objektiver Qualität berge, andererseits dem Markenverwender gestatte, etwas über sich selbst auszusagen (vgl. Kocks/Kohn/Przybylla, 2005). 149 Popper (2006, 93-111; 2004, 84-127) geht in seiner Dreiweltentheorie davon aus, dass die Erfindungen des menschlichen Geistes wie Kunstwerke oder wissenschaftliche Theorien nicht nur in der objektiven Welt 1 (z.B. eine Skulptur), in der subjektiven Welt 2 (in den Köpfen derjenigen, die die Skulptur gesehen haben), sondern eben auch in einer Welt 3 existieren: einer Ideenwelt, welche aber, anders als Platons Ideenwelt, keine Universalien, sondern konkrete Errungenschaften des menschlichen Geistes beherbergt. Zu Poppers Drei-Welten-Theorie vgl. auch Pauen 2005, 49ff., 53ff.; zu kommunikationstheoretischen Implikationen Habermas TdkH I, I.3; zu Implikationen in der Kommunikations- und Medienwissenschaft vgl. Trobolowitsch 2008.
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Hejls Theorie der Erfindung der Gesellschaft (6.) zurückzukehren, den ersten Schritt in der Dekonstruktion dar. Aus Sicht des Kommunikationsmanagers lässt sich das umgekehrt formulieren: Die höchste Stufe der Konstruktion ist erzielt, wenn eine Idee nicht nur als geteiltes soziales Konstrukt wahrgenommen wird, sondern sich verdinglicht hat – damit, um zu Popper zurückzukehren, auf einer Stufe mit etwa der Mona Lisa steht. Die Mona Lisa ist eben nicht nur ein bestimmtes Gemälde im Louvre, sondern eine weltweit bekannte „Idee“ (vgl. exemplarisch und pointiert Popper 2006, 93-111). 8.2 Verstehen und Nichtverstanden-Werden: Macht, Einfluss und Ungewissheit Ohne Zweifel hat die Befähigung des Menschen, andere in empathischer Art und Weise zu verstehen, eine ethische Dimension – am klarsten und zwingendsten ist das sicherlich in der Kant’schen Ethik formuliert, die fordert, den anderen niemals nur als Mittel, sondern immer auch als Zweck anzusehen.150 Mit Blick auf Fragen des Managements und Kommunikationsmanagements ist es jedoch von Bedeutung, Theories of Mind in einem übergeordneten Zusammenhang zu sehen. Die Fähigkeit, andere zu verstehen, geht nicht Hand in Hand mit einem Erweckungserlebnis, welches das Subjekt in einen Gutmenschen verwandelt. Tatsächlich handelt es sich um den Erwerb einer sozialen Kompetenz, die das Individuum in den Dienst des „existenziellen Dreikampfs“ stellt, was sowohl zu altruistischen als auch egoistischen Handlungs- und Verhaltensweisen führt: Der einzelne Akteur sucht für sich in der Gruppe nach einer gesicherten Position; er sucht für seine Gruppe im Vergleich mit anderen Gruppen eine gesicherte Position; dies macht es wiederum erforderlich, dass die Gruppe in sich gesichert ist. Die Konsequenz ist, wie der Autor glaubt, dass Akteure danach streben, einerseits andere ganz zu verstehen, von anderen andererseits aber lediglich teilweise verstanden zu werden (vgl. Crozier/Friedberg 1979; kurz und gedrängt Simon 2007b, 87-95). Denn zu verstehen, wie andere „ticken“ bedeutet, Macht über sie respektive Einfluss auf sie zu haben – und umgekehrt: Von anderen „durchschaut“ zu werden bedeutet, Macht zu verlieren, Einfluss einzubüßen. Wenn Ego aus der Kommunikation Alters in der Lage ist zu schließen, was Alter „wirklich“ von ihm benötigt, gleichzeitig aber in der Lage ist, Alter in Unsicherheit über seine eigenen Abhängigkeiten zu halten, dann hat Ego Macht über Alter. Um es harsch auszudrücken: Ego weiß, wie er Alter zu „erpressen“ vermag – umgekehrt weiß das Alter nicht. Ego hat Einfluss auf Alter, wenn er ihn zwar nicht zu erpressen vermag, gleichwohl aber in der Lage ist, Alter dazu zu bringen in seinem, in Egos Interesse zu handeln – was in der Regel Hand in Hand geht damit, dass Ego seine wahren Interessen gegenüber Alter verschleiert, Alter in Unsicherheit hält. Kommunikation als Zu-verstehen-Geben, so wie es der Autor unter A.I konzipierte, resultiert, um das zu wiederholen, aus einer Wechselwirkung von drei Faktoren: Erstens beobachtet Ego Alter und sieht, dass Alter in einer spezifischen Situation (Input) etwas tut (Output). Warum Alter etwas tut, vermag Ego nicht direkt und unmittelbar zu sehen, denn Alter bleibt eine Black Box. Ego sieht aber den Input und den Output oder Teile davon, wodurch die Black Box ihm opak, semitransparent, erscheint. Der zweite Faktor ist eine vorläufige Theory of Mind, über welche Ego hinsichtlich Alter verfügt, wobei es sich wesentlich um eine Akkumulation und Integration vorangegangener Verstehens-Episoden 150
Zu einer PR- und kommunikationsethischen Interpretation der Kant’schen Ethik vgl. Bowen 2004, 2005.
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handelt. Auf Basis der vorläufigen Theory of Mind simuliert Ego, drittens, die beobachtete Episode, wobei er im Prinzip seine eigenen Routinen und Methoden anwendet. Zwar modifiziert Ego seine Denkweisen entsprechend seiner Theory of Mind des Alter, aber er bleibt notwendigerweise immer noch Ego. Am Rand zu erwähnen ist, dass der Autor mit seinem Konzept Position bezieht in einer Diskussion, die seit einiger Zeit unter ToM-Theoretikern geführt wird (für einen Überblick vgl. Sodian 2007, 51-52): Vertreter der so genannten Theory-Theory (TT) postulieren, dass Akteure andere dadurch verstehen, dass sie Theory of Minds des anderen bilden, die im Prinzip einer propositionalen, also in Sätzen verfassten, wissenschaftlichen Theorie ähneln. Theorie: Alter mag gerne Bier. Beobachtung: Er geht zum Kühlschrank, findet keines vor. Unterstellung: Vermutlich ist er traurig. Vertreter der so genannten Simulation-Theory (ST) gehen dagegen davon aus, dass Akteure andere dadurch verstehen, dass sie sich „in die Schuhe des anderen“ hineinversetzen, also den anderen in der geschilderten Art und Weise simulieren. Der Autor geht, ohne sich in die Diskussion verstricken zu wollen, davon aus, dass Simulation der präferierte Modus ist, Theoretisierung einen subsidiären Modus darstellt. Der subsidiäre Modus findet Anwendung, um unseren Verstehensbereich zu erweitern: Wir sind in der Lage, auch Menschen zu verstehen, die aufgrund einer schweren psychischen Erkrankung in einer völlig anderen „Welt“ leben – etwa, wenn wir uns ausmalen, wie es wäre, wenn man jeder Person unterstellt, dass sie einem heimlich nach dem Leben trachtet. Zwar wurde die Toleranzzone durch das interpersonal phänomenologische Denken der existentialistischen Psychiatrie (wegweisend Laing 1960; 1969; vgl. auch Giddens 1991, Kap. 2) sicherlich ausgeweitet, ein derartiges Verständnis bleibt gleichwohl „theoretischer“ als eines, welches auf echter Übernahme der Perspektive des anderen beruht. Obwohl man es im Top-Management mit dem einen oder anderen Soziopathen zu tun haben mag, bleibt für die Arbeit entscheidend, dass in sozialen Situationen gewöhnliche Menschen und die drei Faktoren Input, Output und Theory of Mind wechselseitig in Rechnung zu stellen sind – und dass die Akteure agieren, weil sie etwas wollen. Wenn A etwas von B möchte, dann muss er es unter Umständen sagen – und B verlangt dann unter Umständen eine Begründung. Aufgrund anderweitigen Wissens von B über A, „durchschaut“ B möglicherweise A jetzt etwas mehr. Ferner gilt es in Rechnung zu stellen, dass Menschen in der Regel sehr viel mehr zu verstehen geben als sie zu verstehen geben wollen, andere Menschen wiederum sehr viel mehr Bedeutung unterstellen als tatsächlich zu verstehen gegeben wurde. Dass Kommunikation gleichwohl „funktioniert“ und nicht in einem unüberblickbaren Strategiespiel erstarrt, hat zwei Gründe, wie der Autor meint. Entweder handelt es sich um eine funktional spezialisierte Kommunikation, die reduziert, routinisiert und formalisiert ist. Menschen „kommunizieren“ zwar mit dem Finanzamt, aber nicht über Gott und die Welt – das stellt man spätestens fest, wenn man einer Behörde eine menschlich verständliche, aber nicht in den Regularien und Prozederes vorgesehene Situation versucht begreiflich zu machen. Oder es handelt sich um Kommunikation in einem wechselseitig vertrauten, langjährig gewachsenen Setting, wo man einander kennt – vor allem aber, wo neben der „nackten Sprache“ andere Mechanismen der wechselseitigen Vergewisserung zur Verfügung stehen: in die Augen schauen; durch räumliche Enge erzwungene, längerfristige körperliche Nähe insbesondere in Verbindung mit harter, körperlicher Belastung („Schweiß schweißt zusammen“); die Kopräsenz in Initiationsritualen („etwas gemeinsam durchmachen“), der gemeinsame Genuss enthemmender Substanzen („in vino veritas“). Wie der Autor meint,
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vernachlässigen rein auf „Funktionssysteme“ ausgerichtete Analysen ebenjene „lebensweltliche“ Ebene, in der das einzelne Individuum gezwungen ist, mehr preiszugeben – aber eben auch mehr über die anderen erfährt. 8.3 System und Lebenswelt: Dunbars Zahl Der britische Biologe und Anthropologe Robin Dunbar (vgl. Dunbar 1993; 1996) ist bekannt geworden durch die so genannte Dunbar’sche Zahl (Dunbar’s number). Dunbar verglich das Gehirnvolumen verschiedener Säugetiere, genauer den Anteil des Neocortex am Cortex, mit der durchschnittlichen Gruppengröße, in der die Säugetiere leben. Aus dem Zusammenhang der Zahlen kalkulierte Dunbar die Gruppengröße, in der Menschen „eigentlich“ leben – zu verstehen als Größe der Lebenswelt, die Menschen zu überblicken, zu verarbeiten, zu „monitoren“ in der Lage sind. Dunbars Zahl für Homo sapiens beträgt 150, während sie im Vergleich – um zu zeigen, dass sich die Größenordnungen nicht potenzierten – für Australopithecus bei 60, für Homo habilis bei 80, für Homo erectus bei etwa 100 lag. 2003 zeigten Hill und Dunbar auf Grundlage der Versendung von Weihnachtspostkarten, dass das durchschnittliche soziale Netzwerk in westlichen Gesellschaften 124,9 Personen umfasst.151 Dunbar belegt seine Vermutung darüber hinaus mit einigen Evidenzen aus Untersuchungen anderer Arten, aber auch auf Basis anthropologisch-ethnologischer Evidenzen. Hill und Dunbar resümieren (Hill/Dunbar 2003, 54): These findings suggest that there may be a cognitive constraint on the size of social networks in those species that live in intensely social groups (as opposed to simple aggregations), perhaps because the number or volume of neocortical neurons limits an organism’s information processing capacity, and hence the number of social relationships that an individual can monitor simultaneously (Dunbar 1992, 1998; Barton and Dunbar 1997). Since the size of the human neocortex is known, the relationship between group size and neocortex size in primates can be used to predict the cognitive group size for humans. Dunbar (1993) utilized this approach to predict that humans should live in social groups of approximately 150 individuals. Evidence from the ethnological literature provides some support for this, since census data from a range of tribal and more traditional societies indicate that groups of about this size are in fact a common component of human social systems (see data collated by Dunbar 1993; see also Barrett et al. 2002).
Dunbars über die Gruppengröße hinausgehende Argumentation ist (vgl. insbesondere Dunbar 1996), dass die menschliche Sprache entstand, weil in einem Verband von 150 Menschen das gegenseitige „Kraulen“ (grooming) wie es Verbände anderer Primaten zusammenhält, nicht zu bewältigen ist: Deshalb, argumentiert Dunbar, kam es zur Entwicklung der Sprache, mit der sich mehrere Gruppenangehörige gleichzeitig „kraulen“ lassen. Sprache als „Kraulen“ („Gruscheln“, wie es im Studentennetzwerk studivz heißt) führt freilich zurück zum Kommunikationsverständnis des Autors, welches das In-dieGemeinschaft-Stellen des eigenen Bewusstseins als die wichtigste Leistung humaner Kommunikation ansieht. Gleichwohl gilt es zu sehen, dass es die Effekte und Phänomene des Lehrens sozialer Praktiken sind, dass es der „ratchet-effect“ (Tomasello) aufeinander aufbauender kulturell-zivilisatorischer Errungenschaften ist, welche den Menschen über Jahrtausende weiter und weiter von anderen Primaten entfernt hat – mit „Kraulen“ allein ist das nicht erfasst. 151
2008 veröffentlichte die weltweit führende Social Network-Plattform Facebook einige Nutzerdaten und es zeigte sich, dass der durchschnittliche User etwa 100 Freunde hat, manche haben aber bis zu 700 Freunde.
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Lebenswelt und Funktionslebenswelt Ob die Zahl bei 150 liegt, ob Dunbars Argumentation in Details stichhaltig ist, ob es um „Kraulen“ geht oder nicht – das bleibt für die vorliegende Arbeit irrelevant. Relevant ist, dass die Anzahl der Menschen, die ein einzelnes Individuum gleichzeitig „überblicken“ kann, durch die Gehirnkapazität begrenzt ist, und dass die Größenordnung im Bereich zwischen 102 und 103 liegt – mehr als 100, weniger als 1000. Es drängt sich insofern die Frage auf, ob der einzelne Mensch nicht auch heutzutage auf der Oberfläche in gewaltige, soziale Systeme integriert ist, in der Tiefenstruktur aber nach wie vor in einer sozialen Welt lebt, die ungefähr 150 „wichtige“ Menschen umfasst. Hill und Dunbar selbst werfen die Frage auf (2003, 54): „This raises the question as to whether modern, postindustrial societies also exhibit a similar pattern, with a discernible grouping of about 150 individuals embedded into the somewhat diffuse and dispersed social systems in which most of us now live.” Der Autor glaubt, dass das der Fall ist. Für die condition humaine bedeutet es: In einer modernen Gesellschaft bewegen wir uns durch ungeheure Menschenmassen, haben es mit einer ungeheuren Menge an Personen zu tun, sind integriert in diffuse, disperse, komplexe soziale Systeme – de facto leben wir aber noch immer in einer Lebenswelt, die ungefähr genauso groß ist wie die dörfliche Gemeinschaft unserer Ahnen und Urahnen. Sie ist nur anders zusammengesetzt und anders verknüpft, und sie ist integriert in ungeheuer komplexe Zusammenhänge. Wir vertrauen zwar unser Leben dem Piloten an, der das Flugzeug fliegt, aber er gehört nicht zu unserem Leben wie der Stammeshäuptling, welchem unsere Ahnen und Urahnen ihr Leben anvertrauten. In der Regel bekommen wir ihn nicht einmal zu Gesicht, diesen Piloten – und die Stimme, mit der er zu uns spricht, ist ein Paradebeispiel kühler Professionalität. Soziologen wie etwa Giddens haben das Auseinandergehen von System- und Lebenszusammenhang als eine der „Konsequenzen der Moderne“ herausgearbeitet. Und insbesondere Giddens war es, der das daraus erwachsende Bedürfnis nach vertrauensbildendem „Re-embedding“, nach lebensweltlichem Erleben des Systems, betont (vgl. 1996, 33ff.; 102ff.). Dem Autor geht es im Rahmen von Management und Kommunikationsmanagement noch um etwas anderes. Ihm geht es darum, dass die in soziale Systeme „eingebetteten“ Lebenswelten ein etwas anderes Licht auf die Postulate der modernen systemtheoretisch und kybernetischen Organisations- und Managementtheorie werfen. Denn wo moderne, systemtheoretisch inspirierte Organisations- und Managementtheorie Phänomene und Effekte der systemischen Undurchschaubarkeit betont, gilt es zu sehen, dass Führungskräfte nicht nur abstrakt in sozialen Systemen agieren und in sie intervenieren – sie leben, arbeiten, schwatzen, leiden, streiten und versöhnen sich mit Menschen, mit ihren Vorgesetzten, Mitarbeitern und Untergebenen. „Die Firma“ mag für einen außenstehenden Beobachter diffus und dispers wie Kafkas Schloss anmuten, für einen Insider ist sie es jedoch nicht oder nur teilweise – sie ist, wie es der Autor ausdrückt, eine Funktionslebenswelt. Management- und Organisationstheorien, welche stillschweigend davon ausgehen, dass man es in letzter Konsequenz doch mit Menschen zu tun hat, sind also keineswegs naiv und in Opposition zu systemischen Konzepten zu sehen. Sie sind komplementär, weil Führungskräfte ihre Fähigkeit nutzen, andere Menschen zu verstehen – auf dieser Basis managen sie. Die Fähigkeit variiert zwar von Mensch zu Mensch, aber es gibt guten Grund anzunehmen, dass erfolgreiche Manager in ausgeprägterem Maße über sie verfügen als erfolglose. Schiefenhövel (2007), der die Fähigkeit „Enphronese“ oder „mindreading“ nennt, hat anhand der primitiven Kultur der Eipo in Papua-Neuguinea festgestellt, dass es
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gerade die Anführer, ,die „Big Men“ sind, welche am ausgeprägtesten über interpersonal skills verfügen. Grooming und Monitoring Das Konzept der Funktionslebenswelt führt der Autor unter III. weiter aus. Wichtig ist, klar und deutlich herauszuarbeiten, weshalb Dunbars Zahl von so großer Bedeutung ist. Sie ist von dreifacher Bedeutung. Erstens, weil Dunbar postuliert, dass die Zahl der Personen, die ein einzelnes Individuum zu „monitoren“ vermag, begrenzt ist. Zweitens, weil Dunbar postuliert, dass die Peergroups, Cliquen, Clans oder „Old-Boys-Networks“ sich durch regelmäßiges „Kraulen“ konstituieren – das, was man heutzutage als „Networken“ apostrophiert. Geschieht das nicht regelmäßig, driftet das Individuum aus der Gruppe heraus. Drittens, und das postuliert der Autor über Dunbar hinausgehend: weil das regelmäßige Kraulen auch ein Kontrollinstrument, einen Mechanismus des Re-embedding, ein Ritual der wechselseitigen Vergewisserung darstellt. Wer dazugehören möchte, muss sich physisch und face-to-face zeigen, muss sich in die Augen sehen lassen, muss kommunizieren im engeren Sinne des Wortes, muss ein Stückchen seiner selbst der Gemeinschaft offenbaren. So angewandt wie es, salopp gesagt, von der Natur vorgesehen ist, hat Kraulen und Gekraultwerden also eine subjektive und eine objektive Seite. Subjektiv führt grooming zu einem Gefühl der Kontrolle über die Umwelt, vor allem über die bei Menschen entscheidenste, die soziale Umwelt. Der neue Vorstandsvorsitzende, der sich in einem town-hall-meeting der Belegschaft vorstellt, wirkt dadurch gleich sehr viel menschlicher. Face-to-face, dauerhaft und unter Bedingungen räumlicher Enge führt es dazu, dass man Gelegenheit erhält, den anderen kennenzulernen, ohne dass er sich hinter dem System, hinter reduzierter, routinisierter, formalisierter Kommunikation zu verstecken vermag. Das gibt die Gelegenheit, ihn zu drehen und zu wenden und die sozialen Fähigkeiten anzuwenden, über welche der Mensch in derartig erstaunlichem Maße verfügt: das In-den-anderenHineinversetzen, das Mindreading, die Enphronese. Dass der „lebensweltliche Faktor“ auch in der vermeintlich objektiv performanceorientierten Atmosphäre einer modernen Organisation eine Rolle spielt, zeigte Luthans. Luthans (vgl. Luthans 1988) differenzierte in seiner Untersuchung von 44 „real managers“ zwischen erfolgreichen und effektiven Managern. Er konnte zeigen, dass erfolgreiche Manager – definiert als Manager, die schnell in einer Organisation aufstiegen – mehr Anstrengungen unternahmen, Vorgesetzte und Entscheider zu „kraulen“. Effektive Manager – definiert als Manager, die eine objektiv überdurchschnittliche Performance auszuweisen hatten – unternahmen dagegen in der Regel mehr Anstrengungen, mit ihren Mitarbeitern zu kommunizieren. Weniger als zehn Prozent der von Luthans untersuchten Manager gehörten beiden Kategorien an, waren also erfolgreich und effektiv. Einer der erfolgreichen, schnell aufgestiegenen Manager ist mit einem Zitat vertreten: I find that the way to get ahead around here is to be friendly with the right people, both inside and outside the firm. They get tired of always talking shop, so I find a common interest – with some it’s sports, with others it’s our kids – and interact with them on that level. The other formal stuff around the office is important but I really work on this informal side and have found it pays off when promotion time rolls around. (Luthans 1988, 130)
Denkt man nicht vom Einzelnen, sondern von der Gemeinschaft her, erklärt die Fähigkeit zur Enphronese ferner, wie die Gruppe abweichendes Verhalten einzelner Gruppenmitglie-
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der erkennt, und weshalb sie Abweichler bestraft oder ausstößt. Wer sich dem zwanglosen sozialen Miteinander zu entziehen versucht, wirkt „komisch“, macht sich „verdächtig“; wer im zwanglosen Miteinander nicht zwanglos ist, hat wohl etwas zu verbergen. Wenn die Gruppe feststellt, dass das Verhalten des Abweichlers nicht durch In-ihn-Hineinversetzen zu erklären ist, ist der Abweichler unberechenbar: Er ist, wie Hamlet, verrückt. 9. Der „existenzielle Dreikampf“ des Managers: Kommunikation, Inszenierung Die Konstruktion eines Akteurs- und Lebensweltkonzeptes, welche mit 1. begonnen wurde, nähert sich ihrem Ende. Von Anfang an wurde davon ausgegangen, dass die Art und Weise, wie der Mensch sein In-der-Welt-Sein erlebt, die ist, dass er sich als ein Selbst in einer Lebenswelt erlebt. Die Lebenswelt zerfällt in verschiedene Sphären: Die eigene Innenwelt ist vor anderen verborgen; der eigene Körper ist anderen teilweise unzugänglich, teilweise zugänglich; die erlebte Außenwelt ist mit anderen geteilt; die Geisteswelt anderer ist unzugänglich, aber man glaubt, gelegentlich Einblick in die Köpfe anderer zu haben; die soziale Welt erlebt man als eine mit anderen geteilte; ebenso die generalisierte Geisteswelt; womöglich gibt es darüber hinaus sogar noch etwas wie eine objektive Geisteswelt ähnlich der Popper’schen Welt 3. Die „logische“ oder „rationale“ Handlungsplanung des Menschen fußt grundsätzlich auf mentalen Modellen (vgl. 7.), welche der Organismus sich von der Welt, von der Art und Weise, wie sie „funktioniert“ macht – welche sich Manager von der Unternehmung, ihrer Umwelt und der Funktionsweise des Geschäftes machen. Von Anfang an wurde auch die These verfolgt, dass der Mensch ein soziales Lebewesen ist, so dass die Welt der Objekte, die Außenwelt, weniger bedeutsam für den Menschen ist als die soziale, mit anderen geteilte. Eine entscheidende Fähigkeit des Menschen ist die zu sozialer Handlungsplanung, wozu eben auch die Fähigkeit gehört, zu projizieren, was die anderen denken würden, wenn man dieses oder jenes täte (vgl. 8.). Ebenjene Fähigkeit ist es, welche ein Selbst erfordert, das als „Spielfigur“ raumzeitlich konstant erlebt wird – und auch, zumindest in der Simulation anderer, aus der Perspektive anderer gesehen werden kann (vgl. 1.). Die enorme Bedeutung des sozialen Nexus bringt es mit sich, dass die Bedeutung von Dingen und Zusammenhängen in der Außenwelt eine sozial aufgeladene ist. Im Einzelfall heißt das: Wir empfinden bestimmte Objekte als „begehrenswert“, weil wir sie mit einem begehrten sozialen Status verbinden. Im übergreifenden Rahmen heißt das, dass Menschen sich über kurz oder lang in Familien, Sippen, Gemeinschaften, Gesellschaften einfügen, indem sie „Mythen“, ihre Wahrnehmungs-, Erklärungs- und Beurteilungsmuster übernehmen. Erst, wenn das bis zu einem Grad geschehen ist, fühlen sie sich zugehörig, fühlen sie sich verstanden, fühlen sie sich in einer verstandenen Welt – obwohl sie sich natürlich an dieser Welt reiben. Die Größe dieser „Welt“ ist durch die Kapazitäten des menschlichen Gehirns begrenzt, so dass selbst der Jetsetter letzten Endes in einer Welt lebt, die zwar komplexer sein mag als die eines zurückgezogenen Mönches – aber eben nicht um Potenzen komplexer, sondern um Grade. In diesem Zusammenhang ist ferner zu sehen, dass die Fähigkeit zur Aufgabe eines alten Weltbildes und zur Übernahme eines neuen zwar gegeben ist, der Prozess ist jedoch physiologisch aufwändig und ihm sind Grenzen gesetzt: Ältere Menschen, vor allem in der Vereinsamung, leben deshalb oftmals im wahrsten Sinne des Wortes „in der Vergangenheit“.
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
9.1 Der „existenzielle Dreikampf“ Da das einzelne Individuum bereits von der Veranlagung her ein soziales Individuum ist, sieht es sich mit Beginn der Entwicklung der Sozialität einem Dreifachproblem gegenüber (vgl. Abb. 62): Zum einen gilt es sicherzustellen, dass es selbst einen für sich akzeptablen Platz in der Familie, Sippe, in der Gemeinschaft „erobert“. Zum anderen gilt es sicherzustellen, dass der soziale Zusammenschluss, in welchem ein Platz erobert wurde, in sich über ein geteiltes Weltbild verfügt, in einer Lebenswelt lebt, um überhaupt zusammenzuhalten. Zum dritten muss dieses geteilte Weltbild das Überleben des sozialen Zusammenschlusses im Daseinskampf gegen die Natur und andere sozialen Gruppen gewährleisten. Die These des Autors ist (vgl. 4.), dass jedes Individuum in jenem Dreiergefüge für sich selbst eine organisch ökonomische Konstellation zu „erobern“ versucht, die zwischen „Burnout“ und „Boreout“ liegt, wobei es sich mit einer einigermaßen akzeptablen zufriedengibt („satisficing“), da auch das „Erobern“ Kraft und Mühe kostet. Die Anpassung geschieht von allen drei Seiten her, nach innen, für innen und gegenüber außen, jeweils sowohl durch Anpassung des eigenen Selbst als auch durch Verändern der Welt. Das Subjekt handelt und verändert die Welt: Es bewirbt sich bei einem Unternehmen und „erobert“ sich einen Platz in einer Ingroup. Dem Subjekt widerfährt aber auch eine Veränderung des Selbst und seiner eigenen Wahrnehmung der Welt. Als neuer Mitarbeiter einer Organisation steht das Individuum noch halb außerhalb, aber mit der Zeit beginnt es, die Mythen der Ingroup zu übernehmen (6.). Die Mythen werden zu selbstverständlichen Wahrnehmungs-, Handlungs- und Bemessungsgrundlagen – das Individuum erfährt eine Sozialisierung, die phänomenal dadurch erlebt wird, dass man „die Dinge durchschaut“, „gelassener wird“, „nicht jedes Mal das Rad neu erfinden muss“ etc. Am Ende steht ein Individuum, das den Habitus seiner Ingroup verinnerlicht hat, ein typischer PR-Praktiker oder Manager geworden ist. Dass es sich dabei nicht nur auf der äußeren Handlungsebene, sondern eben auch in der Innenwelt um einen „Kampf“ handelt, zeigen beispielsweise die Identitätsprobleme heranwachsender Menschen, etwa in der Pubertät, die ihre gesellschaftlich-gemeinschaftlich-geschlechtliche Sozialisierung phänomenal als „innere Zerrissenheit“ erleben. Dem einzelnen Individuum ist es in einer derartigen Konstellation, in die es sich ganz und gar mit seiner eigenen Person verwickelt sieht, völlig unmöglich, in jedem Fall sicher und zuverlässig zu beurteilen, was isomorphe Rekonstruktion, was adaptive Konstruktion ist. Es liegt ferner auf der Hand, dass die Frage in weiten Bereichen unseres sozialen Lebens irrelevant ist, weil unser kognitiver Apparat von der Kapazität her gar nicht in der Lage ist, die uns tangierenden Zusammenhänge isomorph zu rekonstruieren, die Welt zu sehen wie sie „ist“ (vgl. 7., 8.). Die auf der Hand liegende Schlussfolgerung berechtigt aber keineswegs zu der sehr viel weitgehenderen konstruktivistischen These, dass es deshalb gar keine objektiven Fakten im gemäßigtrealistischen Verständnis gebe, dass die Rede von isomorpher Rekonstruktion implausibel sei. Wie der Autor herausgearbeitet, ist es immer wieder möglich, Szenen geteilter Aufmerksamkeit herzustellen, so dass man „etwas“ feststellt, was kein vernünftiger Mensch im Rahmen der geteilten Lebenswelt in Zweifel ziehen würde: wie etwa, dass der Stuhl vier Beine hat (vgl. 5.). Darüber hinaus ist es immer wieder möglich, Aspekte der sozialen Welt gemeinsam festzustellen, wie etwa, dass Kollegin Soundso nicht nur auf mich einen schwierigen Eindruck macht, sondern auf jeden – so dass es unterm Strich ökonomischer und wahrer ist zu sagen, dass sie schwierig ist. Mythen stellen schließlich einen Hintergrund bereit, der es Angehörigen einer Gemeinschaft ermöglicht, sich in einer geteilten
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Geisteswelt, sei sie generalisiert („das glauben alle“), sei sie objektiviert („ein unvergängliches Zeugnis der Menschheit“), zu wähnen. Es ist demnach von grundsätzlicher Bedeutung zu begreifen, dass der Organismus, der die Person „betreibt“, nicht nach einem spezifischen und konkreten Standing strebt, sondern nach einer ökonomischen Konstellation. Insofern strebt der Buchhalter, der Buchhalter bleiben möchte, auf einer abstrakten Ebene ein und dasselbe an wie der Bereichsleiter, der sich nichts sehnlicher wünscht als einen Vorstandssessel. Für die Person, welche der Organismus erzeugt, sieht das freilich anders aus: Man wünscht sich, Buchhalter zu bleiben, um in Ruhe gelassen zu werden – weil dann alles einfacher wäre. Man wünscht sich, Vorstandsvorsitzender zu werden, weil man dann endlich die Macht hat, die richtigen Dinge richtig zu tun, unbequeme Gegner aus dem Feld zu räumen, die verdiente Anerkennung zu bekommen – weil dann alles einfacher wäre. Die ökonomische Konstellation, nach der „man“ sucht, ist also eine, die physiologisch zwischen Über- und Unterforderung liegt, mit einer relativ generösen Toleranz.
Abbildung 62: Der „existenzielle Dreikampf“ generisch (Quelle: eigene Darstellung)
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9.2 Ingroups, Outgroups und Felder in der Arbeitswelt des 21. Jahrhunderts Worum es dem Autor geht, ist im Prinzip eine einfache Erkenntnis: Dass es in höchstem Maße irreführend ist, dass Agieren in Organisationen simplizistisch unter der Prämisse zu analysieren, dass jedes Individuum im existenziellen Dreikampf nach oben drängt. Wenn, wie unter 9.3 ausgearbeitet, Inszenierungsstrategien verfolgt werden, so geschieht das unter der Prämisse, dass das Individuum einen bestimmten „Platz“ in der Ingroup sieht, den es zu erobern versucht, weil es ihn mit vertretbarem Aufwand für haltbar hält. Dem Autor geht es also um die Karriere-, Existenz- und Überlebensstrategien gesunder, erwachsener Menschen in einer „realen“ Lebenswelt, die ihre eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten womöglich etwas über- oder etwas unterschätzen, nicht aber völlig falsch einschätzen. Es geht nicht darum, wo die Akteure in ihren Träumen gerne wären.
Abbildung 63: Der „existenzielle Dreikampf“ in spätmodernen Arbeitsverhältnissen (Quelle: eigene Darstellung) Ein Bild, welches das Unternehmen als eine Ingroup zeichnet, in welchem Akteure ein Standing zu sichern versuchen, um ihr Leben lang dort zu verweilen, evtl. von Zeit zu Zeit aufzusteigen, ist freilich antiquiert – es gemahnt an den spätmittelalterlichen Handwerker, dessen Arbeits- und Privatleben gleichermaßen, dessen Kosmos die Zunft ist (vgl. Kieser/Walgenbach 2003, 4ff.). Das Bild entspricht nicht den Realitäten spätmoderner
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Arbeits- und Lebensverhältnisse, und es entspricht nicht den Realitäten des Managerberufes. Abbildung 63 fügt deshalb der Rede von Ingroups und Outgroups das Konzept der Felder hinzu, in welchen Akteure ein soziales Standing suchen. Der Begriff des Feldes ist, wie der des Habitus, an die Begriffsbildung bei Bourdieu angelehnt (vgl. A.III). Soziales Standing entspricht in etwa dem sozialen Kapital – aber die Konzepte des Autors sind sehr viel subjektivierter und simpler zu interpretieren (vgl. auch Ihlen 2009, 64-67). Abbildung 63 zeigt, dass ein Direktor Unternehmenskommunikation – selbst wenn man das Privatleben einmal außen vor lässt – nach ganz und gar verschiedenen Standings in ganz verschiedenen Feldern strebt: Gegenüber den eigenen Mitarbeitern möchte man als Führungskraft akzeptiert werden, hart aber fair; gegenüber der dominant coalition möchte man als Top-Manager akzeptiert sein, der höchsten Ansprüchen zu genügen weiß; in der Organisationssphäre ist es wichtig, als Kollege anerkannt zu sein; in der professionellen Sphäre ist es wichtig, gegenüber anderen Kommunikationsprofis als „Profi“ akzeptiert zu sein – und im journalistischen Feld ist es entscheidend, als ein verlässlicher Partner zu gelten. Abbildung 63 deutet bereits verschiedene Sachverhalte an, die der Autor erörtert. Erstens deutet die Abbildung an, dass nicht der Mensch in toto in den verschiedenen Feldern agiert, sondern eine Rolle (der schwarze Punkt) – eine Differenzierung, die die Arbeit noch beschäftigt. Zweitens zeigt die Größe des schwarzen Punktes an, dass das angestrebte oder verwirklichte Standing groß oder klein, zentral oder dezentral sein mag. Drittens vergegenwärtigt die Zeichnung, dass sich um jede Position geradezu notwendig eine Ingroup bildet, welcher wiederum Outgroups gegenüberstehen: Die Frage ist, wie der Akteur auftritt – möchte er eine zentrale Position in einer kleinen Ingroup, der viele Outgroups gegenüberstehen oder eine dezentrale in einer großen Ingroup, die den Mainstream repräsentiert. Schließlich deutet der Querverbindungspfeil an, dass Akteure in einem Feld das Standing des fokalen Akteurs in einem anderen Feld durchaus zur Kenntnis nehmen: So bildet sich die dominant coalition eine Meinung darüber, wie angesehen der Direktor Unternehmenskommunikation in einschlägigen Journalistenzirkeln ist. Das Beispiel der Querverbindung demonstriert vielerlei. Es demonstriert zuvorderst, dass im Fokus des Feldkalküls die Person als solche steht, nicht die Person als Funktionär oder Repräsentant in einem System, wie sie der Autor unter III. behandelt. Das Beispiel demonstriert ferner, dass das Standing des Akteurs in jedem einzelnen Feld von den Werten abhängt, die im Feld zugrunde gelegt werden. Insofern, wie in A.III angerissen, kehrt der Bourdieu’sche Feldbegriff sehr vereinfacht zurück – und auch der des sozialen Kapitals von Akteuren. Im journalistischen Feld etwa erarbeitet sich ein Pressesprecher, zumindest den gängigen Berufsidealen gemäß, ein Standing durch Verlässlichkeit, Aufrichtigkeit und Geschwindigkeit. Das geschieht zwar im Rahmen der Möglichkeiten, die ihm als Funktionär und Repräsentant gegeben sind, wenn er aber nicht verlässlich, aufrichtig und geschwinde ist, wird er sein Standing unter Journalisten über die Zeit verlieren – egal, ob das der Organisation geschuldet ist oder nicht. Die dritte Einsicht ist die, dass das Standing auch davon abhängt, inwiefern die agierte Rolle in Harmonie steht mit den Möglichkeiten des Autors, den demands, constraints und choices, die ihm aufgrund der anderen Felder auferlegt sind: Ein Direktor Unternehmenskommunikation mag sich sehr darum bemühen, im journalistischen Feld als „einer von uns“ akzeptiert zu werden – solange er gleichermaßen versucht, in der dominant coalition als „einer von uns“ akzeptiert zu werden, wird der Spagat an irgendeinem Punkt an Realitäten scheitern. Geschickter ist es also, die eigenen
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Rollen im einen wie im anderen Bereich bescheidener und bedarfsgerechter zu gestalten, um hier wie dort über ein höheres Maß an Manövrierraum zu verfügen. Ehe der Autor die Inszenierungsstrategien erörtert, welche die Akteure in den verschiedenen Feldern verfolgen, ist noch einmal zu betonen, dass das Standing ein persönliches ist – und dass Rollen nicht nur Formen darstellen, sondern inhaltlich zu durchdringen sind. Das Standing erarbeitet sich der Akteur für seine eigene Karriere, die in der spätmodernen Arbeitswelt und in der Arbeitswelt höherer Führungskräfte eben nicht für immer und ewig mit dem Unternehmen verknüpft ist. Insofern ist der Akteur, um zum Bourdieu’schen Begriff des Feldes und des sozialen Kapitals zurückzukehren, an der Mehrung seines eigenen Wertes interessiert: Ebenjene Rechnung aus der Gleichung zu entfernen, führt bei der Betrachtung von höheren Führungskräften in die Irre, führt zu einem Nimbus der Professionalität, der das Verständnis eher verbaut denn aufschließt. 9.3 Selbstinszenierung im „existenziellen Dreikampf“ Solange man Rollen nur als Formen betrachtet, tritt dem Betrachter das Geflecht der verschiedenen Felder als in unauflösbarer Spannung gegenüber. Die Spannung mildert sich, wenn Rollen mit Inhalten gedacht werden. Wie vermag jemand gleichzeitig der Organisation und Journalisten gegenüber loyal zu sein, die kritisch über die Organisation berichten? Die Antwort lautet: Führungskräfte, die in mehreren Feldern handeln, inszenieren sich in verschiedenen Feldern, in verschiedenen Ingroups in bestimmten Rollen, als bestimmte Personen mit bestimmten Eigenschaften – und die Konstellation ist es, wenn sie geschickt gewählt wird, welche die Spannung abmindert. Da ist ein Mensch, ließe sich sagen, der eben so ist, wie er ist: Man vertraut darauf, dass er in der konkreten Situation vertrauenswürdig ist bzw. dass man ihn schon durchschauen werde. Dem Autor steht vor Augen, dass Konzepte, welche die Selbstinszenierung des Menschen betonen, keineswegs neu sind. Bereits Erving Goffman stellte wirkmächtig fest, dass wir alle „Theaterspielen“ (Goffman 1990, 11959). Der Autor stellt die Selbstinszenierung jedoch von Anfang in einen übergreifenden Nexus, der existenziell ist – und er stellt sie von Anfang an in einen konstruktivistischen Nexus, der sich der Rede von einem „wahren Selbst“ verweigert, welches von einer privilegierten Position die Selbstinszenierung verfolgt. Dem Autor geht es nicht um die kleinen Lügen hier und dort. Es geht ihm allgemein um den Zwang, in der Gemeinschaft eine berechenbare, aber nicht völlig berechenbare Person zu „geben“. Es geht ihm bei Führungskräften speziell um den Zwang, in verschiedenen Feldern ein entsprechendes soziales Standing aufzubauen und zu erhalten: Eines, das mit dem Job (als Funktionär und Repräsentant), das aber auch mit den Standings in anderen Feldern verträglich ist. Der eigentlich entscheidende Begriff des Kommunikationsmanagements, der neben die Begriffe des Agierens, Indizierens und Kommunizierens treten muss, ist also der des Inszenierens. Inszenieren verhält sich zu Kommunizieren wie „die Umwelt verstehen“ (3.) zu „etwas von der Umwelt verstehen“ (2.). Mit Kommunikation gibt der Akteur etwas zu verstehen, mit Inszenierung gibt der Akteur sich selbst zu verstehen, und zwar in toto, vor dem Hintergrund der Umwelt. Einem Missverständnis gilt es aber von Anfang an entgegenzutreten: Von Inszenierung zu sprechen, aktiviert das Verständnis von einer gespielten Vorder- und einer echten Hinterbühne – eines, welches nicht falsch, aber auch nicht richtig ist. Die Rede von Inszenierung führt darüber hinaus in einen Machiavellismusdiskurs. Der
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machiavellistische Charakter stellt jedoch die extremste Ausprägung dar, und der als machiavellistisch perzipierte Charakter ist entweder das Opfer einer gescheiterten Inszenierung („ein mieser Typ“) oder fährt eine High-Risk-Strategie („Die ist zu allem fähig.“). Die Selbstinszenierungen von Subjekten – das sei nochmals ausdrücklich betont – sind im Zusammenhang mit den jeweiligen Dispositionen der Subjekte, vor dem Hintergrund des „existenziellen Dreikampfes“ zu sehen. Es geht um eine „ökonomische Konstellation“. Für Subjekte, die weder die Kraft noch die Fähigkeiten und entsprechend auch nicht die Neigung haben, eine höhere Position in der Gruppe anzustreben, ist es klug, als konstruktive und loyale Person verstanden zu werden: Als Gruppenmitglieder, die mehr an der Gruppe selbst und ihrer Durchsetzung nach außen interessiert sind denn an Verbesserung der eigenen Stellung, stehen sie in Machtkämpfen außen vor. Es ist erstaunlich, wie oft man in Organisationen Formulierungen wie „da bin ich leidenschaftslos“, „mir geht’s nur um die Sache“ oder „da möchte ich mich gar nicht einmischen“ hört. Ob das die Wahrheit ist oder nicht sei dahingestellt, in letzter Konsequenz handelt es sich um Inszenierungen, die eine Verwickelung des Akteurs in übergeordnete, als gefährlich angesehene Interessenkonflikte vermeiden sollen. a) Durchschauen und nicht durchschaut werden: Vorder- und Hinterbühne Der Autor deutete bereits an, dass er die Rede von einer Vorder- und einer Hinterbühne für nicht falsch, aber auch nicht richtig hält. Der Grund ist, dass es zu unserer Wahrnehmung anderer Menschen gehört, dass wir sie als teildurchschaubar, sozusagen opak, erleben. „Mit dem Lügen fängt das Denken an“, postuliert Popper in einer Passage (2004, 45ff.), in der er über die Bühler’sche Sprachphilosophie (vgl. A.I) und die Darstellungsfunktion der Sprache handelt. Ein Akteur, der begreift, dass der andere im Prinzip eine Black Box darstellt, begreift umgekehrt, dass er selbst auch für den anderen lediglich teildurchschaubar ist. Erst das, dieser entscheidende Schritt, gibt ihm die Möglichkeit, sich selbst, andere oder Dinge in der sozialen Welt bewusst und absichtsvoll zu inszenieren. Das mag mit Blick auf einen oder mehrere konkrete Akteure geschehen, es mag auch mit Blick auf die generalisierte soziale Welt geschehen, in der Regel ist der Übergang ein fließender. Akteure wollen nicht nur, dass man ihre Handlungen versteht, sondern darüber hinaus, dass man von ihren Handlungen auf ihr „wahres Wesen“ respektive auf „die Welt, wie sie wirklich ist“ schließt. Ebenjenes „wahre Wesen“, jene „Welt, wie sie wirklich ist“, ist jedoch mehr oder weniger bewusst und absichtsvoll inszeniert, um sich im „existenziellen Dreikampf“ zu behaupten. Umgekehrt geht man jedoch stillschweigend davon aus, dass man die Inszenierungen der anderen „irgendwie“ durchschaut. Vergegenwärtigt man sich Abbildung 61, dann zeigt sich die Asymmetrie: Akteur A geht erst davon aus, dass er Akteur B vollumfänglich versteht, wenn er B in toto sieht, also sowohl was Akteur B in der sozialen Welt in Szene setzt als auch was er vor der sozialen Welt verbirgt. Umgekehrt geht Akteur A jedoch davon aus, dass er von B als Person – ohne Hinter- und Vorderbühne, um den Goffman’schen Begriff zu gebrauchen – gesehen wird. Wie der Autor glaubt, gehört es fundamental zum Selbstbild des Menschen, dass er sich als partiell undurchschaubar erlebt. Systemtheoretisch gewendet ist Undurchschaubarkeit nichts anderes als Autonomie: wenn ich glauben würde, dass andere mich beliebig an der Nase herumführen können, würde ich mich nicht als eigenständige Person mit einem eigenen Willen erleben.
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b) Kommunikationserfolge und Inszenierungsverluste et vice versa Das große Problem des einzelnen Individuums ist, dass es agiert und agieren muss, weil es sich Problemen gegenüber sieht, weil es etwas in der Welt will. Jeder Akt, selbst, wenn er im Geheimen geschieht, hat jedoch eine Bedeutung – in jedem Fall für den Akteur, wie er sich hypothetisch in den Augen der anderen sieht. Selbst der unschuldigste Akt indiziert etwas, womöglich wird er aber von den anderen als Kommunizieren aufgefasst: Wir gähnen während des Fernsehens und der andere glaubt, wir wollen zu verstehen geben, dass wir den Film langweilig finden – in Wirklichkeit haben wir gegähnt, weil wir müde sind. Wenn wir tatsächlich etwas zu verstehen geben, verwirklichen wir unter Umständen unser Ziel, aber damit eng und unauflöslich verwickelt „verraten“ wir – mutmaßlich oder tatsächlich – vieles andere. Wenn das, was wir mutmaßlich oder tatsächlich „verraten“, nicht mit unserer Selbstinszenierung konform geht, bezahlen wir einen Kommunikationserfolg mit einem Inszenierungsverlust. Wenn ich mir, salopp gesagt, etwas „verkneife“, weil es etwas indizieren oder kommunizieren würde, was meiner Selbstinszenierung widerspricht, liegt die umgekehrte Konstellation vor. Es ist verführerisch, von Inszenierungsakten ähnlich wie von Kommunikationsakten zu sprechen. Der Autor vermeidet es, weil im Kommunikationsbegriff Wechselseitigkeit angelegt ist, im Inszenierungsbegriff nicht: Um Kommunikation zu verstehen, muss ich auch verstehen, dass jemand mit mir kommuniziert – jemand kann sich mir gegenüber aber umso besser in Szene setzen, je weniger mir sein In-Szene-Setzen aufgeht. Der Begriff der Inszenierung als ein übergeordnetes, höheres Kalkül gestattet es jedoch, den Kommunikationsbegriff, den Begriff des Zu-verstehen-Gebens in einen größeren Zusammenhang zu stellen und schärfer und tiefer zu fassen. Um die Terminologie einfach zu halten, unterscheidet der Autor zwischen Kommunikation im engeren (ieS) und Kommunikation im weiteren Sinne (iwS), erweitert damit die Ausführungen unter A.I: Unter Kommunikation ieS versteht der Autor senderseitig jeden Kommunikationsakt, der auf die Fähigkeit des Menschen zurückgreift, Einblick in sein Innenleben, seine Gedanken, Gefühle, Überzeugungen, Wünsche, Erwartungen und Erwartungserwartungen etc. zu geben. Empfängerseitig sind entsprechende Bedeutungsunterstellungen zu sehen: Man empfindet, dass der Kommunikator die Kluft überwindet, „zwischenmenschlichen“ Kontakt herstellt, einen Blick in die Black Box gewährt. Kommunikation iwS bezieht dagegen das Zu-verstehen-Geben auf die „geteilte“ Außenwelt, die soziale Welt, die generalisierte oder objektive Geisteswelt. In der tagtäglichen, lebenspraktischen Kommunikation sind die Akte nicht zu separieren, die analytische Separation zeigt jedoch einiges auf. Denn durch gezielten Einblick in seine Innenwelt, sei es z. B. sein Kenntnisstand oder seine Beweggründe, vermag der Akteur sich selbst sehr viel größere Inszenierungsspielräume zu verschaffen bzw. vermag zu gewährleisten, dass seine Aktionen so interpretiert werden und nicht anders (vgl. auch das Konzept der funktionalen Transparenz, das Szyszka ins Feld führt, gedrängt etwa in Szyszka 2008b, 171ff.; 2009, 145ff.). Das Problem ist ja, dass menschliche Handlungen oftmals so oder anders interpretierbar sind, dass sie in Abhängigkeit von den Motiven des Akteurs diese oder jene Bedeutung haben könnten. Dann ist der Akteur gezwungen, komplementär zu seinem Agieren im engeren Sinne zu kommunizieren – das heißt, seine Geisteswelt, z. B. seine Beweggründe in die Gemeinschaft zu stellen. Erst die Verschränkung von Aktion, Kommunikation iwS und Kommunikation ieS, sei es synchron oder asynchron, gewährleistet die Inszenierung, um die es eigentlich geht.
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c) Perspektivität, Selektivität, Konstruktivität revisited – der „Realitätskorridor“ Die Differenzierung zwischen Kommunikationserfolgen und Inszenierungsverlusten et vice versa löst die theoretische Problematik des Realitätsbezuges pragmatisch auf – was freilich nicht heißt, dass sie eine praktische Formel für die Frage liefert, ob etwas Lüge oder Wahrheit war. Bereits von Anfang wurde Benteles Gedanke (2008) verfolgt: dass menschliche Wahrnehmung zwar selektiv, perspektivisch und konstruktiv ist, aber nicht in einem beliebigen Spielraum – es existiert ein „Realitätskorridor“. Gesteht man das fundamentale Postulat zu, dann zeigt sich, dass Wahrheit und Lüge ein subjektives Kalkül darstellen, welches sich in einer wechselseitigen Vorwegnahme der Erwartungen und Erwartungserwartungen von Sender und Empfänger vor dem Hintergrund eines Faktenrahmens konstituiert. Dass Vertreter eines missverstandenen Konstruktivismus die Rede von Wahrheit, Objektivität oder Fakten negieren, wird mit einem Mal pragmatisch irrelevant. Dass Realismus und Konstruktivismus ohnehin nicht simpel diametral kontrastierbar sind, argumentierte der Autor bereits unter 5. aus. Das subjektive Kalkül der Akteure sieht nach Ansicht des Autors wie folgt aus: Der Ausgangspunkt ist, dass Ego ein Problem hat und Alter zu etwas veranlassen möchte. Um ein einfaches Beispiel zu wählen: Ego möchte, dass Alter die Küche aufräumt. Er sagt also: „Diesmal räumst du das Durcheinander in der Küche auf.“ Die Überlegung, die hinter Egos Kommunikationsakt steckt, ist vermutlich die, dass die Küche ein Durcheinander ist, dass er immer die Küche aufräumt, dass es fair wäre, wenn jetzt einmal Alter die Küche aufräumte. Welche Antworten stehen Alter abseits von „Ja“ und „Nein“ und Nonsens zur Verfügung? Alter mag antworten: (1) „Wieso? Die Küche ist doch gar nicht durcheinander.“, (2) „Wieso ich? Das letzte Mal habe ich die Küche aufgeräumt.“ (3) „Wieso? Das ist deine Wohnung, nicht meine.“ Dem Autor geht es nicht darum, Diskurse zu analysieren. Dem Autor geht es darum, dass Ego die Erfahrung macht, dass seine Konstruktion der Situation durch Alter grundsätzlich hinterfragbar ist. Alter könnte die Situation in der Küche anders konstruieren: Die Küche ist nicht durcheinander. Alter könnte eine andere Wahrnehmung davon haben, wer das letzte Mal, wer überhaupt häufiger die Küche aufräumt. Alter, die zwar mit Ego lebt, aber eine eigene Wohnung hat, könnte eine völlig andere Perspektive hinsichtlich der Frage aufwerfen, wer für die Küche „zuständig“ ist. Die Frage, wer Recht oder Unrecht hat, stellt sich freilich: denn irgendjemand hat die Küche das letzte Mal, das vorletzte Mal etc. aufgeräumt. Für die Argumentation des Autors ist aber entscheidend, dass Ego und vermutlich auch Alter jetzt ins Zweifeln geraten. Wie sie ins Zweifeln geraten, hängt maßgeblich davon ab, mit welchen Überlegungen sie das Gespräch begonnen haben, wovon sie überzeugt sind – und wovon sie überzeugt sind, dass der andere davon überzeugt ist. Nehmen wir an, Ego habe einfach versucht, Alter dazu zu bringen, die Küche aufzuräumen: Wer das letzte Mal die Küche aufgeräumt hat, hat er gar nicht durchdacht. Nehmen wir ferner an, Alter entgegnet, sie habe letztes Mal die Küche aufgeräumt – also (2). Nehmen wir überdies an, dass Ego sich jetzt daran erinnert, dass es tatsächlich Alter war, die gestern aufräumte. Die Überlegung, die sich für Ego stellt, ist dann, ob er weiter versuchen sollte, einen Kommunikationserfolg herbeizuführen oder ob er auf einen Inszenierungser-
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
folg umschwenken sollte. Er könnte im Prinzip entgegnen, dass das doch gar nicht stimme, er habe gestern die Küche aufgeräumt. Als erwachsener Mensch weiß Ego, dass Alter nicht in ihn hineinzusehen vermag und dass sie ihm, bis zu einem Punkt, eine verzerrte Wahrnehmung zugesteht. Aber eben bis zu einem Punkt, und nicht darüber hinaus. Was Ego vermeiden möchte, ist jedoch, dass Alter ihn am Ende für ganz und gar zerstreut oder für einen Lügner hält. Mit ihrer Äußerung, sie habe die Küche gestern aufgeräumt, hat Alter nämlich zu verstehen geben, dass sie klar und eindeutig weiß, was gestern war: ihr „Realitätskorridor“, was das Faktum des Küche-Aufräumens gestern betrifft, ist sehr schmal. Es versteht sich von selbst, dass sich das Problem potenziert, wenn Ego wirklich davon überzeugt ist, dass er gestern die Küche aufgeräumt hat. Die Debatte ist aber insofern nicht beliebig, weil dann die Frage zu beantworten wäre, wie es dazu kommt: Jemand muss es gewesen sein und wie gelangt Ego zu der völlig irrigen Überzeugung, dass er es war? Ist er verrückt? Wie unter 5. ausgearbeitet ist es durchaus möglich, dass sich die Wirklichkeitswahrnehmungen von zwei Akteuren drastisch voneinander entfernen – es ist aber genauso möglich, durch drastische Einengung gemeinsame, geteilte Aufmerksamkeit herzustellen und auf Sachverhalte auszurichten, die an sich nicht unterschiedlich wahrgenommen werden. Inszenierung und Kommunikation stehen sich also insofern gegenüber, wenn Akteure die Spielräume des „Realitätskorridors“ ausnutzen und vergessen, dass nicht ihr Realitätskorridor relevant ist. Man mag glauben, dass man mit einer „geschönten“ Darstellung der Wirklichkeit durchkommt – entscheidend ist aber der „Realitätskorridor“ des anderen, und noch sehr viel entscheidender ist, was sich der andere angesichts einer Darstellung denkt, die er als geschönt, in der Grauzone des Korridors, erkennt. Das Problem ist, dass man sich, sobald man den „Realitätskorridor“ des anderen verlässt, Spekulationen darüber aussetzt, welche Motive man selbst verfolgt, was für ein Charakter man ist – man gerät in ein Inszenierungsrisiko. Der Versuch, Spielräume des „Korridors“ des anderen auszunutzen, ist riskant, weil man die Spielräume nicht kennt – man kennt nur die eigenen. Das Ironische der Situation ist, dass naiver Rekurs auf den vermeintlichen festen Boden der Wahrheit die Konstellation nicht auflöst. Auch wenn Ego simpel und naiv das kommuniziert, was er eben simpel und naiv für „die Wahrheit“ hält – auch dann, das ist unvermeidbar, wird sich Alter Gedanken darüber machen, was Ego für einer ist. Eine paradoxe Situation entsteht, wenn Ego den „Realitätskorridor“, die spezifische Selektivität, Perspektivität und Konstruktivität der Alter sehr genau kennt und sehr genau weiß, dass die Wahrheit geradezu ein Gegenbild ihrer selbst kreiert. Das beste Beispiel ist die Militärhistorie, die wie keine andere eine Geschichte der Propaganda des Siegers ist: Die griechische Geschichtsschreibung setzte die Lügengeschichte in die Welt, dass 300 Spartaner bei den Thermopylen ein Millionenheer des Darius zurückgehalten, dass kleine griechische Heere bei Marathon und in der Seeschlacht von Salamis Millionenheere des Xerxes geschlagen hatten (de facto handelt es sich um ca. 20 000 Soldaten). Das erzeugte den Mythos von der Überlegenheit der „freien“ Kulturvölker, welcher in der römischen Welt fortgeschrieben wurde (vgl. Delbrück GdK Ia, Ib). Julius Caesar erfocht unzweifelhaft große Siege gegen die Gallier und andere „barbarische“ Völker, aber die Zahlenverhältnisse (wenig Legionäre, viele Barbaren), die er in seinen Berichten nach Hause meldete und in seinem Werk über den gallischen Krieg verewigte, sind grotesk übertrieben: Der Grund ist der, dass sich der Diskurs in der römischen Hauptstadt soweit von der Realität entfernt hatte, dass die „wahren“ Zahlen nicht als glorreicher, sondern eher als magerer Sieg, womöglich sogar als Nie-
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derlage verstanden worden wären. Caesar kannte die tatsächlichen Zahlenverhältnisse zweifellos, und an einigen Stellen nennt er sie auch – aber an seiner Legende strickend, zog er es vor, den richtigen Eindruck zu kreieren anstatt die richtigen Daten zu referieren. d) Innen und Außen, Inszenierung und Authentizität Zu einer differenzierten Darstellung gehört ein weiterer Aspekt: Eine Darstellung, die sich selbst inszenierende Akteure postuliert, die ernsthaft und aufrichtig glauben, dass niemand ihre Inszenierung als Inszenierung durchschaut, mutet naiv an. Kocks (2007) polemisiert zu Recht gegen Theoretisierungen, die Nichtdurchschaubarkeit blauäugig zum Qualitätskriterium authentischer Inszenierung stilisieren (gedrängt Bentele/Nothhaft 2008a, 470-472). De facto ist die Konstellation differenzierter. Sie ist zu fassen mit Hilfe der Transparenz- und Opazitätsmetaphorik sowie der Unterscheidung zwischen den drei Ebenen Individuum in der Ingroup, Ingroup in sich, Outgroup. Nach außen, gegenüber anderen Gruppen, zielt die Inszenierung von Akteuren tatsächlich auf eine Inszenierung, die möglichst wenig als Inszenierung, möglichst viel als Repräsentation verstanden wird: Der Akteur möge als Akteur, nicht als Inszenierung erlebt werden, die Inszenierung möge transparent, unsichtbar, sein. Nach innen sieht die Situation anders aus, denn hier möchte der Akteur zwei Dinge zeigen: erstens, dass er in der Lage ist, nach außen hin zu repräsentieren, auch wenn das inszeniert ist; zweitens, dass er nach innen vertrauenswürdig, ehrlich und berechenbar ist. Am stärksten tritt der Zusammenhang bei Spitzenpolitikern zutage, weil der Spreizschritt am größten ist. Natürlich möchte die Bevölkerung nach innen keine skrupellose Machiavellistin als Bundeskanzlerin, die mit Blick auf schieren Machterhalt Substanz durch „Show“, genuine Kompetenz durch raffinierte Inszenierung ersetzt. Nach außen möchte die Bevölkerung jedoch sehr wohl eine Bundeskanzlerin, die in der Lage ist, gegenüber Quertreibern „die Kanzlerin zu geben“ oder „der EU die Zähne zu zeigen“. Sogar der Durchschnittsbürger sieht in derartigen Fällen mehr oder weniger die Inszeniertheit durchschimmern und stellt die Frage, wie gut oder schlecht sie ist – die Inszenierung steht demnach genauso im Fokus wie die Situation, sie ist opak. Eine öffentliche Person ist also sowohl, je nach Perspektive, als außen wie auch als innen anzusehen. Wenn wir sie als innen wahrnehmen, fragen wir uns: „Können wir ihr trauen?“ Wenn wir sie als außen wahrnehmen, fragen wir uns: „Trauen wir ihr zu, dass sie unsere Interessen geschickt vertritt?“ Die Situation verkompliziert sich, wenn man nicht ein singuläres Außen und Innen annimmt, sondern den Akteur in einer Konstellation verschiedener Felder agierend rekonstruiert. Sobald sich die Grenzen zwischen Innen und Außen verwischen, emergiert ein anderes Phänomen: die Wahrnehmung und Beurteilung von Authentizität. Denn nicht immer verfügen andere Akteure, welche A beobachten, über zweifelsfreies Wissen darüber, ob sie hinsichtlich A innen oder außen sind oder ob das überhaupt, wie etwa bei Entertainern, eine Rolle spielt. Eine Person, bei der der Eindruck entsteht, dass man als Beobachter innen ist, erlebt man daher als authentisch; wenn das nicht der Fall ist, erlebt man sie als gekünstelt oder unecht. Ohne das belegen zu wollen, wagt der Autor aus der Theorie heraus die Vermutung, dass einer der stärksten Indikatoren für Authentizität die Wahrnehmung von Fehlern und Schwächen ist, die man selbst als diese Person – das ist der Rekurs auf die Simulationstheorie – verborgen hätte. Der Autor möchte das Konzept der Inszenierung nicht verabsolutieren. Vermutlich gibt es Menschen, die sich selbst nicht bewusst oder die sich lediglich halbbewusst inszenieren.
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
Vieles, was wir tun, indiziert unsere innere Verfassung, unsere Erwartungen und Erwartungserwartungen – aber wir kommunizieren sie nicht unsererseits. Unser Gegenüber sieht das aber unter Umständen anders. Er glaubt womöglich, wir kommunizierten etwas in einer bewussten, gerichteten Handlung, während in Wirklichkeit etwas mit uns geschieht, was als Verhalten etwas über uns „verrät“. Für Management und Kommunikationsmanagement von Belang ist die grundsätzliche Möglichkeit der Kommunikation und der Inszenierung. Ferner ist zu betonen, dass das skizzierte Konzept niemals über das subjektive Erleben eines fokalen Akteurs hinausgeht: Was es bedeutet, dass A den Akteur B wirklich versteht, berührt das Konzept nicht. Subjektiv hat A das Gefühl, B mehr oder weniger zu verstehen, und wenn er wieder und wieder in der Lage ist, Bs Verhalten vorherzusagen, dann wird sich das Gefühl weiter und weiter verfestigen; wenn nicht, verflüchtigt es sich nach und nach. Die Theoretiker der Theory of Mind gehen jedoch davon aus, dass der Mensch vergleichsweise gut dafür ausgestattet ist, seine Zeitgenossen zu durchschauen. Das gilt erstens für das normale, unstrategische Miteinander; es gilt zum zweiten sogar noch für strategische Situationen des gegenseitigen „Austricksens“; es führt aber drittens zu der Konsequenz, dass einzelne Individuen mit herausragender Begabung sich die Tatsache zunutze machen, dass die anderen auf Fähigkeiten vertrauen, die in 99 Prozent der Fälle ausreichen. Das ist natürlich von besonderer Bedeutung, wenn die Entität, um die es sich dreht, gar keine Person ist, sondern eine Organisation.
II. Systemtheoretisches Zwischenspiel
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Das System und Systeme: Systemtheoretisch-kybernetisches Zwischenspiel
Wie bereits angerissen, versteht sich die Arbeit des Autors nicht als rein systemtheoretische Rekonstruktion, sondern sieht Systemtheorie und Kybernetik als Erkenntnismodelle, die mit der Rede von einer Lebenswelt kontrastiert werden müssen. Genauer: Die Arbeit gebraucht systemisches Denken, um Phänomene und Effekte herauszuarbeiten, welche unser alltägliches, lebensweltliches Handeln in komplexen sozialen Systemen prägen, ohne dass wir die Prägung jederzeit bewusst erleben. Es geht also um Zusammenhänge, welche wir ohne systemisches Denken nicht oder nur inadäquat verstehen würden. Wie das geschieht, und wie sich systemisches Denken von einer Systemtheorie etwa Luhmann’scher Prägung unterscheidet, arbeitet der Autor in diesem Zwischenspiel auf. Systemisches Denken, aber nicht systemisches Dogma Systemisches Denken steht in Opposition zu verdinglichendem, objektfixiertem, undynamischem Denken. Die große Leistung des systemischen Denkens ist, dass es Dynamiken wechselseitiger Abhängigkeiten modellierbar macht. Ein Beispiel: Um zu entscheiden, wie man mit dem Auto von Leipzig nach Frankfurt gelangt, benötigt man zunächst, auf der basalsten Ebene, eine Straßenkarte als Modell der bestehenden Verbindungen. Um zu entscheiden, wie man am schnellsten von Leipzig nach Frankfurt gelangt, benötigt man darüber hinaus, auf der ersten systemischen Ebene, ein Modell des Straßenverkehrs, welches verstopften Autobahnen und schleichenden LKWs auf Landstraßen Rechnung trägt. Ebenjenes Modell des Straßenverkehrs setzt aber darauf auf, und das ist die zweite Ebene, dass andere Akteure genauso wie man selbst darüber nachdenken, wie sie am schnellsten, bequemsten, spritsparendsten von A nach B gelangen: manchmal ist die Autobahn mirakulöserweise frei, weil viele Akteure von der Annahme ausgingen, sie sei verstopft. Dass es auf der dritten Ebene Kommunikation ist, via Verkehrsfunk im Radio, die bösartige, dysfunktionale Effekte zu entzerren vermag, sei am Rande erwähnt. Der Sinn und Zweck systemischen Denkens bleibt also der, lebenspraktische Probleme zu lösen. Wo systemische Entwürfe einzelner Autoren lebenspraktische Problemlösung eher dogmatisch verdüstern denn pragmatisch erhellen; wo sie empirische Forschung erschweren oder gar entleeren, sind sie demnach einer gestrengen Plausibilitätsprüfung zu unterziehen. Um es also vorwegzunehmen: Der Autor versteht unter Systemtheorie gerade nicht die Luhmann’sche, welche im deutschsprachigen Raum geradezu zum Synonym für Systemtheorie in toto geworden zu sein scheint. Er verweigert sich ihr, weil er sie als auf einer zu hohen Abstraktionsebene angesiedelt sieht, und weil sie empirischer Forschung die Fundierung eher abgräbt denn bietet. Das sieht auch Raabe, der sich mit der gleichen theoretischen Fundierungsfrage wie der Autor befasst, einer Theorie beobachtbarer Akteure, jedoch auf den Journalismus bezogen. Nach eingehender kritischer Würdigung verschiedener systemtheoretischer Konzepte gelangt er zu der Schlussfolgerung: Es hat sich gezeigt, dass sich für die empirische Forschungsarbeit Schwierigkeiten ergeben, wenn eine Theoriekonstruktion gewählt wird, die alles unter einer zentralen Funktion subsumieren möchte und da-
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt mit alle funktionalen Beziehungen ausblendet, die sich innerhalb des Journalismus, also in den dauerhaften Beziehungen der beteiligten individuellen oder kollektiven Akteure wechselseitig ergeben. (Raabe 2005, 140)
Aus ähnlichen Gründen entwickelt Zerfaß seine Theorie der Unternehmenskommunikation sehenden Auges ohne Luhmann, bemängelt an der Luhmann’schen Theoriebildung und ihrer Anwendung in PR-Lehre und Journalistik, dass sie zu „deskriptiver Resignation“ führe, dass die Ausblendung des Akteurs, die Negierung kompetenten sozialen Agierens und Kommunizierens mehr Probleme aufwirft als löst: „Offenbar hat sich das wissenschaftliche Sprachspiel in der systemtheoretischen Forschung soweit verselbständigt, dass es ihm an der notwendigen ‚Anschlussfähigkeit’ zur Praxis mangelt“ (2004, 142f.). Systemisches Denken und konstruktivistisches Denken: Eine brisante Kombination Eine weitere Warnung: Systemisches Denken in sozialen Zusammenhängen, wie es von Autoren wie etwa Simon, Baecker oder Willke vertreten wird, ist nicht losgelöst zu sehen von konstruktivistischem Denken. Gerade in der Kombination Systemtheorie plus Konstruktivismus ist es aber von Bedeutung, den per se bereits abstrakten Systemterminus nicht zu verabsolutieren und in ein Sprachspiel abzugleiten, in welchem alles in beliebig skalierbarer Art und Weise zum System deklariert wird. Dass der Konstruktivismus mit der Systemtheorie auftrat, führte nach Ansicht des Autors zu einigen Unschärfen und Missverständlichkeiten. Für die Kommunikations- und Medienwissenschaft mit ihrer Tendenz zu Theorieimport – und erst recht für die zwischen den Disziplinen aufgehängte PRLehre – führte die Kombination zu regelrechter Verwirrung. Der Konstruktivismus in Verbindung mit der Systemtheorie und ihrer Kunstsprache brachte eine pseudonaturwissenschaftliche Terminologie hervor, welche die sozial-, geisteswissenschaftliche oder verhaltenswissenschaftliche Theoriebildung eher erschwerte denn erleichterte. Raabe, der sich auch mit konstruktivistischen Theorieangeboten in der Journalistik auseinandersetzt, gelangt nach kritischer Durchsicht zum Ergebnis, dass die konstruktivistische Theorie über ihr Ziel hinausschießt, wenn sie soziale Systeme wie Organisationen und Institutionen (wie „den Journalismus“ oder „die PR“) als Systeme analog der Kognition versteht: Erstens meint sie, hinsichtlich der institutionellen und organisatorischen Zusammenhänge der monofunktionalistischen Systemtheorie folgen zu müssen, nur weil die operative Geschlossenheit des kognitiven Apparates des Menschen als epistemologischer Startpunkt ihrer Theorie weitgehende Analogien zu der Luhmannschen Konzeption autopoietischer Sozialsysteme aufweist, die sich vor allem durch den gemeinsamen Rekurs auf die Arbeiten von Varela und Maturana zur Autopoiesis biologischer Systeme ergeben. (Raabe 2005, 141)
Auch Raabes zweite Schlussfolgerung ist interessant und folgenreich: Ihre zweite hinsichtlich ihrer Verwendbarkeit für die Sozialforschung möglicherweise folgenschwerere Schwierigkeit ist jedoch, dass die Argumentation des konstruktivistischen Ansatzes auf der Konzeption psychischer Systeme bzw. Kognitionssysteme aufbauend eine rein kognitionstheoretische Konstruktion anbietet, mithin Aussagen über (psychische) Beobachtungen bzw. Beobachtungskonstruktionen trifft, nicht aber über soziales Handeln. Darüber hilft auch die pragmatische Transformation des Konstrukts ‚Kognitionssystem’ in die eines ‚Akteurs’ als zu beobachtendem Handelnden hinweg, fehlt diesem ‚prinzipiell autonom’ konstruierten Akteur doch bereits in der theoretischen Konstruktion alles, was ihn als Handelnden in der sozialen Praxis auszeichnet. (Raabe 2005, 142f.)
II. Systemtheoretisches Zwischenspiel
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Zu Raabes erstem Einwand ist zu sagen, dass der Autor genau wie Raabe keinen vernünftigen Grund sieht, soziale Systeme in völlig analoger Art und Weise als operativ geschlossen, selbstreferenziell oder autopoietisch anzusehen, wie es das kognitive System des Menschen angeblich (auch hier ist Vorsicht geboten!) ist. Die Ausführungen werden zeigen, dass derartigen Konzeptionen ein in der Kommunikations- und Medienwissenschaft verabsolutiertes Systemkonzept zugrunde liegt: vermutlich tatsächlich – Raabe ist beizupflichten – der Luhmann’schen Theorietradition und einer simplifizierten Luhmann-Rezeption geschuldet. Zu Raabes zweitem Einwand ist zu sagen, dass er ebenjenen Dreh trifft, der von konstruktivistischen Angeboten versucht wird, wenn sie den Menschen vermeintlich elegant als kognitives System zu erklären suchen (vgl. etwa Maturana/Varela 1982, 39). Konsequenter ist es, den Menschen als einen Organismus zu rekonstruieren, der, wie alle anderen Organismen auch, über ein kognitives Subsystem verfügt. Dass der Mensch über höhere, reflektierende Bewusstseinsfunktionen verfügt, die es ihm gestatten, sein Organismus-Sein zu beobachten, ändert an der basalen Konstellation zunächst einmal nichts: Das kognitive System des Menschen steht genauso im Dienst des Organismus wie das bei Amöben, Bienen, Fliegen und Schimpansen der Fall ist. Entscheidend in der Theoriebildung ist jedoch der Schritt, der darauf folgt: nämlich das kognitive System des Menschen zugrunde zu legen, und nicht das irgendeines beliebigen intelligenten oder psychischen Systems. 1. System, Umwelt, Beobachter Ähnlich wie bereits unter I. setzt der Autor die wichtigsten Begriffe, um die Erörterung abzukürzen. Die Darstellung hebt dabei insbesondere auf den Begriff des offenen und geschlossenen Systems, den der Umwelt und des Beobachters ab. 1.1 System Was ist ein System? Sobald man sich an einer Annäherung versucht, stellt man fest, dass sich eine saubere, abschließende Definition des Systembegriffes schwierig gestaltet, genauso wie eine Definition der komplementären Vokabel Umwelt, sowie der anderen genannten Konzepte, Kontrolle und Komplexität. Eine ganze Reihe wesentlicher Probleme, die mit der adäquaten Definition von System gegenüber Umwelt einhergehen, lassen sich jedoch ausräumen, wenn man zugesteht, dass der Systembegriff ein Erkenntnismodell darstellt, welches stillschweigend etwas postuliert, was es hinter den Manifestationen zu erkennen gilt. Der Autor tritt einer Verdinglichung des Systemkonzepts also von vornherein entgegen: Systeme „wirken“ oder „greifen“, sie existieren aber ontisch nicht in derselben Art und Weise wie physisch-materielle Objekte, Materie, Energie – selbst dann nicht, wenn man die Rede von „Dingen dort draußen“ konstruktivistisch wendet. Der Unterschied ist nach Ansicht des Autors, dass der Mensch Relationen, Zusammenhänge, nicht genauso perzipiert wie Objekte, Dinge. Der Systembegriff der General Systems Theory: Das World-Model Wenn man durch ein Landschaftsschutzgebiet schlendert, sieht man nicht ein Ökosystem, sondern Wasser, Algen, Gräser, Schilf, Fische, Vögel, Sonnenschein. Man sieht, wenn man ein geschulter Beobachter ist, Ursachen und Wirkungen. Man sieht etwa Vögel, die Fische fangen. Möchte man jedoch verstehen, weshalb die Verhältnisse in ebenjenem Landschaft-
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
sschutzgebiet über Jahre und Jahrzehnte in einem stabilen Fließgleichgewicht geblieben sind, die Vögel sich nicht unbegrenzt vermehrt haben, dann ist es sinnvoll, nach Zusammenhängen zu fragen. Das gelingt, wenn man die Ursache-Wirkungs-Frage vorwärts und rückwärts ausdehnt: Die Vögel fressen die Fische. Aber was fressen die Fische und wer frisst die Vögel? Durch Beobachtung lassen sich Zusammenhänge identifizieren und modellieren. Das ist ein Beispiel für die so genannte Beutetier-Beute-Regulation, die bereits in derartig primitiven, bivariaten Konstellationen interessante Dynamiken zeigt (vgl. etwa Willke 2005b, 61ff.). Auf dieser Stufe, systemische Modellierung, wenn auch multivariat, steht auch das allgemein bekannte World-Model der World Dynamics Group und des Club of Rome, welches der Systemtheorie und Kybernetik große Aufmerksamkeit bescherte (vgl. Forrester 1971; 1974). Abbildung 64 zeigt, dass es eine Reihe von Variablen in Zusammenhänge setzte, wie etwa Bevölkerungszahl, Anzahl der natürlichen Ressourcen, Grad der Umweltverschmutzung, Qualität des Lebens etc.
Abbildung 64: Das World-Dynamics-Model (Quelle: Forrester 1974, 216) Der (techno-)kybernetische Systembegriff: Der Thermostat Etwas einfacher zu verstehen ist der kybernetische Systembegriff, wie ihn Norbert Wiener (1948) ausgearbeitet hat. Kybernetische Systeme sind durch Rückkoppelungsschleifen, Feedback Loops gekennzeichnet, im Prinzip nichts anderes als wechselseitige Zusammenhänge. Was auch immer es sonst tut, ein kybernetisches System operiert mit Informationen über sich selbst. Beispiele, in der vorliegenden Arbeit ausgiebig erörtert, sind der Thermostat und der Tempomat. Der Thermostat verfügt sowohl über einen Temperaturfühler (Detektor) als auch über einen Kühl- oder Heizmechanismus (Effektor), der Tempomat ist sowohl an den Tachometer als auch den Motor gekoppelt: der Zusammenhang zwischen Detektor und Effektor ist, wie in der biologischen Systemtheorie, wechselseitig, weil der
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Effektor die Steuergröße beeinflusst, die der Detektor misst. Bereits hier ist es plausibel, davon zu reden, dass die Signale in Detektor und Effektor eine Bedeutung haben, die Bedeutung resultiert aber aus nichts anderem als der Konstruktion, wie sie sich der Konstrukteur gedacht hat. Kausalität und Zusammenhang Mit der Modellierung eines Systems, sowohl in Kybernetik als auch in der allgemeinen Systemtheorie, geht also die Annahme einher, dass bestimmte Elemente in bestimmten, wechselseitigen Zusammenhängen stehen, mit anderen jedoch nicht, schwach oder anders. Von einem System zu sprechen, heißt also, eine Theorie über wechselseitige Zusammenhänge in der Welt aufstellen, wobei es sich oftmals um lange und verwickelte Ketten der Wechselseitigkeit handelt – Abbildung 64 deutet das an, obwohl das World Model verglichen mit modernen Modellierungen, etwa in der Logistik, simpel anmutet. Kausalität zu postulieren heißt im Gegensatz dazu, eine Theorie über einen nicht-wechselseitigen Zusammenhang aufzustellen. In der Physik hat sich das Kausalitätsmodell, welches Ursache und Wirkung strikt unterscheidet, lange Zeit sehr gut bewährt. Bei der Untersuchung komplexerer Zusammenhänge, z. B. in der Biologie, ist es jedoch zu simpel. Biologische Zusammenhänge sind, wie allgemein bekannt, der Ursprung und Wurzel der Systemlehre, die als General Systems Theory auf Ludwig von Bertalanffy (1968) zurückgeht. Physik und Biologie sind jedoch nicht, und das ist ein häufiges Missverständnis, als verschiedene Welten zu entzweien: Es gilt, dass sich das System im Prinzip aus kausalen, nichtwechselseitigen Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen zusammensetzt, es erschöpft sich aber nicht in ihnen. „Der Vogel frisst den Fisch“ ist genauso ein einseitiger UrsacheWirkungs-Zusammenhang wie die Reduktion der natürlichen Rohstoffe um eine Einheit im World-Model. Der kausale Akt erhält im Rahmen des Systems respektive der systemischen Modellierung jedoch eine Bedeutung, und zwar insofern, als er sich in mehr oder minder spezifizierbarer Art und Weise auf das System von Produzenten-Konsumenten-Destruenten insgesamt auswirkt. Bei der Diskussion um die „Erklärungslücke“ zwischen Neuronen und Synapsen einerseits (vgl. D.I.1), Sinn und Bedeutung andererseits, tauchte ebenjenes Problem bereits auf. 1.2 System und Umwelt Beute-Beutetier-Regulation und das World-Model stehen demnach auf der ersten Ebene der systemischen Modellierung. Eine Stufe höher, auf der Metaebene, lässt sich ferner eine Theorie formulieren, über welche abstrakten Funktionen ein System neben Durchsatz, also Input-Throughput-Output, verfügen muss, um sich auf Dauer gegenüber einer wechselnden Umwelt selbst zu erhalten. Auf jener Metaebene sind Theorien wie Talcott Parsons’ AGILSchema oder Stafford Beers Viable Systems Model angesiedelt, die freilich nur etwas über einen spezifischen Typ von Systemen, soziale Systeme, aussagen. Was bei der Auseinandersetzung mit Systemen wie Gesellschaften (Parsons) oder Unternehmen (Beer) gelegentlich in Vergessenheit gerät, ist jedoch, dass die Grenzziehung zwischen System und Umwelt nicht per se selbstevident ist. Bei kybernetischen Systemen gerät die System-/UmweltProblematik in Vergessenheit, weil es sich oft, jedoch nicht notwendigerweise, um technische, menschengemachte Systeme handelt: Norbert Wiener etwa, der den Begriff Kybernetik prägte, wenn auch nicht erfand oder als erster verwandte, verantwortete während des
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Zweiten Weltkrieges die Konstruktion radargesteuerter Flugabwehrgeschütze: Wo man die Grenze eines technischen Systems zieht, ist in der Regel evident. Auch bei biologischen Systemen gerät die System-/Umwelt-Differenz manchmal in Vergessenheit, weil die Natur eine Entität angelegt hat: Eine Zelle oder einen Organismus als System gegenüber der Umwelt abzugrenzen, mutet unproblematisch an – man sieht die Zellmembran unter dem Mikroskop, den Organismus als Entität. Schon problematischer ist die Abgrenzung eines biologisch-ökologischen Systems, wie etwa einem Landschaftsschutzgebiet. „Wo ist z. B. die Grenze eines Sees?“, fragt Hejl (2008, 129): „Ist es der Rand der Wasseroberfläche? Müssen wir einen Streifen des angrenzenden Landes einbeziehen und, falls ja, wie viel?“ Ebenjenes Problem der Abgrenzung macht die Untersuchung räumlich abgegrenzter Ökosysteme, sei es eine einsame Insel, ein vergessenes Tal oder der Tümpel in der Autobahnabfahrt, zu einem beliebten Forschungsfeld. Am allerproblematischsten gestaltet sich die System-/Umwelt-Abgrenzung schließlich bei sozialen Systemen. Giddens hebt das hervor, wenn er von Gesellschaften als sozialen Systemen handelt und in der Strukturationstheorie die Systemtheorie angreift: Es ist von einiger Bedeutung, an dieser Stelle noch einmal hervorzuheben, dass der Begriff ‚soziales System’ nicht so verstanden werden darf, als bezeichne er allein solche Zusammenballungen sozialer Beziehungen, deren Grenzen klar von denen anderer abgehoben sind. Der Grad von ‚Systemhaftigkeit’ ist sehr variabel. ‚Soziales System’ war ein Lieblingsbegriff von Funktionalisten, die kaum je die organischen Analogien vollständig aufgegeben haben, und von Systemtheoretikern, denen entweder physikalische Systeme oder eben auch irgendwelche biologischen Systeme vor Augen gestanden haben. (Giddens 1995, 218)
Ein Unternehmen als ein soziales System zu rekonstruieren, wie es die St. Galler Managementschule vorschlug und heute gang und gäbe ist, wirft natürlich die Frage auf, wo die Grenze zwischen innen und außen zu ziehen ist: Weshalb, ließe sich fragen, ist der in der inneren Emigration residierende Mitarbeiter Element des Systems, der motivierte und engagierte Vertreter eines Zuliefererbetriebes, der in-house den roll-out der gerade implementierten Software verantwortet, jedoch nicht? Das ist ein Problem, das gerade die Metatheorien über Systeme problematisch macht: Entweder man zieht die Grenze abstrakt, etwa über einen Code, wie das Luhmann tut, so dass man ein sauber definiertes System hat – dann aber ist die Erklärungskraft gering. „Ein derartiges System ist wie das, was von einem Netz übrig bleibt, wenn man alle Knoten herausschneidet“, kritisiert Hejl (2008, 132), durchaus mit Luhmann im Blick. Oder man zieht die Grenze konkret, anhand empirischer Kriterien – dann ist die Gefahr groß, dass man nicht ein System erklärt, sondern ein Artefakt. Man erklärt ein Unternehmen, wie es vielleicht vor fünfzig oder hundert Jahren existierte, nicht aber die Realität offener, in Netzwerke, Allianzen und Joint-Ventures integrierter Unternehmen des 21. Jahrhunderts. ABSS: Actor-based Social Simulation Das Dilemma, das es zu lösen gilt, ist also die System-/Umwelt-Differenz. Ein Ansatz, das Problem zu umgehen, besteht darin, das System nicht als Landkarte zu zeichnen, sondern wie ein Spiel anzulegen. Das heißt, dass die Zusammenhänge nicht in toto gezeichnet werden wie beim World-Model, sondern dass viele verschiedene, einzelne Akteure simuliert werden. Der terminus technicus lautet actor-based social simulation (vgl. für einen Überblick Macy/Willer 2002). In der Einleitung deutete der Autor dies bereits an, als er zwischen statischen Landkarten als Abbildungen bestehender Verbindungen und dynamischen
II. Systemtheoretisches Zwischenspiel
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Modellen des Straßenverkehrs unterschied. Wie die Arbeit unter 2. zeigt, sind derartige Modellierungen dem Autor sympathisch, jedoch gilt es von Anfang an zu sehen, dass es sich auch hier um Modellierungen handelt. Es handelt sich genauso um Modelle, wie es sich beim World-Model oder bei der Beute-Beutetier-Regulation um Modelle handelt. Die Modellierung ist jetzt allerdings in der Entscheidungslogik des singulären Akteurs verortet. Im Prinzip handelt es sich hier um den „cognitive turn“, wie ihn der Autor in Mintzbergs Nussschalen-Modell sieht: Anstatt die Welt außen, um den Akteur herum anzulegen, wird sie in ihm angelegt. Die entscheidende Frage bleibt, weshalb der Autor gerade so denkt wie er denkt, dieses als Problem sieht, jenes aber nicht. Das Problem löst sich nicht grundsätzlich auf, wenn man lernfähige Akteure simuliert, denn wieder stellt sich die Frage, weshalb der Akteur aus dieser Situation jenes lernt, aus jener Situation dieses. Gelänge es, ein perfektes Modell des Menschen als Akteur zu entwickeln, wäre das Ergebnis eine Simulation, die genauso komplex ist wie die Welt.
Abbildung 65: Konventionell-systemische Modellierung und akteursbasierte Modellierung (Quelle: eigene Darstellung, basierend auf Long/Hazleton 1987) Der Nachteil akteursbasierter Modellierung ist, dass sie in sich, als Modellierung, sehr viel komplexere Fragestellungen aufwirft. Um das pragmatische Problem auf den Punkt zu bringen: Es ist sehr viel schwieriger zu beurteilen, ob die Modellierung plausibel ist, weil sich Implausibilitäten mit der Zahl der simulierten Akteure potenzieren. Sieht man Long und Hazletons (1987) systemisch-kybernetischen Entwurf in Abbildung 65 links an, genügt ein Blick, um zu sehen, ob man die Rekonstruktion des Spannungsfeldes, in welchem Kommunikationsmanagement agiert, für überzeugend hält. Die Rekonstruktion auf der rechten Seite von Abbildung 65 ist im Prinzip die gleiche, aber ob man sie für plausibel hält oder nicht hängt von der Modellierung der sozialen Akteure, der kleinen Kreise ab. Der Vorteil akteursbasierter sozialer Simulation ist freilich, gerade mit Blick auf soziologische und Managementfragestellungen, dass Phänomene aufgedeckt werden, die in konventionelle Modelle bereits von vorneherein als Prämissen eingehen. Phänomene der Selbstorganisation sind nicht aufzudecken, wenn eine Organisationsstruktur im Modell angelegt ist, evo-
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lutionäre und revolutionäre Prozesse und Dynamiken, die Wirkung und Wechselwirkung von Innovationen etc. verschwinden, wenn Akteure nicht lernfähig sind. 1.3 System und Beobachter Der Autor möchte Versuche vermeiden, die Grenze zwischen System und Umwelt strikt aus dem System heraus zu erklären, obwohl es einige verführerische Formeln gäbe: Etwa die, ein soziales System konstituiere sich aus Elementen, die glauben, Element des sozialen Systems zu sein. Aber Versuche, Systeme strikt aus sich selbst heraus zu erklären, tragen nicht der Tatsache Rechnung, dass das Systemkonzept, wie erwähnt, ein Erkenntnismodell ist. Erkenntnismodelle werden aber von Beobachtern formuliert, welche mit ihnen ein spezifisches, optimalerweise definiertes Erkenntnisinteresse verfolgen. Jay Forresters WorldModel ist nicht die Welt, wiewohl es einige globale Zusammenhänge in einer Art und Weise aufzeigte – erklärte –, die man ohne ein Modellieren der Welt als System nicht aufgezeigt hätte. Willke schreibt über sein Verständnis komplexer sozialer Systeme entsprechend: Kernpunkt dieses Verständnisses ist, dass ein komplexes System nicht durchschaut, entschlüsselt, entdeckt oder gar objektiv wissenschaftlich geklärt werden kann. Immer handelt es sich bei solchen Bemühungen um subjektive Rekonstruktionen, um Arbeitsmodelle, welche für bestimmte Zwecke und Absichten mehr oder weniger brauchbar sein können. (Willke 2005b, 61)
Dass das System als solches „wirkt“ oder „greift“, nimmt der Beobachter also an, er „entdeckt“ es aber nicht oder legt es frei, sondern er baut es in seinem Arbeitsmodell nach. Das heißt auch, dass das System niemals an sich beobachtbar ist, sondern nur die Wirkungen und Auswirkungen. Simon, ein weiterer pragmatischer Luhmann-Interpret, stellt entsprechend fest: „Deswegen empfiehlt es sich, bei allen empirischen Fragestellungen auf die Ebene direkt beobachtbarer Phänomene zurückzugehen: die beteiligten Akteure und ihre Verhaltensweisen.“ (Simon 2007b, 76). Ohne einen Beobachter mit einem spezifischen, definierten Erkenntnisinteresse von einem System zu sprechen, stellt eine Verdinglichung des Systemkonzepts dar: man verwechselt die Landkarte mit der Landschaft. Dass nicht nur Wissenschaftler, sondern auch Manager und Praktiker heute wie selbstverständlich von Systemen und systemischen Zusammenhängen sprechen, als handle es sich um Stühle und Tische, ist eines der vielen Kennzeichen der Giddens’schen Reflexivität der Moderne, der Soziologisierung unseres Alltagslebens. Systemisches Denken ist freilich zu begrüßen. Nicht zu begrüßen ist die Reifizierung (gegen Vorwürfe der Reifizierung gegenüber „seiner“ Systemtheorie vgl. Luhmann 1987, 242-245). Von Systemen als Dingen zu sprechen, ist ähnlich heikel wie zu postulieren, ein Unternehmen habe eine Strategie wie es Kupferrollen im Lager hat. Mintzberg, Ahlstrand und Lampel bemerken: „It has to be realized that every strategy, like every theory, is a simplification that necessarily distorts reality. Strategies and theories are not reality themselves, only representations (or abstractions) of reality in the minds of people. No one has ever touched or seen a strategy. (Mintzberg/Ahlstrand/Lampel 1998, 17)
Die Frage des Beobachters Die Verdinglichung von Systemen ist also irreführend. Genauso irreführend ist jedoch das Postulat, dass der Beobachter nur systemimmanente Operationen oder theoretische Kriteri-
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en oder gar nur ein einziges theoretisches Kriterium heranziehen darf, um zu entscheiden, was System ist und was Umwelt. Das entspricht der Abstrahierung des Systems, bis es nichts anderes erklärt, als seine eigene Existenz. Konsequenter ist es, wie der Autor glaubt, einen Beobachter mit einer spezifischen Frage zu postulieren, die mehr oder minder abstrakt sein mag, aber über die Frage hinausgeht, wo ein System denn anfange und wo es aufhöre. Erst danach gilt es, beobachtbare Sachverhalte in einen Zusammenhang zu setzen. Insofern ist sich der Autor einig mit Hejl, der mit Blick auf die Schwierigkeiten der Grenzziehung bei sozialen Systemen formuliert: Der beste Weg, diese Schwierigkeiten zu überwinden, dürfte darin bestehen, die Suche nach ‚natürlichen’ Grenzen aufzugeben und innerhalb der Möglichkeiten der wissenschaftlichen Methode im konstruktivistischen Verständnis zu verbleiben. Dies heißt, dass wir das System so definieren müssen, dass alle die Komponenten berücksichtigt werden, die erkennbar an der Erzeugung der Phänomene beteiligt sind, die wir erklären wollen. Der Angelpunkt der Grenzen eines sozialen Systems ist demnach das zu erklärende Problem, das ein Beobachter (bzw. eine Beobachtergemeinschaft) ausgewählt hat. (Hejl 2008, 129)
Den Beobachter zu betonen, ihn und sein Erkenntnisinteresse als unverzichtbaren, wenn auch gelegentlich stillschweigend anzunehmenden Bestandteil der Rede über Systeme vorauszusetzen, ist freilich nicht neu. Die Beobachterproblematik ist eine fundamentale Frage, ja es handelt sich um die philosophisch-erkenntnistheoretische Frage in anderem Gewande. Der Beobachter figuriert genauso prominent in der Heisenberg’schen Unschärferelation, wie er in Heinz von Foersters Kybernetik II. Ordnung figuriert; er zieht sich durch das Werk George Spencer-Browns („Beobachterdilemma“), welches für Luhmann und seinen Schüler Baecker prägend ist, um nur einige zu nennen. Gleichwohl gilt es zu sehen, dass der Autor einen falsifizierbaren Beobachter postuliert, einen Theoretiker – sei es ein Alltagstheoretiker, ein professioneller oder ein wissenschaftlicher. Deshalb auch der Rekurs auf den Strategiebegriff bei Mintzberg, Ahlstrand und Lampel, denn Strategien sind Theorien. Um zum Beispiel des Unternehmens zurückzukehren: Wenn man ein Unternehmen als soziales System zu verstehen sucht, ist es zunächst plausibel anzunehmen, auf der payroll des Unternehmens stehende Akteure als Systemelemente, nicht auf der Gehaltsliste stehende als Umwelt anzusehen. Das kann sich als falsch entpuppen und dazu führen, dass die systemische Rekonstruktion nicht beschreibt, erklärt und vorhersagt, was geschieht: Etwa, wenn es sich um eine Organisation handelt, die nicht autonom agiert, sondern einer mächtigen, verborgenen Interessengruppe ausgeliefert ist, die der Beobachter nicht „auf der Rechnung“ hatte. Sobald der Beobachter die mächtige, verborgene Interessengruppe wahrnimmt, bietet sich ihm die Möglichkeit, sie in seine systemische Modellierung zu integrieren: und zwar entweder als Systemelement, rückgekoppelt; oder als bloßer, nicht-rückgekoppelter Input-Faktor, als Umwelt. Das Beispiel zeigt, dass moderne Stakeholder-Konzeptionen der Unternehmung im Prinzip nichts anderes sind als Modellierungen, welche das System Unternehmung weiter und umfassender zeichnen als es Alltagssprache und Rechtsprechung tun. Dem Beobachter, der die systemische Modellierung benötigt, um ein Forschungsproblem zu fassen, drängt sich jedoch immer wieder die gleiche Frage auf: Ist es plausibel, diesen oder jenen Stakeholder als Systemelement in einem wechselseitigen Verhältnis mit anderem Systemelementen im System zu zeichnen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass es in unserem System Elemente gibt, die Schnittstellen, Interaktionspunkte oder, um den Maturana’schen Begriff zu gebrauchen, „strukturelle Koppelungen“ mit diesem oder jenem
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Stakeholder aufweisen? Das ist ein gewaltiger Unterschied. Und zwar ist der Unterschied nicht deshalb gewaltig, weil derartig offen gezeichnete Systeme sich immer mehr von der plausiblen Verwendung des Wortes Unternehmen entfernen. Der Unterschied ist gewaltig, weil jedes weitere zum System gehörende Element wiederum in allen plausiblen wechselseitigen Abhängigkeiten zu zeichnen ist: Gehört der in-house arbeitende Systemberater zum sozialen System Unternehmen, dann gehört bald auch die IT-Beratung, bei der er arbeitet, dazu. Insofern ist jeder „Dreh“, alles aus dem System zu entfernen, auch den Menschen, als ein theoretisch genialer Federstrich zu sehen, weil er diese schwierigen Probleme beseitigt – praktisch stellt er jedoch eine Entleerung dar. 2. Terminologische Präzisierung: Offene vs. geschlossene Systeme Systemtheoretisches und kybernetisches Gedankengut ist in den Sozialwissenschaften mittlerweile gang und gäbe; am wirkmächtigsten war sicherlich Luhmanns Werk, insbesondere „Soziale Systeme“. Gerade für die Managementlehre ist aber auch die St. Galler Schule (insbesondere Ulrich/Krieg 1974) zu sehen, welche ihrerseits auf die Managementkybernetik Stafford Beers (1959, 1972) zurückgeht. Hand in Hand mit verbreiteter Anwendung geht jedoch immer auch lockere. Wie der Autor glaubt, hat das dazu geführt, dass systemtheoretisch-kybernetische Termini oftmals vage und metaphorisch angewandt wurden, ohne das zu deklarieren. Das berührt insbesondere die Rede von offenen vs. geschlossenen Systemen. Da das Konzept in der weiteren Theorieentwicklung und in der Diskussion systemischer Begriffe wie Selbsterzeugung, Selbsterhaltung und Selbstbezüglichkeit sowie bei der Idee von der Selbststeuerung eine Rolle spielt, expliziert der Autor sein eigenes Verständnis. Wie schon in der Debatte um Realismus vs. Konstruktivismus geht es nicht darum, einzelnen Autoren Inkonsequenz nachzuweisen; die Diskussion alternativer Konzepte anderer Autoren hält sich also in Grenzen. Energetische und funktionale Geschlossenheit Wenn von der Unterscheidung zwischen Offenheit vs. Geschlossenheit die Rede ist, gilt es zunächst zwischen energetischer oder auch materialer Offenheit respektive Geschlossenheit einerseits, funktionaler andererseits zu unterscheiden. Energetisch-materiell geschlossene Systeme sind für die weitere Theorieentwicklung nicht von besonderem Interesse. Es handelt sich etwa um Gase in geschlossenen Zylindern, wie sie die Physiker des 19. Jahrhunderts in Auseinandersetzung mit der Thermodynamik theoretisch-experimentell annahmen, um zu der Idee der Entropie als primitivstem systemischen Gleichgewichtszustand zu gelangen. Willke (2005b, 31) betont nachdrücklich, dass de facto kein System energetischmateriell geschlossen, also autark ist, dass jedes System Energie oder Materie aufnimmt oder abgibt, in welcher Form und Gestalt auch immer (vgl. sehr viel polemischer gegen die soziologische Systemtheorie Bühl 2003, 2-3). Das menschliche Nervensystem beispielsweise setzt ungeheure Mengen an Stoffwechselenergie um. Offene und geschlossene Systeme: Fernseher und Gehirne Für die weitere Theorieentwicklung ist das Konzept der funktionalen Offenheit vs. Geschlossenheit auszubuchstabieren, weil die funktional-informationelle Perspektive ambivalent ist. Die Ambivalenz lässt sich an einem Beispiel vergegenwärtigen. Wie jeder weiß, hat der Fernseher zwei Kabel. Über das Stromkabel nimmt er Energie auf, die er als Strahlung
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und Wärme wieder abgibt, so dass es sich mit Sicherheit nicht um ein energetisch geschlossenes System handelt. Über das Antennenkabel nimmt der Fernseher Signale auf. Als funktional geschlossenes System ließe sich der Fernseher verstehen, wenn man betont, dass der Fernseher formaliter, also funktional, nur diese Signale „versteht“ und sonst nichts – genauso, um des Systemtheoretikers liebstes Beispiel zu gebrauchen, wie im Gehirn nur feuernde Neuronen „verstanden“ werden. Der Code des Fernsehers sind elektrische Signale. Der Fernseher ließe sich jedoch auch umgekehrt als offenes System verstehen, wenn man betont, dass materialiter im Fernseher nichts anderes geschieht, als dass die empfangenen Signale in ein Bild umgewandelt werden. Was die Funktion des Fernsehers anbelangt, geschieht im Fernseher nichts, was von Relevanz wäre. Die Ambivalenz steckt in der Beobachterperspektive, in der Rede davon, dass der Fernseher nur Fernsehsignale versteht respektive dass im Fernseher nichts von Relevanz geschieht. Die erste Perspektive unterstellt Geschlossenheit und entsprechend, dass es eine „Außenseite“ und ein „Innenleben“ des Fernsehers gibt; die zweite Perspektive unterstellt einzig und allein einen Fernseher (ausführlich zur Logik der Luhmann’schen Systemtheorie Dieckmann 2004, Kap. 5, 6; äußerst kritisch Bühl 2003, 6-7).
Abbildung 66: Ordnung, Zweck, Sinn, Wille (Quelle: eigene Darstellung) Der Autor glaubt, dass sich hinter der Unterscheidung offen vs. geschlossen die grundsätzliche Tatsache verbirgt, dass Menschen Systeme einschließlich ihrer selbst jeweils aus zwei Perspektiven beobachten, aus der Perspektive des Systems und aus einer höheren Perspek-
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tive, die das System mit einem „Innenleben“ und einer „Außenhülle“ (System-/UmweltDifferenz) versieht (vgl. grundsätzlich Willke 2005a, Kap 3; 2005b, Kap. 2; Diekmann 2004, Kap. 6.1). Welche Perspektiven der Autor sieht, vergegenwärtigt Abbildung 66: nämlich Ordnung, Zweck, Sinn und Wille. Der Fernseher ist zunächst einmal als auf der Zweckebene angesiedelt zu sehen, denn es handelt sich um eine Maschine, die von Menschen zu einem Zweck gebaut wurde. Verbleibt man auf der Zweckebene ist die Rede angebracht, dass der Fernseher nur Fernsehsignale verarbeitet, genauso wie das Gehirn nur nervöse Erregung. Wechselt man die Ebene, dann gelangt man jedoch ins Innenleben des Systems – und es ist plausibel anzunehmen, dass aus der Perspektive von Sinn, Bedeutung, Verstehen nichts von Relevanz im Fernseher geschieht. Aus der Perspektive ist es mit einem Mal abwegig, den Fernseher mit dem menschlichen Gehirn zu vergleichen. Um es mit Heinz von Foersters wirkungsmächtiger Unterscheidung auszudrücken (Foerster 2008, 59ff.): Aus jener Perspektive ist der Fernseher, wie die meisten Maschinen, ein triviales System; der Output hängt ausschließlich vom Input ab. Der Mensch, so von Foerster, ist im Gegensatz ein nicht-triviales System; der Output hängt einerseits vom Input, andererseits aber auch von seinem Zustand zum Zeitpunkt t ab, der von außen nicht zu ergründen ist. Die Frage ist, weshalb sich das so und nicht anders verhält. Des Systemtheoretikers liebstes Beispiel Dass Abbildung 66 sehr viel mit Management- und PR-Fragestellungen zu tun hat, liegt, wie der Autor glaubt, auf der Hand; er möchte jedoch zunächst beim Gehirn verweilen. Auf der physisch-materiellen Ebene ist das Gehirn eine Ansammlung von Nervenzellen mit einer bestimmten Topographie, die vor- und nachgeburtlich ausreift (vgl. Roth 2003, Kap. 11; Tomasello 2006, Kap. 3). Die Systemebene ist also das organische Gehirn, das Funktionsprinzip ist Anordnung und Verschaltung, Struktur. An sich ist die Topographie eine Topographie, aber im nächsthöheren systemischen Zusammenhang kommt den verschiedenen Arealen ein Zweck zu. Der Homunculus, welcher die verschiedenen Areale der sensorischen und motorischen Projektionen des Körpers in ihrer Disproportionalität illustriert, ist allgemein bekannt (gedrängt dargestellt in Hejl 2008, 118-127). Die Systemebene ist nicht das organische Gehirn, sondern die Kognition, welche sensorischen Input und motorischen Output mit einschließt; das Funktionsprinzip ist kurzfristige neuronale Aktivität, langfristig Veränderung von Verschaltung. Kognition als Prozessieren der respektive einer Umwelt geschieht bei primitivsten Lebewesen genauso wie beim Menschen, ja die von Norbert Wiener entwickelten radargesteuerten Flakbatterien können genauso als kognizierend angesehen werden. Wir als Menschen verstehen unter genuiner Kognition jedoch bevorzugt eine, die mit Erleben einhergeht, sprechen von Verstehen, von Sinn und Bedeutung. Verstehen, Sinn und Bedeutung setzt jedoch Bewusstsein voraus, die nächsthöhere Systemebene, auf der ein Selbst auftaucht, welches über einen Willen verfügt. Die Ebene des Bewusstseins ist nach Ansicht des Autors die höchste, dem Menschen zugängliche, unser Selbst scheint uns unhintergehbar bzw. wir hintergehen es unter Rekurs auf ein verabsolutiertes, höheres Wesen. Probleme entstehen, wie der Autor glaubt, wenn man das menschliche Gehirn undifferenziert als geschlossenes System rekonstruiert, ohne zu definieren auf welcher Ebene das geschieht. Wenn man das Gehirn als eine Ansammlung von Neuronen ansieht und fragt, wie dort Sinneswahrnehmungen verarbeitet werden, gelangt man selbstverständlich zu der Schlussfolgerung, dass sie gar nicht hineingelangen, dass das System operativ geschlossen
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ist. Es zeigt sich, wie entscheidend die Perspektive des Beobachters und die Grenzziehung ist. Denn die Rede davon, dass das menschliche Gehirn ein geschlossenes System ist, weil es nur neuronale Signale verarbeitet wie der Fernseher nur elektrische, stützt sich auf die organischen Grenzen des Gehirns. Sie ist nicht zu verwechseln mit der Rede von der menschlichen Kognition. Dem Autor geht es nicht darum, die Rede von offen vs. geschlossen als überflüssig zu etikettieren, sondern zu präzisieren. Wenn man sie präzisiert, gelangt man zu einer Fragestellung, die nicht offene und geschlossene Systeme diskutiert, sondern wie offen vs. geschlossen ein System ist. Schätzungen der Gehirnforschung gehen davon, dass im Cortex, der Großhirnrinde, dem Sitz des Bewusstseins, ungefähr 50 Milliarden Neuronen, zu finden sind (vgl. Roth 2003, 224; Schüz 2000; Hofman 2000). Ihnen gegenüber stehen etwa 100 Millionen ein- und auslaufende Fasern. Auf eine afferente oder efferente Nervenfaser, einen Input oder Output also, kommen demnach rund fünf Millionen intracortikale, im System miteinander interagierende Neuronen. Entscheidend ist dabei gar nicht einmal die Anzahl der Neuronen, sondern die Anzahl der Verknüpfungen: Sie liegt gegenwärtigen Schätzungen zufolge in der Größenordnung von 500 Billionen. Hier, glaubt der Autor, ist ein berechtigter Vergleich zu ziehen (ähnlich Hejl 2008, 119-121): Die Rede davon, dass die menschliche Kognition ein geschlossenes System darstellt, ist nicht als abstraktes Postulat zu lesen dahingehend, dass wir in unserer eigenen Welt leben, „Gehirne im Tank“ sind. Es ist in letzter Konsequenz, mit der gebührenden Vorsicht, ein empirisches Postulat: dass das Verhältnis von Throughput einerseits, Input und Output andererseits im menschlichen Gehirn extrem ist. Wie der Autor auf einer Beobachterperspektive pochend, führt Roth (2003, 225) folgendes Gedankenexperiment ins Feld: Nehmen wir einmal an, superintelligente und uns daher hoffnungslos überlegene außerirdische Wesen mit Gehirnen, die von den unseren radikal verschieden sind, würden auf die Erde kommen und unser Gehirn und seine Leistungen genau untersuchen. Natürlich haben sie keinen direkten Begriff von unserem Denken und Fühlen, so, wie dies uns gegenüber einer Stubenfliege geht. Diese Superwesen würden nach eingehendem Studium des menschlichen Cortex zu dem Schluss kommen, dass sich dieses System aufgrund einer hochgradigen Binnenverdrahtung im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt. Reize bzw. Informationen dringen – so wird von ihnen festgestellt – zwar von außen in das System hinein und Erregungen verlassen es, aber dieser Effekt ist verschwindend klein gegenüber dem internen Geschehen. Die außerirdischen Hirnforscher werden daraus ein hohes Maß an Selbststeuerung (Autonomie) ableiten. Sie werden vorhersagen können, dass sich in diesem Cortex eine eigene Vorstellungswelt aufbauen wird, die für den externen Beobachter mit den Geschehnissen außerhalb des Cortex irgendwie lose zusammenhängt.
3. Sinn und Unsinn der systemischen Perspektive Die vergleichsweise ausführliche Auseinandersetzung mit dem Systembegriff geschah aus drei Gründen: Erstens wollte der Autor unmissverständlich herausarbeiten, dass er systemisch-kybernetisches Denken in Anwendung bringt, sich aber nicht dem Dogma einer Systemtheorie, insbesondere nicht der Luhmann’schen bzw. der der Luhmann-Exegeten unterwirft. Zweitens wollte der Autor einige ausgewählte Begriffe klären, ja entmystifizieren, welche seiner Meinung nach in der kommunikations- und medienwissenschaftlichen Theoriebildung und in der Management- und PR-Lehre nicht immer zielführend angewandt wurden. Drittens ging es darum anzudeuten, welche Aspekte des systemischen und kybernetischen Denkens angewandt werden – und warum. Der Autor hält die systemisch-kybernetische Perspektive für wertvoll und wichtig. Sie ist es, weil sie drei Erkenntnisse in sich birgt: Die erste Erkenntnis drückt sich in der viel-
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strapazierten Rede davon aus, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile (vgl. Willke 2005a, 129-158): Aus der Vernetzung von 50 Milliarden Neuronen in der Großhirnrinde resultiert nicht lediglich ein kompliziertes neuronales Interagieren, sondern es emergiert etwas völlig anderes – Sinn, Bewusstsein, Wille. Die zweite Erkenntnis besteht in der Unterstellung, dass derartige Zusammenhänge in verschiedenen Gegenstandsbereichen ähnlichen Regeln und Gesetzen folgen. Aus der Vernetzung von tausenden und abertausenden von Menschen emergiert eine Organisation, die genauso wenig oder genauso viel auf ihre Mitarbeiter zurückführbar ist wie Bewusstsein auf Neuronen. Die dritte Erkenntnis ist die, dass die „wahren“, wirkenden, greifenden Operationen eines Systems für einen Beobachter, sei er im System oder außerhalb, sehr bald unverständlich werden: Das System wird, jeweils für den Beobachter, der die Manifestationen des Systems beobachtet, komplex. Es verhält sich eigendynamisch. Manchmal organisiert es sich selbst mehr, scheint es, als es von außen oder oben organisiert wird. Das gilt schon für das System Mensch, den eigenen Organismus, der Umwelteinflüsse nicht nur bewusst, sondern auch vorbewusst und unbewusst verarbeitet. Verstörung, Beunruhigung und Sorge über Misserfolge, Fehleinschätzungen und Täuschungen wirken sich beim Menschen in schwer prognostizierbarer, überraschend disproportionaler Art und Weise aus. Für soziale Systeme gilt das in Potenz. Organisationen sind in der Lage, sich selbst respektive ihre „Mitglieder“ und ihre „Führung“ derartig dramatisch zu überraschen (lesenswert Baecker 2003, 18-40), dass die Geschehnisse aus der Retrospektive heraus geradezu unfassbar erscheinen (lesenswert die Rekonstruktion der Kooperation der psychiatrischen Ärzteschaft in der RassenhygienePolitik der Nationalsozialisten, vgl. Wilmanns/Hohendorf 2007). Die Auseinandersetzung geschah im Rahmen der übergreifenden theoretischen Fundierung der Arbeit, welche dem Konzept der Lebenswelt das Konzept des Systems gegenüberstellt. Der Systembegriff ist dabei ambivalent. Zum einen bezeichnet das System eine nicht direkt und unmittelbar erfahrbare, demnach niemals lebensweltliche Ebene, auf der nichtsdestotrotz „reale“ Zusammenhänge wirken: Insofern ist „das System“ das moderne wissenschaftliche Äquivalent zur „Götterwelt“. Zum anderen, in einer erkenntnis- respektive wissenschaftstheoretischen Wendung, verweist das Konzept auf eine Erkenntnisebene, auf der das epistemische Subjekt Mensch die Welt in einer bestimmten Art und Weise durchdringt, als ein faktischer oder hypothetischer Beobachter II. Ordnung nämlich, um ebenjenes, der direkten und unmittelbaren Erfahrung entzogene „System“ zu verstehen: Das mag wissenschaftlich, mit Hilfe wissenschaftlicher Methoden geschehen. Das mag alltagspraktisch, mit Hilfe von „Alltagsexperimenten“ oder „Probierbewegungen“ geschehen. Ein Mensch, der sich in einer feindseligen Umwelt wähnt, könnte ausprobieren, seinen Kollegen von sich aus freundlicher und mit einem Lächeln zu begegnen – und stellt evtl. fest, dass ein großer Teil der wie selbstverständlich als Feindseligkeit erlebten Reaktionen seiner Kollegen „Resultat“ seiner eigenen Unfreundlichkeit darstellten. Das Beispiel zeigt, wie sich System (respektive Systeme) und Lebenswelt durchdringen, wie systemisches Denken und Handeln unser eigenes Verständnis der Zusammenhänge „wie sie wirklich wirken“ ausweitet. System und Lebenswelt sind also zwei Seiten ein und derselben Medaille, so wie das Verständnis eines Autos als Gebrauchsgegenstand einerseits, als Maschine andererseits zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Das Beispiel zeigt auch, wie einfache systemische Zusammenhänge in das Verständnis der Lebenswelt übernommen werden, in unsere Alltagsrede übergehen. Das bedeutet, dass Systeme in ihrem „Verhalten“ nicht prinzipiell lebensweltlich unverständlich sind: Man nimmt
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sie nur nicht direkt und unmittelbar wahr, wie man Stühle und anderen Personen wahrnimmt. Es gibt kleine, niedrigkomplexe soziale Systeme, die die Partizipanten weitestgehend verstehen, für ganz und gar banal halten. Es gibt aber auch kleine, hochkomplexe soziale Systeme, welche die Beteiligten nicht mehr verstehen, welche aus ihrer Sicht eine unverständliche Eigendynamik entwickelt haben; z. B. Familienstreitigkeiten, die nur mit Hilfe eines Therapeuten aufzulösen sind, der das System von außen sieht und versteht. Und es gibt große, ungeheuer komplexe soziale Systeme, etwa große Unternehmen, die niemand vollumfänglich in ihren Reaktionen und Aktionen vorherzusagen versteht, manche sind mit ihren Vereinfachungen aber zu Vorhersagen fähig, andere liegen falsch.
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Manager-Sein im Management Game: Intervention in, für und durch komplexe Systeme
Unter III. führt die Arbeit jetzt die Konzepte der Lebenswelt und des Systems respektive mehrerer Systeme zusammen, wobei unter Systemen einzig und allein soziale Systeme – nämlich Organisationen und niedere und höhere Formen der Organisation, Quasiorganisationen und Institutionen, verstanden werden. Ein entscheidendes Bindeglied ist das bereits erwähnte Konzept der sozialen Praxis, der Organisationspraxis, der professionellen Praxis, welches im Rahmen von Proto-Organisationen (Ad-hoc-Organisationen, Quasisystemen), Organisationen und Institutionen zur Anwendung gelangt. Sinn und Zweck der Darstellung unter III. ist es letzten Endes, zu einem Verständnis des steuernden, ja regelnden Eingreifens („Intervention“ in der systemischen Terminologie) in komplexe soziale Systeme, insbesondere eben Organisationen, zu gelangen. Sprich: Es geht darum, Management gleichermaßen lebensweltlich wie systemisch zu verstehen. Die Darstellung beginnt absichtlich mit grundsätzlichen Problemen des Gruppenverhaltens, welche bereits von verhaltenswissenschaftlich, nicht systemtheoretisch fundierten Autoren, etwa Weick (1979), Crozier und Friedberg (1977) oder Cyert und March (1963), diskutiert wurden. Sie bedient sich aber der systemisch-systemtheoretischen Terminologie, wie sie etwa Kybernetiker wie Malik, Degele, Bühl und Systemtheoretiker wie Willke, Baecker oder Simon gebrauchen. Auf Basis derartiger Überlegungen schreitet sie zu höheren systemischen Effekten und Phänomenen voran. Der Mystifizierung und Verabsolutierung der Systemtheorie und Kybernetik erteilt der Autor eine Absage: Die gewählten Beispiele sind einfach und verwenden termini technici graduell und problemorientiert, wie unter II. ausgearbeitet. Die Darstellung stellt darüber hinaus System einerseits, Mensch andererseits von Anfang an gegenüber. Sinn und Zweck ist es, die Akteur-im-SystemPerspektive, den bereits unter A.II.3 erwähnten Sachverhalt weiter zu durchdringen, dass in Organisationen oftmals jeder das Gefühl hat, zu einem suboptimalen Kompromiss gezwungen worden zu sein. 1. Praxis, Organisation, Institution – und System Was der Autor unter Praxis, Organisation und Institution versteht und wie systemische Effekte und Phänomene, etwa der Selbstorganisation, Selbsterzeugung, Selbsterhaltung, Selbststeuerung und Selbstreferenzialität, ins Spiel kommen, erläutert er an einigen einfachen Beispielen. 1.1 Soziale Praxis und System: Selbst- und Fremdorganisation Es ist zwar davon auszugehen, dass bereits die „flüchtige“ Begegnung zwischen zwei Menschen zu einem sehr kleinen sozialen System führt, zu einem Interaktionssystem (Luhmann 2005a, 10ff., 21ff.) – derartige „Encounters“ systemisch zu analysieren wurde aber bereits unter A.I geleistet. Von Interesse für Management- und Organisationsprobleme sind die weiterführenden, sich verfestigenden systemischen Phänomene, die Quasisysteme
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(Luhmann 2005a, 22ff.). Das erste, einfachste Beispiel ist deshalb ein Umzug unter Freunden. Ein Umzug ist ein typisches Beispiel für einen Prozess, der zu einem kleinen, selbstorganisierenden, aber nicht selbsterzeugenden und nicht selbsterhaltenden sozialen System führt (vgl. im Überblick Willke 2005a, Kap. 4) – zu einer Proto-Organisation. Das System wird erzeugt durch die Initiative und das Problem der umziehenden Person, der seine Freunde um Hilfe bittet, und es erhält sich durch die Motivation der Partizipanten, einem Freund zu helfen – aber es steht von vornherein fest, dass es nicht auf Dauer gestellt ist. Die Selbstorganisation geschieht, wenn eine kritische Masse von Umzugshelfern zusammengekommen ist. Man beginnt sich in engen Gängen im Weg zu stehen und drängelt sich im Treppenhaus aneinander vorbei. In verhaltenswissenschaftlicher Terminologie ausgedrückt, kommt es zu interlocked behaviours (vgl. Weick 1979, insbes. Kap. 4; vgl. gedrängt und überblickshaft auch Simon 2007b, 11-23). Ein Helfer macht einen Vorschlag, wie es anders ginge: Er schlägt vor, dass er die Kiste bis an die Treppe bringt, wo ein anderer sie ihm abnimmt. Die Änderung im Ablauf verbreitet sich unter allen Beteiligten, führt zu weiteren Änderungen, bis sich alles aufeinander „eingespielt“ hat. Der erste und wichtigste systemische Effekt ist also der, dass sich das Zusammenarbeiten von Menschen unter bestimmten Bedingungen (zu den Bedingungen und Gegenbedingungen vgl. aufschlussreich Malik 2004, Kap. 11) selbst organisiert, ohne dass es einer Anleitung und Durchplanung von außen oder oben bedarf. In der Regel, insbesondere in der Unternehmenspraxis, hat man es freilich mit einer Mischung zu tun: Von außen und oben werden Grundbedingungen vorgegeben, der Rest organisiert sich selbst (grundlegend Malik 2004, Kap. 5, 6). Rolle vs. Person: Tasks und Jobs Sieht man genauer hin, stellt man freilich fest, dass die Darstellung einer quasi voraussetzungsfreien Selbstorganisation der Zusammenarbeit von Menschen nicht präzise ist. Erstens gilt es zu sehen, dass die Akteure etwas mitbringen, und zweitens gilt es zu sehen, dass sie etwas zu Hause lassen. Vermutlich kennt jeder die soziale Praxis des Umzuges unter Inanspruchnahme von Freunden, Bekannten und Verwandten aus eigener, eben praktischer Erfahrung. Und vermutlich hat jeder bereits die Erfahrungen gemacht, die typisch für derartige Situationen sind. Einerseits, dass man sich darauf verlassen kann, dass jeder ungefähr weiß, was von ihm erwartet wird, wenn er teilnimmt – andererseits, dass jeder eine ausgeprägte Meinung darüber hat, wie man es „richtig“ macht, was einem Umzugshelfer zuzumuten ist etc. Die Bewusstheit der partizipierenden Akteure, dass sie in eine spezifische soziale Praxis einsteigen, mit der Erwartungen und Erwartungserwartungen verbunden sind, die aufgrund eines bestimmten Zwecks geschieht, mit der bestimmte Ziele mit Hilfe bestimmter Mittel verfolgt werden, ist ein enorm wichtiger Grund dafür, dass die Selbstorganisation vergleichsweise schnell und reibungslos geschieht. In den Köpfen der Teilnehmer ist viel Know-how vorhanden, wie man einen Umzug durchzieht. Es gibt eine „Blaupause“ für die „Aufgabe“ als Umzugshelfer. In der verhaltenswissenschaftlichen, gelegentlich auch in der systemischen Literatur (ein gemischter Überblick bei Simon 2007b, 41-46) ist die Rede von Rollen, aber wie der Autor bereits unter B ausarbeitete, möchte er den Begriff der Rolle für etwas anderes reservieren, alternativ von Jobs oder Tasks sprechen. Wenn das Know-how über Jobs oder Tasks fehlt, gestalten sich Prozesse der Organisation, sei es Selbst- oder Fremdorganisation, mühsamer – die in C.II dargelegten Schwierigkeiten, welche die ersten echten Großunternehmen wie etwa die Eisenbahnen hatten, sind auf fehlende Vorbilder, mangelnde Blaupausen, zurückzuführen gewesen. Außergewöhnli-
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che Ereignisse, wie etwa Staatsstreiche, sind deshalb fehleranfällig, weil es niemanden gibt, der wirklich über die Erfahrung verfügt zu sagen, „wie man so etwas macht“. Und umgekehrt: Unternehmen lagern in ihrem Kerngeschäft mehr und mehr Erfahrung an, „wie man so etwas macht“, und die Erfahrung geben sie weiter, wenn sie ihren eigenen Nachwuchs ausbilden, der damit nicht nur mit generischen Praktiken, sondern mit den spezifischen Praktiken der spezifischen Organisation ausgestattet ist. Die Erwähnung des Tasks oder des Jobs Umzugshelfer verweist auf die Frage, was die Umzugshelfer zu Hause lassen. Denn anders als etwa in eine Beziehung, z. B. eine Freundschaft, bringt sich keiner der Akteure in toto in die Umzugssituation ein. Im Gegenteil, die Situation verlangt von den Umzugshelfern, sich selbst in toto zurückzustellen. Das heißt nicht, dass nicht hier und da ein Pläuschchen stattfindet oder dass diese oder jene Charaktereigenschaft oder praktische Fähigkeit auf das Möbelschleppen durchschlägt (ein Elektriker baut z. B. die Lampen ab). Entscheidend ist jedoch, dass eine „Blaupause“ Umzugshelfer existiert, in die eine Person schlüpft. Der Job bewahrt die Person weitestgehend davor, als Person in toto einer Beurteilung unterzogen zu werden. Wenn also der ältere Kollege willig Kisten schleppt und macht, was ihm die jüngere Kollegin sagt, wäre es ein grobes Missverständnis zu vermuten, dass er sich dadurch auch in anderen Zusammenhängen unterordnet. Es handelt sich, wie unter C erwähnt, um eine funktionale Hierarchie (vgl. zu funktionaler Binnendifferenzierung Willke 2005a, 87-89; Simon 2007b, 35-52; vgl. C.II.1).
Abbildung 67: Interlocked behaviour von Akteuren, Funktions-, Job-, Task-, Rollenemergenz (Quelle: eigene Darstellung) Abbildung 67 verdeutlicht, dass aus der Interaktion und Kommunikation der Akteure heraus ein System entsteht, welches in einer Hinsicht weniger darstellt als die lebensweltliche Interaktion/Kommunikation, in einer anderen Hinsicht sehr viel mehr. Weniger stellt es dar, weil das System nicht die Menschen in toto, sondern nur das „enthält“, was die Menschen in das System inkludieren. Sehr viel mehr stellt es dar, weil das System zumindest geordnet
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(Ordnung), in der Regel aber bereits auf einen Zweck gerichtet ist (Zweck). Was die Reduktion der dreidimensionalen Person auf einen zweidimensionalen schwarzen Punkt repräsentiert, lässt sich auf verschiedene Arten und Weisen interpretieren: Fokussiert man auf das System lässt sich nach der Funktion der Person fragen, fokussiert man auf die Person lässt sich etwas weiter und bei auf Dauer gestellten Systemen (Organisationen) nach ihrem Job, etwas enger und bei jedem System nach Tasks fragen. Fokussiert man schließlich auf die Überlegungen, die sich der fokale Akteur und die anderen Akteure hinsichtlich des Menschen „hinter“ Funktion, Job oder Task machen, lässt sich nach der Rolle (in der Begriffsverwendung des Autors) fragen. Systemische Kräfte Die Ausführungen, mit den grundsätzlichen Ausführungen zu Systemen unter II. gelesen, verdeutlichen die Perspektive des Autors auf Systeme zum einen, Akteure, Praktiken, Organisationen und Institutionen zum anderen. Eine Organisation als soziales System zu analysieren, bedeutet, die Perspektive zu wechseln – nicht die einzelnen Akteure stehen im Vordergrund, sondern das ganze Gefüge, nicht das Wahrnehmen und Erleben steht im Vordergrund, sondern das „Funktionieren“. Freilich, im Beispiel tritt das systemische Element noch nicht klar und deutlich hervor, weil es selbstverständlich wirkt: Jeder fügt sich in seine „Rolle“, ohne dass es einen dezidierten „Chef“ des Umzuges gibt, der Organigramme an die Tafel malt. Erst, wenn das nicht geschieht, wenn ein Umzugshelfer quertreibt, treten die Kräfte auf, welche andernorts verhaltenswissenschaftlich-sozialpsychologisch als gruppendynamische Kräfte analysiert wurden, die auf einer höheren Abstraktionsebene aber systemische sind. Wenn sich ein älterer Kollege weigert, Möbel zu schleppen „wie ein Hilfsarbeiter“, dann zeigt sich die „Systemhaftigkeit“ evtl. bereits in der Reaktion der anderen. Schon jetzt hat die kleine und flüchtige Ad-hoc-Organisation ein Innen und ein Außen. Es hat eine System-/Umwelt-Differenz erzeugt. 1.2 Von der sozialen Praxis zur Organisation Dass sich in selbstorganisierender Art und Weise aus der geteilten sozialen Praxis heraus eine Proto-Organisation mit verschiedenen Tasks bildet (Kisten schleppen, Kisten in den LKW stapeln, Lampen abschrauben) führt zum nächsten Schritt: von der flüchtigen ProtoOrganisation zur verfestigten, von der Organisiertheit sozialer Praktiken zu Organisationspraktiken. Der Schritt vollzieht sich, wenn die bei einem Umzug helfenden Freunde feststellen, wie gut sie zusammenarbeiten und beschließen, ein „Umzugsteam“ zu gründen. Zunächst tun sie das, um ein bisschen nebenbei zu verdienen. Aber das Geschäft läuft gut und nach und nach richten sich die Freunde darauf ein, ihren Umzugsservice dauerhaft zu betreiben. Das führt zu verschiedenen Veränderungen: Aus Tasks, die gelegentlich auch mal ein anderer übernimmt, die locker mit der Person verknüpft sind, werden etwa Jobs, die „Eigentum“ des jeweiligen Stelleninhabers sind, zwar mit einer Reihe von Tasks Hand in Hand, aber auch darüber hinaus gehen (vgl. zu Systemevolution im Überblick Willke 2005a, 75-83; sehr gedrängt Simon 2007b, Kap. 2).
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a) Systememergenz Die Existenz derartiger Positionen ist ein Indiz dafür, dass in die Mitte der Freunde, die ursprünglich die Organisation darstellten, die Organisation selbst getreten ist. Natürlich gab es den einen oder anderen formalen juristischen Akt der Gründung, aber das ist aus systemischer Perspektive genausowenig entscheidend wie offizielle Organigramme (vgl. zu Organigrammen und „viable governors“ Malik 2004, Kap. 7.3.1). Entscheidend ist, dass ein System emergierte, welches über die beteiligten, im Verhalten aufeinander bezogenen Personen hinausgeht (vgl. zu Emergenz als „Alltagsphänomen“ auch D.I.1; vgl. ferner grundlegend Stöckler 1990; Hejl 1992; Garciá-Olivares 1993; für eine Geschichte des Emergenzbegriffes lesenswert Hoyningen-Huene 1994). Die Organisation, als System verstanden, ist mehr als die Ordnung der aufeinander bezogenen beliebigen Verhaltensweisen beim Umzug, sie verfolgt auch mehr als den Zweck der aufeinander bezogenen Praktiken von Umzugshelfern. Es treten Phänomene auf, dass Dinge nicht mehr für Geld oder für Spaß oder andere individuelle Motive, sondern, ohne darüber nachzudenken, „für die Firma“ getan werden. Die Organisation als soziales System hat einen Eigen-Sinn entwickelt, der von den Akteuren als Geschehnis und Umwelt, nicht als eigenes Handeln erlebt wird (lesenswert Willke 2005a, 152-158). Den Eigensinn der Organisation erleben die Organisationsangehörigen vage und diffus, etwa in ebenjenen Effekten und Phänomenen wie sie unter A angerissen wurden: dass in Organisationen jeder sich „irgendwie“ zu einem faulen Kompromiss gezwungen sieht, man die Dinge „selbst“ anders gemacht hätte. Willke hebt hervor, wo der Eigensinn liegt: Das System entwickelt ein eigenes Gedächtnis und eine eigene Geschichte. Beides ist hauptsächlich in den schriftlichen, „aktenförmigen“ Entscheidungsprozessen und den ihnen zugrunde liegenden Regeln festgehalten, aber auch in den Selbstbeschreibungen in Form von Mythen, Gründungs- oder Heldengeschichten oder in der gepflegten „corporate identity“ des Systems. In seinen laufenden Entscheidungsprozessen greift das System auf diese erinnerte Geschichte zurück – und je mehr und ausschließlicher es dies tut, desto mehr schließt es sich selbstreferentiell von seiner Umwelt ab. (2005b, 18)
Selbsterhaltung Aus systemischer Perspektive ist der wichtigste Schritt der, der die Organisation zu einem selbsterhaltenden System macht: wenn das Unternehmen in der Lage ist, seine eigenen Erhaltungsbedingungen dauerhaft herzustellen, wenn es also überlebensfähig und einigermaßen robust ist. Das klassische Beispiel sind lebende Systeme (vgl. sehr gedrängt Simon 2007a, 31-34): Organismen, welche über verschiedene Subsysteme verfügen, die füreinander in einem geschlossenen Kreislauf die jeweils von einem anderen Subsystem benötigten Erhaltungsbedingungen schaffen. Wir essen, um unseren Körper und Geist zu erhalten, damit wir stark genug sind, um wiederum Essen heranzuschaffen. Überlebensfähigkeit und Robustheit, wie sie bereits mit Blick auf Strategie (C.III.3) diskutiert wurden, gehen bei Unternehmen aber über ökonomische Rentabilität hinaus. Das sei am Rand mit Blick auf junge Unternehmen und Start-ups erwähnt. Eine Organisation, die nur „funktioniert“, weil sie auf den selbstlosen Einsatz ihrer Angehörigen setzt, ohne sicherzustellen, dass der selbstlose Einsatz auf Dauer gewährleistet ist, mag ökonomisch derzeitig rentabel sein – das System verzehrt aber seine Bestandsbedingungen genauso wie der Umzug die Motivation der Umzugshelfer verzehrt.
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Selbsterzeugung Ob ein Unternehmen als soziales System nicht nur auf begrenzte Dauer als selbsterhaltend, sondern eben auf unbegrenzte Dauer als selbsterzeugend152 anzusprechen ist, stellt eine interessante theoretische Frage dar. Ganz und gar selbsterzeugend ist ein Unternehmen sicherlich niemals, denn es bezieht, vereinfacht ausgedrückt, seine maßgeblichen „Bausteine“ – gebildete, in Praktiken aus- oder vorgebildete Menschen – aus der Gesellschaft.153 Eine Organisation oder auch eine Institution ist jedoch umso mehr als selbsterzeugend anzusehen, je öfter und je intensiver sie ihre eigenen Angehörigen selbst ausbildet. So ist es beispielsweise das Militär selbst, das Soldaten „herstellt“, die dem Militär „dienen“. Zwar arbeitete Malik heraus, wie unter C.II.5 dargestellt, dass lediglich die katholische Kirche und einige Streitkräfte ihre Führungseliten systematisch und exklusiv selbst herstellen (indoktrinieren). Gleichwohl lässt sich graduell fragen, wie eine Organisation zusammengesetzt ist, und wie man in die Führungselite gelangt. Es ist ein Unterschied, ob in einer Organisation mehrheitlich Personen agieren, die bereits als Azubi angefangen haben oder als Trainee ins Management eingestiegen sind – oder ob die Organisation, wie etwa PRAgenturen oder Unternehmensberatungen, einen kontinuierlichen Throughput von kurzen Karrieren zu verarbeiten haben. b) Vom sozialen System zum komplexen sozialen System: „Organisierte Komplexität“ Ein weiterer Schritt ist der vom sozialen System zum komplexen sozialen System, zu organisierter Komplexität.154 Was der Begriff der Komplexität bedeutet, wurde bereits mehrfach erörtert. Zusammenhänge werden komplex, wenn es aus der Perspektive des handelnden Subjekts immer schwieriger wird, Ursache und Wirkung verlässlich vorherzusagen: Die Bienen „verstehen“ nicht, dass der Weg zur Sonne nicht auch der zur Freiheit ist, weil mit dem transparenten Glas der Flasche ein unsichtbarer Faktor dazwischensteht (für ein ähnliches Beispiel, in welchem Naturwissenschaftler etwas nicht verstehen vgl. Mitchell 2009, 81-108). Der Begriff ist also Symptom und Diagnose zugleich: Das eine soziale System vermeint der fokale Akteur zu „verstehen“ und insofern ist es nicht komplex, das andere „versteht“ er nicht und insofern ist es komplex. Da die menschliche Komplexitätsverarbeitungskapazität begrenzt ist, kommt aber der Punkt, an dem ein außenstehender Beobachter mit Sicherheit zu sagen vermag, dass kein Akteur das System „wirklich“ vollumfänglich versteht (vgl. auch Dunbars Zahl) – und insofern handelt es sich um ein komplexes soziales System. Malik (2004, 7-23) postuliert, dass die Geschichte der allgemeinen Verbreitung komplexer sozialer Systeme vergleichsweise kurz ist, etwa 150 Jahre – und die historische Spurensuche unter C.I und C.II stützt seine These (wie der Autor sieht auch Malik „Groß152
Der Autor vermeidet den Begriff der Autopoiese, weil er im Rahmen der Luhmann’schen Systemtheorie geradezu mystische Züge angenommen hat; aus systemtheoretischer Sicht Willke 2005a, Kap. 3; gedrängt und umrisshaft Simon 2007a, 31-34; vgl. kritisch Bühl 1987, der eine „Kategorienverwechslung“ der soziologischen Systemtheorie diagnostiziert; aus breiterer soziologischer Perspektive kritisch etwa Münch 1996, Kap. 2, 3. 153 Viele gesellschaftliche Probleme ließen sich, wenn man systemisch argumentiert, auf die Tatsache zurückführen, dass es der Gesellschaft als übergreifendem System nicht mehr gelingt, in ausreichendem Maße Bürgerinnen und Bürger „herzustellen“, stattdessen entwickeln sich die Individuen zu „Konsumenten“ und „Arbeitnehmern“ – eine niedergehende bestimmte Gesellschaft erhält sich zwar noch, erzeugt sich aber immer weniger und weniger. 154 Vgl. Weaver 1978, 44. Willke merkt an (2005b, 65), dass der „eingebürgerte“ Begriff bei Weaver eigentlich geordnete Komplexität im Gegensatz zu ungeordneter Komplexität, etwa in dissipativen Strukturen, bezeichnet. Vgl. auch Nothhaft/Wehmeier 2007, 154-155; Degele 1997.
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operationen“ wie den Bau der ägyptischen Pyramiden oder militärische Kampagnen als Ausnahmefälle an). Komplexität revisited „Komplexitätstreiber“ gibt es viele, unter C.III.3 erörterte die Arbeit einige. Die Darstellung im Zusammenhang mit Strategie hob vor allem auf das Wettbewerbsumfeld ab. Das suggeriert, dass die Komplexität eines Systems primär und zuvorderst aus seiner „Zusammensetzung“ resultiert, aus dem, was es wie tut. Neben Raum und Ressourcen spielt aber auch Zeit eine Rolle. Einer der Gründe, warum selbst vergleichsweise kleine soziale Systeme, etwa Familien, sich für die beteiligten Personen bereits „unberechenbar“ verhalten, ist beispielsweise, dass man eine lange, unter Umständen leidensreiche Geschichte teilt, in der viele Wunden geschlagen wurden, die unterbewusst und vorbewusst noch immer wirken. Das gilt in ähnlicher Art und Weise für Organisationen. In Organisationen mit einer langen Tradition gibt es viele alte Rechnungen zu begleichen, die ein der Organisationshistorie und ihrer „Geschichtchen“ unkundiger Beobachter niemals versteht: Die Organisation verhält sich „seltsam“, „irrational“ (die US-amerikanischen Streitkräfte sind z.B. nicht zu verstehen, ohne ihren „Vietnam-Komplex“ zu kennen). Das Beispiel der Unternehmensgeschichte und ihrer „Geschichtchen“ verdeutlicht nochmals, dass die Systemperspektive ganz und gar nichts zu tun hat mit der offiziellen „Architektur“ einer Organisation: Derartiges Äquivalentsetzen ist Relikt des Verständnisses, welches Giddens als biologisierend kritisiert (vgl. II.), welches aus funktionalistischer Perspektive Organisationen stillschweigend mit Organismen oder gar Maschinen gleichsetzt – und davon ausgeht, dass das Organigramm die Anatomie respektive den Bauplan des sozialen Systems widerspiegelt. Die Systemperspektive so wie sie der Autor anwendet zielt aber darauf aufzudecken, welche Kräfte hinter der Fassade wirken, welche Kräfte unter der Oberfläche am Werke sind. Willke (2001a, 146ff.) macht geltend, dass gerade in Unternehmen eine offizielle, nach außen getragene und objektiv-explizit formulierte „Oberflächenstruktur“ mitunter sehr stark divergiert von der „Tiefenstruktur“: Man kann z. B. sehen, dass sich ein Familienunternehmen nach außen hin das Bild eines gut gemanagten modernen Unternehmens gibt, während aber als latente, verdeckte, abgesunkene Regel gilt: ‚Der alte Gründer des Unternehmens hat immer Recht!’ (Willke 2001a, 148)
Kehrt man zum Beispiel der Umzugshelfer zurück, zeigt sich, dass der zu Anfang gewöhnlich wichtigste Treiber, der das einstmals simple soziale System „Firma“ immer komplexer und unkalkulierbarer macht, gewöhnlich Ausdehnung ist: Ausdehnung im Raum, Ausdehnung der Qualität und Quantität transformierter Ressourcen, Ausdehnung in der Zeit. In Verbindung mit Systemkomplexität führt das dazu, dass sich auch die Logik des Systems immer weiter ausdehnt, insbesondere dehnt sie sich in die „Köpfe“ der Akteure aus. Systemlogiken Monofunktionalistischer Systemtheorie, die mit eindimensionalen Systemlogiken oder Codes operiert, begegnete der Autor unter II. mit Skepsis155 (vgl. auch Jarren/Röttger 2009; Raabe 2005; Zerfaß 2004; lesenswert Bühl 2003, 5-10, der die Tautologien in der Luh155 Vgl. ferner die alternativen Entwürfe bei Hejl 2008; Giddens 1986; Münch 1996; Schimank 2000, die teilweise hart mit der Luhmann’schen Systemtheorie ins Gericht gehen.
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mann’schen Systemtheorie eindrucksvoll herausarbeitet). Es mag Fragestellungen geben, die es erforderlich machen auszubuchstabieren, mit welchem Begriff man die operationalen Codes eines „Wirtschaftssystems“, „Mediensystems“ oder „Rechtssystems“ belegt. Der Autor bindet die Definition des Systems aber nicht an Codes. Er ist nicht an theoretischen, sondern an empirischen Systemen interessiert, wie er sie als Beobachter II. Ordnung aufgrund einer Fragestellung rekonstruiert. Handelt man von konkreten, spezifischen, faktischen Organisationen, die aus Akteuren „bestehen“, die mit Ressourcen „umgehen“, und analysiert sie als Systeme, dann handelt man von konkreten, spezifischen, vielschichtigen und verwickelten Kalkülen. Die Kalküle lassen sich zwar behelfsmäßig, in Abstraktion, auf die Formel „gut für die Firma“ vs. „schlecht für die Firma“ zurückführen – entscheidend ist aber, dass sie nicht nur als bewusst durchgeführtes Kalkül wirken, sondern als Formung der Aufmerksamkeit („neu“ und „wichtig“), Brechung der Weltwahrnehmung. Der Autor behauptet keineswegs, dass Menschen notwendig immer „betriebsblind“ werden. Sieht man von „totalen Institutionen“ (Goffman) wie psychiatrischen Anstalten oder Gefängnissen ab, sind Menschen theoretisch immer in der Lage, einen Schritt zurück und aus der Organisation herauszutreten. Die Frage ist, ob es praktisch, ob es in Handlungen geschieht. Wie unter I. ausgearbeitet wurde, ist der Mensch ein Organismus, der sich mit „satisficing“ begnügt, sich in einer Lebenswelt so oder so „einrichtet“. Entscheidend ist also nicht, dass die Akteure ein ungutes Gefühl haben oder „Systemwidersprüche“ sehen. Entscheidend ist, ob sie die Systemlogik durch ihr Agieren perpetuieren – und das entscheidet sich anhand der Frage, inwiefern die Systemlogik unmittelbar und greifbar auf ihre Lebenswelt in einem Maße durchgreift, das sie als inakzeptabel empfinden, das Widerstand hervorruft. c) Systemdynamiken und Systemkohäsion Wie bereits ausgearbeitet, sind Systeme nur zu verstehen, wenn man davon ausgeht, dass sie in Raum und Zeit ausgedehnt sind und Ressourcen von verschiedener Qualität und Quantität, darunter die Arbeit ihrer „Mitglieder“ oder „Angehörigen“, transformieren. Darüber hinaus ist es entscheidend zu begreifen, dass soziale Systeme nicht ein für allemal zusammen-„gebaut“ sind, sondern zusammen-„gehalten“ werden, wobei das Medium der Kohäsion das jeweilig individuelle Kosten-Nutzen- oder Sinn- und Zweck-Kalkül der individuellen Akteure in der Brechung durch das System selbst ist. Einfache Wellen-, Kaskaden-, Fortpflanzungs- und Aufschaukelungseffekte Als der eine Umzugshelfer eine Veränderung der Herangehensweise einleitete, pflanzte sich die Veränderung wellenartig im System der interlocked behaviours fort, bis sich wieder alles „eingespielt“ hatte. Das geschah im Raum, nahm Zeit in Anspruch. Es ist erstaunlich, wie bereits derartig einfache Raum-Zeit-Phänomene, derartige Wellen-, Kaskaden-, Fortpflanzungs- und Aufschaukelungseffekte intuitiv gravierend unterschätzt oder außer Acht gelassen werden. Bereits einfache akteursbasierte Modelle (vgl. II.), wie sie etwa bei der Erforschung von Stauentstehung angewandt werden (Nagel-Schreckenberg 1992; oder, etwas fortgeschrittener, das von Wiedemann entwickelte VISSIM), zeigen jedoch, wie massiv die Effekte von Wellen, Kaskaden, Fortpflanzung und Aufschaukelung sind. Sowohl das Wiedemann- als auch das Nagel-Schreckenberg-Modell zeigen eindrucksvoll, dass Verkehrsstauungen nicht nur durch Unfälle oder Sperrungen, sondern „aus dem Nichts“ heraus entstehen: etwa dann, wenn auch nur ein Autofahrer etwas zu abrupt bremst
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und sich die Konsequenzen der Reaktionen der anderen durch den Verkehr rückwärts fortpflanzen und aufschaukeln. Die Zeitlichkeit und Räumlichkeit sozialer Systeme allein, in Verbindung mit begrenzter Informationsverarbeitungskapazität und Aktion-Reaktions-Verzögerungszeiten größer Null, führt also bereits zu gravierenden Effekten, die von Akteuren vernachlässigt werden, die keine Erfahrung mit der Intervention in Systeme mit vielen, diskreten Akteuren haben. Für das Management bedeutet das etwa, dass das Napoleonsche Diktum „Ordre, contreordre, disordre“ systemisch begründbar ist: Eine Anweisung benötigt Zeit, um sich in einem System zu verbreiten und umgesetzt zu werden, und wenn eine zweite, gegensätzliche Anweisung gegeben wird, während sich die erste noch nicht völlig verbreitet hat und umgesetzt wurde, führt das zu Verwirrung und Unordnung. Je komplexer soziale Systeme, desto mehr Zeit benötigt es, sie auf einen Entwicklungspfad zu bringen – und desto mehr Zeit benötigt es gewöhnlich auch, sie umzusteuern. Degele charakterisiert die klassischen Systemkonzepte und das Luhmann’sche als statisch und legt allergrößtes Gewicht auf Zeitlichkeit als Komplexitätstreiber: Im Gegensatz dazu berücksichtigen die klassischen Komplexitätskonzepte der Systemtheorie meist nur die Merkmale der Vernetztheit und Emergenz. Dann bestimmen sie Komplexität strukturell, nämlich über die möglichen und realisierten Beziehungen der Elemente. Was Theoretiker wie Herbert Simon, Warren Weaver und Niklas Luhmann damit beschreiben, ist statische Komplexität oder Kompliziertheit – Komplexität bedeutet Selektionszwang (nicht alle möglichen Beziehungen werden realisiert) und auch Kontingenz (andere Relationierungen sind möglich) […] (Degele 1997, 2)
Degeles theoretische Diagnose trägt zugegebenermaßen polemische Züge, denn gerade Luhmann betont die zeitliche Dimension neben der sachlichen und sozial-psychischen (im Überblick Willke 2005a, 84-91). Dem Autor geht es aber um nichts anderes als die unmissverständliche Betonung der Raum-Zeitlichkeit sozialer Systeme. Für das Kommunikationsmanagement ist z. B., in der internen Kommunikation, in Change-Prozessen, in der Kopräsenz von Individual- und Massenkommunikation, die Unterscheidung zwischen der Bereitstellung und der Nutzung von Information durch jedes einzelne Individuum in Rechnung zu stellen: Die schwierige Phase ist die, in der verschiedene Mitarbeiter von verschiedenen Informationsständen ausgehen. Gleichgewicht und Ungleichgewicht: Abschwächungs- und Verstärkungseffekte Die alltägliche Idee des Gleichgewichts ist ein unveränderlicher Zustand: Die Temperatur in einem Haus ist im Gleichgewicht, wenn sie etwa Tag und Nacht konstant bei 18 °C liegt, womöglich mit geringen Schwankungen. Die moderne Systemtheorie und Kybernetik hat den Gleichgewichtsbegriff der biologischen Systemtheorie in Analogie übernommen, aber gravierend modifiziert. Sofern es überhaupt plausibel ist, mit Blick auf soziale Systeme von Gleichgewichts- vs. Ungleichgewichtszuständen zu sprechen, dann nur, wenn multistabile Stadien in Rechnung gestellt werden (vgl. überblickshaft Degele 1997; vgl. auch Willke 2005a, 132-133). Das heißt, dass ein prinzipielles Gleichgewicht besteht, welches sich zwar in konstanter Fluktuation befindet, nicht aber Gefahr läuft „außer Rand und Band“ zu geraten. Machtverhältnisse, seien sie perzipiert oder faktisch, stellen ein Beispiel dar. Die Rede von einer dominant coalition suggeriert, dass die Macht in einem Unternehmen gewöhnlich nicht in der Hand einer einzelnen Person, sondern in der Hand einer Gruppe liegt, in der die Mitglieder womöglich von Zeit zu Zeit wechseln – aber nichtsdestotrotz gibt es eine Grup-
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pe, welche die Geschicke des Unternehmens leitet. Die tatsächlichen Machtverhältnisse in der dominant coalition mögen sich verschieben und mal der eine oder andere Akteur mächtiger sein, was aber nicht geschieht ist die Übernahme der Macht durch einen Akteur, der sich immer dominanter und dominanter gebärdet und entsprechend mehr und mehr das System mit Blick auf die eigene Machtabsicherung umgestaltet. Der durch einen Beobachter postulierte Gleichgewichtszustand, die Existenz einer dominant coalition und nicht eines einzelnen tyrannischen Patriarchen, ist also gegeben, wenn Akteur A oder B oder C zwar der Mächtigste ist, aber nicht mächtiger als die anderen zusammen. Niemand ist in der Lage, das System zu seinen eigenen Gunsten umzugestalten. Warum wird nicht ein Akteur immer mächtiger und mächtiger? Systemisch analysiert geschieht es nicht, weil Abschwächungs-, Bestrafungs- oder Negative Feedback-Effekte einsetzen. Wird ein Akteur zu mächtig, etwa ein Vorstandsmitglied, dann werden sich die anderen Akteure gegen ihn verbünden, um seinem selbstherrlichen Schalten und Walten gemeinsam entgegenzutreten. Selbst wenn der dominante Akteur brillante Strategien vorschlägt, die jeder einzelne Akteur für richtig und gut hält, wird man ihm die Gefolgschaft verweigern, um ihn „zurechtzustutzen“. Der dominante Akteur verliert Macht und Einfluss gerade deshalb und nur deshalb, weil er zuviel Macht hat. Am Beispiel der Abschwächungs-, Bestrafungs- oder Negative Feedback-Effekte lässt sich ferner herausarbeiten, dass Verstärkungs-, Positive Feedback-Effekte oder deviation-amplification (Maruyama 1963) nicht spiegelbildlich das Gegenteil sind. Von deviation-amplification lässt sich sprechen, wenn der einzelne Akteure immer mächtiger wird, weil und nur weil er immer mächtiger wird. Gelingt es beispielsweise einem einzelnen Akteur zu einem Punkt zu gelangen, an dem er stark genug ist, bereits den Versuch der Etablierung einer Opposition gegen ihn zu bestrafen und damit zu unterbinden, dann hat er das Abschwächungs- und Bestrafungssystem ausgehebelt. Er ist jetzt in der Lage, eine Herrschaft des Terrors aufzubauen und durch Elimination seines schwächsten Kontrahenten ein Stückchen stärker zu werden, um dann wiederum den zweitschwächsten Kontrahenten zu eliminieren, wiederum ein Stückchen stärker zu werden usw. Am Ende, das sei am Rand erwähnt, steht eine tyrannische Diktatur, in der der diktatorische Tyrann aufgrund seiner limitierten Kapazität, Komplexität zu verarbeiten, dermaßen von der Systemkontrolle überfordert ist, dass er nicht in der Lage ist, sinnvoll und zielgerichtet zu agieren: Er ist paranoid und richtet das System, welches ihn treibt, mit der Zeit zugrunde. Entwicklungspfade und Gravitationspunkte Einer der bekanntesten Entwicklungspfade, der in modernen Organisationen, insbesondere in Verwaltungen entdeckt wurde, spiegelt sich in den so genannten Parkinson’schen Gesetzen. Cyril Northcote Parkinson (Parkinson 1955) zeigte, nicht ohne Augenzwinkern, am Beispiel der königlich-britischen Marine und am Kolonialamt in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, dass die Verwaltung einer Organisation sich weitestgehend unabhängig von der eigentlichen Aufgabe der Organisation ausdehnt und vergrößert. Die Royal Navy verfügte 1914 über 62 größere Kriegsschiffe und beschäftigte 2 000 Verwaltungsmitarbeiter; 1928 verfügte sie über 20 größere Kriegsschiffe, beschäftigte aber 3 569 Mitarbeiter in der Verwaltung (Parkinson 1955, 3). Das britische Kolonialamt hatte 1935, vor dem Zweiten Weltkrieg und angesichts eines weitgehend intakten Empire, 372 Mitarbeiter. 1954, nach dem Zweiten Weltkrieg und angesichts eines weitgehend verschwundenen Empire, hatte es 1 661 Mitarbeiter (1955, 4). Unabhängig davon, ob Parkinsons Gesetz als ernstgemeinte
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systemische Gesetzmäßigkeit formuliert wurde, wie etwa Ashbys law of requisite variety (ItC, Kap. 11), oder als Provokation: Der beschriebene Sachverhalt zeigt auf, was der Autor unter einem Entwicklungspfad versteht. Der Entwicklungspfad ist der, dass sich die Behörde auf einem Weg befand, auf welchem sich die Verwaltung zu einem „Wasserkopf“ vergrößerte, während der ausführende Arm schrumpfte und verkümmerte. Was die Organisation auf dem Entwicklungspfad bewegt, sind selbstverstärkende Effekte: mehr und mehr Verwaltungsmitarbeiter, die mehr und mehr „Verwaltungsarbeit“ produzieren. Was der Autor unter Gravitationspunkten versteht, lässt sich an einem anderen Parkinson’schen Lehrsatz, dem law of triviality, vergegenwärtigen: „The matters most debated in a deliberative body tend to be the minor ones where everybody understands the issues“, formuliert Parkinson (1957, 24) und hebt damit hervor, dass Komitees und Gremien von Entscheidern nicht über die „wichtigen“ Fragen diskutieren, sondern über diejenigen, über die sie diskutieren können. So geschieht es, dass entscheidende Fachfragen beim Bau einer neuen Werksanlage zügig durchgewunken werden, sich die Entscheiderriege aber in endlose Diskussion um Sach- oder Geschmacksfragen verstrickt – z. B. die Farbe des Fahrradschuppens oder etwa, wo und wie das Logo angebracht werden soll. Der natürliche Gravitationspunkt eines einzelnen Managers, einer Gruppe oder Abteilung sind also „Heimspiele“. Eine Kommunikationsabteilung, die sich aus ehemaligen Zeitungsjournalisten zusammensetzt, wird im Zweifelsfall zu Fragen des Zeitungsjournalismus gravitieren. Man diskutiert über die Rede des Vorstandsvorsitzenden und bestimmte, mehr oder minder gewählte Formulierungen darin, während die viel wichtigeren Fragen die optische Inszenierung, die Rolex am Handgelenk, die Gestik und Mimik wären. Bifurkationspunkte und Strukturation Die Soziokybernetik geht davon aus, dass komplexe soziale Systeme so genannte Bifurkationspunkte kennen (vgl. Nothhaft/Wehmeier 2007, 159-160; vgl. Degele 1997, Kap. 3; vgl. Bühl 1990, 126ff.). Vereinfacht gesagt stellen Bifurkationen Punkte in Raum und Zeit dar, an welchen sich das System für eine von mehreren alternativen Möglichkeiten der Weiterentwicklung entscheidet – wobei die Vereinfachung in der Rede davon besteht, dass sich das System, etwa auf Basis einer Quasibewusstheit, „entscheiden“ würde. Das Konzept der Bifurkationspunkte ist als komplementär zu Prozessen der Strukturation anzusehen, wie sie Giddens beschreibt, wie sie unter 3. noch erörtert werden. Das verwundert nicht, denn sowohl die Giddens’sche Theorie als auch die Soziokybernetik heben die Zeitlichkeit und Räumlichkeit sozialer Systeme hervor. Worin die Komplementarität besteht, lässt sich am Beispiel der Sprachverwendung erläutern, wie es Giddens ins Feld führt (vgl. 1995, 76-77), wie es bereits mehrere Male angerissen wurde: Die Strukturationstheorie geht davon aus, dass Sprachen Strukturen darstellen, die durch Sprachverwendung reproduziert werden. So geschieht es, dass neue Wörter schlicht dadurch in die Sprache eingeführt werden, dass mehr und mehr Sprachverwender die Wortneuschöpfung benutzen, sich Regeln der Verwendung herausbilden, verfestigen und wieder und wieder bestätigen – bis das Wort schließlich in Zeitungsartikeln auftaucht, Nachrichtensprecher es verwenden. Nun wäre es verfehlt, und entspräche einer naiven Multi-Welten-Perspektive, jede einzelne Entscheidung für oder gegen das Wort als einen Bifurkationspunkt zu rekonstruieren. Es gilt jedoch zu sehen, dass der Prozess der Reproduktion von Struktur durch Aktion nicht gleichförmig verläuft. Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird etwa der neue Duden erscheinen – und die
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Vokabel wird entweder „offiziell“ Bestandteil der deutschen Sprache geworden sein oder eben nicht. Systemkohäsion Bereits angedeutet wurde, dass das Medium, welches soziale Systeme zusammenhält, in letzter Konsequenz das individuelle Kosten-Nutzen- respektive Sinn-Kalkül der einzelnen Akteure, jeweils in der Brechung durch das System selbst ist (zu Sinn vgl. im Überblick Willke 2005a, 43-54; gedrängt Simon 2007a, 94-99; vgl. grundlegend und ausführlich Luhmann 1987, 92-147). Das heißt, dass Angehörige einer Organisation in einer Organisation verbleiben, weil es für sie „Sinn macht“ – wenn man die Frage stellt, warum es Sinn macht, gilt es jedoch von Anfang die Verbiegung durch die Organisation, die Unterwerfung unter die Systemlogik in Rechnung zu stellen. Das Kosten-Nutzen-Kalkül ist nicht rein ökonomisch, weil es eine neutrale Bilanzierungsbasis nicht gibt – weil sich die Frage nach „Sinn“ mehr und mehr erst durch und über das System konstituiert. Auf einer basalen, asynchronischen Ebene heißt das: Manche Mitarbeiter arbeiten in einer Organisation, weil das Unternehmen gut bezahlt, andere arbeiten dort, weil die Arbeit ihnen Spaß macht, weil die Kollegen nett sind, weil sie sich selbst verwirklichen und ihr „Helfer-Syndrom“ ausleben etc. Diachronisch, über die Zeit, gilt es jedoch, Prozesse der Anpassung und der Eingewöhnung zu begreifen. Es ist erstaunlich, wie schnell man sich an das Gehalt am Ende des Monats gewöhnt, wie schnell der Zusammenhang zwischen Gehalt und Arbeit in Vergessenheit gerät. Es ist ferner erstaunlich, wie schnell man sich daran gewöhnt, dass viele Dinge eben so sind, wie sie sind. Während der junge Pädagoge hochmotiviert und von Idealen inspiriert vor die Schüler tritt, ist der erfahrene Lehrer nach zwanzig Jahren ernüchtert, was aber eben sowohl zu Desillusionierung und Resignation als auch zu weiser Abgeklärtheit und pragmatischem Realismus führt. Nach fünfunddreißig Jahren „im Betrieb“ lässt sich die Frage, weshalb jemand „beim Daimler schafft“ gar nicht mehr in vernünftiger Art und Weise stellen, weil die Betriebsangehörigkeit zu einem selbstverständlichen Teil des Lebens geworden ist. Bereits die verwandte Terminologie deutet an, dass der Autor die Zusammenhänge, um die es ihm geht, nicht in rein systemtheoretischer Terminologie fassen möchte: Sie lassen sich klarer und eindeutiger verstehen, wenn man einen Blick in die Köpfe der handelnden Menschen versucht. Das Oszillieren zwischen System- und Akteursperspektive gilt es also zu sehen und beizubehalten. Dass Systemkohäsion in sozialen Systemen auf die individuellen Kosten-Nutzen-Kalküle der Systemelemente zurückführbar ist, ist demnach nicht naiv dahingehend zu verstehen, dass jeder Akt quasiautomatisch von einem Kalkül begleitet wäre. Im Gegenteil: Vieles geschieht unbewusst oder vorbewusst. Bereits Chester Barnard (1938) arbeitete heraus, dass Mitarbeiter in Organisationen eine „Indifferenzzone“ ausbilden, im Rahmen derer es ihnen egal ist, ob sie etwas so oder anders machen sollen, müssen, können oder dürfen. Die Indifferenzzone steckt insofern die Grenzen der „Pauschalunterwerfung“ ab, wie sie Luhmann (2005c, 472) diagnostiziert. Solange die „Zumutungen“, welche das Unternehmen seinen Mitarbeitern auferlegt, im grünen Bereich der Indifferenzzone bleiben, denken die Mitarbeiter, handlungstheoretisch ausgedrückt, gar nicht über sich und ihr Verhältnis zur Organisation nach, sondern machen ihren Job (vgl. gedrängt auch Simon 2007b, 35-51; lesenswert ferner Baecker 2003, 31-33). Effekte und Phänomene der Systemkohäsion lassen sich noch etwas anders herausarbeiten, wenn man die Fragestellung wechselt und nicht nach Systemaufbau und System-
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zusammenhalt fragt, sondern nach Systemzerstörung. Das macht es erforderlich, soziale Systeme zu erörtern, die ihren Angehörigen extrem viel zumuten und starken zerstörerischen Kräften ausgesetzt sind, Streitkräfte etwa. Willke macht geltend: Auf der Ebene sozialer Systeme verweisen insbesondere ‚Kreuzzüge’ aller Art darauf, dass Gruppen oder ganze Völker ihre Existenz aufs Spiel setzen, um bestimmte Sinnzusammenhänge wie Religion, politische Werte oder moralische Postulate zu erhalten oder durchzusetzen. Dass individuelle und soziale Ebenen in aller Regel unentwirrbar vermengt sind, zeigt eine der aberwitzigsten menschlichen Erfindungen, der Krieg. Für bloße Ideen (wie Vaterland, Freiheit, Kommunismus, Heiliger Krieg) lassen sich Millionen Menschen aufs Schlachtfeld führen. Dies ist biologisch nicht mehr begreifbar. (Willke 2005a, 43)
Willke betont die Systemkohäsion. Aber die wenigsten kriegerischen Auseinandersetzungen, etwa Schlachten, enden, weil die Streitkräfte der unterlegenen Seite physisch-materiell zerstört wurden. In der Regel enden Kampfhandlungen, weil das System der unterlegenen Streitkräfte zerstört wurde, vulgo ihre „Moral“ (vgl. Nothhaft/Wehmeier 2007, 160-161). Eine Fortführung der Kampfhandlungen ist für die unterlegene Seite „sinnlos“ geworden. Was einst eine Armee war, stellt nur noch eine Aggregation von resignierten, desillusionierten Individuen dar. Ein soziales System lässt sich also zerstören, wenn man die Sinnzusammenhänge angreift, die es zusammenhalten respektive einen zerstörerischen Prozess der Sinnzusammenhänge in Gang setzt. Das geschieht beispielsweise, wenn die eine Streitkraft der anderen Streitkraft in mehreren Gefechten jedes Mal derartig vernichtende Niederlagen beibringt, dass diesbezüglich „Schockwellen“ durch das System laufen. Die einzelnen Angehörigen begreifen, dass sie in der Auseinandersetzung mit dem Feind mit Sicherheit getötet werden, ohne auch nur irgendetwas auszurichten. Nicht nur, dass kaum eine Chance besteht, am Ende zu siegen. Bereits der Sinn der eigenen Aufopferung steht in Frage, es besteht nicht einmal eine Möglichkeit, einen Beitrag zu leisten. 1.3 Von der Organisation zur Institution: Selbstbezüglichkeit und Selbststeuerung Selbstbezüglichkeit und Selbststeuerung sind nach Ansicht des Autors nicht sehr gut am Beispiel von Unternehmen zu veranschaulichen, weil erwerbswirtschaftliche Organisationen, Unternehmen, sich über eine formale Zwecksetzung konstituieren: Formaliter sollen, sie salopp und vereinfacht gesagt, „Geld verdienen“ – obwohl sie realiter natürlich der formalen Zwecksetzung gemäß ihrer Eigenlogik folgen. Um Phänomene und Effekte der Selbstreferenzialität zu beschreiben, wählt der Autor deshalb die gegenüber der Organisation nächsthöhere Ebene: die Institutionsebene. Unter Institutionen versteht der Autor Funktionssysteme, die gegenüber Organisationen noch einen Schritt zurückgetreten sind, die „hinter“ Organisationen stehen respektive, um die Ontologisierung zu vermeiden, hinter Organisationen wirken. Institutionen, das ist eines ihrer Definitionskriterien, werden qua Funktion kaum noch in Frage gestellt, sie sind selbstverständlich geworden: sie definieren, wie D. North es ausdrückt, die „Spielregeln“ der Gesellschaft (1992, 5). Dass Management uns heute als eine Institution gegenübertritt, die wiederum Organisationen durchdringt, wurde bereits erörtert. Das Währungs- und Finanzsystem, emergierend aus dem Zusammenspiel von staatlichen und privaten Organisationen, stellt als eine andere Institution etwas bereit, was jedermann als „Geld“ gegenübertritt. Das „Funktionieren“ des Währungs- und Finanzsystems führt dazu, dass Geld einen relativ stabilen Wert hat. Dass Institutionen nicht als Institutionen geschaffen werden, sondern wiederum aus der systemischen Verwickelung verschiedener „funktionierender“ Or-
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ganisationen emergieren, ist eine These, die anhand der Managementgeschichte bereits angerissen wurde, die sich anhand der Geschichte des Geldes (oder der Ehe mit ihrer staatlichen Privilegierung, oder der Religion, oder der Rechtsprechung) belegen ließe, die der Autor aber nicht weiter verfolgt (vgl. zur Geschichte des Geldes M. North 1994; Philosophie des Geldes Simmel 2003; Sohn-Rethel 1990; Hayek 1977). Die Konzepte der Selbstbezüglichkeit und Selbststeuerung sind sehr gut am Beispiel des Mediensystems zu erörtern. Das Mediensystem der Gesellschaft besteht zwar aus verschiedenen Medienorganisationen mit verschiedenen Medienakteuren, was die Akteure und Organisationen jedoch verbindet ist z. B., um nur einen Aspekt herauszugreifen, dass sie „Nachrichten“ bereitstellen. Selbstbezüglich oder selbstreferenziell sind Systeme also, wenn sie sich hauptsächlich auf sich selbst, nicht auf andere Systeme beziehen. Wenn man davon spricht, dass „die Medien“ ein selbstreferenzielles System und eine Institution konstituieren, dann heißt das, dass sie ihrer eigenen Funktionslogik folgen. Es gelangt in die Zeitungen, was Journalisten als „berichtenswert“, als „Nachricht“ begreifen. Die Funktionslogik lässt sich diachronisch rekonstruieren, z. B. in der Nachrichtenwert-Theorie, synchronisch unterliegt sie aber in der Interaktion der Elemente des Funktionssystems einer kontinuierlichen Definition und Redefinition. Die Frage, was eine Nachricht „wirklich“ ist – aktuell, konkret und spezifisch, und nicht nur dem Potenzial nach –, lässt sich jedoch nicht ohne Rekurs auf das Mediensystem, die Institution der Medien, beantworten; genauso wenig wie die Frage, was eine „rechtskräftige“ Entscheidung ist, nicht ohne Rekurs auf die jeweilig höchstrichterliche Instanz. Der entscheidende Schritt ist der, dass die jeweilige Systemlogik, z. B. die Medienlogik, sich nicht mehr zuvorderst und vorrangig auf ein übergeordnetes, drittes Element bezieht, sondern primär auf sich selbst. Es geht nicht mehr um das Wohl der Gesellschaft wie die Gesellschaft ihr Wohl versteht oder dergleichen, sondern um die Medienlogik. In der Medienlogik mag das Wohl der Gesellschaft in irgendeiner Art und Weise eine Rolle spielen, aber nicht direkt und unmittelbar, sondern in der Brechung durch das Funktionssystem selbst. Selbstbezüglichkeit ist ein Prärequisit für Selbststeuerung, aber hier wie dort lehnt der Autor Verabsolutierung ab. Stattdessen schlägt er vor, die Konzepte graduell zu lesen. Selbststeuerung so wie der Autor sie versteht ist die Autonomie eines Systems, „selbst“ darüber zu entscheiden, wo und wie es nicht selbstreferenziell agiert. Ein ganz und gar autonomes Mediensystem definiert z. B. selbst, was in die Zeitung gelangt und was nicht – und es gibt keine Möglichkeit, Berichterstattung zu fordern oder durchzusetzen. Die Autonomie macht es prinzipiell möglich, das Wohl und Wehe der Bürgerinnen und Bürger, die Gesellschaft, ganz und gar aus der Gleichung auszuschließen. Aber, und das ist der entscheidende Unterschied, es macht es nicht notwendig. Selbststeuerung schließt die Selbstbegrenzung der Selbststeuerung, die Limitation der Autonomie, mit ein. Das heißt, ein System kann dazu gelangen, Punkte in der Umwelt zu definieren, die es als für sich steuerungsrelevant interpretiert: Punkte, „an denen es sich messen lässt.“ Das Vertrackte an Selbstbezüglichkeit und Selbststeuerung ist, dass die Konzepte dynamisch miteinander verwickelt sind. Jeder Punkt mehr in der Umwelt, der in einem selbstbezüglichen Prozess als relevant definiert wird, macht das System um einen Punkt weniger selbstreferenziell – und das heißt auch weniger steuerbar, geringer autonom. Willke drückt ein und denselben Sachverhalt anders aus:
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt Weil es an diesem Punkt nach wie vor viele Missverständnisse gibt, ist noch einmal zu betonen: Dass ein System selbstreferentiell arbeitet und sich operativ gegenüber seiner Umwelt abschließt, heißt nicht, dass es autark wäre und sich wie eine Leibniz’sche Monade völlig isoliert mit seiner eigenen Welt begnügen würde. Vielmehr lässt ein operativ geschlossenes System (wie eine Organisation oder Person) sehr wohl Beziehungen zu seiner Umwelt zu. Allerdings sind diese Beziehungen (1) hochselektiv, (2) auf bestimmte kritische Punkte des Systems ausgerichtet und (3) vor allem nicht von außen gesteuert, sondern von der Logik des Systems selbst definiert. Es ist also das komplexe, operativ geschlossene System selbst, das die Bedingungen definiert, unter den es sich von seiner Umwelt beeindrucken lässt. (Willke 2005b, 31)
Willkes Zitat arbeitet die wertvolle Erkenntnis der soziologischen Systemtheorie in Luhmann’scher Tradition, aber auch die gefährliche Schwierigkeit heraus, die sie mit der Begrifflichkeit der Selbstreferenzialität und Selbststeuerung beschwört. Die wertvolle Erkenntnis ist die, dass soziale Systeme immer weniger als durch Akte individueller Akteure steuerbar oder gar regelbar angesehen werden können: niemand, keine Organisation, „kontrolliert“ das Währungs- und Finanzsystem, das Mediensystem, das politische System oder ähnliche Institutionen – aber es „funktioniert“ (manchmal besser, manchmal schlechter). Die Schwierigkeit liegt in der Gefahr, dass das System, trotz anderslautender Beteuerungen, durch begrifflichen Dreh doch als Leibniz’sche Monade verstanden wird, um das Postulat der Selbstbezüglichkeit und Selbststeuerung als totales aufrechtzuerhalten: Wie Münch (1996) in seiner Rekonstruktion des politischen Systems der Bundesrepublik und in Auseinandersetzung mit dem Luhmann’schen Konzept der Autopoiese gezeigt hat, wirft die soziologische Systemtheorie zwar einerseits ein interessantes Licht auf die politischen Realitäten, führt aber andererseits zu logischen Absurditäten – zu Widersprüchen und Engführungen, die nicht in der Systemtheorie selbst auflösbar sind. Der entscheidende Schritt ist, wie der Autor glaubt, den Menschen in toto wieder einzuführen, den Knoten im Hejl’schen Fischernetz, den Giddens’schen Akteur zwischen Struktur und Handlung. Banal ausgedrückt: Das internationale Währungs- und Finanzsystem lässt sich natürlich nicht durch einen Menschen beeindrucken, verändern, umgestalten, sondern durch den Funktionär Weltbankchef, durch Akte des Weltbankchefs, der Element des Systems ist, der als Weltbankchef Funktor der Selbstreferenzialität bleibt – durch Kommunikation im Währungs- und Finanzsystem. Der Weltbankchef ist in letzter Konsequenz aber doch ein Mensch mit bestimmten Werten, Überzeugungen, Bindungen, einem bestimmten gesellschaftlich-gemeinschaftlich-lebensweltlichen Hintergrund (oder Resonanzboden). 2. System und Lebenswelt in Verschränkung Die Konzepte der Praxis, der Organisation und der Institution sind erläutert worden. Es wurde ausgearbeitet, was der Autor unter den Phänomenen und Dynamiken versteht, die eben nicht lebensweltlich, sondern nur systemisch zu greifen sind. Jetzt gilt es auszuarbeiten, wie System und Lebenswelt in Verschränkung stehen, miteinander verwickelt sind. 2.1 Regelung, Kontrolle, Management komplexer sozialer Systeme Ob die Rede von Regelung, Kontrolle, Management einer zielgerichteten Intervention in komplexe soziale Systeme überhaupt statthaft ist, stellt in der neueren Systemtheorie, Sozio- und Managementkybernetik eine nicht unumstrittene Frage dar. Während der Managementkybernetiker Fredmund Malik bereits 1984 mit Strategie des Managements komple-
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xer Systeme einen eher optimistischen Beitrag liefert (neu aufgelegt 2002), macht der Systemtheoretiker Willke – der selbst das Konzept der „Kontextkontrolle“ vorschlägt – noch Ende des 20. Jahrhunderts pessimistisch geltend: Es gibt keine anerkannte Theorie der Intervention oder des Managements komplexer Systeme. Und es kann sie wohl auch nicht geben, solange nicht die besondere Dynamik und die Verhaltensmuster komplexer dynamischer Systeme besser verstanden werden. Dies ist für solche Intervenierende, vor allem Berater, ein misslicher und oft verleugneter Zustand, die gerne auf Rezepte und schnelle Erfolge zielen. (1999, 69)
Der Autor möchte sich nicht in spezialisierte Debatten verstricken, aber es ist interessant, dass der soziologisch ausgerichtete und eher strenge Systemtheoretiker Luhmann’scher Prägung, Willke, pessimistisch ist.156 Der Managementkybernetiker Malik, der mit einem eher lockeren „bodenständigen“ Verständnis komplexer sozialer Systeme operiert, verbreitet demgegenüber gemäßigt aufgeklärten Optimismus. Den grundsätzlichen Unterschied sieht der Autor in der Art und Weise, wie Mensch respektive Lebenswelt (system-)theoretisch gefasst werden. Überlegungen, die auf einem Luhmann’schen systemtheoretischen Entwurf basieren, der in Hejl’scher Diktion die Knoten aus dem Netz herauslässt (vgl. II.), tun sich naturgemäß schwer, ein Management des Netzes durch einen oder mehrere Knoten zu konzeptualisieren. Maliks Entwurf geht jedoch zurück auf die Managementkybernetik, welche schon immer einen im Prinzip kompetenten Akteur voraussetzte, der durch systemtheoretisch-kybernetische Aufklärung jedoch noch kompetenter gemacht werden muss. Ehe der Autor von Regelung und Kontrolle und von Management als zielgerichtete Intervention in soziale Systeme handelt, gilt es herauszuarbeiten, wie die Begriffe verwandt werden. Insbesondere ist herauszuarbeiten, inwiefern der Begriff der Intervention einerseits Regelung, Kontrolle und Management bedeutet, inwiefern er andererseits genauer und treffender ist. Das geschieht durch Erörterung der Begriffe der Aktion, Strukturation und Intervention. Der Begriff der Strukturation stellt dabei Anschluss an die Giddens’sche Theorie der Strukturation her (11984, 1986); der Begriff der Intervention an die systemische Organisations- und Managementtheorie. Jede Aktion in einem System respektive für und durch dasselbe hat eine Bedeutung und führt dazu, dass das System sich „irgendwie“ verändert. Gleichzeitig ist es jedoch nicht sinnvoll, jede Aktion als eine Intervention aufzufassen. Das Konzept, mit welchem das eine gefasst wird, ohne das andere mit zu erfassen, identifiziert der Autor als Strukturation – und lehnt sich damit an die Gidden’sche Theorie an, die zwar eine Gesellschaftstheorie ist, im Prinzip aber auf andere „soziale Zusammenballungen“ wie Unternehmen anwendbar ist und angewandt wurde (vgl. in der PR-Lehre etwa Röttger 2000; Zerfaß 2004; in der Managementlehre etwa Ortmann/Sydow 2001; Hales 1999). a) Aktion, Strukturation, Intervention Wenn ein Sachbearbeiter in einer Behörde einen Vorgang in exakt der vorgesehenen Art und Weise erledigt, ist das nichts Besonderes. Mit Sicherheit stellt es nicht eine Interventi156
Willke legt mit seinem Konzept der Kontextkontrolle einen eigenständigen Entwurf vor, der Intervention in komplexen sozialen Systemen ausbuchstabiert. Vgl. hierzu Nothhaft/Wehmeier 2007, 161-163; vgl. auch äußerst kritisch Münch 1996, Kap. 7.
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
on dar. Die Tatsache, dass das nichts Besonderes ist, tritt aber als besonders hervor, wenn man die Behörde mit einer anderen vergleicht, in der die Bearbeitung in exakt der vorgesehenen Art und Weise der Ausnahme-, nicht der Regelfall ist. Die Giddens’sche Theorie der Strukturation hat mit großer Wirkmächtigkeit darauf hingewiesen, dass Handlungen, Akte oder Aktionen einerseits durch Struktur(en) ermöglicht werden, andererseits Struktur(en) erzeugen und bestätigen (vgl. exemplarisch Giddens 1995, 67-88). Auf das Beispiel übertragen bedeutet das, dass erst die „vorgesehene Art und Weise“ dem Sachbearbeiter die Möglichkeit gibt, einen Vorgang in einem Funktionsakt „abzuschließen“. Mit der Anwendung der vorgesehenen Art und Weise bestätigt der Sachbearbeiter diese aber auch. Mit einem weiteren „korrekten“ Vorgang bestätigt er sich selbst, seinen Kollegen und den betroffenen Bürgerinnen und Bürgern, dass die Behörde korrekt arbeitet – wie formal, in Weber’scher Tradition, in den schriftlichen Arbeitsanweisungen festgehalten. Im Gegensatz würde eine weitere erst nach Bestechung erfolgte Bearbeitung bestätigen, dass Korruption, ganz und gar unabhängig von offiziellen, schriftlichen Arbeitsanweisungen, die „eigentlich“ vorgesehene Art und Weise ist. Der Autor verfolgt das Giddens’sche Konzept nicht weiter, weil er es in toto für zu komplex, in vielerlei Hinsicht zu vage, in vielerlei Bereichen bereits durch systemische Erörterungen abgedeckt hält. Es genügt festzuhalten, dass das Konzept der Strukturation beschreibt, dass selbst der alltäglichste Akt, die normalste Handlung nicht bedeutungslos ist insofern, als sie auf die existierende Funktionsstruktur, „das System“, zurückwirkt. Das ist entscheidend, wenn man Eigendynamik, Verstärkungs- und Aufschaukelungseffekte, Gravitationspunkte und Entwicklungspfade in Rechnung stellt. Jeder Funktionsakt ist insofern ein Strukturationsakt, der eine bestimmte eigendynamische Tendenz des Systems verstärkt oder abschwächt. Eine Einheit, sei es ein Unternehmen oder eine Abteilung, „verfällt“ so nach und nach in die Schlamperei, ohne dass es die Mitarbeiter selbst vollumfänglich merken würden, ohne dass es die Führungskräfte überhaupt feststellen können: Parkinsons Diagnose einer erstaunlichen, unverständlichen „Aufblähung“ geschah ja retrospektiv. Es liegt auf der Hand, dass Führungskräfte das strukturierende Potenzial jedes einzelnen ihrer Funktionsakte nutzen können, um gewünschte Tendenzen gezielt zu verstärken, unerwünschte gezielt abzuschwächen. Im Prinzip könnte das jeder Mitarbeiter jederzeit tun, manche tun es auch ganz bewusst und zielgerichtet, manche tun es vor- oder unbewusst – wobei der strukturierende Effekt nicht von der Bewusstheit des Akteurs abhängt, aber mit ihm zusammenhängt. Alles, was für die alltägliche, jederzeit und allerorten geschehende Bewegung des Systems in die eine oder andere Richtung erforderlich ist, ist ein minimaler Ermessensspielraum, die Barnard’sche „Indifferenzzone“ (1938), etwas „so“ oder eben „ein bisschen anders“ zu tun, ohne dass es als nicht-funktionaler Akt, als Akt der Verweigerung aufscheint. Ein derartiger Ermessensspielraum ist in sozialen Systemen nahezu immer, quasi per definitionem gegeben. Vor dem Hintergrund des Verständnisses von Funktionsakten und Strukturationsakten ist es nunmehr möglich, Interventionsakte zu verstehen (grundlegend zu Intervention Willke 2005b, der theoretisch in der Luhmann’schen Systemtheorie bleibt, aber drei lesenswerte „Bereichsstudien“ im Bereich Psychotherapie, Organisationsberatung und Politikberatung gibt). Interventionsakte sind nichts anderes als Akte der Verweigerung des existenten Systems und seiner Tendenzen und Dynamiken, sind ein Statement oder Akt jenseits der „Indifferenzzone“. Das bedeutet, dass sie im Prinzip wiederum jedem, sowohl Mitarbeitern als auch Führungskräften, zur Verfügung stehen. Die Verweigerung des existenten Sys-
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tems, etwa der Abteilung gegenüber dem Abteilungsleiter, ist für untergeordnete Mitarbeiter jedoch ein riskanter Akt, während es für Führungskräfte ein Funktionsakt gegenüber der nächsthöheren Ebene darstellt. Ein Abteilungsleiter, der seine Abteilung radikal reorganisiert, macht aus der Perspektive seines vorgesetzten Bereichsleiters seinen Job; ein „gewöhnlicher“ Mitarbeiter, der radikale Reorganisation ungefragt fordert, überschreitet seine Kompetenzen, rebelliert. Im Prinzip gibt es also zwei grundsätzliche Möglichkeiten, ein soziales System umzugestalten bzw. es sich selbst umgestalten zu lassen. Der erste Weg ist der, bei jeder Entscheidung, bei jedem „normalen“ Funktionsakt den „normalen“ Ermessensspielraum dergestalt auszunutzen, dass erwünschte Effekte verstärkt, ungewünschte abgeschwächt werden. Wenn der Abteilungsleiter sich eine „tatkräftigere“ Atmosphäre in seiner Abteilung wünscht, dann bevorzugt er bei der Entscheidung, welchen von zwei im Prinzip gleich geeigneten Teamleitern er befördert, eben den tatkräftigeren. Es handelt sich um einen Strukturationsakt, der bestätigt, was jeder im Prinzip schon wusste – dass der Chef positive Typen präferiert. Der zweite Weg ist der, bewusst und absichtsvoll den „normalen“ Ermessensspielraum zu sprengen, ein Zeichen zu setzen, ein Exempel zu statuieren. Der Abteilungsleiter entlässt beispielsweise einen Teamleiter mit der mehr oder minder verlautbarten Begründung, dass die Ära der Kassandrarufer endgültig vorbei sei, dass die Devise in Zukunft laute „Either lead, follow or get out of the way“. Es handelt sich also um einen Interventionsakt, der zunächst einmal kommuniziert, dass die alten Regeln nicht mehr gelten, dass neue Regeln in Kraft sind. Um den Unterschied zwischen Strukturation und Intervention zu verstehen, ist es von entscheidender Bedeutung, die Perspektive aufrechtzuerhalten und präzise zu fixieren, von welchem System die Rede ist. Wenn ein Abteilungsleiter einen Teamleiter entlässt, dann ist das auf Unternehmensebene, ja auf gesellschaftlicher Ebene ein Strukturationsakt, der die bestehenden Strukturen und Prozeduren bestätigt. Auf der Abteilungsebene, wenn man die Abteilung als ein soziales System rekonstruiert, dann ist die Entlassung jedoch ein gewaltiger Eingriff, eine Intervention. In der Realität verwischen sich die Grenzen. Zu verstehen sind die Modi jedoch, wo die Extrempole vergegenwärtigt werden: Management-byStructuration, organisches Management ließe sich sagen, bewegt sich von alter prinzipieller Selbstverständlichkeit zu neuer prinzipieller Selbstverständlichkeit, und oftmals ist erst in der Retrospektive der zurückgelegte, lange Weg zu erkennen. Management-by-Intervention bewegt sich von Zerstörung der einen Selbstverständlichkeit zum Aufbau einer neuen, von Zäsur zu Zäsur. Management-by-Structuration und Management-by-Intervention, so wie sie der Autor konzipiert, haben gemeinsam, dass sie systemische Zusammenhänge in Rechnung stellen: Das System braucht Zeit, um sich selbst um die veränderte respektive neue Selbstverständlichkeit herum zu organisieren. Gezielte Intervention Das strukturierende, evolutionäre Management hat viele Vorteile gegenüber der radikalen Intervention – die radikale Intervention, wie sie der Autor konzipiert, hat Ähnlichkeiten mit der Amputation durch den Chirurgen oder der Dekonstruktion einer Maschine zu Reparaturzwecken. Der Nachteil des strukturierenden, evolutionären Managements gegenüber der radikalen Intervention ist jedoch, dass es auf Systemdynamiken aufsetzt, die nicht immer in die gewünschte Richtung laufen und die nicht immer durch die sparsamen, sanften Impulse aufzuhalten sind, welche das evolutionäre Management favorisiert. Wenn eine Behörde
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durch und durch korrupt ist, lässt sich das nicht durch homöopathisches, evolutionäres Management verändern. Insofern bleibt die Frage nach der Theorie der Intervention, welche Willke eingangs aufwarf, trotz des Alternativmodells der Strukturation von großem Interesse. Wenn Willke konstatiert (1999, 69), dass es keine Theorie der Intervention gäbe, dann versteht ihn der Autor nicht dahingehend, dass die Intervention in soziale Systeme nicht theoretisch geklärt sei. Das Problem stellt die zielgerichtete Intervention dar, die genau das bewirkt, was sie bewirken soll – und nichts anderes. Das ist ja, was die Berater suggerieren, gegen deren „Rezepte“ Willke polemisiert: dass Change sozialer Systeme nicht nur möglich, sondern jederzeit geregelt, in kontrollierter Art und Weise möglich sei. Was die Berater suggerieren, ist in letzter Konsequenz, dass Gestaltung, Lenkung, Entwicklung sozialer Systeme eine „Technik“ sei. Wie ausgearbeitet wurde, ist die moderne Systemtheorie, so weit sie der Autor überblickt, enorm skeptisch gegenüber gezielten radikalen Eingriffen in soziale Systeme. Die Skepsis stützt sich zum großen Teil auf die Analogie zum menschlichen Gehirn und die Rede von der operationalen Geschlossenheit: Komplexe Systeme sind irritierbar oder perturbierbar, heißt es, aber es ist nicht möglich, in kausaler Art und Weise, eben gezielt, auf sie durchzugreifen. Wie ebenfalls ausgearbeitet, liest der Autor die Analogie zum menschlichen Gehirn und das Konzept der operationalen Geschlossenheit jedoch etwas anders, ersetzt die dogmatische, absolutierende Rede durch eine graduelle. Der Autor bezweifelt, wie die Systemtheoretiker, dass es möglich ist, präzise und exakt einen spezifischen Effekt in sozialen Systemen zu verwirklichen, ohne andere Effekte hervorzurufen. Er glaubt aber, dass es möglich ist, eine bestimmte Wirkung zu erzielen, wenn man akzeptiert, dass damit andere Effekte Hand in Hand gehen, die sich nicht vorhersagen lassen. Es ist nicht möglich, einem Menschen einen bestimmten Gedanken von heute auf morgen „einzupflanzen“, aber es ist möglich, ihn über die Zeit zum Nachdenken zu bringen, ihn nach und nach von etwas zu überzeugen. Es ist auch möglich, einen Menschen zu täuschen oder einer Gehirnwäsche zu unterziehen – aber es ist nicht möglich, das exakt und präzise mit Blick auf eine abgegrenzte Idee zu tun: Es besteht die Gefahr, es hinterher mit einem bösartigen Individuum zu tun zu haben. Der Grund ist wie ausgeführt der, dass das menschliche Gehirn vergleichsweise geschlossen ist, dass wir mehr in unseren Erinnerungen und Erfahrungen leben als in der Welt um uns herum. Das Argument ähnelt am Ende wiederum der alten Ingenieursweisheit, die den Auftraggeber vor die Entscheidung stellt: „Du kannst es schnell haben, du kannst es gut haben, du kannst es billig haben – such’ dir zwei davon aus.“ Das Problem, das sich einer Interventionstheorie in komplexe Systeme stellt, ist demnach ein doppeltes: Erstens ist die Frage zu beantworten, auf welcher Basis der intervenierende Akteur die angestrebte Wirkung so und nicht anders anstrebt, da Menschen und soziale Systeme doch angeblich derartig nicht-trivial, derartig unkalkulierbar sind. Woher weiß er, wie er eingreifen muss, und wie erzielt er ein- und dieselbe Wirkung bei mehreren Menschen? Zweitens ist die Frage zu beantworten, wie die unbeabsichtigten, nicht vorherzusagenden Nebenwirkungen zu limitieren, zu neutralisieren sind. Denn nur unter der Bedingung, dass das Eine wie das Andere im Großen und Ganzen gelingt, lässt sich von einer gezielten Intervention sprechen, lässt sich eine gelungene, erfolgreiche Intervention ausarbeiten. Der Autor glaubt, dass die Systemtheorie selbst die Antwort auf die zweite Frage gibt, für die Antwort auf die erste ist sie blind.
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b) Die „funktionale Vernunft“ Die Antwort auf die zweite Frage – wie unbeabsichtigte, nicht vorherzusagende Nebenwirkungen zu limitieren oder zu neutralisieren sind – lautet: durch das System selbst. Die Struktur ist es, welche den Menschen in toto aus der Organisation exkludiert, ihn nur als Person in einem Job akzeptiert. Das hat systemische Organisationstheorie ausführlich herausgearbeitet (vgl. im Überblick Simon 2007b, 35-51). Einen großen Teil der unbeabsichtigten Nebenwirkungen einer Interventionshandlung schließt die moderne Organisation von vorneherein aus, weil sie „im Job“ eben „professionelles“ Verhalten fordert. Das heißt, der intervenierende Manager mag sich bewusst sein, dass seine Intervention viele seiner Mitarbeiter verärgern wird, er verlässt sich aber darauf, dass die Mitarbeiter ihrer Verärgerung nicht im beruflichen Umfeld Luft machen, sich nicht „zusammenrotten“ oder „aufmucken“ – dass nicht, um es in systemischer Terminologie zu fassen, destruktive Systemtendenzen in Gang gesetzt werden. Wenn er sich darauf verlassen kann, kann er sich auch darauf verlassen, dass der Ärger mit der Zeit verfliegt, dass sich neue Selbstverständlichkeiten einspielen, dass der herausgeschmissene Mitarbeiter vergessen wird. Die Bedeutung der „funktionalen Vernunft“ – unter der Überschrift möchte der Autor Professionalität und andere, verwandte Konstrukte subsumieren – ist in ihrer Bedeutung für die Effektivität und Effizienz moderner Organisation kaum zu unterschätzen. Organisationen werden überhaupt erst steuerbar, es lässt sich erst in ihnen mit einiger Aussicht auf Erfolg intervenieren, wenn in der Organisation nicht jede menschliche Reaktion gestattet ist, sondern nur sehr wenige, ausgewählte. Insofern sind die Tendenzen von Systemtheoretikern und Kybernetikern, das Bild der „rationalen“ Organisation zu dekonstruieren und das Bild der Maschine durch andere Bilder zu substituieren zwar verdienstvoll in einer Hinsicht – in einer anderen Hinsicht sind sie jedoch grundfalsch: Ein Konzern ist z. B. kein Kindergarten, weil ein Kindergarten eine Gemeinschaft ist, in welcher die Bandbreite humaner Emotionen, auch Wut, Ärger, Trauer, Enttäuschung, gestattet ist. Wie mächtig „Ehrencodizes“ sind, zeigt das Beispiel „gefährlicher“ Berufe wie etwa Polizei, Feuerwehr oder eben Soldat. Die am stärksten ausgeprägte „funktionale Vernunft“ hat mit Sicherheit das Militär, welches von seinen Angehörigen im Zweifelsfall nach wie vor erwartet, auf Befehl das eigene Leben zu opfern – was nachgewiesenermaßen, Jahrhunderte und Jahrtausende der Aufopferung einzelner „Helden“ belegen das, auch geschieht. c) Die „lebensweltliche Vernunft“ und Dunbars Zahl revisited Die erste Frage in einer Interventionstheorie lautete, auf welcher Grundlage Eingriffe in soziale Systeme geschehen, da doch soziale Systeme, da doch bereits Menschen angeblich nicht-trivial, ganz und gar unkalkulierbar sind. Sie wurde bereits teilweise beantwortet – unter Verweis darauf, dass der Mensch in seiner funktionalen Vernunft, um die es der Organisation geht, sehr viel berechenbarer ist als in seiner lebensweltlichen Ganzheit, als Mensch in toto. Bereits das Beispiel deutete jedoch an, dass die Systemlogik nicht ausreicht, um eine Theorie der Intervention in soziale Systeme plausibel zu fundieren. Denn es ist nicht nur funktionale Vernunft, die Soldaten dazu treibt, ihr Leben aufs Spiel zu setzen, sondern es sind zwischenmenschliche Kräfte: Es ist die Peergroup, die es unerträglich macht, als Feigling dazustehen, so dass das Individuum die Gefahr der physischen Vernichtung der Sicherheit der sozialen Vernichtung vorzieht.
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Derartige Effekte des „Gruppenzwangs“ führen den Autor dazu, eine Analyse zu postulieren, in der er Intervention nicht nur über das System, sondern über die Lebenswelt erklärt. Dass Intervention in soziale Systeme nicht ohne Rekurs auf lebensweltliche Zusammenhänge begreiflich ist, würde erklären, weshalb die moderne Systemtheorie, insbesondere die Luhmann’scher Prägung, derartige große Probleme hat, ein Phänomen zu fassen, welches Alltagstheoretiker mit großer Unbekümmertheit sehen. Das fundamentale Postulat ist ein einfaches: Dass ein Akteur ein System etwa „kontrolliert“, heißt nichts anderes, als dass er einige Akteure „um sich herum“ kontrolliert – Dunbars Zahl ist die ungefähre Größenordnung –, wobei „Kontrolle“ auf basalen lebensweltlichen Mechanismen aufsetzt: in die Augen schauen, „Gedanken lesen“ („Enphronese“), einschüchtern und bestrafen, aufbauen und belohnen, Gefälligkeiten und Gegen-Gefälligkeiten. Die einigen wenigen Akteure kontrollieren wiederum einige wenige, die wiederum einige wenige kontrollieren – so dass es am Ende nicht unplausibel ist zu sagen, dass der CEO oder General oder Kanzler einen Konzern mit 250 000 Mitarbeitern, ein Heer von 100 000 Soldaten, eine Universität mit 30 000 Mitarbeitern „kontrolliert“. Weick vergegenwärtigt die durchaus nicht simplen, sondern komplexen Effekte lesenswert am Beispiel des aphoristischen Gedichts Majority Rule von Piet Hein (Weick 1979, 14ff.). 2.2 Lebensweltliche Unterwanderung: Das System als Funktionslebenswelt Mit lebensweltlicher Unterwanderung meint der Autor, dass die Organisation für jeden Organisationsangehörigen aus zwei Perspektiven aufscheint: Einerseits ahnt man die Organisation als ein System, welches mehr oder minder „funktioniert“, und in welchem der Organisationsangehörige selbst mehr oder minder „funktioniert“. Andererseits nimmt man sie auch wahr als eine Lebensweltsphäre, in welcher man sich bewegt, in welcher man einander „in die Augen schaut“, über Jahre und Jahrzehnte kennt, Erfahrungen sammelt, mit der man mehr oder weniger vertraut ist, in der vieles selbstverständlich so ist und nicht anders – in der man sich dem existenziellen Dreikampf ausgesetzt sieht. Für diejenigen „innen“ gehen System und Lebenswelt eine Zweckehe ein; für diejenigen „außen“ stellt „das System“ (z. B. die Behörde) nach wie vor eine komplexe ominöse Entität dar; der Beobachter II. Ordnung fasst sowohl innen wie auch außen ins Auge. Abbildung 68 sieht kompliziert aus, stellt aber eine grobe Vereinfachung der Komplexität dar, welche wir alle selbst unter normalen Bedingungen verarbeiten, und Führungskräfte noch um einiges mehr. Die Abbildung zeigt drei Zonen: die private Lebenswelt, die Funktionslebenswelt und die Funktions- oder Systemwelt. Die Unterschiede sind, dass man es (1) in der privaten Lebenswelt mit Personen zu tun hat, die man „privat“ zu kennen glaubt – deswegen ist ihre „Abschirmung“ offen, deswegen erlebt man sie als direkt, nicht indirekt via eine funktionale Vernunft. (2) In der Berufswelt hat man es mit professionellen Personen zu tun, die ihre „Abschirmung“ oftmals noch nicht geöffnet haben, so dass man eigentlich mit professionellen Rollen, durch funktionale Vernunft hindurchscheinenden Personen interagiert – aber man glaubt, wenn man ehrlich ist, sie durchaus etwas mehr zu durchblicken. (3) In der Funktions- oder Systemwelt hat man es mit „Funktionären“ zu tun, von denen man zwar weiß, dass sie auch Personen sind, aber da jedwede Information fehlt, gesteht man sich ein, dass es sich im Prinzip um ominöse Akteure handelt: Ich mag den Namen meiner Sachbearbeiterin im Finanzamt kennen, aber ich muss mir eingestehen, dass ich nur weiß, dass es sich um eine Sachbearbeiterin im Finanzamt handelt – und für viele
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Zwecke genügt das auch. Für den „gewöhnlichen“ Organisationsangehörigen, also nicht den „Organisationsautisten“ oder das „Karriereraubtier“, durchdringen und überlagern sich die zwei Perspektiven, so dass eine Zone zwischen Funktionslebenswelt und Privatleben entsteht, in der lebensweltliche und funktionale Vernunft koexistieren, mitunter aber auch konkurrieren. Vulgo: Es gibt Kollegen, die auch private Freunde sind; Personen, bei denen man durch die professionelle Rolle hindurch „in die Karten schaut“.
Abbildung 68: Funktionslebenswelt (Quelle: eigene Darstellung) Wie sich das einzelne Individuum in der perzipierten Funktionslebenswelt „einrichtet“, ist jeweils individuell. Genauso ist es individuell, in der konkreten und spezifischen Situation unterschiedlich, ob die gemischte Perspektive eu- oder dysfunktional ist. Der eine Mitarbeiter fühlt sich als bloßes Rädchen im Getriebe und leidet darunter, nicht „als Mensch“ gewürdigt zu werden – der andere schätzt an seinem Job, dass man nicht von ihm verlangt, sich in irgendeiner Art und Weise persönlich „einzubringen“, so dass er sich auf Spitzenleistung konzentrieren kann. Bei der einen Mitarbeiterin gerät der „eigentliche“ Job, die Funktion, nach und nach in Vergessenheit, die Funktionslebenswelt ist mehr und mehr ein Feld von Klatsch und Tratsch, Bürointrigen und Mobbingkampagnen – die andere Mitarbeiterin ist gerade deshalb so gut und erfolgreich in ihrem Job, weil sie wahre Herzlichkeit und menschliche Wärme ausstrahlt. Die Existenz einer Funktionslebenswelt, in der sich Mensch und Funktion überschneiden und durchdringen, sehen gemäßigte systemische Or-
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ganisationstheoretiker im Prinzip auch. Simon drückt den Zusammenhang in seiner Einführung in die systemische Organisationstheorie so aus: Eine der vielen bekannten Paradoxien von Organisationen besteht darin, dass für sie die Mitglieder prinzipiell austauschbar sind und sich dadurch die konkreten Personen als nicht austauschbar erweisen. Denn es macht einen Unterschied, ob der „freundliche, in sich ruhende und zugewandte, gelassen reagierende“ Herr Schulze auf einer Chef-Position sitzt oder der „narzisstische, nach Bestätigung seiner Großartigkeit lechzende, sadistische und über Leichen gehende Herr Meier.“ (Simon 2007b, 73)
Freilich hat alles seinen Preis: Auf der Lebensweltebene „versteht“ die Führungskraft nicht nur ihre Mitarbeiter, die Mitarbeiter „verstehen“ auch ihre Führungskraft. Mit jedem Interventionsakt, ja mit jedem Strukturationsakt enthüllt die Führungskraft etwas von sich selbst, manches absichtsvoll, manches unvermeidbarerweise und entgegen eigenen Wunsch. Man weiß, dass Herr Meier narzisstisch veranlagt ist, dass man viel erreicht, wenn man ihm um den Bart geht. Das führt dazu, dass die Unsicherheit, welche den eigentlichen Machtvorsprung darstellt, geringer und geringer wird. In der Soziokybernetik fasst man derartige Phänomene unter der Überschrift ‚Reflexität von Steuerung’ (vgl. Nothhaft/Wehmeier 2007, 158-59). Die soziokybernetische Rede von Steuerungsreflexivität beschreibt, dass jeder Versuch ein anderes, reflektierendes soziales System zu steuern unweigerlich dazu führt, dass der Steuerungsakteur selbst einer gewissen, wenn auch nicht zwangsläufig reziproken oder symmetrischen Gegen-Steuerung unterliegt. Ein einfaches Beispiel vergegenwärtigt das Argument (vgl. Nothhaft/Wehmeier a.a.O.): Ein Abteilungsleiter beschließt, seine Abteilung umzugestalten, die Aufgaben neu und seiner Meinung nach besser und gerechter zu verteilen. Um das zu tun, benötigt er Informationen. Das ist ebenjenes Dilemma, welches seinen Urgrund in Ashbys law of requisite variety hat und von Bühl (1990) unter der Überschrift Dualität von Kontrolle und Information angesprochen wurde: Ehe er sinnvoll und vernünftig steuernd eingreifen, eben intervenieren kann, muss der Abteilungsleiter in Erfahrung bringen, welcher Mitarbeiter derzeit über die Maßen ausgelastet ist und welcher noch die eine oder andere Aufgabe übernehmen könnte. Jeder oder zumindest viele seiner Versuche, derartige Daten zu erhalten, werden aber von seinen Mitarbeitern als Vorboten eines steuernden Eingriffes ausgemacht werden – sprich: Reorganisation, Umstrukturierung. Das Ergebnis ist, dass sie ihr Feedback im Rahmen der bestehenden Möglichkeiten dergestalt wählen, dass es ihren Interessen dient. Der dynamische aufstrebende Typus wird sich also noch mehr Verantwortung aufbürden, der phlegmatische Drückeberger hingegen versuchen, Arbeitsbelastung abzuwälzen. Was der Abteilungsleiter also erreicht, wenn er naiv und unsystemisch an sein Projekt herangeht, ist das genaue Gegenteil. 2.3 Praxis, Job, Task, Rolle und Person revisited Unter 2.2 gebrauchte der Autor bereits die Begriffe Job, Task, Rolle und Person. Zwei der Begrifflichkeiten, Rolle und Person, wurden bereits unter I., in Zusammenhang mit Inszenierung erörtert. Jetzt gilt es, die eng damit verknüpften Konzepte des Jobs und der Tasks zu klären und zueinander und zu den Konzepten von Lebenswelt, System und Praxis in Beziehung zu setzen. Das geschieht, um die Argumentation nicht auseinanderzureißen, größtenteils ohne Rekurs auf die gängigen Verwendungsweisen: In Beziehung zu Forschungstraditionen setzte der Autor die Konzepte unter B.
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a) Job Prima facie ließe sich vermuten, dass Pressesprecher, Public Relations Manager, Direktor Unternehmenskommunikation, Vice-President Corporate Communications typische Bezeichnungen für Jobs sind. So wie es der Autor sieht, ist das teilweise richtig, teilweise falsch. Richtig ist, dass die Bezeichnung Direktor Unternehmenskommunikation nahelegt, dass der Träger der Bezeichnung bestimmte Macht- und Verantwortungsbereiche, ein bestimmtes Maß an formaler Autorität hat, bestimmte Zwecke und Ziele verfolgt, bestimmte Mittel einsetzt. Falsch ist, dass die Beschriftung auf dem Türschild das entscheidende Element darstellt. Unter B arbeitete der Autor mit Blick auf die Traditionen der akteurszentrierten Forschung in der PR- und Managementlehre heraus, dass hinter dem Job des Pressesprechers ganz verschiedene Selbst- respektive Aufgabenverständnisse liegen können: z. B. als Mittler, als Sprecher, als Berater von Vorstand/CEO. Derartige Verantwortungs-, Einfluss- und Machtmuster sind in der Lesart des Autors die Elemente, welche einen Job konstituieren, ihn von anderen unterscheiden. Da es sich bei Public Relations/ Kommunikationsmanagement um eine maturierende professionelle Praxis handelt, lässt der Jobtitel in der Regel erahnen, welche Muster hinter der Position stecken, es ist jedoch nicht zwingend erforderlich. Ein Job entsteht, das ist zunächst einmal banal, wenn eine Person in einer Organisation eine Position mit bestimmten Machtbefugnissen und einem bestimmten Verantwortungsbereich übernimmt. Wie dargestellt wurde, ist der Gedanke jedoch irreführend, dass der Job einzig und allein durch die Organisation determiniert wird – etwa, als eine exakt definierte „Lücke“, die zu schließen ist, als ein Rädchen, das fehlt. Denn auch der umgekehrte Gedanke ist richtig: Organisationen werden zum größten Teil zusammengebaut aus „vorgefertigten“ Jobs, so dass Personen mit entsprechender Erfahrung zur Verfügung stehen, die in der Lage sind, die Position auszu- und die Funktion zu erfüllen. Das Konzept, welches die Organisation auf der anderen Seite mit der Person auf der anderen Seite verbindet, ist das Konzept der Praxis. Job und Praxis Eine Praxis, auch das wurde ausgearbeitet, definiert sich über typischerweise verfolgte Zwecke, typischerweise, „regelmäßig“ gesetzte Ziele und typischerweise eingesetzte Mittel. Um kompetent in einer Praxis zu agieren, ist es nicht erforderlich, die Praxis, ihre Zwecke, Ziele, Mittel und die sie verknüpfenden Regeln voll und ganz und bewusst zu begreifen, aber ein Mindestmaß ist erforderlich. Das Sprechen einer Sprache verdeutlicht das: Native Speaker kennen die Regeln der Grammatik nicht immer bewusst, aber sie wenden sie vorbewusst und unbewusst an. Wer Deutsch spricht, kennt nicht jedes Wort der deutschen Sprache, aber viele, die häufigsten, und in jedem Fall genügend, um in der Interaktion mit anderen im Rahmen des kompetenten Agierens zu verbleiben. Wer nicht genügend kennt, zu viele Fehler macht, rutscht aus der sozialen Praxis heraus, wird als non-native, als nicht kompetenter Sprecher identifiziert – man tritt ihm anders gegenüber. Beim Sprechen einer Sprache führt das in der Regel dazu, dass das Gegenüber toleranter ist – bei anderen, professionellen Praktiken führt es dazu, dass der andere als Laie oder Amateur angesehen wird, dass „Profis“ die Interaktion mit ihm abbrechen oder nicht auf Augenhöhe mit ihm interagieren. Für Kommunikationsmanager, die zwischen zwei Praktiken stehen, bedeutet das ganz konkret und praktisch, dass sie die Erwartungen und Erwartungserwartungen an Manager in der jeweiligen Organisation und an „PR-Leute“ in der jeweiligen Organisation
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erfüllen müssen: Wer weder den „management talk“ spricht noch die entsprechenden „buzzwords“ der PR- und Kommunikationsbranche kennt und gebraucht, verliert, wenn er nicht alternative Rollen entwickelt hat, rapide an Reputation. Ein Job entsteht also dadurch, und Abbildung 69 deutet das an, dass eine Person eine Position in einer Organisation übernimmt, um dort einer bestimmten Praxis nachzugehen, die Funktion wahrzunehmen, die durch eine Praxis wahrnehmbar ist: Handelt es sich um eine professionelle Praxis, dann tut sie das in der Organisation, durch die Organisation; handelt es sich auch um eine Organisationspraxis, dann tut sie es für die Organisation. Es ist also einer der Bestimmungsgründe einer Organisationspraxis, dass sie das Agieren des Akteurs auf die Organisation ausrichtet: Wenn man Kommunikationsmanagement nicht nur als professionelle, sondern eben auch als Organisationspraxis bestimmt, so heißt das nichts anderes, als dass das professionelle Handeln in letzter Konsequenz mit Blick auf das Wohl der Organisation, in ihrem Interesse geschieht. Die soziale Praxis, so sie eine Organisationspraxis ist, stellt die Person also in den funktionalen Nexus der Organisation. Dass es immer weniger die Organisation selbst ist, sondern immer mehr die Definition der Praxis, stellt nichts anderes dar als die Entwicklung, die unter C ausführlich aufgezeigt wurde: Die Fabrik Taylor’scher Prägung stellte den Akteur über die Struktur in den Dienst der Organisation, etwa über das Fließband – weshalb der Bandarbeiter arbeitete, war egal. Der knowledge worker, der sehr viel schwerer zu kontrollieren ist, wird über sein Selbstverständnis, über die Definition und Redefinition der beruflichen Praxis als Organisationspraxis in den Dienst der Organisation gestellt. Heutzutage gehört es zum Selbstverständnis eines „guten“ mittleren Managers, dass er selbstständig für das Unternehmen mitdenkt, seine besten Ideen unaufgefordert einbringt. Das ist etwa bei einem Lehrer nicht ähnlich ausgeprägt. Lehrer-Sein findet zwar in Schulen statt, aber nicht für Schulen. Die Praxis des Lehrer-Seins ist nicht in ähnlich ausgeprägtem Maße auf die jeweilige Schule ausgerichtet wie das Manager-Sein auf die jeweilige Unternehmung. Job und Lebenswelt Die Tatsache, dass ein Akteur in einer sozialen Praxis steht, also etwa als Arzt, in der Drogenberatung, als Entwicklungshelfer, Chief Financial Officer oder Direktor Unternehmenskommunikation arbeitet, löst ihn nicht als Akteur auf. Das Individuum steht als Mensch in der sozialen Praxis. Die persönlichen, individuellen Kalküle des Individuums durchwirken das Agieren in der Praxis. Hinter der Praxis steht das, was als der „existenzielle Dreikampf“ des menschlichen Sozialverhaltens ausgearbeitet wurde: Ego identifiziert also eine oder mehrere Ingroups, in welchem er sein eigenes Standing sichern möchte, ja sichern muss. Bis zu welchem Grad das geschieht und wie, ist abermals ein persönliches Kalkül: Für manche bedeutet es kontinuierliche Machterweiterung, für andere bedeutet es die Suche nach einer Position, die sie bequem bewältigen und aus der sie nicht verdrängt werden können. Der Ingroup stehen Outgroups gegenüber, die gegen Egos Ingroup arbeiten, zumindest in Egos Perzeption, zumindest in Egos Perzeption der Perzeption der Ingroup. Das führt dazu, dass Ego sein eigenes Standing in der Ingroup nur in begrenztem, vorsichtigem Maße auf Kosten und zuungunsten der Ingroup und ihres Zusammenhaltes zu sichern und auszubauen vermag: Manchmal muss er, im Interesse der Sache, seinen Part spielen.
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Job und System Das Interesse der Ingroup, das Interesse an einer „Sache“ deutet bereits an, dass dem persönlichen Kalkül des Individuums ein anderes gegenübersteht; eines, das der Autor als funktionales Kalkül apostrophiert. Das Konzept der Praxis vermittelt also zwischen der Tatsache, dass Menschen einerseits immer an sich selbst und ihr eigenes soziales Überleben denken, andererseits aber durchaus in der Lage, sich in den Dienst einer Sache zu stellen. Anders ausgedrückt: Jeder gewöhnliche Mensch ist fähig etwas zu tun, was nicht seinen derzeitigen eigenen Wünschen entspricht, ja seinen derzeitigen kurz-, mittel-, längerfristigen Interessen widerspricht, weil es, um es in Kant’scher Diktion auszudrücken, seine Pflicht ist, weil es, um es in der Managementterminologie zu formulieren, sein Job, seine Aufgabe (Task) ist, weil es in seine Verantwortung fällt – weil es der Sache dient. Ob er es immer tut und warum er es tut, ist eine andere Frage.
Abbildung 69: Multiperspektivierung des Akteurs durch sich selbst (Quelle: eigene Darstellung) Multiperspektivierung: Praxis, Lebenswelt, System Abbildung 69 suggeriert freilich ein sehr sauberes Bild. Der Autor glaubt, dass das Bild in der Perzeption der Akteure so sauber nicht ist, dass die drei Perspektiven aber auch nicht völlig verwickelt werden. Jeder Manager, ja jeder Mensch in einer Organisation, dürfte in der Lage sein zu sehen, dass es manchmal Diskrepanzen gibt zwischen dem, was einerseits
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ihm selbst nützt, was andererseits der Organisation nützt und was typischerweise und regelmäßig erwartbar ist, was Praxis ist: Von einer Pressesprecherin ist zu erwarten, dass sie mit einem Keyjournalisten zu einem Abendessen geht, um eine Story zu platzieren – aber nicht, dass sie mit ihm ins Bett geht. Der Autor postuliert also gerade nicht, dass Manager blind gegenüber derartig verwickelten, mehrschichtigen Zusammenhängen sind. Er geht im Gegenteil davon aus, dass reflective practitioners in der Lage sind, sich selbst zu multiperspektivieren: als Person mit Karriereambitionen, die eine Familie zu ernähren hat; als Direktor Unternehmenskommunikation, der ein guter, richtiger Kommunikationsmanager sein möchte; als kleines, funktionales Rädchen im Getriebe der Unternehmung, das einen Beitrag leisten will und muss. b) Der praktische, soziale und funktionale Nexus Verwickelter gestaltet sich das Bild, wenn die drei Ebenen zwar analytisch separiert, aber als ein Nexus analysiert werden. Auch dazu, meint der Autor, sind die Individuen bis zu einem Punkt selbst in der Lage. Sie sehen mehr oder minder klar und deutlich, bewusst oder vorbewusst, die Zusammenhänge der Ebenen. Sie sehen beispielsweise, dass sie, wenn sie Karriere in diesem spezifischen Unternehmen machen wollen, als „Profi“, als professioneller Kommunikationsmanager wahrgenommen werden müssen, der sich manchmal auch gegen „das System“ stellt, weil das zu der professionellen Praxis Kommunikationsmanagement gehört – der CEO duldet keine „Jasager“. Oder sie sehen, dass sie in jenem Unternehmen gerade das nicht tun dürfen, sondern jederzeit ihren Part als kleines Rädchen im Getriebe zu spielen haben. Ein anderes Kalkül ist das umgekehrte: Ein Pressesprecher sieht, dass er, wenn er in seinem Job erfolgreich sein möchte, sein Standing bei Journalisten nicht verscherzen darf – auch wenn ihn das unter Umständen Standing in der Unternehmung kostet. Der Autor sieht darüber hinaus einen Grad der Verwickelung, der von den Individuen selbst nicht mehr überblickbar und durchschaubar ist. Um das zu begreifen, ist es erforderlich, sich die konstruktivistische Argumentation aus I. ins Gedächtnis zurückzurufen. Grundsätzlich ging der Autor bis jetzt davon aus, dass die Multiperspektivierung des Autors durch sich selbst eine strikt subjektive ist: Das Individuum versteht den sozialen, funktionalen und praktischen Nexus so, wie es ihn eben versteht, ein anderes Individuum würde ihn anders, wenn auch, behauptet der Autor, nicht völlig anders verstehen. Die Frage, ob das Individuum die Zusammenhänge „richtig“ sieht, ist in der Absolutheit müßig, in einem Vergleich zwischen verschiedenen Individuen in ein und demselben Zusammenhang ist sie aber durchaus interessant. Der zu analysierende Komplex ist nämlich der, welche Prämissen der Akteur in seiner Perzeption des sozialen, praktischen und funktionalen Nexus stillschweigend als selbstverständlich voraussetzt, welche Verbindungen und Verknüpfungen er nicht bewusst und vorbewusst, sondern unbewusst zieht. Einige fiktive, nicht aus der Studie abgeleitete Beispiele illustrieren die Argumentation des Autors: Ein Direktor Unternehmenskommunikation mit einem uneingestandenen, hohen persönlichen Geltungsbedürfnis (sozialer Nexus) mag sich selbst einreden, dass es absolut wichtig und erforderlich sei, dem Unternehmen ein Gesicht zu geben, sein eigenes Gesicht nämlich (funktionaler Nexus). Dass andere Organisationsmitglieder das Geltungsbedürfnis ihres PR-Kollegen als ordinär und dysfunktional empfinden, wertet er als Beweis für die Tatsache, dass sie die Medienwelt nicht verstanden haben. Eine Person, die diszipli-
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när aus dem Marketing stammt, könnte kontinuierlich einen Zweifel hegen, dass das eigene PR-Handeln der Unternehmung etwas bringt (funktional), weil die Praxis (praktisch) in der sie de facto steckt nie richtig verstanden wurde: Stillschweigend ist die Person immer ein „Marketingmensch“ geblieben – obwohl sie de facto PR betreibt, hat sie ihre eigene Praxis nie vollumfänglich verstanden. Der Autor postuliert, dass derartige unbewusste und stillschweigende Querverbindungen verborgene Blockaden darstellen, welche dem Erfolg der Person im funktionalen, sozialen und praktischen Zusammenhang im Weg stehen. Die Möglichkeiten, derartige verborgene Blockaden alleine aufzudecken, sind gering – eine akademisch inspirierte Reflektion kann ein Weg sein; die Auseinandersetzung mit Beratern hoher Seniorität ein zweiter; die Inanspruchnahme von Personal Coaches ein dritter. Ein Exempel aus der Beobachtungsstudie rundet die Darstellung ab. Die Anekdote zeigt auf, wie ein älterer und erfahrener Direktor Unternehmenskommunikation sich selbst und andere, jüngere Berufskollegen multiperspektiviert. Manager G war in einem Alter an die Spitze der Kommunikation eines exponierten Global Player geholt worden, in welchem sich andere Führungskräfte, wie er selbst sagte, bereits in ihr „Ferienhaus in der Toskana“ zurückzögen. Er selbst zeigte sich verwundert darüber, dass der Vorstandsvorsitzende sich seinerzeit nicht für einen jüngeren Mann entschieden habe. Bei der Position handle es sich schließlich um eine typische Aufgabe für eine aufstrebende Führungskraft „um die vierzig“, die sich noch einmal in einer funktional spezialisierten Aufgabe bewähren müsse, ehe man ihr General-ManagementVerantwortung, etwa als Bereichsleiter, übertrage. Manager G wagte dann die Vermutung, einer der Gründe sei, dass der Vorstandsvorsitzende keine Person in der Kommunikationsfunktion wollte, die noch zwanzig Jahre Karriere vor sich und demnach etwas zu beweisen habe. Dies könne zu Aktivismus führen, der in der Kommunikation manchmal mehr schade als nütze. Er selbst hingegen – etwa im gleichen Alter wie der CEO – verfüge über die Seniorität und die „Alterweisheit“, in dieser oder jener Situation bewusst nicht zu intervenieren, die Dinge laufen zu lassen. c) Die Person im Job Um nicht missverstanden zu werden: Der Autor postuliert nicht, dass die Einstellungen der Person im Job, ihre Eigenschaften, Werte, keine Rolle spielen. Im Gegenteil: In Abbildung 69 steht die Person im Zentrum. Das zentrale Postulat des Autors ist, dass ein Verstehen von Managern und ihrer Jobs erst dort einsetzt, wo nicht nur funktionale, sondern eben auch soziale und Praxis-Erwägungen der Person in Rechnung gestellt werden. Der jüngere Manager „um die vierzig“, welcher von Manager G erwähnt wurde, muss nicht aus persönlichem, in seinem Charakter verwurzelten Geltungsbedürfnis heraus in Aktivismus verfallen. Er ist schlicht in einer anderen sozialen Situation. Er sieht sich gezwungen, gegenüber anderen Top-Managern im Management Game sichtbare Erfolge zu erzielen, um sein Standing auszubauen. Und das Standing benötigt er, in seiner Wahrnehmung, um schlicht und einfach seinen Job zu machen. Manager G sah keinen Grund mehr, sein Standing auszubauen, weil er es über Jahre und Jahrzehnte erfolgreicher Praxis aufgebaut hatte (Handeln, Aktion), weil er sich nicht mehr gezwungen sah, jemandem etwas zu beweisen (Wahrnehmung, Beobachtung). Das zentrale Postulat des Autors ist, dass die drei Zusammenhänge nicht wirklich voneinander zu trennen sind. Der Job des Managers ist zu verstehen als Person-in-Practice-in-
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Social-Situation-in-Organization. Im Top-Management, behauptet der Autor, ist es kaum einmal möglich, sich auf die zwei Zusammenhänge zurückzuziehen, die gewöhnlich genügen, um einen Job zu definieren: den funktionalen und den praktisch-professionellen. Managerin F erzählte dem Autor beispielsweise, wie verwundert sie gewesen sei, als die Wahl ihres Dienstwagens bei ihren Direktionskollegen zu Unmut, ja beinahe Empörung führte. Auf Direktionsebene stand ihr ein Wagen im Luxussegment zu, etwa ein 7er BMW oder Mercedes der E- oder S-Klasse. Ihre Wahl fiel auf einen VW Golf – mit der persönlich sympathischen Begründung, dass die großen Limousinen nicht in ihre Garage passten. Als der Autor entgegnete, dass er den Unmut ihrer durch die Bank männlichen Kollegen verstehe, konnte er auf Nachfrage keine Begründung liefern. Die Begründung liefert er nach: Gerade als Frau stellte sich Managerin F mit ihrer Entscheidung außerhalb einer Gruppe auf, die von ihr ein klares Bekenntnis des Dazugehörens erwartete: der Direktionskreis. d) Job und Tasks Der Job ist also nicht nur eine Funktion des Systems, er ist aber auch nicht nur eine soziale Position in der Lebenswelt, er ist beides. Willke (2005b, 36) formuliert es umgekehrt: „Es wird dann unumgänglich für ein Begreifen und Beeinflussen des Systems, durch die Personen hindurch zu sehen auf die hinter ihnen sich verbergenden Kommunikationsstrukturen und -regeln“ (kursiv i.O.). Die mit einem Job Hand in Hand gehenden Tasks sind manchmal funktional erklärbar, manchmal sozial – oft sind sie aus der Praxis heraus erklärbar, die vorgefertigte Muster bereithält: Ein „guter“ Abteilungsleiter ist bei der Verabschiedung eines altgedienten Mitarbeiters persönlich anwesend: „Das gehört sich einfach“. Das Beispiel bietet einen Einstieg in das, was der Autor unter Tasks versteht. Als Tasks sieht der Autor Aufgaben respektive immer wiederkehrende Aufgabenmuster an, die aus dem jeweiligen Job erwachsen, bei ähnlichen Jobs ähnlich sind, aber nicht zwingend deckungsgleich. Was Mintzberg als zehn Rollen bezeichnet, und was der Autor unter B als Exempel für objektive Rollen kritisch diskutiert, sind eben Tasks: Dass der Manager als Repräsentant oder „Galionsfigur“ die ganze Abteilung, ja das ganze Unternehmen vertritt, ist eine der Aufgaben, die ihm aus seinem Job erwachen. Die Aufgaben oder Tasks erwachsen aus entweder den übergeordneten Zwecken, den Zielen, der Anwendung der Mittel oder den Regeln, welche die Praxis bilden, jeweils in der Brechung durch die soziale Situation und die Funktion im System. Etwas abstrakter ausgedrückt, erwachsen die Aufgaben also aus dem Job – wie ihn die Führungskraft sieht, wie er sich auch mit der Zeit herausgebildet hat. Etwas konkreter und spezifischer treten der Führungskraft jedoch nicht die abstrakten Anforderungen und Bedürfnisse ihres Jobs gegenüber, sondern aus dem Job heraus entstehen in der tagtäglichen Arbeit Probleme, für die man sich verantwortlich fühlt – Probleme, die der Manager lösen möchte; Probleme, die er lösen muss; Probleme, die nur er lösen kann, weil nur er über die entsprechende formale Autorität und Macht dazu verfügt. Sieht man sich Mintzbergs zehn Rollen an, wie der Autor sie unter B erörtert, dann zeigt sich, dass die Rollen letztlich als Konstellationen von Problem-des-Managers plus Lösung-durch-den-Manager zu begreifen sind. Der Manager nimmt die Aufgabe als „Leader“, als Vorgesetzter wahr, weil er die formale Autorität dazu hat, und weil er seine Vorstellungen von der Abteilung umsetzen möchte, ja muss. Die Managerin nimmt die Aufgabe als „Monitor“, als „Radarschirm“ wahr, weil bei ihr die Fäden letzten Endes zusammenlaufen und sie eben auch, für sich, ein Gesamtbild der Lage
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benötigt: das ist das Problem und die Lösung. Der Manager nimmt die Aufgabe als „Disturbance Handler“ oder „Krisenmanager“ wahr, weil er die Macht dazu hat, die bestehende Ordnung temporär außer Kraft zu setzen – und weil er auch dann ergebnisverantwortlich bleibt, wenn sich andere, unter Rekurs auf ihre „eigentlichen“ Jobs und Rollen aus der Affäre ziehen. e) Job, Tasks und Rollen Wenn Mintzbergs zehn Rollen in der Terminologie des Autors Tasks darstellen, stellt sich die Frage, was der Autor unter Rollen versteht. Die Antwort lautet, dass der Autor mit seinem Rollenbegriff zum Konzept der Inszenierung und des Theaterspielens zurückkehrt, wie es unter I.9 erörtert wurde, wie es ausgeprägt Goffman verwendet (vgl. Goffman 1990). Eine etwas ausführlichere Auseinandersetzung mit den verschiedenen Traditionen der Rollenforschung, der subjektiven und der objektiven, sowohl in der Management- als auch in der PR-Lehre, fand sich bereits unter B. Dort arbeitete der Autor aus, dass das Konzept der Rolle am besten zu verstehen ist, wenn man zwischen Form und Inhalt unterscheidet. Als Form verstanden stellt die Rolle die in Abbildung 68 gezeichnete „Abschirmung“ dar, welche es der Person gestattet, nicht vollumfänglich als Person in der Organisation zu partizipieren, sondern lediglich in ihrer professionellen Rolle. Das macht den Diskurs einfacher, weil es das „face-work“ (Goffman 1967) – das Bemühen, das Gesicht des anderen zu wahren – simplifiziert. Man greift nicht Personen an, sondern agiert eine Rolle aus (enactment); man bleibt professionell. Was der Autor unter dem Inhalt einer Rolle versteht, ist zu begreifen, wenn man sich vor Augen führt, dass andere nicht die Möglichkeit haben, in die Person hineinzusehen – sie sehen im Prinzip nur das Rollen- respektive Theaterspiel. Das führt dazu, dass Rollen zwar die Situation berücksichtigen und die Person widerspiegeln müssen, sie müssen aber auch generische Elemente enthalten, anhand derer sie überhaupt als diese oder jene Rolle zu erkennen sind. Ein Schauspieler, um eine unter B gebrauchte Formulierung aufzugreifen, spielt ja nicht nur „seinen“, sondern eben „den Hamlet“: Wenn er Shakespeares Originaltext spricht, mag er auf den obligatorischen Totenschädel verzichten, wenn er in einer avantgardistischen Variante rappt, benötigt er ihn, um als Hamlet erkannt zu werden. 2.4 Das Management Game als Funktionslebenswelt Im Lichte der Überlegungen zu System und Lebenswelt, zu Jobs, Tasks und Rollen, lässt sich jetzt das Management Game präziser greifen. Es lässt sich greifen, was es heißt, am Management Game teilzunehmen; und es lässt sich greifen, was es heißt, in das Spiel involviert zu sein. Am Management Game teilnehmen heißt demnach, dass nicht ein beliebiger Part der Organisation, sondern dass die dominant coalition – die Riege der tatsächlichen Entscheider, das Führungs-, Gestaltungs- und Lenkungssystem einer Organisation – die faktische Funktionslebenswelt des Akteurs ist. Man ist also nicht bereits „part of the game“, wenn man offiziell auf dieser oder jenen Hierarchiestufe angesiedelt ist oder nominell über diese oder jene Befugnis verfügt. Man spielt das Management Game erst, wenn man alltäglich und lebensweltlich mit den „Mächtigen“ des Unternehmens, oder welchen „Systems“ auch immer, interagiert: wenn man ihnen gegenübersitzt, an Besprechungen face-to-face teilnimmt, hinter die Kulissen blickt, Beziehungen zu ihnen aufgebaut hat etc. Reber und
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Berger gelangen auf Basis von 162 Tiefeninterviews mit PR-Praktikern zum gleichen Ergebnis: But our findings suggest that position does not necessarily translate into influence, as Berger (2005) has suggested. Relatively few of our respondents argued that a seat at the decision-making table was the primary indicator of having influence. Other important factors in this regard may include relationships, access to decision-makers, political skill and will, past performance record and so on. (Reber/Berger 2006, 45)
Das Spielen des unternehmenspolitischen Spieles geschieht qua Rolle oder Task respektive Rollen-/Task-Kombination. Das Management Game, postuliert der Autor, vollzieht sich zu einem großen Teil in Routine und Routineinteraktionen, in welchen präexistierende Strukturen, Routinen und Prozesse im Giddens’schen Sinne reproduziert werden, womöglich mit der Tendenz in die eine oder andere Richtung, aber eben nur mit einer Tendenz (vgl. 2.1). Das heißt, es werden Entscheidungen getroffen, Beschlüsse verabschiedet, Pläne gemacht, die durchaus weitreichend und riskant sein können, die so oder etwas anders hätten ausfallen können, die womöglich im nachhinein ein Muster, einen „Kurs“ oder ein „Programm“ in sich tragen, mit der einige Akteure womöglich eine „Agenda“ verfolgen – für die Entscheider, Beschließer und Planer im hier und jetzt handelt es sich aber um „typische“, „rationale“, „normale“ Akte. Gelegentlich, aber oft unvorhergesehenerweise, finden Spielzüge durch den einen oder anderen Akteur statt, die eben nicht den bestehenden Status Quo, die bestehenden Regeln des Spieles bestätigen. Obwohl der Terminus gewöhnlich für „legitime“ Eingriffe durch Vorgesetzte oder außenstehende Berater reserviert ist, spricht der Autor von Interventionen. Anders ausgedrückt: Es werden die konstitutiven Regeln des Spieles angegriffen. Das persönliche Rollenset: Die geschäftige Lady of Affairs Eine der größten Herausforderungen für Manager und insbesondere Kommunikationsmanager sieht der Autor entsprechend darin, ihr persönliches Rollenset zu entwickeln, in welchem sie authentisch zu agieren verstehen; welches ihnen mehr Freiräume (maneuver space) gibt, als es sie einschränkt; welches ihre persönliche Wirkung eher verstärkt denn schwächt. Was man gemeinhin als den „Stil“ eines Managers etikettiert, behauptet der Autor, lässt sich zum großen Teil durch sorgfältige Betrachtung der Art und Weise herausarbeiten, welche Rollen wie „gespielt“ werden und wo. Eine typische Rolle von PRManagern, die der Autor verschiedentlich in seiner eigenen Berufserfahrung beobachtete – nicht in der Beobachtungsstudie übrigens – ist die Rolle der geschäftigen Lady of Affairs. Die Rolle der geschäftigen Lady of Affairs (natürlich gibt es auch geschäftige Men of Affairs) besteht darin, dass eine Führungskraft im Umgang mit untergebenen Mitarbeitern immer, via verschiedene Cues und Marker, den Eindruck erweckt, „eigentlich“ mit Wichtigerem befasst zu sein, sich jetzt aber doch „kurz mal die Zeit nimmt“. Dass die Rolle Nachteile mit sich bringt, versteht sich von selbst. Es gilt aber umgekehrt, dass sie auch große Vorteile mit sich bringt. Wenn der Führungskraft beispielsweise Fehler unterlaufen, wenn sie Dinge übersieht, wenn sie sich nicht die Zeit für die kleinen, aber aufwändigen Details nimmt, dann ist in der Rolle bereits die passende Erklärung angelegt. Und die Wirkung ist die, dass die Mitarbeiter nicht den Respekt vor der Führungskraft verlieren, sondern sich noch mehr anstrengen, Fehler von sich aus zu vermeiden, weil „die Chefin“ dermaßen beschäftigt ist, dass sie sich nicht um alles zu kümmern vermag. Es ist natürlich anzuneh-
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men, dass gegenüber übergeordneten Akteuren, Kunden, Geschäftsführern, Vorständen, die Rolle der geschäftigen Lady of Affairs entweder anders oder aber mit anderen Schwerpunktsetzungen „gespielt“ wird. Eine andere Schwerpunktsetzung liegt vor, wenn der Aspekt der Geschäftigkeit, der gegenüber untergebenen Mitarbeitern sehr stark in den Vordergrund gespielt wird, angesichts „wichtigerer“ Personen in den Hintergrund tritt – gleichwohl wird aber nach wie vor Wert darauf gelegt, die Vielzahl der eigenen Verpflichtungen zu betonen. Eine ganz und gar andere Rolle liegt vor, wenn die Beraterin im intensiven Kontakt mit Kunden nicht als geschäftige Lady of Affairs, sondern als „Therapeutin“ auftritt. Mechanismen und Dynamiken der Rollen- und Task-Übernahme Das Beispiel deutet an, dass Jobs und Tasks mehr im Nexus zwischen Praxis und Funktion, Rollen aber mehr im Nexus zwischen Praxis und Lebenswelt stehen. Tasks sind eher funktional, Rollen eher sozial – aber in der täglichen Arbeit, insbesondere in der von Führungskräften, ist das eine nicht ohne das andere zu bewältigen. Insofern ist es verführerisch, Rollen und Tasks miteinander in Deckung zu bringen, für jeden Task eine Rolle zu fordern. Ferner ist es verführerisch, eher viele denn wenige, eher „starke“, „farbenkräftige“ Rollen zu fordern als „schwache“ und „blasse“. Das ist aber, wie der Autor glaubt, ein theoretischer Fehler, und auch einer, der Rollen als frei und beliebig gestaltbar begreift. De facto werden Führungskräfte genauso in Rollen und Tasks hineingedrängt, wie sie Rollen und Tasks für sich zu erobern versuchen, sie beanspruchen. Manche der Rollen und Tasks, die ihnen angetragen werden, nehmen Führungskräfte an (role-taking, task-taking), andere lehnen sie ab (role-refusal, task-refusal). Wiederum andere würden sie gerne übernehmen, andere Organisationsangehörige verweigern sie ihnen aber (role-denial, task-denial). Eine der wohl begehrtesten und prestigeträchtigsten Positionen, welche Direktoren Unternehmenskommunikation anstreben, ist die éminence grise. Unter einer éminence grise, einer „grauen Eminenz“, versteht der Autor einen einflussreichen Ratgeber oder „Einflüsterer“, der zwar still und leise im Hintergrund agiert, der aber über enormen Einfluss auf den oder die Mächtigen verfügt – Einfluss, der auch anerkannt ist, zumindest unter Eingeweihten. Das Beispiel an sich bereits vergegenwärtigt bereits dreierlei: Erstens, dass Rollen allein nicht aussagekräftig sind – sie gehen immer Hand in Hand mit Jobs (Berater des Vorstands/CEOs) und Tasks („Nervenzentrum“, „Troubleshooter“, „rechte Hand“). Zweitens, dass Rollen nur dort Sinn und Zweck haben, wo sie auch mehr oder minder respektiert werden. Der faktische Einfluss genügt nicht, es muss auch die Perzeption als einflussreich hinzutreten – deswegen können Rollen verweigert werden. Drittens, dass Rollenbilder sich auch aus unserem kulturellem Hintergrund speisen: Um die Rolle zu charakterisieren, griff der Autor mit dem Bild der éminence grise auf ein Konstrukt zurück, das aus der Historie stammt und literarisch verarbeitet wurde.157
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Der Terminus bezog sich ursprünglich auf den Kapuzinermönch François Leclerc du Tremblay oder Père Joseph (1577-1638), welcher enormen Einfluss auf Kardinal Richelieu (1585-1642) genoss und aufgrund seiner schlichten graubraunen Robe, im Vergleich zum Scharlachrot des Kardinals, ‚graue Eminenz’ genannt wurde. Der englische Schriftsteller Aldous Huxley verfasste eine Biographie du Tremblays unter dem Titel Grey Eminence, die 1941 erschien. Es existiert auch ein Bild des Malers Jean-Léon Gérôme (entstanden 1873), welches Père Joseph in seiner schlichten Robe zeigt, wie er gerade eine Treppe herunterkommt: Viele Höflinge, „Eingeweihte“, verbeugen sich unterwürfig vor ihm, andere „Uneingeweihte“ zeigen sich darüber sehr verwundert.
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D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
2.5 Der Durchgriff der Systeme auf die Lebenswelt: Der Kafka-Effekt Bislang fokussierte die Arbeit auf einen Akteur, der im Rahmen einer sozialen Praxis in ein komplexes soziales System integriert ist, um dort steuernd oder regelnd zu intervenieren. Das Ergebnis ist, wie herausgearbeitet wurde, dass das soziale System mit seinen verwickelten Zusammenhängen, Eigendynamiken und -logiken für den Manager mehr und mehr zu einer lebensweltlichen Sphäre wird, zu einer Funktionslebenswelt, in der er kompetent agiert respektive kompetent zu agieren glaubt. Einer der Gründe dafür, auch das wurde herausgearbeitet, ist die Tatsache, dass das System, um Hejls Vergleich zu gebrauchen, eben nicht nur aus den Fäden des Netzes besteht, sondern auch aus Knoten – Personen, die man kennt. Die Personen sind, wie der Manager selbst, im „existenziellen Dreikampf“ involviert – und darüber lässt sich in das System intervenieren. Mit 2.5 kehrt der Autor die Perspektive um und fokussiert einen Akteur, der durch ein komplexes soziales System tangiert ist. Das heißt, das System interagiert mit dem Akteur nur insoweit, wie es ihn funktional berührt, im Rahmen der funktionalen Routinen. Die Lebenswelt des tangierten Akteurs ist eine völlig andere, aber die Organisation oder Institution als System greift auf sie durch. Derartige Durchgriffe sind zunächst einmal überhaupt nicht ominös. Sie geschehen Tag für Tag – etwa, wenn man in ein Flugzeug steigt. In der Regel, wenn alles gut geht, merkt man in derartigen Situationen gar nicht, dass man für das „System Fluglinie“ lediglich „Fluggast“ ist, der möglichst komplett der Fluglinienlogik zu unterwerfen ist, damit ein störungsfreier Flugbetrieb gewährleistet bleibt. Geschieht aber etwas Außergewöhnliches, dann tritt mit einem Mal mehr und mehr hervor, dass die Fluglinie die Tatsache, dass ihre Fluggäste Menschen sind, nur insoweit in Rechnung stellt, wie es für ihre Fluglinienlogik erforderlich ist. Ist die Maschine überbucht, wird man von der Passagierliste genommen und erhält eine Kompensation im gesetzlichen Rahmen – das Personal „diskutiert“ nicht mit den Passagieren darüber, dass sie müde sind und nach Hause wollen, denn die Diskussion würde Tür und Tor öffnen für ebenjene Interventionen in das System, die der Autor unter 2.1, 2.2. und 2.3 skizzierte. Das Ausgeliefertsein, welches das Individuum verspürt, wenn die Funktionslogik eines komplexen Systems auf die eigene Lebenswelt unangenehm, ja bedrohlich durchgreift, apostrophiert der Autor als Kafka-Effekt. Der Kafka-Effekt entsteht, weil die menschliche Kultur aufgrund sozioevolutionärer Dynamiken komplexe Artefakte wie etwa Organisationen, Institutionen oder abstrakte Systeme generiert. Die Artefakte agieren quasiintentional, haben enorme Macht über Individuen – die Individuen verstehen sie aber schlecht, falsch oder gar nicht. Entweder werden sie als Akteur „wie ich“ vermenschlicht. Oder sie werden als vage und diffuse Umwelt wahrgenommen, die schlicht und einfach geschieht. Ein und derselbe Sachverhalt lässt sich auch anders ausdrücken: Der Mensch findet keinen Zugang zu diesen Systemen, weil er sie entweder nicht versteht – oder weil sie sich bewusst und absichtsvoll abschotten, um ihre Funktionslogik nicht zu gefährden. Mit der Kafka-These stellt sich der Autor in einigen Punkten gegen den Optimismus eines Giddens, und hinter die Tradition der Systemtheorie und Soziokybernetik. „Alle kompetenten Gesellschaftsmitglieder sind in der praktischen Durchführung sozialer Aktivitäten beträchtlich qualifiziert und ‚soziologische Experten’“, schreibt Giddens (1995, 78). Die Soziokybernetik betont gerade das Gegenteil: Dass Menschen zwar in ihrer eigenen, selbst „gebauten“ Lebenswelt soziologische Experten sein mögen. Wenn man nach dem Wirkungsfeld fragt, welches unser Leben „wirklich“ bestimmt, etwa Konjunkturschwankungen, Finanzkrisen, globale Umweltverschmutzung und Erderwärmung, hat es der
III. Manager-Sein im Management Game
453
Mensch im Rahmen komplexer sozialer Systeme mit Effekten und Phänomenen zu tun, die zu verstehen er gerade nicht von der Natur ausgestattet wurde. Forrester, der als Autor des World Dynamics-Models zu einiger Berühmtheit gelangte, machte bereits 1974 geltend, dass der menschliche Verstand nicht dazu geeignet sei, das Verhalten komplexer sozialer Systeme zu begreifen (Forrester, 1974). Forrester argumentiert, dass die komplexen sozialen Systeme, die unser Leben heutzutage prägen, zu der Klasse der „mehrfach vermaschten, nicht linearen Rückkoppelungs-Systeme“ gehören. In der langen Entwicklungsgeschichte war es für den Menschen bis in die jüngste Zeit hinein nicht notwendig, diese Systeme zu verstehen. Evolutionsprozesse haben uns nicht die geistige Geschichtlichkeit gegeben, die für die richtige Interpretation des dynamischen Verhaltens der Systeme, von denen wir jetzt ein Teil geworden sind, notwendig wären. (Forrester 1974, 201f.)
Worauf Forrester abhebt, das ist zu erwähnen, sind die Dynamiken großer Zusammenhänge: Wachstum und Niedergang urbaner Areale etwa, die Verläufe von Epidemien oder sein eigenes Modell, welches die Wechselwirkungen von Bevölkerung, Verschmutzung, Industrialisierung, Ressourcen und Nahrungsmittelproduktion auf globaler Ebene abzubilden suchte. Ebenjene Zusammenhänge sind es aber, die in einer globalisierten Welt unser Leben beherrschen (vgl. auch Willke 2005b, 174-181; von der Argumentation her ähnlich und gegen Trial-and-error Senge 2006; vgl. auch A.II.6). Der Autor nennt die These Kafka-These, weil sie nicht neu, in ihrer Allgemeinheit aber auch nicht maßgeblich auf einen Denker zurückzuführen ist – der Poet Kafka gestattet es, Debatten aus dem Weg zu gehen, die der Autor weder führen kann noch will: etwa, ob Marx das klarer gesehen hat als Durkheim oder Weber, dergleichen. So wie der Autor es sieht, liegt die Kafka-These vielen soziologischen Analysen implizit oder explizit zugrunde; im Prinzip jeder, die so oder so zum Ergebnis gelangt, dass eine Gesellschaft nicht „menschengemäß“ ist. Schärfer und simpler als allgemeine soziologische Analysen ist sie hinsichtlich ihrer Begründung. Sie zeigt, dass das fundamentale Problem nicht ein vager, ideologischer Interpretation zugänglicher Entwurf der condition humaine ist, sondern ein kognitives. Man nimmt komplexe Systeme nicht wahr, sondern registriert lediglich die Interaktion mit ihnen. Kinder „lernen“ andere als Akteure, „als so wie sie“ zu rekonstruieren in der Interaktion mit anderen Menschen, ihren Eltern etwa. Kinder interagieren nicht mit Organisationen, Institutionen oder abstrakten Systemen, sie sind dazu nicht in der Lage – und das ist Symptom und Diagnose zugleich. Kinder interagieren zwar mit Tieren, aber die Art und Weise wie sie sie vermenschlichen, ist symptomatisch. Ebenso symptomatisch ist die Beklommenheit von Erwachsenen, wenn sie mit großen, unübersichtlichen Organisationen, etwa Behörden, interagieren. Sie ist nach Ansicht des Autors der Tatsache geschuldet, dass auch Erwachsene nur in Analogie in der Lage sind, mit Organisationen zu interagieren. Das Gefühl des Ausgeliefertseins, welches Franz Kafka in Werken wie Das Schloss oder Der Prozess poetisch aufarbeitet, wurzelt, wie der Autor glaubt, in der Tatsache, dass die Grundausstattung des Menschen auf Gemeinschaft mit Menschen, nicht aber auf komplexe Gesellschaft mit komplexen Organisationen und Institutionen ausgerichtet ist – wobei auch der Begriff komplex wiederum Symptomatik und Diagnose zugleich ist.
454
D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
Kommunikationsmanagement: A brand like a friend Der Autor nimmt mit der Kafka-These also an, dass eine Lücke klafft zwischen dem „natürlichen“ Verständnis von Menschen, dem Verständnis „natürlicher“ physikalischmaterieller, kausal-logischer Weltzusammenhänge einerseits – und dem Verständnis komplexer, mehrfach vermaschter und rückgekoppelter Systeme, wie einem großen Konzern, andererseits. Man „sieht“ Organisationen nicht so, wie man den Gesichtsausdruck eines anderen Menschen oder ein brennendes Haus sieht. Anders ausgedrückt: Organisationen handeln, aber sie sind weder ähnlichkomplexe Menschen noch niedrigerkomplexe Tiere, sondern höherkomplex und anders. Dass der Mensch ein Bedürfnis hat, Entitäten mit Einfluss und Macht über ihn und sein Leben zu verstehen, ist verständlich. Die Unverständlichkeit und vermeintliche Lebensferne vieler systemisch-organisationstheoretischer Schriften, die sich bemühen, exakt und präzise zu beschreiben, was in Organisationen „wirklich“ geschieht, ist jedoch abermals Symptom und Diagnose zugleich. Die Tragik von Personen, die „von der Firma“ ernsthaft Dankbarkeit, „Gerechtigkeit“ von Gerichten, „fairen Lohn für gute Arbeit“ erwarten, ist ein weiteres. Die Common Sense-Logik, mit der „Systemkritiker“ auf vermeintliche „Systemwidersprüche“ verweisen, gehört ebenso dazu wie drollige Aufrufe von Politikern und Experten, das Kapital möge sich seiner nationalen Verantwortung besinnen. Alles in allem handelt es sich um Beispiele für die Unbeholfenheit, mit der Menschen, der Autor eingeschlossen, an soziale Systeme herangehen, die größer und verwickelter sind als Sippen, Dorfgemeinschaften oder „familiäre“ Unternehmen – Systeme, die in ihrer Komplexität Dunbars Zahl um Potenzen übersteigen. Der Mensch arbeitet sich ab, um zu einem Verständnis derartig komplexer Organisationen, Institutionen und Systeme um ihn herum zu gelangen. Er versucht zu einer lebenspraktischen theory of the job zu gelangen, die lebensweltlichen mentalen Modellen vergleichbar ist. Weil es für ihn überlebenswichtig ist, weil es ihm aber nicht oder nicht hundertprozentig gelingt, greift er gerne und bereitwillig zu jedem Strohhalm, sprich menschengerechtem Deutungsangebot, jeder Sinnstiftung, sei es Religion, Ideologie, sei es ein Image, eine Marke – „A brand like a friend“, um den Claim von Henkel ins Feld zu führen. Was das für das Thema der Arbeit bedeutet, liegt auf der Hand: Das, was wir hier und jetzt Public Relations, Kommunikationsmanagement oder Unternehmenskommunikation nennen, hat nach Ansicht des Autors Wurzel und Ursprung in ebenjener Lücke der Unbeholfenheit. Was es heißt, die Lücke der Unbeholfenheit zu schließen, lässt sich wiederum so oder so lesen. Die eine Lesart ist, dass es Sinn und Zweck der Unternehmenskommunikation ist, Deutungsangebote zu machen, um die Beklommenheit zu vermindern, der der Einzelne in einer Welt ausgeliefert ist, in der er sich gesichtslosen Behörden, fremden Konzernen und abstrakten Institutionen gegenübersieht, die er nicht versteht. Ebenjene These vertritt Ronneberger (1977), vertreten Ronneberger und Rühl (1992), wenn sie postulieren, Public Relations verhinderten ein Auseinanderdriften der Gesellschaft; ebenjene These vertritt im Prinzip auch Zerfaß (2004), wenn er soziale Integration als Funktion der Unternehmenskommunikation ausarbeitet; ebenjene These vertreten auch die St. Galler Theoretiker des mcm, wenn sie eine Aufgabe der Unternehmenskommunikation in der Verankerung des Unternehmens in der Lebenswelt der Stakeholder sehen (Schmid/Lyczek 2006). Die andere, kritische Lesart ist die, dass clevere Public Relations-Manager die Unbeholfenheit des Menschen ausnutzen, um eine Fassade zu konstruieren. Die Menschen nehmen sie dankbar an, weil sie Sinn stiftet, Bedeutung vermittelt, vermenschlicht – während die Organisation hinter der Fassade, mehr oder minder von ihr abgekoppelt, ganz andere Ziele
III. Manager-Sein im Management Game
455
verfolgt. Ebenjene Antithese vertreten neo-institutionalistisch inspirierte kritische Theoretiker wie etwa Wehmeier (2006) oder postmoderne wie Holtzhausen (2002). Auch die konstruktivistisch inspirierte Rede von der „wünschenswerten Wirklichkeit“ bei Merten und seiner Schülerin Kückelhaus (1998) lässt sich dergestalt begreifen (vgl. zu Mertens konstruktivistischer Perspektive grundlegend Merten 1999, 256-292; Merten/Schmidt/ Weischenberg 1994; vgl. ferner Merten 1992). 3.
Lokus und Identität, das Re-entry der Organisation, der Nimbus der Professionalität Die Arbeit hat einen Bogen geschlagen, um das Management Game nicht nur zu benennen, sondern zu verstehen. Um Kommunikationsmanagement im Management Game zu verstehen, wurde das Konzept der Lebenswelt entwickelt (I.), dem Konzept des Systems gegenübergestellt (II.), schließlich das Konzept der Funktionslebenswelt entwickelt (III.). Am Management Game zu partizipieren, postulierte der Autor, setzt voraus, dass das Management-„System“ der Organisation die Funktionslebenswelt des Akteurs darstellt: In ihr interagiert der Akteur mit Entscheidern, die nicht bloß Funktionäre und Instanzen, sondern eben Personen sind. In ihr geht der Akteur gleichermaßen (1) seiner professionellen Praxis, seinem Job nach; versucht (2) als Person ein akzeptables soziales Standing in verschiedenen Groups innerhalb und außerhalb der Organisation zu erobern; versucht (3) zielgerichtet in einem System zu agieren, welches er nur komplexitätsreduziert versteht, welches für ihn teilweise ominös, partiell unkalkulierbar bleibt. Die Zusammenführung von Lebenswelt und System löst viele Probleme, welche sich bei einseitiger Betrachtung stellen: Die Perspektive erklärt einerseits, weshalb Organisationen in logisch paradoxen Situationen handlungsfähig bleiben und zu Entscheidungen gelangen: nämlich, weil die in einen Konferenzraum eingesperrten Entscheider als Menschen nach Hause wollen und deshalb irgendeine Entscheidung treffen, weil sich derjenige durchsetzt, der über das zäheste Sitzfleisch verfügt, die anderen einschüchtert, verführt oder, wie es dem Klischee nach bei Geschäftsabschlüssen in Osteuropa der Fall ist, den Wodka am besten verträgt. Die Perspektive erklärt andererseits, weshalb Organisationen in heikle Situationen gelangen, die jeder vernünftige Mensch, jeder einzelne vernünftige Organisationsangehörige klar und deutlich von Anfang an sah – aber unter Bedingungen der Systemkomplexität, der Eigendynamik komplexer sozialer Systeme, geschehen am Ende Dinge, die niemand wollte. Das Abilene-Paradox, wie es Harvey (1974) beschreibt, ist noch ein harmloses Beispiel – die Logik des Misslingens, wie sie Dörner (1989) ankreidete, ein tragisches. Lokus und Identität einer Organisation Als Neben- und Beiprodukt des Funktionslebensweltkonzeptes entwickelte die Arbeit eine Reihe von Gedanken, die das Verständnis von Kommunikationsmanagement vertieften und verschärften. Die grundlegende, bereits unter A ausgearbeitete These war und ist die, dass Kommunikationsmanagement in letzter Konsequenz auf die „Eroberung“ eines akzeptablen lebensweltlichen sozialen Standings in verschiedenen Groups, seien es Stakeholder, seien es Teilöffentlichkeiten, sei es die Öffentlichkeit zielt. Das geschieht im Prinzip genauso, wie es bei Menschen allgemein geschieht, bei Managern im Rahmen des Management Games speziell geschieht – weswegen die Rede von corporate citizenship ganz und gar
456
D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
nicht abwegig ist. Da es aber Organisationen sind, welche ein gesellschaftlichgemeinschaftlich-lebensweltliches Standing zu erobern suchen, und da das Erobern unter Bedingungen der Systemkomplexität sowohl der Organisation selbst als auch einer funktional differenzierten, spätmodernen Gesellschaft geschieht, ist das Problem im Singular zwar dasselbe – die Probleme im Plural sind aber ganz andere. Das tritt klar und deutlich hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, dass soziales Standing auf kognitiven Prädispositionen des Menschen aufsetzt: Menschen sind kognitiv prädisponiert, mit anderen Menschen in einer Gemeinschaft zusammenzuleben, die von ihrer Größenordnung her ungefähr Dunbars Zahl entspricht: zwischen 100 und 1 000 Personen groß ist. Menschen in einer derartigen „natürlichen“ Lebenswelt sind aber als Personen raumzeitlich lokalisiert, mit einer spezifischen Identität einigermaßen stabil, wenn auch nicht ganz und gar konstant. Die anderen haben ein Gesicht. Der Körper einer Person ist greifbar, ist die greifbare „Verkörperung“ der Person – und darüber, über Gesicht und Körper, ist die Person in die Lebenswelt eingebettet, embedded. Daran ändern auch die „virtuellen Lebenswelten“, wie sie Social Software aufspannt, nicht grundsätzlich etwas: Facebook-Seiten strotzen vor Gesichtern. Das ist bei Organisationen anders. Organisationen sind nicht per se raumzeitlich lokalisiert. Sie haben „reale“ Werke und Anlagen, aber die Werke und Anlagen sind nicht der Lokus, der mit der Präsenz einer Person vergleichbar wäre. Organisationen verfügen nicht über eine natürliche Verkörperung und sie verfügen nicht über natürliche, stabile Identität. Um überhaupt eine Chance zu haben, ein Standing in der Lebenswelt der Menschen, einer Gemeinschaft oder Gesellschaft zu erobern, muss es ihnen gelingen, eine „erlebbare“ Präsenz, eine identifizierbare „Identität“ zu generieren. Bei kleineren Organisationen, etwa einem Familienhotel, geschieht das in quasi „natürlicher“ Art und Weise, weil die Organisation raumzeitlich an einem Punkt verdichtet ist, weil Identität durch die Personen gewährleistet ist, welche den immer wiederkehrenden Kunden entgegentreten. Bei der modernen und spätmodernen Großunternehmung ist das anders. Das soziale Standing, um das es geht, ist nicht ein kleiner Kreis geschätzter Kunden, sondern die Öffentlichkeit einer Gesellschaft oder gar mehrerer Gesellschaften. Die Eroberung eines sozialen Standings in einer Gesellschaft, mag sie auch in mehrere Gemeinschaften oder communities zerfallen, geschieht größtenteils medienvermittelt, durch die Medienlogik gebrochen – in der lärmenden Öffentlichkeit, die unter C.I aufgearbeitet wurde. Die Organisation, der es um ein soziales Standing zu tun ist, verfügt auch nicht über eine „natürliche“ raumzeitliche Verortung, nicht über eine „natürliche“, stabile Identität. Das Re-entry der Organisation Angesichts der geschilderten Schwierigkeiten leuchtet ein, weshalb das Ideal eines genuin lebensweltlichen sozialen Standings gewöhnlich nur fragmentarisch und reduziert Verwirklichung findet. Der Bürger, insbesondere der spätmoderne, ist nicht völlig naiv, sieht das Funktionskalkül, die Systemlogik, das Geschäftsmodell durchschimmern, bei einigen geschieht das grundsätzlich, bei anderen gelegentlich. Eine Marke ist nicht mein Freund, aber sie mag mehr oder minder „freundlich“ erscheinen. Eine Behörde ist nicht Mensch, mag aber mehr oder minder „menschlich“ erscheinen. Eine Airline behandelt mich, um zu funktionieren, auf der Systemebene als Passagier, der von A nach B zu transportieren ist – aber sie vermag mehr oder minder den Eindruck zu erzeugen, dass sie mich als geschätzten Gast behandelt. Der entscheidendste, wichtigste Schritt ist jedoch bereits gegangen: der, dass ich
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III. Manager-Sein im Management Game
die Organisation überhaupt erst als Entität mit einer Präsenz in meiner Welt und einer Identität erlebe. Anstatt davon auszugehen, dass mich diese Stewardess unfreundlich behandelt, mache ich mir Gedanken darüber, ob es RyanAir oder ob es eine schlechtgelaunte Person ist, die mir gegenüber pampig auftritt. Dieser alltägliche, ganz und gar gewöhnliche Schritt stellt, wie der Autor glaubt, eine sehr viel komplexere mentale Operation dar als es den Anschein hat. Es ist der Systemtheorie, insbesondere aber George Spencer-Browns laws of form und der Rede von Re-entry zu verdanken (vgl. Spencer-Brown 1969; vgl. sehr ausführlich Baecker 2007a, der Spencer-Browns Kalkül geradezu zu einer Universaltheorie stilisiert; vgl. einfacher und gedrängter Simon 2007b, 55-60), dass das aufgezeigt wurde. Das Re-entry der Organisation ist der Schritt, der dazu führt, dass die Organisation nicht naiv als faktisches Objekt, die Stewardess nicht naiv als pampige Person figuriert, sondern dass eine Diskrepanzperzeption gestattet ist zwischen Organisation, Mensch und Stewardess: Ich bin in der Lage, mir den Gedanken zu machen, dass es RyanAir vermutlich nicht gefallen würde, wie pampig der Mensch mir gegenüber auftritt, weil er doch Stewardess und damit Mitglied/Repräsentant von RyanAir ist. Entsprechend bestimmt Baecker (2007a, 113-123) Organisationen durch das Kalkül:
Mitglied
Nicht-Mitglied
Noch klarer und deutlicher tritt das Re-entry hervor, wenn man sich vergegenwärtigt, dass es der Schritt ist, der dazu führt, dass die Organisation selbst ihren „Angehörigen“ – Mitarbeitern, Stewardessen, Direktoren Unternehmenskommunikation – als Entität gegenübertritt: obwohl sie es doch sind, durch die die Organisation beobachtet und handelt. Drei Konstellationen Die entscheidende Erkenntnis, die aus der Denkfigur des Re-entry zu ziehen ist, und die in den nächsten Abschnitt überleitet, ist vergleichsweise simpel: Kommunikationsmanager treten, in ihrer eigenen Wahrnehmung oder in der Wahrnehmung ihres Gegenübers, in drei Konstellationen auf: (1) Sie treten als Person, als Mensch, als „sie selbst“ auf. (2) Sie treten als Repräsentant der Organisation in ihrer Funktion auf. Aber sie treten auch (3) als Repräsentant ihrer Funktion in der Organisation auf. In der ersten Konstellation besteht die Möglichkeit, „von Mensch zu Mensch“ gegenüber einem Journalisten „durchblicken“ zu lassen, dass man einiges selbst nicht für gut hält, was in der Organisation geschieht: ein Manöver, das der Autor in homöopathischen Dosen immer wieder beobachtete. Treten Kommunikationsmanager, in der zweiten Konstellation, als Repräsentanten der Organisation auf, dann tritt die Person, der Mensch, zurück. Der Pressesprecher „spricht“ für die Organisation – was er selbst empfindet, steht nicht zur Debatte. In der dritten Konstellation tritt die Direktorin Unternehmenskommunikation in der Organisation auf, um ihr Kalkül gegenüber anderen Kalkülen als „gut für die Firma“ durchzusetzen – das ist die Konstellation des Management Games, in der die Organisation als Entität mit Identität in den Hintergrund gerät, im Vordergrund ringen die verschiedenen Fraktionen miteinander, wie und wohin ebenjene Identität gestaltet, entwickelt und gelenkt werden sollte.
458
D) Das Management Game als Funktionslebenswelt
Es ist wichtig, wie der Autor meint, diese drei Konstellationen analytisch zu separieren, sich komplementär aber vor Augen zu führen, dass die Differenzierung in der Praxis sehr schwierig, der „Switch“ vor allem aber sehr schwierig zu steuern ist.158 Eine der entscheidenden Erkenntnisse, welche in der Theoriebildung von Anfang an eine Rolle spielte, ist die Grundannahme, dass der Nimbus der Professionalität, die strikte Separation von Mensch und Person, Funktionär und Repräsentant, im Top-Management irreführend ist. Top-Manager „arbeiten“ mit ihrer Persönlichkeit genauso wie das Künstler oder Therapeuten tun. Sie setzen sich voll und ganz als Mensch ein – das ist bei einem Direktor Unternehmenskommunikation, der auf Vertrauen angewiesen ist, nochmals in gesteigertem Maße der Fall. Wer es nicht schafft, sich in der Organisation eine Reputation als vertrauenswürdiger Mensch und als kompetenter Repräsentant der Organisation zu etablieren, wird sich im Management Game schwer tun. Wer es nicht schafft, sich im Management Game teilweise durchzusetzen, wird nach außen Dinge repräsentieren müssen, die er als Mensch nicht trägt. Wer es nicht schafft, sich als vertrauenswürdiger Mensch bei denjenigen zu etablieren, denen gegenüber er Dinge repräsentieren muss, der wird es schwer haben, kompetent zu repräsentieren. Wie Direktoren Unternehmenskommunikation die Spannungen und Verwickelungen in der Praxis auflösen, ist unter anderem Thema des folgenden Teils E.
158
Obwohl erfahrene Praktiker natürlich in der Lage sind, den „Switch“ zwischen verschiedenen Konstellationen durch entsprechende Cues und Marker zu signalisieren (etwa eine Veränderung der Stimmlage oder die Bitte, das Tonbandgerät abzuschalten), bleibt das Risiko bestehen, missverstanden zu werden.
E)
Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Das Ziel der Arbeit war und ist es, Kommunikationsmanagement zu verstehen, zu einem tieferen und schärferen Verständnis davon zu gelangen, was Kommunikationsmanager tun und warum. Um das Ziel zu verwirklichen, hat die Arbeit weit ausgeholt. Unter A bestimmte der Autor Public Relations als eine professionelle Organisationspraxis. Kommunikationsmanagement, so argumentierte die Arbeit, stellt eine Evolutionsstufe dieser Organisationspraxis dar, zu der es kommt, wenn der PR-Praktiker mehr und mehr in das Management Game der Organisation verwickelt wird. Unter B schilderte der Autor, wie, aus welcher Tradition heraus, auf Basis welcher Konstrukte er Management im Feld beobachtete. In Teil C spürte der Autor den historischen Wurzeln der Praxis Public Relations sowie denjenigen der Praxis und Institution Management nach, um in Verschränkung mit der Feldarbeit die Frage zu stellen, wie die Unterwerfung der Public Relations alter Prägung unter die Managementlogik zu einer Public Relations neuer Prägung, zu einem Kommunikationsmanagement führte. Mit D trat die Arbeit noch einmal einen Schritt zurück, um Konzepte zu fundieren, die im Verlauf der Arbeit verwandt, aber nicht ausführlich begründet wurden. Teil E führt die vom Autor entwickelten Gedanken und die Beobachtung jetzt zusammen, um zu einer von der Theorie strukturierten (Schärfe), aber empirisch reichen Beschreibung (Tiefe) des Jobs Kommunikationsmanager zu gelangen. Das geschieht in fünf Teilen. I. gibt zunächst einmal einen Überblick über die beobachteten Kandidaten und ihre Unternehmen. II. diskutiert die Resultate des qualitativen Skelettes der Studie: Das Ziel des zweiten Teils ist es also, die Jobs der beobachteten Manager formal, auf der Ebene der Work Characteristics, auf der Ebene des äußerlich beobachtbaren Handelns und Verhaltens in Raum und Zeit zu beschreiben. III. setzt sich dann mit der Funktionslebenswelt auseinander, mit der Art und Weise, wie die Manager ihre Jobs als Funktion der Organisation wahrnehmen – aber auch mit der Art und Weise, wie sie ihr eigenes soziales Standing in verschiedenen intra- und extraorganisationalen Feldern zu sichern und auszubauen versuchen. IV. durchdringt die Jobs, Tasks und Rollen inhaltlich, auf Basis exemplarischer episodischer und anekdotischer Daten. V. zieht die Fäden der Beobachtung zusammen.
H. Nothhaft, Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis, DOI: 10.1007/978-3-531-92671-1_5, © VS Verlag fuሷr Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
460
I)
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Die beobachteten Kandidaten
Wie eingangs dargestellt, wählte der Autor oberste Kommunikationsverantwortliche als Untersuchungskandidaten, weil er davon ausging, dass er durch Beobachtung ebenjener Personen auf jeden Fall Kommunikationsmanager, ja „communication executives“ beobachten würde. Wer auf der zweiten oder dritten Managementebene eines Unternehmens agiert, ist ein Manager – so das Argument, welches der Autor noch immer aufrechterhält. Was Kommunikationsmanager tun, ist Kommunikationsmanagement – so das Argument, welches etwas qualifiziert wurde (vgl. A): Kommunikationsmanagement in Organisationen geht über die Personen hinaus, die man gemeinhin als Kommunikationsmanager anspricht. Für eine explorative Studie stellte es einen großen Vorteil dar, nicht von vornherein wissen zu müssen, wie Kommunikationsmanager, wie Kommunikationsmanagement präzise zu definieren ist. Unter obersten Kommunikationsverantwortlichen verstand der Forscher demnach prima facie Personen, welche im Unternehmen die hierarchisch höchste, funktional auf Kommunikation spezialisierte Position bekleideten (vgl. auch B.III). Der Autor war sich insofern bewusst, dass der „eigentliche“ oberste Kommunikationsverantwortliche der CEO oder Geschäftsführer selbst ist – allerdings handelt es sich bei einer Vorstands- oder Geschäftsführungsposition nicht um eine funktional spezialisierte Stelle. Als ein weiteres Kriterium galt, dass die betreffende Person mit Führungsverantwortung für eine eigenständige Abteilung mit fünf oder mehr Mitarbeitern ausgestattet sein sollte. Die Zahl war willkürlich gewählt, gewährleistet werden sollte, dass bereits das Management der ersten Ordnung, das Management der eigenen Abteilung, durch ein gewisses Maß an Eigenkomplexität ausgezeichnet ist. Durch das Kriterium schied eine Zahl von ausschließlich oder überwiegend operativ tätigen Kandidaten – die man als Pressesprecher bezeichnen würde – von vorneherein aus. Abbildung 70 zeigt die acht beobachteten Personen und ihre Unternehmen in einem Überblick:
Alle beobachteten Personen berichteten direkt an die Unternehmensführung, also entweder an den Vorsitzenden des Vorstands oder an die Geschäftsführung. Die exakte hierarchische Position der beobachteten Person ließ sich nicht immer hundertprozentig eruieren; in der Regel war die beobachtete Person auf Ebene 3 angesiedelt, das heißt zwei Ebenen unterhalb von Vorstand/Geschäftsführung. Die Größe der Abteilung bewegte sich zwischen acht Full Time Equivalents (FTE) und 139,5. Die Werte sind nicht vom Autor geschätzt, sondern Schätzwerte der Person selbst oder offizielle Personalzahlen (vgl. auch weiter unten). Unter direct reports ist die Leitungsspanne angegeben, also die Zahl der Personen, welche der beobachtete Manager führte, nicht gemäß Organigramm, sondern effektiv, von Tag zu Tag. Sie betrug zwischen 3 und 5. Sie war in lediglich einem Fall, bei Manager A, zweifelsfrei festzustellen. S steht für die Anzahl der Sekretärinnen, PA für persönlichen Assistent/persönliche Assistentin; D für einen formal designierten und auch im Umgang identifizierbaren Stellvertreter („klare Nummer zwei“).
Abbildung 70: Überblick über die Kandidaten und ihre Unternehmen (Quelle: eigene Darstellung) 3
3
3
VV (Ebene 1)
VV (Ebene 1)
VV (Ebene 1)
VV (Ebene 1)
VV (Ebene 1)
Bereichsleiter
Direktor
Director
Executive Vice-President
D
E
F
G
Senior H Vice-President (=~ Direktor) 3
3
3
VV (Ebene 1)
Zentralbereichsleiter
C
3
GF (Ebene 1)
3
~ 55 Personen
139,5 FTE
15 Personen, 15 FTE
~60 Personen
8 Personen 8 FTE
~120 Personen
14 Personen 13 FTE
8 Personen 7 FTE
Eigene Einheitsgröße Ebene
Direktionsabteilungsleiterin
GF (Ebene 1)
Berichtet an
B
A Pressesprecher
Titel
3-5 D 1 S/PA
(> 25 Mrd. €)
Groß
Groß (> 25 Mrd €)
3-5 D 1S / 1PA
AG
AG
weltweit
weltweit
europaweit
Mittel (1-25 Mrd. €)
3-5 D 1S
AG (Holding)
national
3-5 S / 1PA
GmbH & Co KG
national
Mittel (1-25 Mrd. €)
AG
regional
3-5 S/PA
Groß (>25 Mrd. €)
3-5 D 2S / 1PA
GmbH
regional
national
Klein (100-999 Mio.€)
3-5 D 2S
GmbH
Operationsgebiet (Kern)
GmbH
Klein (100-999 Mio.€)
4 D S
Rechtsform
Klein (100-999 Mio .€)
Unternehmensgröße (Umsatz)
Direct reports
Chemie
Logistik
Gesundheit
Telko
Genussmittel
Telko
Energie
Verkehr
Branche
I. Die beobachteten Kandidaten
461
462
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Die Unternehmensgröße ist lediglich klassifikatorisch angegeben. Die Rechtsform ist insofern wichtig, als in Aktiengesellschaften Investor Relations von immenser Bedeutung sind. Die Verantwortung für Investor Relations lag jedoch in keinem Fall bei dem beobachteten Manager (vgl. B.III) – dies ist als methodische Verzerrung zu werten, da angefragte Kommunikationsmanager mit IRVerantwortung allesamt und unter Verweis auf Geheimhaltungspflichten und Insider-Gesetzgebung eine Teilnahme ablehnten. Das Operationsgebiet wurde differenziert zwischen regional, national, europaweit und global. Die Klassifikation bezieht sich auf den Schwerpunkt im Kerngeschäft. Auch ein regionales Unternehmen mag Joint-Ventures im Ausland betreiben; gleichwohl ist es nicht mit einem echten Global Player zu vergleichen.
Abteilungsgröße Wie Abbildung 70 zeigt, variierte die Größe der untersuchten Abteilungen von kleinen Einheiten mit sieben Vollzeitstellen bis hin zu sehr großen Abteilungen mit über hundert Full Time Equivalents (FTE). Die Zahlen stammen aus den Interviews mit den Untersuchungskandidaten; sie wurden teilweise mit Dokumenten belegt, teilweise nicht. Auffällig ist, dass drei der Kommunikationschefs großer Unternehmen mit entsprechend großen Abteilungen ungefähre Zahlen nennen. Angaben wie „ungefähr 55“ spiegeln nicht Arroganz gegenüber der Anzahl der eigenen Mitarbeiter wider, sondern organisatorische Realitäten. Erstens fluktuiert die Abteilungsgröße. Zweitens ist es keineswegs ein einfaches Unterfangen, die Einheitengröße definitiv zu bestimmen. Formale Dokumente wie Stellenpläne mögen zwar genaue Auskunft über die nominell der Abteilung zugeordneten Kapazitäten geben, dies hat aber häufig nicht viel mit der Anzahl der tatsächlich geführten Personen zu tun. Grundsätzlich ist, wie mehrfach ausgearbeitet wurde, vor der Überschätzung der Aussagekraft von Organigrammen zu warnen. Angesichts der heutzutage üblichen komplexen und dynamischen Organisationsstrukturen bilden die Diagramme mit ihren durchgezogenen und gepunkteten Linien lediglich einen Bruchteil der realiter wirkenden Verflechtungen und Abhängigkeiten ab. So geschieht es einerseits, dass Kommunikationsmanager Personen führen, die ihnen nominell-organisatorisch gar nicht unterstellt sind – so etwa die Pressesprecherin einer Unternehmenstochter, die wie selbstverständlich von der Kommunikationsabteilung der Konzernmutter geführt wird. Andererseits kommt es vor, dass nominell der Abteilung angehörende Personen de facto unabhängig und losgelöst operieren: wie beispielsweise die an eine Konzerntochter in Singapur „ausgeliehene“ Pressesprecherin, die vor Ort nahezu eigenständig agiert. Was die Zahl widerspiegelt, lässt sich demnach als Basiswert verstehen, der die „gefühlte Einheitengröße“ angibt.
I. Die beobachteten Kandidaten
463
Abbildung 71: Leitungsspanne, Gliederungstiefe (Quelle: angelehnt an Kieser/Walgenbach 2003, 161) Eigene direct reports (Subordinationsspanne, Gliederungstiefe) Neben der bloßen Kopfzahl ist die Subordinationsspanne zu betrachten, mit der die untersuchten Manager arbeiten. Unter Subordinationsspanne, gelegentlich auch Leitungs- oder Führungsspanne genannt, versteht man die Zahl der direkt geführten Personen – der Personen also, die regelmäßig direkt an eine Führungskraft berichten. Von der Einheitengröße und der Subordinationsspanne hängt die Gliederungstiefe ab. Der eigentliche Unterschied zwischen kleinen, mittleren und großen Abteilungen ist demnach nicht simplerweise in der Verdoppelung oder Verdreifachung der Personen, sondern in der Zahl der Hierarchieebenen zu suchen, die mit einer typischerweise zwischen drei und fünf159 liegenden Subordina159
In der Literatur (vgl. Kieser/Walgenbach 2003, 160ff.) geht man davon aus, dass die Zahl der direkt geführten Mitarbeiter typischerweise zwischen drei und fünf, höchstens bei sieben liegt.
464
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
tionsspanne einhergeht. Bei einer kleinen Einheit (bis zu zehn Mitarbeiter) ist davon auszugehen, dass sie zwei Hierarchieebenen umfasst. Der von einer Sekretärin und/oder einer persönlichen Assistenz unterstützte Abteilungsleiter führt beispielsweise drei bis fünf Mitarbeiter, die selbst jedoch – von Praktikanten etc. abgesehen – keine Führungsverantwortung besitzen. Bei einer mittleren Einheit (elf bis fünfzig Mitarbeiter) ist anzunehmen, dass die Mitarbeiter auf der zweiten Ebene selbst wiederum mit Führungsverantwortung ausgestattet sind. Typischerweise werden sie etwa drei- bis fünfköpfige Teams/Gruppen führen sowie über eigene halbe oder ganze Sekretariatsstellen verfügen. Große Einheiten (Zentralbereiche mit über fünfzig Mitarbeitern) werden gewöhnlich über eine weitere Ebene verfügen. Der oberste Kommunikationsverantwortliche, wie etwa Manager C oder Manager G, führt hier drei bis fünf Abteilungsleiter, die wiederum für eine entsprechende Anzahl Teams/Gruppen verantwortlich zeichnen. Bei sehr großen Einheiten erklärt sich die Kopfzahl nicht zwangsläufig aus einer weiteren Hierarchieebene, sondern aus einer begrenzten oder geteilten Weisungs- und Führungskompetenz gegenüber Personal, das über die ganze Welt verstreut ist („gepunktete Linie“).
II. Work Characteristics
II)
465
Das quantitative Skelett: Work Characteristics der beobachteten Kandidaten
Mit II. gelangt die Arbeit zu einer Darstellung der Work Characteristics der beobachteten Kommunikationsmanager. Das geschieht auf Basis der strukturierten Observation, auf Basis von Protokollen, die der Autor in situ führte, wie unter B.III dargestellt. Die Protokolle liefern ein „hartes“, quantitatives Skelett, welches jedoch, ähnlich wie das bei Mintzberg geschieht, systematisch mit den subjektiven Eindrücken des Forschers verknüpft werden muss. Insofern ist die Studie nicht mit einer Befragung o. Ä. zu vergleichen – die Tatsache, dass der Autor vor Ort war, „eintauchte“ und sich ein gesamthaftes, wenn auch „schnappschussartiges“ Bild machte, bleibt bestehen. Die Zahlen an sich lassen sich so oder so lesen – und die Herausforderung ist es, zu sinnhaften, bedeutungsvollen Interpretationen zu gelangen, die „subjektiv“ wie „objektiv“ stimmig sind. Die Darstellung der Work Characteristics geschieht in Auseinandersetzung mit der Studie Mintzbergs, die unter B.II erörtert wurde. Die Charakteristiken von Managerjobs sind nach Mintzberg, um das noch einmal zu wiederholen: (1) ein gewaltiges Arbeitspensum, kaum einmal Pausen; (2) Vielfalt, Zersplittertheit, Kürze der einzelnen Arbeitsphasen; (3) Selbstkonditionierung der Manager auf Stimulus-Response, mit Präferenz für Konkretes; (4) die Funktion als Boundary Spanner; (5) Präferenz für verbale Kommunikation; (6) eine selbstgewählte Getriebenheit. Der Autor diskutiert die von Mintzberg identifizierten Charakteristika, greift sie immer wieder auf und bezieht Stellung dazu, hält sich aber nicht sklavisch an Mintzbergs Reihenfolge. 1. Arbeitszeit: Ein gewaltiges Pensum, kaum einmal Pausen Ein Vergleich der faktischen Arbeitszeiten verschiedener Kommunikationsmanager, etwa in großen, mittleren und kleinen Unternehmen, war nicht das Anliegen der Studie. Ein derartiger Vergleich hätte eine andere Herangehensweise erforderlich gemacht, etwa die systematische, nicht lediglich en passant geschehene Erfassung von Arbeitszeiten am Abend oder am Wochenende. Notwendig erfasst wurde die beobachtete Zeit, die Büroarbeitszeit. Sie begann mit der Ankunft im Unternehmen und endete mit dem Verlassen, sofern nicht die Absicht bestand, noch am selben Tag zurückzukehren. Arbeitszeiten am Abend, etwa Veranstaltungen, oder am Morgen vor Ankunft im Büro – Telefonate im Auto, Zeitungslektüre am Frühstückstisch – wurden nicht erfasst. Abbildung 72 gibt einen Überblick über die beobachtete Zeit. Dass nicht durchgängig eine volle natürliche Woche beobachtet wurde (siehe Manager E und G), ist der terminlichen Situation der Kandidaten geschuldet. Da der Forscher um die terminlichen Schwierigkeiten wusste, war er von vorneherein bereit, Wochen mit vier Tagen Präsenz in Kauf zu nehmen. Bei einem der zwei Fälle mit 4-Tage-Woche, bei Manager E, kam es wie bereits erwähnt zu einem weiteren Tag Ausfall. Aufgrund einer Erkrankung des Kandidaten musste die Beobachtung vorzeitig, am Morgen des vierten Tages, abgebro-
466
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
chen werden. Eine Wiederholung scheiterte, da der Manager das Unternehmen einige Monate später verließ. Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
Unternehmensgröße
klein
klein
groß
klein
mittel
mittel
groß
groß
-
Abteilungsgröße
klein
mittel
groß
klein
groß
mittel
groß
groß
-
Beobachtete Zeit (in min)
2618
2504
2824
2879
1575
2557
2589
3265
2601,4
Beobachtungstage (in d)
5
5
5
5
3
5
4
5
4,6
Ø, pro Tag (in min)
524
501
565
576
525
511
647
653
563
Ø, pro Tag, (in h/min)
8h44’
8h21’
9h25’
9h36’
8h45’
8h31’
10h47’
10h53’
9h23’
Abbildung 72: Beobachtete Zeit per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) Durchschnittliche Büroarbeitszeit: 9 Stunden 23 Minuten Wie Abbildung 72 zeigt, lag die durchschnittliche, beobachtete Büroarbeitszeit bei 563 Minuten oder 9 Stunden 23 Minuten. Die längste Tagesarbeit wurde mit 757, also 12 Stunden 37 Minuten gemessen – nur der Pretest, den der Forscher mit seinem Betreuer durchführte, führte zu einer noch längeren Durchschnittsarbeitszeit: nämlich 14 Stunden 34 Minuten über zwei Tage. Was bedeutet eine beobachtete Zeit von durchschnittlich neuneinhalb Stunden? Bereits Mintzberg registrierte, dass sich die Arbeitszeit der von ihm beschatteten CEOs im Mittel nicht fundamental von der Arbeitszeit „gewöhnlicher“ Arbeitskräfte unterschied. Rein rechnerisch gilt, dass auch ein „gewöhnlicher“ Angestellter mit 40-Stunden-Woche neun Stunden im Unternehmen verbringt, eine Mittagspause von einer Stunde eingeschlossen. Demnach lagen die Manager lediglich eine halbe Stunde über der Tarifarbeitszeit. Die Zahl ist allerdings in zweierlei Hinsicht zu relativieren. Erstens ist zu fragen, inwiefern Arbeitszeit gleichzusetzen ist mit Anwesenheitszeit. Zweitens ist zu berücksichtigen, inwiefern die Manager zusätzlich, außerhalb der Beobachtungszeit arbeiteten. Wenn Führungskräfte eine 60-Stunden-Woche reklamieren, so setzt sich die Zahl selten aus einer fünftägigen Arbeitswoche à 12 Stunden Büroarbeit zusammen. Das bisweilen enorme Arbeitspensum – das gar nicht in Abrede gestellt wird – ist größtenteils Wochenendarbeit und Abendveranstaltungen geschuldet. 1.1 Arbeitszeit vs. Anwesenheitszeit Was das Verhältnis Arbeitszeit vs. Anwesenheitszeit betrifft, teilt der Forscher Mintzbergs Einschätzung (vgl. B.II), dass Anwesenheitszeit und Arbeitszeit im Prinzip gleichzusetzen sind. Solange sie sich im Unternehmen befanden, arbeiteten die beobachteten Führungskräfte nahezu ununterbrochen. Bei 8 Kandidaten und 37 Beobachtungstagen geschah es nur ein einziges Mal, dass die beobachtete Person explizit erklärte, sie werde jetzt „eine Pause“
II. Work Characteristics
467
machen – um dann einige wenige Minuten eine Tasse Tee zu trinken. Von einer Einschätzung ist die Rede, weil die Daten der strukturierten Beobachtung eine Unterscheidung zwischen Arbeits- und Anwesenheitszeit nicht vorsehen. Der Autor definiert Manager über Verantwortung, nicht über der Beobachtung zugängliche, abgegrenzte Aufgaben. Von der Forschungslogik her ist es daher ungleich schwieriger, Nicht-Arbeit bei Managern zu beobachten als etwa bei Bandarbeitern. Der Zeitung lesende Bandarbeiter macht zweifelsfrei eine Pause. Der Kommunikationsmanager kommt mit Zeitungslektüre womöglich einer seiner Funktionen nach, dem „Monitoring“ der Umwelt, der Beobachtung der Medien. Aufgrund der geschilderten forschungslogischen Situation, und auch angesichts der Mintzberg’schen Ergebnisse, wurde deshalb gar nicht der Versuch unternommen, eine eigene Kategorie Pause auszuweisen. Die angesprochene, explizite Pause wurde als Selbstorganisation (Self-Admin) codiert (vgl. Abb. 78). 1.2 Büroarbeitszeit vs. Gesamtarbeitszeit: Abendveranstaltungen Obwohl eine durchschnittliche Büroarbeitszeit von annähernd elf Stunden zweifelsfrei belegt, dass etwa die „Spitzenreiter“ Manager G und H lange Stunden arbeiten, ist der Umkehrschluss nicht statthaft. So sind kürzere Tagesarbeitszeiten beispielsweise der Tatsache geschuldet, dass einige Manager an mehreren Tagen das Büro vorzeitig verließen, um Abendveranstaltungen zu besuchen, die der Kontakt- und Netzwerkpflege auf lokaler und regionaler Ebene dienten. Abbildung 73 gibt einen Überblick über die Abendveranstaltungen, soweit sie erfasst wurden. Die Zusammenschau von Tagesarbeitszeit, Abendveranstaltungen und Operationsgebiet der Unternehmung zeigt eine Variablenkonstellation, die es in zukünftigen Studien zu beachten gilt. So zeigte sich, dass die Manager G und H – beide in weltweit operierenden DAX-Unternehmen tätig – während der Untersuchungswoche kaum einmal Abendveranstaltungen besuchten. Wie die Daten zeigen, arbeiteten sie regelmäßig bis 19.30 oder 20.00 Uhr im Büro. Auch Manager D – tätig in einem national operierenden Unternehmen – sagte aus, nach einem „Bürotag“ kaum noch Abendveranstaltungen zu besuchen. Als Grund gab er an, dass der „Grenznutzen“ bei lokalen oder regionalen Veranstaltungen für seine eigene Arbeit schnell „gegen Null gehe“. „Qualität geht vor Quantität“, erklärte er, und deutete an, dass er lieber einmal zu einer hochkarätigen Veranstaltung nach Berlin reise anstatt zwei- oder dreimal pro Woche vor Ort „immer die gleichen Gesichter zu sehen“. Für Führungskräfte, gerade wenn sie in national oder international agierenden Unternehmen arbeiten, stellt eine Woche mit fünf „gewöhnlichen“, beobachtbaren Bürotagen nicht die Regel dar; oftmals sind ein oder zwei Tage mit Veranstaltungen auswärts belegt oder es stehen Geschäftsreisen an. Manager D gab wie erwähnt an, 30 000 bis 40 000 Euro Reisekosten im Jahr zu verursachen und durchschnittlich an zwei von fünf Tagen auf Geschäftsreise zu sein.
468
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum Mo
Di
Mi
A
Medienveranstaltung
B
Training/ Coaching
Regionales Netzwerk
C
Abendessen Kollegen
Abendessen Vorstand
Do
Abendessen Journalisten
Fr
Geschäftsreise
Geschäftsreise
D
Unbekannte Veranstaltung
E
Unbekannte Veranstaltung
F
Unbekannte Veranstaltung
G
H
interne Veranstaltung (abgesagt)
Geschäftsreise
Abbildung 73: Abendverpflichtungen im Beobachtungszeitraum per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) Ganz anders verhielt sich das bei Manager A und Managerin B, die in lokal/regional agierenden Unternehmen arbeiten. Für sie stellten Veranstaltungen auf lokaler oder regionaler Ebene – die man am Abend besuchen und nach denen man wieder heimfahren konnte – die wirklich wichtigen Veranstaltungen dar. Für sie war der normale modus operandi daher der, Veranstaltungen nach einem gewöhnlichen Bürotag aufzusuchen. Die Tagesarbeitszeit isoliert zu analysieren, täuscht also darüber hinweg, dass sich die Profile von Kommunikationsmanagern in lokal/regional und national/international agierenden Unternehmen hinsichtlich der Arbeitszeitverteilung unterscheiden. Die zusätzliche Belastung der Kommunikationsmanager in den großen, internationalen Konzernen besteht darin, dass vitale Kontakte über die Republik, ja über die ganze Welt verstreut, dass wichtige Veranstaltungen auf nationaler oder internationaler Ebene angesiedelt sind, dementspre-
II. Work Characteristics
469
chend Geschäftsreisen erforderlich machen. Das führt erstens dazu, dass „gewöhnliche“ Arbeitswochen mit fünf Bürotagen noch rarer werden, die Büroarbeit auf drei oder vier Tage zusammengedrängt wird. Es führt zweitens dazu, dass sich die Führungskräfte hinsichtlich ihrer Terminorganisation einer anders gelagerten Situation gegenübersehen. Sie sind grundsätzlich gezwungen, Termine zu bündeln – also etwa mehrere Verpflichtungen in der Hauptstadt auf ein oder zwei Tage zu legen. Bei den lokal und regional operierenden Managern sieht das genau andersherum aus: Bei ihnen besteht die zusätzliche Belastung gegenüber einem geregelten Beruf darin, dass nach der Büroarbeit „eben mal“ Abendveranstaltungen besucht werden müssen – und dass sich das „eben mal“ häuft. 1.3 Fazit: The job is never finished Mintzbergs Postulat (1973, 30), dass Manager ein hohes Arbeitspensum bewältigen und selten einmal Pausen während des Tages einlegen, sieht der Autor durch seine Studie bestätigt. Zwar wirkt eine durchschnittliche Büroarbeitszeit von 9 Stunden 23 Minuten zunächst nicht beeindruckend, die Zahl ist aber in einem dreifachen Zusammenhang zu sehen: Erstens ist zu sehen, dass die beobachtete Zeit nahezu zu hundert Prozent Arbeitszeit war. Zweitens ist zu berücksichtigen, dass die faktische Arbeitszeit durch Abend- und Wochenendveranstaltungen viel höher ist als die in der Studie beobachtete Zeit. Drittens und ergänzend gilt es zu sehen, dass die Intensität der Büroarbeitszeit, trotz gelegentlicher „Hänger“ und „Tiefs“, hoch ist.160 Zwar gab es das eine oder andere „Pläuschchen“ oder Mittagessen mit Mitarbeitern – aber selbst das, wenn man sich die Gesprächsinhalte ansieht, war in der Mehrzahl der Fälle arbeitsrelevant. Oft erfuhr der Manager etwas, was ihn dann unverzüglich nach Rückkehr ins Büro handeln ließ. Dass auch das „Schwätzchen“ mit dem Techniker oder Portier nicht belanglos ist, brachte Manager C im Interview auf den Punkt: Sie haben den Flurfunk, Sie haben Vorstandsvorlagen, Sie haben Bereichsvorstandsvorlagen, Sie gehen mit offenen Augen durch die Welt und sagen: ‚Komisch, warum steht hier alles linksrum, das müsste doch rechtsrum stehen?’ Sie haben Bekannte und Verwandte, die sitzen abends bei Ihnen und erzählen das und das. Daraus formen Sie ja Bilder. Das müssen ja nicht unbedingt immer Dinge sein, die Sie von der Sicht des Unternehmens her sehen. Das sind Dinge, wo Sie einfach sagen: ‚Mensch, geh doch einfach mit offenen Augen und Sachverstand durch die Welt. Wo die Themen dich schon anspringen!’ Da brauchen Sie gar nicht viel suchen. So. Die Kunst als Kommunikator ist, glaube ich, dass Sie in dem Unternehmen supergut vernetzt sind. Das ist wirklich so. Dafür sind wir auch bekannt hier. Oder speziell ich. Ob mit dem Techniker oder dem Portier… mit jedem hältst du mal ein Schwätzchen. Das heißt, du kriegst von überall deine Informationen, und dann kannst du aggregieren. Und dann sagst du dir: ‚Das höre ich doch schon von zwei unabhängig voneinander – da stimmt doch was nicht.’
Bereits Mintzberg (1973, 30) hielt es fest und in der eigenen Theoriearbeit buchstabierte der Autor es weiter aus: Es ist die Ergebnisverantwortung, welche den Manager treibt, welche seinen Job von anderen unterscheidet. Auch wenn Mintzberg CEOs beobachtete und der Autor Kommunikationsmanager, das Bild ist ein und dasselbe: Die Manager sehen, dass sie für Erfolg respektive Misserfolg verantwortlich gemacht werden, nicht für Aufwand und Mühe. Entsprechend war der „Betriebsmodus“ der beobachteten Manager der 160 Wo Mintzberg von ununterbrochener Arbeit spricht, gerät etwas in Vergessenheit, dass die Arbeitsintensität variiert; es gibt Phasen von höherer und niedriger Intensität. Mehrere Manager kommentierten, dass sie Phasen schwindender Konzentration systematisch nutzten, um wenig anspruchsvolle Aufgaben wie etwa Postdurchsicht oder Ablage zu erledigen. Sicherlich wurden derartige „Tiefs“ und „Hänger“ auch genutzt, ein Gespräch mit dem Forscher zu führen.
470
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
einer ständigen Aufmerksamkeit – respektive eines hohen, allgemeinen Aufmerksamkeitslevels. Der Eindruck des Autors war – und das ist an Verhalten wie Körperhaltung, Stimmlage, Augenbewegungen abzulesen –, dass jede neue Information, jeder interessante Gesprächsfetzen, jede beiläufige Bemerkung am Rande zunächst einmal als „potenziell wichtig“ eingestuft wurde. Der Manager vernetzte die neue Information mit den zur Verfügung stehenden anderen, durchdachte sie mit Blick auf die ganze Unternehmung und entschied dann, ob und inwiefern sie „aktuell wichtig“ ist. Dass der „Betriebsmodus“ der ständigen Aufmerksamkeit und des ständigen Durchdenkens organisch belastend ist, wurde unter D ausführlich ausgeführt. Insofern, um auf die tieferen Analysen in III., IV. und V. vorzugreifen, ist es bedeutend, wie scharf und eindeutig das Kalkül ist, durch das die Bewertung und Beurteilung einer neuen Information als entweder „wichtig“ oder „unwichtig“ erfolgt. Der Autor behauptet, dass ebenjenes multiperspektivische Kalkül bei Kommunikationsmanagern oft enorm komplex ist, dass die Komplexität aber durch eine Tatsache verschleiert wird. Die Tatsache ist, dass es sich um ein Kalkül handelt, das jedermann jeden Tag in ähnlicher Art und Weise durchführt. Es handelt sich um das Kalkül des menschlichen Sozialverhaltens, angewandt auf eine abstrakte Entität, die Organisation, in einer abstrakten sozialen Umwelt, die „Gesellschaft“, die „Öffentlichkeit“ etc. Ein erstes wichtiges Ergebnis hinsichtlich der Work Characteristics des Jobs Kommunikationsmanager ist also, dass Kommunikationsmanager lange Stunden auf hohem Aufmerksamkeitslevel arbeiten. Eine klare Abgrenzung, was relevant ist und was nicht, fehlt – der eigene Verantwortungsbereich ist nicht kompartmentalisierbar. 2.
Sessions (Arbeitsmittelpunkte): Dominanz von Schreibtischarbeit und Meetings Um einen Überblick über die Struktur des Arbeitstages zu geben, wurden Aktivitäten mit gleichem Arbeitsmittelpunkt zu Arbeitsphasen, so genannten Sessions zusammengefasst. Hielt sich die Untersuchungsperson zwischen zwei Sitzungen eine halbe Stunde in ihrem eigenen Büro auf, um verschiedene Dinge zu erledigen, so wurde dies etwa als DESK- oder Schreibtischsession codiert. Während einer DESK-Session würde der Manager beispielsweise telefonieren, die Post durchsehen, E-Mails abrufen oder ein kurzes, informelles Gespräch mit seiner Sekretärin führen. Die Schreibtischarbeitsphase endete beispielsweise, wenn ein Mitarbeiter das Büro betrat und sich am Tisch zu einer Besprechung niederließ – womit eine MEET- oder Sitzungssession begann. Abbildung 74 zeigt die Ergebnisse, Abbildung 75 die Vorgehensweise des Autors bzw. Zusammensetzung einer Session. 2.1 Sessions: Kompromiss zwischen hochauflösender Beobachtung und Plausibilität Insgesamt wurden neun verschiedene Sessionstypen codiert. DESK-Sessions stellten Phasen mit Arbeitsmittelpunkt Schreibtisch dar. OFFICE-Sessions zeichneten sich dadurch aus, dass nicht das eigene Büro, sondern die Büroräume der eigenen Abteilung als Arbeitsmittelpunkt galten – was beispielsweise der Fall war, wenn der Manager ausgedehnte „Tür-und-Angel-Gespräche“ im Büro von Mitarbeitern führte oder gemeinsam mit der Sekretärin die Aktenordner im Archiv sortierte. TRANSFERs und TOUREN wurden codiert, wenn die Person sich entweder zielgerichtet von A nach B bewegte (Transfer) oder durch das Unternehmen „wanderte“, um etwa bauliche Maßnahmen in Augenschein zu
471
II. Work Characteristics
nehmen (Tour). Bei MEET-Sessions waren, wie bereits dargestellt, die Teilnehmer der Besprechung der Arbeitsmittelpunkt. LUNCH-Sessions zeichneten sich dadurch aus, dass Nahrungsaufnahme im Mittelpunkt stand, unabhängig davon, dass das in der Regel mit informellen Besprechungen oder „Tür-und-Angel-Gesprächen“ einherging. Von EVENTs ist die Rede, wenn der Manager an zeremoniellen Veranstaltungen, wie etwa Einweihungsfeiern, Gottesdiensten oder Workshops teilnahm – Veranstaltungen also, die sich nicht als Meetings codieren ließen. OTHER ist schließlich eine Kategorie, die nicht-managerhafte Aktivitäten zusammenfasste – so etwa, wenn der Manager eine halbe Stunde damit beschäftigt war, die Präsentationstechnik in einem Seminarraum aufzubauen. WARMUP wurde gewählt, um die Gespräche mit dem Forscher, mit Sekretärinnen und Mitarbeitern am Morgen zu codieren. Bei den Sessions, das war dem Forscher von Anfang an klar, galt es einen Kompromiss zwischen hochauflösender, regelkonformer Beobachtung und Plausibilität zu finden. Wenn ein Manager das Büro verließ, um sich ein Brillenputztuch geben zu lassen, beendete das nicht „automatisch“ das Ende der Schreibtischsession, stellte nicht zwangsläufig eine Bürosession dar. Zu einer Sitzungssession gehören beispielsweise auch die informellen Gespräche vor und nach der eigentlichen Besprechung. Die Sessions wurden deshalb im Nachgang aus den codierten Aktivitäten heraus rekonstruiert. Manager>
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
(Warmup)
2,3%
0,7%
0,0%
0,8%
2,9%
0,2%
0,0%
4,2%
1,4%
DESK
64,6%
55,6%
35,0%
41,9%
43,1%
52,7%
25,3%
26,0%
43,0%
OFFICE
3,4%
4,4%
5,7%
6,6%
3,8%
4,9%
3,4%
4,3%
4,5%
TRANSF
6,0%
1,0%
0,2%
0,0%
0,0%
0,0%
1,3%
3,8%
1,5%
TOUR
3,7%
2,4%
3,6%
0,2%
0,6%
4,5%
1,5%
0,3%
2,1%
MEET
10,0%
32,4%
48,0%
45,3%
25,0%
29,3%
59,6%
35,7%
35,7%
LUNCH
6,3%
3,6%
3,0%
2,5%
22,6%
6,0%
8,2%
9,3%
7,7%
OTHER
2,4%
0,0%
2,8%
2,8%
2,0%
0,0%
0,0%
0,0%
1,2%
EVENT
1,3%
0,0%
1,8%
0,0%
0,0%
2,5%
0,7%
16,4%
2,8%
checksum
100,0%
100,1%
100,1%
100,1%
100,0%
100,1%
100,0%
100,0%
99,9%
Kriterium ist der Arbeitsmittelpunkt: DESK = Schreibtisch; OFFICE = Büroräume, Sekretariat, Büroräume der Mitarbeiter; TRANSF = Bewegung von A nach B; TOUR = „Begehung“; MEET = Sitzung, unabhängig von der Lokalität; LUNCH = Restaurant, Kantine etc.; OTHER = anderer Arbeitsmittelpunkt; EVENT = Veranstaltung ist Arbeitsmittelpunkt; WARMUP repräsentiert Gespräche mit dem Forscher am Morgen, Begrüßung, „Revue passieren“ des vergangenen Tages. Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1)
Abbildung 74: Sessions per Kandidat in % der absolut beobachteten Zeit (Quelle: eigene Darstellung)
472
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Abbildung 75: Struktur einer Session (Quelle: eigene Darstellung)
473
II. Work Characteristics
Über die Woche verteilt absolvierten die beobachteten Manager durchschnittlich 26,1 Schreibtischsessions (vgl. Abb. 76), wobei E(*) und G(**) lediglich drei respektive vier Tage beobachtet wurden. Die durchschnittliche DESK-Session dauerte 43,6 Minuten. Was Meetings anbelangt, absolvierten die Manager in der Beobachtungszeit durchschnittlich 25,3 MEET-Sessions, bei einer Dauer von 37,0 Minuten pro Session. Manager G absolvierte gar ein Pensum von 44 MEET-Sessions in 4 Tagen, bei einer durchschnittlichen Dauer der Session von 35,1 Minuten. Im Vergleich mit Zahlen aus anderen Beobachtungsstudien sind die vorliegenden Daten, insbesondere hinsichtlich der in Meetings verbrachten Zeit, keineswegs außergewöhnlich. Die von Mintzberg beobachteten CEOs verbrachten etwa 59 Prozent ihrer Zeit in terminierten und weitere 10 Prozent ihrer Zeit in nicht-terminierten Meetings – und lediglich 22 Prozent ihrer Zeit am Schreibtisch. Manager >
A
B
C
D
E*
F
G**
H
Ø
64,6%
55,6%
35,0%
41,9%
43,1%
52,7%
25,3%
26,0%
43,0%
Anzahl der DESK-Sessions (n)
33
29
35
28
11
25
26
22
26,1
Ø Dauer der DESK-Sessions (min)
51,2
48,0
28,2
43,1
61,5
53,4
25,2
38,5
43,6
10,0%
32,4%
48,0%
45,3%
25,0%
29,3%
59,6%
35,7%
35,7%
Anzahl der MEET-Sessions (n)
19
19
36
31
12
19
44
22
25,3
Ø Dauer der MEET-Sessions (min)
13,8
42,7
37,7
42,0
32,8
39,1
35,1
53,0
37,0
DESK-Sessions in % der absolut beobachteten Zeit
MEET-Sessions in % der absolut beobachteten Zeit
Abbildung 76: DESK-Sessions und MEET-Sessions per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) 2.2 Anomalien Als ein Ausreißer fällt ins Auge (vgl. Abb. 74), dass Manager E 22,6 Prozent seiner Zeit in LUNCH-Sessions verbrachte. Die Zahl ist auf zwei ausgedehnte Arbeitsessen – einmal mit einer Journalistin, einmal mit einem Agenturchef – zurückzuführen. Die zwei Arbeitsessen – an sich nicht ungewöhnlich – wirkten sich vor allem aufgrund der verkürzten Beobachtungszeit von drei Tagen aus. Hinsichtlich Manager H fällt der vergleichsweise hohe Anteil von EVENT-Sessions auf. Der Wert ist auf zwei längere Veranstaltungen zurückzuführen, die einen halben respektive einen dreiviertel Tag in Anspruch nahmen. Da Manager H die
474
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
längste Tagesarbeitszeit vorzuweisen hatte – annähernd elf Stunden täglich – wirken sich die zeitaufwändigen Veranstaltungen sogar noch weniger aus, als das bei Umlegung auf eine durchschnittliche Arbeitszeit der Fall wäre: Der Manager kompensierte „verlorene“ Zeit durch ausgedehntes Arbeiten am Abend. Allerdings gab H an, dass der Besuch derartiger Veranstaltungen für ihn keineswegs ungewöhnlich sei. Im Gegenteil: Er gehe davon aus, dass die Abteilung grundsätzlich ohne ihn funktionieren müsse, damit er die Freiräume habe, Veranstaltungen von strategischer Bedeutung zu besuchen. 2.3 Fazit: Arbeitsmittelpunkt sind Schreibtisch und Besprechungsraum Als Fazit ist festzuhalten, dass die Arbeitsmittelpunkte der beobachteten Kommunikationsmanager, wenn sie im Haus sind, der Schreibtisch und der Besprechungsraum sind. Das populäre Klischeebild, das Direktoren Unternehmenskommunikation als von Sektempfang zu Sektempfang eilend zeichnet, brillante Konversation pflegend oder luftige Honoratiorenreden haltend, ließ sich in der Studie nicht annähernd bestätigen. Wie unter 1. herausgearbeitet wurde, ist die Teilnahme an Abend- oder Wochenendveranstaltungen zwar fester und nahezu unausweichlicher Bestandteil des Jobs, gerade das führt aber dazu, dass sich mehr und mehr Arbeit dichter und dichter in der verbleibenden Büroarbeitszeit zusammendrängt. Ganz ähnlich wie die Rekonstruktion des Autors sieht übrigens das Zeitbudget aus, zu welchem DeSanto und Moss (2004) auf Basis einer groß angelegten Interviewstudie gelangten, bei der die befragten senior practitioner ihre Kalender mit den Forschern diskutierten (sog. diary study). Die Daten sind natürlich nicht direkt vergleichbar, aber die groben Züge, Schreibtischarbeit und Sitzungsarbeit, decken sich. Kategorie bei DeSanto/Moss 2004
DeSanto/Moss 2004, Senior UK practitioner
De Santo/Moss 2004, Senior US practitioner
Writing and technical work
6%
11%
Administrative work
18%
Planning
9%
8%
Miscellaneous/Troubleshooting
7%
14%
Internal Meetings
31%
External Meetings
16%
Attending external events
13%
= 33%
=47%%
21%
24% 15%
Eigene Studie Ø
=40%
DESK-SESSIONS 43,0%
=39%
MEET-SESSIONS 35,7%
7%
Abbildung 77: Vergleich der Studie des Autors mit DeSanto/Moss 2004 (Quelle: eigene Darstellung) 3. Aktivitäten: Kommunikation, Kommunikation, Kommunikation Von Sessions zu unterscheiden ist die tatsächliche Aktivitätsverteilung. Eine DESKSession fasst mehrere „Tür-und-Angel-Gespräche“, Telefonate, Phasen mit Redigier- und Kommentierarbeit zusammen, solange der Manager am Schreibtisch bleibt. Betrachtet man nicht die Sessions, sondern die einzelnen Aktivitäten, so zeigt sich ein höheraufgelöstes Bild, wobei einige der Daten bereits vorgestellt wurden.
475
II. Work Characteristics A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
Kontakte & Kommunikation
50,6%
66,5%
72,3%
73,8%
63,2%
65,2%
82,1%
74,5%
68,5%
in Bewegung, ohne Kommunikation
6,9%
1,6%
3,4%
1,1%
2,9%
4,1%
2,7%
4,3%
3,4%
Schreib- und Lesearbeit
30,6%
22,8%
11,6%
13,9%
18,6%
18,8%
6,9%
14,3%
17,2%
Selbstorganisation (Self-Admin)
3,9%
5,5%
2,0%
4,7%
3,8%
3,6%
5,0%
3,7%
4,0%
nicht-manageriell (techn. Dinge o. Ä.)
4,0%
0,0%
5,4%
3,4%
0,5%
1,4%
0,0%
0,7%
1,9%
anderes, auf den Forscher bezogen
3,9%
3,55%
5,3%
3,0%
11,0%
6,9%
2,7%
2,5%
4,9%
checksum
99,9%
100,0%
100,0%
99,9%
100,0%
100,0%
99,4%*
100,0%
99,9%
Manager >
Kontakte & Kommunikation setzt sich zusammen aus den Aktivitätstypen: CALL, MEET, TÜR & ANGEL, ENCOUNTER. In Bewegung setzt sich zusammen aus den Aktivitätstypen: TRANSFER, TOUR. Schreib- und Lesearbeit (DESKWORK) setzt sich zusammen aus den Aktivitätstypen: NEWSREADING/NEWSSEARCH, EMAIL, BLACKBERRY, WEBWORK, PRINT/CORRESPONDENCE, PAPERWORK, OTHER MEDIA, DRAFTING/PLANNING. Selbstorganisation setzt sich zusammen aus den Aktivitätstypen: ADMIN/ORGA, SELF-ADMIN. Nicht-manageriell setzt sich zusammen aus den Aktivitätstypen: ORGA_TECHNICAL, ORGA_PHYSICAL, NON_MNG. Anderes, auf den Forscher bezogen setzt sich zusammen aus den Aktivitätstypen: REFLECT/EXPLAIN, WARMUP. Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1)
*) Bei Manager G sind einige Minuten ungeklärt geblieben.
Abbildung 78: Aktivitätstypen per Kandidat in % der absolut beobachteten Zeit (Quelle: eigene Darstellung) Wie Abbildung 78 zeigt, verbrachten die Manager durchschnittlich zwei Drittel (68,5 Prozent) ihrer Zeit in Kontakten mit direkter, synchronischer Kommunikation: also in Meetings, beim Telefonieren oder in zufälligen Gesprächen „zwischen Tür und Angel“. 17,2 Prozent ihrer Zeit wurden für Schreib-/Lesearbeiten aufgewandt: also E-Mails, Notizen und Memos anfertigen, Zeitung oder Pressespiegel lesen, Texte redigieren und kommentieren, dergleichen Dinge. Nicht vermeiden ließ sich ein relativ ausgeprägter Anteil an Kommunikation mit dem Forscher (4,9 Prozent), die Feldgespräche. Alle anderen Aktivitätstypen
476
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
machen zusammengenommen nicht einmal zehn Prozent aus. Sieht man sich die Einzelfälle an, zeigt sich, dass der Durchschnittswert im Großen und Ganzen Aussagekraft besitzt. Als Extreme stehen sich Manager A und Manager G gegenüber: Manager A wandte mit 30,6 Prozent wesentlich mehr Zeit für Schreib- und Lesearbeiten auf, mit 50,6 Prozent weniger für Kontakte/Kommunikation. Manager G verbrachte 82,1 Prozent seiner Zeit in Kontaktund Kommunikationssituationen, verwandte nur 6,9 Prozent der beobachteten Zeit auf Schreib- und Lesearbeit. 3.1 Ein fragmentiertes Aktivitätsbild: Chunks, Projekte, „Baustellen“ Eine der Zahlen aus Mintzbergs Studie, die große Popularität erlangte, ist die Feststellung, dass Manager für durchschnittlich neun Minuten bei einer Aktivität bleiben, ehe sie unterbrochen werden oder von sich aus eine andere beginnen (vgl. B.II). Mintzberg schlussfolgerte daraus, dass die Arbeit von Führungskräften zersplittert, fragmentiert, ist. Aus seiner Beobachtungserfahrung heraus möchte der Autor derartigen Zahlen nicht zuviel Bedeutung beimessen, und zwar aus zwei Gründen. Einerseits, wie in der Kritik an Mintzbergs Studie in B.II ausgeführt, weil sie nicht die Bedeutungszusammenhänge zwischen verschiedenen Aktivitäten in Rechnung stellen; andererseits, weil sie sehr stark von der Codierungsauflösung abhängen. Ein Telefonat etwa hat einen „natürlichen“ Anfang und ein „natürliches“ Ende. Es stellt sich aber die Frage, ob die Arbeit an einem Konzept etwa bereits dann als unterbrochen gilt, wenn der Manager zwischendurch seine Sekretärin aufsucht und nach einem Dokument fragt, welches er für die Weiterarbeit benötigt. Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Anzahl der Aktivitäten (n)
424
388
519
409
532
432
700
608
4012
beobachtete Zeit (min)
2618
2504
2824
2879
1575
2557
2589
3265
20811
Ø Zeit pro Aktivität
6,2
6,5
5,4
7,0
3,0
5,9
3,7
5,4
~5
Abbildung 79: Aktivitäten, Anzahl und Zeit per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) Im Rahmen der Aktivitätscodierung protokollierte der Autor insgesamt 4 012 Aktivitäten in 20 811 Minuten, wobei Beginn und Ende vieler Aktivitäten eindeutig, einiger aber diskutabel sind. Wie Abbildung 79 zeigt, liegt die durchschnittliche Dauer bei etwas über 5 Minuten (abhängig von der Berechnung). Ohne die Daten überzustrapazieren, lässt sich also mit Sicherheit sagen, dass die Arbeit eines Managers in den vierzig Jahren seit Mintzberg nicht entfragmentiert wurde, und dass die Arbeit eines Kommunikationsmanagers heutzutage nicht einheitlicher und gleichförmiger ist als die eines CEO des Jahres 1968. Subjektiv und von außen, durch eine Drittpartei beobachtet, sah die Arbeit der Führungskräfte tatsächlich in hohem Maße zersplittert aus. Die Zusammensetzung der DESKSession in Abbildung 75 vergegenwärtigt das. Die Zusammensetzung vergegenwärtigt aber auch, dass oftmals eine Aktivität die andere auslöst, dass Mintzberg mit seiner These vom Stimulus-Response-Verhalten einen wichtigen Aspekt herausarbeitet: Manager C entdeckt
II. Work Characteristics
477
einen Artikel im Pressespiegel, der ihm wichtig erscheint, ruft einen Mitarbeiter zu sich, erörtert ihn „zwischen Tür und Angel“. Es geschehen andere, nicht mit der Lektüre des Pressespiegels in Zusammenhang stehende Dinge. Der Manager wendet sich wieder der Lektüre des Pressespiegels zu, ruft einen Mitarbeiter an, um den kompletten Artikel anzufordern etc. In der Retrospektive, das war ganz ausgeprägt bei Manager A der Fall, ließ sich nach einer Beobachtungswoche feststellen, dass die auf der Oberfläche und prima facie fragmentiert aussehende Arbeit de facto auf etwa ein bis zwei Dutzend Projekte oder „Baustellen“ zurückführbar ist. Als der Autor Manager A darauf ansprach, stimmte der zu und verwies auf seinen Schreibtisch und eine Anrichte, auf der in etwa so viele Papierhaufen lagen, welche die größeren „Baustellen“ repräsentierten. Dass der Autor bei den anderen Managern nicht in vergleichbarer Art und Weise zu dem Punkt gelangte, wo er die Arbeit im Großen und Ganzen zu überblicken glaubte, erklärt er sich mit der Kürze einer Woche: Die Beobachtungswoche reichte nicht aus, um alle Chunks zu beobachten, die in der Arbeit des Managers auftauchen, weitergetrieben werden, wieder in der Versenkung verschwinden, bis sich etwas tut. Zusammenhänge und Abhängigkeiten Der Autor geht davon aus, dass alle Manager ihre Arbeit in ähnlicher Art und Weise kognitiv strukturieren. Eine interessante Frage anhand derer Kommunikationsmanager in zukünftiger Forschung mit anderen zu vergleichen wären, stellt daher die nach den Zusammenhängen zwischen und den Abhängigkeitsverhältnissen der „Baustellen“ untereinander dar. Schließlich ist es ein großer Unterschied, ob ein Manager im Prinzip ein großes Projekt verfolgt und nichts anderes tut als die tagtäglich auftauchenden, damit im Zusammenhang stehenden Probleme zu beseitigen – oder ob er ständig einem Hagelschauer von zufälligen „Problemchen“ ausgesetzt ist, die kaum miteinander in Verknüpfung stehen, sich gerade nicht zu einem großen Projekt fügen. Die Arbeit verfolgt das Konzept der Chunks, der Projekte und „Baustellen“ an anderer Stelle weiter. Was der Autor in jedem Fall bestätigen konnte, ist Mintzbergs Postulat, dass sich im Managerjob wichtige und unwichtige Dinge abwechseln. Am ausgeprägtesten war das bei Manager D der Fall, der seine Telefonliste konsequent abarbeitete, wobei sich lockere und entspannte Rückrufe bei Kollegen oder Mitgliedern des persönlichen Netzwerks abwechselten mit schwierigen Journalistengesprächen. Die Fähigkeit, ohne größere Pausen zwischen verschiedenen Projekten, aber auch zwischen verschiedenen Rollen „umzuschalten“ war also bei Manager D ganz außergewöhnlich ausgeprägt (vgl. zu diesem Aspekt auch Schuppener/Andriof 2006).
478
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
3.2 Kommunikation und Kontakte Der im Vergleich zu den anderen Aktivitätstypen ausgeprägte Anteil an Kontakten/Kommunikation ist vor dem Hintergrund der Werte für Führungspositionen als vergleichsweise normal anzusehen. Das zeigt sich, wenn man die 68,5 Prozent mit den Zahlen vergleicht, die Schirmer aus verschiedenen Managementstudien in fünf Jahrzehnten kompiliert (vgl. Abb. 80). Sieht man von Guests Studie ab, die mit Meistern Angehörige des niedrigen Managements zum Gegenstand hatte, liegt kaum ein Wert unter 50 Prozent. Mintzberg, der CEOs untersuchte, gelangt sogar zum Spitzenwert von 78 Prozent. Autor
Population
% Kommunikation
Carlson 1951
10 Top Manager
> 65%
Guest 1956
56 Meister (foremen)
46%
Burns 1957
76 obere Manager
59%
Dubin/Spray 1965
8 obere Manager
54%
Horne/Lupton 1965
66 mittlere Manager
63%
Stewart 1967
160 obere/mittlere Manager
56%
Pross/Boetticher 1971
145 Vorstandsmitglieder
56%
Mintzberg 1973
5 Top-Manager
78%
Kevenhörster/Schönbohm 1974
191 Manager, dt. Wirtschaft
49%
Lau/Newman/Broedling 1980
220 Manager, versch. Ebenen
77%
Snyder/Glueck 1980
2 obere Manager
64%
Kotter 1982a, 1982b, 1982c
15 General Manager
> 70%
Kurke/Aldrich 1983
4 Top-Manager
70%
Luthans/Larsen 1986
120 Manager, versch. Ebenen
> 75%
Müller-Böling/Ramme 1988
12 Manager, erste und zweite Ebene
~50%
Ramme 1990
707 Top-Manager
40%
Pribilla/Reichwald/Goecke 1996; Goecke 1997
14 obere Manager in 3 Großunternehmen
50-90%
Abbildung 80: Prozentsatz Kommunikationsaktivitäten in diversen Studien (Quelle: angelehnt an Schirmer 1992, 58) 3.3 DESKWORK: Schreibtischarbeit Abbildung 81 vergegenwärtigt die Zeit, welche die beobachteten Manager anteilhaft am Schreibtisch mit Schreib- und Lesearbeit („Schreibtischarbeit“) verbrachten – was nicht zu verwechseln ist mit DESK-Sessions, die u. a. auch Telefonate vom Schreibtisch aus oder Gespräche „zwischen Tür und Angel“ einschließen. Die Tabelle zeigt die vom Autor unter DESKWORK subsumierten Aktivitäten (vgl. auch Abb. 78).
479
II. Work Characteristics Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
Schreib-/Lesearbeit in % der absoluten Zeit (vgl. Abb. 78)
30,6%
22,8%
11,6%
13,9%
18,6%
18,8%
6,9%
14,3%
17,2%
Schreib-/Lesearbeit in absoluter Zeit (min)
801
571
327
401
293
480
178
467
440
NEWSREADING/ NEWSSEARCH
42,9%
5,1%
7,3%
13,7%
11,3%
6,7%
28,1%
6,2%
15,2%
EMAIL/ BLACKBERRY
26,5%
35,9%
66,7%
47,6%
26,6%
38,1%
18,5%
30,6%
36,3%
WEBWORK/ ONLINE
6,7%
4,2%
1,5%
4,0%
0,0%
0,4%
0,0%
6,2%
2,9%
PRINT/ CORRESPOND.
15,1%
35,6%
8,3%
19,0%
10,6%
19,4%
16,3%
46,3%
21,3%
PAPERWORK (OTHER PRINT)
2,4%
1,8%
2,1%
2,0%
1,7%
8,1%
25,3%
2,4%
5,7%
0,1%
0,5%
8,6%
0,0%
0,0%
1,0%
0,0%
0,0%
1,3%
6,2%
8,4%
5,5%
8,2%
37,5%
15,4%
11,8%
7,9%
12,6%
DRAFTING/ PLANNING
0,0%
8,6%
0,0%
5,5%
12,3%
10,6%
0,0%
0,4%
4,7%
checksum
99,9%
100,1%
100,0%
100,0%
100,0%
99,7%
100,0%
100,0%
100,0%
OTHER MEDIA CHECK/EDIT
Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1)
Abbildung 81: DESK-Aktivitäten per Kandidat in Prozent der mit DESKWORK verbrachten Zeit (Quelle: eigene Darstellung) In letzter Konsequenz läuft Schreibtischarbeit auf fünf wesentliche Aktivitäten hinaus: (1) klares und eindeutiges Lesen (auch am Bildschirm); (2) klares und eindeutiges Schreiben (handschriftlich, per Diktat oder am PC); (3) eine Aktivität, die sich am ehesten als „Überfliegen“ oder „Checken“ charakterisieren lässt, etwa das Redigieren einer Pressemitteilung; (4) „Papierkram“, also etwa Formulare ausfüllen oder Abrechnungen durchsehen; Akten sortieren, Dokumente arrangieren; (5) Nachdenken und Überlegen, häufig Hand in Hand mit der Anfertigung von Notizen oder dem Entwerfen einer Powerpoint-Präsentation, dergleichen. Die Darstellung der Aktivitäten anhand der geschilderten fünf basalen Kategorien ist jedoch nicht aufschlussreich: Entscheidend ist nicht, dass der Manager liest, sondern was er liest. Hinsichtlich der Frage stellte sich jedoch ein Forschungsproblem: Mit Blick auf die schiere Masse der Dokumente, die die beobachteten Manager in einer Woche rezipierten oder produzierten, sah der Autor, anders als Mintzberg, eine ausführliche Dokumentenana-
480
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
lyse als nicht praktikabel an (vgl. auch B.III). Die verwandten, in Abbildung 81 dargestellten Kategorien stellen deshalb einen guten Kompromiss dar, der es gestattet, ein sinnhaftes und bedeutungsvolles Bild der Schreibtischarbeit zu zeichnen, ohne jedes Dokument en detail zu analysieren. EMAIL/BLACKBERRY Die mit Abstand häufigste, am meisten Zeit in Anspruch nehmende Schreibtischarbeit der Kommunikationsmanager war das Lesen (EMAIL_READ), Schreiben (EMAIL_WRITE) und Überfliegen von E-Mails (EMAIL_CHECK) sowie das schnelle, unmittelbare Lesen und sofortige Beantworten von E-Mails (EMAIL_READ&REPLY), das eher synchronische Kommunikation („Ja, machen Sie’s so“) denn genuin asynchronische Korrespondenz darstellte. Blackberries oder ähnliche Geräte, welche E-Mail-Korrespondenz im Prinzip von der Schreibtischarbeit ablösen, hatten nur untergeordnete Bedeutung: Den höchsten Wert wies Manager C auf, der dreimal E-Mails auf seinem Blackberry las, bei einem Zeitaufwand von insgesamt zehn Minuten. Im Durchschnitt verbrachten die beobachteten Manager ein Drittel ihrer Schreibtischarbeitszeit (36,3 Prozent) mit E-Mail-Korrespondenz. Wie Abbildung 81 zeigt, variieren die Werte zwar stark, bewegen sich aber auf vergleichsweise hohem Niveau. Den höchsten Wert wies Manager C mit zwei Drittel der Schreibtischarbeitszeit auf (66,7 Prozent), den niedrigsten Wert wies der älteste, aber keineswegs computerfeindliche Manager G auf (18,5 Prozent). PRINT/CORRESPONDENCE Den zweithöchsten Wert wies die Korrespondenz auf. Zu Korrespondenz gehörte das Lesen, Schreiben oder Diktieren von Briefen, Berichten, Memos, Aktennotizen oder anderer gedruckter respektive papierschriftlicher Medien (Aktivitäten etwa READ_LETTER, READ_REPORT, WRITE_LETTER, WRITE_REPORT, DICTATE_LETTER, DICTATE_REPORT). Der Durchschnittswert lag etwa bei einem Fünftel der Schreibtischarbeitszeit (21,3 Prozent), aber die Werte sind sehr unterschiedlich verteilt. Managerin B (35,6 Prozent) und Manager H (46,3 Prozent) verbrachten sehr viel Zeit mit Lesen und Schreiben von Korrespondenz, Manager C sehr wenig (8,3 Prozent). Das entspricht auch der subjektiven Einschätzung des Autors, der bemerkte, dass Managerin B und Manager H am Schreibtisch einen sehr ruhigen Eindruck machten, während Manager C sehr viele Dinge in sehr kurzer Zeit tat und geradezu unruhig auf Unterbrechung durch „live-action“ zu warten schien. NEWSREADING/NEWSSEARCH Insbesondere mit Blick auf Kommunikationsmanager interessant ist die Analyse der Zeit, welche die beobachteten Personen für die Rezeption und Recherche (u. a. auch „Googeln“) von Medienberichterstattung aufwandten: Im Durchschnitt wandten die Manager 15,2 Prozent ihrer Schreibtischarbeitszeit auf, aber die Werte unterscheiden sich sehr stark. Überhaupt ist die Zahl mit Vorsicht zu genießen, weil sie auch den persönlichen Arbeitsstil des Managers widerspiegelt: Einige lesen natürlich Zeitung am Frühstückstisch und hören Radio im Auto unterwegs zur Arbeit, andere beginnen ihren Büroarbeitstag mit einer Durchsicht des Pressespiegels der Organisation.
481
II. Work Characteristics
CHECK/EDIT An vierter Stelle, was den Zeitaufwand anbelangt, steht das Redigieren von Texten, sei es eine Pressemitteilung, sei es ein Brief, sei es eine Rede, ein Bild mit einer Bildunterschrift, ein Foto. Im Durchschnitt wandten die beobachteten Führungskräfte 12,6 Prozent ihrer Schreibtischarbeitszeit dafür auf. Die Aktivität CHECK/EDIT ist insofern interessant, als sie eine beobachtbare Ausprägung der Funktion des Supervising darstellt. Die Aktivität spiegelt nahezu eins zu eins, dass Kommunikationsmanager, wenn sie Verantwortung auf Mitarbeiter übertragen, oft Verantwortung für Texte übertragen – die Verantwortung aber gleichzeitig, wie unter C.III mit Blick auf First-Order-Management beschrieben, behalten. Die Aktivität CHECK/EDIT ist sehr viel besser zu verstehen, wenn man sich die tatsächliche Zeit in Minuten und die Anzahl der Aktivitäten ansieht, wie in Abbildung 82 dargestellt. Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
Anzahl der Aktivität CHECK/EDIT (n)
13
13
4
12
11
7
6
3
8,63
Zeit CHECK/EDIT (min)
50
48
18
33
110
74
21
37
48,88
Durchschnittliche Dauer der Aktivität CHECK/EDIT (n/t)
3,8
3,7
4,5
2,8
10,0
10,6
3,5
12,3
Abbildung 82: CHECK/EDIT, Anzahl Aktivität, Zeit insgesamt, Zeit pro Aktivität per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) DRAFTING/PLANNING Anders als Mintzberg es in seiner Studie darstellt, reservierten die beobachteten Manager durchaus Zeit, um Entscheidungen durchzudenken, Entwürfe anzufertigen, Planungen zu machen. Jedoch, und genau wie Mintzberg es darstellt, gelang es ihnen nicht immer, längere, ungestörte Phasen zu gewährleisten. Die Aktivität DRAFTING/PLANNING ging zwar häufig mit Schreiben einher, in der subjektiven Wahrnehmung des Autors bestand aber ein großer Unterschied zwischen etwa dem Diktieren eines „Standardbriefes“, welches schlicht und einfach abgearbeitet wurde – und dem bewussten, absichtsvollen Zurückziehen, um einen wichtigen Brief zu formulieren oder an einer Powerpoint-Präsentation zu arbeiten. Die Daten bestätigen die subjektiven Eindrücke des Autors eins zu eins: Managerin B und F sowie Manager E legten großen Wert darauf, Phasen ungestörten, stillen Arbeitens sicherzustellen und stellten das auch gegenüber ihren Sekretärinnen und Mitarbeitern so dar. Sie haben die höchsten Werte, was DRAFTING/PLANNING anbelangt. Manager E beispielsweise erklärte an einem Nachmittag, er werde jetzt eine halbe Stunde benötigen, um das „Stellenbesetzungspuzzle“ zu lösen, setzte sich mit einem Bleistift und einigen Blättern Papier an seinen Schreibtisch und arbeitete konzentriert und fokussiert für 35 Minuten. Die Managerinnen B und F erklärten im Verlauf der Beobachtungswoche ebenso, dass sie hofften, sich eine Phase ungestörten Arbeitens zu reservieren, um an einem Konzept zu arbeiten oder einen längeren, wichtigen Text zu entwerfen. Es stellte sich jedoch heraus, dass ihre Arbeit immer wieder unterbrochen wurde, teils durch eigene Entscheidung, teils durch andere: Managerin B arbeitete in der Beobachtungswoche 49 Minuten an einem Konzept
482
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
für die Strategien der nächsten Jahre, die 49 Minuten zerfielen in fünf Einzelphasen. Managerin F arbeitete insgesamt 51 Minuten an Planungen für verschiedene, entscheidende Projekte; die 51 Minuten zerfielen in 12 Einzelphasen. Um Missverständnissen entgegenzutreten: Der Autor postuliert nicht, dass die anderen Manager nicht planten, nachdachten, überlegten und abwägten. Was unter DRAFTING/PLANNING erfasst wurde, war nicht der kognitive Akt, der auch im Auto oder auf dem Flur durchführbar ist, der im Rahmen eines Meetings stattfindet. Was erfasst wurde, war ein beobachtbares Verhalten, das sich klar und deutlich von bloßem Formulieren oder Redigieren unterschied. Die Schlussfolgerung, die der Autor aus seinen Daten zieht, ist eine ähnliche wie die Mintzberg’sche: Es stellt eine der großen Herausforderungen des Managementjobs dar, dass die Anwesenheit am Arbeitsplatz Führungskräfte in einen Stimulus-Response-Modus versetzt. Es fehlt die Muße, längere Zeit ungestört bei einer Arbeit zu bleiben. Entweder, weil man gestört wird oder – das hält der Autor kritisch fest –, weil „ganz schnell noch“ und „zwischendurch“ Aufgaben erledigt werden, die der Führungskraft anscheinend gerade in den Kopf gekommen sind. Insofern ist Mintzberg beizupflichten, wenn er festhält: „It seems that the manager cannot expect to have much time for leisurely reflection during office-hours” (1971, 99). OTHERMEDIA und WEBWORK/ONLINE Ein ganz klarer Eindruck des Autors ist, dass der Input der beobachteten Manager abseits der Meetings noch immer ein ausgeprägt schriftsprachlicher ist: Die beobachteten Personen rezipierten geschriebene Texte, seltener einmal sahen sie sich Bilder an, kaum einmal einen Film (OTHERMEDIA). Die einzige Ausnahme stellte Manager C dar, der in einem Technologieunternehmen mit einer „modernen“ B-to-C-Marke tätig war, die sehr viel über Bewegtbild und Ton aufgebaut worden war. Manager C verbrachte 25 Minuten damit, sich Filme anzusehen, und 3 Minuten damit, sich Audiospots anzuhören. Was WEBWORK/ONLINE betrifft, verwandten die Manager beobachtbar Zeit darauf, bei Bedarf die Webseite einer Organisation oder Person zu „checken“ oder auch spontan eine Desktop-Recherche zu einem Thema durchzuführen – von der Social-Media-Hysterie waren die Manager im Jahre 2006 allerdings noch nicht erfasst, facebook, xing oder linkedin spielten noch keine Rolle. 3.4 MEETWORK: Sitzungsarbeit Abbildung 83 vergegenwärtigt, welchen Anteil MEETWORK (also „Meetingarbeit“) in der gesamten beobachteten Zeit ausmacht. Sie zeigt, dass die beobachteten Manager 39,2 Prozent der beobachteten Zeit in „Besprechungen“ oder besprechungsähnlichen Situationen face-to-face mit anderen (ohne Telefonkonferenzen) verbrachten, sei es in formellen oder informellen Sitzungen oder im Rahmen von Veranstaltungen (z. B. um einen Stehtisch herum bei einer Veranstaltung). Manager G, mit dem höchsten Wert, verbrachte während der Woche 63,0 Prozent seiner gesamten Büroarbeitszeit in derartigen Situationen, insgesamt saß (oder stand) er in 35 formellen Meetings und 33 informellen Meetings, was ihn 1 473 Minuten oder 24 Stunden 33 Minuten kostete. Meetings als Aktivitäts- oder Kontakttypus sind demnach zu unterscheiden von Meetings als Sessiontypus (vgl. Abbildung 74), weil informelle Ad-hoc-Meetings im Rahmen einer DESK-Session zustande kommen, in einer MEET-Session umgekehrt gelegentlich
483
II. Work Characteristics
auch andere Aktivitäten vorkommen (z. B. CHECK/EDIT, kurzes Durchgehen und Überarbeiten eines Entwurfes): Der Vergleich mit den Sessions (letzte Zeile der Tabelle) zeigt jedoch, dass das nicht sehr häufig der Fall ist Manager>
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
MEET_ FORMAL
2,0%
18,1%
34,3%
23,3%
23,8%
22,1%
44,3%
19,0%
23,4%
MEET_ REGUL.
6,4%
11,5%
1,5%
4,4%
7,3%
2,8%
0,0%
16,9%
6,4%
MEET_ ADHOC
3,0%
4,7%
9,3%
9,6%
6,1%
8,0%
18,6%
2,3%
7,7%
11,4%
34,3%
45,2%
37,3%
37,3%
32,9%
63,0%
38,2%
WORKS./ EVENT
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
14,2%
1,8%
Summe
11,4%
34,3%
45,2%
37,3%
37,3%
32,9%
63,0%
52,4%
39,2%
Vgl. Abb. 74: MEET (Session)
10,0%
32,4%
48,0%
45,3%
25,0%
29,3%
59,6%
35,7%
35,7%
plus
Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1).
Abbildung 83: Meetingtypen per Kandidat in % der absolut beobachteten Zeit (Quelle: eigene Darstellung) Abbildung 83 schlüsselt auf, inwiefern es sich bei Meetings um formelle, entsprechend terminierte Meetings (MEET_FORMAL), formelle, regelmäßige Meetings (MEET_REGULAR) oder um informelle Meetings handelte. Bei informellen Meetings „klopfte“ beispielsweise ein Mitarbeiter bei der Führungskraft an, fragte, ob denn Zeit sei, die eine oder andere Angelegenheit zu besprechen, so dass ein „Tür-und-Angel-Gespräch“ in ein Ad-hoc-Meeting überging (MEET_ADHOC). Wie die weiteren Ausführungen zeigen, lässt das Rückschlüsse auf den „Stil“ des beobachteten Managers zu. 3.5 Selbstgewählte Getriebenheit? Ereignis- vs. aufgabengetriebene Tagesabläufe Die Anzahl, Dauer und Verteilung der verschiedenen Sessions (vgl. 2.) und Aktivitäten (vgl. 3.3; 3.4) gestattet, wie immer mit der gebotenen Vorsicht, Rückschlüsse auf die Struktur des Tagesablaufes der untersuchten Personen. Viele, vor allem aber kurze DESKSessions lassen darauf schließen, dass bei der Person Arbeit am Schreibtisch „in der Zwischenzeit“ stattfindet, sofern es andere Verpflichtungen, insbesondere Meetings, eben gestatten: Der Manager arbeitet Termin um Termin ab und nutzt die Zeit zwischen Terminen, um Schreib- und Lesearbeiten zu erledigen. Bei langen DESK-Sessions in Verbindung mit
484
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
wenigen Meetings ist davon auszugehen, dass der Tagesablauf weniger von terminierten Ereignissen, mehr von zu bewältigenden Aufgaben geprägt ist.
Abbildung 84: Tagesablauf aufgabengetrieben vs. ereignisgetrieben, DESK- vs. MEET (Quelle: eigene Darstellung) Die Unterscheidung ist natürlich vor dem Hintergrund des Mintzberg’schen Postulats zu sehen, dass Manager sich selbst auf Stimulus-Response konditioniert haben, dass sie von den Ereignissen getrieben werden, dass sie aber selbst wählen, in welche Obligationen sie sich begeben. Ursprünglich verstand der Forscher die Dominanz von Meetings, insbesondere terminierten Meetings, als ein Maß für die Ereignisgetriebenheit des Tagesablaufs. Im Gegensatz dazu sah er Aufgabengetriebenheit, indiziert durch vergleichsweise viel Arbeit
II. Work Characteristics
485
am Schreibtisch. Die Interpretation erwies sich als zu simpel. Manager A wies beispielsweise mit 10,0 Prozent MEET- und 64,6 Prozent DESK-Sessions (vgl. Abb. 74) die ausgeprägteste Orientierung auf Schreibtischarbeit auf. Subjektiv stufte der Forscher Manager As Arbeitsweise aber nicht als ausgeprägt aufgabengetrieben ein. Der Grund war der, dass Manager A als operativer Pressesprecher agierte, im Rahmen seiner Schreibtischarbeit oftmals von Journalisten oder Kollegen angerufen wurde und daraus resultierenden Anfragen sofort und unverzüglich nachging. Manager Hs Arbeitsalltag war andererseits von sehr vielen Meetings und Terminen geprägt – und dennoch entstand der subjektive Eindruck eines im Prinzip aufgabengetriebenen Tagesablaufs. Die Analyse der Daten zeigte dann auch, dass Hs Tagesablauf von einem Wechsel zwischen präzise terminierten Meetings und hocheffektiv genutzten Arbeitsphasen gekennzeichnet war. Anders ausgedrückt: Obwohl Manager H sehr viele Termine wahrnahm, blieb er Herr seines Tagesablaufs. Vier Typen von Tagesablauf Verschiedene Versuche, die Daten zu interpretieren, zeigten, dass die Werte mit den Eindrücken des Beobachters korrespondieren, wenn man sie als Ergebnis von zwei miteinander in Spannung stehenden Faktoren interpretiert: Einerseits ist die bereits angesprochene Dominanz von entweder Schreibtischarbeit oder Meetings zu sehen; andererseits sind die Manager hinsichtlich der Aufgaben- respektive der Ereignis-/Termingetriebenheit ihres Tagesablaufs zu unterscheiden. Hinsichtlich der Struktur des Tagesablaufs lassen sich also vier „Extremtypen“ unterscheiden. Dabei steht dem Autor vor Augen, dass einer der vier Typen – Typ 4 – im landläufigen Verständnis als „ausgezeichnet“ gegenüber den anderen Typen gilt. Vom Autor selbst ist keine Rangfolge im Sinne eines „besser“ oder „schlechter“ beabsichtigt, und wie im weiteren Verlauf gezeigt werden wird, haben alle Typen Vor- und Nachteile.
Der Tagesablauf von Typ 1 ist von aufgabengetriebener Schreibtischarbeit geprägt. Das heißt, der Manager arbeitet primär vom Schreibtisch aus, wo er, im Rahmen der Möglichkeiten ungestört, mit Schreib- und Lesearbeiten respektive Korrespondenz beschäftigt ist oder von sich aus Telefonate abarbeitet. Der Tagesablauf von Typ 2 sieht prima facie ähnlich aus, ist also von Schreibtischarbeit geprägt. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, dass nicht ungestört und in Eigenregie Schreib- und Lesearbeiten/Korrespondenz bewältigt werden. Vielmehr verhält es sich so, dass der Manager, am Schreibtisch sitzend, für Telefonate, Gespräche „zwischen Tür und Angel“ oder sogar Ad-hoc-Meetings zur Verfügung steht. Der Tagesablauf von Managern des Typs 3 zeichnet sich nicht durch Schreibtischarbeit, sondern durch ein Übergewicht von Sitzungen und Besprechungen aus. Bei genauerer Betrachtung stellt man aber fest, dass ein substanzieller Prozentsatz der Meetings tatsächlich Ereignisse sind: Es handelt sich um Besprechungen, die ad hoc angesetzt wurden oder sich spontan aus einem „Tür-und-Angel-Gespräch“ entwickeln. Und auch in der Schreibtischarbeit zeigt sich, dass die Manager häufig angerufen werden Der Tagesablauf von Typ 4 zeichnet sich ebenfalls durch ein Übergewicht von Sitzungen und Besprechungen aus, die Meetings sind aber überwiegend terminiert oder finden regelmäßig, jede Woche oder zweiwöchentlich, statt – sie sind planbar. Fer-
486
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
ner legen Manager vom Typ 4 großen Wert darauf, in den Phasen zwischen Meetings, sofern möglich, ungestört am Schreibtisch arbeiten zu können: Sie werden seltener angerufen oder von Mitarbeitern aufgesucht. Um Missverständnisse zu vermeiden gilt es zu betonen, dass die Illustration auf subjektiven Eindrücken des Forschers beruht, die durch Beobachtungsdaten abgestützt sind. Die Skala zeigt ordinalskalierte Relationen, wobei die Extreme durch die am stärksten ausgeprägten Fälle aus der Beobachtung markiert und deswegen durchgängig besetzt sind: Manager H hatte demnach den im Vergleich am stärksten aufgabengetriebenen Tagesablauf – das bedeutet aber nicht, dass sein Tagesablauf völlig aufgabengetrieben war; genauso wie Manager G den am stärksten von Besprechungen determinierten Tagesablauf aufwies, aber keineswegs nur in Sitzungen saß. Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
DESK (Session)
64,6%
55,6%
35,0%
41,9%
43,1%
52,7%
25,3%
26,0%
43,0%
MEET (Session)
10,0%
32,4%
48,0%
45,3%
25,0%
29,3%
59,6%
35,7%
35,7%
EVENT (Session)
1,3%
0,0%
1,8%
0,0%
0,0%
2,5%
0,7%
16,4%
2,8%
MEET plus EVENT (Session)
11,3%
32,4%
49,8%
45,3%
25,0%
31,8%
60,3%
52,1%
38,5%
Kriterium ist der Arbeitsmittelpunkt: DESK = Schreibtisch; MEET = Sitzung, unabhängig von der Lokalität; EVENT = Veranstaltung ist Arbeitsmittelpunkt. Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1).
Abbildung 85: DESK vs. MEET per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) Schreibtischarbeit vs. Besprechungen Was das Verhältnis von Besprechung zu Schreibtisch anbelangt, ist abermals erstaunlich, dass die drei Manager der DAX-30-Konzerne allesamt im rechten Feld zu finden sind, also einen von Meetings und Besprechungen getriebenen Tagesablauf aufweisen. Das scheint auf den ersten Blick nicht völlig von den Daten gedeckt, da ja Manager D mit 45,3 Prozent mehr Zeit in MEET-Sessions verbrachte als der DAX-30-Manager H mit 35,7 Prozent (vgl. Abb. 74). Zu berücksichtigen ist jedoch, dass Manager H zusätzlich zu Meetings zweimal an Veranstaltungen teilnahm, die einmal beinahe einen ganzen, einmal einen halben Tag in Anspruch nahmen.
487
II. Work Characteristics
Fasst man Meetings und Events zusammen, zeigt sich das Bild, welches sich in Abbildung 85 widerspiegelt. Dann tritt klar und deutlich hervor, dass die DAX-30-Manager in der Studie, vermutlich aber auch in der Regel ein überdurchschnittliches Meetingpensum absolvieren. Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
Selbstbestimmte Kontakt-/Kommunikationstypen (ohne gegenseitige) MOBILE_ SELF
0,7%
0,6%
0,2%
0,5%
7,2%
0,0%
0,3%
0,0%
1,2%
CALL_ SELF
9,0%
14,7%
3,0%
11,5%
4,7%
13,1%
5,7%
4,7%
8,3%
TUA_ SELF
5,5%
4,6%
4,5%
4,1%
5,4%
3,2%
2,5%
3,4%
4,1%
MEET_ FORMAL
2,0%
18,1%
34,3%
23,3%
23,8%
22,1%
44,3%
19,0%
23,4%
MEET_ REGULAR
6,4%
11,5%
1,5%
4,4%
7,3%
2,8%
0,0%
16,9%
6,4%
WORKSH. /EVENT
0,0%
0,00%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
14,2%
1,8%
CALL_ CONF
0,4%
0,3%
3,1%
8,7%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
1,6%
24,1%
49,8%
46,6%
52,5%
48,5%
41,2%
52,9%
58,2%
46,7%
Fremdbestimmte Kontakt-/Kommunikationsstypen (ohne gegenseitige) MOBILE_ OTHER
0,6%
0,1%
0,5%
1,6%
2,7%
0,3%
0,3%
0,0%
0,8%
CALL_ OTHER
15,2%
8,0%
2,6%
3,4%
1,0%
6,7%
5,0%
3,5%
5,7%
TUA_ OTHER
2,8%
1,8%
7,6%
3,4%
2,3%
7,4%
3,3%
1,9%
3,8%
MEET_ ADHOC
3,0%
4,7%
9,3%
9,6%
6,1%
8,0%
18,6%
2,3%
7,7%
21,7%
14,6%
20,0%
18,0%
12,2%
22,3%
27,3%
7,7%
10,3%
1,1:1
3,4:1
2,3:1
2,9:1
4,0:1
1,8:1
1,9:1
7,6:1
4,5:1
Relation SELF/ OTHER
Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1).
Abbildung 86: Selbst- vs. fremdbestimmte Kommunikationstypen in % der insgesamt beobachteten Zeit per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung)
488
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Selbstbestimmte vs. fremdbestimmte Tagesabläufe Hinsichtlich selbstbestimmter vs. fremdbestimmter Tagesabläufe lassen sich die Daten interpretieren, wenn man einen Index konstruiert. Dabei ist zu sehen, dass Indices immer Konstrukte sind, die von der Zusammensetzung so oder anders hätten gewählt werden können; sie sind diskutabel. Der vom Autor vorgeschlagene Index stellt Kommunikations/Kontaktzeiten gegenüber, die entweder vom Manager selbst oder von der anderen Person initiiert wurden. MOBILE_SELF, CALL_SELF und TUA_SELF sind demnach Handy-, Telefon- sowie „Tür-und-Angel“-Gespräche, die der Manager selbst einleitete; MOBILE_OTHER, CALL_OTHER und TUA_OTHER wurden vom Gesprächspartner eingeleitet. Mit formellen Meetings, regelmäßigen Meetings, Workshops/Events sowie Telefonkonferenzen wurden ferner terminierte Kommunikations- und Kontakttypen unter selbstbestimmten Kontakttypen zusammengefasst. Ihnen gegenüber stehen Ad-hoc-Meetings, die sich spontan aus der Situation, z. B. einem „Tür-und-Angel-Gespräch“, entwickelten. Die Daten in Abbildung 86 zeigen, dass die beobachteten Manager grundsätzlich eher Treiber, weniger Getriebene ihres Tagesablaufs sind. Selbst Manager A, der als am stärksten ereignisgetrieben eingestufte Kandidat, initiierte mit 24,1 Prozent mehr Kontakte/Kommunikation von sich aus, als von anderer Seite an ihn herangetragen wurden (21,7 Prozent) – das Verhältnis ist 1,1 : 1. Das äquivalente Verhältnis bei Manager H, der als am ausgeprägtesten aufgabenorientiert eingeschätzt wurde, beträgt 7,6 : 1. Für die Relation ist es übrigens irrelevant, inwieweit die relativen oder die absoluten Werte herangezogen werden, so dass die unterschiedliche Gewichtung von Kontakten/Kommunikation im Tagesablauf aus der Gleichung herausfällt. Die vier Typen in Abb. 84 zeigen also eine Interpretation, die sowohl der Datensituation als auch dem subjektiven Eindruck des Forschers entspricht. Die ausgeprägtest aufgabengetriebenen Tagesabläufe im Sinne eines „selbstbestimmten“ Arbeitens hatten demnach Manager H, E und B. Auf der anderen Seite sind Manager A, gefolgt von F, C, G sowie D zu sehen. 3.6 Meetings: Der Preis für Macht und Einfluss, zahlbar in Zeit Interessant ist die Frage, inwiefern die Zahlen, insbesondere die Zahlen zu Sitzungsteilnahme, einen selbst gewählten oder durch Zwänge auferlegten Arbeitsstil widerspiegeln. Manager A erklärte beispielsweise, er versuche bewusst und absichtsvoll, die Teilnahme an Sitzungen auf ein Minimum zu reduzieren. Der Grund sei nicht primär in einer Abneigung gegen Besprechungen zu suchen, obwohl das auch eine Rolle spiele – sondern darin, dass „Erreichbarkeit“ das A und O in seiner Tätigkeit sei: Wenn ein Journalist anrufe, dürfe es nicht heißen, Herr Soundso sei im Meeting, würde in vier Stunden zurückrufen. Darüber hinaus erklärte Manager A im Interview, bereits ehe die Beobachtung stattfand: Im Vergleich mit anderen Kollegen habe ich extrem wenige Termine. Und es ist auch sehr, sehr schwer für viele Leute bei mir überhaupt einen Termin zu bekommen. Weil ich sage: Müssen wir uns dafür eine Stunde hinsetzen? Kann man das nicht am Telefon schnell erledigen? Oder mit einer Mail? Weil meine Erfahrung ist, dass… also ich glaube, neunzig Prozent aller Besprechungszeit ist überflüssig. Weil sich die Leute selbst verwirklichen wollen und Schwachsinn erzählen.
Manager A steht mit seiner Skepsis gegenüber Sitzungen keineswegs alleine – der Tenor populärer und doch seriöser Managementlehrbücher – Maliks Führen, Leisten, Leben stellt ein Beispiel (vgl. Malik 2006, 272ff.) dar – ist ähnlich. Übereinstimmend erklärten die
II. Work Characteristics
489
Kommunikationschefs der großen Unternehmen jedoch, dass die Teilnahme an Sitzungen der Preis für Veränderungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, für Macht und Einfluss sei. Wenn man etwas bewegen wolle in Unternehmen, wenn man die Strategie mitgestalten wolle, so sei es erforderlich, in den entsprechenden Komitees und Gremien zu sitzen. Manager C, G und H, die Kommunikationsmanager der DAX-30-Konzerne, verfügten freilich über die personellen Ressourcen – insbesondere Stellvertreter von entsprechender Seniorität – sich im Prinzip vom Tagesgeschäft abschirmen zu lassen. Bei Manager A war das in sehr viel geringerem Maße der Fall, weil er operativ tätig war, seine Tasks nach außen gerichtet blieben. Sitzungen und Besprechungen, postuliert der Autor, sind die Spielfelder, auf welchen große Teile des Management Games gespielt werden. Oder, um eine andere Metaphorik zu gebrauchen: Meetings sind die Bühnen, auf welchen Führungskräfte ihre Rollen – so wie der Autor den Begriff der Rolle versteht (vgl. D.III, B.I) – spielen. Managerin B beschreibt die Tour von Meetings, die zu durchlaufen sind, wenn man an der Geschäftsführung, wenn man am Management Game beteiligt ist, sehr anschaulich. Auf die Frage, wie man sich das Zusammenspiel mit ihr und der Geschäftsführung vorzustellen habe, entgegnete sie: Dieses Zusammenspiel läuft beispielsweise so, dass ich mit meinem direkten Vorgesetzten, an den ich berichte – den Sprecher der Geschäftsführung – normalerweise wöchentliche Rücksprachen habe. Ständigen Austausch aber auch mit den anderen beiden Geschäftsführern. Das ist ganz wichtig. Die kann man bei so etwas nicht abhängen. Dann haben wir alle zwei Wochen bestimmte Führungszirkel. Einmal in der großen Runde der leitenden Angestellten: Da sind die Geschäftsbereichsleiter genauso dabei wie die Direktionsabteilungsleiter – also diejenigen, die so genannte Schnittstellen- und Stabsstellenfunktion übernehmen. Und zwei Wochen später trifft man sich in der kleineren Runde: also diejenigen, die – wie wir – die Steuerungs- und Dienstleistungsfunktionen haben. Und dort ist natürlich der Austausch zu bestimmten Themen gegeben. Ansonsten läuft bei mir – ich sagte es ja schon: ich bin ein relativ kommunikativer Mensch – sehr viel bilateral ab. Ich muss immer dafür sorgen, dass ich nicht nur zum obersten Management, sondern auch – ich sage jetzt mal: bis auf die Abteilungsleiterebene – zu den Schlüsselfiguren ein gutes persönliches Verhältnis habe.
3.7 Fazit: Schreibtischarbeit und Sitzungsarbeit In der Analyse der Aktivitäten bestätigte die Studie viele der Work Charakteristics, welche bereits Mintzberg in seiner Studie aufzeigte, welche auch andere Studien fanden: Auf der Oberfläche, wenn man sie von außen beobachtet, sieht die Arbeit von Kommunikationsmanagern fragmentiert aus – das bedeutet aber, wie der Autor herausarbeitete (vgl. B.II), nicht zwingend Fragmentierung in der Tiefenstruktur, „im Kopf“ des Managers. Direkte, synchronische Kommunikation und Kontakte, sei es in Meetings, sei es via Telefon, machen mit 68,5 Prozent im Durchschnitt über zwei Drittel der Arbeitszeit aus: Werte, die in anderen Managementstudien ähnlich oder noch höher lagen. Dass E-Mail-Korrespondenz der Hauptbestandteil der Schreibtischarbeit ist, überrascht vermutlich niemanden, der in einem modernen Büro arbeitet. Von Interesse ist, dass Kommunikationsmanager erwartungsgemäß einige Zeit aufwenden, um Medienberichterstattung zu rezipieren oder bei Bedarf zu recherchieren, allerdings schwankt der Wert sehr stark. Ferner von Interesse ist, dass sie einige Zeit aufwenden, um Dokumente, Schriftstückentwürfe, zu überfliegen, zu überarbeiten, schließlich freizugeben – und dass von Zeit zu Zeit, anders als das Mintzberg darstellt, durchaus Freiräume geschaffen werden, um „in aller Ruhe“ eine Präsentation zu überarbeiten oder ein Konzept zu entwerfen. Dass Meetings einen großen Raum einnehmen würden, ließ sich bereits aus der Verteilung der MEET-Sessions heraus erwarten, die höherauflö-
490
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
sende Analyse der Aktivitäten zeigt aber, dass auch die DESK-Sessions durchsetzt sind mit „spontanen“ Meetings „zwischen Tür und Angel“ – die tatsächliche Zeit, die die beobachteten Manager „im Gespräch“ verbrachten ist also höher als die Zeit im Konferenzraum. Sieht man sich das Verhältnis von MEETWORK und DESKWORK bzw. von MEETSessions und DESK-Sessions an, lassen sich vier verschiedene Typen von Tagesablauf rekonstruieren: Manager des Typs 1 arbeiten vom Schreibtisch aus aufgabengetrieben ihre Arbeit ab, gehen nur gelegentlich in Meetings; Manager des Typs 2 arbeiten zuvorderst am Schreibtisch, stehen aber für spontane „Besprechungen“ zur Verfügung („Meine Tür ist immer offen“), was zu einem eher ereignisgetriebenen Tagesablauf führt; Manager des Typs 3 eilen von Meeting zu Meeting, wobei viele der Meetings eher kurzfristig und ereignisgetrieben zustande kommen; Manager des Typs 4 eilen von terminiertem Meeting zu terminiertem Meeting und versuchen „zwischendurch“ ihre Schreibtischarbeit zu erledigen, wobei sie aber nicht gestört werden wollen. Meetings – die formellen „Führungszirkel“, „Arbeitsgruppen“, „Steuerungsgremien“, aber eben auch die bilateralen Interaktionen – sind der Preis, der zu entrichten ist, wenn Kommunikationsmanager danach verlangen, genuin in die Unternehmensführung integriert zu sein, wenn sie über Macht und Einfluss verfügen wollen. Der Preis ist in Zeit zu entrichten. Unter III. verfolgt der Autor den Gedanken weiter, dass Meetings das Spielfeld des Management Games darstellen, die Bühne bilden, auf der die Managementrollen, wie sie der Autor versteht, gespielt werden. 4. Kontakte Die 68,5 Prozent unter Kontakte/Kommunikation zusammengefassten Aktivitäten lassen sich aufschlüsseln in a) Telefon/Mobiltelefon-Kontakte, b) Meeting-Kontakte, c) Gespräche „zwischen Tür und Angel“ sowie d) „Encounters“, zufällige Begegnungen. Abbildung 87 vergegenwärtigt die Daten in Prozentsätzen der absolut beobachteten Zeit. Bereits gezeigt wurde, dass Meetings den größten Anteil der Tagesarbeitszeit in Anspruch nehmen: Durchschnittlich 39,2 Prozent ihrer gesamten absoluten Arbeitszeit verbrachten die beobachteten Manager mit MEETWORK-Kontakten, also in Besprechungen oder besprechungsähnlichen Situationen (vgl. auch 3.4).161 Mit 17,7 Prozent steht Telefonieren an zweiter Stelle der häufigsten respektive zeitaufwändigsten Aktivitäten, gefolgt von Gesprächen „zwischen Tür und Angel“ mit 11,1 Prozent durchschnittlich. Die so genannten „Encounters“ – zufällige Begegnungen, die über eine Begrüßung im Gang hinausgehen – spielten eine marginale Rolle. Die Durchschnittswerte täuschen darüber hinweg, dass sich die Kandidaten hinsichtlich der Verteilung der Kontakttypen gravierend unterscheiden. Schon bei der Analyse der Sessions zeichnete sich ab, dass etwa Manager A die Zeit in Besprechungen zu reduzieren suchte, während Manager G ein außergewöhnlich zeitaufwändiges Sitzungspensum absolvierte. Da der Sessiontypus Meeting nahezu identisch ist mit der Aktivität Meeting, spiegeln sich die Unterschiede deckungsgleich wider.
161 Die Abweichung gegenüber durchschnittlich 35,7 Prozent MEET-Sessions, nicht dem Kontakttyp Meeting, ist zwei Kontakttypen geschuldet, die außerhalb MEET-Sessions stattfanden: Einerseits sehr kurzen Ad-hocMeetings, die im Rahmen von DESK-Sessions stattfanden; andererseits EVENTs und WORKSHOPs, wo die Manager eben auch face-to-face in Gruppen mit anderen interagierten.
491
II. Work Characteristics Manager >
A
B
PHONE/ MOBILE
27,2%
23,6%
MEETING (Kontakttyp)
11,4%
„TÜR UND ANGEL“
C
D
E
F
G
H
Ø
9,3%
25,9%
15,6%
20,4%
11,4%
8,2%
17,7%
34,3%
45,2%
37,3%
37,3%
32,9%
63,0%
52,4%
39,2%
11,4%
8,2%
16,6%
10,5%
10,3%
11,5%
7,8%
12,3%
11,1%
ENCOUNTER (zufällige Beg.)
0,5%
0,3%
1,2%
0,1%
0,0%
0,4%
0,0%
1,6%
0,5%
SUMME Vgl. Abb. 78: Kontakte & Kommunikation
50,6%
66,5%
72,3%
73,8%
63,2%
65,2%
82,1%
74,5%
68,5%
PHONE/MOBILE setzt sich zusammen aus folgenden Aktivitäten: CALL_SELF; CALL_OTHER; CALL_BACK; MOBILE_SELF; MOBILE_OTHER; MOBILE_BACK; CALL_CONFERENCE. MEETING setzt sich zusammen aus folgenden Aktivitäten: MEET_FORMAL; MEET_REGULAR; MEET_ADHOC; WORKSHOP/EVENT. TÜR & ANGEL setzt sich zusammen aus folgenden Aktivitäten: TUA_SELF; TUA_OTHER; TUA_MUTUAL. ENCOUNTER setzt sich zusammen aus ENCOUNTER. Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1).
Abbildung 87: Kontakttypen in % der absoluten beobachteten Zeit per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) Wieder zeigt sich, dass die drei Kommunikationschefs der DAX-30-Unternehmen, C, G und H, allesamt im Bereich oberhalb des Durchschnitts liegen. Die fünf anderen Manager liegen unterhalb. In etwa umgekehrt verhält es sich mit Telefonaten: Die DAX-30-Manager C, G und H liegen unterhalb, vier der anderen fünf liegen oberhalb des Durchschnitts. Die subjektiv vom Forscher als eher operativ tätig empfundenen Manager A und D sowie Managerin F und mit Einschränkungen auch Managerin B telefonierten im Vergleich länger und öfter. De facto verbrachten sie zwischen einem Fünftel und einem Viertel ihrer absoluten beobachteten Arbeitszeit am Telefon. Die vom Forscher subjektiv als eher direktiv eingeschätzten Manager telefonierten weniger, saßen aber der Tendenz nach länger und öfter in Meetings. Was die Anteile an „Tür-und-Angel-Gesprächen“ betrifft, liegt der niedrigste Wert hier bei 7,8 Prozent, der höchste bei 16,6 Prozent der beobachteten Zeit. Alles in allem ist es erstaunlich, welche Bedeutung die informellen, oftmals ad hoc zustande kommenden Gespräche „zwischen Tür und Angel“ besitzen. Dabei ist es verführerisch, die Prozentzahl als Indikator für einen lockeren, personenorientierten Managementstil zu interpretieren. Aber Vorsicht ist geboten, denn die Zahl ist vermutlich genauso abhängig von der Aufteilung der Büroräume. So stufte der Forscher Manager C und G als vom Typus her ähnlich ein und
492
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
war erstaunt, dass sich die Einschätzung nicht in Zahl und Bedeutung der „Tür-und-AngelGespräche“ widerspiegelte. Im Unterschied zu Manager Cs Abteilung ist Manager Gs Abteilung aber auf mehrere Etagen verteilt, so dass ein spontanes „Vorbeischauen“ bei seinen Abteilungsleitern jedes Mal eine Aufzugsfahrt erfordern würde. 4.1 Kontakte intern und extern Angesichts der Tatsache, dass die Literatur Kommunikationsmanager als Boundary Spanner rekonstruiert (vgl. auch B.II), ist der Vergleich von internen und externen Kontakten aufschlussreich. Im Durchschnitt verbrachten die beoachteten Manager 72,7 Prozent ihrer Kontaktzeit in internen Kontakten, mit Kontakten im eigenen Haus, zu Unternehmensangehörigen (vgl. Abb. 88). Die übrigen 27,3 Prozent machten externe Kontakte, Kontakte zu außenstehenden Personen aus. Ein Vergleich der Einzelfälle zeigt, dass der Durchschnittswert eine durchgängig beobachtbare Tendenz widerspiegelt: dass grundsätzlich zwischen zwei Drittel und drei Viertel der Kontaktzeit auf das Konto interner Kontakte gehen. In keinem Fall gab es mehr externe als interne Kontakte – und das, obwohl gemischte Kontakte als externe Kontakte geführt wurden. Den höchsten Anteil an externer Kontaktzeit wies Manager A mit 38,9 Prozent auf; den niedrigsten Anteil Manager C mit 13,1 Prozent. Wie immer ist es verführerisch, den Versuch zu unternehmen, die Schwankungsbreite zwischen 38,9 und 13,1 Prozent zu erklären. Allerdings gibt es keinen Grund anzunehmen, dass das Verhältnis von internen und externen Kontakten einen „standardmäßigen“ Wert aufweisen sollte. Kaum als Erklärung taugt die Unternehmensgröße. Zwar sind Manager C und G in sehr großen Unternehmen tätig. Für Manager H, der einen niedrigen Wert aufweist, gilt das allerdings auch – und Managerin B, mit einem hohen Wert, arbeitet in einem kleineren Unternehmen. Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
Kontakte intern
61,1%
81,0%
86,9%
70,4%
61,5%
70,1%
82,6%
68,3%
72,7%
Kontakte extern
38,9%
19,0%
13,1%
29,6%
38,5%
29,9%
17,4%
31,7%
27,3%
checksum
100,0%
100,0%
100,0%
100,0%
100,0%
100,0%
100,0%
100,0%
100,0%
Abbildung 88: Kontakte intern und extern in % der Kontaktzeit per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) Ohne einen „Schnappschuss“ überzubewerten, bietet der Autor folgende Erklärung an, die er unter IV. weiterverfolgt, die die objektiven Daten mit seinen subjektiven Eindrücken in Übereinstimmung bringt: Manager E ist ein Ausreißer, weil er gerade in der kurzen, dreitägigen Woche zufällig mehrere längere externe Kontakte hatte. Ansonsten hängt der Wert sehr stark mit dem Job in seiner Gesamtheit und den verschiedenen Tasks zusammen, welche die jeweilige Person übernimmt: Manager A und D agierten vom Job her operativ als Pressesprecher und hatten deshalb deutlich mehr Kontakte nach außen als die anderen. Managerin F und Manager H hatten als Direktoren Unternehmenskommunikation verschie-
493
II. Work Characteristics
dene Tasks, welche sie in Kontakt mit organisationsexternen Akteuren hielt. Ausgeprägt war das beispielsweise bei Managerin F, die mehrere Projekte zur „Chefsache“ erklärt hatte und als Liaison höchstpersönlich in Händen hielt: Beispielsweise hielt sie Kontakt mit einem Künstler, der die Gartenanlage gestaltete, und plante die Zusammenarbeit mit einer internationalen Hilfsorganisation, welche ein Kinderkrankenhaus in Indien unterhielt. Manager H agierte wiederum recht oft in Figurehead-Tasks, repräsentierte das Unternehmen also bei Veranstaltungen von angegliederten Organisationen (Lieferantenveranstaltungen, Branchenveranstaltungen, gesellschaftspolitische Projekte). 4.2 Interne Kontakte: Kontaktrichtungen Da interne Kontakte im Kontext der Organisationshierarchie stattfinden, lassen sie sich gemäß der Kontaktrichtung klassifizieren. Unter vertikalen Kontakten sind dabei Kontakte zu verstehen, die entweder „nach oben“ zu Vorgesetzten oder „nach unten“ zu Mitarbeitern unterhalten wurden. Von horizontalen Kontakten spricht man, wenn die beobachtete Person Kontakte mit in etwa gleichgestellten Personen unterhielt (Kollegen oder Peers). Von lateralen Kontakten ist die Rede, wenn Gespräche jenseits der Hierarchie stattfanden – so etwa, wenn der Manager ein „Pläuschchen“ mit einer zwar nicht gleichgestellten, aber auch nicht direkt oder indirekt unterstellten Personen führt: typischerweise handelt es sich hier um Portiers oder IT-Techniker oder dergleichen (vgl. Abb. 89). Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
Interne Kontakte, % der Zeit absolut
61,1%
81,0%
86,9%
70,4%
61,5%
70,1%
82,6%
68,3%
72,7%
vertikal aufwärts
14,7%
8,6%
16,7%
31,4%
21,2%
4,4%
8,3%
15,2%
15,1%
horizontal (Peer)
14,3%
44,2%
33,8%
39,9%
18,0%
20,4%
26,8%
26,2%
28,0%
lateral (andere)
12,8%
3,4%
2,4%
0,9%
0,0%
8,2%
0,0%
8,2%
4,5%
vertikal abwärts
58,3%
43,9%
47,1%
27,9%
60,8%
67,1%
64,9%
50,3%
52,5%
checksum
100,1%
100,1%
100,0%
100,1%
100,0%
100,1%
100,0%
99,9%
100,0%
Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1).
Abbildung 89: Kontaktrichtung der internen Kontakte in % der internen Kontaktzeit per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) Wie die Daten zeigen (vgl. Abb. 90), überwiegen erwartungsgemäß vertikale Kontakte nach unten. Im Durchschnitt machen Kontakte zu untergebenen Mitarbeitern, zu Sekretärinnen/Assistentinnen sowie zum eigenen Stellvertreter etwas über fünfzig Prozent der gesamten internen Kontaktzeit aus (52,5%). Sieht man von Manager D ab, sind die Werte
494
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
relativ gleichförmig verteilt. An zweiter Stelle folgen horizontale Kontakte, also Kontakte zu gleichgestellten Personen: hierfür wandten die beobachteten Manager durchschnittlich 28,0 Prozent der internen Kontaktzeit auf. Kontakte nach oben, zu Vorgesetzten und ihren Sekretärinnen (die der Autor formal als Versuch codierte, mit Vorgesetzten Kontakt aufzunehmen), addieren sich zu durchschnittlich 15,1 Prozent. Laterale Kontakte liegen bei 4,5 Prozent. Abbildung 90 vergegenwärtigt die Verteilung genauer; die Darstellung zeigt die Werte, um die Verteilung herauszuheben, als Prozentsatz der jeweils mit internen Kontakten verbrachten Zeit. Superiors, Vorgesetzte (SUP) Unter Superiors (SUP), also Vorgesetzten, verstand die Arbeit dabei nicht nur den jeweiligen Vorstandsvorsitzenden oder Geschäftsführer, an welchen der Kommunikationsmanager berichtete, sondern auch andere Vorstände oder Top-Manager der zweiten Führungsebene. Die Daten in Abbildung 90 zeigen, dass die beobachteten Kommunikationsmanager durchschnittlich etwa 12,9 Prozent ihrer Kontaktzeit in direkter, synchronischer Kommunikation (Meetings, Telefonate) mit Superiors verbringen. Die Daten zeigen ferner, dass Versuche, einen Vorgesetzen „ranzukriegen“, also einen Termin für ein Gespräch zu bekommen, einen substanziellen Prozentsatz der Arbeit ausmachen: Durchschnittlich wandten die beobachteten Manager 2,2 Prozent ihrer Kontaktzeit dafür auf, mit Sekretärinnen oder persönlichen Assistenten ihrer Vorgesetzten zu kommunizieren – dabei ging es zwar nicht immer um Termine, aber in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle. Peers, Kollegen (PEER) Die Daten zu gleichgestellten Personen, Kollegen oder Peers, gestatten es, die Erörterung von operativem und direktiv-politischem Management fortzusetzen. Die Resultate stützen die subjektive Einschätzung des Autors: Managerin B sowie Manager C und G, die sehr ausgeprägt direktiv und organisationspolitisch agierten, weisen auch im ungefähren Vergleich höhere Kontaktzeiten zu Kollegen auf. Manager stellt einen Sonderfall dar, weil er sowohl operativ agierte als auch sehr stark im unternehmenspolitischen Spiel auftrat, seinen Job auszudehnen versuchte: er hat deshalb mit 39,8 Prozent ebenfalls einen vergleichsweise hohen Wert. En passant zeigen die Daten übrigens den enormen Unterschied zwischen gleichgestellten Personen und höherrangigen Personen: Einen Termin bei einer gleichgestellten Person zu bekommen, erwies sich als sehr viel einfacher, als einen Termin bei einem Vorgesetzten zu erhalten – was in einer sehr viel geringeren Kontaktzeit mit den Sekretariaten resultiert.
495
II. Work Characteristics Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
Interne Kontakte, % der Zeit absolut
61,1%
81,0%
86,9%
70,4%
61,5%
70,1%
82,6%
68,3%
72,7%
9,0%
7,6%
16,5%
27,8%
20,0%
1,4%
5,6%
15,2%
12,9%
SUP_ SECR
5,7%
1,0%
0,2%
3,6%
1,2%
3,0%
2,7%
0,0%
2,2%
Kontakte aufwärts
14,7%
8,6%
16,7%
31,4%
21,2%
4,4%
8,3%
15,2%
15,1%
14,3%
43,9%
33,6%
39,8%
18,0%
19,1%
26,8%
26,0%
27,7%
PEER_ SECR
0,0%
0,3%
0,2%
0,1%
0,0%
1,3%
0,0%
0,2%
0,3%
Kontakte horizontal
14,3%
44,2%
33,8%
39,9%
18,0%
20,4%
26,8%
26,2%
28,0%
ORGA_ GEN
6,5%
3,4%
1,4%
0,5%
0,0%
5,7%
0,0%
6,7%
3,0%
ORGA_ TECH
6,3%
0,0%
1,0%
0,4%
0,0%
2,5%
0,0%
1,5%
1,5%
Kontakte lateral
12,8%
3,4%
2,4%
0,9%
0,0%
8,2%
0,0%
8,2%
4,5%
SECR/ ASSIST
3,5%
12,9%
8,4%
4,5%
9,8%
8,3%
14,9%
8,4%
8,8%
0,0%
7,3%
8,7%
8,1%
4,3%
14,3%
5,4%
2,2%
6,3%
54,8%
23,7%
30,0%
15,3%
46,7%
44,5%
44,6%
39,7%
37,4%
Kontakte abwärts
58,3%
43,9%
47,1%
27,9%
60,8%
67,1%
64,9%
50,3%
52,5%
checksum
100,1%
100,1%
100,0%
100,1%
100,0%
100,1%
100,0%
99,9%
100,1%
SUP
PEER
DEPUTY SUB
Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1).
Abbildung 90: Interne Kontakte en detail, in % der internen Kontaktzeit per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung)
496
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Organization members, „einfache Mitarbeiter“ (ORGA) In der Durchschnittsbetrachtung zu vernachlässigen sind Kontakte mit Personen in der Organisation, die weder über- noch untergeordnet noch gleichgestellt sind, sondern quer zur eigenen Position des Managers stehen, also etwa Pförtner, Wachpersonal, Gärtner, Reinigungskräfte etc. (3 Prozent). Selbst wenn man Kontakte mit technischen Supportdiensten addiert (1,5 Prozent), gelangt der Wert mit 4,5 Prozent nicht über die Fünf-Prozent-Hürde der internen Kontaktzeit. In der Verallgemeinerung lässt sich demnach sagen, dass Kommunikationsmanager keineswegs in ständigem Kontakt mit „einfachen Arbeitern“ stehen oder dass jeden Tag ein Plausch hier und da stattfindet, um auf dem Laufenden zu sein. Dafür sind die Wege durch die Organisation zu unterschiedlich, dafür fehlt auch die Zeit. Sieht man sich einzelne Personen an, stellt man freilich fest, dass der sehr „volkstümliche“ Manager A, obwohl das teilweise technischer Betreuung geschuldet ist, beinahe so viel Zeit mit lateralen Kontakten verbrachte wie mit horizontalen (12,8 Prozent). Managerin F verbrachte mit 8,2 Prozent doppelt so viel Zeit in lateralen Kontakten wie in vertikal aufwärts gerichteten. Prozentual vergleichbar viel Zeit wandte Manager H auf, aber das ist vor allem Mitarbeiterveranstaltungen geschuldet. Der subjektive Eindruck des Autors ist der, dass die Manager A, C und F dem „offenen Ohr“ die größte Bedeutung beimaßen. Manager C betonte mehrfach, dass es ihm sehr wichtig sei, seine Information von überall her im Unternehmen zu aggregieren (vgl. auch III.2). Die Daten spiegeln das mit 2,4 Prozent lateralen Kontakten zeitlich zwar lediglich ansatzweise wider, in seinen 5 ORGA_GENERAL- und den 7 ORGA_TECH-Kontakten (25 respektive 19 Minuten) zeigte Manager C aber ein sehr viel „neugierigeres“ Verhalten. Subordinates, eigene Mitarbeiter (SUB) Die Daten zu Subordinates zeigen die Zeit, welche der Manager mit einem oder mehreren Mitarbeitern in direkter, synchronischer Kommunikation verbrachte (SUB general). Sie zeigen darüber hinaus die Zeit, welche der Manager mit seiner Sekretärin oder persönlichen Assistentin (SECR/ASSIST, in allen Fällen Frauen) oder seinem Stellvertreter, seiner Stellvertreterin (DEPUTY) jeweils im Einzelkontakt verbrachte. Die Resultate belegen, wie bereits erwähnt, dass die beobachteten Manager durchschnittlich über die Hälfte ihrer internen Kontaktzeit für ihre eigenen Mitarbeiter aufwandten. Managerin F und Manager G wandten mit 67,1 und 64,9 Prozent am meisten und auch ungefähr gleich viel Zeit (prozentual) auf, Manager D mit 27,9 Prozent mit deutlichem Abstand am wenigsten. Von einigem Interesse sind die Daten der SECR/ASSIST- und DEPUTY-Elemente. Was SECR/ASSIST anbelangt, treten Managerin B (12,9 Prozent) und auch Manager G (14,9 Prozent) hervor. Das ist bei Managerin B der Tatsache geschuldet, dass sie über ein doppelt besetztes Sekretariat verfügte, welches aufs engste mit ihrer persönlichen Arbeit verknüpft war: Managerin B verwandte sehr viel Zeit und Mühe darauf, ihr Sekretariat zu organisieren und die Organisation aufrechtzuerhalten. Bei Manager G ist der Anteil der Tatsache geschuldet, dass er gerade eine neue persönliche Assistentin einarbeitete, was zu vergleichsweise vielen Besprechungen führte. Das Element DEPUTY gestattet es, die Rolle des Stellvertreters herauszuarbeiten, sofern dieser als „klare Nummer zwei“ existierte. Dass Manager A nicht mit seinem Deputy kommunizierte, lag schlicht und einfach an der Tatsache, dass die Person während der Beobachtungswoche im Urlaub war. Wie Abbildung 90 verdeutlicht, verbrachten die beobachteten Manager durchschnittlich 6,3 Prozent ihrer internen Kontaktzeit im Einzelkontakt
II. Work Characteristics
497
mit ihren Stellvertretern, mit einer einzigen Person also. Die Arbeit verfolgt den Deputy unter 4.4.2 weiter. 4.3 Externe Kontakte Die externen Kontakte sind nicht gemäß der Kontaktrichtung zu qualifizieren, sondern anhand der Rolle respektive Funktion des Kontaktes. Abbildung 91 zeigt die Resultate und die Kategorien, die der Autor zugrunde legte, um die externen Kontakte zu klassifizieren. Medienkontakte – die häufigsten externen Kontakte Die Resultate belegen, dass Medienkontakte, im Durchschnitt mit 20,1 Prozent, die häufigsten externen Kontakte der Kommunikationsmanager darstellen (MEDIA). Das stützt die subjektiv aus der Beobachtung heraus entwickelte These des Autors, dass die Position des Kommunikationsmanagers eine höherkomplexe Evolutionsstufe des Pressesprechers oder PR-Managers alter Prägung, als Presse- und Medienarbeiter, darstellt. Gleichzeitig gilt es zu sehen, dass Managerin F überhaupt keine Zeit in Medienkontakten verbrachte, Manager H lediglich 1,4 Prozent seiner externen Kontaktzeit: In beiden Fällen war das zwar darauf zurückzuführen, dass die Manager Presse- und Medienarbeit an ihre Stellvertreter delegiert hatten – das war bei Manager C und E aber auch der Fall, und gleichwohl fuhren sie fort, wichtige Presse- und Medienkontakte selbst in die Hand zu nehmen. Das persönliche Netzwerk sind die zweithäufigsten Kontakte An zweiter Stelle, mit durchschnittlich 16,3 Prozent, ist das persönliche Netzwerk des Managers zu sehen: also Kollegen oder ehemalige Kollegen, insbesondere im Fall Manager Es ein ehemaliger Vorgesetzter. Wie Abbildung 91 zeigt, schwanken die Zahlen und es ist vor Überinterpretation eines „Schnappschusses“ zu warnen. Gleichwohl ist es verblüffend, welche große Rolle die Pflege und Nutzung des persönlichen Netzwerkes spielt – de facto ist, wie der Autor glaubt, ein Großteil der Seniorität eines Kommunikationsmanagers mit der Frage verknüpft, über welches persönliche Netzwerk er in der Branche seines Unternehmens und in der Kommunikationsbranche verfügt. Gemischte Kontakte, Berater, Kooperationspartner An dritter Stelle stehen gemischte Kontakte mit 14,9 Prozent (MIXED); an vierter Stelle persönliche (Kommunikations-)Berater oder Agenturvertreter mit 13,2 Prozent (COUNSEL); an fünfter Stelle Kooperationspartner des Unternehmens oder der Abteilung mit 7,6 Prozent (PARTNER/COOPERATIONS). Von einiger Bedeutung sind private Kontakte, was zeigt, dass Führungskräfte angesichts ihrer Arbeitszeiten gezwungen sind, ihr Privatleben vom Büro aus zu organisieren (PRIVATE). Kontakte mit Kunden und mit Lieferanten (CLIENT/CUSTOMER bzw. SUPPLIER/PROVIDER) spielen eine Rolle, aber keine von besonderer Bedeutung – Manager H, in einem B-to-B-Unternehmen tätig, stellt eine Ausnahme dar.
498
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
Externe Kontakte, % der Zeit absolut
38,9%
19,0%
13,1%
29,6%
38,5%
29,9%
17,4%
31,7%
27,3%
33,8%
26,4%
21,2%
22,5%
35,9%
0,0%
19,9%
1,4%
20,1%
0,0%
13,9%
1,4%
21,4%
1,1%
65,9%
0,0%
1,7%
13,2%
PARTNER/ COOPER.
0,0%
28,4%
17,3%
0,0%
4,0%
0,0%
0,0%
11,1%
7,6%
NETWORK_ ASSOC
0,0%
0,6%
0,0%
0,3%
0,0%
0,0%
0,0%
1,8%
0,3%
NETWORK_ PERSONAL
10,5%
3,5%
1,1%
20,6%
45,5%
0,0%
31,7%
17,2%
16,3%
POLITICS/ ADM
1,2%
13,4%
0,7%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
1,9%
CLIENT/ CUSTOMER
17,9%
1,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
15,3%
4,3%
SUPPLIER/ PROVIDER
4,4%
0,3%
1,4%
1,9%
0,0%
8,0%
21,0%
0,0%
4,6%
12,8%
0,0%
25,5%
13,4%
0,0%
16,1%
6,7%
44,4%
14,9%
12,3%
6,4%
12,9%
4,8%
8,8%
2,7%
9,1%
0,6%
7,2%
6,8%
1,6%
0,0%
11,7%
1,1%
2,3%
0,0%
0,9%
3,0%
0,4%
4,5%
18,3%
3,3%
3,7%
5,0%
11,6%
5,7%
6,6%
100,1%
100,0%
99,8%
99,9%
100,1%
100,0%
100,0%
100,1%
100,0%
MEDIA COUNSEL
MIXED PRIVATE OTHER UNKNOWN checksum
Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1).
Abbildung 91: Externe Kontakte en detail, in % der externen Kontaktzeit per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung) 4.4 Berater, Agenturen, persönliches Netzwerk und der Deputy Von einigem Interesse ist die Rolle der Berater und Agenturen, insbesondere, wenn man sie in Beziehung setzt zum persönlichen Netzwerk, welches die Person im Verlauf ihrer Karriere organisationsintern und -extern aufgebaut hat.
499
II. Work Characteristics
4.4.1 Die Rolle der Berater und Agenturen und des persönlichen Netzwerks Wie die Daten zeigen, machen Kontakte zu Beratern und Agenturen (COUNSEL), zum persönlichen Netzwerk und zum Branchen- und Organisationsnetzwerk (NETWORK_PERSONAL und NETWORK_ASSOCIATION) einen substanziellen Anteil der Kontaktzeit aus. Bei Managerin F liegt der Anteil der im Gespräch mit Beratern verbrachten Zeit bei nahezu zwei Drittel der externen Kontaktzeit (65,9 Prozent). Manager E verbrachte nahezu die Hälfte seiner externen Kontaktzeit im Kontakt mit seinem persönlichen Netzwerk (45,5 Prozent). Bei Manager D addieren sich Berater-, Branchen- und Organisations- sowie persönliche Netzwerkkontakte zu etwas über 40 Prozent auf (42,3 Prozent). Inwiefern alle Manager über im Hintergrund agierende, persönliche Berater oder Coaches verfügten, die nicht im Tagesgeschäft auftraten, vermag der Forscher nicht auszusagen. Über einen im Tagesgeschäft stehenden und regelmäßig konsultierten Berater verfügten die Managerinnen B und F. Manager D arbeitete mit einem Netzwerk verschiedener Agenturen zusammen, wobei der subjektive Eindruck entstand, dass weniger Beratungsleistung, mehr der operative Support im Vordergrund stand. Bei den fünf anderen Managern beobachtete der Forscher keine regelmäßigen Kontakte zu Beratern oder Agenturen. Daraus abzuleiten, dass die Unternehmen nicht die Dienste von Agenturen in Anspruch nahmen, ist freilich falsch. Es bedeutet lediglich, dass der jeweilige Kommunikationschef nicht in vergleichbarer Art und Weise in die Steuerung involviert war wie Manager D, dass jemand anderes, auf einer Ebene darunter, die Steuerung der Agenturen übernahm. Was die Rolle der Berater und Agenturen und des persönlichen Netzwerkes anbelangt, identifizierte der Autor vier verschiedene Konstellationen: (1) die virtuelle Abteilung; (2) der Berater als „Sparringspartner“; (3) das persönliche Beratungsnetzwerk; (4) die Mitarbeiter als Beratungsnetzwerk. Die virtuelle Abteilung Für Manager D stellten die Agenturen ganz ausgeprägt eine „verlängerte Werkbank“ dar, die es gestattete, das eigene Team von der Kopfzahl her klein zu halten und auf Kernaufgaben zu konzentrieren. Die resultierenden „Transaktionskosten“ und Reibungsverluste, nahm der Manager dabei sehenden Auges in Kauf. Insgesamt führte D während der Beobachtungswoche 19 Gespräche mit Dienstleistern, bei insgesamt 137 Minuten Dauer und einer durchschnittlichen Gesprächsdauer von 7 Minuten. Manager >
A
B
C
D
E
NETWORK_ ASSOC
0,0%
0,6%
0,0%
0,3%
0,0%
NETWORK_ PERSONAL
10,5%
3,5%
1,1%
20,6%
0,0%
13,9%
1,4%
10,5%
18,0%
2,5%
COUNSEL SUMME
F
G
H
Ø
0,0%
0,0%
1,8%
0,3%
45,5%
0,0%
31,7%
17,2%
16,3%
21,4%
1,1%
65,9%
0,0%
1,7%
13,2%
42,3%
46,6%
65,9%
31,7%
20,7%
29,8%
Abbildung 92: Netzwerk- und Beraterkontakte in % der externen Kontaktzeit per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung)
500
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Der Berater als „Sparringspartner“: Männer und Frauen Die klassische Rolle eines hochrangigen Einzelberaters nahm ein jeweils einzelner Berater bei Managerin B und F ein. Zwar wurden auch hier vereinzelte handwerklich-technische Aufgaben auf den Berater übertragen, sehr viel wichtiger aber war die Funktion als „Sparringspartner“. Dabei spielte einerseits die Seniorität des Beraters eine Rolle – es handelte sich jeweils um „gestandene“ Einzelberater bzw. Agenturchefs. Andererseits war wichtig, dass der Berater über eine Außenperspektive des Unternehmens und ein entsprechendes Netzwerk in der Unternehmensbranche verfügte. Wie die Daten zeigen, kommunizierten die Führungskräfte vergleichsweise oft mit ihren Counsels (Telefonate und Treffen); bei Managerin F machte der Kontakt mit ihrem Berater sogar zwei Drittel der externen Kontaktzeit aus (vgl. Abb 92). Abermals ohne die Daten überinterpretieren zu wollen, ist es interessant zu sehen, dass es die beiden Frauen sind, die ein intensives Beratungsverhältnis mit ihren Beratern, in beiden Fällen Männer, pflegten. Das Bedürfnis nach einem „Sparringspartner“ und einer außenstehenden „Vertrauensperson“ ist, wie der Autor es interpretiert, sowohl auf die Situation der Frauen in ihren Abteilungen als auch auf ihren Führungsstil zurückzuführen. Erstens gilt es dabei zu sehen, dass den Frauen in ihrer Organisation das Netzwerk an gleichgestellten Peers, Kollegen oder „Buddies“ oftmals fehlt – Managerin F war beispielsweise die einzige Frau unter zwölf Führungskräften auf Direktionsebene. In ihrer Abteilung selbst arbeiteten zwar überwiegend Frauen, bei den Frauen handelte es sich aber, das ist der zweite Punkt, gerade nicht um Personen von annähernd gleicher Seniorität, sondern um deutlich jüngere, weniger tief in die Organisation eingebundene – um zwei oder drei Personen von ähnlicher Seniorität zu beschäftigen, waren die Abteilungen zu klein. Drittens – das war weniger bei Managerin B, aber ausgeprägt bei Managerin F zu beobachten – spielte der Berater eine Rolle im Führungsstil. Während der Beobachtungswoche beobachtete der Autor mehrere Episoden, in welchen Managerin F mit ihrem Berater gemeinsam in einer „Good Cop/Bad Cop“-Rollenteilung mit externen Dienstleistern verhandelte: Der Berater spielte dabei den Part des aggressiven Verhandlungspartners, der Qualität einforderte, Mängel reklamierte und Kosten drückte, während Managerin F den Part der an einer guten Lösung, an einer langfristigen Zusammenarbeit interessierten höheren Führungskraft spielte. So wie es der Autor interpretiert, gelang es Managerin F dadurch, einen warmherzig-menschlichen, mit leisen Tönen arbeitenden, beziehungsorientierten Managementstil aufrechtzuerhalten, ohne darauf verzichten zu müssen, Verhandlungsspielräume auszunutzen und Druck auszuüben – was mit ihrem grundsätzlichen Stil in Konflikt gestanden, sie in die Gefahr gebracht hätte, als „Krampfhenne“ wahrgenommen zu werden. Typ
n
t
% der externen Kontaktzeit
Ø/Dauer
Managerin B
COUNSEL
12
44
13,9
3,6
Managerin F
COUNSEL
17
344
65,9
20,2
Abbildung 93: Kontaktzahl und Kontaktdauer mit externen Beratern, Managerin B und F (Quelle: eigene Darstellung)
II. Work Characteristics
501
Keiner der drei erörterten Punkte, das betont der Autor, ist genuin geschlechterspezifisch – ein Mann könnte prinzipiell vor einem ähnlichen Problem in einer frauendominierten Organisation, in einer kleinen Abteilung stehen, wenn er sich für einen zwischenmenschlichen Führungsstil der leisen Töne entscheidet. Das zeigt sich beispielsweise an Manager C, der in hohem Maße Wert auf Menschlichkeit legte und dementsprechend, wie geschildert, große Anstrengungen darauf verwandte, seiner Sekretärin schonend beizubringen, dass er mit ihrer Arbeit nicht zufrieden ist. Managerin B hatte in vergleichbaren Personalführungssituationen nicht die geringste Scheu, ihren Forderungen mit klaren, unmissverständlichen Worten Nachdruck zu verleihen. Auch gegenüber Dienstleistern oder Kooperationspartnern trat Managerin B klar und unmissverständlich auf, wenn nicht aggressiv so doch offensiv. Der Schlüssel ist aber, wie der Autor glaubt, nicht naiv und voreilig in Durchsetzungskraft zu suchen – das stellte eine Rückkehr zu Eigenschaftstheorien der Führungskraft dar (vgl. C.II) –, sondern in der Gesamtheit der gespielten Rollen. Die Arbeit verfolgt das Konzept der Rollen an anderer Stelle. Das persönliche Netzwerk als Beratungsnetzwerk Dass fünf der acht beobachteten Manager über keinen regelmäßig konsultierten Berater verfügten, bedeutet nicht, dass sie keinen Bedarf nach einem Blick von außen, an Brancheninformationen oder „Sparring“ gehabt hätten – angesichts der Komplexität der zu lösenden Aufgaben besteht derartiger Bedarf beinahe immer. Es entstand jedoch der Eindruck, dass die Manager das Äquivalent der Beraterleistung aus persönlichen Networks abriefen. Die Natur der „Beratung“ reichte dabei von taktisch-konkret bis strategisch: Manager A beispielsweise telefonierte und korrespondierte mehrfach mit einem Kollegen, um eine „Hausnummer“ hinsichtlich der Kosten einer Broschüre zu erhalten – eigentlich eine Agenturleistung. Bereits Mintzbergs Arbeit zeigte auf (vgl. Mintzberg 1973, 43ff.), dass Manager in der Regel mehr wissen, entscheidende Dinge früher wissen als ihre Mitarbeiter. Mintzberg zeigte darüber hinaus auf, dass der Informationsvorsprung nicht auf harten Fakten und formalen Informationssystemen beruht, sondern auf Gerüchten, Hörensagen und Branchengeflüster. Top-Manager, auch das arbeitete Mintzberg heraus, haben Zugang zu anderen Top-Managern, die wiederum mehr wissen, Dinge früher erfahren als Manager auf mittleren und untergeordneten Leveln. Für die Studie entscheidend ist, dass die Arbeit in und am persönlichen Netzwerk zum Teil beobachtbar ist, zum Teil verborgen bleibt, dass sie aber greifbar und belegbar in die tagtägliche Arbeit hineinwirkt. Die Zahl, dass die beobachteten Manager im Durchschnitt 16,3 Prozent ihrer externen Kontaktzeit für Kontakte mit Angehörigen ihres persönlichen Netzwerks aufwandten (vgl. Abb. 92), ist an sich nicht aussagekräftig. Ein Blick auf die einzelnen Werte zeigt, wie sehr die Daten schwanken. Der hohe Wert von 45,5 Prozent bei Manager E ist beispielsweise auf ausgedehnte Mittagessen mit seinem ehemaligen Vorgesetzten zurückzuführen, während der niedrige Wert bei Manager C sicherlich nicht bedeutet, dass er über kein persönliches Netzwerk verfügt. Die Mitarbeiter als Beratungsnetzwerk Ein Blick auf Abbildung 92 zeigt, dass Manager C mit 2,5 Prozent Kontakt- und Kommunikationszeit zu Beratern und persönlichem Netzwerk völlig aus dem Vergleich herausfällt. Das ist deshalb interessant, da gerade Manager C nach Eindruck des Forschers einen ausgeprägt konsultativen Stil pflegte, also häufig durch und in Diskussionen zu Entscheidun-
502
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
gen gelangte. Zu Diskussionen und „Sparring“ herangezogen wurden allerdings nicht, wie bei Managerin B oder F, Berater, sondern die eigene zweite Führungsebene. Während der Beobachtungswoche geschah es mehrfach, dass sich zwei, drei oder vier der Abteilungsleiter in Cs Büro einfanden, um anstehende Angelegenheiten zu besprechen. Die stattfindenden Besprechungen hatten vergleichsweise große Ähnlichkeit mit dem Hin und Her von Argument und Gegenargument, mit der Diskussion von Gerüchten, Hörensagen und Branchengeflüster, welches bei anderen Managern in der Konsultation des persönlichen Netzwerks stattfand. 4.4.2 Der Deputy als Qualifikations- und als reguläre Stelle Im Zusammenhang mit der Rolle der Berater und der Position des Deputy ist auf einen bedeutsamen Unterschied zwischen großen und kleinen Kommunikationsabteilungen hinzuweisen. Er wurde bereits mit Blick auf die persönlichen Berater angerissen. Der Unterschied besteht darin, dass in großen Kommunikationsabteilungen eine „kritische Masse“ an Personen und Expertise interagiert, um Entscheidungen in der Abteilung zu diskutieren. In kleinen Abteilungen ist der oberste Kommunikationsverantwortliche, sofern er nicht über einen Berater verfügt, „allein“ mit der Entscheidung. In großen Abteilungen stehen ihm einige Personen höherer Seniorität zur Verfügung, die bereits das Management Game der Organisation mitspielen. In der Regel bedeutet dies, dass mindestens eine Person von nahezu ähnlicher Seniorität wie der Abteilungsleiter selbst vorhanden ist, in der Regel die „klare Nummer zwei“, der Deputy. Zwar verfügten Manager A und E sowie Managerin B nominell über einen Stellvertreter, in beiden Fällen handelte es sich aber um jüngere Personen, die als „Sparringspartner“ auf Augenhöhe nicht in Frage kamen. Ausdrücklich ohne damit die Qualität der derzeitigen Stelleninhaberin zu beurteilen, beklagte beispielsweise Manager A, dass die Position des Stellvertreters in seiner Abteilung eine „Qualifikationsstelle“ sei – gewöhnlich würde sie mit jüngeren Personen „um die dreißig“ besetzt, die sich dann, nach zwei oder drei Jahren, weiterbewerben würden. Das habe über die Jahre dazu geführt, dass die Kluft zwischen ihm selbst und seinem Stellvertreter/seiner Stellvertreterin vom Alter wie von der Seniorität immer größer geworden sei. Ähnlich, wenn auch ohne den Aspekt des Weiterbewerbens anzusprechen, verhielt sich die Konstellation bei Managerin B, die dasselbe hinsichtlich ihrer PR-Referentin und Stellvertreterin, von der Altersgruppe her um die dreißig, betonte. Ganz anders sah das bei Manager C aus, der mit seinem Deputy ein Verhältnis nahezu auf Augenhöhe unterhielt. Von der Qualifikation her sah er keinen großen Unterschied zwischen sich und seinem Deputy, mit Ausnahme der Tatsache, dass er selbst eben die Stelle des Zentralbereichsleiters innehatte. 4.5 Fazit: Kontakte nach innen, Kontakte nach außen Das Bild, das sich aus der Untersuchung der Kontaktrichtungen gewinnen lässt, war nach Ansicht des Autors erwartbar. Es war erwartbar, dass sehr viel mehr Kontakte nach innen als nach außen stattfinden; es war erwartbar, dass die Arbeit nach innen, in die Organisation, eine größere Rolle spielt, als der Kontakt nach außen zu Medien, Kooperationspartnern, Kunden, Politik und Verwaltung.
II. Work Characteristics
503
Der „Schnappschuss“ von acht Managern und jeweils einer Woche darf nicht überbewertet werden. Ferner darf auch der Schluss von Zeitaufwand auf Wichtigkeit nicht überbewertet werden: Ein fünfminütiges Gespräch mit einem Journalisten mag wichtiger sein als ein zehnminütiger Plausch mit dem Pförtner – wobei noch zu bedenken ist, dass der Journalist eventuell die von ihm gewünschten Informationen per E-Mail erhielt, der Plausch aber nicht per E-Mail zu leisten ist. Worum es dem Autor geht, ist aber das große Bild, welches er von Anfang an zu zeichnen versuchte: die These, dass das Problem des Kommunikationsmanagements ein ähnliches Problem ist wie dasjenige, das jeder Mensch hat; dass die Probleme jedoch völlig andere sind. Das große Bild ließe sich auch anders beschreiben, indem man systemisch-systemtheoretisch formuliert, dass das Kommunikationsmanagement mehr und mehr aus einem selbstreferenziellen System heraus geschieht. Ehe man belastbar etwas gegenüber einer organisationsexternen Person zu sagen vermag, sind dutzende und aberdutzende von internen Interaktionen erforderlich, aus denen erst erwächst, was man eigentlich sagt, sagen kann, darf, sagen muss. Es ist ferner ein Charakteristikum des Regelungsgedankens, der unter C.III ausführlich erörtert wurde, dass die möglichen Wirkungen, die Erwartungen und Erwartungserwartungen, oftmals in organisationsinternen Diskussionen abgewogen werden, ehe man nach draußen geht. Es ist für Boundary Spanner insofern erforderlich, über ein internes Netzwerk zu verfügen, welches es schnell gestattet herauszufinden, was man sagen kann, darf und muss – und es ist erforderlich über ein Netzwerk zu verfügen, das komplex genug ist, die Außenwelt sozusagen zu simulieren, um mögliche Auswirkungen und Nebenwirkungen mit einigermaßen großer Verlässlichkeit vorherzusagen. Das Simulieren der Außenwelt mag bei sehr einfachen Sachverhalten im Kopf der Führungskraft geschehen, bei schwierigeren Sachverhalten aber benötigt die Führungskraft „Sparringspartner“, welche entweder in der Organisation selbst oder aber in Drittparteien gesucht werden. 5. Fazit: Work Characteristics à la Mintzberg, aber… Die Bilanz der Analyse der Work Characteristics ist im Großen und Ganzen, dass das von Mintzberg gezeichnete Bild auf der Oberfläche auch auf die beobachteten Kommunikationsmanager zutrifft: (1) Ja, die beobachteten Führungskräfte leisteten ein beeindruckendes Arbeitspensum, nahezu ohne Pausen – und insbesondere dann, wenn man Wochenend- und Abendarbeit in Rechnung stellt. (2) Ja, auf der Oberfläche sieht der Job eines Kommunikationsmanager vielfältig und zersplittert aus, in der Tiefenstruktur, behauptet der Autor, verfolgten die beobachteten Personen jedoch eine überschaubare Anzahl an Projekten, Chunks oder „Baustellen“. (3) Was die Selbstkonditionierung auf Stimulus-Response, die Präferenz für konkrete Aktivitäten anbelangt, ist der Autor etwas vorsichtiger: Ja, er beobachtete manchmal, dass sich die Personen von konkreten und spezifischen Fragen „ablenken“ ließen, er beobachtete aber auch enorme Disziplin, sowohl in der Schreibtisch- wie auch in der Sitzungsarbeit. (4) Dass gerade Kommunikationsmanager ausgeprägt als Boundary Spanner agieren würden, stand zu erwarten. Festzuhalten bleibt jedoch, dass die Managementforschung zeigt, dass das alle Manager tun – und dass auch Kommunikationsmanager vom Zeitaufwand her mehr und öfter nach innen interagieren als nach außen, zumindest synchronisch. (5) Was die Präferenz für verbale Kommunikation anbelangt, ist sie der Tendenz nach immer noch ausgeprägt vorhanden, ein ausführlicher Vergleich mit Mintzbergs Daten würde aber die digitale Revolution und die Veränderung des Kommuni-
504
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
kationsverhaltens vernachlässigen: Zu Mintzbergs Zeiten stand E-Mail nicht zur Verfügung und die elektronische Korrespondenz ist eben nicht das Äquivalent des Briefes von 1968, sondern etwas anderes, neues – durch mobile E-Mail-Kommunikation via Blackberry steigert sich der Unterschied noch (obwohl bereits veraltet, noch immer aufschlussreich die Studie von Goecke 1997; vgl. auch Pribilla/Reichwald/Goecke 1996; zu Kommunikation vgl. ferner Siebert 2005, 207ff.). Zu guter Letzt führt Mintzberg an, dass Führungskräfte (6) in einem Zustand der selbstgewählten Getriebenheit agieren. In Rechnung zu stellen ist jedoch, dass Mintzberg CEOs beobachtete – Akteure also, die im Tagesgeschäft ihre eigenen Herren darstellten. Die Kommunikationsmanager, die der Autor beobachtete, hatten jedoch direkte Vorgesetzte, die Vorstandsvorsitzenden oder Geschäftsführer; ganz und gar selbstgewählt würde eine etwaige Getriebenheit also niemals sein (unter IV. verfolgt der Autor den Gedanken des Jobframings weiter). Gleichwohl hat der Autor herausgearbeitet, dass sich angesichts eines von Schreibtisch- und Sitzungsarbeit beherrschten Tagesablaufs verschiedene Typen von „Getriebenheit“ identifizieren ließen. Ebenjener „Managementstil“, da pflichtet der Autor Mintzberg bei, ist bis zu einem Punkt selbstgewählt. Dem Autor liegt es fern, auf der Ebene der Work Characteristics ein richtiges und falsches Profil zu postulieren. Die limitierenden Faktoren sind nach Ansicht des Autors, was die Führungskraft einerseits nachhaltig zu leisten im Stande ist, und was andererseits erforderlich, um erfolgreich zu sein. Die Formel, dass jederzeit im Prinzip mehr mit weniger zu erzielen sei, ist genauso verführerisch wie die simplen „One size fits all“-Regeln der populären Managementliteratur. Die Arbeit zu entfragmentieren führt mit Sicherheit zu einer Entlastung der Führungskraft, erfordert aber eine Formalisierung der Prozesse und verlangsamt Entscheidungen. Wenn ein Manager die Politik der offenen Tür verfolgt und sich jederzeit „stören“ lässt, um die Arbeit seiner Mitarbeiter besser zu überblicken, dann ist das seine eigene Entscheidung. Genauso liegt es bis zu einem Punkt in der Entscheidung der Führungskraft selbst, wenn sie die Anzahl der Meetings reduziert, um für Journalisten verfügbar zu sein oder „besser arbeiten“ zu können – wohl wissend, dass sie damit Macht und Einfluss im Management Game verliert.
III. Die Funktionslebenswelt
III)
505
Die Funktionslebenswelt der beobachteten Kandidaten
Das Konzept der Funktionslebenswelt als Synthese aus Lebenswelt und System, gesehen durch die subjektive Perspektive eines Akteurs, hat der Autor unter D.III ausgearbeitet. Im folgenden Abschnitt gilt es, die Überlegungen in Deckung mit der Beobachtung zu bringen. Eine Führungskraft, argumentierte der Autor, sieht sich in einem dreifachen Nexus: Sie sieht sich gezwungen, ihre Funktion erfolgreich für die Organisation wahrzunehmen; sie sieht sich gezwungen, ihre Praxis professionell auszuüben, im Interesse der Organisation, aber auch in ihrem eigenen; sie sieht sich gezwungen, ihr eigenes soziales Standing zu wahren, die Ingroup oder die Ingroups zusammenzuhalten, sie gegenüber Outgroups durchzusetzen. 1. Funktion in der Funktionslebenswelt Kapitel 1 fokussiert zunächst auf die Funktions- oder Systemperspektive. Abbildung 94 zeigt einen Akteur, eine Person, eingebunden in den funktionalen Nexus: Die Person sieht sich in die Organisation als System integriert, und sie sieht sich integriert durch ihre Funktion. Die „eigentliche Funktion“ ist die, für die sich die Person selbst verantwortlich macht, in der Regel durch Zusammendenken der professoniellen Praxis mit ihrer jeweiligen Organisation. Aus der „eigentlichen“ Funktion erwachsen die Funktionen. Die Funktionen sind es, welche die Person de facto für die Organisation, durch sie und in ihr ausübt – aber der Ausgangspunkt bleibt die „eigentliche“ Funktion. Es ist erstaunlich, wie oft der Diskurs in Unternehmen um den Kontrast zwischen dem perzipierten „eigentlichen“ Job und den „vielen, anderen Dingen“ kreist, die man gezwungen ist zu tun, um der als eigentlich wahrgenommenen Aufgabe gerecht zu werden; und je jünger und unerfahrener ein Manager ist, umso mehr, scheint es. Es handelt sich um nichts anderes als die Differenzierung zwischen dem Problem und den Problemen, welche bereits unter A als Unterschied zwischen dem alltäglichen, zwischenmenschlichen „Kommunikationsmanagement“ für die eigene Person auf der einen, dem professionellen Kommunikationsmanagement für einen Konzern auf der anderen Seite herausgearbeitet wurde: Das Problem ist das gleiche, die Probleme sind völlig andere. Die Anekdote Manager Hs, der seinen eigentlichen Job im Säen der Samen der Markenphilosophie des Unternehmens sah – im Management in der zweiten Dimension –, ist ein gutes Beispiel. Manager H begriff seine „eigentliche“ Funktion gerade nicht in der Konstruktionsmetaphorik als „Konstruieren“ der Marke, sondern als Kultivierung einer gelebten „Stimmung“ der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Er gelangte dementsprechend zu der Selbstwahrnehmung, dass Auftritte auf Mitarbeiterveranstaltungen viel mehr sein „eigentlicher“ Job seien, als etwa die Koordination der Arbeit seiner sechzig Mitarbeiter. Das Modell, welches der Autor zugrunde legt, ist im Prinzip simpel. Zunächst gilt es zu sehen, dass der Manager in sechs respektive sieben Sphären operiert, Verantwortung übernimmt, Macht ausübt. Die erste Sphäre ist die des funktionalen Macht/Verantwortungskomplexes (FUNCTIONAL): die Sphäre, mit Blick auf die der Manager agiert, weil er seine eigentliche Funktion in der Organisation als Verantwortung für und Macht über diese Sphäre begreift. Wie die Sphäre genau aussieht, was neu und wichtig ist,
506
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
hängt von der Art und Weise ab, wie der Manager seinen Job versteht, wie der Job über die Zeit ausgehandelt wurde (Framing), wie der Manager die soziale Praxis Public Relations respektive Kommunikationsmanagement begreift, wie er ihren Zweck sieht, und wie ihm der Zweck seitens der Umwelt gegenübertritt. Alle weiteren Funktionssphären erwachsen in der geschilderten Art und Weise aus der ersten, „eigentlichen“ Funktionssphäre. Die zweite, dritte und vierte Sphäre sind die organisationsinternen Sphären der Vorgesetzten (SUP), der gleichgestellten Kollegen (PEER) sowie der Mitarbeiter (SUB), eine weitere untergeordnete Schnittmengensphäre ist die der anderen Organisationsmitglieder (ORGA). Eng im Zusammenhang mit der funktionalen Verantwortung/Macht in der Organisation steht die Sphäre der Kooperationspartner (COOPERATION PARTNER). Eng in Zusammenhang mit der persönlichen Karriereentwicklung des Managers steht die Sphäre des persönlichen Netzwerkes. Als siebte und letzte Sphäre ist die Innenwelt des Managers anzusehen: Alle anderen Sphären reichen in die Innenwelt hinein, greifen aber nicht auf sie durch.
Abbildung 94: Funktionen in der Funktionslebenswelt (Quelle: eigene Darstellung) „Lead, think, do“ ist eine Formel, die der Autor aus Mintzbergs holistischem Nussschalenmodell übernahm, welches dem vorliegenden Modell sehr ähnelt (vgl. Mintzberg 1994, 15ff.). Die drei Begriffe verdeutlichen die drei generischen Herangehensweisen des Mana-
III. Die Funktionslebenswelt
507
gements: Entweder Manager führen andere, im ausgeprägtesten Fall durch Leading (linke Seite des Modells) oder sie denken (Mitte des Modells), oder sie handeln selbst (rechte Seite des Modells). a) Mngt 1, Mngt 2, Mngt 3 revisited: Die Sphären In der Sphäre der unterstellten Mitarbeiter (SUB) rekurriert die Dimension des „Inside“, des First-Order-Managements, welches auf formaler, von der Organisation übertragener Autorität aufsetzt. Der Kommunikationsmanager gestaltet, entwickelt und lenkt den „Apparat“ (vgl. C.III.3.2.2), der ihm bei seiner Funktion hilft, ihm Teile seiner Funktion abnimmt. Freilich: Führungskräfte delegieren Arbeit, nicht Verantwortung. Die Sphäre der gleichgestellten Kollegen (PEER), mehr oder minder verknüpft mit der Sphäre der Vorgesetzten (SUP) und der Sphäre der Kooperationspartner (COOP), konstituiert das „Within“, die Dimension des Second-Order-Managements (vgl. C.III.3.2.3). Der Kommunikationsmanager strukturiert das Management anderer, interveniert auch, wobei er sich zwar auf die formale Autorität der Vorgesetzten berufen könnte, um Vereinbarungen durchzusetzen, es aber in der Regel unterlässt; in der Regel arbeitet er mit seinem eigenen persönlichen Einfluss, seiner eigenen persönlichen Macht. Die Sphäre der Kooperationspartner (COOP) steht in einem Unternehmensnetzwerk der zweiten Dimension, dem „Within“, in einem lockeren Projekt der dritten Dimension, dem „Outside“, näher. Der Umgang mit Journalisten, aktivistischen Gruppierungen, Besuchergruppen, Repräsentanten von Administration und Politik geschieht definitiv als ThirdOrder-Management, geschieht „outside“, wenn es eben keine übergeordnete formale Autorität gibt, auf welche sich die Führungskraft stützt. Das persönliche Networking (PERSONAL_NETWORK), Aufbau, Pflege und Erweiterung des persönlichen Netzwerks des Managers, geschieht zwar nicht direkt und unmittelbar für die Organisation, indirekt und mittelbar aber doch. Abgesehen davon ist es oftmals die prestigiöse Position in einer Organisation, die Zugang zu bestimmten Zirkeln verschafft – geht die Position verloren, geht auch der Zugang verloren. b) Die Funktionen Die gebrauchten Bezeichnungen, wie Directing, Leading, Supervising, Planning, Liaising etc. stammen natürlich aus der klassischen funktionsanalytischen Managementlehre, welche unter B.I, im methodisch-methodenkritischen Teil, dargestellt wurde. Wie Abbildung 94 zeigt, werden die verschiedenen Funktionen in den äußeren Sphären zusammengehalten und verknüpft durch Funktionen in einer inneren Sphäre, die sich ringförmig um die Person der Führungskraft legt. Die Darstellung beginnt mit dem äußeren Ring, ehe sie zum inneren, kognitiv-mentalen Ring gelangt. Der äußere Ring Leading, direkte und unmittelbare Führung durch genaue Anweisung oder durch persönliches Demonstrieren, ist der ausgeprägteste Fall des First-Order-Managements. Der Autor behandelte Leading sehr restriktiv, einen engen, militärischen Führungsbegriff zugrunde legend: Leading setzt Kopräsenz von Führungsperson und geführter Person und eine intensive, direkte Ansprache voraus. Bereits einen Schritt zurückgenommen sind Directing und Supervising. Directing stellt die mehr oder minder abstrakte Vorgabe eines gewünschten
508
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Ergebnisses dar. Supervising ist die Abnahme eines konkreten Ergebnisses. Einen weiteren Schritt zurück markiert Organising, das in Staffing (Stellenbesetzung) und Budgeting (Ressourcenzuweisung) zerfällt. Der Manager schafft Strukturen, Stellen, Aufgaben, Verantwortlichkeiten – und gibt den Stelleninhabern in der Struktur eine Macht/Verantwortungskombination. Als Doing im weiteren Sinn (Do iwS) bezeichnet der Autor Funktionen wie Politicking, Networking und Liaising. Politicking – der mikropolitische Metadiskurs über bestehende Strukturen, Verantwortungsbereiche und Machtbefugnisse – findet gegenüber gleichgestellten Personen und gegenüber Vorgesetzten statt, gegenüber untergebenen Personen ist es – in der engen Verständnisweise des Autors – nicht notwendig. Der Umgang mit Kooperationspartnern, eher „outside“ denn „within“, ist als Liaising anzusprechen, Aufbau, Pflege und Erweiterung des persönlichen Netzwerkes als Networking. Von Doing im engeren Sinn (Do ieS) ist zu sprechen, wenn der Manager seine „eigentliche“ Funktion nicht qua Leading delegiert, sondern selbst agiert, also beispielsweise selbst ein Pressegespräch mit einem Journalisten führt oder einen verärgerten Kunden zurückruft. Eng mit Handling verknüpft ist Representing, welches zwar nicht erfordert, dass die Führungskraft selbst Probleme löst – aber eben Präsenz verlangt. Handling geschieht auch, wie die Abbildung zeigt, im Schnittfeld zwischen Funktionssphäre und Kooperationspartnersphäre sowie im Schnittfeld zwischen Funktionssphäre und persönlicher Netzwerkssphäre. Der Autor beobachtete mehrfach, dass der oberste Kommunikationsverantwortliche als „Troubleshooter“ eingesetzt wurde, um eine Angelegenheit in die Hand zu nehmen, die er unter Rückgriff auf sein persönliches Netzwerk oder durch seine guten, langjährig gewachsenen Kontakte zu Kooperationspartnern selbst löste. Der innere Ring Das Agieren im äußeren Ring ist charakterisiert dadurch, dass es im Prinzip beobachtbar ist. Im inneren Ring ist das jedoch weniger und weniger der Fall. Die Funktionen im inneren Ring werden mehr und mehr kognitiv-mental, nehmen mehr und mehr einen „Think“Charakter an. Coordinating, wechselseitige Abstimmung zwischen zwei oder mehreren Parteien, auch in verschiedenen Sphären, ist noch voll und ganz beobachtbar. Planning ist schon sehr viel schwieriger zu beobachten, wie der Autor feststellte, weil es sich nicht immer in formalen Sessions vollzog, sondern oft in kryptisch verkürzter Art und Weise, „zwischen Tür und Angel“ geschah. Processing, also die Aufnahme, das Durchdenken, aber auch die Weitergabe von Informationen geschieht manchmal als Lesen und Schreiben, manchmal aber im Kopf der Führungskraft. Die Kategorie fängt sehr viele „Routinearbeiten“ des „Auf-dem-Laufenden-Bleiben“ auf (vgl. auch B.III). Die Koordination der Arbeit des Managers mit Vorgesetzten ist von anderen Koordinationsschnittfeldern zu unterscheiden, ist als Reporting anzusprechen. Ein besonderer Typus der Koordination ist das Scheduling, welches die Koordination von Terminen, Ort und Zeit von Begegnungen umfasst (nicht gesondert ausgewiesen).
509
III. Die Funktionslebenswelt Manager >
A
B
C
D
E
F
G
H
Ø
INNERER RING PROCESSING
18,9%
9,7%
11,0%
6,6%
4,5%
6,9%
4,5%
9,1%
8,9%
COORDINATING
9,1%
26,3%
11,6%
16,7%
7,7%
11,1%
20,0%
11,0%
14,2%
PLANNING
5,0%
9,0%
18,7%
15,1%
18,6%
23,0%
4,0%
9,8%
12,9%
REPORTING
0,0%
2,6%
3,3%
0,5%
1,3%
0,9%
4,0%
7,4%
2,5%
„THINK“
33,0%
47,6%
44,6%
38,9%
32,1%
41,9%
32,5%
37,3%
38,5%
ORGANISING
5,7%
15,3%
10,9%
8,1%
4,0%
6,2%
8,5%
5,1%
8,0%
Staffing
0,0%
0,4%
1,7%
8,5%
7,4%
10,1%
3,6%
4,3%
4,5%
Budgeting
0,6%
0,6%
0,1%
0,0%
0,1%
0,2%
0,5%
0,0%
0,3%
LEADING
0,0%
0,3%
0,5%
7,1%
0,0%
0,0%
5,6%
1,1%
1,8%
DIRECTING
1,5%
1,1%
7,0%
1,9%
4,5%
2,9%
8,7%
5,2%
4,1%
SUPERVISING
6,0%
6,9%
4,1%
6,6%
7,8%
2,7%
7,6%
1,5%
5,4%
„LEAD“
13,8%
24,6%
24,3%
32,2%
23,8%
22,1%
34,5%
17,2%
24,1%
LIAISING
5,7%
8,6%
0,0%
4,4%
13,5%
12,7%
1,9%
5,8%
6,6%
NETWORKING
9,5%
0,1%
2,1%
4,5%
11,1%
0,6%
10,2%
8,4%
5,8%
SOCIALIZING
4,7%
3,9%
4,2%
2,9%
3,1%
9,1%
1,3%
7,5%
4,6%
POLITICKING
3,6%
1,2%
1,5%
0,9%
0,3%
3,5%
6,8%
2,5%
2,5%
„DO iwS“
23,5%
13,8%
7,8%
12,7%
28,0%
25,9%
20,2%
24,2%
19,5%
HANDLING
12,5%
4,0%
0,5%
4,6%
0,0%
0,5%
3,4%
0,0%
3,2%
REPRESENTING
2,8%
0,4%
3,2%
2,3%
0,0%
0,3%
0,7%
14,0%
2,9%
„DO ieS“
15,3%
4,4%
3,7%
6,9%
0,0%
0,8%
4,1%
14,0%
6,1%
OTHER
13,4%
8,5%
14,2%
8,9%
14,8%
8,6%
7,1%
6,7%
10,3%
UNKNOWN
0,7%
0,9%
5,5%
0,5%
1,3%
0,7%
1,5%
0,6%
1,5%
empty
0,2%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
0,0%
Ohne Funktion
14,3%
9,4%
19,7%
9,4%
16,1%
9,3%
8,6%
7,3%
11,8%
checksum
99,9%
99,8%
100,1%
100,1%
100,0%
100,0%
99,9%
100,0%
100,0%
ÄUSSERER RING
Von 100,0% abweichende Werte sind Rundungsfehlern geschuldet. Die Berechnung der Summen und der Durchschnitte geschah mit den Originalwerten, die mit zwei Nachkommastellen geführt wurden: Die Berechnung auf Basis der gerundeten Werte weicht deshalb in einigen Fällen minimal ab (.1).
Abbildung 95: Managementfunktionen in % der gesamten beobachteten Zeit per Kandidat (Quelle: eigene Darstellung)
510
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
c) Ein kognitiver Beruf: Handling ist die Spitze des Eisberges Die Daten in Abbildung 95 zeigen, in welchen Funktionssphären oder „Welten“ sich die beobachteten Manager jeweils mit welchem Zeitanteil, in Prozent der beobachteten Zeit insgesamt bewegten. Dass sich die Daten nur auf die Beobachtungsstudie beziehen, lediglich als Anhaltspunkt für theoretisch fundierte Thesen, als scraps of evidence dienen, arbeitete der Autor unter B.III aus. Die Resultate zeigen, dass die ausgeübten Funktionen zu über einem Drittel im inneren Ring anzusiedeln sind, also eher „Think“-Charakter trugen, kognitiver Natur waren: der Durchschnittswert für die Kandidaten lag bei 38,5 Prozent, der niedrigste Einzelwert bei 32,1 Prozent (Manager E), der höchste bei 47,6 Prozent (Managerin B). Zu einem guten Viertel agierten die beobachteten Führungskräfte in der „LEAD“-Sphäre, in der Sphäre ihrer eigenen Abteilung, in Kontakt mit untergebenen Mitarbeitern: mit einer Schwankungsbreite zwischen 13,8 und 34,5 Prozent. Mit 25,6 Prozent entfällt ein weiteres Viertel auf das Agieren in den Sphären des „Do“ im weiteren (19,5 Prozent) und im engeren Sinn (6,1 Prozent): naturgemäß mit einer großen Varianz. Ungefähr zehn Prozent vermochte der Autor nicht sauber und eindeutig zuzuordnen (11,8 Prozent). Ihren eigentlichen Wert entfalten die Daten, wenn man sie naiven Verständnissen des Jobs eines Direktors Unternehmenskommunikation, Klischeebildern des Berufes Manager gegenüberstellt. Auch auf die Gefahr hin, „Strohmänner“ aufzubauen, die niemand ernsthaft aufs Feld stellt, kontrastiert der Autor die Daten deshalb mit vereinfachten Vorstellungen, von denen er vermutet, dass sie bestehen. Man könnte davon ausgehen, dass der „eigentliche“ Job eines Direktors Unternehmenskommunikation das Handling, insbesondere das Handling von Kontakten zu KeyJournalisten ist – dass dies also vergleichsweise sehr viel Zeit verzehrt. Man könnte umgekehrt davon ausgehen, dass Handling von Journalisten gar nicht mehr durch Personen auf Direktionsebene geschieht, sondern voll und ganz untergeordneten Mitarbeitern, eben „Sprechern“, überantwortet ist. Die Daten legen nahe, dass weder das eine noch das andere stimmt. Die Daten legen ferner nahe, dass die Argumentation von vornherein mit einem Fehler behaftet ist. Auch Direktoren Unternehmenskommunikation führen Gespräche mit Journalisten, der Autor nahm an einigen teil, zugegebenermaßen, wie die Daten zeigen, aber nicht an vielen. Der Fehler in der Argumentation ist der, von der tatsächlich aufgewandten Zeit im Handling auf die tatsächlich für das Handling aufgewandte Zeit zu schließen. Wenn der Autor mit den Praktikern selbst von „eigentlichen“ Funktionen vs. de facto ausgeübten Funktionen spricht, wenn er zwischen dem Problem und den Problemen unterscheidet, dann rekurriert das auf diese Spannung: Moderne, große Unternehmen sind derartig komplexe soziale Systeme, dass zielgerichtetes Handeln in ihnen respektive für sie einen ungeheuren Aufwand an Informationsverarbeitung erfordert, ehe man „gesichert“ etwas sagen kann.
III. Die Funktionslebenswelt
511
2. Soziales Standing: Felder in der Funktionslebenswelt Die Rede von der Funktionslebenswelt umreißt, dass es im Management und insbesondere im Top-Management zu kurz greift, eindimensional funktionale Zusammenhänge in Rechnung zu stellen: Der funktionale Nexus ist durchdrungen und überlagert von einem sozialen Nexus, in welchem das Thema nicht „die Sache“, sondern das persönliche Standing der Person ist. In einem „existenziellen Dreikampf“ zwischen Agieren, Indizieren, Kommunizieren und Inszenieren, wie er unter D.III ausgearbeitet wurde, versuchen Akteure in verschiedenen Feldern ein soziales Standing zu erobern, auszubauen und zu halten. Das geschieht bei Führungskräften einerseits, da sie mit ihrer Person arbeiten, um überhaupt in der Lage zu sein, ihren Job zu machen – das geschieht andererseits auch im Bewusstsein der Tatsache, dass das Unternehmen sie jederzeit auf eine andere Position zu versetzen oder auszustoßen vermag. Kommunikationsmanager, behauptet der Autor unter Rekurs auf seinen Beobachtung, benutzen ihre Position in einem Unternehmen ganz ausgeprägt, um ihr Standing in verschiedenen, außerunternehmerischen Feldern zu steigern, ihren Wert zu erhöhen: Sie steigern beispielsweise ihren Wert bei Journalisten oder im professionellen Feld, in der professional community. Umgekehrt profitiert das Unternehmen aber auch von einem gesteigerten Ansehen in verschiedenen Feldern – ja, bis zu einem Grad ließe sich sagen, dass das Unternehmen das bezahlt. Das persönliche Standing ist nicht naiv als ein absoluter Wert zu sehen, sondern stellt einen relationalen Wert dar, der nur zu würdigen ist, wenn man die „Währung“ kennt, die im entsprechenden Feld das Kapital darstellt. Ferner ist nicht naiv davon zu reden, dass der Akteur in den Feldern als Mensch in toto agiert. Der Akteur projiziert sich mit einer Rolle, mit Tasks in die verschiedenen Felder hinein: Er projiziert sich beispielsweise mit „Führungsrollen“ als „guter Chef“ in das Organisationsfeld, und es ist ihm wichtig, ebenjenes Standing zu sichern. Gerade weil er aber „Akzeptanz, weil…“ oder „Respekt, weil…“ genießt, entsteht unweigerlich eine Ingroup, der eine oder mehrere Outgroups gegenüberstehen. Das ist eine Konstellation, mit der die Person umzugehen hat: In einigen Konstellationen ist es deshalb geboten, eine Rolle zu finden, die möglichst wenig Angriffsfläche bietet, so dass das Standing in der Ingroup zwar dezentral und randständig, aber sicher ist. Auch mit Unterstützung des Vorstandsvorsitzenden vermag ein Direktor Unternehmenskommunikation auf Dauer nicht in Fehde mit anderen Vorständen zu liegen, es empfiehlt sich, zurückzustecken. In anderen Konstellationen ist es wiederum geboten, eine stärkere, zentralere Rolle zu übernehmen und die Ingroup gegen die Outgroups im wahrsten Sinne des Wortes ins Feld zu führen – auf Dauer quertreibende Intriganten in der eigenen Abteilung sind herauszudrängen. a) Das Organisationsfeld I: Der Chef und die Chefin Das Organisationsfeld ist geeignet, um das Konzept des sozialen Standings in einem Feld gegenüber der bloßen Funktion herauszuarbeiten, aber auch die Verwickelung aufzuzeigen. Für Führungskräfte gehört zu einer viablen Position gegenüber ihren Mitarbeitern nahezu immer das Unter-Beweis-Stellen einer moralisch-menschlichen Überlegenheit: Das, ließe sich sagen, unterscheidet eine genuine Führungskraft von einem bloßen Vorgesetzten. Die moralisch-menschliche Überlegenheit ist natürlich eine Zuschreibung, eine Attribution seitens der Mitarbeiter (vgl. C.II.1) – und sie hängt sehr stark davon ab, was der moralischmenschliche Gradmesser in der jeweiligen Ingroup ist. In der deutschen Managementtradi-
512
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
tion, das wurde unter C.II.5 und unter Bezugnahme auf die Arbeiten Stewarts (Stewart 1996; Stewart et al. 1995) herausgearbeitet, stützte sich die Akzeptanz eines Managers oftmals auf branchenspezifische Kompetenz und Expertise, auf überlegene Berufserfahrung in einem Feld. In der angloamerikanischen Tradition stützte sie sich oft auf Management Skills, etwa Dinge wie Entscheidungsfreudigkeit, Durchsetzungsfähigkeit. In letzter Konsequenz entscheidend bleibt, dass der Vorgesetzte „unterm Strich“ als Führungskraft, gemäß den Maßstäben an Führungskräfte, Akzeptanz, ja Respekt genießt. Das Problem einer Führungskraft ist, ihre soziale Akzeptanz als Führungskraft zu sichern und gleichzeitig, Hand in Hand damit, den eigenen Job bestmöglich zu bewältigen. Managerin B bringt die Spannung auf den Punkt, wenn sie im Interview über ihren „Führungsstil“ sagt: Also, mein Führungsstil ist… kommunikativ und straff. Ich rede viel mit meinen Mitarbeitern. Die Mitarbeiter wissen, dass sie jederzeit zu mir kommen können. Sie wissen aber auch, dass ich Eigenverantwortung von ihnen verlange. […] Hm, und ich sage mal so: Ich gehöre nicht zu den Vorgesetzten, die everybody’s darling sind. Es gibt ja welche, die von ihren Mitarbeitern so ein bisschen „geschmust“ werden. Und so und so, und lieb und nett. Aber dann, wenn’s drauf ankommt, ist es keiner gewesen.
Das Zitat verweist darauf, dass Akzeptanz und Respekt nicht äquivalent sind mit „Everybody’s darling“-Sein, dass von einer „Akzeptanz als…“ oder einem „Respekt, weil…“ zu reden ist. Das x, welches die Führungskraft in die Formel einsetzt, ist dabei die Rolle, welche die Führungskraft als „Chef“ für sich entwickelt. In der Beobachtungsstudie spiegelte sich klar und eindeutig wider, dass Managerin B nicht „everybody’s darling“ sein wollte, dass ihre Mitarbeiter das auch wussten, und sie gerade deshalb akzeptiert und respektiert wurde. Unter IV. zeigt der Autor auf, wie Rollen – nicht nur als Form, sondern eben auch als Inhalt verstanden – die Spannung auflösen. b) Das Organisationsfeld IIa: „Auf dem Boden geblieben“ Schon in der Organisation gibt es Gruppierungen, die eine Führungskraft „als Mensch“ weitestgehend unabhängig von professionellen Skills entweder annehmen oder ablehnen: Pförtner, Wach- und Reinigungspersonal etwa. Bei einigen der beobachteten Manager, insbesondere gilt dies aber für C und F, war der Autor in der Lage, Interaktionen mit Personen der genannten Gruppen zu beobachten. In diesen Fällen schien es den Kandidaten äußerst wichtig zu sein, als „normal geblieben“, „bodenständig“ wahrgenommen zu werden. Manager C sprach das Thema mehrfach an. Ein Zitat, welches bereits unter II. vorgestellt wurde, zeigt ferner, dass er es als verwickelt mit seiner Praxis, seinem Job, ansah. Im Interview antwortete C auf die Frage nach „Informationsquellen“: Sie müssen im Grund genommen wieder versuchen, journalistisch zu arbeiten. […] Die Kunst als Kommunikator ist, glaube ich, dass Sie in dem Unternehmen supergut vernetzt sind. Das ist wirklich so. Dafür sind wir auch bekannt hier. Oder speziell ich. Ob mit dem Techniker oder dem Portier… mit jedem hältst du mal ein Schwätzchen. Das heißt, du kriegst von überall deine Informationen, und dann kannst du aggregieren. Und dann sagst du dir: Das höre ich doch schon von zwei unabhängig voneinander – da stimmt doch was nicht.
Mit Ausnahme von Manager D und Manager E betonten die anderen sechs Manager alle an der einen oder anderen Stelle, wie wichtig es sei, „normal“ zu bleiben, die „Bodenhaftung“ nicht zu verlieren – letzten Endes in der Lage zu sein, mit jedem im Unternehmen ein „Schwätzchen“ zu halten. Und interessanterweise sind Manager D und E gerade diejenigen, die sich mehr als Manager, weniger als Kommunikator sahen, die sich nicht in die Tradition
III. Die Funktionslebenswelt
513
der „alten“ PR stellten: Manager D hatte einen betriebswirtschaftlichen Hintergrund und Manager E sah sich als affin zur Werbung, die er als „smarter“ begriff. Manager A und Managerin F, welche der Bodenhaftung großes Gewicht beimaßen, wurden dagegen mehrfach in der Rolle des „Agent of Common Sense“ mit der Aufgabe des „Troubleshootings“ betraut, weil sie sich, vermutet der Autor, durch ihre leutselig-zwischenmenschliche Art und Weise dafür empfahlen. c) Das Organisationsfeld IIb: Gut vernetzt sein Ein weiterer Aspekt, der von allen Managern betont wurde, ist die Vernetzung in der Organisation: die Akzeptanz und der Respekt der Kollegen ungefähr auf gleicher Augenhöhe, der Peers. Freilich hat die Studie insofern einen methodischen Bias, dass sie Führungskräfte ins Visier nahm, die sich „sicher genug im Sattel“ wähnten, sich von einem außenstehenden Beobachter über die Schulter sehen zu lassen; und die Sicherheit rührte in sieben der acht Fälle von einer langen, organischen Karriere im Unternehmen (vgl. B.III). Die Vernetzung im Unternehmen war also über Jahre, ja Jahrzehnte natürlich gewachsen. Managerin B merkte an, sie sei bereits so lange im Unternehmen, dass sie eine Inventarnummer trage. Manager H stellte sich im Interview selbst die Frage, inwiefern er in einem anderen Unternehmen genauso arbeiten könne wie in seinem derzeitigen: Das heißt, Sie sind, nehme ich mal an, im Unternehmen relativ gut vernetzt? Ja, natürlich. Das ist ganz essenziell. Könnte ich so erfolgreich wie hier in einem anderen Unternehmen arbeiten? Ich habe mir die Frage schon einmal gestellt. Meine Antwort: Ich glaube nicht. Sie würden sagen: Das ist ein Kapital, das man unbedingt haben muss? Man ist nicht beliebig verpflanzbar? Das ist das Thema. Was ich über rund 30 Jahre an Vernetzungen aufgebaut habe, hilft besonders in heiklen Kommunikationsfragen. Was nicht heißt: Vitamin B. Sondern nur, dass man der Kommunikation zuhört, wenn wir anrufen. Oder es ruft einer an und meldet uns eine kitzlige Sache vorab, bevor es brenzlig geworden ist. Dann haben wir eigentlich schon gewonnen.
Managerin B hob im Interview hervor, dass die Vernetzung das Kapital sei, welches den Unterschied in der Seniorität zwischen ihr und ihrer Stellvertreterin ausmache. Wie bereits unter C.III.3 angerissen, ist der im Detail steckende Teufel nur auszumachen, wenn man über eine tiefverwurzelte, über Jahre und Jahrzehnte gewachsene Kenntnis des Unternehmens verfügt: Ja, ich sehe das an meiner Stellvertreterin. Die ist jetzt ein gutes Jahr hier. Und die ist eigentlich schon richtig gut vernetzt. Aber ich sage Ihnen, das ist so schwierig. […] Je länger Sie dabei sind, desto mehr machen Sie durch Erfahrung. Das ist dann fast schon wieder so etwas wie Intuition. Wenn ich beispielsweise zu meiner Stellvertreterin sage: Da hakt was bei der Pressemitteilung, da stimmt doch was nicht. Und sie sagt dann: Das habe ich aber mit dem und dem so abgestimmt. Dann sage ich: Hmm-hmm-hmm – und erinnere mich an einen Fall, der fünf oder sechs oder acht Jahre zurückliegt und denke mir: Mensch, das hast du schon mal… und meine nur: Fragen Sie lieber noch mal den und den. Und in 99% der Fälle war genau da die Krux. Hand auflegen sage ich dazu. Und das können Sie natürlich nur, wenn Sie einen gewissen Erfahrungskorridor im Unternehmen haben.
Die Ausnahme, die nicht auf eine lange organische Karriere im jetzigen Unternehmen zurückblickte, stellte Manager G dar. Manager G blickte wiederum, um die sechzig Jahre alt, auf eine lange und erfolgreiche Karriere in verschiedenen, hohen Managementpositionen zurück. Im Gespräch ließ er durchblicken, wie wichtig die geschilderte „menschliche Vernetzung“, wie schwer sie aber zu erlangen sei – und dass man dabei ökonomisch vorgehen
514
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
müsse. Auf die Frage des Autors, wie er beim Eintritt in das Unternehmen in hoher, verantwortlicher Position den Nachteil wettgemacht habe, der Neuling an der Seite des Vorstandsvorsitzenden zu sein, antwortete er nachdenklich: Es sei harte Arbeit gewesen; über Monate habe er auf Privatleben nahezu völlig verzichtet, an jeder Abendveranstaltung teilgenommen, um „Leute kennenzulernen“, „ins Gespräch zu kommen“, sich persönlich vorzustellen und einen persönlichen Eindruck der anderen zu bekommen. d) Das Organisationsfeld III: Top-Manager-Sein Um zu verdeutlichen, was der Autor mit der Rede von einem Top-Management-Feld meint, möchte er eine etwas längere Passage des Gespräches mit Manager G verbatim zitieren: Gut. Gibt’s irgendwo einen Bruch zwischen absoluten Führungspositionen und Positionen darunter? Gibt es einen Bruch zwischen Leuten, die dafür geeignet sind und Leuten, die gut sind, aber eben dafür nicht mehr geeignet sind? Ja, es gibt Leute, die kommen nicht nach oben – und bei denen liegt es nicht daran, dass es keine Gelegenheit dazu gab. Von der Persönlichkeitsstruktur her kommen die nicht durch. Woran liegt’s? Oh, schwer, sehr schwer. Sehr schwer zu definieren. Wenn Sie es mal versuchen… Sichtbare Integrität. Anwendungsorientierte Intelligenz. Liegt die Betonung auf Intelligenz oder… Ja. Aber eben nicht versponnenes Wissenschaftlertum. Das hat immer etwas mit Verprobung in der Praxis zu tun. Man muss immer in den verschiedenen Feldern der Kommunikation Erfahrungen gesammelt haben. Wenn Sie als Vorstandsvorsitzender von BMW einen Kommunikationschef einstellen, dann muss der Erfahrungen gesammelt haben. In der Pressearbeit. In der internen Kommunikation. Im Lobbying. Also, das Handwerk muss man beherrschen. Aber das würde ja auf viele auch zutreffen, von denen Sie sagen, sie machen den letzten Sprung nicht. Ja. Insofern wird übers Handwerk da nicht mehr geredet. Sie sagten hier: Sichtbare Integrität, anwendungsorientierte Intelligenz. Würde Ihnen noch etwas anderes einfallen? Mut.
„Sichtbare Integrität“, „anwendungsorientierte Intelligenz“ und „Mut“ als das festzuschreiben, was einen hohen mittleren Manager mit Potenzial zum Top-Manager unterscheidet von einem ohne das Potenzial, liegt dem Autor fern. Der Autor fügt Manager Gs Ausführungen dergestalt in den theoretischen Rahmen, dass es anscheinend ein Top-ManagementFeld gibt, in welchem Werte zählen, die bei Positionen in der zweiten oder dritten Linie der Kommunikationsverantwortung noch nicht von so großer Bedeutung sind respektive durch andere Eigenschaften und Fähigkeiten, durch Handwerk eben, substituierbar sind. Manager H hebt ebenjenen Punkt hervor, wenn er im Interview betont: Für die so genannten Oberen Führungspositionen investieren die Organisationen natürlich viele Ressourcen in die Ausbildung der dafür notwendigen Fähigkeiten. Ich verrate Ihnen ein Geheimnis: Das Fachliche spielt dabei in der Regel eine untergeordnete Rolle. Es kommt vielmehr auf die sozialen Fähigkeiten an. Diese lassen sich selten über ein Seminar ausbauen. Wichtiger ist, praktische Erfahrungen zu sam-
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meln. Dazu muss man möglichst viele, unterschiedliche Geschäftssituationen erlebt haben, Fehler machen, Erfolge haben, Versagen spüren.
An anderer Stelle strich Manager H die Bedeutung der Empathiefähigkeit heraus, was insofern von Interesse ist, weil der Theory-of-Mind-Apparat, die „Emphronesefähigkeit“, in der vorliegenden Arbeit oft im Mittelpunkt stand, und auch in anthropologischen Studien (Schiefenhövel) als Charakteristikum der „Big Men“ und „Big Women“ herausgearbeitet wurde (vgl. D.I.8). Manager H fährt fort: Schwierig ist es für viele, wenn ihnen bestimmte, besonders gut ausgebildete Stärken im Wege stehen. Wenn ich ein exzellenter Fachmann bin, aber keine Empathiefähigkeit besitze oder sie nicht ausgebildet worden ist, dann kann ich zwar als Experte sehr erfolgreich sein, aber nicht als Führungskraft oder Teamplayer.
In die Eigenschaftstheorien und in die Rede von der „geborenen Führungskraft“ zurückzukehren (vgl. C.II.1), liegt nicht im Interesse des Autors. Für die Forschung bietet das TopManagement-Feld jedoch reiche Betätigung. Dabei geht es nicht nur darum, welche Charakteristiken Personen gemein haben, die in oberste Kommunikationsverantwortung gelangen – oder wo der Fit zwischen Persönlichkeitsstruktur und Organisationskultur besteht. Es geht darüber hinaus darum, welches Standing im Top-Management-Feld „erobert“ wird und aufgrund welcher perzipierten Charakteristika zwischen PR- und Managementhabitus. e) Das professionelle Feld: Kommunikationsprofi-Sein, Gut-vernetzt-Sein Das beste Beispiel für das Agieren in der professionellen Sphäre der Branche stellt das Engagement von Manager D dar, der in einem der Branchenverbände eine herausragende Position bekleidete: Im Verlauf der Beobachtungswoche verwandte er einige Zeit darauf, diese Funktion wahrzunehmen. Manager C, G und H, die DAX-30-Manager, schienen die Diskussionen in der PR- und Kommunikationsbranche zu verfolgen, verfolgten auch die Fachdiskussionen, wie z. B. zu Kommunikations-Controlling, wenn auch oft mit einiger Skepsis. Etwas im Gegensatz dazu sind Manager A, E und Managerin F zu sehen, die sich, soweit der Autor das zu beurteilen vermag, aus der Branchenpolitik der PR-Branche weitestgehend heraushielten. Manager A engagierte sich dafür in einem kleineren Zirkel, der die obersten Kommunikationsverantwortlichen seines spezifischen Unternehmenstyps miteinander vernetzte. Einem ähnlichen Zirkel gehörte auch Managerin B an, sie bekleidete dort eine exponierte Position. Inwiefern die Manager der DAX-30-Unternehmen derartigen Zirkeln angehörten, vermag der Autor nicht zu beurteilen, er nimmt es aber an. Manager E erklärte im Gespräch, dass er der PR-Branche sehr skeptisch gegenüberstehe, sich sehr viel mehr zur Werbebranche hingezogen fühle, die er insgesamt für „smarter“ halte. Managerin F schien die Zeit, welche die anderen für eine Anschlusshaltung an die PR- und Kommunikationsbranche aufwandten, für andere Engagements zu nutzen: Sie setzte sich für soziale Projekte ein, die das Unternehmen unterstützte, engagierte sich auch für das Thema ‚Frauen in Führungspositionen’. Das Bild, welches sich zeigt, ist also ein differenziertes: Mit Ausnahme von Managerin F war bei allen Kandidaten beobachtbar, dass sie während der Beobachtungswoche Zeit aufwandten, um ihr professionelles Netzwerk in die PR- und die erweiterte Kommunikationsbranche zu pflegen, ihr Standing zu halten. Manager A und Managerin B, die operativ als Pressesprecher in einem regional-lokalen Feld agierten, schienen ihr Engagement aber
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
auf selektierte Zirkel zu begrenzen, die ihnen direkt und unmittelbar bei ihrer Presse- und Medienarbeit, im Rahmen von Unternehmen ihres Typs, in der Branche ihres Unternehmens halfen. Die gesparte Zeit, vermutet der Autor, investierten sie in ein lokal-regionales Feld: Managerin B beispielsweise war sich voll und ganz bewusst, dass sie am Sitz ihres Unternehmens eine öffentliche Person darstellt, dass man ihr Gesicht aus der Zeitung kennt. Die DAX-30-Manager, die zwar nicht mehr Zeit zur Verfügung hatten, aber über ihre Zeit autonomer disponierten, hielten den Kontakt in die nationale und internationale professional community, verfolgten den Diskurs der Kommunikationsbranche, die Personalien, die Histörchen und Skandale etc., wenn auch teilweise mit Skepsis und Amüsement. Insofern ist es erstaunlich, dass Managerin F, als Direktorin Unternehmenskommunikation in einem MDAX-Unternehmen, den Branchengerüchten, Hype-Themen und Managementmoden nur marginales Interesse entgegenbrachte, diese teilweise gar nicht einmal zur Kenntnis nahm. f) Das journalistische Feld: Ein verlässlicher Partner sein Was das Agieren im journalistischen Feld bedeutet, lässt sich an der Arbeit von Manager A verdeutlichen, der in einem regional-lokalen Umfeld agierte, in dem er es in der Regel immer wieder mit den gleichen journalistischen Konterparten zu tun bekam – Personen, die er schon aus seiner vorherigen Karriere auf journalistischer Seite kannte. Im Interview beschrieb Manager A die Phase des Jobframings (vgl. auch IV.4), warf damit auch Licht auf das soziale Feld des Journalismus: Und geholfen haben mir dabei im Grunde genommen immer noch die Kontakte zu den Kollegen oder, wie auch immer, Ex-Kollegen […]. Weil das Leute sind, mit denen ich die letzten zehn Jahre auch zusammen älter geworden bin. Die haben ja nicht gewechselt. Ich habe hier das Glück, dass ich bei den wichtigen Journalisten eine Gruppe von Leuten habe, die schon sehr lange, sehr konstant für die großen Zeitungen schreibt. Und die wissen eben, wie sehr ich auch mit mir gerungen habe, wie sehr kritisch ich auch meinen Betrieb sehe. Und das macht es einfach glaubwürdiger. Wenn ich anfangen würde, jede kritische Frage abzubügeln mit dem Motto: Du hast keine Ahnung – dann ist das für mich keine gute PR. Sondern die gute PR ist, dass ich sage: Ich sehe vollkommen ein, was Sie sagen, und so kann man es auch sehen – aber ich sage dann auch: Wissen Sie, ich rede für das Unternehmen, und natürlich sehen wir das anders. Aber natürlich kann man es auch so sehen, dass dieser Sachverhalt so und so ist. Das macht einen viel glaubwürdiger, als wenn man sagt: Okay, ihr seid die Journalisten, macht doch, was ihr wollt, Ihr seid Erfüllungsgehilfen, die ich überzeugen muss, meine Meldung reinzunehmen. Ich sage: Okay, wenn die Meldung es nicht wert ist, lasst ihr sie halt raus. So reden wir auch miteinander. Also, wir haben da ein wirklich gutes Verhältnis – aber wir sind nicht befreundet.
In der Beobachtungsstudie trat hervor, dass Manager A zumindest mit einem der Regionaljournalisten doch persönlich befreundet ist. Aber entscheidend ist der Tenor: Dass Manager A über ein über lange Jahre gewachsenes soziales Standing verfügt, und dass sich das Standing nicht auf bloßes Ansehen reduzieren lässt, sondern ein durchaus komplexes, mehrdimensionales Konstrukt darstellt: Die Rolle des Managers A im journalistischen Feld war, wie er selbst sagt, geprägt durch seine ehemalige Tätigkeit als Journalist, die nunmehr, im Unternehmen, eine Veränderung erfahren hat. Es gelang Manager A augenscheinlich, die alte journalistische Identität in veränderter, der neuen Situation angepasster Gestalt in die PR-Praxis mitzunehmen. Ganz ähnlich sah das Manager C, der ebenfalls auf eine langjährige Karriere im Journalismus zurückblickte: Ja, kucken sie sich mal den einen oder anderen Typen von damals an: [deftig-illustrative Beispiele]. Da gab es Dinge, die nicht gerade dazu beigetragen haben, das Berufsbild des Pressesprechers oder des Kommunikators zu beflügeln. Worauf ich hinaus will, ist: Es gibt Dinge, die haben etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun, mit Transparenz, mit Verlässlichkeit. Dafür muss man stehen. Das heißt, ich habe im Haus
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und da draußen einen Ruf zu verlieren. Ich habe keine Lust, dass, wenn ich hier mal gehe – dass man sagt: Gottseidank ist dieser Irre weg. Na ja, okay, das können sie ruhig sagen, aber bitte nicht fachlich, und bitte nicht menschlich. Das Zweite ist: Man muss eine unglaubliche Neugier mitbringen. Was man durchaus als dilettantischen Generalisten oder generalisierten Dilettanten bezeichnen kann. Was ich vom Studium her ja auch bin.
3. Das Management Game revisited Unter 2. erörterte der Autor die Organisationsfelder des sozialen Standings als Vorgesetzter und Führungskraft, als „auf dem Boden gebliebener“ Angehöriger einer Organisation, als Angehöriger des erweiterten Führungszirkels einer Organisation gegenüber Kollegen, als Angehöriger des engeren Führungszirkels gegenüber Top-Managern. Unter 3. fasst der Autor den engeren und erweiterten Führungszirkel zusammen, wendet den Blickwinkel aber: Diesmal geht es nicht um das soziale Standing in einem Feld oder mehreren Feldern, diesmal geht es um die Funktionslebenswelt des Management Games. Beziehungsgeflechte, Gos und No-Gos Funktionslebenswelt stellt eine Überlagerung von vertrauter, selbstverständlich gewordener Lebenswelt und diffusem, ominösem Funktionssystem dar. Es ist insofern nachvollziehbar, dass sich die Synthese als ein Netzwerk von Menschen, mehr oder minder vertrauten Gesichtern darstellt – dass es sich aber dennoch nicht zwangsläufig um eine heimelige, einfach zu durchschauende Sphäre handelt. Wie die Funktionswelt nach und nach als Funktionslebenswelt „erobert“ wird, beschrieb der Autor unter Rekurs auf Manager G, der nach Übernahme seines Jobs in der ersten Phase enorme Anstrengungen unternahm, die entscheidenden Player persönlich kennenzulernen, zunächst einmal herauszufinden, wer die entscheidenden Player sind. Aus der theoretischen Perspektive des Autors beschreibt Manager G zwei Schritte, welche fließend ineinander übergehen. Zum einen die Verwandlung der Funktionswelt in eine Funktionslebenswelt, in welcher man persönlich und face-to-face, zumindest aber mit einem Gesicht vor Augen agiert, in welcher es eine geteilte Basis von Selbstverständlichkeit gibt. Das geschieht teilweise von selbst, durch funktionale Integration, teilweise muss es herbeigeführt werden. Zum anderen ist die „Eroberung“ von Standing in verschiedenen Ingroups zu sehen, womit zwangsläufig eine Positionierung gegenüber Outgroups einhergeht: „Everybody’s darling“ zu sein ist eine Unmöglichkeit. Auch Manager C, wie G und H in einem DAX-30-Unternehmen tätig, maß diesem Aspekt allergrößten Wert bei: Sie wachsen aus einer vertrauten, glaubwürdigen, akzeptierten Position in die nächsthöhere rein. Und dieses vertraute Umfeld, was Sie kennen – auf einmal hat sich das verdreifacht. Sie selbst sehen sich allerdings noch in der alten Rolle. Weil, so schnell können Sie sich gar nicht umschalten. Das müssen Sie erst einmal lernen. Dass Sie eine öffentliche Erscheinung geworden sind, die sich eben nicht mehr in jede Karte kucken lässt. Sondern die sich darüber im Klaren sein muss, dass sie sich öffentlich inszeniert. Ob sie es will oder nicht.
Die Erkenntnis, dass eine große, vielschichtige Unternehmung durchsetzt ist von Gruppierungen, die sowohl an einem Strang ziehen als auch gegeneinander arbeiten, ist bereits von Autoren wie etwa Crozier und Friedberg (1977) gefasst worden, ist Lebenserfahrung. Die Schwierigkeit liegt darin, die „Beziehungsgeflechte“ richtig zu rekonstruieren, um richtig zu handeln. Denn, um es salopp auszudrücken, für die Beziehungsgeflechte gibt es keine
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Landkarte. Kein Organigramm bildet die Ingroups ab, in welchen man sich positioniert, keine Stellenbeschreibung verrät die Outgroups gegen die man sich stellt. Manager C: Ja, du musst einfach verstehen: Wie tickt der Laden. Die Beziehungsgeflechte. Was ist ein „Go“, was ist ein „No-Go“. Und das kann man nicht in drei Wochen lernen. Das kann man auch nicht in drei Jahren lernen. Wenn man so sechs, sieben Jahre das macht, was ich jetzt mache, dann kommt man in die Richtung, dass man sagt: Das sind die Konstanten, die Wesenszüge dieses Hauses. Und das sind die auf Strömungen beruhenden Ausrichtungen des Hauses. In der Zeit, in der ich hier bin, habe ich fast alles erlebt. Und fast alles wieder gehen sehen. Das wird auch bei anderen Häusern so sein. Nur, das kann man theoretisch sehen – aber man muss es auch praktisch erfahren. Damit man das einfach akzeptiert.
Haifischbecken und Minenfeld? Gerade im Management Game ist das entscheidende Problem nicht, gelegentlich Inszenierungs- und Kommunikationserfolge gegeneinander abzuwägen, die eigenen Inszenierungsund Positionierungsstrategien durchzuführen und durchzuhalten – das entscheidende Problem ist die Komplexität, die nicht nur aus Friktion und Tension, sondern aus Kompetition erwächst. Komplexität, das wurde ausführlich erörtert, bedeutet nichts anderes, als dass der Akteur es immer schwieriger und schwieriger findet, die unmittelbaren und mittelbaren Wirkungen seiner Handlungen vorherzusagen. Was er selbst als sinnvolles, zielgerichtetes Handeln empfindet, wirkt für einen außenstehenden, die Komplexität überblickenden Beobachter genauso hilflos wie die stupid-persevierenden Versuche der Bienen, aus der Flasche zu fliehen. Manager C bringt genau das auf den Punkt, wenn er die Frage beantwortet, welches die entscheidenden Learnings seiner Karriere waren, die es ihm ermöglichen, seine jetzige Position wahrzunehmen: Ich muss begreifen, wie mein Unternehmen tickt. Jedem, der neu hier hereinkommt und der sich hier vorstellt – ob das nun in der Abteilung ist oder nicht, denn irgendwann kommen sie alle hier vorbei – jedem sage ich: ‚Willkommen im Club.’ Jedes Unternehmen hat viele Minenfelder. Sie sind tot, und sie wissen es noch gar nicht. Was ja der schönste Tod an sich ist. Du stehst in einem Minenfeld und denkst, du hast eine Chance. Aber alle lachen, weil: Da kommst du nie wieder raus. Das geht ja in solchen Häusern, mit so einer Tradition, relativ zügig. Das wird bei Mercedes oder bei Springer auch nicht viel anders sein. Es gibt eben viele alte Rechnungen.
Dem Autor geht es nicht darum, das Management Game in Bausch und Bogen als „Haifischbecken“ oder „Minenfeld“ zu charakterisieren. Es gibt sicherlich Organisationen, welche durchzogen sind von „alten Rechnungen“ – aber es gibt sicherlich andere, in denen das nicht der Fall ist. Dem Autor geht es darum, den Unterschied zwischen Lebenswelt und Funktionslebenswelt herauszuarbeiten – und der tritt besonders im Management Game hervor. Funktionslebenswelt ist nicht Lebenswelt in einer Organisation Das Management Game zu begreifen, bedeutet, den Gedanken der Funktionslebenswelt ernst zu nehmen. Das Management Game ist die Sphäre, in welcher die Paradoxien und Dilemmata des Funktionssystems aufeinanderstoßen, um praktisch gelöst zu werden – und wo sie nicht funktionsrational gelöst werden, geschieht das lebensweltlich-rational. Aber lebensweltliche Rationalität bedeutet nicht nur Deliberation im Habermas’schen Sinne, „vernünftiges Gespräch“ – es bedeutet auch Verwirren, Verschleiern, Aussitzen, Einschüchterung, Schmeichelung etc. Systemisch gewendet greift im Management Game das Phänomen der Steuerungsreflexivität, welches unter D.III.2 erörtert wurde: Nicht nur der fokale Akteur selbst versucht, sein soziales Standing zu sichern, sondern alle anderen Ak-
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teure eben auch: Andere Akteure sind auch bereit, „Erfolge“ zu vertagen, um sich der Gefolgschaft einer Gruppe zu versichern oder um eine „alte Rechnung“ zu begleichen. Das führt einerseits dazu, dass das auf der Oberfläche durch Funktionen, Hierarchie und Organigramme vermeintlich abgebildete „System“ vergleichsweise wenig mit der wirklichen Funktionslebenswelt zu tun hat, wie es ein allwissender, außenstehender Beobachter rekonstruieren würde. Das führt ferner dazu, dass das auf der Oberfläche zu beobachtende „zwischenmenschliche“ Verhalten den unerfahrenen, uneingeweihten Neuling (oder wissenschaftlichen Beobachter) in die Irre führt: Der Umgang ist für einen außenstehenden Dritten stets freundlich und verbindlich. Man steht, wie es Manager C ausdrückt, in einem „Minenfeld“, ohne es zu merken.
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IV)
E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Jobs, Tasks und Rollen der beobachteten Kandidaten
Ehe der Autor über Jobs, Tasks und Rollen der beobachteten Manager handelt, gilt es die Möglichkeiten und Beschränktheiten einer Beobachtungsstudie zu umgrenzen – der methodische und methodenkritische Teil unter B sprach das bereits an. Die Möglichkeiten einer Beobachtungsstudie liegen einerseits im „Eintauchen“ in die Funktionslebenswelt der jeweiligen Person, andererseits in der Möglichkeit des Vergleiches verschiedener Führungskräfte in ähnlichen Lagen: Es ist ein großer Unterschied, ob man eine Person über lange Zeit oder mehrere Personen über kürzere Zeit beobachtet. Die Beschränkungen einer Beobachtungsstudie sind, dass der Beobachter „Außenseiter“ bleibt, und dass er im Rahmen einer einwöchigen Beobachtung niemals genügend Einblick in die Agenden, Projekte, Chunks und „Baustellen“ gewinnt, um das Denken und Handeln der Manager umfassend und vollumfänglich zu beurteilen. Wie ausgeführt (vgl. D.III), besteht das Management Game über weite Strecken aus Routine. Nur gelegentlich und oftmals unvorhergesehenermaßen kommt es zu „Spielzügen“ im Management Game, finden Jobveränderungen, Taskverschiebungen, Rollenumgestaltungen statt. Es ist nahezu ausgeschlossen, dass ein außenstehender, kurzfristig anwesender Beobachter derartig subtile Manöver vollständig versteht – und der Autor erhebt auch nicht den Anspruch, das getan zu haben. Durchaus möglich und nachvollziehbar ist jedoch, diejenigen Aspekte und Momente herauszuarbeiten, die aufgefallen sind – gerade im Vergleich der Führungskräfte untereinander. Unter Rekurs auf die methodischen Ideen bei Sutton, Mintzberg und Weick postuliert der Autor also (vgl. auch B.III), dass scraps of evidence oder rich points entscheidende Einblicke gestatten. 1. Jobs Ehe mit der Betrachtung der Rollen und der Tasks ein Schlaglicht auf einzelne, herausstechende Episoden der Beobachtung geworfen wird, zeichnet der Autor zunächst ein gesamthaftes Bild der Jobs der beobachteten Kandidaten, wobei die quantitativen Daten mit subjektiven Impressionen verknüpft werden. Als der Autor die Arbeit an der Studie aufnahm, stand ihm zunächst als Resultat eine Typologie vor Augen, die Jobs ähnlich kategorisiert, wie das etwa van Ruler (2004) tut. Van Ruler, unter B ist das angesprochen, entwickelte aus einer Durchsicht von niederländischen Branchenpublikationen und ihrer Metaphern und „Catchwords“ zwischen 1950 und 2000 sieben Berufsauffassungen, Jobverständnisse oder Weber’sche Idealtypen: den (1) „Stadtschreier“, den (2) „Reisebegleiter“, den (3) „Dirigenten“, den (4) „Verkehrsmanager“, (5) den „Vernetzer“, (6) den „Katalysator“ und (7) den „Künstler“, der sich jeder Typologisierung entzieht. Im Rahmen der Beobachtungsstudie stellte sich jedoch heraus, dass derartige Typologien zwar aus der Entfernung und als „großes Bild“ attraktiv und komplexitätsreduzierend sind. Tritt man in einer Beobachtung aber näher an die Praktiker heran, dann verflüchtigen sie sich: Manager A beispielsweise primär und zuvorderst als steward, als „Reisebegleiter“ zu charakterisieren, der wichtige Entscheider rund um das Unternehmen herum „bei Laune hält“, wäre ganz und gar verfehlt. Gleichwohl war Mana-
IV. Jobs, Tasks und Rollen
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ger As Abteilung für die Besucherbetreuung und Events verantwortlich, nahm Manager A während der Beobachtungswoche auch die Aufgabe wahr, Investoren auf dem Gelände herumzuführen. Manager H war sicherlich derjenige, der den am stärksten zurückgetretenen, direktiven, „dirigierenden“ Managementstil pflegte – aber er war auch derjenige, der am meisten Zeit auf Veranstaltungen verbrachte, wo er sich um Lieferanten, Joint-VenturePartner oder Kunden kümmerte; und das stellte, wie Manager H selbst angab, keine Verzerrung dar. Metaphernkomplexe wie „Dirigent“ oder „Verkehrsmanager“ oder „Vernetzer“ sind also eher als Facette eines Jobs, weniger als Jobtypus zu begreifen – und so verstanden ist das van Ruler’sche Konzept auch erhellend. Ähnlich verhält es sich mit den Aspekten, wie sie etwa von Bentele, Großkurth und Seidenglanz (2007) in der großzahligen Untersuchung Profession Pressesprecher verwandt wurden (vgl. B.I.2.2): Selbst bei sieben abstrakten Konstrukten wie „Berater des Vorstandes“, „Mittler“, „Sprecher“ addierten sich die Mehrfachnennungen zu 287 Prozent – vereinfacht gesagt identifizierten sich die untersuchten Personen also durchschnittlich mit drei der sieben möglichen Selbstverständnisse. Das heißt, dass die Kategorien nicht trennscharf sind, dass sie mehr oder weniger häufige Aspekte des Jobs oberster Kommunikationsverantwortlicher darstellen. Ohne den Sinn und Zweck von Typologien in großzahligen Untersuchungen in Zweifel zu ziehen, stellt der Autor den Idealtypen ein differenzierteres Bild gegenüber, welches versucht, Facetten und Aspekte nachzuzeichnen: Dafür sind „Schnappschüsse“ von einer Woche gut geeignet. Die Idee ist demnach nicht, die Berufspraxis nach Typen zu quantifizieren, damit den Jobs von Kommunikationsmanagern eine äußere Logik überzustülpen. Die Idee ist es, aufzuzeigen, dass sich Jobs aus einer inneren Logik heraus, aus einer negativ institutionalisierten, in der Erklärungslücke zwischen Unternehmen und Gesellschaft angesiedelten Praxis „familienähnlich“ (vgl. A.II.2), aber doch unterschiedlich entwickeln. Sie entwickeln sich in der Überlagerung und Durchdringung von Person, Praxis und Unternehmen (das Unternehmen einschließlich Geschäftsmodell und Umwelt gedacht). Die Idee ist es, bei jedem einzelnen Praktiker ein Bewusstsein für Wohlgeformtheit respektive Missgeformtheit zu schärfen, das Verständnis der eigenen Praxiskonstellation zu vertiefen. Manager A, der gestandene Pressesprecher plus… Bei Manager A handelte es sich ganz klar und eindeutig um einen Senior Media Manager, wie er auch in der Rollenforschung im Rahmen der Exzellenzstudie ausgemacht wurde (vgl. Grunig/Grunig/Dozier 2002, Kap. 6): einen Pressesprecher also, der aufgrund seiner langjährigen Erfahrung im Unternehmen peu à peu zusätzliche Verantwortung übernahm, zusätzliche formale Autorität über Bereiche erhielt, etwa die Besucherführung, das Mitarbeitermagazin, die Website der Organisation etc. Das Herz des Manager A hing aber weiterhin an der Presse- und Medienarbeit, die er persönlich, in Arbeitsteilung mit seiner Stellvertreterin verantwortete, während die anderen Bereiche überwacht und im Auge behalten wurden. Das Bild bestätigten auch die Daten: Das persönliche, direkte Handling von journalistischen Anfragen und anderen ähnlichen Angelegenheiten nahm 12,5 Prozent der Arbeitszeit ein (vgl. Abb. 95), während der Durchschnitt der anderen Manager bei 3,2 Prozent lag (der Wert ist allerdings verzerrt dadurch, dass Manager As Stellvertreterin im Urlaub war). Im persönlichen Gespräch gab Manager A wie bereits erwähnt dem Autor gegenüber an, dass man die Abteilung aus seiner Sicht auch wieder verkleinern, auf Presse- und Medienarbeit „konzentrieren“ könne. An Manager A war die Tendenz, sich auf einen klaren,
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
abgegrenzten Verantwortungsbereich zu konzentrieren und die Integration in die Organisation zeitökonomisch vor allem durch die „Nabelschnur“ des Vorgesetzten herzustellen, am deutlichsten zu beobachten. Mit 61,1 Prozent der Beobachtungszeit hatte Manager A die niedrigste Kontaktzeit nach innen (der Durchschnitt lag bei 72,7 Prozent), was den subjektiven Eindruck des Autors bestätigt, dass sich der Manager aus dem Management Game möglichst „herauszuziehen“ suchte (vgl. Abb. 88). Eine weitere Bestätigung liegt in der Zahl, dass Manager A lediglich 11,4 Prozent der beobachteten Zeit mit der Aktivität Meeting verbrachte, während der Durchschnitt bei 39,2 Prozent lag (vgl. Abb. 87). Was MEETSessions anbelangt, spiegelt sich ein- und derselbe Sachverhalt nahezu eins zu eins wider: Mit 10,0 Prozent lag Manager A eindeutig unter dem Durchschnitt von 35,7 Prozent (vgl. Abb. 74). Wie dargestellt, erklärte Manager A es zu seinem persönlichen Credo, dass neunzig Prozent der Besprechungszeit überflüssig sei, weil sich die Akteure selbst verwirklichen wollten, Schwachsinn erzählten. Mit der niedrigsten Kontaktzeit nach innen hatte Manager A entsprechend die höchste nach außen. Dass er zuvorderst als Pressesprecher agierte, zeigen auch die Daten (vgl. Abb. 91), denn mit 33,8 Prozent hatte er, nach Manager E, die zweithöchste relative und auch die zweithöchste absolute Kontaktzeit mit Medienvertretern (MEDIA): Manager A verbrachte 13,2 Prozent seiner absoluten Zeit in Kontakten zu Journalisten und Medien (193 Minuten, in 37 Kontakten). Zu seinem Job als Pressesprecher passt, dass Manager A mit 13,1 Prozent die höchste absolute Zeit für NEWSREADING aufwandte (Durchschnitt bei 2,9 Prozent), mit 42,9 Prozent verwandte er mit Abstand auch die meiste Zeit relativ zu seiner Schreibund Lesearbeitszeit (vgl. Abb. 81). Dass Manager A in der Beobachtungswoche 249 Minuten z. Β. auf Zeitungslektüre verwandte, ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass im regionalen und lokalen Feld das „Auf-dem-Laufenden-Bleiben“ sorgfältigere Lektüre erfordert: Im nationalen Feld ist die Medienberichterstattung häufig konsonant, Manager A war aber darauf angewiesen zu wissen, was in den einzelnen Dörfern um das Unternehmen herum geschah. Managerin B, Direktorin Unternehmenskommunikation mit Pressesprecherfunktion Der Job von Managerin B sah auf der Oberfläche, gemäß der Stellenbeschreibung, ähnlich aus wie der von A. In der Beobachtungsstudie stellte sich aber heraus, dass Managerin B anders agierte. Zwar verantwortete sie gemeinsam mit ihrer Stellvertreterin die Presse- und Medienarbeit als Kernstück der Unternehmenskommunikation – und sie gab selbst an, manchmal tagelang „Land unter“ mit Presse- und Medienarbeit zu sein. Im Interview schilderte sie ihr Selbstverständnis aber sehr viel weiter, zwischen den Polen von innen und außen, zwischen Management zweiter und dritter Ordnung. Der subjektive Eindruck des Autors aus der Beobachtung war der, es mit einer Direktorin Unternehmenskommunikation zu tun zu haben, die sich sehr wohl in das unternehmenspolitische Spiel einmischt. Wie Managerin B ihren Job begriff, wurde bereits unter A angesprochen: Gut. Also ich muss dafür sorgen, dass das Unternehmen nach außen nicht nur mit einer Sprache spricht, sondern auch ein Aussehen hat, das man überall wiedererkennt. Und das muss ich intern – unter zum Teil großen Herausforderungen – so versuchen zu bündeln, dass divergierende Interessen unter einen Hut gebracht werden. Ganz klassischer Zielkonflikt zwischen Kommunikation und Marketing zum Beispiel. Klar, die Marketingleute wollen eine deutliche werbliche Ansprache. Während ich sage: Ich habe ja nicht nur die Haushaltskunden oder die Gewerbekunden, sondern ich habe auch den politischen Raum... die Medien… ich habe ganz bestimmte Multiplikatoren, die in keines dieser Raster fallen. Und ich habe bestimmte Institutionen – bis hin zum Finanzamt. Da muss der Gesamtauftritt des Unternehmens wie aus
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einem Guss sein. Sie können nicht, sage ich mal, im Bereich der Haushalts- und Gewerbekundenkommunikation nach dem Motto Sex Sells! arbeiten und gleichzeitig aber den Oberbürgermeister zu Ihrer jährlichen Gala als Schirmherr einladen. Das funktioniert nicht. Und für diese eine Sprache – nicht nur im Sinne von Sprechen, sondern im Gesamtauftritt – dafür bin ich verantwortlich, inklusive des Corporate Design.
Im Vergleich zu Manager A, der sich dem Management Game entzog und 128 Minuten während der fünf Tage im Kontakt mit Kollegen verbrachte, wandte Managerin B 587 Minuten auf. Bei ungefähr gleicher beobachteter Zeit (2 618 zu 2 504 Minuten) verbrachte Managerin B mit 34,3 Prozent dreimal soviel Zeit mit der Aktivität Meeting (vgl. Abb. 87). Was MEET-Sessions anbelangt (vgl. Abb. 74), zeigt sich ein ähnliches Verhältnis: mit 32,4 Prozent lag der Wert dreimal so hoch wie bei Manager A. Es ist erstaunlich, wie das Zitat sich in den Daten der Studie widerspiegelt, und wie es auch den subjektiven Eindruck des Autors widerspiegelt. Drei vergleichsweise sehr häufig von Managerin B ausgeführte Managementfunktionen (vgl. Abb. 95) waren Koordinierung mit 26,3 Prozent (Durchschnitt 14,2 Prozent), Organisation mit 15,3 Prozent (Durchschnitt 8,0 Prozent) und Liaison mit 8,6 Prozent (Durchschnitt 6,6 Prozent). Über ein Viertel der Arbeit, eben 26,3 Prozent, von Managerin B bestand also darin, in Telefonaten oder Meetings oder auch per E-Mail mit Personen innerhalb oder außerhalb der Organisation zu vereinbaren, wie dieses oder jenes zu „handeln“ sei. Neben die konkrete Koordinierung trat die Funktion, die Liaison mit externen Kooperationspartnern aufrechtzuerhalten, wichtige Entscheider in verschiedenen Projekten, in der lokal-regionalen Politik und Administration „auf dem Laufenden zu halten“, „zu kuscheln“. Sowohl in der Koordinierungs- als auch in der Liaison-Funktion übernahm die Managerin häufig die Führung, man suchte ihre „Freigabe“ oder ihren „Rat“; das hat sicherlich etwas mit ihrer langjährigen Erfahrung in der Unternehmung zu tun. Auch auf organisatorische Strukturierung ihrer Abteilung (Organisation), insbesondere ihres näheren Umfeldes, ihres Sekretariates, verwandte die Managerin sehr viel Zeit; das mag aber eine zeitweilige Verzerrung sein. Obwohl die für Presse- und Medienarbeit mitverantwortliche Stellvertreterin von Managerin B während der Untersuchungswoche erkrankte, so dass dieselbe Situation wie bei Manager A bestand, verwandte Managerin B mit 4,0 Prozent (vgl. Abb. 95) prozentual lediglich etwas mehr Zeit auf „Handling“ als der Durchschnitt (3,2 Prozent). Ihre absolute Kontaktzeit mit Medienvertretern (MEDIA) lag mit 5,0 Prozent leicht unter dem Durchschnitt (5,7 Prozent); die Kontaktzeit relativ zu der Zeit in externen Kontakten, wie in Abbildung 91 dargestellt, lag mit 26,4 Prozent jedoch über dem Durchschnitt von 20,1 Prozent. Natürlich ist ein derartiger „Schnappschuss“ nicht überzubewerten, aber er zeigt abermals, dass Handling und insbesondere Journalistenhandling die Spitze eines Eisberges darstellt, bei welchem acht Neuntel unter Wasser liegen und aus Abstimmung und Rückversicherung bestehen. Manager C: Direktor Unternehmenskommunikation als Herz und Hirn Schon in der bereits unter A vorgestellten Antwort auf die Frage, was seine Aufgabe im Hause sei, spiegelt sich bei Manager C eine Skepsis gegenüber formalen Organisationsstrukturen: Ja, was ist die Aufgabe. Also, wenn sich die Aufgabe in der Organisationsform widerspiegelt, dann bin ich verantwortlich für die interne Kommunikation, die externe Kommunikation, für die Brand Affairs, für gewisse Bereiche der Events – also nicht nur Presse, sondern von der Klein- bis zur Großveranstaltung. Bis hin zu Archivfragen. Und habe dann noch obendrüber gelegt HR-/PR-Dinge. Was wir jetzt als Corpo-
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum rate Reputation bezeichnen. Und dann die Dinge druntergefasst wie Issues Management, Kommunikations-Controlling, Kommunikations-Strategie, Sponsoring-Strategie – nicht ausführend, sondern entwerfend. Ja, das sind die Dinge, für die ich verantwortlich bin.
Sieht man sich die Funktionsdaten an, stellt Manager C insofern ein Kuriosum dar, dass seine Werte sehr nahe am Durchschnitt der beobachteten Personen insgesamt liegen, es gibt keine herausragenden Bereiche. Der einzige etwas herausragende Bereich ist die Funktion des Planens: Mit 18,7 Prozent der beobachteten Zeit liegt sie etwas über dem Durchschnitt von 12,9 Prozent (vgl. Abb. 95). Spitzenreiter ist Manager C jedoch im Verhältnis zwischen Kontakten nach innen und Kontakten nach außen, mit 86,9 Prozent internen Kontakten lag er deutlich über dem Durchschnittswert von 72,7 Prozent (vgl. Abb. 88): Manager C war also der Manager, der, in Zeit ausgedrückt, am wenigsten mit der Außenwelt interagierte. Manager C stellt ein illustratives Exempel dafür dar, dass die Interpretation quantitativer Daten einer Beobachtungsstudie Hand in Hand gehen muss mit holistischen, subjektiven Impressionen. Denn aus der Prädominanz des Planens und einer sehr starken internen Orientierung zu schließen, dass Manager C den klassischen Typus des „kalten Strategen“ (Gerken) darstellt, der am grünen Tisch sitzend die große Linie entwirft, ist ganz und gar falsch. In der Beobachtung war der Job von Manager C dadurch charakterisiert, dass er an sehr vielen Meetings teilnahm: Von den MEET-Sessions her (vgl. Abb. 74) hatte er, nach Manager G, den zweithöchsten Wert mit 48 Prozent – deutlich über dem Durchschnitt von 35,7 Prozent. Von der Aktivität Meeting her verhielt sich das ähnlich, wie Abbildung 87 zeigt: 45,2 Prozent der absoluten Zeit im Vergleich zu durchschnittlich 39,2 Prozent (u. a. 30 formale Meetings mit einer durchschnittlichen Dauer von 31,7 Minuten). Manager Cs Charakteristikum war ferner, dass er sich vergleichsweise viel durch das Unternehmen bewegte, mit vielen sprach, Eindrücke sammelte – das spiegelt sich in den Daten dadurch wider, dass er mit 3,6 Prozent einen vergleichsweise hohen Wert bei TOUR-Sessions, also Begehungen, hatte (Durchschnitt 2,1 Prozent). Das wichtigste Charakteristikum ist aber, dass Manager Cs vier Abteilungsleiter mit ihm gemeinsam ein Team bildeten, das sich häufig zu informellen, locker gehaltenen „Brainstormings“ in Manager Cs Büro traf. Mit 16,6 Prozent der Kontaktzeit (vgl. Abb. 87) hatte Manager C den höchsten Prozentsatz an „Tür-und-Angel-Gesprächen“ (TUA_SELF, TUA_OTHER, TUA_MUTUAL addiert), und auch bei Ad-hoc-Meetings, die in der Regel aus „Tür-und-Angel-Gesprächen“ heraus entstanden, lag er über dem Durchschnitt (vgl. Abb. 83). Zum Vergleich: Insgesamt und absolut verbrachte Manager C 258 Minuten in Ad-hoc-Meetings und 461 Minuten in „Tür-undAngel-Gesprächen“, also 719 Minuten – Managerin B verbrachte dagegen 112 Minuten in Ad-hoc-Meetings und 195 Minuten in „Tür-und-Angel-Gesprächen“, also 307 Minuten. Manager C verfolgte also nicht nur die Politik der offenen Tür, sondern die der offenen Besprechung. Bei den offenen Besprechungen handelte es sich häufig, und das ist das eigentlich besondere Kennzeichen, um informelle, unstrukturierte PLANNING-Phasen: Die Aktivität des DRAFTING/PLANNING als „am Schreibtisch sitzen und Pläne verfertigen“ einerseits, die Funktion des PLANNING, Alternativen und Optionen erörtern andererseits, das trat bei Manager C völlig auseinander. Wenn etwas geschah, wie etwa ein unerklärlicher „seltsamer“ Einbruch des Aktienkurses an einem Tag, kamen die Abteilungsleiter oder auch einzelne Personen in Manager Cs Büro, um unmittelbar und sofort zu diskutieren. Während der Diskussion stellte Manager C das „Herz und Hirn“ seiner Abteilung dar, in welchem
IV. Jobs, Tasks und Rollen
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Argumente ausgetauscht, „Bälle“ hin- und hergeworfen, Ideen auf- und wieder verworfen wurden. Der Autor gesteht, dass er eine Weile benötigte, um zu begreifen, dass das lockere „Herumhängen“ der Abteilungsleiter im Büro tatsächlich die „Arbeit“ des Manager C darstellte, seinen Managementstil repräsentierte. Im Interview gab Manager C zu Protokoll: Ich habe den Führungsstil der langen Leine und der offenen Diskussion. Mir ist das völlig egal, wer eine Idee in diesem Laden hat. Hauptsache wir haben eine Idee, und die ist gut. Und das brauche ich hier auch nicht, wie andere: Warte erst einmal ab, das wird erst einmal mir erzählt – dann kann ich das als meine Idee verkaufen. Das ist mir total egal. Was ich will, ist: Kreativität, angstfreies Arbeiten, gute Ideen. Nicht mehr, und nicht weniger. So. Das hat vielleicht einen Fehler in sich: dass man vielleicht nicht genügend sanktioniert, dass man manchmal nicht genügend autoritär ist.
Manager D: Manager Corporate Affairs unter Expansionsdruck Bei Manager D handelte es sich um den jüngsten der beobachteten Kandidaten. Sein Selbstverständnis, seinen Job, formulierte Manager D, wie bereits an anderer Stelle dargestellt (vgl. A.II.2; C.III.2), klar und deutlich: Seine Aufgabe sei es, das Geschäftsmodell gegen Eingriffe abzusichern, die nicht zwangsläufig geschäftsbedingt sind. Konkret und praktisch bedeutet das, dass Manager D für die Presse- und Medienarbeit verantwortlich zeichnete, sie auch operativ handelte. Im Gegensatz zu Manager A, der seinen eigenen Verantwortungs-, Macht- und Einflussbereich eher schärfer, gerne auch kleiner zu fassen suchte, strebte Manager D danach – in jugendlichem Leichtsinn, möchte man sagen – ihn auszudehnen. Er nahm dafür ein schwammigeres Framing in Kauf. Die Ausdehnung verfolgte Manager D seit seiner Übernahme der Position im Jahr 2002 und sie spiegelt sich auch in der Bezeichnung des Bereiches wider, der zunächst „Öffentlichkeitsarbeit“ hieß, dann „Presse und Kommunikation“, dann „Corporate Affairs“. Während der Beobachtungswoche verfolgte der Autor mehrere Aktivitäten, die auf eine Ausdehnung in Richtung Lobbying oder, wie es Manager D nannte, „Industriepolitik“ zielte: Beispielsweise führte Manager D Interviews mit mehreren Bewerbern, die das Unternehmen lobbyistisch in Berlin vertreten würden (8,5 Prozent Staffing-Funktion). Manager D war damit der einzige Kandidat, der nicht neben dem Cheflobbyisten der Unternehmung (Managerin Fs Büro war auch physisch neben dem Büro des Cheflobbyisten) agieren, sondern ihm übergeordnet sein würde. Der Job von Manager D, wie ihn der Autor im Vergleich mit den anderen Kandidaten verstand, war gekennzeichnet durch drei Charakteristika: Das erste Charakteristikum war das expansive Jobframing. Manager D agierte wie ein Direktor Unternehmenskommunikation, während er operativ die Presse- und Medienarbeit handelte. Mit 45,3 Prozent an MEET-Sessions lag er im oberen Bereich, was Meetings anbelangte (vgl. Abb. 74), vergleichbar mit den Direktoren der DAX-30-Konzerne – aber mit 4,6 Prozent Handling war er operativ mit Managerin B vergleichbar (vgl. Abb. 95), die ja die Presse- und Medienarbeit in Händen hielt. Das zweite Charakteristikum lag im Stil des Managers, der subjektiv mehr dem Managerideal respektive -klischee entsprach: Während die Führungskräfte mit journalistischem Hintergrund sich etwas von der journalistischen Arbeitsweise bewahrt hatten, kam Manager D aus der Betriebswirtschaft, so dass der Eindruck entstand, es mit einer unter Hochdruck arbeitenden Person zu tun haben, die entschieden hatte, insgesamt mehr durch ein weniger an Details zu bewältigen. Einer der wesentlichen Punkte in meiner Arbeit ist eigentlich: Delegieren. Ich mache relativ wenige Dinge tatsächlich selber. Ich bin teamorientiert. Ich sehe mich eigentlich als der, der dafür sorgt, dass alle die
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum im Team arbeiten, das Optimum aus sich persönlich herausholen – aber auch am Ende des Tages die Aufgaben machen, die sie am besten machen können.
Manager Ds Agieren war darüber hinaus gekennzeichnet, drittes Charakteristikum, durch die Arbeitsweise mit einer vergleichsweise kleinen Abteilung, die sehr stark auf bedarfsgerechte Hilfe durch Agenturen als „verlängerte Werkbänke“ setzte. Das führte zu einem relativ hohen Prozentsatz an Kontakten mit Counsels, Beratern, Agenturen: 6,3 Prozent der absoluten Kontaktzeit im Vergleich zu 3,7 Prozent im Durchschnitt, 21,4 Prozent der externen Kontaktzeit im Vergleich zu 13,2 Prozent im Durchschnitt (vgl. Abb. 91). Dass Manager D mit 19,6 Prozent der absoluten und 27,8 Prozent der relativen Kontaktzeit (vgl. Abb. 90) überdurchschnittlich viel Zeit in Kommunikation mit seinem vorgesetzten Geschäftsführer verbrachte (der durchschnittliche Wert lag bei 9,2 respektive 12,9 Prozent), stellt eine Verzerrung dar: In der Beobachtungswoche hatte der Geschäftsführer entschieden, das Unternehmen zu verlassen. Manager E: Ausreißer Manager E stellt im Rahmen der Studie einen Ausreißer dar, weil der Autor ihn nur drei Tage beobachtete (geplant gewesen waren vier Tage, aber am vierten Tag war der Kandidat erkrankt). Auch wusste der Manager während der Beobachtungswoche mutmaßlich bereits, dass er das Unternehmen in absehbarer Zeit verlassen würde: Insofern erklärt es sich, dass Manager E während der Beobachtungswoche sehr viel Zeit auf das journalistische Feld, das Feld der professional community und das Top-Management-Feld verwandte. Er traf sich lange mit einer Journalistin und mit einem Agenturchef zum Mittagessen, telefonierte viel mit einem ehemaligen Vorgesetzten, arrangierte ein Abendessen mit ihm. Da der Autor erst retrospektiv, einige Monate später, von dem Wechsel erfuhr (die Beobachtung fand im Februar statt, die neue Stelle trat Manager E im Oktober an), wurde die Beobachtung planmäßig durchgeführt. Die Daten sind aber nicht mit den Daten der sieben anderen Kandidaten zu vergleichen. Das ist bedauerlich, weil Manager E einen völlig anderen Typus von Manager verkörperte, sich selbst weniger der PR-, mehr der Werbewelt zurechnete. Manager E agierte mit sehr starker Fokussierung auf die Marke des Unternehmens, hob weniger auf Themen, mehr auf Life-Style-Strömungen ab. Manager E zeigte auch als einziger Kandidat neben Manager G ein Sitzungsverhalten gegenüber Mitarbeitern, dass der Autor als „Challenging“ oder „Verstören“ apostrophiert. Bei Manager G geschah das unsystematisch, mal bezüglich des einen oder anderen Aspekts – bei Manager E geschah es konsequent, systematisch, wieder und wieder mit der einen Frage: „Wie zahlt das auf unsere Marke ein?“ Managerin F: Direktorin Unternehmenskommunikation mit „Chefsachen“ als Projekten Managerin F gehörte formal dem Direktionszirkel in ihrer Organisation an und führte offiziell den Titel einer Direktorin Unternehmenskommunikation. Das Unternehmen, für das sie arbeitete, war vom Umsatz her das viertgrößte. Der subjektive, in der Beobachtungsstudie entstandene Eindruck war jedoch der, dass Managerin Fs Arbeitstag sehr viel größere Ähnlichkeit mit dem Arbeitstag von Manager A, dem Senior Media Manager, hatte. Die Daten stützen das: Mit 29,3 Prozent MEET-Sessions lag F, genau wie A, unter dem Durchschnitt von 35,7 Prozent, mit 52,7 Prozent DESK-Sessions lag sie über dem Durchschnitt von 43,0 Prozent (vgl. Abb. 74): wie Manager A arbeitete Managerin F also eher vom Schreibtisch aus, weniger im Konferenzraum.
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Während der Arbeitstag von der Form her Ähnlichkeiten mit dem von Manager A aufwies, gestaltete er sich vom Inhalt her völlig anders: Managerin F definierte ihren Job im Interview ähnlich wie Managerin B im Spannungsfeld zwischen innen und außen, zwischen Management zweiter und dritter Ordnung. Ich bin verantwortlich dafür, dass alle Mitarbeiter mit einer Stimme nach draußen kommunizieren. Und nach innen für die Motivation der Mitarbeiter durch richtige Information zur richtigen Zeit am richtigen Ort, damit sie verstehen, warum der Konzern so agiert, wie er es tut.
Formal ähnelte die Arbeit also der von Manager A, inhaltlich der von Managerin B. Der große Unterschied zwischen Manager A und Managerin B auf der einen, der Managerin F auf der anderen Seite lag in der Tatsache, dass F das operative Handling der Presse- und Medienarbeit völlig an ihre Stellvertreterin abgegeben hatte. Im Verlauf der Beobachtungswoche hatte Managerin F keine Kontakte (0,0 Prozent) mit Medien (vgl. Abb. 91), und auch ansonsten gab es kaum einmal Angelegenheiten (vgl. Abb. 95), die sie direkt und beobachtbar handelte (0,5 Prozent). Die Funktionen, die sie überdurchschnittlich häufig wahrnahm, waren Planung (23,0 Prozent im Vergleich mit durchschnittlich 12,9 Prozent) und Liaison (12,7 Prozent im Vergleich mit 6,6 Prozent). Wie bereits angerissen hatte Managerin F einige Projekte als „Chefsache“ an sich genommen und verbrachte vergleichsweise viel Zeit damit, ihre Projekte zu managen (nicht zu „handeln“): hinsichtlich eines Kinderkrankenhauses in Kalkutta sah sie Pläne durch, sie beauftragte ein Kostüm für die Teilnahme an einem historischen Festzug, sie hielt den Kontakt zu Dienstleistern aufrecht, die die Gärten gestalteten. Mit 10,6 Prozent der Aktivität DRAFTING/PLANNING, also tatsächlichem „Pläne schreiben“, relativ zu ihrer Schreib- und Lesearbeit, lag sie über dem Durchschnitt von 4,7 Prozent (vgl. Abb. 81). Zwar summiert sich die Aktivität „nur“ zu 51 Minuten auf, aber Manager C oder Manager G, im Vergleich, widmeten derselben Aktivität nicht eine einzelne Minute. Ein wichtiges Charakteristikum des Stils von Managerin F verzerrt die Daten etwas: dass Managerin F sehr eng mit einem persönlichen Berater zusammenarbeitete und ihn auch bei internen und externen Verhandlungen hinzuzog bzw. ihm sogar das Argumentieren überließ. Die aussagekräftigste Zahl zu Managerin F ist die bereits erwähnte, dass sie 65,9 Prozent ihrer externen Kontaktzeit mit ihrem Berater in Kontakt, zu 16,1 Prozent in gemischten Kontakten stand (vgl. Abb. 91), also etwa mit externen Projektpartnern und ihrem Berater gleichzeitig die weitere Vorgehensweise erörterte. Manager G: Direktor Unternehmenskommunikation: Zuhören, Fragen, Verstören Manager G, der älteste und erfahrenste der beobachteten Manager, bezeichnete sich selbst als „corporate animal“, als ein Wesen, das sich in Konzernen zu bewegen versteht und dort etwas zu bewegen versteht. Subjektiv entstand dem Autor der Eindruck, dass Manager G der Kandidat war, der am meisten Zeit für das Management Game aufwandte, und die Daten stützen das. Schlussfolgerungen sind aber mit Vorsicht zu genießen, da Manager G die einzige Person war, die zum Zeitpunkt der Beobachtung noch nicht auf eine langjährige Karriere in diesem Unternehmen zurückblickte. Die Präferenz für Verbales, welche Mintzberg bei CEOs diagnostiziert, war bei Manager G am stärksten ausgeprägt: Er verbrachte 82,1 Prozent seiner Zeit in direkter, synchronischer Kommunikation (vgl. Abb. 78), hatte mit 59,6 Prozent auch den höchsten Anteil an MEET-Sessions, den geringsten an DESK-Sessions (vgl. Abb. 74). Mit 82,6 Prozent Kon-
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
takten nach innen, der Durchschnitt lag bei 72,7 Prozent (vgl. Abb. 88), wandte Manager G auch überdurchschnittlich viel Zeit für organisationsinterne Kontakte auf. Die Daten werden erklärlich, wenn man Manager Gs Arbeitsweise mit der von Managerin F vergleicht, die ja einige Projekte für sich selbst als „Chefsache“ reserviert hatte. Das war, soweit es der Autor überblickt, bei Manager G nicht der Fall. Zwar ‚handelte’ er Gespräche mit Journalisten, aber das Management fester, eigener Projekte nahm er nicht auf. Wie unter 2. noch ausgearbeitet wird, bestand die verbale Arbeitsweise des Managers G aus einer Aneinanderreihung von Meetings, in welchen er sich über die diversen „Baustellen“ informieren ließ, die seine Abteilung derzeit bearbeitete. Dabei bevorzugte er die Konstellation, über ein konkretes Projekt zu sprechen, wobei gewöhnlich der übergeordnete Abteilungsleiter und der operativ verantwortliche Mitarbeiter zugegen waren. Die Meetings kamen oft spontan zustande. Manager G hatte mit Abstand den höchsten Anteil an Ad-hocMeetings: 18,6 Prozent der absoluten beobachteten Zeit, 436 Minuten, verbrachte er in 33 derartiger Meetings, während der Durchschnitt der Manager bei 7,7 Prozent lag (vgl. Abb. 83). In Meetings behielt es sich Manager G vor, nach Belieben „auf Details zu springen“, was die Präferenz für die Meetingkonstellation erklärt und unter 2. noch erläutert wird. Der Managementstil, das sei vorweggenommen, hatte durchaus verstörende Wirkung auf die Mitarbeiter, ähnelte sehr stark dem ‚Challenging’ des Managers E. Die Herangehensweise fügt sich nahtlos in das Selbstverständnis des Managers, der im Interview „die Kraft von Null her zu denken, das Unmögliche zu denken, Originalität“ als eine der wesentlichen Eigenschaften identifizierte, die ihn in seiner Karriere begünstigt habe. Manager H: Der Botschafter der Marke Manager H charakterisierte der Autor als denjenigen, der den am stärksten zurückgetretenen, direktiven oder „dirigierenden“ Managementstil pflegte. Das spiegelt sich zunächst einmal nicht in der Datensituation, bei sorgfältiger Betrachtung tritt es aber hervor. Zwar liegt Manager H mit 5,2 Prozent DIRECTING (vgl. Abb. 95) lediglich etwas über dem Durchschnitt (4,1 Prozent). Darüber hinaus gilt es aber zu sehen, dass Manager H nicht sehr viel anderes im Management erster Ordnung tat, als direktiv zu agieren. Er überwachte nicht sehr viel (SUPERVISING bei 1,5 Prozent) und er führte auch nicht sehr viel direkt und unmittelbar (LEADING bei 1,1 Prozent). Abbildung 95 zeigt, dass Manager H mit 17,2 Prozent nach Manager A am zweitwenigsten Zeit aufwandte, um seine Abteilung zu gestalten, entwickeln und lenken (das zeigt sich z. B. auch in einem unterdurchschnittlichen Wert bei CHECK/EDIT). Das steht im Kontrast zu Manager G, der zwar noch etwas mehr direktiv agierte (8,7 Prozent), aber beinahe genauso viel überwachte und führte – so dass er mit 34,5 Prozent bei doppelt so viel Zeit für das Management erster Ordnung angelangt. Die Herangehensweise Manager Hs ähnelte der Art und Weise, wie Managerin F agierte. Manager H gestand seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr viel Autonomie zu, überwachte sehr wenig, griff in der Beobachtungswoche kaum einmal führend ein (es gab zwei Führungsepisoden, die insgesamt 35 Minuten in Anspruch nahmen). Seine eigene Aufgabe im Unternehmen, einem weltweit agierenden DAX-30-Konzern, vorrangig im B-to-B-Bereich tätig, definierte Manager H folgendermaßen: Ja, ich fühle mich für diese Dialogkultur des Unternehmens verantwortlich. Wie pflegen wir Dialog mit unseren Stakeholdern? Und das sage ich nicht nur, weil’s schön klingt. Denn uns geht es nicht nur darum, Botschaften zu senden. Sondern auch mit den Stakeholdern, die uns helfen, in Kontakt zu treten und von ihnen zu lernen. Beispiel Kunden: Heutzutage entstehen in unserer Industrie Innovationen fast nur noch in
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enger Zusammenarbeit mit Kunden. Das beginnt schon in einer sehr frühen Entwicklungsphase. Aufgabe der Kommunikation ist es, das Unternehmen als interessanten Partner für Kunden und andere Stakeholder wie Bewerber, Mitarbeiter, Lieferanten, Investoren und andere darzustellen. Denn mit ihnen gemeinsam verändern wir unsere Welt und gestalten Zukunft. Dialog mit unseren Zielgruppen kann anlässlich einer Veranstaltung geschehen, durch Interviews betrieben werden, Veröffentlichungen aller Art, Internet und vieles mehr. Sogar Corporate Design und vor allem die Unternehmensmarke tragen dazu bei. Wie auch immer. Der partnerschaftliche Ansatz, dieser Dialogstil – der ist uns sehr wichtig.
Manager H begriff seinen Job also, der eigenen Angabe nach, überhaupt nicht mehr in Kategorien wie Pressesprecher oder nicht, innen oder außen. Dass Manager H in der Definition seines eigenen Jobs Presse- und Medienarbeit nicht erwähnte, heißt nicht, dass das Unternehmen die Media Relations vernachlässigte. Das Unternehmen betreibt eine ausgezeichnete Presse- und Medienarbeit, die zu der Zeit in der Hand eines Abteilungsleiters, eines erfahrenen ehemaligen Journalisten lag. Im Fokus der Studie stand jedoch der oberste Kommunikationsverantwortliche, der Direktor Unternehmenskommunikation – und der agierte nach eigenen Angaben, und auch nach Ansicht des Autors, bereits auf einer anderen Ebene. Manager H, als Person in Raum und Zeit, arbeitete vor allem auf der Ebene des Managements zweiter und dritter Ordnung. Er selbst, persönlich, gestaltete, entwickelte und lenkte in hohem Maße die „Dialogkultur“ des Unternehmens, er selbst gestaltete, entwickelte und lenkte „seine“ Beziehungen zu Stakeholdern, damit und darüber die des Unternehmens. Das spiegelt sich auch, zumindest der Tendenz nach, in den Daten: Manager H (vgl. Abb. 88) hatte mit 68,3 Prozent vergleichsweise weniger Kontakt nach innen als der Durchschnitt (72,7 Prozent). Er nahm in der Beobachtungswoche aber sehr viele Repräsentations-, Networking-und Socializing-Funktionen wahr (vgl. Abb. 95). Er interagierte extern überdurchschnittlich viel mit Kunden, Kooperationspartnern und in gemischten Settings (vgl. Abb. 91): Mit 44,4 Prozent bei gemischten Settings liegt er weit jenseits des Durchschnitts von 14,9 Prozent. Ihn deshalb in die Rolle des Stewards zu drängen, der wichtige Kunden oder andere Entscheider „pampert“, ist jedoch fehlgeleitet: Manager H legte den Schwerpunkt seiner eigenen Arbeit auf kulturelle Einflussnahme durch persönliche Wirkung – und das konnte er tun, weil er über eine Abteilung von über sechzig Personen verfügte, die er mit einem Drittel des Zeitaufwandes (relativ und absolut) führte, die Manager G dafür verwandte (Supervising, Directing, Leading zusammengerechnet). Der Autor betont aber nochmals, dass es sich um „Schnappschüsse“ aus einer Woche handelt – und dass es nicht um richtig und falsch geht, sondern um unterschiedliche Stile, unterschiedliche Jobs. Die wohlgeformte Konstellation Die Darstellungen warfen bereits Schlaglichter auf die Managementprobleme, welchen sich die Manager in der Konstellation Person-in-Practice-in-Organization gegenübersahen, weil sie in einer komplexen, koordinationskritischen Arbeitsteiligkeit von Spezialisten und Experten agieren – und dort nicht „irgendwie“, sondern in managerieller Art und Weise. Die Managementprobleme erwachsen abstrakt aus der resultatsorientierten Koordination von Arbeitsteilung in organisierter Komplexität, aus den Dimensionen Macht, Verantwortung und Einfluss, Kontrolle, Strategie, Wandel/Erstarrung und Systematik, die unter C.III.3.5 dargestellt wurden. Sie werden bereits präjudiziert durch die Managementlogik und den Managementhabitus, die heutzutage, behauptet der Autor, auf jeden wirken, der in einer großen spätmodernen Organisation im Management Game agiert (D.III) – wenn auch, im Minimalfall, nur über „catchwords“ und „buzzwords“ wie „Empowerment“, Strategie,
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
systemisches Denken etc. Die Managementprobleme nehmen dann aber, wo es um eine Person und ihren Job geht, konkret die Gestalt spezifischer Probleme an. Die Arbeit diskutiert das abschließend genauer (5.), wenn die Darstellung der Jobs der Manager durch die Darstellung einiger Rollen angereichert wurde (2.), Fragmentiertheit und Integriertheit und Tasks (3.) angesprochen, das Konzept des Jobframing (4.) ausgearbeitet wurde. 2. Rollen Das Rollenkonzept, welches der Autor im Verlauf der Arbeit nach und nach entwickelte, ist ein gemäßigtes, welches zwischen sehr stark subjektiviert-psychologischen und sehr stark objektivierten „Rollenetiketten“ steht (vgl. D.III.2.3, vgl. auch B.I.2.2). Als Form verstanden stellen Rollen die Möglichkeit bereit, in der Organisation zu handeln, ohne sich als Person in toto einzubringen: Man versteht sich selbst als Rollenträger und sieht sich als Rollenträger verstanden, man lässt die eigene Person hinter der Rolle zurücktreten, man ist, wie es häufig heißt, „leidenschaftslos“. Als Inhalt verstanden sind Rollen den Parts vergleichbar, die ein Schauspieler spielt: Führungskräfte „geben“ den dynamischen Manager genauso wie ein Schauspieler den Hamlet, einerseits individuell, andererseits generisch mit „Wiedererkennungswert“. Der Autor behauptet jedoch nicht, dass Menschen oder Führungskräfte jederzeit und immer in Rollen agieren. Unter oder hinter den Rollen liegt die Person, auf die andere, durch die Rolle hindurch schließen, die dann Identität gewährleistet, wenn wir gerade nicht identifizierbar eine Rolle „spielen“ – oder, um den Aspekt der Bewusstheit etwas abzuschwächen, vor- oder unbewusst in eine Rolle verfallen. a) Management erster Ordnung: „Führungsrollen“ Als Management erster Ordnung wurde Management definiert, welches „inside“ stattfindet, also in der Einheit des Managers, „seiner“ Abteilung etwa, gegenüber untergebenen Personen. Die Basis des Managements erster Ordnung ist formale Autorität. Von der Funktion her ist Management erster Ordnung nichts anderes als Organizing (einschließlich Staffing, Budgeting), Leading, Directing und Supervising. Der Manager gestaltet, entwickelt und lenkt einen „Apparat“, der ihm hilft, seine „eigentliche“ Funktion in der Organisation zu erfüllen. Die Konflikte, welche sich im Management erster Ordnung ergeben, resultieren primär aus dem Vorgesetzter-Untergebener-Verhältnis, sind also Probleme der Führung, wie sie jeder Führungskraft erwachsen (vgl. auch C.II.1). Etwas anders analysiert ist das Vorgesetzter-Untergebener-Verhältnis nichts anderes als die Spannung zwischen Funktion und Lebenswelt: Die Führungskraft möchte einerseits ihre eigene Funktion in der Organisation erfüllen. Sie sieht sich oftmals gezwungen, ihre Mitarbeiter zu belasten, um die Ergebnisse zu erzielen, die sie anstrebt. Andererseits möchte sie „als Mensch“ anerkannt, wenn nicht sogar gemocht werden. Im Top-Management und Kommunikationsmanagement, wo untergebene Mitarbeiter wiederum mittlere Manager sind und wo „harte“ Parameter der Performanz oft fehlen, verlagert sich das Problem noch etwas: Da die mittleren Manager knowledge worker sind und ihre Performance sehr schwer zu kontrollieren ist, ist der oberste Kommunikationsverantwortliche darauf angewiesen, ein „Leistungsklima“ zu gewährleisten, in welchem knowledge worker eigenmotiviert Höchstleistungen zu verwirklichen suchen. Ebenjene Atmosphäre der Leistungsbereitschaft ist jedoch wesentlich bestimmt von der Person der Führungskraft und ihrer Autorität, wie die Mitarbeiter sie, auch vermittels
IV. Jobs, Tasks und Rollen
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Rollen oder durch Rollen hindurch, wahrnehmen.162 Das Problem der Führungskraft im Management der ersten Ordnung ist also vereinfacht gesagt, den Konflikt zwischen sozialem und funktionalem Standing aufzulösen. Das geschieht, wie der Autor glaubt, in vielen Fällen durch das bewusste Agieren in bestimmten Rollen – die dann nach und nach internalisiert werden, vor- und unterbewusst „gespielt“ werden. Einige Beispiele werden vergegenwärtigen, was der Autor mit derartigen „Führungsrollen“ meint, welche Konflikte aufgelöst werden und warum. Die Rede von „Führungsrollen“ gestattet es, zu der Analyse der Funktionen unter III. zurückzukehren, um nochmals den engen Begriff des Leaderships des Autors zu explizieren, der ja neben Direktion und Supervision steht, die Konzepte nicht integriert. Der enge Führungsbegriff des Autors hat den militärischen Begriff der Führung durch Vorbild zum Modell: Führung bedeutet, dass etwa der Offizier eine ins Stocken geratene Angriffsbewegung durch persönliches Exempel, durch Vorangehen, wieder in Gang bringt. In der Analogie bedeutete Führung für den Autor, dass es zu Episoden kam, in welchen die Führungskraft konkret und spezifisch Probleme aus dem Weg räumte, womit nicht selten einherging, dass der Rahmen des gewöhnlichen Miteinanders verlassen wurde; es wurde also deutlich – manchmal, aber nicht notwendig, wurde es auch laut. Das geschah, die Daten zeigen es, vergleichsweise selten. Im Durchschnitt machte „Führung“ nur 1,8 Prozent der gesamten beobachteten Zeit aus (vgl. Abb. 95). Bei Manager D gab es mit 7,1 Prozent, bei Manager G gab es mit 5,6 Prozent aber einige aufschlussreiche Führungsepisoden zu beobachten. Manager G: Pochen auf sauberes Handwerk, Springen auf Details Auf den Komplex des persönlichen Führungsstils angesprochen, antwortete Manager G im Interview: Meine Idee ist: Dass man nicht irgendwelchen Moden oder Management-by-Methoden folgen sollte. Sondern, dass jede Führungskraft einen Führungsstil leben muss, der der Person entspricht. Das Schlüsselwort ist Authentizität. Wenn man natürlich, so wie ich, einen ziemlich robusten Führungsstil hat – nun, dann muss man lernen, einen guten Umgang mit den Mitarbeitern zu pflegen. Oder sagen wir: einen diplomatischeren Umgang. Wenn jemand von Natur aus schon sehr diplomatisch veranlagt ist, der muss vielleicht etwas mehr Führungsstärke entwickeln. Also, der Einzelne muss sich um einen korrekten Umgang bemühen, aber er sollte sich niemals verbiegen.
Der Wert von 5,6 Prozent, der 144 Minuten entspricht, deutet an, dass der Autor im Rahmen der Beobachtung Gelegenheit hatte, den „robusten Führungsstil“ live zu verfolgen. Der entstandene Eindruck ist tatsächlich der, dass Manager G im Vergleich der Manager die direkteste und unumwundenste Art und Weise entwickelt hatte, die Dinge „wieder in Gang“ zu bringen. In einer Episode beschäftigte man sich in kleiner Runde und in Anwesenheit der unmittelbar verantwortlichen Mitarbeiterin (Teamleiterin) sowie der mittelbar verantwortlichen Mitarbeiterin (Abteilungsleiterin) mit der Qualität einer Publikation. An einem Punkt ergriff Manager G das in Frage stehende Heft, blätterte, las hier und da einen Artikel, blätterte weiter. Dabei kommentierte er, dass dieses oder jenes nicht gut, nicht gut gemacht sei. Er sah sich den Druck genau an, fuhr mit dem Finger über das Papier und bemerkte: 162
Ohne das Thema über Gebühr auszubreiten, da es sich um ein uferloses handelt, möchte der Autor in einer Nebenbemerkung festhalten, dass die Analyse herausragender Führungspersönlichkeiten immer wieder zeigt, dass Loyalität etwas anderes ist als „gemocht“ zu werden und dass die „menschlich angenehme“ Führungskraft nicht immer diejenige ist, welcher die höchste Loyalität entgegengebracht wird: Winston Churchill, über den der Autor einiges zu wissen in Anspruch nimmt, war mit Sicherheit keine angenehme Person, verstand es aber immer, höchst fähige Personen in unverbrüchlicher Treue an sich zu binden.
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
„das ist nicht sauber“, „das ist nicht sauberes Handwerk“. Von Zeit zu Zeit las er kurze Passagen vor, kritisierte Wortwahl und Satzbau – und stellte fest, dass der Artikel nicht gut geschrieben sei. Für den Autor schlüsselte die Episode die Konzepte der Rollenauthentizität sowie Aspekte des Managementstils von Manager G auf. Um das zu verstehen, ist es erforderlich, den Kontext der Episode heranzuziehen und Quervergleiche mit anderen Managern herzustellen. Zunächst ist es von großer Bedeutung, dass sowohl die unmittelbar als auch die mittelbar verantwortliche Person zugegen waren, und dass Manager G derartig auf Detailebene argumentierte. Prima facie sieht es aus, als hätte Manager G in einem Rundumschlag sowohl die Abteilungsleiterin übergangen als auch die Teamleiterin „niedergemacht“. Es sind jedoch drei Punkte zu berücksichtigen. Erstens ist der Kontext der Episode heranzuziehen. Die Teamleiterin hatte Ambitionen gezeigt, sich aus der Führung durch die Abteilungsleiterin, die neu im Unternehmen war, herauszuwinden; sie betrachtete ihr Team als eine eigenständige Einheit. Das Setting, das zeigte auch das Arrangement der Personen im Konferenzraum, diente demnach dazu, die Teamleiterin „zurechtzustutzen“. Unabhängig davon, zweitens und drittens, ist die Art und Weise des „Zurechtstutzens“, ist der dadurch verwirklichte Managementstil ins Kalkül zu ziehen. Der Autor vermutet, dass etwa Manager H, der einen völlig anderen Führungsstil pflegte, sich niemals mit Details wie Wortwahl, Satzbau oder Druckqualität auseinandergesetzt hätte. Der Autor vermutet ferner, dass konventionelle ‚management wisdom’ die Vorgehensweise von Manager G als „falsch“, die zurückgetretene von H als „richtig“ etikettiert. Der Autor möchte derartig simplen Verdikten eine differenziertere Perspektive entgegensetzen. Sie sind zu qualifizieren, weil entscheidend nicht nur ist, was Führungskräfte tun, sondern aus welcher Rolle heraus sie es tun – und inwiefern der Mitarbeiter die „gespielte“ Rolle als authentisch perzipiert. Die Rolle, welche Manager G spielte, knüpfte an das Bild eines rumpelnden, aber ehrlichen Handwerksmeisters an: ein Meister, der den Lehrling vielleicht manchmal etwas grob anfasst, der es aber gut mit ihm meint, zuvorderst und allererst aber an „guter“, „sauberer“ Arbeit interessiert ist. Die Art und Weise, wie Manager G die Publikation kommentierte, war nicht verächtlich und herablassend, sondern verärgert und besorgt. Die Kommentare stammten nicht von einem hochbezahlten Top-Manager, sondern von einem Mann, der das Medienhandwerk „von der Pike auf“ gelernt hatte. Die Rolle, welche Manager G spielte, behauptet der Autor, war in ihrer Robustheit stimmig oder, um Manager Gs eigene Worte zu gebrauchen, authentisch – sie knüpfte an seine Biographie an. Abgelöst von der geschilderten Geschichte ist festzuhalten, dass die Rolle des rumpelnden Meisters, der um sauberes Handwerk bemüht ist, Manager G Freiraum gab, seinen persönlichen Managementstil zu verfolgen. In anderen Episoden zeigte sich wieder und wieder, dass es die Managementmethode von Manager G war, in unberechenbarer Art und Weise „auf Details zu springen“. Schon bei der ersten Begegnung mit dem Autor erläuterte Manager G, dass er gerade einen Text von einer Agentur bekommen habe, der schlecht geschrieben gewesen sei – also habe er sich kurzerhand entschlossen, den Text eigenhändig neu zu verfassen. Es versteht sich von selbst, dass ein derartiger Stil für Mitarbeiter und Dienstleister belastend ist: Der Chef bringt die Dinge durcheinander. Für die Führungskraft hat dieser Stil, wie jeder andere Stil auch, Vor- und Nachteile. Der Nachteil ist, dass er ungeheure Kraft kostet, Zeit raubt, Nerven verschleißt. Der Vorteil ist, dass die Führungskraft nicht den Kontakt mit der Basis verliert, und dass die ständig gegenwärtige Drohung, ins Detail zu gehen, Genauigkeit und Sorgfalt sicherstellt: eben sauberes Handwerk. Der
IV. Jobs, Tasks und Rollen
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Autor möchte Pro und Contra gar nicht erörtern – ihm geht es darum, dass der Stil in Verbindung mit bestimmten Rollen stimmig ist, in Verbindung mit anderen nicht. Manager G kam mit seinem unberechenbaren In-die-Hand-Nehmen durch, weil die Mitarbeiter, soweit der Autor das zu beurteilen vermag, die Rolle akzeptierten. Sie akzeptierten, dass der Chef eben gelegentlich ein rumpelnder Handwerksmeister in Anzug und Krawatte ist, der das klare, einfache Wort liebt. Bei einer anderen Person mit einem anderen Rollenset – etwa einem „aalglatten“, „geschniegelten“ Jungmanager – hätte man das plötzliche In-die-HandNehmen wohl als „Vertrauensbruch“, den Managementstil als „Verzetteln“, das Verhalten als erratisch, die „Robustheit“ als verächtlich empfunden. Manager G sah das alles selbst klar und deutlich und antwortete im Interview auf die Frage, was mit seinem „robusten“ Führungsstil gemeint sei: Ja. Ich benenne die Dinge, wie sie sind. Ich gehe sehr gerne direkt auf die Leute zu. Ohne Umschweife. Und jemand, der ein bisschen zart besaitet ist, für den ist das manchmal ein bisschen… problematisch.
Manager D: Unter Vollgas „Ich will eigentlich nur Leute haben, die hochintelligent sind, die unglaublich dynamisch sind, und die unter Vollgas arbeiten. Denn die machen mir meinen Job leichter“, formulierte Manager D seine Programmatik bei der Personalauswahl – und gab damit bereits erste Hinweise darauf, wie sein Agieren in „Führungsrollen“ ausgestaltet war. „Unter Vollgas“ ist das Rollenelement, mit welchem Manager D Konfliktsituationen zwischen funktional und sozial auflöste. Was das heißt, trat in einer Führungsepisode hervor, die sich gut mit dem militärischen Führungsbegriff veranschaulichen lässt. Da der Geschäftsführer in der Beobachtungswoche entschieden hatte, das Unternehmen zu verlassen, war es Aufgabe der Abteilung „Corporate Affairs“, diese Personalinformation den Mitarbeitern des Hauses zu kommunizieren und eine Pressemitteilung herauszugeben. Das geschah, da Journalisten den Wechsel bereits in Erfahrung gebracht hatten, unter Zeitdruck. Als gegen Abend die Information per E-Mail versandt werden sollte, kam es zu einem technischen Problem: Plötzlich brach das unternehmensinterne Intranet zusammen, die Internetverbindung riss ab, es konnten weder intern noch extern E-Mails versandt werden. Zu diesem Zeitpunkt war das gesamte Personal der Abteilung im Großraumbüro versammelt und es war spürbar, wie mit einem Mal alles stockte. Für einen Augenblick breitete sich eine milde Bestürzung aus, es stand die Entscheidung im Raum, den Versand auf morgen zu vertagen, einen Fehlschlag aufgrund technischen Versagens zu akzeptieren. Da stellte Manager D klar, dass die Information heute noch „herausgehen“ würde – egal wie, egal wann. Er wies einen Mitarbeiter an, den technischen Support anzurufen, notfalls auf dem Mobiltelefon, zu Hause, wie auch immer. Dann kehrte er in sein Büro zurück. Einige wenige Minuten später gab man ihm Bescheid, dass die E-Mail versandt worden sei. Die Episode zeigt in ihrer Milde, wie vergleichsweise reibungslos die Abläufe im Gesichtsfeld des obersten Kommunikationsverantwortlichen abliefen: Den größten „Ärger“ hatten Managerin B sowie Manager C und G mit ihren Sekretärinnen respektive persönlichen Assistentinnen, Manager D darüber hinaus, in einer anderen Episode, mit Agenturen. Mit der „klassischen“ Führungssituation des militärischen Führers, der durch persönliches Vorangehen einen zum Erliegen gekommenen Angriff wieder in Gang bringt, hat das von der Dramatik her kaum etwas gemein. Die Episode verdeutlicht aber, dass die Rolle der Führungskraft, ihre exekutive Funktion, dann klar und deutlich hervortritt, wenn unvorhergesehene Dinge den Ablauf durcheinanderbringen, wenn es eine „bequeme“ und eine „un-
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bequeme“ Alternative gibt. Es steht außer Zweifel, dass die von Manager D in der Situation agierte Rolle des „Antreibers“ sich nahtlos in die Inszenierung seiner Person fügte: „Vollgas“ war die Devise und die Episode bestätigte sie. b) Management zweiter Ordnung: Macht und Einfluss Management zweiter Ordnung findet „within“ statt, also nicht in der Einheit, welche die Führungskraft formal verantwortet, aber in der Organisation. Management zweiter Ordnung heißt, wie ausgearbeitet wurde, dass Führungskräfte auf die Arbeit anderer Führungskräfte einwirken, das Management anderer managen. Die Basis des Managements zweiter Ordnung ist der Rekurs auf das gemeinsame, übergeordnete Ziel, der Rekurs auf die formale Autorität eines geteilten, übergeordneten Vorgesetzten. Second-Order-Management ist nicht gleichzusetzen mit Intrigen, Hackordnungskämpfen und Mikropolitik. Oft geschieht Second-Order-Management im wechselseitigen Einvernehmen im Rahmen gemeinsamer Planung, gemeinsamer Koordinierung. Manchmal merkt der „gemanagte“ Teil gar nicht, dass dieser oder jene Beschluss von besonderer Bedeutung im unternehmenspolitischen Spiel „Kommunikation“ ist. Das führt zurück zu den Überlegungen aus A, dass Kommunikationsmanagement gelegentlich geschieht, ohne dass die „gemanagten“ Personen das bemerken; manchmal steigen jedoch andere Führungskräfte in das Kommunikationsmanagement ein, es findet ein Diskurs über die Kommunikationsstrategie etc. statt. Die Herausforderung, welche durch geeignete Rollen aufzulösen ist, besteht im Umgang mit Macht einerseits, Einfluss andererseits. Unter Machtausübung versteht der Autor dabei, dass der Akteur seinen eigenen Willen durch Belohnung oder Bestrafung durchsetzt; unter Einfluss versteht der Autor, dass der Akteur die Entscheidungen anderer gemäß seinem eigenen Willen beeinflusst (vgl. A.I.1). Obwohl der Unterschied analytisch klar und eindeutig ist, tritt er in der Praxis erst in der Inszenierung hervor: Eine Machtausübung „hinter den Kulissen“ lässt sich auf der „Vorderbühne“ in einer Art und Weise inszenieren, dass andere sie als Einflussnahme wahrnehmen, oder gar die Einflussnahme höchstens erahnen. An ebenjener Stelle gelangen Rollen ins Blickfeld, tritt die Frage hervor, wie die beobachteten Manager Macht ausübten, wie sie Einfluss nahmen. Dass die Unterscheidung von Macht und Einfluss von großer Bedeutung ist, zeigt sich, wenn man das Management Game systemisch als ein multistabiles Gleichgewicht begreift, wie das unter D.III.1 geschah: Das heißt, dass bei der Akkumulation von Macht eines Akteurs Effekte auftreten, die einer Dominanz entgegenwirken. Zwar findet mit Blick auf Einfluss ein ähnliches Gleichgewichtsspiel statt, es handelt sich aber, wie der Autor meint, um ein sehr viel diffuseres und vageres: Man gestattet einem Akteur eher, dass er bei vielen Entscheidungen mitredet, als dass er „das letzte Wort“ hat. Und ein dritter Zusammenhang ist zu berücksichtigen: dass in der Verschränkung von Macht- und Einflussgleichgewichten mehr Macht nicht immer zu mehr Einfluss führt, sondern unter Umständen zu weniger. Schließt sich ein Akteur einer mächtigen Koalition in der Organisation an, steigert er seine Macht – er verliert aber unter Umständen Einfluss auf Bereiche, die im anderen Lager stehen. Akteure dort können ihm gar nicht mehr Einfluss gestatten, da er einer anderen Fraktion angehört. Ein neutraler Akteur, der sich nicht für eine Partei entscheidet, mag über keine starke Machtbasis verfügen, genießt aber womöglich Einfluss bei vielen. Für Kommunikationsmanager, die, wie der Autor herausgearbeitet hat, selten ein klares Bild davon haben, welche Entscheidungen für sie wichtig sein werden, stellt sich also die Frage, ob sie ihr
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Standing in der Organisation auf ein Machtfundament stellen oder ein Einflussnetz entwickeln. Prophet Die für den Autor aufschlussreichste Episode des Second-Order-Managements, der wichtigste „rich point“, wurde bereits an anderer Stelle geschildert. Manager H wandte nahezu einen ganzen Arbeitstag auf, wiederholte auf einer Begrüßungsveranstaltung für new entrants in das Unternehmen siebenmal den gleichen Vortrag, legte die Markenphilosophie des Unternehmens dar, erläuterte die Markenwerte. Der Autor nahm natürlich an den Vorträgen teil und erhielt, da der Vortrag mehrfach stattfand, ein recht gesichertes Bild davon, welche Wirkung Manager H nicht nur zufällig in der Dynamik der sozialen Situation erzielte, sondern welche er jedes Mal erzielen wollte. Dass Manager H hinterher dem Autor gegenüber kommentierte, er habe heute seinen Job gemacht („eigentlicher Job“), wurde bereits erwähnt. Die Rolle, welche Manager H im Rahmen seiner Vorträge agierte, etikettiert der Autor als „Propheten“-Rolle, wobei Manager H als ein „leiser Prophet“ zu apostrophieren ist. Die Rolle des Propheten ist abzugrenzen von der verwandten Rolle des „Guru“. Die ProphetenRolle steht darüber hinaus in Gefahr abzugleiten in die Rolle des „Zeloten“ oder „Fanatikers“ einerseits, des „Spinner“ andererseits. Wenn Manager H als leiser Prophet auftrat, heißt das, dass die Vorträge in stillen, manchmal nachdenklichen Tönen, mit sehr viel gesundem Menschenverstand gehalten waren, dass es Manager H aber sehr darum ging zu vermitteln, dass ihm die Markenphilosophie und die Werte des Unternehmens „am Herzen liegen“ (eine Formulierung, die er wieder und wieder gebrauchte). Manager H trat als „true believer“ auf, der an eine höhere Idee glaubt, sich selbst aber klar und eindeutig hinter die Idee stellt: Nicht seine eigene Person ist wichtig, sondern die Marke, das Unternehmen. Er unterschied sich insofern von einem Guru, der die eigene Person als ebenso wichtig wie die Idee erachtet; eine Rolle, die häufig bei Beratern, insbesondere den hochbezahlten „Managementgurus“ zu konstatieren ist. Er unterschied sich von einem Spinner dadurch, dass er sich nicht als „beseelt“, sondern seine Einsicht in die Marke als „vernünftig“ darstellte. Er unterschied sich ferner von einem Zeloten oder Fanatiker dadurch, dass er im Frequenzspektrum der leisen, sanften Töne operierte, niemals schrill wurde oder gar Druck aufbaute – übrigens ein modus operandi, der der Stimme der Person und ihrer Erscheinung insgesamt sehr entgegenkam. „Agent of Common Sense“ Eine andere Rolle, die der Autor mehrfach beobachtete, lässt sich als „Agent of Common Sense“ apostrophieren, als Agent des gesunden Menschenverstandes. Die Rolle, behauptet der Autor, steht auf der Schnittlinie zwischen Management zweiter und Management dritter Ordnung. Es handelt sich um eine Rolle, die den „dritten Weg“ des PR-Habitus für die Organisation instrumentalisiert. Ob das von Seiten der Unternehmensführung bewusst, unbewusst oder vorbewusst geschieht, vermag der Autor nicht zu ergründen. Die Rolle des Agenten des gesunden Menschenverstandes fand sich bei Manager A, auch bei Managerin F und Manager G in klaren und deutlichen Episoden. Eine Episode genügt, um die Grundzüge zu verdeutlichen: In Manager As Fall handelte es sich um ein Problem, das zwischen zwei Parteien des Unternehmensnetzwerkes entstanden war, welches das Unternehmen im Hause integrierte. Entsprechend wurde Manager A von der Ge-
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schäftsführung „entsandt“, um mit der einen Konfliktpartei zu sprechen. Der Autor nahm an dem Gespräch teilweise teil. Es war erstaunlich, wie klar und eindeutig die Argumentationsbasis der Rekurs auf die öffentliche Meinung war, das unter C.III dargestellte Tertium war: „Was sollen die Leute denken, was werden die Zeitungen schreiben, wenn man sich herumzankt wie die Kindergartenkinder?“ Die Rolle, in der Manager A auftrat, war eine wohldosierte, fein austarierte Mischung aus Besorgnis, dass sich die Konfliktpartei den ewigwährenden Zorn des Geschäftsführers zuziehen könnte; Hoffnung, dass sich das Problem wie unter Erwachsenen lösen lässt; und Ermüdung darüber, dass man losgesandt worden sei, um Probleme zu lösen, die doch eigentlich gar keine Probleme seien. Es versteht sich von selbst, dass die Rolle das Äquivalent des PR-Habitus darstellt und die funktionale Qualifizierung des Pressesprechers ausspielt: In der Organisationslogik ist es äußerst gefährlich, dem obersten Kommunikationsverantwortlichen hinsichtlich Fragen der öffentlichen Meinung zu widersprechen („… das interessiert doch die Zeitungen nicht“), weil er oder sie diesbezüglich der Experte ist. c) Management dritter Ordnung: Common Sense Management dritter Ordnung ist eigentlich paradox, denn es handelt sich um das Management in einer Sphäre, in der die Führungskraft weder über eigene formale Autorität verfügt noch ein Rekurs auf die übergeordnete formale Autorität anderer möglich ist. Management dritter Ordnung findet „outside“ statt, also außerhalb der Organisation – und es lässt sich mit Fug und Recht die Frage stellen, inwieweit überhaupt von Management zu sprechen sei. Von der Funktion her geschieht Third-Order-Management durch Handling und Representing, durch Liaising und Networking. Ferner geschieht es, ähnlich wie im Fall des Second-Order-Managements, verborgen im Planning und Coordinating. Journalisten und der alte Hase Die Interaktionen, die der Autor zwischen obersten Kommunikationsverantwortlichen und Journalisten face-to-face beobachtete, enthielten alle ein verbindendes Element: dass sich die Kommunikationsmanager mit der Rolle, in der sie agierten, teilweise in die Organisation stellten, teilweise außerhalb – und den Brückenschlag des Boundary Spanning über Common Sense herstellten. Unter Common Sense versteht der Autor nicht nur „gesunden Menschenverstand“, sondern eben einen gemeinsamen, mit dem Journalisten geteilten abgeklärten Blick als Insider. Der Journalist wisse doch, wie es in so großen Läden wie diesem manchmal zugehe, das sei eben manchmal verrückt: „Aber am Ende des Tages machen wir doch alle nur unseren Job und versuchen ihn so gut wie möglich zu machen.“ Der Preis, welcher für ein erfolgreiches Agieren in der Rolle zu zahlen ist, besteht jedoch darin, dass der PR-Akteur anerkennen muss dass eben auch der Journalist seinen Job macht und ihn so gut wie möglich zu machen versucht: Er braucht also Informationen, die über „harmlose“, „gewöhnliche“ hinausgehen. Der Autor vermutet, dass die Einladung zu einem Gespräch face-to-face, oder auch das Gewähren eines derartigen Gesprächs auf Druck durch Journalisten, in der Regel bereits bedeutet, dass der oberste Kommunikationsverantwortliche beschlossen hat, auf den geschilderten, stillschweigenden Deal einzugehen. Ob der Deal zustande kommt, ist jedoch abhängig vom Ablauf des Gesprächs, womöglich auch der „zwischenmenschlichen Chemie“ zwischen PR- und Journalistenseite. In einem Fall, den der Autor beobachtete – es
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handelte sich um einen Hörfunkjournalisten, der das Interview aufzeichnete – kippte die Situation sehr deutlich. Nach einem harmlosen Vorgeplänkel verschärften sich die Fragen seitens des Journalisten mit einem Mal, woraus der Direktor Unternehmenskommunikation – aus eigener jahrelanger journalistischer Erfahrung – auf eine verborgene Agenda schloss. Die Atmosphäre wurde angespannt. Die Antworten, welche Manager C auf Band sprach, wurden immer harmloser und belangloser. Schließlich beendete der Journalist das Gespräch – dem Autor entstand der Eindruck, dass er es geradezu abbrach. In einem Nachgeplänkel meinte der Medienvertreter, Manager C sei doch wohl Profi genug zu wissen, dass auch er, der Journalist, seinen Job mache. Manager C ging auf die Bemerkung nicht ein, entgegnete lediglich eine höfliche Floskel. Als der Manager und der Autor in das Büro von Manager C zurückgekehrt waren – das Gespräch fand in einem Konferenzraum statt –, kommentierte C, er lasse sich nicht „verarschen.“ Es versteht sich von selbst, dass die Rolle des „alten Hasen“ sich mit manchen Personen und ihren anderweitigen Rollen besser verträgt, mit manchen schlechter. Die Rolle des abgeklärten, gemäßigten, auch etwas „augenzwinkernden“, „bauernschlauen“ , „altgedienten“ Pressechefs, der selbst früher einmal Journalist war oder gerne Journalist geworden wäre – das lässt sich nur agieren, wenn die eigene Biographie und die eigene Person das gestatten. Einem karriereorientierten „Überflieger“, dem die neoliberale Gesinnung quasi aus jeder Pore dringt, steht eine derartige Rolle nicht zu Gebote. 3. Tasks Unter B stellte der Autor die zehn Managementrollen dar, welche Mintzberg auf Basis seiner Beobachtungsstudie induktiv-abduktiv entwickelte. Mintzberg unterscheidet, um das zu wiederholen, die Rolle (1) des Repräsentanten; (2) des Führers; (3) des Vernetzers (Liaison); (4) des Informationssammlers; (5) des Informationsverteilers; (6) des Sprechers; (7) des Unternehmers; (8) des Krisenmanagers; (9) des Ressourcenzuteilers sowie (10) des Verhandlungsführers. Der Autor konstatiert in seiner Kritik an Mintzberg (vgl. B.II), dass es sich bei Mintzbergs Rollen nicht eigentlich um Rollen, sondern um Aufgaben, um Tasks handelt. Wenn Manager A also von der Geschäftsführung entsandt wurde, um eine Konfliktpartei zur Räson zu bringen, dann nimmt er einen Task wahr, der sich mit Mintzberg als „Troubleshooter“ oder „Krisenmanager“ apostrophieren ließe. Die Frage, wie der Manager die Aufgabe in der konkreten und spezifischen Situation löst, lässt sich aber auch und gleichzeitig unter Rekurs auf die Rolle, wie sie der Autor konzipiert, beantworten. Der Manager trat eben nicht in seiner Rolle als Emissär höherer Mächte auf, der zwar, um mit Theodore Roosevelt zu sprechen, mit sanfter Stimme spricht, aber einen großen Knüppel trägt. Er tritt in der Rolle eines „Agenten des gesunden Menschenverstandes“ auf, der den PR-Habitus vertretend auf einen dritten Faktor in der Rechung deutet: „Was sollen die anderen denken?“ Unabhängig von der Terminologie bleibt das, was Mintzberg unter Rollen, was der Autor unter Tasks subsumiert, ein entscheidender Baustein. Obwohl Kritiker wie etwa Weick Mintzberg vorgeworfen haben, dass sein Rollenkonzept bei näherer Betrachtung nicht sehr weit von der funktionalen Analyse à la Fayol entfernt ist (und andere die Anzahl der Rollen vermehrt haben, bis das Konzept der Rolle nichts und alles bedeutete), ist der Autor nach wie vor überzeugt, dass Mintzbergs Konzept seinen Platz hat. Es gilt, Tasks
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zusammen mit Rollen zu denken und ein entscheidendes, drittes Bindeglied hinzuzufügen. Das Bindeglied ist der Manager selbst, genauer gesagt die mentale Repräsentation seines Jobs in einer Struktur: als Agenda (vgl. Abb. 96), die wiederum in diverse Projekte zerfällt, die wiederum in diverse Chunks zerfallen (vgl. D.I.3).
Abbildung 96: Agenda, Projekte, Chunks (Quelle: eigene Darstellung) Die Synthese aus Tasks, Rollen und Agenda gestattet es, das Agieren des Managers nicht nur funktional, aus der subjektivierten Organisationsperspektive („… mein Job hier“), als fragmentiertes Planning, Liaising, Supervising, Networking etc. zu analysieren, sondern als sinnvolles, bedeutungshaftes Handeln zu verstehen. Das Handeln sieht zwar von außen und auf der Oberfläche fragmentiert aus, in Abhängigkeit von der Integriertheit der mentalen Struktur und der Konsequenz, mit der gemäß der Struktur gearbeitet wird, muss das in der Tiefenstruktur aber nicht der Fall sein. Freilich kann es der Fall sein, wenn die mentale Struktur verworren ist, sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner zurückführen lässt (vgl. im Ergebnis ähnlich auch die Episodenanalyse bei Pribilla/Reichwald/Goecke 1996, 172ff.; im Überblick vgl. auch Siebert 2005, 213ff.). Repräsentant Als Manager H auf der Einführungsveranstaltung für Unternehmenseinsteiger auftrat, war er einer der wenigen Repräsentanten auf seiner Führungsebene; andere Abteilungen hatten
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in der Regel den Stellvertreter oder niedrigrangigere Mitarbeiter entsandt. Während der Pausen, zwischen den einzelnen Vorträgen, mischte sich der Autor unters Volk und verfolgte einige der Konversationen. Er stellte fest, dass dies von den Teilnehmern, wie viele „corporate animals“ hierarchiebewusst, gewürdigt wurde. Ein Teilnehmer kommentierte, dass es ihn beeindrucke, dass ein „hohes Tier“, das Vertrauen auf Vorstandsebene genieße, sich die Zeit nähme, auf einer Einführungsveranstaltung aufzutreten. Wenn man Manager H den einen oder anderen Gedanken unterstellt, was sich der Autor einmal gestattet, dann lässt sich die Episode folgendermaßen fassen: Ein äußerst wichtiges Projekt auf der Agenda von Manager H ist es, die Markenwerte des Unternehmens zum Leben zu erwecken – das gab er im Interview expressis verbis zu Protokoll. Als er sich entschied, an der Einführungsveranstaltung teilzunehmen, tat er das, weil er sie vor dem Hintergrund seiner Agenda, seiner Projekte, als eine „wichtige“ Gelegenheit begriff. Und genau das spiegelte sich auch wider, als Manager H dem Autor gegenüber meinte, er habe heute seinen Job gemacht – direkt und unmittelbar, als Person. Natürlich hätte Manager H auch jemand anderen entsenden können, wie es andere Abteilungen taten. Aber die Gelegenheit war ihm, nach eigener Aussage, zu wichtig. Er begriff, dass es zu seinen Aufgaben, seinen Tasks gehört, die Funktion der Corporate Communications, die Kommunikationsfunktion des Unternehmens zu repräsentieren. Andere aus Manager Hs Abteilung hätten womöglich inhaltlich dasselbe gesagt, aber sie sind nicht in der Lage zu repräsentieren, dass es sich um eine „Chefsache“ handelt. Dass Manager H während der Vorträge in der Rolle als stiller Prophet auftrat, um sein Markenverständnis in leise überzeugender Art und Weise, ohne schrille Töne, „einzupflanzen“, ist sicherlich seiner Persönlichkeitsstruktur geschuldet. Das Argument lässt sich aber umkehren: Ohne eine Passung zwischen Manager Hs Persönlichkeitsstruktur und der Art und Weise, wie das Unternehmen sich repräsentiert sehen möchte, wäre Manager H nicht an seine derzeitige Position in der Unternehmung gelangt. De facto sah sich Manager H, der nach Eindruck des Autors ganz und gar nicht selbstdarstellerisch auftrat, im Vergleich mit seinen Kollegen als überdurchschnittlich „darstellerisch“ an. Die zurückhaltende, leise Unternehmenskultur beschreibt Manager H so: Hinzu kommen kulturelle Unterschiede: Als Unternehmen mit deutschen Wurzeln sind wir fast alle sehr stark kopfgetrieben. Unsere Sozialkompetenzen sind ebenfalls stark, aber vergleichsweise geringer ausgebildet. Die Mehrheit von uns ist durch das deutsche Schulsystem gegangen. Dort war Gehorsam wichtiger als Popularität. Das ist zum Beispiel im amerikanischen Schulsystem anders. Wer bei uns alles richtig und vor allem keine Fehler macht, der bekommt die Eins. Die gute Darstellung vor anderen, die damit verbundene Risikobereitschaft werden kaum benotet.
Leadership und Liaison Leadership ist eine Funktion, der Leader ist eine Rolle, aber eben auch ein Task. Die Episode mit Manager D vergegenwärtigt, dass Manager D in der zwar unbedeutenden, aber doch merklichen Situation des „Stockens“ seine Aufgabe als Führer erkannte und wahrnahm: Er war es, der die plötzliche Lähmung aufhob. Er tat es in seiner Rolle als dynamischer, vollgasgebender Jungmanager und das wirkte – andere Manager hätten ein und dieselbe Situation auch aufgelöst, aber eben durch eine andere „Führungsrolle“. Die Vernetzungs- oder Liaison-Aufgabe gestattet es, den Unterschied zwischen Rollen und Tasks sehr gut herauszuarbeiten, weil sie so oder so zu bewältigen ist. Managerin F trat beispielsweise in der Wahrnehmung ihrer Liaison-Aufgaben mit Lieferanten, Dienstleistern, und Kooperationspartnern – insbesondere einer internationalen Hilfsorganisation, die
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ein Krankenhaus in Kalkutta betrieb – äußerst empathisch auf: Der Diskurs kreiste um die Frage, wie das Unternehmen am besten helfen, am meisten bewirken könne. Managerin B war auch mit Liaison-Aufgaben zu externen Projektpartnern betraut, die das Unternehmen sponserte, aber sie agierte in einer völlig anderen Rolle: Aus den Gesprächen ging klar und deutlich hervor, dass es sich um ein Geschäft handelte, bei welchem zwei Profis jeweils für sich bestmögliche Bedingungen auszuverhandeln versuchten. Das Auftreten der Managerinnen entsprach dabei abermals, wie bei Manager H, dem Gesamteindruck, den der Autor von den Persönlichkeitsstrukturen der Damen gewann. Die Lehre ist, dass Tasks so oder anders wahrnehmbar sind, in dieser oder jener Rolle. Es ist deshalb entscheidend, sich von Klischeebildern abzulösen und eine Beschreibung der Jobs, Tasks und Rollen von Kommunikationsmanagern in der Empirie zu verankern. Informationssammler, -verteiler und Sprecher Die Tasks des Informationssammlers (Radarschirm, Monitor), des Informationsverteilers (Nervenzentrum) sowie des Sprechers erörtert der Autor en bloc. Bereits Mintzberg arbeitete heraus, dass die Vorstellung, dass Manager nur mit „formalen“, „harten“ Informationen arbeiteten, ganz und gar abwegig sei. Gerade das Bewegen in Kreisen, die über privilegierte, aber eben „weiche“, „informale“ Information verfügen, mache den Unterschied aus: Das erkläre, weshalb der Chef fast immer besser Bescheid weiß als der Mitarbeiter. Versteht man unter Informationen nicht nur Daten, dann tritt hervor, dass Informationssammlung und -verteilung einerseits rollenfrei, andererseits in vielen verschiedenen Rollen geschehen mag. Wenn der Direktor Unternehmenskommunikation die Medienberichterstattung „monitort“, wofür die beobachteten Manager in der Studie durchschnittlich 15,2 Prozent ihrer Schreib- und Lesearbeitszeit aufwandten (vgl. Abb. 81), agiert er nicht in einer Rolle. Auch wenn er einen gefundenen Artikel wortlos an einen Mitarbeiter weiterleitet, geschieht das nicht in einer Rolle. In einem Plausch mit dem Pförtner, wie es Manager C beschreibt, nimmt der Manager aber genauso seine Aufgabe als Informationssammler wahr wie bei Teilnahme an einem Führungszirkel, einem Steuerungskomitee oder einer Taskforce. Während des Mittagessens mit seinem Stellvertreter, während er seine subjektiven Eindrücke von einer Veranstaltung, seine „Bauchschmerzen“ schildert, distribuiert der Manager Information. Genauso gibt er Informationen weiter, wenn er der Geschäftsführung gegenüber die Medienberichterstattung referiert. Bei den Informationsrollen, wie es Mintzberg nennt, ist das entscheidende Element aber nicht, dass die Führungskraft etwas tut, sondern dass sie es als ihre Aufgabe ansieht: Wenn die Abteilung etwas nicht weiß, was sie hätte wissen sollen und können, dann ist das als ein Scheitern in der Aufgabe des Informationsverteilers anzusehen. Wenn die Führungskraft etwas nicht weiß, was sie hätte wissen sollen und können, dann ist das als Scheitern in der Aufgabe des Informationssammlers anzusehen. Die unter II. und unter III. diskutierten Daten der Studie zeigen, dass Agieren als Manager eines spätmodernen Unternehmens ein kontinuierlicher Kampf gegen die Informationsflut ist, ein ständiges „Im-Bild-Bleiben“. Während der Beobachtungswoche erlebte der Autor bei jeder Führungskraft, ausnahmslos, Situationen, in der sich die Führungskraft entweder beklagte, warum man ihr das nicht gesagt habe oder weshalb der Mitarbeiter dieses oder jenes nicht berücksichtigt habe – habe man es ihm nicht gesagt? Die Erkenntnis ist demnach, dass niemand die Informationsflut dauerhaft beherrscht, selbst die besten Manager nicht – es gibt nur ein Umgehen damit. Die aus der Komplexität eines spätmodernen Unternehmens resultierende Informationsflut tangiert Direktoren Unternehmenskom-
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munikation darüber hinaus in besonderer Art und Weise, wenn sie als Sprecher nicht nur für ihre Einheit, nach „within“ – sondern eben als Sprecher für das gesamte Unternehmen, nach „outside“ auftreten. Krisenmanager, Unternehmer, Verhandler Während die Informationsrollen in einem Taskkomplex zusammenfallen, sind die Aufgaben des Krisenmanagers (Troubleshooter), des Unternehmers (Intrapreneur) und des Verhandlungsführers (Negotiator) separierbar. Die Aufgabe des Krisenmanagers wurde eingangs des Kapitels geschildert und der Rolle des „Agenten des gesunden Menschenverstandes“ gegenübergestellt. Die geschilderten Episoden schlüsselten auf, dass oberste Kommunikationsverantwortliche intraorganisatorisch sowohl wegen ihrer Persönlichkeitsstruktur als auch wegen ihrer spezifischen Expertise für „Troubleshooting-Tasks“ ausgewählt werden. Eine Aufgabe, welche der Autor vor der Studie als untergeordnet ansah, für die Manager in der Studie aber sehr große Bedeutung hatte, war die des Entrepreneurs oder, wie es später bei Mintzberg heißt, des Intrapreneurs: Die Aufgabe ist die, als unternehmensinterner „Innovator“ ständig nach Verbesserungsmöglichkeiten Ausschau zu halten, Gelegenheiten zu ergreifen. Viele der Anekdoten, welche die Manager erzählten, kreisten um neue Methoden, neue Prozesse oder Initiativen, die sie „inside“ oder „within“ angestoßen hatten. Den Task des Negotiators, des „Verhandlungsführers“ oder „Chefunterhändlers“ beobachtete der Autor in vielerlei Funktionssphären, in vielerlei Rollen. Managerin B trat beispielsweise gegenüber zwei Vertretern der Landesregierung, welche über Sponsoring eines Projektes verhandeln wollten, in der Rolle der „harten Verhandlerin“ auf, die sie auch gegenüber anderen Kooperationspartnern an den Tag legte. Managerin F trat in Verhandlungen mit dem Künstler oder Handwerkern, die an der Gartengestaltung beteiligt waren, in der Konstellation auf, die der Autor unter II.4.4 als „Good Cop/Bad Cop“ apostrophierte: Während ihr Berater Qualität einforderte und die Kosten drückte, agierte sie als diejenige, die an einer langfristigen Partnerschaft interessiert ist. Managerin B und F verhandelten in den dargestellten Beispielen um Ressourcen: Geld-, Dienst- und Sachleistungen, Termine, Konditionen etc. Die mit Abstand wichtigste Verhandlerrolle eines obersten Kommunikationsverantwortlichen liegt aber in der Verhandlung von symbolischen Ressourcen, in der Aushandlung von Bedeutung, in der Einigung auf Sinn. Das ist es, postuliert der Autor, was in einem Pressehintergrundgespräch tatsächlich geschieht. Der Task des Pressesprechers liegt in derartigen Hintergrundgesprächen nicht in der Sprecherrolle, sondern in der Verhandlungsrolle, in der das Deutungsangebot des Unternehmens gegenüber anderen, alternativen Geschichten „verhandelt“ wird. Bei einem Direktor Unternehmenskommunikation verändert sich der Task dahingehend, dass er sich mehr und mehr auf das Management Game ausdehnt: Der oberste Kommunikationsmanager verhandelt hier überall und allerorten um seine „Geschichte“, sein Deutungsangebot der Unternehmung. Er tut das, um sein Kalkül eines gesellschaftspolitischen Standings, einer Resonanz auf der lebensweltlich-gemeinschaftlich-gesellschaftlichen Ebene gegen andere Argumente und Kalküle durchzusetzen, die auch das Wohl der Organisation im Auge haben, die auch vermeintlich rational, logisch, betriebswirtschaftlich vernünftig sind. Der oberste Kommunikationsverantwortliche führt dazu Argumente ins Feld, droht, schmeichelt, sitzt aus, akzeptiert Kompromisse, toleriert Trade-Offs, bildet Allianzen, formt Koalitionen, siegt und verliert – genau wie bei Verhandlungen um andere Ressourcen auch
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(und genau wie bei anderen Verhandlungen auch geschieht vieles, was wichtig ist, face-toface). 4. Framing des Jobs Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die der Autor theoretisch ableitete, aber praktisch leider nicht beobachten konnte, ist die ungeheure Bedeutung des Jobframings. Der Autor konnte Jobframing leider nicht studieren, weil die Studie einen Bias hat zugunsten von Führungskräften, die „sicher im Sattel“ sitzen: also die heikle Phase des Jobframings bereits hinter sich haben (vgl. auch B.III.3). Jobframing, Rollen und Tasks Der Begriff des Jobframings stammt aus Mintzbergs Nussschalenmodell (vgl. 1994, 12ff.). Die Idee schließt an die Konzeption eines Jobs an, der durch Überlagerung eines vorgefertigten Organisationsbausteins, einer professionellen Praxis, mit einer realen Organisation als Funktionswelt, als Lebenswelt, als Funktionslebenswelt entsteht. Jobframing heißt, dass die Position eines Direktors Unternehmenskommunikation in einer bestimmten Organisation mit einer bestimmten dominant coalition ausgeschrieben und besetzt wird, und dann übernimmt sie eine bestimmte Person, mit bestimmten Eigenschaften, Werten und Erfahrungen. Das bedeutet konkret und praktisch, dass der Praktiker in der frühen, kritischen Phase nach Übernahme einer neuen Position verschiedene Rollen „erobert“, andere zugewiesen bekommt, wiederum andere ablehnt (role refusal), wiederum andere nicht erobert (role denial). Ähnlich verhält es sich mit Tasks, die „erobert“ oder „zugewiesen“, „verweigert“ oder „abgelehnt“ werden. Aus Rollen und Tasks setzt sich in letzter Konsequenz der Job in concreto zusammen, in abstracto setzt er sich zusammen aus Macht und Verantwortung, mit Einfluss als Bindeglied. Bifurkationspunkte und Strukturation Die systemischen Gedanken unter D.III.1 haben klargemacht, dass soziale Systeme niemals zeit- oder raumunabhängig zu denken sind, und dass die Lebenswelt sehr stark geprägt ist von Gewöhnung. Eine Person, die heute so, morgen so auftritt, ist im höchstem Maße verstörend, ja verdächtig. Aus dem einen und dem anderen folgt, was jedem, der schon einmal in eine Organisation eingetreten ist, als „Berufserfahrung“ vor Augen steht: dass der überwiegende Teil des Jobframings in der Zeit direkt und unmittelbar nach Übernahme einer Stelle geschieht. Es ist sehr schwierig, aus einer „Ecke“ herauszugelangen, in die man gleich nach Übernahme einer Stelle gedrängt wurde. Eine Möglichkeit bieten Bifurkationspunkte, wie sie unter D.III.1 erörtert wurden: Von Zeit zu Zeit gelangen Organisationen als soziale Systeme an Scheide- oder Wendepunkte; die Organisation „entscheidet“ sich, entweder dieses oder jenes fortzuführen – ein Wort gelangt in den Duden und ist „offiziell“ ein deutsches Wort oder nicht; ein verdienter und bewährter Pressesprecher, der schon lange Einfluss auf die Direktionsetage nahm, erhält entweder die formale Autorität und Macht des Direktors oder nicht. Umgekehrt sind Akteure natürlich in der Lage, Wendepunkte künstlich herbeizuführen. Manager A berichtete im Interview über das „Freistrampeln“, welches er in der prägenden ersten Phase durchlief: Also, als ich hier angefangen habe, musste ich mir jede zweizeilige Meldung, die ich für das Unternehmen verschickt habe… musste ich mir freigeben lassen vom Geschäftsführer, der wenig Ahnung von
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Presse- und Öffentlichkeitsarbeit hatte. Und das war bitter für mich. Denn ich hatte vorher Halbstundensendungen, Stundensendungen, ich hatte moderiert, den Bundespräsidenten interviewt – alles was kam. Und dann wurde ich auf einmal so reduziert, wo ich nicht mehr wusste, kann ich was oder kann ich nichts. Dieser Akt des Freistrampelns, der war richtig schwierig.
Den Bifurkationspunkt führte er selbst herbei: Also ich habe nach der Probezeit gekündigt. Ich bin nach meiner Probezeit zum Geschäftsführer – das waren damals auch zwei Geschäftsführer: einer, der mich geholt hat, und der andere, der mit der Presse nichts anfangen konnte. Nun war leider Gottes derjenige, der mit der Presse nichts anfangen konnte, der Mächtigere damals. Und der hat immer auf mich zugegriffen. Weil damals war die Stelle noch so, dass beide Geschäftsführer gleichzeitig richtig Zugriff hatten. Haben sie heute auch noch, aber jetzt ist die Zuordnung klar abgegrenzt, und beide Geschäftsführer wissen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zu schätzen. Die sind beide auch in meinem Alter. Und sie wissen auch, wie wichtig es für sie ist. Aber damals war es so, dass ich zu meinem Geschäftsführer gegangen bin nach sechs Monaten und habe gesagt: „Sie brauchen im Grunde genommen einen Sachbearbeiter, aber sie brauchen keinen Pressesprecher, der hier etwas gestaltet.“ Und dann hatte ich mich auch schon wegbeworben. […] Als ich merkte: das macht mich kaputt. Und darauf hin hat es eine große Diskussion im Haus gegeben der beiden Geschäftsführer. Nicht nur über mich, sondern über einige andere Sachen auch. Und danach wurde es dann besser.
Wendepunkte im Jobframing für Kommunikationsmanager, das zeigt die Betrachtung von Karrieren, das zeigen die qualitativen Untersuchungen im Rahmen der Exzellenzstudie, sind sehr oft Kommunikationskrisen. Auch Manager D „eroberte“ seinen Job, als sein Vorgänger in einer Kommunikationskrise hinter den Erwartungen der Geschäftsführung zurückblieb, als er als untergeordneter Mitarbeiter die Dinge in die Hand nahm. Die Vorstellung, dass ein einmal geframter Job strukturell determiniert sei, bis es zu einem dramatischen Bifurkationspunkt kommt, führt jedoch in die Irre. Manager D bringt das auf den Punkt, wenn er dezidiert über seinen Job spricht: Ich habe ihn umgestaltet. Natürlich ist er zum Teil auch durch Veränderungen intern wie extern umgestaltet worden. Die Notwendigkeit zur Umgestaltung war offensichtlich. Ich gehe aber davon aus, dass wenn ich noch einmal zwei Jahre hier bin, dass er nochmals anders aussieht. Sie müssen im Prinzip ständig die Anforderungen überprüfen, die an sie gestellt werden. Und dann ein entsprechendes Leistungsprofil entwickeln. Das gehört sich einfach. Eine statische Organisationsstruktur kann niemals die Antwort auf ein immer komplexeres Wettbewerbsumfeld sein, auf eine immer komplexere gesamtgesellschaftliche Situation sein. Sie brauchen Flexibilität in allen Belangen.
Unter D.III arbeitete der Autor aus, dass Sozialstrukturen, wie etwa ein Job, de facto „Strukturationen“ darstellen. Das heißt, es handelt sich um Interaktionsmuster, die jedes Mal wieder neu bestätigt oder aber in Frage gestellt werden. Man tritt einem Geschäftsführer wieder als handwerklich-technischer, eifrig nickender „Macher“ oder als kritischer strategischer „Sparringspartner“ entgegen, weil es in der letzten Interaktion genauso geschah. In jeder Interaktion, behauptete der Autor unter D.III.2, gibt es jedoch einen Spielraum, die Barnard’sche „Indifferenzzone“, der die Bewegung in die eine oder andere Richtung gestattet, ohne dass es sich greifen ließe, inwiefern der Akt „anders“ war. Über die Zeit, behauptet der Autor, kumuliert sich derartige schleichende Veränderung – in der Retrospektive tritt derartiges organisches Wachstum mit einem Mal klar und deutlich zutage. Jobframing ist also als ein kontinuierlicher Prozess zu begreifen, der im und durch das Management Game geschieht, aber in seinen organisationsstrukturellen Auswirkungen und „offiziellen“ Niederschlägen durch sehr starke Diskontinuitäten geprägt ist. Der Fokus auf die formale verbriefte Autorität verschleiert die Kontinuität des Jobframings in jeder Episode, der Fokus auf Rollen und Tasks verschleiert die Tatsache, dass der Job auf einer heiklen Basis steht, solange er nicht in der formalen Struktur der Organisation codifiziert ist. Ein
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Direktor Unternehmenskommunikation bleibt zunächst einmal in seiner Position, auch wenn der Vorstand wechselt; ein „strategischer Sparringspartner“ des alten Vorstandes mag sich von heute auf morgen als nickender Jasager des neuen Vorstandes wiederfinden. Jobframing und Institutionalisierung Die Dynamik des Jobframings hängt sehr stark zusammen mit der Frage nach der Institutionalisierung der professionellen Praxis Public Relations/Kommunikationsmanagement im und jenseits des Management Games. An verschiedenen Stellen (vgl. C.I.4; A.II.4) ist der Autor der Vorstellung entgegengetreten, die Praxis werde an einen Punkt gelangen, da die Position des Direktors Unternehmenskommunikation als ein „leerer Stuhl“ institutionalisiert sei, der von vorneherein mit allen benötigten Verfügungsgewalten ausgestattet ist. Das entspricht, davon ist der Autor überzeugt, nicht den Realitäten in modernen Unternehmungen. Das entspricht ferner nicht der Realität, wie sie sich in anderen Unternehmensbereichen präsentiert. Es gibt in Unternehmen mehr oder weniger mächtige oder einflussreiche Personalchefs, Chefcontroller, Konzernstrategen, Leiter der Rechtsabteilung, Qualitätsmanager, Betriebsratsvorsitzende, Schwerbehindertenvertreter etc. Sieht man sich die Fachdiskussion an, bietet sich nahezu überall das gleiche Bild, das sich auch in der Fachdiskussion im PR- und Kommunikationsmanagement bietet: Man bringe der jeweiligen Funktion, heißt es, noch nicht die Wertschätzung entgegen, die ihr gebührt. Dem Autor geht es nicht darum, das Projekt der Professionalisierung zu torpedieren. Entscheidend ist aber, die theoretische Diskussion um die Institutionalisierung einer professionellen Organisationspraxis in der „Blaupause“ der modernen Unternehmung nicht zu verwechseln mit dem Management Game in realen Organisationen. Um es überdeutlich auszudrücken: Auch wenn auf der Oberfläche der Diskurs um das rationale, betriebswirtschaftliche Argument kreist, in der Tiefenstruktur gilt das Diktum, dass Macht und Einfluss nicht gewährt, sondern erarbeitet, verdient, ja ergriffen werden. 5. Fazit: Managementprobleme und die wohlgeformte Konstellation Mit den Vokabeln des Jobs, der Rollen, der Tasks und des Jobframings legt der Autor Konzepte vor, welche es seiner Meinung nach gestatten, die Praxis des Kommunikationsmanager-Seins in Organisationen zu beschreiben, darüber hinaus aber die Managementprobleme zu verstehen. Eine Integration der Konzepte in die Traditionen der akteurszentrierten Forschung in Management- und PR-Lehre fand sich in B. Freilich, in Rollen und Tasks agieren nicht nur Kommunikationsmanager: Akteure in anderen Jobs, insbesondere in Managementjobs tun das genauso. Die Beispiele, welche der Autor gibt, wurden deshalb mit Blick darauf gewählt, die spezifischen Konfliktsituationen einer Praxis hervorzuheben, die paradox und negativ institutionalisiert ist (vgl. A.II.2), die ihre Position zwischen dem eigenen und dem Managerhabitus sucht (vgl. C.III), die aufgrund ihrer „carte blanche“ das kompetente Agieren in einem komplexen Management Game in viel größerem Maße erfordert als andere, eben kompartmentalisierbare Funktionen. Der Ausgangspunkt der Überlegungen, welche mit der Postulierung des Akteurs-imSystem begann (A.II.3), ist die Tatsache, dass in letzter Konsequenz eine Person, ein Mensch, einen Job macht. Damit Hand in Hand geht die Anerkenntnis, dass die Person im Job nur über begrenzte Ressourcen verfügt, egal, welche Einheit man ansetzt: Zeit, Infor-
IV. Jobs, Tasks und Rollen
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mationsverarbeitungskapazität, Komplexitätsverarbeitungskapazität, raumzeitliche Verfügbarkeit für wichtige Interaktion face-to-face, schlicht und einfach „Nerven“. Der Zielpunkt der Überlegungen muss deshalb wieder der Mensch sein, der in einer wohlgeformten Konstellation zwischen sich selbst, seiner Abteilung (inside), seiner Organisation mit ihrem Management Game, ihrem Geschäftsmodell (within), ihrer Umwelt (outside), in raumzeitlicher Perspektive (strategischer Horizont) eine Konstellation herstellt, die wohlgeformt ist. Die wohlgeformte Konstellation ist dadurch gekennzeichnet, dass der Akteur-im-System möglichst „gut“ auf allen Ebenen arbeitet. Möglichst „gut“ auf allen Ebenen heißt, dass man in einem zwar analytischen, aber doch konsequent durchgeführten Kalkül den Schaden gegen den Nutzen stellt. Das ist an den Endpunkten des Spektrums sehr leicht: Eine Person, die sich für den Job aufreibt, steht definitiv in einer schlechtgeformten Konstellation. Definitiv in einer schlechtgeformten Konstellation steht aber umgekehrt auch eine Person, die es sich in einem Job „gemütlich“ gemacht hat, ohne ihre Verantwortung für die Unternehmung in Rechnung zu stellen. Etwas schwieriger wird es, wenn Konstellationen entstehen, die das aus der lebensweltlichen Interaktion mit ihren „Kunden“ entstehende Verantwortungsgefühl für unternehmerische Zwecke instrumentalisieren: Krankenhäuser bringen Pflegepersonal gerne in die Situation, dass sie, wenn sie streiken wollen, ihren Patienten in die Augen schauen und ihnen das erklären müssen. Für Führungskräfte stellt sich das Problem freilich nicht an den Extremen, sondern sehr viel verwickelter. Das ist einerseits der Tatsache geschuldet, dass sie ihre eigene Einheit (inside) in der Verwickelung mit der Organisation (within) und der Umwelt (outside) zu berücksichtigen haben. Das ist andererseits der Tatsache geschuldet, dass ihre Verantwortung nicht aufgaben- oder tätigkeitsorientiert definiert ist, sondern resultatsorientiert (vgl. A.I). Unter C.III.3.5 arbeitete der Autor ausführlich aus, dass er fünf generische Spannungsfelder sieht, die aus der koordinationskritischen organisierten Komplexität emergieren:
Verantwortung vs. Macht (Machtlosigkeit, Einflusslosigkeit) Unterkontrolle vs. Überkontrolle Untersystematik (Extinction by instinct) vs. Übersystematik (Paralysis by analysis) Unterwandel (Erstarrung) vs. Überwandel (Verflüchtigung) Überstrategie vs. Unterstrategie
Die abstrakten, generischen Probleme, das wurde unter 1. angerissen, treten der Führungskraft nicht als generische, sondern als konkrete und spezifische Probleme gegenüber, die auch konkret und spezifisch einer Lösung bedürfen. Sie schlagen sich beispielsweise in folgenden Fragen nieder, die sowohl die Managementlogik und den Managerhabitus als auch das Management Game tangieren: Managementlogik, Managementrationalität Bin ich bereit zu delegieren, also zu akzeptieren, dass andere die Dinge anders machen werden, als ich sie machen würde? Orientiert sich meine Arbeit an der Organisation in der Umwelt oder orientiert sie sich an den Idealen, die ich vor Jahren und Jahrzehnten in meiner beruflichen Sozialisation erwarb? Renne ich jeder Managementmode hinterher, falle ich auf jeden „fad“ herein?
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Ist die Restrukturierung der Abteilung wirklich notwendig? Oder: Wie konnte es geschehen, dass das Unternehmen sich in drei Jahren dramatisch verändert hat, unsere Abteilung aber seit zehn Jahren genau gleich aussieht? Bauen wir eine Marke auf für ein Unternehmen, das ohnehin in drei Jahren verkauft wird? Leben wir von unserem guten Ruf heute, der morgen schon ganz anders aussieht?
Management Game Wieviel Verantwortung übernehme ich? Wieviel Macht beanspruche ich? Möchte ich eher Einfluss auf mehr oder Macht über weniger haben? Bin ich bereit, den Preis zu zahlen, wenn ich mich auf Hackordnungskämpfe einlasse? Oder gebe ich mich als „leidenschaftslos“, „an der Sache orientiert“? Baue ich eine breite Macht- und Einflussbasis auf oder hänge ich mich, eng, an den Rockzipfel des Vorstandsvorsitzenden („Nabelschnur“)? Lege ich meinen persönlichen Fokus auf inside, within oder outside (Management erster, zweiter, dritter Ordnung)? Brauche ich einen gut definierten Job mit klaren Grenzen oder komme ich mit einem schlecht definierten Job klar, der „schwammige“ Grenzen hat? Die Liste ist beispielhaft, nicht abschließend – und es ist nach der Überzeugung des Autors auch nicht möglich, zu einer abschließenden Liste zu gelangen. Die Managementprobleme treten erst in der Verwickelung als Probleme hervor. Geht man davon aus, dass alle beobachteten Manager in einer einigermaßen wohlgeformten Konstellation agierten, weil sie sonst, unter Druck stehend, einer Beobachtungsstudie nicht zugestimmt hätten, dann sind die Skizzen der acht verschiedenen Jobs unter 1. als positive Exempel heranzuziehen. Manager A beispielsweise bevorzugte einen klar definierten, um Presse- und Medienarbeit angelagerten Job und das führte in Kombination mit einigen anderen Faktoren zu einer wohldefinierten Konstellation: Erstens, weil Manager A mit seinen Geschäftsführern über zwei Persönlichkeiten verfügte, die große Teile des Management Games für ihn spielten. Zweitens, weil er über Mitarbeiter verfügte, die an den Grenzen seines wohldefinierten Jobs relativ autonom agierten, und Manager A sie auch autonom agieren ließ. Drittens, weil Manager A von seiner Persönlichkeitsstruktur nicht nach Ausdehnung von Macht und Einfluss strebte, sondern in der Gewissheit ruhte, einen zwar begrenzten, aber doch anerkannten und wirksamen Beitrag zum Unternehmenserfolg zu leisten. Manager D strebte, auch von seiner Person her, sehr deutlich nach mehr Macht und Einfluss, war aber auch bereit, den Preis dafür zu zahlen: Er tolerierte einen „schwammigen“ Job und er akzeptierte, dass er trotz operativer Verantwortung für die Presse- und Medienarbeit daneben das Meetingpensum absolvierte, welches ein DAX-30-Manager ohne operative Verantwortung absolviert.
V. Fazit: A Communication Manager’s Job
V)
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Fazit: A Communication Manager’s Job – Mentale Modelle und die wohlgeformte Praxis
Abschließend stellt sich die Frage, wie der Akteur zu einer wohlgeformten Praxis gelangt. Die Antwort lautet etwas orakelhaft: dadurch, dass er sich selbst, die Organisation und ihre Umwelt versteht. Auf die Frage, welche Erfahrungen und Fähigkeiten, welche Learnings seiner Karriere es ihm ermöglichten, seine jetzige Spitzenposition auszufüllen, antwortete Manager G, der erfahrenste der acht Kandidaten, im Interview: Komplexe Sachverhalte zu reduzieren. Einfach zu machen. Und damit lösbar zu machen. Und: Prozesse in Gang zu setzen. Das ist ein Punkt. Zweiter Punkt ist: Sensibilität für gesellschaftliche Prozesse haben. Drittens: Dauerhaft innere Distanz zu halten zum eigenen Auftraggeber und Unternehmen. Damit man nie total die Scheuklappen aufhat, betriebsblind wird. Viertens: Die Kraft, mal von Null her zu denken. Oder mal das Unmögliche zu denken. Oder mal einen ganz anderen, auf den ersten Blick verrückt oder abwegig erscheinenden Ansatz zu verfolgen. Stichwort: Originalität.
Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass der Autor in der spiralförmigen Forschungslogik von seinen Beobachtungskandidaten beeindruckt wurde, ist es verblüffend, wie das Zitat die Learnings resümiert, welche die Arbeit in Gestalt der Theorie vorlegt: Unter „Prozesse in Gang zu setzen“ versteht der Autor das In-Gang-Setzen in der eigenen Abteilung, „inside“; aber eben auch das In-Gang-Setzen in der eigenen Organisation, „within“: in letzter Konsequenz das Management Game. „Sensibilität für gesellschaftliche Prozesse“ spiegelt das Management der dritten Ordnung, „outside“, spiegelt das „PR-Denken“, welches nach wie vor der Kern des Kommunikationsmanagements ist – eine Sensibilität, die jedoch in der Unterwerfung unter die Managementlogik abgestumpft zu werden droht. Die dauerhafte, innere Distanz und die „Kraft, mal von Null her zu denken“ sind schließlich nichts anderes als das Postulat eines reflektierten Praktikers, der die Mythen der eigenen Ingroup nicht internalisiert, sondern als kontingente Konstrukte reflektiert. Der reflektierte Praktiker reproduziert aber nicht nur seinen eigenen PR-Habitus, die generischen Regeln der Praxis (richtige Praxis): Er nutzt die „carte blanche“ einer negativ institutionalisierten Praxis, um dort einen Mehrwert für die Organisation zu schaffen (gute, erfolgreiche Praxis), wo er durch „Kommunikation“, durch auf gesellschaftlich-gemeinschaftlich-lebensweltliche Resonanzböden gerichtete Deutungsangebote zu schaffen ist; dort, wo die Organisation sich in ihrer Integration in die Gesellschaft, Gemeinschaft oder Lebenswelt selbst nicht versteht, wo sie nicht verstanden wird – in den „Erklärungslücken“, die von Gesellschaft zu Gesellschaft, Unternehmung zu Unternehmung, Geschäftsmodell zu Geschäftsmodell variieren. Komplexitätsreduktion, mentale Modelle und funktionale Isomorphie Der wichtigste Punkt aber ist der erste: Komplexe Sachverhalte zu reduzieren. Einfach zu machen. Und damit lösbar zu machen. Die konstruktivistische Anlage der Arbeit in ihrer Gesamtheit verdichtet sich in der grundsätzlichen Erkenntnis, dass Menschen die „Sachverhalte“ der Welt um sich herum nicht realiter, nicht „so wie sie sind“ wahrnehmen, dass Personen aber auch nicht in ihrer eigenen wünschenswerten Wirklichkeit leben. Zielgerichtetes Handeln und zielgerichtete Handlungsplanung sind möglich, weil Menschen mentale
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
Modelle der Welt im Kopf haben, anhand derer sie sich Zusammenhänge erklären, anhand derer sie ihr eigenes Handeln vorwegzunehmen in der Lage sind. Das Lebensgefühl, „in der Küche zu sein“ rührt daher, dass der Organismus in der Küche ist – es rührt aber auch daher, dass sich das Selbst körperlich im mentalen Modell der Küche anwesend wähnt. Das erklärt, weshalb man physisch-reell in der Küche anwesend, geistig aber abwesend sein mag – oder weshalb man physisch-reell woanders anwesend sein kann, geistig aber zu durchdenken vermag, wie man von der Küche ins Wohnzimmer gelangt. Die „small-scale models of reality“ (Craik) führen zu Erwartungen, die durch die Welt, wenn ich wirklich von der Küche ins Wohnzimmer gehe, bestätigt oder nicht bestätigt werden: Im ersteren Fall verfestigt sich das Modell, im zweiteren kommt es zu einer Inspektion, dann Variation. Wird ein Modell wieder und wieder bestätigt, vergisst der Organismus den Modellcharakter; das Modell wird transparent, der Zusammenhang wird zu einer Selbstverständlichkeit. Die Bewegung der eigenen Hand beispielsweise ist eine Selbstverständlichkeit und das erklärt, weshalb es als so ungeheuer „verwunderlich“ erlebt wird, wenn die eigene Hand, z. B. bei Durchblutungsstörungen, nicht gehorcht. Der Mensch, das wurde ausführlich ausgearbeitet, denkt und handelt nicht nur mit seinem erlebten Körper in einer erlebten Außenwelt; die menschliche Existenz findet ganz wesentlich in einer sozialen, mit anderen Menschen geteilten Welt statt. Die soziale Handlungsplanung ist es auch, welche nicht nur die Generierung eines sozialen Selbst mit Vorder- und Hinterbühne erforderlich macht, sondern auch sehr ausgeprägte Fähigkeiten, die anderen als „wie ich“, mit eigener Handlungsplanung, zu verstehen. Erst die Fähigkeit, eine Theory of Mind des anderen zu formulieren, den anderen als mit einem Innenleben zu begreifen, das sich von dem eigenen Innenleben unterscheidet, stellt den menschlichen Organismus wirklich in die soziale Welt. Dann ist er in der Lage, sich beispielsweise zu überlegen, was die anderen in einem Jahr dazu sagen werden, wenn er dieses oder jenes tut. Das mentale Modell ist nicht das Bild, welches auftaucht, wenn man die Augen schließt und versucht sich konkret vorzustellen, wie man selbst in einem Jahr dieses oder jenes tut. Es ist ein Netzwerk abstrakter Konstrukte, welches Entitäten, z. B. Freunde, Verwandte, Bekannte, repräsentiert – und zwar, wie die Mental-Model-Forschung gezeigt hat, quasiräumlich: daher auch die Rede von „engen Freunden“, „nahen Verwandten“. Wenn man sich dann konkret und spezifisch eine Situation ausmalt, wendet man das mentale Modell an. Das Konzept des mentalen Modells vergegenwärtigt, weshalb Menschen nicht direkt und unmittelbar in der Welt „leben“: Sie leben in ihren komplexitätsreduzierten Modellen, in Erklärungszusammenhängen, in welchen sie, vermeintlich gemeinsam mit angenommenen anderen Menschen, agieren. Das Konzept vergegenwärtigt aber auch, weshalb einige Akteure überaus erfolgreich in der Welt agieren, andere weniger. Der Schlüsselbegriff ist der der funktionalen Isomorphie. Ein mentales Modell, das immer wieder erfolgreiche Handlungsplanung gestattet, das immer wieder zu Erwartungen führt, die dann bestätigt werden, rekonstruiert die in Frage stehenden Zusammenhänge in der Welt anscheinend in „richtiger“ Art und Weise; wiewohl es eine Garantie nicht gibt. Die Qualifizierung der Isomorphie als funktional erklärt, weshalb ein mentales Modell in dramatischer Art und Weise komplexitätsreduziert, trotzdem aber strukturerhaltend, isomorph sein mag: Es geht nicht um die Strukturen der Realität per se. Es geht um Strukturen, welche der Akteur in der spezifischen Situation aus der Realität herausgreift. Wenn der General auf der Karte Fähnchen herumschiebt, dann komplexitätsreduziert er die Realität. Aber solange jedes Fähnchen tatsächlich das Äquivalent einer Division im Felde repräsentiert, bleibt die funk-
V. Fazit: A Communication Manager’s Job
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tionale Isomorphie gewährleistet. Sie ist nicht gewährleistet, wenn sich hinter den Fähnchen tatsächlich „Gespensterdivisionen“ verbergen. Komplexität und Kapazität abstrakt/konkret: Wohlgeformte Praxis/reflektierter Praktiker Von entscheidender Bedeutung ist es, die Kapazität des menschlichen Gehirns, die Informationsverarbeitungs- und Komplexitätsverarbeitungskapazität eines decision-makers, grundsätzlich als limitierte in Rechnung zu stellen. Bei einer Führungskraft steht der begrenzten Kapazität ein Verantwortungsbereich gegenüber, der in toto zu überblicken und zu verstehen, mental zu repräsentieren ist: bei einem militärischen Befehlshaber etwa der Bereich der Landkarte, der geographische Raum der eigenen Machtentfaltung, bei einem Werksleiter das Werk, bei einer Stationsschwester die Station. Geht man davon aus, dass die Anzahl der Zusammenhänge, die auch der belastbarste Manager gleichzeitig im Kopf behalten und in Rechnung zu stellen vermag, äußerst begrenzt ist, dann tritt hervor, weshalb ein klares, eindeutiges und wohlgeformtes Konzept des eigenen Jobs, und der dadurch konstituierten professionellen Organisationspraxis, von derartig vitaler Bedeutung ist. Denn die mentalen Modelle, die der eigenen Arbeit zugrunde gelegt werden, sind nicht etwa Bilder, die für diesen oder jenen Zweck verwendbar sind. Die mentalen Modelle repräsentieren die Realität der Umwelt genausowenig in jeder Hinsicht, wie die Fähnchen auf der Karte die Realität der durch sie symbolisierten Einheiten in jeder Hinsicht repräsentieren. Sie repräsentieren eine task environment: den „Raum“, für welchen man Verantwortung hat insofern als man in ihm Macht oder Einfluss besitzt. Je vager und diffuser das Konzept des eigenen Jobs ist, desto schwächer und „schwammiger“ ist das Kalkül, durch welches sich un-, vorbewusst und bewusst, sei es als Kopf- oder Bauchentscheidung entscheidet, was wichtig ist und was nicht. Die Konsequenz ist, dass die mentale Repräsentation „detaillierter“ wird – was bei ungefähr gleich bleibender Kapazität entweder heißt, dass der überblickte Bereich kleiner wird, oder dass ein integriertes Modell in multiple, komplementäre Modelle zerfällt. Johnson-Lairds Experimente zeigten, dass das „Mitschleppen“ irrelevanter Information – etwa die Farbe der Kleidung der Personen, die lediglich in räumlicher Lage zueinander bestimmt werden sollen – die Lösung der Aufgabe verlangsamt (vgl. D.I.7). Es liegt dem Autor fern, eine abstrakte Argumentation eins zu eins auf Denk-, Handlungs- und Entscheidungssituationen zu übertragen, die nichts mit der Lösung einer Denksportaufgabe à la Johnson-Laird zu tun haben. Dem Autor geht es darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, weshalb ein klares und eindeutiges Jobframing („scharf“, wie es bei Mintzberg heißt), weshalb eine wohlgeformte Praxiskonstellation, zu besserem, erfolgreicherem Management beiträgt: Der Kommunikationsmanager, der genau weiß, was er tut, weiß umgekehrt auch, was für sein Tun wichtig ist und was nicht. Er hat „sicheren Boden unter den Füßen“. Vieles, was er beispielsweise in Sitzungen hört, scheidet er als für sich irrelevant aus – sei es ein großer Zusammenhang oder ein kleiner. Einiges, mag es eine winzige Einzelheit oder eine strategische Grundsatzentscheidung sein, greift er als für sich und seinen Job wichtig heraus: Ob das als „Bauchgefühl“ diffus-emotional oder kognitivrational als „Durchblick“ erlebt wird, ist vergleichsweise egal. Der Führungskraft, die selbst nicht zu einem klaren und eindeutigen Bild ihres Jobs gelangt ist, fehlt der „sichere Boden unter den Füßen“. Sie geht in der Informationsflut unter; alles könnte wichtig sein, nichts ist wichtig. Die Garantie, dass der „sichere Boden unter den Füßen“ in der konkreten und spezifischen Situation der Person-in-Practice-in-Organization wirklich ein sicherer Boden ist,
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E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum
vermag niemand zu geben – auch die hinterher- oder vorauseilende Forschung nicht. Deswegen, und angesichts einer sich verändernden Organisation in einer sich verändernden Welt, ist der professionelle Praktiker aufgerufen, reflektierender Praktiker zu sein. Fundament und Basis des Reflektierens über die eigene Praxis ist abermals, dass der Praktiker weiß, was er tut. Wer sich nicht eingesteht, dass er dieses oder jenes auf Grundlage einer stillschweigenden Annahme getan hat, vermag weder aus Erfolg noch Misserfolg zu lernen. Negative Institutionalisierung revisited Die größte Herausforderung einer Top-Management-Position ist nach Ansicht des Autors zu einem „funktionierenden Arbeitsmodell“ zu gelangen, welches weder über- noch unterkomplex ist. Es gilt, zu einem Verständnis des eigenen Jobs in der Organisation und der Organisation an sich zu gelangen. Es gilt zu einem Verständnis der eigenen Funktion in der Organisation und der durch die Funktion konstituierten Funktionslebenswelt zu gelangen. Für Kommunikationsmanager mit der Funktion, wie sie der Autor unter A formulierte, bedeutet dies: Es gilt zu einem Verständnis des eigenen Jobs in der Unternehmung zu gelangen dadurch, dass man die Unternehmung als in der Gesellschaft stehend, durch die Gesellschaft ermöglicht begreift. Die Rede von der negativ institutionalisierten Praxis deutete das an: Erst, wenn man weiß, welche „Erklärungslücken“ zwischen Unternehmung und Gesellschaft, zwischen Unternehmenssystem und Lebenswelt, Gemeinschaft und Gesellschaft bestehen, weiß man auch, wo der Wertbeitrag der Public Relations besteht, mit welchen Argumenten und Kalkülen der oberste PR-Verantwortliche in das Management Game einsteigt, Kommunikationsmanagement betreibt. Das größte Problem des Kommunikationsmanagements ist die Schwierigkeit, zu diesem Punkt eines klaren, eindeutigen Verständnisses zu gelangen, das weder über- noch unterkomplex, das funktional isomorph zur „Realität“ ist. Der Verantwortungsbereich des Direktors Unternehmenskommunikation ist kein Raum, der über die Landkarte gebeugt zu überblicken ist. Worum es geht, sind Relationen, Bedeutung und Sinn, die nicht durch Fähnchen vergegenwärtigt werden können – man sieht derartige „Ressourcen“ nicht, und um sie zu erleben, muss man sie auf die Probe stellen. Während dem CFO das eigene funktionale Kalkül vor Augen steht – es geht ihm, positiv, um Geld- und Finanzströme –, ist das Kommunikationskalkül ein negativ institutionalisiertes, das sich von Geschäftsmodell zu Geschäftsmodell, ja mit jeder strategischen Grundsatzentscheidung ändert. Angesichts der Schwierigkeiten ist es deshalb nicht verwunderlich, wenn der Autor die Diagnose wagt, dass sich das Denken und Handeln eines großen Teils der Praktiker im angehenden 21. Jahrhundert in Reproduktion tradierter, auch evolvierender Praxisroutinen erschöpft, ohne von einem Gesamtverständnis des jeweiligen Unternehmens und seines jeweiligen Geschäftsmodells in der Gesellschaft auszugehen. Etwas harsch ausgedrückt: Viele Praktiker kopieren in einer Mimese (vgl. C.II.5) die Form und Oberfläche vermeintlich erfolgreicher Praktiken vermeintlich erfolgreicher Akteure und Organisationen, ohne inhaltlich und in der Tiefenstruktur die Frage zu stellen, welches die „Erklärungslücken“ ihrer spezifischen Unternehmung, ihres Geschäftsmodells, ihrer Strategie sind. Die Beobachtungsstudie hat dem Autor gezeigt, dass das nicht notwendig ist, dass man zu Verständnissen der Unternehmung in der Gesellschaft gelangen kann, die handhabbar, die einfach, aber nicht falsch sind. Es ist möglich, um Manager Gs Diktum zu wiederholen, komplexe Sachverhalte zu reduzieren, einfach zu machen – und damit lösbar zu machen.
F)
Resümee: Quo vadis Kommunikationsmanagement?
Manchmal erschließt sich eine wissenschaftliche Arbeit dadurch, dass man sich vor Augen führt, womit sie sich nicht befasst. Der Autor glaubt, dass das für die vorliegende Arbeit gilt. In der vorliegenden Arbeit geht es fast gar nicht um Stakeholder, Teilöffentlichkeiten, Zielgruppen, Journalisten oder andere Multiplikatoren, um die das Denken und Handeln in Public Relations und Kommunikationsmanagement gewöhnlich kreist. Es geht auch nicht um Konzepte, Strategien, Taktiken, Instrumente und Methoden oder „Tools“, die Direktoren Unternehmenskommunikation anwenden. Eine oder gar die Managementmethode für Kommunikationsmanager legt die Arbeit nicht vor. Und genauso wenig wurde versucht, aus den acht Fällen eine abschließende Typologie von Kommunikationsmanagern zu entwickeln, die den hunderten und aberhunderten ihrer Berufskollegen überzustülpen wäre; dazu sind großzahlige empirische Untersuchungen sehr viel besser geeignet, etwa die BdPStudie, wie sie Bentele, Großkurth und Seidenglanz regelmäßig für Deutschland durchführen, oder der European Communication Monitor oder die GAP-Studie, die in Europa und den Vereinigten Staaten durchgeführt werden. Ziel, Sinn und Zweck der Arbeit war es, zu einem tieferen und schärferen Verständnis von Kommunikationsmanagement, gerade auch in Abgrenzung von Public Relations und PR-Management, zu gelangen. Die Arbeit verschränkte dazu von Anfang an Theorie- und Feldarbeit, rieb die Resultate einer teilnehmenden Beobachtungsstudie am Mainstream der präskriptiven Theorie- und Konzeptentwicklung. Die wesentlichen Ergebnisse fasst der Autor wie folgt zusammen: A) Die fünf Axiome Der Autor entwickelt sein tieferes und schärferes Verständnis von Kommunikationsmanagement aus fünf Thesen, die in der Arbeit axiomatischen Charakter tragen. Das erste Axiom postuliert, aus der Beobachtung heraus, dass im „neuen“ Kommunikationsmanagement nach wie vor Schichten und Ablagerungen der „alten“ PR stecken (A.II.1). Die Entwicklung von PR zu Kommunikationsmanagement lässt sich, das ist die zweite axiomatische These, als ein evolutionärer Prozess beschreiben (A.II.2): Der Pressesprecher alter Prägung war in einer professionellen Organisationspraxis für den gesellschaftspolitischen Diskurs um die Organisation herum verantwortlich, wie er vor allem in den journalistischen Medien stattfand. Der Kommunikationsmanager neuer Prägung ist noch immer für ebenjenen gesellschaftspolitischen Diskurs verantwortlich, aber der Diskurs findet nicht mehr nur in journalistischen Medien statt. Das gesamtunternehmerische Handeln resoniert in schwer vorherzusagender, verwickelter Art und Weise auf gesellschaftspolitischer Ebene. In den komplexen, vernetzten Gesellschaften der Spätmoderne, mit integriert kommunizierenden Organisationen, muss der Kommunikationsmanager deshalb in andere funktiona-
H. Nothhaft, Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis, DOI: 10.1007/978-3-531-92671-1_6, © VS Verlag fuሷr Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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F) Resümee: Quo vadis Kommunikationsmanagement?
le Domänen (Personal, Forschung & Entwicklung, Marketing etc.) intervenieren und sich mit diesen koordinieren. Bleibt der oberste Kommunikationsverantwortliche hauptsächlich über die „Nabelschnur“ des Vorstandes an die Organisation angeschlossen, ist das nicht zu leisten. Um der Verantwortung gerecht zu werden, die benötigte Macht, den geforderten Einfluss aufzubauen, ist er gezwungen, als eigenständiger Akteur im unternehmenspolitischen Spiel sein ureigenes Anliegen zu vertreten. Im Management Game, das ist die dritte These (A.II.3), trifft den Akteur die Komplexität der Organisation mit voller, verwirrender Wucht. Für die Forschung heißt das: Der Akteur ist als Akteur-im-System zu begreifen, der vor der Herausforderung steht, sein eigenes „rationales“ Kalkül gegen den Organisationswiderstand, gegen die genauso „rationalen“ Kalküle anderer durchzusetzen. Hand in Hand mit der Akteur-im-System-Perspektive und der Involvierung in das unternehmenspolitische Spiel geht, dass Kommunikationsmanagement und Kommunikationsmanager-Sein endgültig auseinanderfallen (A.II.4): Im Management Game „gehören“ die relevanten Fragen dem obersten Kommunikationsverantwortlichen nicht exklusiv, qua Funktion, sondern sie sind Gegenstand der Debatte und der Diskussion: Kommunikationsmanagement geschieht genauso wie es von einem Akteur betrieben wird. Das fünfte Axiom (A.II.5) greift entsprechend die Skepsis auf, die der Autor gegenüber Konzepten hegt, welche Organisationen mehr oder minder stillschweigend technomorph zeichnen, als Maschinen in denen jedes Rädchen seine Funktion im Getriebe hat. Neben die fünf Axiome treten zwei Perspektiven (A.II.6; A.II.7), die der Autor durch die Arbeit hindurch verfolgt. Es ist zum einen die Perspektive einer doppelten Dichotomie zwischen richtig vs. falsch und gut vs. schlecht, welche Public Relations und Kommunikationsmanagement als eine professionelle und eine Organisationspraxis kennzeichnet. Es ist zum anderen die Perspektive der reflexiven Praxis, also einer Praxis, die durch wissenschaftliches Vor- und Nachdenken flankiert ist, in der ein Transfer zwischen wissenschaftlich entwickelter Theorie und beruflicher Praxis stattfindet. Dieser Transfer bedeutet aber nicht, dass wissenschaftliche Theorien eins zu eins in der Praxis angewandt würden. Der Zusammenhang ist vielmehr der, dass die Rezeption wissenschaftlicher Theorien die mentalen Modelle in den Köpfen der Praktiker verändert – wobei nicht zu übersehen ist, dass das Prestige der akademischen Wissenschaft in der beruflichen Praxis der Öffentlichkeitsarbeit häufig instrumentalisiert wird. B) Methode und Methodendiskussion – PR Research goes Management Research? Das Hauptergebnis des methodischen Teils und der Methodendiskussion lautet: Management, Manager-Sein, Als-Manager-Agieren etc. stellt einen verwickelten Komplex dar, der sich – so simpel „Shadowing“ klingen mag – nicht voraussetzungsfrei beobachten lässt. Der Forscher ist gezwungen, mit Konstrukten wie etwa Aktivitäten, Rollen, Funktionen, Tasks, Jobs etc. zu agieren. Die Vorbildstudie Henry Mintzbergs steht in einer spezifischen Tradition, die der Autor „akteurszentrierte empirische Managementforschung“ nennt. Unter B.I diskutiert die Arbeit diese Tradition und kontrastiert sie mit anderen, parallelen und komplementären. Unter B.II diskutiert der Autor die Resultate der Mintzberg-Studie, ihr Forschungsdesign, ihre Forschungslogik, die damit Hand in Hand gehenden Probleme. B.III widmet sich schließlich der eigenen Studie. Als wichtigste Punkte festzuhalten sind: (1) der Charakter der Untersuchung als qualitative Studie mit quantitativem Skelett; (2) die spiralförmige Logik qualitativer Forschung; (3) der Status der Studie als „Elitenstudie“ mit forschungs-
F) Resümee: Quo vadis Kommunikationsmanagement?
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praktischen Limitationen (z. B. restricted entry); (4) ein Bias zugunsten eines bestimmten Typs Kommunikationsmanager, der aus der Selbstselektion der Kandidaten resultiert; (5) die typisch theoretisch-exemplarische Argumentationslogik, welche theoriebildend (nicht -prüfend) mit „scraps of evidence“ (Sutton) arbeitet. Der methodische und methodenkritische Teil dient nicht ausschließlich der Diskussion methodeninhärenter Probleme einer teilnehmenden Beobachtung. Er begründet, weshalb die Arbeit theoretisch sehr viel weiter ausholt und tiefer geht als ihr Vorbild. Mintzbergs Studie ist zwar nicht naiv zu nennen, aber sie bleibt, wie allzu oft in der Managementforschung, theoretisch „hemdsärmelig“. Aus heutiger Sicht, vierzig Jahre später, kommt der Kommunikationswissenschaftler und sozialwissenschaftliche Organisationsforscher an der kombinierten Herausforderung von Systemtheorie und Konstruktivismus nicht mehr vorbei. Dieser Herausforderung stellt sich die Arbeit und repliziert die Mintzberg-Studie deshalb auf der methodischen Oberfläche, arbeitet in der theoretischen Tiefenstruktur aber nicht mit der Mintzberg’schen Akteursperspektive, sondern mit der elaborierteren Akteur-imSystem-Perspektive, die unter A bereits angesprochen wurde, unter C und D weiter entwickelt wird. C) Die Unterwerfung unter die Managementlogik Teil C setzt sich mit der Unterwerfung unter die Managementlogik auseinander, welche Public Relations von Kommunikationsmanagement unterscheidet. Auf Grundlage einer historischen Spurensuche in der PR- und Managementgeschichte (C.I, C.II) arbeitet der Autor einen PR-Habitus und eine PR-Logik heraus, die dem Managerhabitus und der Managerlogik gegenübersteht. Die Managerlogik ist aus der Genese des Managerberufes in der Industrialisierung zu verstehen. Wie die Spurensuche zeigt, entstand das Konzept des Managers in Deutschland, als sich der technisch-naturwissenschaftlich geprägte Ingenieur mit dem Buchhalter angloamerikanischer Tradition und dem Verwaltungs- und Staatsbeamten preußischer Tradition verband, das Prestige des militärischen Offiziers hinzu floss. Die Managementlogik ist entsprechend eine, die sich um Konzepte (1) der technischen, reproduzierbaren Machbarkeit, (2) um Bilanzierung, zumindest aber Quantifizierung, (3) um Kontrolle, zumindest aber prozessuale Regelung anlagert; das militärische Erbe ist eine Fixierung auf Strategie. Dem entgegen steht die PR-Logik als Logik des dritten Weges, ja als Logik des dritten Weges im dritten Weg. Die PR-Logik postuliert, dass die Durchsetzung eigener Interessen nicht nur durch Versprechen von Belohnung (carrots) oder durch Androhung von Bestrafung (sticks), sondern auch durch Einsicht in die größeren öffentlichen Zusammenhänge eines authentischen oder fingierten Allgemeinwohls (Habermas), durch neue Bedeutung, übergeordnete Sinnstiftung sichergestellt werden kann – wobei die Einsicht, polemisch ausgedrückt, gewöhnlich die des anderen ist. Der PR-Habitus spiegelt die Logik des dritten Weges wider: Der prototypische PR-Praktiker hat (1) eine ausgeprägte Tendenz, Konflikte aufzulösen statt sie auszutragen; (2) er hat eine empfindliche soziale Haut; und (3) er lebt von vornherein in einer multiperspektivierten Welt, die zwischen Schein und Sein hin- und heroszilliert. Die Herausforderung einer Karriere im Kommunikationsmanagement ist, dass der PRHabitus die frühen und mittleren beruflichen Erfolge, etwa bis zur Ebene des Pressesprechers, begünstigt. Je mehr der Kommunikationsmanager als eigenständiger Akteur in das unternehmenspolitische Spiel einsteigt, desto mehr hängt sein beruflicher Erfolg aber davon ab, wie gut er in der Lage ist, das Management Game zu spielen (C.III), sich dort durchzu-
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setzen. Er sieht sich gezwungen, einerseits „manageriell“ zu agieren, ohne andererseits das „kommunikative“ Element aus den Augen zu verlieren, das sein ureigenes Anliegen darstellt, seinen „Mehrwert“ repräsentiert. Der Autor zeichnet den Manager deshalb in einem Spannungsfeld zwischen Kommunikationsmanagement und Kommunikationsmanagement. Der Manager agiert auf fünf Ebenen: (1) als Person, (2) in der eigenen Abteilung (inside), (3) im Management Game (within), (4) in der Organisation (gleichfalls within) und (5) außerhalb der Organisation (outside). Er agiert in drei Managementdimensionen, die sich mit den Ebenen überschneiden: (a) in einem Management erster Ordnung, wo er über formale Autorität verfügt (eigene Abteilung); (b) in einem Management zweiter Ordnung, wo er sich organisationsintern auf eine übergeordnete formale Autorität zu berufen vermag (Management anderer); (c) organisationsextern in einem Management dritter Ordnung, wo er paradoxerweise Macht und Einfluss ausübt über eine Sphäre, in der er weder über das eine noch das andere verfügt: letzten Endes agiert er hier in der Kommunikationslogik, auf Basis der Kraft des besseren, überzeugenderen Arguments. Im Spannungsfeld zwischen Kommunikationsmanagement und Kommunikationsmanagement gilt es zu einer wohlgeformten Konstellation zu gelangen, die richtiges und gutes Agieren auf beiden Seiten gestattet, die zwischen (1) Unterverantwortung (Einflusslosigkeit) und Überverantwortung (Machtlosigkeit), (2) zwischen Untersystematik (Extinction by instinct) und Übersystematik (Paralysis by analysis), (3) zwischen Überstrategie und Unterstrategie, (4) zwischen Überkontrolle und Unterkontrolle, (5) zwischen Überwandel (Verflüchtigung) und Unterwandel (Erstarrung) liegt. Das Finden, Ausgestalten und Bewahren der wohlgeformten Konstellation ist, um es altmodisch auszudrücken, die erste und vornehmste Pflicht. In einer missgeformten Konstellation bleibt der Kommunikationsmanager weitgehend wirkungslos, richtet gar Schaden an. D) Das Management Game (das unternehmenspolitische Spiel) Dem Management Game nähert sich die Arbeit in einem großen Bogenschlag, geht aber von vornherein von der Akteur-im-System-Perspektive aus. Das Fundament ist ein neurobiologisch fundierter, nicht-reduktionistischer Konstruktivismus, der konsequent nicht nur die soziale Wirklichkeit (Sozialkonstruktivismus) oder die von einem Akteur wahrgenommene und erlebte Lebenswirklichkeit als Konstrukt begreift, sondern die Identität des Akteurs selbst (D.I). Der Organismus „erzeugt“ einen Akteur, der sich raumzeitlich konstant erlebt – der deshalb zu fortgeschrittener, insbesondere sozialer Handlungsplanung befähigt ist. Von ebenjener Grundlage ausgehend lässt sich das Denken und Handeln der Akteure als Suche nach einer ökonomischen Konstellation in der Lebenswelt begreifen, in der sie sich sicher fühlen, die sie mit vertretbarem Aufwand in einem „existenziellen Dreikampf“ zu halten verstehen – zu diesem gehört es auch, zu kommunizieren und sich selbst zu inszenieren. In der Spätmoderne ist die Lebenswelt freilich durchwirkt und überlagert von komplexen, ja hyperkomplexen Zusammenhängen. Das wissenschaftliche Erkenntnismodell, das dem Rechnung trägt, ist die Systemtheorie. Von Anfang an ist aber darauf zu achten, das systemtheoretische Erkenntnismodell nicht mit einem Weltmodell, die Landkarte nicht mit der Landschaft zu verwechseln. Vor allem ist zu vermeiden, in dogmatischer Applikation und um der Sterilität des Konzeptes willen die Knoten aus dem Fischernetz (Hejl), die
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Akteure, zu eliminieren. In einem Zwischenspiel (D.II) arbeitet der Autor sein Plädoyer für ein systemisches Denken aus, das in der Empirie verwurzelt bleibt. Das zentrale Konzept, welches die Arbeit unter D.III entwickelt, ist das der Funktionslebenswelt. Der Akteur ist sich bewusst, dass er eingebunden ist in ein komplexes soziales System, die Organisation und ihre Umwelten. Unmittelbar und direkt tritt ihm dies aber lebensweltlich gegenüber: Er interagiert face-to-face mit Menschen, die er „kennt“ oder zu kennen glaubt. Erst mittelbar und indirekt, an den Rändern der eigenen Funktionslebenswelt, erscheint die Umwelt als durch anonyme Funktionäre konstituiert, die anscheinend entlang „ominöser“ Systemrationalität operieren. Gleichwohl gilt es zu sehen, dass das, was dem Outsider als ominös gegenübertritt, dem Insider als vernünftige Lebensweltrationalität erscheint. Am Management Game nehmen Akteure teil, behauptet der Autor, wenn sie sich in der Funktionslebenswelt der dominant coalition, der wirklichen Entscheider einer Organisation, bewegen. Das ist deshalb von Bedeutung, weil die Mechanismen und Dynamiken der Funktionslebenswelt eben genauso menschlich sind wie sie durch „das System“ konstituiert werden: Natürlich stellen die Akteure Funktionäre und Repräsentanten dar, die ihre eigene Funktion in der Organisation „systemrational“ wahrzunehmen versuchen. Sie setzen sich aber durch oder stecken zurück, weil sie in der Interaktion mit anderen, „realen“ Menschen, etwa in Meetings, einschüchtern oder eingeschüchtert werden, schmeicheln oder ihnen geschmeichelt wird, die Zusammenhänge durchblicken oder verwirrt wurden, die Kraft für eine weitere Verhandlungsrunde haben oder müde sind. Top-Management, meint der Autor, ist nur adäquat zu verstehen, wenn man dieser Dimension genauso Rechnung trägt wie systemischen Phänomenen der Selbstreferenzialität, der Eigendynamik, des Organisationswiderstandes. E) Was Kommunikationsmanager tun, und warum Teil E gelangt zu der Diskussion der Resultate der strukturierten Beobachtung, des quantitativen Skeletts. Das geschieht in Zusammenschau mit der geleisteten Vorarbeit. Was work activities (E.II) anbetrifft, gelangt der Autor zu der Einschätzung, dass Mintzbergs 1968 gezeichnetes Bild der Arbeit eines Unternehmenslenkers auch auf „Direktoren Unternehmenskommunikation“ respektive „Pressesprecher“ zutrifft: (1) lange, ununterbrochene Arbeitszeiten; (2) ein auf der Oberfläche fragmentierter Job, der durch eine mentale Agenda in der Tiefenstruktur zu integrieren ist; (3) eine Präferenz der Akteure für konkrete Aufgaben – aber auch eine enorme Disziplin im Versuch, einen Schritt zurückzutreten, Entscheidungen aufzuschieben und zu durchdenken, zu planen; (4) zahlreiche Kontakte mit Personen außerhalb der Organisation (Boundary Spanning), aber sehr viel mehr Kontakt nach innen, insbesondere in die eigene Abteilung, zu untergeordneten und zu gleichgestellten Personen; die Kontakte zu übergeordneten Personen kurz, aber wichtig; (5) ein hoher Prozentsatz verbaler Kommunikation, der aber nicht mit Mintzbergs Studie zu vergleichen ist, weil die E-Mail-Kommunikation eine große Rolle spielt; (6) zu guter Letzt eine selbstgewählte Getriebenheit, die aus der Einbindung in die interne Koordination vieler verschiedener Projekte via Meetings oder Zur-Verfügung-Stehen für kurzfristige, schnelle Entscheidungen resultiert. Im Durchschnitt verbrachten die beobachteten Personen 35,7 Prozent der beobachteten Zeit in Sitzungen, 43,0 Prozent an ihrem Schreibtisch. Kommunikationsaktivitäten, wie etwa Telefongespräche oder Besprechungen, nahmen 68,5 Prozent ihrer Zeit in Anspruch.
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Unter D arbeitete der Autor aus, dass die Lebensweltperspektive und die Systemperspektive in der Akteur-im-System-Perspektive dergestalt ineinander fließen, dass der Akteur in einer Funktionslebenswelt agiert. Die Funktionslebenswelt zerfällt in sechs respektive sieben Sphären (E.III.1), von denen die funktionale Sphäre – diejenige, die durch die jeweilige Praxis konstituiert wird, in der der Akteur seinen „eigentlichen“ Job macht – zunächst einmal die wichtigste ist. Aus der Notwendigkeit, den „eigentlichen Job“ zu machen, erwächst aber die Notwendigkeit, viele andere Dinge zu tun, etwa die eigene Abteilung zu managen, an Vorgesetzte zu berichten, sich in der Organisation zu vernetzen – „auf dem Laufenden zu sein“. Das Auf-dem-Laufenden-Bleiben nimmt in der spätmodernen Großunternehmung enormen Raum ein: Die häufigste Funktion, die die beobachteten Kandidaten ausübten, war Koordination (durchschnittlich 14,2 Prozent der beobachteten Zeit). Aus einer anderen Perspektive tritt hervor, dass Manager komplementär zum Agieren in funktionalen Sphären in sozialen Feldern (E.III.2) operieren. Sie versuchen, ein personenbezogenes Standing aufzubauen. Angesichts der Tatsache, dass Manager nicht nur qua System, sondern eben auch qua Person agieren, ist das funktional notwendig. Den beobachteten Kommunikationsmanagern war es äußerst wichtig, als guter Chef, als normaler, auf dem Boden gebliebener Angehöriger der Unternehmung, als exzellent vernetzter Kollege im Management Game anerkannt zu sein. Das Agieren in Feldern geht aber über funktionale Notwendigkeit hinaus. Es spiegelt die Tatsache, dass Führungskräfte ihre derzeitige Position nutzen, um sich neue Kreise zu erschließen und ihren Wert zu steigern. Das Standing in der professional community, der Kommunikationsbranche, spielte bei sechs der acht Manager eine beobachtbare Rolle. Am Beispiel des Managers A zeigt der Autor, dass das soziale Standing unter Journalisten gerade im lokalen und regionalen Umfeld durchaus ein soziales, nicht nur ein funktionales ist. Neben dem Organisationsfeld geht der Autor von einem Top-Management-Feld aus, manche Führungskräfte werden von ihren Vorgesetzten als Top-Management-Material gesehen, andere setzen sich nicht durch. Das Management Game wurde als der Schnittpunkt von Lebenswelt und System par excellence charakterisiert (E.III.3). Die Betrachtung der Jobs zeigt, wie verschieden und doch ähnlich die Verantwortungsbereiche, Arbeitsweisen, Stile der diversen Kandidaten sich gestalten: einige Manager reservieren eigene Projekte für sich („Chefsachen“), andere ziehen es vor, freischwebend zu bleiben. Die Betrachtung von Rollen (E.IV.2) verdeutlicht beispielhaft, wie die beobachteten Manager in Rollenbildern agieren, um Konflikte zwischen sozialen und funktionalen Zielen aufzulösen oder abzumildern: Authentisch agierte Rollen, wie die Rolle des „rumpelnden Handwerksmeisters“, des „Agent-of-Common-Sense“ oder des „leisen Propheten“ geben der Führungskraft Manövrierraum. Die Betrachtung von Tasks (E.IV.3) gestattet es, den Job in raumzeitlicher Ausdehnung zu verstehen und als Hin- und Herspringen zwischen verschiedenen Projekten oder Chunks (T. Peters) entlang einer Agenda zu begreifen. Die Ausführungen zu Jobframing (E.IV.4) verdeutlichen schließlich, dass ein Job nicht eine feste Struktur, sondern eine Strukturation (Giddens) darstellt. Ein Job ist das Resultat eines Framings (Mintzberg), welches gerade am Anfang, nach Übernahme einer Stelle stattfindet, sich prinzipiell aber als kontinuierlicher Prozess konstituiert. Abschließend gelangt die Arbeit zu der Einschätzung, dass die Etablierung einer wohlgeformten Praxiskonstellation der entscheidende Schlüssel für die Wirksamkeit einer Person, für Erfolg und Erfolgsbeitrag ist (E.IV.5). Eng verknüpft mit Jobframing und der wohlgeformten Praxiskonstellation, aber von der Perspektive her umgekehrt, ist die größte Herausforderung eines Kommunika-
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tionsmanagers die (E.V), zu einem „Arbeitsmodell“ zu gelangen – zu einem Arbeitsmodell, das die eigene Person, den eigenen Job, die Organisation mit ihrem Operationsmodell, die Gesellschaft, Gemeinschaft und Lebenswelt integriert. Resümee Aus der Verschränkung von Theorie- und Feldarbeit gelangt die Arbeit zu einem Entwurf, der beide Begrifflichkeiten im Kompositum Kommunikationsmanagement – Kommunikation und Management – ernst nimmt. Die Arbeit verknüpft die kommunikationswissenschaftlich getriebene PR-Lehre und die betriebswirtschaftlich getriebene Managementlehre. Sie bleibt dabei rückgekoppelt an strukturiert-quantitative und unstrukturiert-qualitative Beobachtungen im Feld bei verschiedenen Praktikern. Sie verweigert sich aber der „hemdsärmeligen“ Akteursperspektive, wie sie Mintzberg in den 1970er Jahren noch einnahm. Stattdessen leistet sie umfangreiche Arbeit, um den Beruf des Kommunikationsmanagers dem heutigen Stand der Theoriebildung gemäß – konstruktivistisch und systemisch aufgeklärt – zu verstehen. In die Kommunikations- und Medienwissenschaft fügt sich die Arbeit als eine Berufsfeldstudie ein, welche die Entstehung öffentlicher Kommunikation fasst, aber auch die Mechanismen und Dynamiken durchdringt, durch die öffentliche Kommunikation auf Organisationen zurückwirkt. Quo vadis Kommunikationsmanagement? Wohin die Reise für die professionelle Organisationspraxis des Kommunikationsmanagements geht, wagt der Autor nicht zu sagen: Prophezeiungen haben das Problem, dass sie sich auf die Zukunft beziehen. Was der Autor zu prophezeien wagt ist, dass der Weg der Praxis sehr maßgeblich davon vorgezeichnet werden wird, mit welcher Ausbildung die nächste und die übernächste Generation in das Berufsfeld einsteigt. Und mit Ausbildung ist nicht die formale Qualifikation gemeint, die bei Pressesprechern in Deutschland bei über 80 Prozent Hochschulabschluss liegt (vgl. Bentele/Großkurth/Seidenglanz 2007, 57). Der „Managementguru“ Malik polemisiert, Manager sei nach wie vor ein Beruf ohne Ausbildung: Wer glaube, die Betriebswirtschaftslehre und die MBA-Kurse bildeten Führungskräfte aus, der irre sich. Sie bildeten Betriebswirte aus, business administrators. Und die Hochschulen sorgten lediglich für einen Nachschub an Ingenieuren, Juristen oder Biologen, die später einmal, im Verlauf ihrer Karriere, zu Managern avancierten – ohne dazu ausgebildet zu sein. Dass das in der Zuspitzung nicht stimmt, hat der Autor versucht zu zeigen: Die Systematik professionellen Managens ist der „hemdsärmelige“, weltläufige „große Bruder“ der wissenschaftlichen Systematik, die an Hochschulen par excellence gelehrt wird. In der sich rasant verändernden Spätmoderne, auf der Fahrt mit dem Giddens’schen DschagganathWagen (Giddens 2001), ist nur der reflektierte Praktiker auf Dauer ein guter Praktiker – und Reflektion lehrt die Hochschule wie keine andere Institution. Jenseits der pointierten Polemik geht der Autor aber mit Malik konform, sieht er ein und dasselbe Problem in der Betriebswirtschaftslehre wie auch in der Lehre der PR oder des Kommunikationsmanagements: Der Diskurs in der Ausbildung, insbesondere in der akademischen Ausbildung findet unter Ausblendung der „empirischen Unternehmung“ (Gutenberg) statt. Wenn Lehrbücher über PR und Kommunikationsmanagement geschrieben, wenn Theorie entwickelt wird, geschieht das oft unter Verfolgung der einen oder der anderen Strategie. Entweder die „reale“ Organisation, mit ihren Macht-, Einfluss- und Ha-
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ckordnungskämpfen, mit der „trägen Faktizität des Systems“ (Peters) verschwindet ganz und gar zugunsten der idealen. Oder es entsteht der Eindruck, dass das theoretische Gebäude von vornherein entwickelt wurde, um dem Praktiker Argumentationskrücken an die Hand zu geben, damit er die Unternehmensführung von den wunderbaren Segnungen exzellenten Kommunikationsmanagements zu überzeugen vermag. Die reale Unternehmung ist dann die, in der die dominant coalition es nicht begreift; die ideale ist die, in der sie es tut. Natürlich sieht es der Autor nach wie vor als von höchster Wichtigkeit an, in der Verbindung von Theorie und Praxis Konzepte zu entwickeln, welche mit theoretischer Stringenz aufzeigen, wie Organisationen durch Kommunikation und Kommunikationsmanagement erfolgreicher und überlebensfähiger werden. Inwiefern das Hand in Hand mit einer „eingebauten“ wirtschaftsethischen Argumentation gehen muss, so dass Organisationen auch „besser“ werden, stellt eine andere Frage dar. Die theoretische Stringenz sollte jedoch soweit gehen, dass man Friktion, Tension und Kompetition in realen Organisationen mit realen Umwelten systematisch, nicht nur beiläufig, als bedauerliche Lücke zwischen Theorie und Praxis, in Rechnung stellt. Anders ausgedrückt: Das Management Game, mit seinen systemischen Dynamiken und Effekten, mit seinen Irrationalitäten und Mythen gehört auf den Lehrplan, gehört auf die Agenda der Forschung. Der Autor hofft, mit einer in Verschränkung von Theorie- und Feldarbeit entstandenen Arbeit einen Schritt in diese Richtung getan zu haben.
G)
Index und Referenz
H. Nothhaft, Kommunikationsmanagement als professionelle Organisationspraxis, DOI: 10.1007/978-3-531-92671-1, © VS Verlag fuሷr Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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I)
G) Index und Referenz
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Verstehen als Zu-verstehen-Geben und Bedeutungs-/Sinnunterstellung ............................................30 Abbildung 2: Soziale Praxis Public Relations als Ziel-Zweck-Mittel-Konstellation ...............................................47 Abbildung 3: Kommunikation als Impuls und Kommunikation als Resonanz .........................................................49 Abbildung 4: Resonanz auf geschichteten Resonanzböden ......................................................................................50 Abbildung 5: Typische Resonanzböden in der Kundenbeziehung ............................................................................54 Abbildung 6: Public Relations, gesellschaftlich-gemeinschaftlich-lebensweltliche Resonanzböden ......................55 Abbildung 7: Die Verschiebung von PR zu Kommunikationsmanagement durch Vor- und Nachdenken ..............61 Abbildung 8: Die „Kommunikationsfunktion“ im Management Game und andere Vokabeln ................................77 Abbildung 9: Kommunikationsmanagement und Komplexität: Pressesprecher vs. Kommunikationsmanager ......78 Abbildung 10: Single- und Double-Loop-Learning ...................................................................................................90 Abbildung 11: Zusammenhang zwischen richtiger/falscher PR-Arbeit, Erfolg/Misserfolg und Reflektionsgrad ...92 Abbildung 12: Die Zweck-Ziel-Mittel-Konstellation als Loop .................................................................................96 Abbildung 13: Zusammenhang zwischen richtig und falsch, gut und schlecht ......................................................100 Abbildung 14: Praxis-, Reflexions- und Diskursebene ...........................................................................................106 Abbildung 15: Übersicht über ausgewählte Managementfunktionskataloge ..........................................................120 Abbildung 16: Methodische Konstrukte der empirischen Managementforschung .................................................124 Abbildung 17: Faktoren der Rollenexpertise, Manager-Rolle ................................................................................130 Abbildung 18: Berufliches Selbstverständnis als Jobs ............................................................................................135 Abbildung 19: Zeitbudget von PR-Praktikern .........................................................................................................137 Abbildung 20: 24 Rollen des Managers ...................................................................................................................138 Abbildung 21: Functions & Competences, das PRINCESS-Schema .....................................................................141 Abbildung 22: Managerial functions .......................................................................................................................142 Abbildung 23: Jobtypen ...........................................................................................................................................143 Abbildung 24: Jobtypen qua Hierarchieebene .........................................................................................................144 Abbildung 25: Think-Lead-Do ................................................................................................................................148 Abbildung 26: Mintzbergs zehn Rollen ...................................................................................................................158 Abbildung 27: Shadowing als Multimethodenmix ..................................................................................................166 Abbildung 28: Strukturiertes Protokoll, Notizbucheintrag ......................................................................................167 Abbildung 29: Beobachtungskandidaten, Positionsbezeichnung, Berichterstattungsebene, Einheitsgröße ...........174 Abbildung 30: Stufen teilnehmender Beobachtung .................................................................................................177 Abbildung 31: Beobachtete Zeit, Tage per Kandidat ..............................................................................................179 Abbildung 32: Zeit in persönlichen Kontakten per Kandidat in % der absoluten beobachteten Zeit .....................189 Abbildung 33: Funktional-integratives Schichtenmodell der PR-Geschichte ........................................................195 Abbildung 34: Öffentlichkeit als Arena ...................................................................................................................198 Abbildung 35: Öffentlichkeit als Arena mit Nah- und Fernbereichen ....................................................................201 Abbildung 36: Ein funktional-integratives Schichtenmodell der Managementgeschichte .....................................220 Abbildung 37: Management als Querschnittsfunktion ............................................................................................225 Abbildung 38: Der „eherne Fünferkanon“ ...............................................................................................................226 Abbildung 39: Hard Power vs. Soft Power ..............................................................................................................262 Abbildung 40: Die Arena revisited ..........................................................................................................................264 Abbildung 41: Der Four Step Public Relations-Process ..........................................................................................272 Abbildung 42: Bienenlogik vs. Fliegenlogik, Komplexität .....................................................................................274 Abbildung 43: Bienenlogik vs. Fliegenlogik, Kontrolle .........................................................................................276 Abbildung 44: Arbeit vs. Management ....................................................................................................................283 Abbildung 45: Management in drei Dimensionen ...................................................................................................286 Abbildung 46: Management in zwei Dimensionen .................................................................................................288 Abbildung 47: Management in zwei Dimensionen .................................................................................................292 Abbildung 48: Die betriebswirtschaftlichen Strategieebenen .................................................................................299 Abbildung 49: Strategisches und Operatives Management .....................................................................................300 Abbildung 50: Der strategische Horizont ................................................................................................................303 Abbildung 51: Skopus der Regelung I .....................................................................................................................308
I. Abbildungsverzeichnis
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Abbildung 52: Skopus der Regelung II ...................................................................................................................309 Abbildung 53: Skopus der Regelung III ..................................................................................................................310 Abbildung 54: Skopus der Regelung IV ..................................................................................................................311 Abbildung 55: Das Kräftefeld der wohlgeformten Konstellation ...........................................................................316 Abbildung 56: Organismus, Mensch, Akteur ..........................................................................................................330 Abbildung 57: Frames – vague vs. sharp, imposed vs. invented .............................................................................357 Abbildung 58: Mentale Modelle, erlebte Geistes- und erlebte Körperwelt ............................................................371 Abbildung 59: Mentales Modell als abstraktes Konstrukt ......................................................................................376 Abbildung 60: Mentale Modelle transparent, opak, solid .......................................................................................379 Abbildung 61: Außenwelt, soziale Welt, Geisteswelt .............................................................................................386 Abbildung 62: Der „existenzielle Dreikampf“ generisch ........................................................................................395 Abbildung 63: Der „existenzielle Dreikampf“ in spätmodernen Arbeitsverhältnissen ..........................................396 Abbildung 64: Das World-Dynamics-Model ...........................................................................................................408 Abbildung 65: Konventionell-systemische Modellierung und akteursbasierte Modellierung ...............................411 Abbildung 66: Ordnung, Zweck, Sinn, Wille ..........................................................................................................415 Abbildung 67: Interlocked behaviour von Akteuren, Funktions-, Job-, Task-, Rollenemergenz ...........................422 Abbildung 68: Funktionslebenswelt ........................................................................................................................441 Abbildung 69: Multiperspektivierung des Akteurs durch sich selbst ......................................................................445 Abbildung 70: Überblick über die Kandidaten und ihre Unternehmen ...................................................................461 Abbildung 71: Leitungsspanne, Gliederungstiefe ...................................................................................................463 Abbildung 72: Beobachtete Zeit per Kandidat ........................................................................................................466 Abbildung 73: Abendverpflichtungen im Beobachtungszeitraum per Kandidat ....................................................468 Abbildung 74: Sessions per Kandidat in % der absolut beobachteten Zeit .............................................................471 Abbildung 75: Struktur einer Session ......................................................................................................................472 Abbildung 76: DESK-Sessions und MEET-Sessions per Kandidat ........................................................................473 Abbildung 77: Vergleich der Studie des Autors mit DeSanto/Moss 2004 ..............................................................474 Abbildung 78: Aktivitätstypen per Kandidat in % der absolut beobachteten Zeit ..................................................475 Abbildung 79: Aktivitäten, Anzahl und Zeit per Kandidat .....................................................................................476 Abbildung 80: Prozentsatz Kommunikationsaktivitäten in diversen Studien .........................................................478 Abbildung 81: DESK-Aktivitäten per Kandidat in Prozent der mit DESKWORK verbrachten Zeit ....................479 Abbildung 82: CHECK/EDIT, Anzahl Aktivität, Zeit insgesamt, Zeit pro Aktivität per Kandidat .......................481 Abbildung 83: Meetingtypen per Kandidat in % der absolut beobachteten Zeit (Quelle: eigene Darstellung) ......483 Abbildung 84: Tagesablauf aufgabengetrieben vs. ereignisgetrieben, DESK- vs. MEET .....................................484 Abbildung 85: DESK vs. MEET per Kandidat ........................................................................................................486 Abbildung 86: Selbst- vs. fremdbestimmte Kommunikationstypen .......................................................................487 Abbildung 87: Kontakttypen in % der absoluten beobachteten Zeit per Kandidat .................................................491 Abbildung 88: Kontakte intern und extern in % der Kontaktzeit per Kandidat ......................................................492 Abbildung 89: Kontaktrichtung der internen Kontakte in % der internen Kontaktzeit per Kandidat ....................493 Abbildung 90: Interne Kontakte en detail, in % der internen Kontaktzeit per Kandidat ........................................495 Abbildung 91: Externe Kontakte en detail, in % der externen Kontaktzeit per Kandidat ......................................498 Abbildung 92: Netzwerk- und Beraterkontakte in % der externen Kontaktzeit per Kandidat ...............................499 Abbildung 93: Kontaktzahl und Kontaktdauer mit externen Beratern, Managerin B und F ..................................500 Abbildung 94: Funktionen in der Funktionslebenswelt ...........................................................................................506 Abbildung 95: Managementfunktionen in % der gesamten beobachteten Zeit per Kandidat ................................509 Abbildung 96: Agenda, Projekte, Chunks ...............................................................................................................538
II. Dokumentation der Daten
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Dokumentation der Daten
Als die Untersuchungskandidaten in die Teilnahme an der Studie einwilligten, sicherte ihnen der Forscher Anonymisierung des verwendeten Materials, darüber hinaus Vertraulichkeit zu. Die Interviews, welche der Autor mit den Kandidaten durchführte, liegen als Transkription vor. Trotz Anonymisierung ist es einem Branchenkenner jedoch ohne weiteres möglich, aus dem Gesamtzusammenhang der Äußerungen herauszulesen, um welche Person es sich handelt. Die Interviews sind deshalb, entgegen wissenschaftlicher Gepflogenheiten, nicht Bestandteil der Arbeit. Sollten Forscher begründete Zweifel gegen die vom Autor verwendeten Zitate vorbringen, besteht unter Umständen die Möglichkeit, Einsicht in die Transkripte zu nehmen. Der Autor behält sich vor, das im Einzelfall zu entscheiden. Die Codierungen der strukturierten Beobachtung wurden, wie unter B.III beschrieben, in MS Excel-Kalkulationsmappen eingetragen, die der Autor seinen Bedürfnissen entsprechend gestaltet hatte. Die Summen, Prozent- und Mittelwerte aus diesen Codierungen (höhere statistische Verfahren wandte der Autor nicht an) bilden die Daten, die in der Arbeit diskutiert wurden: In vielen Fällen sind jedoch die einzelnen Daten auch aus der Arbeit ersichtlich. Wie unter B.III ausgeführt, codierte der Autor im Verlauf der acht Wochen über 4 000 Aktivitäten in verschiedenen Kategorien. Bei begründetem Interesse gewährt der Autor Einblick in die Bögen – aus Vertraulichkeitserwägungen heraus jedoch unter Tilgung der Ereignisse, die zu der entsprechenden Codierung führten. Die Notizbücher, welche der Autor für Roheinträge und vorläufige Codierung vor Ort verwendete, enthalten vertrauliche Beobachtungen. Der Autor bittet deshalb um Verständnis dafür, dass er sie unter Verschluss hält.
III. Literaturverzeichnis
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Literaturverzeichnis
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