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Editorische Notiz
Titelbild
Die digitale Fassung dieses Buches, das seit einigen Jahren nicht mehr lieferbar ist, kann und soll nach dem Wunsche des Editors frei verbreitet werden, solange keine Neuauflage erscheint. Sollte der Verlag sich dazu entschließen, wird darum gebeten, die digitale Fassung durch den Kauf des Originals zu legitimieren. Obwohl diese digitale Ausgabe korrektur-gelesen wurde, ist die Ausgabe nicht fehlerlos. Im Zweifelsfall sollte die Originalausgabe hinzugezogen werden. Ansonsten ist dies Ausgabe voll zitierfähig. Die Originalseitenangaben finden sich am Rand. Alle Seitenverweise im Text beziehen sich auf diese Seitenzahlen. Zeichen im Rotdruck gehören nicht zum Original des Buches, sondern sind editorische Bemerkungen. Wörter in eckigen Klammern am Ende einer Seite verweisen auf eine Silbentrennung im Original. Oliver Martext, Editor Version 1 der digitalen Ausgabe
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Christoph Bäumler, Kommunikative Gemeindepraxis CHRISTOPH BÄUMLER
KOMMUNIKATIVE GEMEINDEPRAXIS Eine Untersuchung ihrer Bedingungen und Möglichkeiten
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CHR. KAISER CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Bäumler, Christof: Kommunikative Gemeindepraxis : e. Unters. ihrer Bedingungen u. Möglichkeiten / Christof Bäumler. -München : Kaiser, 1984. ISBN 3-459-01533-0 © 1984 Chr. Kaiser Verlag, München Alle Rechte vorbehalten, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung; Fotokopieren nicht gestattet Umschlag: Ingeborg Geith, München Gesamtherstellung: Sulzberg-Druck GmbH, Sulzberg im Allgäu
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FÜR PETER KRUSCHE ZUM 60. GEBURTSTAG INHALTSVERZEICHNIS Zur Einführung I.Gemeinde der Befreiten 1. Was heißt »Gemeinde unter dem Evangelium«? 2. Kommunikation des Evangeliums 3. Kommunikative Gemeindepraxis 3.1 Gleichnisse Jesu als kommunikative Sprachhandlungen und die kommunikative Gemeindepraxis als Gleichnis der Gottesgerechtigkeit 3.2 Die paulinische Charismenlehre 3.3 Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum 3.4 Dietrich Bonhoeffer: »Christus als Gemeinde existierend« 4. Auf der Suche nach einer Leitvorstellung für die Gemeinde 5. Kommunikative Gemeindepraxis zwischen Erwartung und Realität II.Funktionen und Strukturen christlicher Gemeinden 1. »Gemeinde der Befreiten« als Hypothese der empirischen Analyse 2. Erläuterung der verwendeten Begriffe 2.1 Funktionen als tatsächliche und wünschenswerte Folgen von Handlungen 2.2 Strukturen als unveränderbare bzw. veränderbare Voraussetzungen von Funktionen 2.3 Zum Verhältnis von Funktionen und Strukturen 3. Tatsächliche und wünschenswerte Funktionen christlicher Gemeinden 3.1 Sinnvermittlung und Hilfe in Krisensituationen als tatsächliche Funktionen christlicher Gemeinden 3.2 Zeugnis, Gemeinschaft und Dienst als wünschenswerte Funktionen christlicher Gemeinden 3.3 Kritische Vermittlung von tatsächlichen und wünschenswerten Funktionen christlicher Gemeinden 4. Funktionstypen christlicher Gemeinden 4.1 Die bewußtseinsorientierte Gemeinde 4.2 Die bedürfnisorientierte Gemeinde 4.3 Die handlungsorientierte Gemeinde
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4.4 Kritische Integration der Funktionstypen 5. Tatsächliche und wünschenswerte Strukturen christlicher Gemeinden 5.1 Die organisierte Parochie als tatsächliche Struktur christlicher Gemeinden 5.2 Die geistliche Kommunikationsgemeinschaft als wünschenswerte Struktur christlicher Gemeinden 5.3 Kritische Vermittlung von kommunikativen und organisatorischen Gemeindestrukturen 6. Strukturtypen christlicher Gemeinden 6.1 Die verwaltungsorientierte Gemeinde 6.2 Die organisationsorientierte Gemeinde 6.3 Die kommunikationsorientierte Gemeinde 6.4 Kritische Integration der Strukturtypen 7. Personalstruktur christlicher Gemeinden 7.1 Religiöse Berufsrollen und religiöse Freizeitrollen 7.2 Zur Problemgeschichte der Bestimmung des Verhältnisses von »Amt« und »Gemeinde« 7.3 Der Pfarrer in der Schlüsselrolle 7.4 Teampfarramt 7.5 Gruppen-Gemeindeamt 7.6 Basis -Gemeinden III. Gemeinde als Prozeß 1. Wie wir wurden, was wir bewußtseinsmäßig und strukturell sind 2. Gemeinden entdecken ihre eigene Geschichte. Zwei Beispiele 3. Zur Rolle des Amtes im Prozeß Gemeinde 4. Modelle der Entscheidungsfindung: »Verfahren« oder »Diskurs«? 5. Diskurs als regulatives Prinzip der Verfahren im »Prozeß Gemeinde « 5.1 Die Gemeindeglieder als Subjekte des Prozesses Gemeinde 5.2 Entscheidungen durch Verfahren sind vorläufig und revidierbar 5.3 Der unabschließbare und grenzenlose Diskurs als Grundmodell der »Kommunikation des Evangeliums« 6. Unterwegs zur kommunikationsorientierten Gemeinde? 6.1 Das Verhältnis der Ortsgemeinde zur großkirchlichen Organis ation als Sonderfall des Verhältnisses von Lebenswelt und System
75 81 81 83 87 90 90 91 92 94 97 100 103 106 108 109 110 117 119 124 129 130 134 135 136 137 139
6.2 Prozesse in der Gemeinde 6.3 Gemeindeplanung als sozialer Prozeß 6.4 Gemeinden im Prozeß permanenter Strukturreformen
140 145 150 153
Norbert Mette, Gemeinde ist möglich. Ein Nachwort Abkürzungsverzeichnis Namenregister
157 165 167
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ZUR EINFÜHRUNG
»Kommunikative Gemeindepraxis« – das klingt wie die etwas komplizierte Bezeichnung einer Selbstverständlichkeit. Was könnte die Praxis einer christlichen Gemeinde denn anderes sein, als die Gestaltung der wechselseitigen Beziehungen ihrer Mitglieder zur Wahrnehmung ihres gemeinsamen Auftrags? In der Tat entspricht die Erscheinung einer kommunikativen Gemeindepraxis dem Wesen der christlichen Gemeinde als der »sanctorum communio«. Die Realität volkskirchlicher Gemeinden sieht in der Regel anders aus. Ihre Mitglieder erwarten vom Pfarrer und seinen Mitarbeitern, daß sie ihnen zur Verfügung stehen, wenn es gilt, Sinnfragen zu klären oder wenn in Krisensituationen Hilfe benötigt und an den Wendepunkten des Lebens Begleitung und Rat erwartet werden. Besonders in dieser zweiten Hinsicht werden Gemeinden weithin als »Dienstleistungsbetriebe« verstanden, in denen die Pfarrerinnen und Pfarrer die Schlüsselrolle innehaben. Es hat viel für sich, wenn man aus diesem Befund die Folgerung ableitet, die Gemeindepfarrer und ihre Mitarbeiter hätten sich eine derartige Berufskompetenz anzueignen, die sie in die Lage versetzt, ihren Beruf auf eine solche Weise wahrzunehmen, daß Menschen dadurch geholfen wird, ihr Leben trotz ständiger Gefährdung zuversichtlich zu führen. Eben dies wird den Pfarrern und ihren Mitarbeitern aber nur dann gelingen können, wenn sie die Gemeindeglieder nicht nur als Adressaten ihrer vielfältigen Bemühungen ansehen, die oft vergeblich zu sein scheinen, sondern sie als freie Christenmenschen anerkennen, die dazu bestimmt sind, ihr Leben selbst zu gestalten. Diese Einsicht verwehrt es jedenfalls, den »Amtsvorteil« für irgendeine Art von Bevormundung und Indoktrination zu mißbrauchen. Sie weckt zugleich die Bereitschaft, sich in der Gemeindepraxis mit allen Gemeindegliedern auf eine gemeinsame Suchbewegung einzulassen. In diesem Buch sollen die Bedingungen untersucht werden, unter denen diese gemeinsame Suchbewegung stattfindet und es soll zugleich auf die Möglichkeiten für eine besser gelingende Gemeindepraxis hingewiesen werden. Wer Ratschläge erwartet, was zu tun ist, um eine alle Beteiligten befriedigendere Gemeindepraxis zu erreichen, wird freilich enttäuscht werden. Denn »kommunikative Gemeindepraxis« kann nur in der konkreten Situation selbst entwickelt und vollzogen werden.
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Aber eben um dies tun zu können, ist das Nachdenken über die Bedingungen, unter denen die konkrete Gemeindepraxis stattfindet und über die Möglichkeiten, die in ihr enthalten sind, keineswegs überflüssig, sondern vielmehr notwendig. Zunächst werden im I. Kapitel einige Überlegungen zur Begründung kommunikativer Gemeindepraxis dargestellt mit dem Ziel, einen Leitgedanken für eine gemeinsame Orientierung herauszuarbeiten. Durch die Formulierung »Gemeinde der Befreiten« soll ausgedrückt werden, daß die christliche Gemeinde auf der durch Gott in Jesus Christus bewirkten Freiheit zum Leben begründet ist und daß eine kommunikative Gemeindepraxis dieser Freiheit zu entsprechen versucht. Dieser Leitgedanke »Gemeinde der Befreiten« wird an den Gleichnissen Jesu, an der paulinischen Charismenlehre, an Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum und an Dietrich Bonhoeffers Formulierung »Christus als Gemeinde existierend« erläutert. Dabei zeigt sich, daß sich kommunikative Gemeindepraxis in unterschiedlichen geschichtlichen und gesellschaftlichen Situationen da vollzieht, wo die Freiheit der einzelnen respektiert wird und wo diese Freiheit in der Liebe an ihr Ziel kommt. Deshalb ist die Offenheit der kommunikativen Gemeinde nicht mit der Beliebigkeit zu verwechseln, die jeweils nach den eigenen Interessen aus dem Angebot auswählt. Vielmehr verpflichtet das besonders von Dietrich Bonhoeffer herausgearbeitete Prinzip der »Stellvertretung« die Gemeinden dazu, sich als ein Gleichnis des Reiches Gottes zu begreifen und sich in ihrer Praxis für Frieden und Gerechtigkeit in Freiheit und Liebe einzusetzen. Daß sich die Wahrnehmung dieser Verpflichtung unter jeweils konkreten geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen vollzieht, wird im II. Kapitel untersucht. Den Übergang stellt der letzte Absatz des I. Kapitels her. In ihm wird darauf aufmerksam gemacht, daß es beim Stand der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse gerade die Störungen der Lebenswelt sind, die nach Möglichkeiten kommunikativer Gemeindepraxis Ausschau halten lassen. Mit Hilfe der Begriffe »Funktion« und »Struktur« wird dann im Il. Kapitel der Frage nachgegangen, welche Ziele für die Gemeindepraxis leitend sind und von welchen personellen und materiellen, kirchenrechtlich gefaßten Voraussetzungen ihre Verwirklichung abhängt. Dabei geht der Leitgedanke »Gemeinde der Befreiten« als Hypothese in die Untersuchung ein und dient dazu, faktische und mögliche Gemeindepraxis sowohl voneinander zu unterscheiden wie aufeinander zu beziehen. Es zeigt sich nämlich, daß die Bedürfnisse der Gemeindeglieder, geht man ihnen genauer nach, als »Chiffre für Subjekthaftigkeit« (Gert Schneider)
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begriffen werden können, die ihre Begründung in jener geschenkten Freiheit findet, die wir nicht selbst produzieren können. Von dieser Einsicht aus legt es sich nahe, weder der »Normativität des Faktischen« resigniert das Feld zu überlassen noch mit uneinlösbaren Forderungen an die Gemeindepraxis an Stelle der Freiheit des Evangeliums den Zwang des Gesetzes aufzurichten. Kommunikative Gemeindepraxis entwickelt sich als eine gemeinsame Suchbewegung im Prozeß Gemeinde. Dieser Sachverhalt wird im III. Kapitel erörtert. Dabei wird klar, daß die geschichtliche Hypothek der Bestimmung des Verhältnisses von »Amt« und »Gemeinde« in gemeinsamer Praxis abgearbeitet werden muß. Überlegungen zur funktionsgegliederten und kooperativen Gemeindeleitung bis hin zu den Erfahrungen der Basisgemeinden machen Probleme und Möglichkeiten der Partizipation der Gemeindeglieder am Prozeß Gemeinde und an den Prozessen in der Gemeinde deutlich. Die dabei keineswegs verschwiegenen Verlegenheiten behalten dann nicht das letzte Wort, wenn zwei Gedanken zur Orientierung dienen: Einmal ist der Prozeß einer Gemeinde immer zugleich ein Moment der universalen Befreiungsgeschichte der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit, in dem die Spannung zwischen dem »Schon« der geschenkten Freiheit und dem »Noch-Nicht« ihrer vollen Verwirklichung produktiv auszuhalten ist. Ansätze zu einem Klima des Diskurses in der Gemeindepraxis werden als Zeichen der auf diese Weise produktiv ausgehaltenen Spannung begreifbar und nachvollziehbar. Damit hängt der zweite Gedanke zusammen, der am klarsten im Begriff der »Stellvertretung« zum Ausdruck kommt. »Kommunikative Gemeindepraxis« ist nicht nur an der Herstellung gelungener Beziehungen zwischen den Gemeindegliedern interessiert. Vielmehr vollzieht sich in ihr stellvertretend ein Prozeß, der unter begrenzten örtlichen Bedingungen in einem weltweiten Kontext steht. Die »Gemeinde der Befreiten« kann sich nicht in einem parochialen Provinzialismus häuslich einrichten. Sie sollte wenigstens eine Prise jenes »Salzes der Erde« schmecken lassen, als das Jesus von Nazareth seine Jünger bezeichnete. Wenn kommunikative Gemeindepraxis im konkreten Vollzug auch fragmentarisch bleibt, so ist dies kein Grund zur Verdrossenheit, wenn dem Fragment wenigstens angesehen werden kann, wie das Ganze gemeint ist. Diese fragmentarische Gemeindepraxis ist offen in einem doppelten Sinn: für die Grundbedürfnisse der Gemeindeglieder, als freie Menschen anerkannt und geliebt zu werden und für die Solidarität mit den Leidenden, denen ihr Recht, Mensch zu sein, auf vielfältige Weise bestritten, verkürzt und zerstört wird.
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Beides gilt deshalb, weil die christliche Gemeinde offen ist für die Zukunft der vollen Entfaltung der Gottesgerechtigkeit, die in Jesus Christus bereits in Kraft gesetzt und eröffnet wurde. Auch dieses Buch ist ein Fragment. Karl-Fritz Daiber, Norbert Greinacher, Norbert Mette, Rüdiger Schloz, Rolf Zerfaß und ich hatten vor drei Jahren ein gemeinsames Projekt mit dem Arbeitstitel »Praxistheorie der Kirchengemeinde« begonnen, das aus verschiedenen Gründen nicht in der vorgesehenen Weise abgeschlossen werden konnte. Diese Veröffentlichung kann und will nicht alle Erwartungen einlösen, die uns damals vorschwebten. Daß ich meine für dieses Projekt vorgesehenen Beiträge ausarbeitete und durch das vorangestellte I. Kapitel ergänzte, geht neben den Anregungen der Kollegen der Projektgruppe vor allem auf die ermutigende, kritischkonstruktive Förderung durch Verlagsleiter Manfred Weber und Lektor Ulrich Kabitz vom Chr. Kaiser Verlag zurück. Die Kapitel II und III wurden in ihrer ursprünglichen Fassung als Seminarpapiere in einschlägigen Lehrveranstaltungen mit den Teilnehmern diskutiert. Die Gemeindepfarrerin Marianne Pflüger sowie die Gemeindepfarrer Matthias Flothow und Klaus Rückert unterzogen sich der Mühe, die Entwürfe kritisch zu kommentieren. Das ganze Manuskript wurde von Godwin Lämmermann durchgearbeitet und mit Änderungsvorschlägen versehen. An der Herstellung des Manuskripts waren Ilse Lievendag, Elke Frieß und Claudia Trescher beteiligt; Brigitte Feiks und Gerda Urban erstellten das Namenregister. Bei allen Genannten bedanke ich mich herzlich für ihren Beitrag zur Entstehung dieses Buches. Als mögliche Leser standen mir zunächst Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer sowie Theologiestudierende, die sich auf diesen Beruf vorbereiten, vor Augen. Ob und wie Möglichkeiten kommunikativer Gemeindepraxis entdeckt und verwirklicht werden können, das hängt nicht zuletzt davon ab, auf welche Art und Weise sie ihre faktische Schlüsselrolle wahrnehmen. Aber das Buch wurde nicht nur für sie geschrieben. Als Leser wünsche ich mir ebenso hauptberufliche, nebenberufliche und ehrenamtliche Mitarbeiten in den Gemeinden, die Mitglieder ihrer Leitungsgremien und ihre Vertreter in den Synoden. Hoffentlich ist das Buch trotz der bei einer Untersuchung unvermeidlichen Fachterminologie auch solchen Gemeindegliedern zugänglich, die erwartungsvoll oder skeptisch, engagiert oder distanziert auf jeweils ihre Weise an der Gemeindepraxis beteiligt sind. Wenn einige von ihnen durch diese Abhandlung dazu veranlaßt werden, von ihrem Recht Gebrauch zu machen, sich an der Verwirklichung einer kommunikativen [kommunika- tiven]
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Gemeindepraxis selbständig, auf ihre individuelle Art und Weise und ihren Möglichkeiten entsprechend zu beteiligen, dann wäre ein vorrangiges Ziel dieser Veröffentlichung erreicht. Ich widme dieses Buch Peter Krusche zu seinem 60. Geburtstag als Zeichen des Dankes für freundschaftliche Begleitung und langjährige kollegiale Zusammenarbeit. Garching, im August 1983
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I. GEMEINDE DER BEFREITEN
Bei einem Fortbildungskurs für Jugendleiter wurde den Teilnehmern die Aufgabe gestellt, mit Material aus dem Sperrmüll ein Modell anzufertigen, aus dem ihre Vorstellungen von »Konfirmation« zu erkennen sein sollten. Eine Gruppe klebte Holzleisten auf einen Karton, verteilte schwarze Klötzchen gleichmäßig auf diesen, ordnete ihnen gegenüber drei weitere kurze Leistenstücke an und klebte einen großen, schwarzen Klotz in ihre Mitte. Das Modell wurde so interpretiert: Die in Reih und Glied auf den Kirchenbänken sitzenden Konfirmanden sind auf den zwischen Altar, Taufstein und Kanzel angeordneten Pfarrer hin orientiert. Die Gruppe stellte heraus, daß diese Momentaufnahme der Konfirmation zugleich für ihre Vorstellung von Gemeinde maßgebend ist, in die diese Konfirmanden eingegliedert werden sollen. Es handelt sich nach diesem Modell bei einer christlichen Gemeinde offensichtlich um eine Gruppe von Menschen, die an einem besonderen Ort zusammenkommt, um dort von einem Pfarrer die Predigt des Evangeliums zu hören und das Sakrament des Herrenmahls zu empfangen. Dieses Modell und seine Interpretation scheint auf den ersten Blick der Aussage von CA VII zu entsprechen: »Die Kirche ist die Versammlung aller Gläubigen, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die Heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß dargereicht werden. «
Dennoch ist bei genauerem Zusehen der Widerspruch zwischen der Starrheit des Modells und der Dynamik des Satzes aus der Confessio Augustana unverkennbar. Seit 1530 gehört dieser Satz zur verbindlichen Lehre der lutherischen Kirchen. Nach diesen, vor dem Augsburger Reichstag vorgetragenen Formulierungen Philipp Melanchthons, besteht das Wesen der Kirche, der »Versammlung aller Gläubigen«, darin, daß in ihr das Evangelium »rein« gepredigt und die Sakramente dem Evangelium gemäß ausgeteilt werden.1 Es ist zunächst bemerkenswert, daß in dieser Definition nur vom Evangelium die Rede ist, nicht zugleich vom Gesetz.2 Ferner werden weder das kirchliche Amt noch die Bekenntnisschriften als Wesensmerkmale der Kirche ausdrücklich erwähnt, wenn auf die Bedeutung der Bekenntnisschriften [Be- kenntnisschriften]
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»Der Relativsatz fügt nichts Neues zu der Bestimmung ›Versammlung aller Gläubigen‹ hinzu, sondern erklärt sie.« Edmund Schlink, Theologie der lutherischen Bekenntnisschriften, München 19472 , 273 2 AaO. 269f
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für die kirchliche Praxis auch durch die Bestimmung der Evangeliumspredigt als »rein« hingewiesen und die Lehre über das kirchliche Amt in CA V vorausgesetzt wird.3 Die Bekenntnisse sind Antwort auf die Evangeliumspredigt und Frucht des Heiligen Geistes, nicht seine Mittel, wie Wort und Sakrament4 und das kirchliche Amt ist keine gegenüber der Gemeinde selbständig bestehende Institution, sondern allein Dienst am Evangelium.5 1. Was heißt »Gemeinde unter dem Evangelium«? Die Dynamik von CA VII erschließt sich erst dann, wenn erkannt wird, was das diesen Satz bestimmende Wort »Evangelium« bedeutet. Herrscht darüber Klarheit? »Es sieht heute so aus, als ob dieser Hinweis auf das Evangelium von Jesus Christus eine der wenigen Möglichkeiten darstellt, das spezifisch Christliche der Kirche auf einen Nenner zu bringen, dem eine breite Zustimmung gewiß sein kann. Diese so erfreuliche Übereinstimmung in einem so zentralen Punkt ist allerdings um den Preis erkauft, daß die Rede vom Evangelium in der Kirche weithin zu einer blassen Formel geworden ist, die den Begründungszusammenhang für das Gesamtgeschehen Kirche mit allen seinen Aktivitäten abgeben soll.« 6
Dieser Umstand ist wohl auch dafür verantwortlich, daß man in der im Erscheinen begriffenen Theologischen Realenzyklopädie, wie bereits in ihrer Vorgängerin, unter dem Stichwort »Evangelium« keinen eigenen Beitrag findet, sondern lediglich einen Hinweis auf Gesetz und Evangelium. In der dritten Auflage der RGG fehlt selbst ein solcher Hinweis. Weiterhin scheint ein Konsens darüber zu bestehen, »daß ›Evangelium‹ zu einem terminus technicus für die christliche Verkündigung geworden sei«7 . Für die Leser des Paulus, der im Neuen Testament den Begriff »Evangelium« am häufigsten gebraucht und zwar in fast beinahe der Hälfte aller Fälle absolut, war dies nach der Auffassung von Gerhard Friedrich noch völlig anders. »Die Leser wissen, was Evangelium ist. Darum erübrigt sich eine Erklärung.«8 Diese Auskunft vermag nicht recht zu befriedigen. Immerhin könnte sich in dem absoluten Gebrauch des Begriffes » Evangelium«
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AaO. 275 Ebd. 5 AaO. 276 6 Ulrich Luck, Inwiefern ist die Botschaft von Jesus Christus »Evangelium«?, in: ZTW 77 (1980), 1,24-45, Zitat 24 7 AaO. 24 8 Gerhard Friedrich, ThWNT 11, 726, 37f 4
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bereits die gegenwärtige formelhafte Redeweise angebahnt haben. Dann ist es aber notwendig, der Bedeutung des Begriffes »Evangelium« in den biblischen Texten nachzugehen. Für Ulrich Luck lautet das Ergebnis solcher Bemühung: »Das Evangelium ist die Antwort auf die den Menschen in seinem Grunde bewegende Frage nach der Gerechtigkeit, nach der Ordnung, die sein Leben trägt, nach der Heil und Leben schenkenden Ordnung der Welt.« 9
Im Auftreten und im Geschick Jesu vollzieht sich die Durchsetzung der Gottesgerechtigkeit, die im alttestamentlichen Thronbesteigungsritual bereits angekündigt wurde. Jesus hat die offenbar werdende Gottesgerechtigkeit nicht nur angekündigt wie der Freudenbote und wie der Prophet, sondern sie selbst vollzogen. Mit Ulrich Luck ist hier noch ein Schritt weiterzugehen: »Jesus hat nicht nur das Evangelium verkündet und es selbst vollzogen. Er hat das Schicksal der an der Verborgenheit der Gerechtigkeit Leidenden selbst auf sich genommen und das Geschick des Armen, um der Gerechtigkeit willen Verfolgten bis in den Tod durchgehalten. « 10
Sein Geschick in Kreuz und Auferweckung ist die Bewahrheitung seiner Botschaft. Ist das Evangelium die in Verkündigung, Verhalten und Geschick Jesu sich durchsetzende Gottesgerechtigkeit, so bedeutet das: dem Evangelium entspricht der Glaube und das Evangelium betrifft das ganze Leben. Glaube an das Evangelium von der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit ist deshalb Glaube gegen den Augenschein, weil der Mensch in der Welt Ungerechtigkeit erlebt, Leiden und Tod erfährt. Diesen Erlebnissen nicht auszuweichen, sie also nicht zu verdrängen und dennoch auf die sich durchsetzende Gerechtigkeit Gottes vertrauen, das heißt: glauben. Wenn aber das Evangelium die sich durchsetzende Gerechtigkeit Gottes ist, dann befreit der Glaube an das Evangelium dazu, Vertrauen in die Welt zu gewinnen und Mut zum Leben zu fassen. 2. Kommunikation des Evangeliums Wenn diese inhaltliche Bestimmung des Begriffes »Evangelium« zutrifft, dann hat das auch Konsequenzen für die Gemeinden, in denen, nach einer
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Ulrich Luck, aa0. 40 AaO. 39
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Formel von Ernst Lange, die »Kommunikation des Evangeliums«11 stattfindet. Lange setzt den Inhalt des Begriffes »Evangelium« als bekannt voraus und ersetzt den Begriff »Verkündigung« oder gar »Predigt« des Evangeliums durch den Begriff der »Kommunikation«, »weil der Begriff das prinzipiell Dialogische des genannten Vorgangs akzentuiert und außerdem alle Funktionen der Gemeinde, in denen es um die Interpretation des biblischen Zeugnisses geht – von der Predigt bis zur Seelsorge und zum Konfirmandenunterricht – als Phasen und Aspekte ein und desselben Prozesses sichtbar macht«12 .
Daß dieser Prozeß prinzipiell dialogisch ist, wird von Ernst Lange gegenüber der Auffassung geltend gemacht, der »Hörer stecke im Text«, so daß der Prediger sich deshalb »um das Besondere der Situation seines Hörers nicht zu kümmern habe, sondern nur um den Text«13 . Selbstverständlich gebe es Konstanten in der Situation des Menschen vor Gott und in der Welt, und deshalb habe die Formel »der Hörer steckt im Text« auch eine eingeschränkte Gültigkeit. Für den Dialog komme es jedoch darauf an, »das Variable in der menschlichen Situation vor Gott und in der Welt, ihre Geschichtlichkeit, ihre Veränderlichkeit, ihre Jeweiligkeit ganz ernst zu nehmen « 14 .
Mit dem Begriff »Kommunikation des Evangeliums« möchte Ernst Lange ferner »das Ganze des Lebens und Arbeitens einer Gemeinde, soweit es darin um die Interpretation der biblischen Botschaft geht, in seiner Einheit und seiner Differenziertheit greifbar machen « 15 .
Er unterscheidet vier Stufen der Interpretation, nämlich. 1. Die Vollversammlung der Gemeinde im sonntäglichen Gottesdienst, 2. den Katechumenat, 3. Kasualpredigt und Seelsorge und 4. den alltäglichen Gottesdienst der einzelnen Christen. Alle Stufen seien auf die vierte Stufe als auf den Ernstfall der Anfechtung und des Glaubens hin auszurichten. Unter Berufung auf Röm 12,1.2 stellt Ernst Lange den Zusammenhang von sonntäglichem Gottesdienst und »Gottesdienst im Alltag« heraus. Die alltäglich von den Gemeindegliedern gemachten Erfahrungen sollen im Gottesdienst im Zusammenhang der
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Ernst Lange, Kirche für die Welt, hg. von Rüdiger Schloz in Zusammenarbeit mit Alfred Butenuth, München/Gelnhausen 1981, 101-129 12 AaO. 101 13 AaO. 102 14 Ebd. 15 Ebd.
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Verheißungsgeschichte meditiert und reflektiert werden. Wird solchermaßen im Sonntagsgottesdienst der Alltag in die Perspektive des Evangeliums gerückt, dann sollen sich die dabei gemachten Entdeckungen und die neu gewonnene bzw. bestärkte Vergewisserung des Glaubens wiederum in der alltäglichen Lebenspraxis bewähren. Die »Sammlung« der Gemeinde ist kein Selbstzweck, sondern sie erfolgt um ihrer »Sendung« willen. 3. Kommunikative Gemeindepraxis Bezieht man diese Überlegungen Ernst Langes auf die inhaltliche Bestimmung des Begriffes »Evangelium«, dann ließe sich noch ein weiterer Schritt gehen, der in der Intention Ernst Langes liegen dürfte. Wird nämlich als Inhalt des Evangeliums die sich in Jesus Christus durchsetzende Gottesgerechtigkeit erfaßt, dann entspricht diesem Inhalt ein kommunikatives Grundelement der Gemeindepraxis. Der Begriff der Gottesgerechtigkeit schließt ein, daß den Menschen neue, gemeinsame Lebensmöglichkeiten eröffnet werden. Die Rechtfertigung der Gottlosen gilt dem einzelnen Menschen und ermöglicht ihm zugleich gelungene Kommunikation mit anderen Menschen. Die Rechtfertigung der Gottlosen durch die Gottesgerechtigkeit wird im Glauben angenommen und in der Liebe praktiziert. Damit geht ein kritisches Element in die Überlegungen zur Gemeindepraxis ein, das für die Analyse der in den Gemeinden vorfindlichen Beziehungsmuster geltend gemacht wird. Die in den Gemeinden eingespielten Beziehungsmuster weisen häufig Merkmale verzerrter Kommunikation auf. Nicht selten sind die Beziehungen zwischen Gemeindegliedern durch wechselseitige Vorurteile bestimmt. Oft hat der andere keine Chance, als der erkannt zu werden, der er wirklich ist, weil mein Bild von ihm bereits festliegt und ich deshalb immer nur das von ihm wahrnehme, was diesem Bild entspricht. Das gilt natürlich häufig auch umgekehrt für die Beziehung des anderen zu mir. Der nach agendarischen Regeln ablaufende Gottesdienst, an dem ohnehin nur ein kleiner Teil der Gemeindeglieder regelmäßig teilnimmt, bietet kaum Gelegenheiten, solche wechselseitigen Festlegungen aufzulösen und zu korrigieren. Eher ist dies schon in Gemeindegruppen denkbar. Freilich wird man hier damit rechnen müssen, daß sich in den gemeindlichen Gruppen meist Menschen treffen, die sich gegenseitig tolerieren, solange sie der Gruppennorm entsprechen. Wer von dieser Gruppennorm abweicht, wird nach einiger Zeit wieder ausscheiden.
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Etwas anders stellt sich das Problem der Kommunikation im Falle der gewählten Leitungsgremien der Gemeinde. Selbst bei geringer Wahlbeteiligung besteht hier doch eine gewisse Chance, daß Gemeindemitglieder mit unterschiedlichen Einstellungen und Verhaltensweisen gewählt werden und es lernen müssen, auf Zeit zusammenzuarbeiten. Wenn sie sich nicht damit begnügen, die vorgefundene Gemeindepraxis ordentlich zu verwalten und besser zu organisieren, sondern nach der Qualität der Kommunikation in der Gemeinde zu fragen beginnen, könnte dies der erste Schritt auf einem langen Weg zu einer kommunikativen Gemeindepraxis sein. Für die Orientierung auf diesem Wege ist der Hinweis wichtig, daß der kommunikativen Grundstruktur der Verkündigung und des Handelns Jesu auf der einen Seite die kommunikative Grundstruktur neutestamentlicher Gemeindemodelle auf der anderen Seite entspricht.16 Mit Eduard Schweizer17 lassen sich im Neuen Testament drei Gemeindetypen unterscheiden: die palästinensische Gemeinde, für die das Bild vom »Bau« (Mt 16, 18) charakteristisch ist; die paulinische Gemeinde, gekennzeichnet durch die Metaphern vom »Leib Christi« und vom »einen Leib und den vielen Gliedern« (1 Kor 12) und die johanneische Gemeinde, als die »Herde«, die auf die Stimme des guten Hirten hört (Joh 11). Ohne Zweifel ist die kommunikative Grundstruktur der Gemeinde bei Johannes am deutlichsten ausgeprägt. Im Anschluß an die Metapher vom wahren Weinstock und seinen Reben Uoh 15, 1 - 8) wird die Gemeinde der Freunde Jesu (Joh 15, 14) als Liebesgemeinschaft beschrieben (Joh 15, 12-17). Spuren kommunikativer Grundstruktur lassen sich jedoch auch im Typ der palästinensischen Gemeinde erkennen. Obwohl dort, orientiert am Modell der jüdischen Gemeinde, Ordnung und Regel für wichtig gehalten werden, ist dennoch die Gemeinde als Bruderschaft begriffen worden. Das wird z.B. an jenen Weisungen klar erkennbar, die den liebevollen und sorgfältigen Umgang mit dem sündigen Bruder (Mt 18, 15-17) fordern. Man kann sie geradezu als Beschreibung des Versuches lesen, verzerrte Kommunikation durch besser gelingende Kommunikation zu überwinden. Der Abbruch der Kommunikation ist erst die ultima ratio und signalisiert das Scheitern dieses Versuches. Welch großes Gewicht Paulus auf eine kommunikative Gemeindepraxis legt, wird u.a. daran erkennbar, wie er die bekannte Fabel des Menenius Agrippa von dem einen Leib und den vielen Gliedern in der Auseinandersetzung [Auseinander-setzung]
Gert Schneider, Grundbedürfnisse und Gemeindebildung. Soziale Aspekte für eine menschliche Kirche, München/Mainz 1982, 31 ff 17 Eduard Schweizer, Gemeinde nach dem Neuen Testament, Theologische Studien, Heft 26, Zollikon-Zürich 1949
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mit den enthusiastisch-pneumatischen Bewegungen innerhalb der korinthischen Gemeinde verwendet (1 Kor 12).18 Diente diese nämlich ursprünglich dazu, bestehende Herrschaftsverhältnisse nach dem Prinzip von »Teile und herrsche!« zu legitimieren, so verwendet sie Paulus kritisch gegen die Absolutheitsansprüche einer bestimmten Gruppe in der Gemeinde, nämlich der geistbegabten Zungenredner, und für eine kommunikative Gemeindepraxis unterschiedlich begabter Gemeindeglieder unter dem einen Herrn. Diese Bemerkungen wollen keineswegs die Unterschiede zwischen den in verschiedenen Situationen entwickelten neutestamentlichen Gemeindetypen nivellieren. Sie dienen allein dem Nachweis, daß die kommunikative Struktur der Gemeindepraxis, mehr oder weniger deutlich ausgeprägt, in allen drei Typen zu erkennen ist und daß sie sich auf dem Weg von der palästinensischen Gemeinde über die paulinische Gemeinde hin zur johanneischen Gemeinde klarer artikulierte. Nach Ernst Käsemann19 vollzieht sich in den johanneischen Aussagen über die Gemeinde ein »merkwürdiger Gegenschlag« gegen die historisch notwendige Entwicklung zu einer stärkeren Ausprägung der Gemeindeordnung mit unverkennbar hierarchischen Strukturen im Frühkatholizismus. Es ist nicht zufällig, daß Dietrich Bonhoeffer mit seiner Formulierung »Gemeinde als christliche Liebesgemeinschaft« einen Gedanken aufgreift, in dem das paulinische und das johanneische Gemeindeverständnis eine enge Verbindung eingehen.20 Die Suche nach möglichst unverzerrter Kommunikation ist für die Gemeindepraxis weder irrelevant noch ist sie prinzipiell zum Scheitern verurteilt. Das erste Mißverständnis liegt immer dann vor, wenn aus biblischen Aussagen abgeleitete Behauptungen über die Gemeinde aufgestellt werden, ohne sie kritisch-konstruktiv auf die empirisch vorfindliche Gemeindepraxis zu beziehen. Im zweiten Falle werden die empirisch vorfindlichen Formen der Gemeindepraxis,in den Rang unveränderbarer Geltung erhoben. Gelungene Beziehungen zwischen Menschen und Formen unverzerrter Kommunikation seien vielleicht hypothetisch denkbar, könnten aber unter den gegebenen Bedingungen nicht verwirklicht werden. Demgegenüber ist das Kriterium der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit dazu geeignet, eine realitätsbezogene Hoffnung aus
Gert Schneider, aa0. 24 Ernst Käsemann, Einheit und Vielfalt in der neutestamentlichen Lehre von der Kirche, 1964, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Band 2, Göttingen 1964, 262-267, bes. 264 20 Vgl. S. 33 ff in diesem Buch 19
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der Skepsis der Erfahrung verzerrter Kommunikation auf eine kommunikative Gemeindepraxis zu erwecken. Das Verhältnis zwischen der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit und der kommunikativen Gemeindestruktur ist dabei nicht so zu bestimmen, daß jene in dieser aufgeht. Vielmehr ist die Gottesgerechtigkeit der Inbegriff aller Möglichkeiten unverzerrter Kommunikation, die in der Gemeindepraxis immer nur ansatzweise und fragmentarisch verwirklicht werden können. Das heißt aber nicht, daß in der Nacht des Gemeindealltags alle Katzen grau sind. Die Entsprechung der Struktur kommunikativer Gemeindepraxis zur Struktur der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit ist vielmehr so zu bestimmen, daß hierarchisch-autoritäre oder, als ihre Kehrseite, Laissez-faire-Strukturen der Gemeindepraxis ausgeschlossen werden. Immer dann, wenn einzelne oder Gruppen in der Gemeinde dominieren oder wenn der Konkurrenzkampf zwischen rivalisierenden einzelnen und Gruppen herrscht, wird die Entsprechung der Gemeindepraxis zur Gottesgerechtigkeit preisgegeben. Hilfreich für die Beantwortung unserer Frage nach den kommunikativen Elementen in der Gemeindepraxis, ihrer praktischen Verwirklichung, ist ein Rückblick in die Geschichte. In einer problemgeschichtlichen Perspektive können mögliche Lösungsmuster entdeckt werden, die den Anforderungen theologischer Theoriebildung wie kirchlicher Praxis gerecht zu werden vermögen. Die Auswahl der folgenden vier Paradigmen ist von der Frage geleitet, wie in unterschiedlichen geschichtlichen Situationen versucht wurde, kommunikative Gemeindepraxis zu begründen. Die berechtigte Forderung Ernst Langes, die jeweilige Situation, in der diese Frage gestellt und beantwortet wird, ganz ernst zu nehmen21 , läßt sich freilich nur durch gründliche sozialgeschichtliche Untersuchungen einlösen. Das kann hier im einzelnen nicht geleistet werden. Immerhin mögen die Ausführungen dazu dienen, das für die Orientierung gegenwärtiger Gemeindepraxis notwendige Problembewußtsein zu wecken bzw. zu vertiefen. Auf den geschichtlich-gesellschaftlichen Kontext, in dem die Frage nach der Begründung kommunikativer Gemeindepraxis gestellt wird, macht die These von Jürgen Moltmann aufmerksam, die Christenheit habe seit ihrer Entscheidung für die weltoffene Kirche faktisch immer in der doppelten Gestalt der Weltkirche einerseits und der konsequenten Nachfolge Jesu andererseits existiert.22 Von den frühen Wanderasketen über die Klöster und die
Ernst Lange, aa0. 102 Jürgen Moltmann, Die Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekklesiologie, München 1975, 348 ff 22
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pietistischen Gemeinschaftsbewegungen bis hin zu den Kommunitäten und Basisgemeinden unserer Zeit stellen diese Nachfolgegruppen zugleich kritische Herausforderung wie veränderndes Ferment für die Großkirchen und ihre Gemeinden dar. Für die Suche nach der Begründung kommunikativer Gemeindepraxis scheint es sich deshalb nahezulegen, der Geschichte dieser Nachfolgegruppen nachzugehen und in ihr nach Begründungsmustern für eine kommunikative Gemeindepraxis zu suchen. Denn im Unterschied zu den sich entwickelnden Strukturen der Großkirchen, für die Verwaltung und Organisation vorrangige Bedeutung bekommen, steht die Kommunikation in den Nachfolgegruppen im Mittelpunkt. Schon der Begriff »Kommunität« verweist auf diesen Sachverhalt. Es ist die erfahrene oder doch erhoffte Qualität der Kommunikation in solchen Gruppen, die sie, nicht nur für junge Christen, die an den kommunikativen Defiziten ihrer Ortsgemeinden leiden, so anziehend macht. Wenn dieser Weg hier nicht gegangen wird, so geschieht dies aus einem Grund, auf den auch Jürgen Moltmann aufmerksam macht: die Reformation setzte an die Stelle der zweifachen Lebensform der Christenheit in Weltkirche und Nachfolgegruppen das Prinzip der einen Gemeinde.23 Damit wurde die mit dem Nebeneinander von Weltkirche und Nachfolgegruppen verbundene Unterscheidung von unvollkommenen und vollkommenen Christen, die sich bereits in den urchristlichen Gemeinden erkennen läßt, prinzipiell aufgehoben. Die in den Nachfolgegruppen erreichbare besser gelingende Kommunikation darf gerade nicht um den Preis einer Abqualifizierung der übrigen Getauften erkauft werden. Sicher hat Jürgen Moltmann recht mit der Feststellung, das reformatorische Prinzip der einen Gemeinde sei niemals realisiert worden. Auch leuchtet sein Plädoyer für eine Doppelstrategie von Nachfolgegruppen und Großkirchen zur Verwirklichung des Prinzips Gemeinde unter den gegenwärtigen Bedingungen durchaus ein.24 Für die Begründung kommunikativer Gemeindepraxis indes ist nach dem problemgeschichtlichen Zusammenhang jenes reformatorischen Prinzips von der einen Gemeinde zu fragen, das in Martin Luthers Formulierung von dem »allgemeinen Priestertum aller Getauften« auf den Begriff gebracht wurde. Ich setze mit der problemgeschichtlichen Skizze ein bei den Gleichnisreden des historischen Jesus. Das geschieht vor allem aus zwei Gründen: Einmal können die Gleichnisse Jesu als kommunikative Sprachhandlung
AaO. 350 AaO. 3 52 ff
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interpretiert werden. 25 In ihnen wird demnach der enge Zusammenhang der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit mit einer kommunikativen Gemeindepraxis erkennbar. Zum anderen haben die Gleichnisse Jesu insofern für eine kommunikative Gemeindepraxis konstitutive Bedeutung, als diese selbst als Gleichnis der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit in der jeweiligen Situation begriffen werden kann. Das zweite hier in Erinnerung zu rufende Paradigma ist die paulinische Charismenlehre. In ihr wird die Christologie in die Begründung und Kritik der Praxis christlicher Gemeinden überführt.26 Diese Linie wird im 16. Jahrhundert durch die Aussagen Martin Luthers über das »Allgemeine Priestertum aller Getauften«27 wieder aufgenommen. In ihnen wird der exemplarische Fall der Begründung des reformatorischen Prinzips der einen Gemeinde greifbar. Unter grundsätzlich geänderten Bedingungen hat Dietrich Bonhoeffer in seiner 1930 abgeschlossenen Dissertation versucht, seine bekannte Definition »Christus als Gemeinde existierend« theologisch und soziologisch zu begründen28 und von hier aus die vorfindliche Gemeindepraxis kritisch und konstruktiv zu fördern. 3.1 Gleichnisse Jesu als kommunikative Sprachhandlungen und die kommunikative Gemeindepraxis als Gleichnis der Gottesgerechtigkeit Jesus von Nazareth hat seinen Hörern die Gottesherrschaft durch Gleichnisreden angesagt. Diese Gleichnisreden sind, meist in überarbeiteter Form, in den Evangelien überliefert. In der Gemeindepraxis haben sie eine wichtige Funktion, weil sie gerne als Predigttexte verwendet29 und im Religionsunterricht behandelt werden?30 Seit hundert Jahren sind die Gleichnisse Jesu Gegenstand intensiver Forschung. Dabei sind bisher drei unterschiedliche Forschungsansätze verfolgt worden.31
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Edmund Arens, Kommunikative Handlungen. Die paradigmatische Bedeutung der Gleichnisse Jesu für eine Handlungstheorie, Düsseldorf 1982 26 Ernst Käsemann, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Band 1, Göttingen 1960, 109-134; vgl. dazu: Georg Eichholz, Was heißt charismatische Gemeinde? 1. Kot. 12, TEH 77, München 1960 27 Hans Storck, Das allgemeine Priestertum bei Luther, TEH 37, München 1953 28 Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum communio. Dogmatische Untersuchungen zur Soziologie der Kirche, 1930, München 1954 29 Helmut Thielicke, Das Bilderbuch Gottes. Reden über die Gleichnisse Jesu, Stuttgart 1957 30 Eta Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, Göttingen 1978 31 Edmund Arens, aa0. 111- 172
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Die historisch orientierten Gleichnistheorien (Adolf Jülicher, Charles Harold Dodd, Joachim Jeremias, Eta Linnemann) gehen von dem Unterschied zwischen den Gleichnissen der Evangelien und den Gleichnisreden Jesu von Nazareth aus und fragen nach der Intention, Funktion und Bedeutung dieser Gleichnisreden im Leben des historischen Jesus. Die an existentialer Interpretation orientierten Gleichnistheorien (Ernst Fuchs, Eberhard jüngel, Georg Eichholz) stellen den Anspruch der Gleichnisse an die damaligen und die gegenwärtigen Hörer in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses. Die linguistisch-literaturwissenschaftlich orientierten Gleichnistheorien (Rudolf Bultmann, Dan Otto Via, Erhardt Güttgemanns, John Dominic Crossan) begreifen die Gleichnisse in erster Linie als literarische Texte, untersuchen ihre Form und Struktur und fragen von da aus nach ihrem Inhalt. Neuerdings hat nun Edmund Arens den interessanten Versuch unternommen, diese Gleichnistheorien in einer pragmatischen Gleichnistheorie miteinander zu verbinden.32 In ihr werden Sprecher/Hörer, Text und Sache so aufeinander bezogen, daß die Gleichnisse Jesu als innovatorische Sprachhandlungen begriffen werden. Die Texte stellen Kommunikation zwischen Sprecher und Hörer her und thematisieren dabei zugleich die Sache der Gottesherrschaft.33 a) Wenn etwa die Erzählung von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20, 1-16) von dem Besitzer berichtet, er hätte gleichen Lohn für unterschiedliche Arbeitsleistung bezahlt, so widerspricht dies der alltäglichen Erfahrung der Hörer und bleibt dennoch auf diese bezogen. Die Hörer werden in Unruhe versetzt, ihre Vorstellungskraft wird erschüttert in der Absicht, ihnen einen neuen Entwurf ihrer Alltagswirklichkeit zu ermöglichen.34 Die Bilder-Geschichten der Gleichnisse wollen durch die Störung konventionell eingespielter Kommunikation hindurch die Freiheit zu einer besser gelingenden Kommunikation eröffnen. b) Die ursprünglich an die Pharisäer adressierten Gleichnisse lassen ihren Charakter kommunikativer Sprachhandlungen am klarsten erkennen. Während die Pharisäer durch ihr gesetzliches Verständnis der Wirklichkeit dazu veranlaßt werden, diejenigen Menschen und Gruppen zu exkommunizieren, »die die religiös-gesellschaftliche Ordnung gefährden und als Ausgeschlossene zugleich stabilisieren«35 , schließt Jesu Mitteilung »der zuvorkommenden Güte Gottes die Solidarisierung mit Diskriminierten«36 [Dis- kriminierten]
AaO. 325-385 AaO.347 34 AaO.341 35 AaO.345 36 AaO.346 33
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ein, beseitigt die verhängte Exkommunikation und schafft Gemeinschaft mit Randexistenzen. c) In seinen Gleichnissen führt Jesus dabei zugleich mit den Pharisäern einen kommunikativen Streit um die Wirklichkeit Gottes und der Welt. Das Thema dieses Streites ist die Gottesherrschaft. Die Gleichnisse bilden als erneuernde Sprachhandlungen die Gottesherrschaft ab. Sie erschließen damit die Wirklichkeit Gottes, die von der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit nicht mehr getrennt werden kann, auf eine gegenüber menschlicher Herrschaft und herrschaftorientiertem* Wirklichkeitsverständnis radikal neue Weise.37 Sind die Gleichnisse Jesu als kommunikative Sprachhandlungen zu begreifen, so ist damit zugleich eine Begründung für eine kommunikative Gemeindepraxis gegeben. Indem nämlich die Gemeinde die Gleichnisse Jesu aufbewahrt, führt sie Texte in ihrer Überlieferung mit sich, die jederzeit neue kommunikative Sprachhandlungen auslösen können. Die Probe aufs Exempel kann jeder machen, der Gleichnisse im Religionsunterricht nicht nur erzählt, sondern spielen läßt. Ich möchte hier noch einen Schritt weitergehen und behaupten: die Gleichnisse Jesu sind als innovatorische Sprachhandlungen erst dann wirklich zu begreifen, wenn sich die Gemeinde in ihrer Praxis selbst als Gleichnis der Gottesgerechtigkeit begreift. Es geht also nicht nur darum, die Gleichnisse in Predigt und Unterricht auszulegen, sondern sie in einer kommunikativen Gemeindepraxis zu rekonstruieren. Erst dann nämlich ist die Funktion der Gleichnisse Jesu als kommunikative Sprachhandlungen an ihr jeweiliges Ziel gekommen. Von den vielen Konsequenzen, die dieses Thema für die Gemeindepraxis hat, möchte ich nur drei andeuten: Einmal kann eine Gemeinde, die sich als Gleichnis der Gottesgerechtigkeit begreift, sich nur als offene Gemeinde darstellen. Sie möchte in ihrer kommunikativen Praxis der Gottesgerechtigkeit entsprechen, die allen Menschen gilt. Sodann wird eine Gemeinde, die sich als Gleichnis im Sinne einer innovatorischen Sprachhandlung versteht, die verbale Kommunikation keineswegs geringschätzen, aber sie auch nicht gegen alle möglichen Formen nichtverbaler Kommunikation ausspielen. Der Graben zwischen Reden und Handeln könnte überbrückt werden. Schließlich ist eine Gemeinde, die ihre Praxis als innovatorische Sprachhandlung begreift, nicht genötigt, sich mit ihrer jeweiligen Wirklichkeit ab-
So im Original. Der Editor. AaO.351f
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zufinden. Sie kann sich im Vertrauen auf die in der Gottesgerechtigkeit enthaltenen Möglichkeiten auf Prozesse der Erneuerung einlassen. 3.2 Die paulinische Charismenlehre Ernst Käsemann hat auf überzeugende Weise dargelegt, daß sich die paulinische Charismenlehre gemäß Röm 6,23 nur als Entfaltung des einen Charismas Gottes, des ewigen Lebens in Jesus Christus unserem Herrn, begreifen läßt.38 Der Begriff »Charisma« ist von Paulus in die theologische Sprache eingeführt worden und beschreibt »Wesen und Aufgabe aller kirchlichen Dienste und Funktionen theologisch präzis und umfassend « 39 .
Im Gegensatz zu den überwältigenden, unmittelbaren und unstrukturierten Manifestationen des Geistes, die sich auch beim Antichrist nachweisen lassen (Mt 24,24; Mk 13,22; 2 Thess 2,9), ist das Kriterium des Charisma die Erbauung der Gemeinde.40 Nicht die Faktizität des Übernatürlichen, sondern die Modalität des der Erbauung der Gemeinde dienenden Gebrauchs erweist ein Charisma als echt. Konstitutiv für die paulinische Charismenlehre ist die Begründung der Charismen aus der »Herrschaft des Christus in und über allen seinen Gliedern«41 und die Teilnahme jedes getauften Christen am Charisma Gottes in der Konkretion seines besonderen Charisma. Die bekannte Metapher von der Gemeinde als dem Leib Christi, in der diese beiden konstitutiven Elemente der paulinischen Charismenlehre miteinander verbunden und aufeinander bezogen sind, darf nicht »als erbauliches Bild oder kühne Idee gedeutet werden« 42 . »Er (sc. der Leib Christi) ist für den Apostel gerade in seiner Leiblichkeit die Wirklichkeit der Gemeinde, sofern sie als Herrschaftsbereich des Auferstandenen die neue Welt darstellt. Seelengemeinschaft ließe nicht sichtbar werden, daß Christus Kosmokrator ist. Wo das jedoch nicht sichtbar wird – und Paulus kennt noch nicht die Anschauung von der ecclesia invisibilis! –, da ist auch der Geist Christi nicht am Werke, der uns gerade und stets mit unserer Leiblichkeit für den Herrn beschlagnahmt, zu leiblichem Dienst willig und fähig macht und so als Glieder in den Leib Christi hineinzieht. In unseren Leibern bemächtigt sich der Kosmokrator jener
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Ernst Käsemann, aa0. 110 AaO.109 40 AaO. 112 41 AaO. 113 42 Ebd. 39
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Welt, die seine Herrschaft vordem nicht anerkannte, und der Christusleib ist die Realität konkreter Weltherrschaft Christi vor der Parusie. « 43
Die Trennung von »heilig« und »profan« wird hier aufgehoben. Die Charismenlehre erklärt nicht das vorfindliche gemeindliche Binnenleben, sondern die Folgen der Herrschaft Christi für den Dienst der Gemeinde in der Welt zwischen Auferweckung und Wiederkunft Christi. An diesem Dienst ist jedes einzelne Gemeindeglied beteiligt. Die Ordnung der dienenden Gemeinde ist gewahrt, wenn folgende drei Regeln in Geltung sind-. 1. Jedem das Seinige! (1 Kor 7,7) »Gnade macht für den neuen Gehorsam in der spezifisch mir gewährten Möglichkeit frei. Sie erlaubt uns nicht, als Freibeuter an uns zu reißen, was uns in die Augen sticht. Wie die Prophetie an den Glauben gebunden wird, hat der Almosengeber einfältig dem zu leben, daß er geben darf, der Vorsteher in Sachlichkeit und Akkuratesse zu handeln, der Krankenpfleger sein Herz mit Lust in seinen Dienst zu legen ... Ich kann mir meine Berufung nicht aussuchen oder um einer anderen willen verwerfen. Schon von da aus müßte das Ideal oder die Schablone des stets und überall sachverständigen Pfarrers und Theologen zerbrechen.« 44
2. Für einander! (1 Kor 12,25) »Der Heide kann mit seinem Ingenium als Waffe in den allgemeinen Konkurrenzkampf ziehen. Der Christ ist nach 1. Petr. 4,10 als Haushalter der vielfältigen Gottesgnade gebunden, dem anderen in der Weise und nach dem Maß des von ihm empfangenen Charisma zu dienen. Die Gabe macht ihn frei von den Menschen, ihrer Sorge und Tyrannei und kettet ihn einzig an den Herrn. Sie macht ihn zugleich aber auch von sich selbst frei, seiner eigenen Sorge und Tyrannei überdrüssig, so daß er nach 1. Kot. 9,19 in der Agape jedermanns Knecht werden kann. 1. Kot. 8,9 schärft ihm ein, daß er über alles Macht habe, nur nicht über das Gewissen des Bruders, nicht einmal über das törichte und irrende Gewissen des anderen.« 45
3. Seid einander in der Furcht Christi untertan! (Eph 5,21) »Das besagt konkret, daß in der Gemeinde Autorität und Charisma zusammengehören und, da Charisma nur im Dienst sich als echt erweist, Autorität hier allein der Dienende als solcher und im Vollzug seines Dienstes haben kann.« 46
Ernst Käsemann zeigt, wie sich in der Auseinandersetzung mit den Enthusiasten und Gnostikern bereits im Neuen Testament jene Gemeindeordnung herausgebildet hat, nach der beauftragte Amtsträger dafür zu sorgen haben, daß die Irrlehre in der Gemeinde nicht Platz greift. Damit verbunden war zugleich die Vorstellung von der Kirche als der »Familie« Gottes oder
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Ebd. AaO.120 45 AaO.120f 46 AaO.121 44
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des »Hauses«, die zu schützen sind und in der die Vorstellung von der Manifestation der Weltherrschaft Christi in der Gemeinde und durch die Gemeinde abgelöst wurde. Während sich für diesen Vorgang gute historische Gründe namhaft machen lassen, erwachsen aus ihm für den Theologen Probleme. Einmal hat sich in der Gestalt der frühkatholischen Lehre von der Kirche als Heilsanstalt diese als das eigentliche Ziel der erbaulich gesehenen Heilsgeschichte etabliert. Damit verdrängt die Theologie der Herrlichkeit die ursprüngliche Theologie des Kreuzes. »Am stärksten sollte uns jedoch das Problem bedrängen, warum selbst der Protestantismus, sofern ich es recht sehe, nie ernsthaft versucht hat, eine Gemeindeordnung unter dem Aspekt der paulinischen Charismenlehre zu schaffen, sondern das den Sekten überlassen hat.« 47
Inwiefern handelt es sich bei der paulinischen Charismenlehre um eine christologische Begründung kommunikativer Gemeindepraxis? Ihre unmittelbare Anwendung auf die Beziehungen zwischen Gemeindegliedern ist kaum möglich, wenn sich der auferstandene Herr der Welt in der Gemeinde als seinem Leib manifestiert. Ernst Käsemann weist ausdrücklich darauf hin, daß »Seelengemeinschaft« die Weltherrschaft Christi in der Gemeinde nicht angemessen sichtbar werden läßt. Dafür scheinen hierarchische Gemeindestrukturen eher geeignet und deshalb die Entwicklung der Kirche zur Heilsanstalt folgerichtig zu sein. Aber dieser Schein trügt. Das zeigt sich klar an den aus der Charismenlehre abgeleiteten Regeln der dienenden Gemeinde. Liest man sie noch einmal von rückwärts, dann zeigt sich: wo der Auferweckte herrscht, ist kein Raum mehr für menschliche Autorität, sondern da wird der freie Dienst an anderen ermöglicht, da tritt das Füreinander der Gemeindeglieder an die Stelle des allgemeinen Konkurrenzkampfes und da kommt jedes Gemeindeglied zu seiner ihm gemäßen Möglichkeit der gemeinsamen Praxis. Damit sind Grundstrukturen kommunikativer Gemeindepraxis freigelegt, die ihre letzte christologische Begründung darin finden, daß der sich in
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AaO. 133. Vgl. dazu Ferdinand Hahn, Charisma und Amt. Die Diskussion über das kirchliche Amt im Lichte der neutestamentlichen Charismenlehre, in: ZThK 76 (1979), 418-449. Im Unterschied zu Ernst Käsemann sieht Ferdinand Hahn bereits bei Paulus »eine gewisse Gruppierung und Rangordnung der Charismen« ~l36): Kerygmatische Charismen (Apostel, Propheten, Lehrer); wunderbare Fähigkeiten und Heilungsgaben; diakonisch-kybernetische Charismen (u.a. Leitungsaufgaben), am Ende die Glossolalie. »Für Paulus gibt es in der christlichen Gemeinde Gaben, die das Leben und den Dienst zwar bereichern, aber nicht unerläßlich sind, während es andere Gaben und Aufgaben gibt, die für die irdische Existenz der Kirche unaufgebbar bleiben. Genau darum handelt es sich bei den von Paulus vorrangig behandelten kerygmatischen Charismen; sie haben eine schlechthin konstitutive Bedeutung« (437).
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der Gemeinde manifestierende Kosmokrator Christus kein anderer ist als der für die Rechtfertigung der Gottlosen gekreuzigte Jesus von Nazareth. Seine Herrschaft manifestiert sich in der kommunikativen Praxis der dienenden Gemeinde. 3.3 Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum Luthers Gedanke vom allgemeinen Priestertum der Getauften stimmt insofern mit der paulinischen Charismenlehre überein, als auch er die Taufe den begründenden Akt dieses Priestertums nennt: »Man hat's erfunden/das Bapst/Bischoff/Priester/Kloster volck/wirt der geystlich stand genennet/Fu rstç/Hern/handtwercks vnd ackerleut/der weltlich stâd/wilchs gar ein feyn Coment vnd gleyssen ist/doch sol niemant darub schuchter werden/vnd das auß dem grund. Dan alle Christen/sein wahrhafftig geystlichs stands/vnnd ist vnter yhn kein vnterscheyd/denn des ampts halben allein. wie Paulus 1. Corint. 12 (xij) sagt/das wir alle sampt eyn Corper seinn/doch ein yglich glid sein eygen werck hat/damit es den anderen dienet/das macht allis/das wir eine tauff/ein Euangelium/eynen glauben haben/vnnd sein gleyche Christen/den die tauff, Euangelium und glauben/die machen allein geistlich und Christenvolck.« 48
Luther lehnt einen eigenen geistlichen Stand ab und betrachtet den durch die Priesterwelhe gesetzten character indelebilis als menschliche Dichtung.49 Wenn Christen ohne geweihten Priester oder Bischof in Gefangenschaft gerieten oder in eine Wüste verschlagen würden, dürfte jeder von ihnen taufen und die Absolution erteilen. Das wäre nicht möglich, wenn sie nicht alle Priester wären.50 Aber Luther geht es hier nicht darum, diesen Notstand zu dem normalen Zustand christlicher Gemeinden zu erklären. In der Intention der Schrift »An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung« liegt es, wenn Luther unter Berufung auf das in der Taufe begründete allgemeine Priestertum erklärt: »Die weyl dan nu die weltlich gewalt/ist gleych mit vns getaufft/hat den selben glauben vnnd Euangelij/mussen wir sie lassen priester vnd Bischoff sein/vnd yr ampt zelen/als ein ampt das da gehore vn nutzlich sey/der Christenlichen gemeyne. Dan was aus der tauff krochen ist/das mag sich rumen/das es schon priester Bischoff vnd Bapst geweyhet sey/ob wol nit einem yglichen zympt, solch ampt zu vben.« 51
Folgt man allein dieser Linie, dann kommt es statt zur Erneuerung der paulinischen Charismenlehre zur Legitimation des landesherrlichen Kirchenregiments [Kir- chenregiments]
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Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung, 1520, Clem. 1,366 f; WA 6,407 49 Martin Luther, aaO., Clem. 1,368; WA 6,408 50 Martin Luther, aaO., Clem. 1,367; WA 6,408 51 Ebd.
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mit Hilfe der Lehre vom allgemeinen Priestertum der Getauften. In dem im gleichen Jahr 1520 geschriebenen Sendbrief an den Papst Leo X. »Von der Freiheit eines Christenmenschen« nimmt Luther erneut zum allgemeinen Priestertum Stellung: Christus als der Erstgeborene ist der wahre König und Priester. Er teilt seine Erstgeburt mit allen seinen Christen, »das sie durch den glauben/mussen auch alle künige und priester seyn/mit Christo« 52 .
Der Unterschied zwischen Priestern und Laien ist nicht gerechtfertigt, die Lehre vom geistlichen Stand ein Unrecht. Gewiß gebe es »diener/knecht, schaffner/die do sollen/den anderen/Christum/glauben/vnd Chris tliche freyheit predigen/Denn ob wir wol alle gleych priester seyn/ßo kunden wir doch nit alle dienen odder schaffen vnd predigen«53 .
Priester jedoch sind alle Christen. Am 25. September 1522 reiste Luther auf wiederholtes Bitten der Gemeinde nach Leisnig, um über die Wahl und die Einsetzung eines evangelischen Pfarrers und eines evangelischen Predigers durch die Gemeinde zu sprechen, gegen die vom Cisterzienserkloster Buch, dem das Patronatsrecht über die Pfarrkirche zustand, Einspruch erhoben wurde.54 In seiner Schrift »Daß ein christliche Versammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- oder abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift« von 1523 liefert Luther die Begründung für das rechtmäßige Vorgehen der Gemeinde. Er geht aus von folgender Feststellung: »Da bey aber soll man die Christlich gemeyne gewißlich erkennen/wo das lautter Euangelion gepredigt wird.« 55
Wenn Christus sage, »Meine Schafe hören meine Stimme«, dann halte er die Schafe für fähig, zu beurteilen, ob sie aus der Stimme ihres Predigers die Stimme Christi vernehmen.56 Auch sei die Mahnung Christi, sich vor falschen Propheten zu hüten, die wie Wölfe in Schafskleidern kommen, unsinnig, [unsin- nig]
52
Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen, 1520, Clem. 11, 17; WA 7,27 AaO. Clem. 11, 18; WA 7,28 54 Clem. 11,395 55 Martin Luther, Daß eine christliche Versammlung oder Gemeinde Recht oder Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen, ein- und abzusetzen, Grund und Ursach aus der Schrift, 1523, Clem. IL3 95 ff; WA 11, 108 ff 56 Ebd. Clem. 11,397; WA 11,409 53
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wenn den Schafen keine Urteilsfähigkeit zugesprochen werden könne.57 Jeder Christ sei an dem Ort, an dem er lebt, dazu berufen, das Evangelium zu verkündigen. Lebt er mit anderen Christen zusammen, dann solle er sich nicht selber hervortun, sondern sich berufen lassen. Wenn es aber nötig sei, dann habe jeder Christ das Recht, auch unberufen zu reden. »Wie viel mehr ists deñ * recht/das eyn gantze gemeyne eynen beruft zu solchem ampt, wenn nott ist/wie es denn alltzeyt vnd sonderlich itzt ist.« 58
In Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Getauften hat das reformatorische Prinzip von der einen Gemeinde Ausdruck gefunden. Es ist aber in den Luthers Namen tragenden Landeskirchen noch weniger realisiert worden als im übrigen Protestantismus. Dafür lassen sich Gründe nennen. Vor allem ließ die notwendige Auseinandersetzung Luthers mit den Schwärmern die gegen die babylonische Gefangenschaft der Kirche in der römischen Hierarchie geltend gemachte Lehre vom allgemeinen Priestertum aller Getauften zugunsten der Bewahrung der Ordnung der Gemeinden gegenüber Enthusiasten durch berufene Pfarrer zurücktreten. Luthers Unterscheidung von allgemeinem Priestertum und besonderem Dienst wirkte sich faktisch so aus, daß die Lehre vom allgemeinen Priestertum den Charakter einer Leerformel bekam, der zwar niemand widersprach, die aber nicht kritisch-konstruktiv auf die Gemeindepraxis angewendet werden konnte. Damit ist ihre Wahrheit jedoch keineswegs widerlegt. Die Ursachen für ihre weitgehende Wirkungslosigkeit sind wohl vor allem in der Dauerhaftigkeit autoritärer Strukturen zu suchen. Sie ermöglichen es nämlich gleichzeitig, sowohl die Mehrzahl der Menschen vor Angst auslösenden Veränderungen zu bewahren als auch die überkommenen Privilegien einzelner zu schützen. Zudem ist mit autoritären Strukturen immer auch das Versprechen relativen Aufstiegs für anpassungsfähige Individuen verbunden. Da die im Prinzip der einen Gemeinde enthaltene grundsätzliche Gleichberechtigung aller Getauften sowohl die hierarchische Struktur der römisch-katholischen Kirche wie die ständische Struktur der mittelalterlichen Gesellschaft in ihren Fundamenten erschütterte, wurde sie von den Kräften der Beharrung für praktisch undurchführbar erklärt. Im Zuge der neuzeitlichen Differenzierung von Kirche und Staat bzw. Gesellschaft wurde dann die Lehre vom Priestertum aller Getauften auf doppelte Weise transformiert. Im Prozeß der Säkularisierung der Religion
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Ebd. Im Original hier ein n mit Strich darüber. 58 Ebd. Clem. 11,400; WA 11,413 *
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kehrt sie später wieder in den Grundpostulaten der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Im gleichzeitigen Prozeß der Privatisierung der Religion verwandelte sich die in der Lehre vom allgemeinen Priestertum proklamierte grundsätzliche Gleichberechtigung aller Getauften in das Recht des individuellen Gewissens auf einen durch keine anderen Instanzen geregelten Zugang zu Gott. Während also auf der einen Seite die Lehre vom allgemeinen Priestertum in säkularer Gestalt in den Versuchen weiterwirkt, die Gesellschaft, den Staat und später auch die Kirche zu demokratisieren, dient sie auf der anderen Seite der Begründung einer privatisierten Gewissensreligion. 3.4 Dietrich Bonhoeffer: »Christus als Gemeinde existierend« Dietrich Bonhoeffer legte in seiner 1930 abgeschlossenen Dissertation mit dem Titel »Sanctorum communio. Dogmatische Untersuchungen zur Soziologie der Kirche« den Akzent darauf, die eschatologische Größe »Leib Christi« mit der sozialen Gestalt der empirisch wahrnehmbaren Gemeinde wieder in ein erkennbares Verhältnis zu setzen. Damit wurde die Frage nach der sozialen Gestalt des Christentums, die im Zuge der Säkularisierung und Privatisierung der Religion in den Hintergrund trat, unter neuen Bedingungen thematisiert. Bonhoeffer bedient sich bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, sowohl der überlieferten theologischen Dogmatik als auch der ihm zugänglichen soziologischen Theorie. Mit seinen dogmatischen Untersuchungen zur Soziologie der Kirche leistet Bonhoeffer zugleich einen wichtigen Beitrag zur Begründung der kommunikativen Gemeindepraxis. Seine bekannte Formulierung »Christus als Gemeinde existierend« besagt zunächst, daß die christliche Gemeinde nicht nur Mittel zum Zweck, sondern zugleich Selbstzweck ist. »Sie ist der gegenwärtige Christus selbst, und darum ist ›in Christus sein‹ und ›in der Gemeinde sein‹ dasselbe.« 59
Mit dieser Aussage knüpft Bonhoeffer wie Luther an die paulinische Charismenlehre an. Zu ihrer Interpretation nimmt er jedoch, im Unterschied zu Paulus und Luther, die seit der lutherischen Orthodoxie eingeführte Unterscheidung von sichtbarer und unsichtbarer Kirche auf. Als eschatologische Größe, als »Leib Christi« ist die Gemeinde unsichtbar. Sichtbar ist sie als soziales Gemeinwesen im Kultus wie im Füreinander-Wirken.60
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Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum communio. Dogmatische Untersuchungen zur Soziologie der Kirche, 1930, München 1954, 139 (im Original gesperrt) 60 AaO. 92
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Für unsere Frage nach der Begründung einer kommunikativen Gemeindepraxis ist vor allem der zuletzt genannte Gesichtspunkt relevant. Bonhoeffer führt dazu aus: »Das Füreinander ist nur zu aktualisieren durch die Tat der Liebe. Drei große positive Möglichkeiten des Füreinanderwirkens in der Gemeinschaft der Heiligen tun sich auf: Die entsagungsvolle, tätige Arbeit für den Nächsten, das Fürbittegebet, schließlich das gegenseitige Spenden der Sündenvergebung im Namen Gottes. Hier wie dort handelt es sich um eine Preisgabe des Ich ›für‹ den Nächsten, zu dessen Nutzen, aber mit der Bereitschaft an dessen Statt alles zu tun und zu tragen, ja wenn nötig, sich für ihn zu opfern, stellvertretend für ihn dazustehen. Wenn auch das rein stellvertretende Handeln nur selten aktualisiert wird, so liegt in jedem Akt der Liebe ein solches intentional enthalten.« 61
Während die unsichtbare Gemeinde im Glauben an der sich durchsetzenden Gottesgerechtigkeit teilnimmt, aktualisiert sich der Glaube in der sichtbaren Gemeinde als Liebesgemeinschaft. Die Einheit der unsichtbaren und der sichtbaren Gemeinde ist im Heiligen Geist begründet, der Glauben wirkt und Liebe ermöglicht. Glaube und Liebe verhalten sich also nicht wie Gottes Werk und des Menschen Tat zueinander: beide sind Gottes Werk in unterschiedlicher Gestalt. Die Aktualisierung der Liebe geschieht nach Bonhoeffer unter empirischen Bedingungen und mit empirischen Folgen. »Einer trägt den anderen in tätiger Liebe, Fürbitte und Sündenvergebung in der völligen Stellvertretung, die nur in der Gemeinde Christi möglich ist, die als ganze auf dem Prinzip der Stellvertretung, d. h. auf der Liebe Gott»ruht; aber alle werden sie von der Gemeinde getragen, die in eben diesem Füreinander der Glieder besteht. In dem strukturellen Miteinander von Gemeinde und Gemeindeglied und dem tätigen Füreinander in Stellvertretung und Kraft der Gemeinde besteht der soziologisch spezifische Charakter der Liebesgemeinschaft.« 62
Dieser soziologisch-spezifische Charakter der Liebesgemeinschaft kommt in einer kommunikativen Gemeindestruktur zu seinem Ausdruck. Dabei ist zu beachten, daß Bonhoeffer die »völlige Stellvertretung« als wechselseitige begreift. So ruht für ihn, ganz im Sinne des Priestertums aller, auch das Amt auf der Gemeinde. »Die Tatsache der Gemeinde, die nur ein Haupt hat, Christus, bewahrt vor der Idee eines geistlich-weltlichen Hauptes, das es doch wie Luther treffend ausführt, gar nicht geben kann, weil es ja gar nicht kennt, über die es regiert.« 63
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AaO. 132 AaO.139 63 AaO. 178. Vgl. Martin Luther: »Wie kan hie ein mensch regieren das er nit weyß noch erkenet? wer kan aber wissen wilcher warhafftig gleubt odder nit?« Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig, 1520, Clem. 1, 336; WA 6,298 62
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Eine Sonderstellung von Amtsträgern ist damit prinzipiell ausgeschlossen. Die christliche Liebesgemeinschaft darf nach Bonhoeffer aber auch nicht mit menschlichen Sympathiegemeinschaften verwechselt werden. Gegen die Klage, bei großen Abendmahlsgemeinden in den Städten werde der Ernst des brüderlichen Gemeinschaftsgedankens dadurch abgeschwächt, daß sich die Teilnehmer nicht kennen und dadurch die Feiern auch an persönlicher Wärme verlieren, macht Bonhoeffer geltend: »Ist nicht das Bekenntnis zur Gemeinde, zur Bruderliebe gerade dort am eindeutigsten, wo es vor jeder Verwechslung mit irgendwelchen menschlichen Symp athiegemeinschaften grundsätzlich geschützt ist? Ist nicht gerade hier der Wirklichkeitsernst der sanctorum communio, in der Jude Jude und Grieche Grieche, Arbeiter Arbeiter und Kapitalist Kapitalist bleibt, und wo sie doch alle Leib Christi sind, viel eher gewahrt, als dort, wo jene Härte mild verschleiert wird? Wo das wirkliche Bekenntnis zur Gemeinschaft der Heiligen da ist, da kann die Fremdheit und scheinbare Kälte nur die Glut des echten Feuers Christi anfachen, wo aber der Gedanke der sanctorum communio nicht erfaßt und bekannt wird, da kann persönliche Wärme das Fehlen des Entscheidenden nur verschleiern, nicht aber ersetzen.« 64
Diese Warnung vor der Verwechslung der Gemeinde als Liebesgemeinschaft mit menschlichen Sympathiegemeinschaften findet sich wieder in Bonhoeffers 1939 veröffentlichten Schrift »Gemeinsames Leben« 65 , die zu seinen Lebzeiten die weiteste Verbreitung unter seinen damals vorliegenden Büchern fand. Die Schrift entstand, nachdem die Gestapo 1937 mit dem Predigerseminar der Bekennenden Kirche in Finkenwalde auch das auf Anregung Bonhoeffers innerhalb des Seminars entstandene »Bruderhaus« aufgelöst hatte.66 In diesem »Bruderhaus« lebt Bonhoeffer gemeinsam mit einigen Seminaristen in einer vita communis in Form von täglicher Gebetsordnung, brüderlicher Vermahnung, freier persönlicher Beichte, gemeinsamer theologischer Arbeit, einfachem gemeinsamen Lebensunterhalt und der Selbstverpflichtung, jedem Notruf der Kirche zu folgen. Eberhard Bethge, selbst Mitglied dieser Kommunität, bemerkt zur Entstehung des Buches »Gemeinsames Leben«: »Aber als alles vorbei war, wünschte er (sc. Dietrich Bonhoeffer) doch die Erfahrungen festzuhalten, die hier gemacht worden waren. So gewannen die Finkenwalder Experimente, die doch nur für die Erfordernisse einer Theologengemeinschaft gemacht worden waren, eine allgemeingültige Gestalt.« 67
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Dietrich Bonhoeffer, aa0. 185 Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, München 19537 66 Eberhard Bethge, Dietrich Bonhoeffer. Theologe - Christ - Zeitgenosse, München 1967, 536 67 Ebd. 65
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Dietrich Bonhoeffer schärft den Lesern dieser Schrift zweierlei besonders ein: christliche Bruderschaft sei erstens kein Ideal, sondern göttliche Wirklichkeit und zweitens eine pneumatische und keine psychische Wirklichkeit.68 Er möchte damit verhindern, daß sich das Wunschbild frommer Gemeinschaft an die Stelle der christlichen Liebesgemeinschaft der Gemeinde setzt. »Christliche Bruderschaft ist nicht ein Ideal, das wir zu verwirklichen hätten, sondern es ist eine von Gott in Christus geschaffene Wirklichkeit, an der wir teilhaben dürfen. « 69
Während die pneumatische Wirklichkeit christlicher Gemeinschaft auf dem Grunde des klaren, offenbaren Wortes Gottes in Jesus Christus erbaut werde, sei der Grund aller psychischen Wirklichkeit »das dunkle, undurchsichtige Treiben und Verlangen der menschlichen Seele«70 . Der Gegensatz zwischen geistlicher und seelischer Wirklichkeit werde durch folgende Beobachtung am deutlichsten: innerhalb der geistlichen Gemeinschaft gebe es niemals und in keiner Weise ein »unmittelbares« Verhältnis des Einen zum Anderen, während in der seelischen Gemeinschaft ein tiefes Verlangen nach unmittelbarer Berührung mit anderen menschlichen Seelen lebe, analog dem Verlangen des Fleisches nach der unmittelbaren Vereinigung mit anderem Fleisch. »Weil Christus zwischen mir und dem Anderen steht, darum darf ich nicht nach unmittelbarer Gemeinschaft mit ihm verlangen.« 71
Entgegen verbreiteter Annahme sei die Gefahr der Verwechslung von geistlicher und seelischer Gemeinschaft gerade in der Gemeinde gegeben, die als geistliche Gemeinschaft definiert sei. Demgegenüber sei es in Ehe, Familie und Freundschaft sehr viel leichter, zwischen leiblich-seelischer und geistlicher Gemeinschaft zu unterscheiden.72 Der Gedanke Bonhoeffers, daß Jesus Christus die Beziehungen zwischen den Gemeindegliedern vermittelt, kann für die kommunikative Gemeindepraxis insofern fruchtbar gemacht werden, als er die wechselseitige Festlegung der Gemeindeglieder durch Wunschoder Feindbilder aufzulösen vermag. An die Stelle des Wunschbildes von der frommen Gemeinschaft, das notwendig enttäuscht werden muß, weil es sich dem Zwang zur unmittelbaren Selbstverwirklichung verdankt, tritt so, vermittelt durch Christus, die Wahrheit der christlichen Liebesgemeinschaft. Es wäre m.E. ein Miß-
68
Dietrich Bonhoeffer, aaO. 12 AaO. 15 70 AaO. 16 71 AaO. 19 72 AaO.22 69
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verständnis, wollte man aus den referierten Überlegungen Bonhoeffers folgern, er wäre an der Gestaltung der empirisch wahrnehmbaren Kommunikation in der Gemeinde im Grunde gar nicht interessiert, sondern nur an der Aufstellung des theologischen Begriffs der christlichen Liebesgemeinschaft. Vielmehr kritisiert Bonhoeffer die Verwechslung der christlichen Liebesgemeinschaft mit menschlichen Sympathiegemeinschaften, weil dadurch reale Konflikte verdeckt werden. Seine Aussage, in der Gemeinde als dem Leib Christi bleibe Jude Jude und Grieche Grieche, Arbeiter Arbeiter und Kapitalist Kapitalist wäre jedoch mißverstanden, wenn sie zur christlichen Legitimation von unaufhebbaren Grundkonflikten herangezogen würde. Der Gedanke, Gemeinde sei als Liebesgemeinschaft zu begreifen und nicht mit einer Sympathiegemeinschaft zu verwechseln, hat vielmehr zur Konsequenz, daß in der Gemeindepraxis konkrete Konflikte, die ihrerseits mit gesellschaftlichen Grundkonflikten zusammenhängen, wenn nicht aufgehoben, so doch wenigstens bearbeitet werden. Dabei bekommen jedoch die wechselseitigen Beziehungen zwischen den Menschen in einer Gemeinde eine Bedeutung, die in den zitierten Sätzen Bonhoeffers nicht erkennbar wird. Rolf Heinrich hat diesen Gedankengang73 weitergeführt: »Nicht das Modewort ›Solidarität‹ drückt unsere Hoffnung und Sehnsucht nach einem menschenwürdigen Leben aus, sondern der Traum von einer sympathischen Gemeinschaft. Sympathisch sind uns Menschen, die wir so annehmen können, wie sie sind, und die uns so annehmen, wie wir sind, Menschen, die uns offen, ohne Angst begegnen können und denen wir das erzählen können, was uns bedrückt und bedrängt. Sympathische Gemeinschaft, das ist eine Gemeinschaft, in der einer mit dem anderen mitleidet (sym-pathis ch), weil er an sich selbst leidet. Wenn wir diese sympathische Gemeinschaft erstreben, dann werden wir Salz der Erde, Störer des Gleichgewichts und Element der Unruhe und Hoffnung sein.« 74
Der Autor, Gemeindepfarrer im Ruhrgebiet, faßt mit diesen Sätzen einen Bericht zusammen, in dem er schildert, wie Mitglieder einer Arbeitergemeinde gemeinsam und mit Erfolg versuchten, Alltagsprobleme ihres Stadtteils (Lärmbelästigung, Mieterprobleme) zu lösen. Durch dieses Engagement konstituiert sich die Gemeinde als »sympathische Gemeinde«. Eben dadurch werden auch Gruppeninteressen, die Bonhoeffer offensichtlich mit dem von ihm kritisierten Begriff »Sympathiegemeinschaft« verband, überwunden. »Wenn gemeinsame konkrete Alltagsprobleme des Stadtteils zum Anliegen und zur Aufgabe der christlichen Gemeinde werden, dann können sonst in der Gemeinde
73
Rolf Heinrich, Sympathische Gemeinschaft. Versuche einer Gemeinde, solidarisch zu sein, in: JK 40 (1979), 304-309 74 AaO. 309
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übliche egoistische Gruppeninteressen überwunden werden, weil Mitglieder mehrerer Gruppen der Gemeinde an einer gemeinsamen Aufgabe arbeiten.« 75
Diese Überlegungen machen klar, daß der Binnenraum der Gemeinde überschritten werden muß, wenn der Gedanke »Gemeinde als christliche Liebesgemeinschaft« in ihrer sozialen Gestalt realisiert werden soll. Abgesehen von diesem Realisierungsprozeß könnte der Gedanke von der »christlichen Liebesgemeinschaft« dazu mißbraucht werden, Alltagsprobleme der Gemeindeglieder und Binnenkonflikte in der Gemeinde ideallsierend zuzudecken. Eine Sonderstellung der Amtsträger würde gerade vorausgesetzt, wenn sie die Realität der Gemeinde in ihrer Lebenswelt durch die Interpretation, Gemeinde sei christliche Liebesgemeinschaft, verschleiern und damit Konflikte verdrängen, anstatt zu helfen, daß an ihrer Lösung gearbeitet werden kann. Der Träger des Amtes, das die Versöhnung predigt, scheint dann über den realen Konflikten zu stehen und sorgt auf diese Weise dafür, daß das Bedürfnis nach einem harmonischen Gemeindeleben befriedigt wird, ohne die Frage zu stellen, auf wessen Kosten dies geschieht. Eine kommunikative Gemeindepraxis ist demgegenüber die Bedingung der Möglichkeit, Konflikte weder zu verschleiern noch zu verdrängen, sondern sie offen auf eine Weise auszutragen, daß sich die in den Konflikt verwickelten Menschen nicht gegenseitig verletzen. Diese prinzipielle Möglichkeit hat allerdings nur dann eine Chance auf Realisierung, wenn alle Teilnehmer am Kommunikationsprozeß sich an dem offenen Diskurs auch selbständig beteiligen können. Für Bonhoeffers Denken ist charakteristisch, daß in ihm die Mündigkeit der Menschen anerkannt und christologisch mit dem Gedanken der Stellvertretung Christi für die Menschen begründet wird.76 Mit Recht hat Jürgen Moltmann darauf hingewiesen, daß der Gedanke der Stellvertretung von der Dissertation »Sanctorum communio« an bis in die letzten Briefe hinein eine zentrale Bedeutung für Bonhoeffers Theologie hatte.77 Aus dieser Idee der Stellvertretung ergibt sich für die theologische Begründung der Gemeindepraxis eine doppelte Folgerung: einmal konstituiert die Gottestat der Stellvertretung in Christus »Gemeinschaft und Personsein, ohne das eine im anderen aufzulösen«78 . Die Mündigkeit der Gemeindeglieder [Gemeinde-glieder]
75
AaO. 305 Christof Bäumler, Der Begriff der Mündigkeit bei Dietrich Bonhoeffer, 1966, in: ders., Unterwegs zu einer Praxistheorie. Gesammelte Aufsätze zur kirchlichen Jugendarbeit, München 1977, 149-161 77 Jürgen Moltmann, Herrschaft Christi und soziale Wirklichkeit nach Dietrich Bonhoeffer, TEH 71, München 1959, 21 78 AaO.24 76
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darf also nicht gegen ihre Teilhabe an der christlichen Liebesgemeinschaft ausgespielt werden und umgekehrt darf der Gedanke der christlichen Liebesgemeinschaft nicht den Gedanken der Selbständigkeit des einzelnen verdrängen. Vielmehr sind beide Gedanken durch die Idee der Stellvertretung untrennbar aufeinander bezogen und miteinander verbunden.79 Für die Begründung kommunikativer Gemeindepraxis folgt daraus, die durch die Idee der Stellvertretung miteinander verbundenen Gedanken der Mündigkeit und der Liebesgemeinschaft als regulative Prinzipien der Gemeindepraxis anzuerkennen. Das geschieht z. B. in dem zitierten Text von Rolf Heinrich, wenn er von der Gemeinde als der » sympathischen Gemeinschaft« aussagt, in ihr würden sowohl die Menschen so angenommen, wie sie sind, also in ihrer Selbständigkeit als Person anerkannt als auch die egoistischen Gruppeninteressen in der Gemeinde in der Wahrnehmung gemeinsamer Aufgaben überwunden und also damit dem wahren Charakter der Gemeinde als Liebesgemeinschaft entsprochen. Die zweite hier wichtige Folgerung aus der Idee der Stellvertretung besagt, daß sich die christliche Gemeinde als eine »Gemeinde für andere« zu begreifen hätte, wenn sie diese Idee als regulatives Prinzip ihrer Praxis anerkennt. Die Gemeinde begreift sich dann nämlich an jener Stelle stellvertretend stehend, an der die ganze Menschheit vor Gott stehen sollte. Aus der Idee der Stellvertretung ist keinerlei Überlegenheit der christlichen Gemeinde über die Gesellschaft abzuleiten, wohl aber ihre Verpflichtung zum Dienst in der Gesellschaft. Die Idee der Stellvertretung ist demnach nicht nur maßgebend für alles, was sich innerhalb der Gemeinde vollzieht, sondern zugleich für ihren Dienst in der Gesellschaft. Innenaspekt und Außenaspekt der Gemeinde sind durch die Idee der Stellvertretung derart miteinander verbunden, daß Mündigkeit der einzelnen Gemeindeglieder und ihre Teilhabe an der christlichen Liebesgemeinschaft als die bestimmenden Kriterien für eine kommunikative Gemeindepraxis geltend gemacht werden. Wenn ich recht sehe, ist damit, ohne direkte Aufnahme der Begriffe, das in Luthers Formulierung vom allgemeinen Priestertum zum Ausdruck gebrachte Prinzip der einen Gemeinde von Dietrich Bonhoeffer unter neuzeitlichen Bedingungen neu formuliert worden. Denn einmal setzt seine Verwendung der Idee der Stellvertretung die Differenzierung von Kirche und Gesellschaft im Prozeß der Säkularisierung voraus, ohne eine Dichotomie von Kirche und Gesellschaft zu behaupten.
AaO.25
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Denn die Idee der Stellvertretung akzentuiert, ohne die Unterschiede zu leugnen, gerade die Verbundenheit von Kirche und Gesellschaft. Zum anderen erinnert die Idee der Stellvertretung an den Gedanken des Priestertums. Bonhoeffer weist darauf direkt hin, wenn er das Füreinander-Wirken in der Gemeinde interpretiert, es handle sich dabei »um die Preisgabe des Ich ›für‹ den Nächsten, zu dessen Nutzen, aber mit der Bereitschaft an dessen Statt alles zu tun und zu tragen, ja wenn nötig, sich für ihn zu opfern, stellvertretend für ihn dazustehen«80 . Bonhoeffers Leben selbst kann als Versuch begriffen werden, dem Gedanken der priesterlichen Stellvertretung zu entsprechen, den er als 21jähriger für seine Dissertation formulierte. Mir scheint für die Beantwortung der Frage, die Dietrich Bonhoeffer in den letzten Monaten seines Lebens vordringlich beschäftigte, wie nämlich die mündig gewordene Welt durch Jesus Christus in Anspruch genommen werden könne81 , eine kommunikative Gemeindepraxis unverzichtbar zu sein. In ihr erwiese sich christliche Gemeinde als »Gemeinde für andere« und nähme stellvertretend an der Verantwortung Jesu Christi für die Menschen teil, die, einer präzisen Formulierung Bonhoeffers zufolge, in ihrem Inhalt Liebe, in ihrer Form Freiheit ist.82 4. Auf der Suche nach einer Leitvorstellung für die Gemeindepraxis Für die Entwicklung einer Praxistheorie von Kirchengemeinden sind Hypothesen notwendig, die empirisch überprüfbar sind. In solche Hypothesen gehen normative Leitvorstellungen ein, Kriterien, an denen gemessen werden kann, ob die Gemeindepraxis gelingt oder mißlingt. Eine solche Leitvorstellung ist die von der »verantwortlichen Gemeinde«. Ernst Lange und seine Mitarbeiter haben sie an die Spitze einer Reihe von weiteren Leitvorstellungen gesetzt, die sie in der Gemeindepraxis verwirklichen wollten.83 Den ersten Aspekt der Leitvorstellung sehen sie darin, daß die Glieder einer verantwortlichen Gemeinde der Diaspora des Glaubens gewachsen
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Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum communio. Dogmatische Untersuchungen zur Soziologie der Kirche, 1930, München 1954, 132 81 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, München 1952, 231 82 Dietrich Bonhoeffer, GS 111, 466 83 Ernst Lange, aaO. 76ff
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sind. Der Ernstfall der Verantwortung ihrer Hoffnung vor jedermann (1 Petr 3,15) liege heute »eindeutig jenseits des organisierbaren kirchlichen Innenlebens im Beruf, im Konsum, im Familienbereich, im Freizeitbereich, in der Zone bürgerlicher Mitverantwortung«84 .
Der zweite Aspekt der Leitvorstellung »verantwortliche Gemeinde« bezieht sich auf »die Mitverantwortung der Laien für die innergemeindliche Kommunikation des Evangeliums in ihren verschiedenen Formen, von der Predigt bis zum Jugendkatechumenat und zur Seels orge«85 .
Im Sinne des ersten Aspekts der Leitvorstellung sind die Laien nicht als »Helfer« der Hauptamtlichen für das kirchliche Gruppenleben zu begreifen, sondern »als Sachkundige der Diaspora für das Gespräch um die Predigt im weitesten Sinn«86 .
Verantwortlich ist die Gemeinde also für die Diasporafähigkeit ihrer Mitglieder; dem hat auch das gemeindliche Binnenleben zu dienen. Der Leitvorstellung »verantwortliche Gemeinde« sind im einzelnen zugeordnet - Funktionsgemeinschaft der Ämter - Selbstbegrenzung des gemeindlichen Binnenlebens - »Inkarnation« des Gemeindelebens in vorgegebene Sozialbeziehungen - »gestaffelte Kontakte«. Von diesen Vorstellungen Ernst Langes ging eine große Faszination aus, schien doch die Leitvorstellung »verantwortliche Gemeinde« geeignet zu sein, das Kriterium für eine Praxistheorie der Kirchengemeinde zu kennzeichnen. Sie ist aber nicht unproblematisch, denn bei dem in der Alltagssprache häufig verwendeten Begriff »Verantwortung« wird grundsätzlich unterschieden zwischen der Verantwortung für jemanden, für einen »Verantwortungsadressaten« und der Verantwortung vor jemandem, einer »Verantwortungsinstanz«. Je präziser der Verantwortungsadressat beschrieben werden kann und je genauer angegeben wird, mit welchen Sanktionen fehlende Verantwortung geahndet wird, desto sinnvoller ist es, diesen Begriff zu gebrauchen. So ist etwa der Fahrer einer Straßenbahn für den ungefährdeten Transport [Trans- port]
84
AaO. 77 Ebd. 86 AaO.77f 85
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seiner Fahrgäste verantwortlich, soweit dieser von seiner Beherrschung des Fahrzeugs und der Beachtung einschlägiger Vorschriften einschließlich der Verkehrsregeln abhängt. Wird er dieser Verantwortung nicht gerecht, dann drohen ihm Sanktionen vom Disziplinarverfahren über die Entlassung bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung. je umfassender der Verantwortungsadressat ist und je absoluter die Verantwortungsinstanz, desto vager wird der Begriff der Verantwortung. Dabei wird notwendig ein Gefälle gedacht zwischen den Verantwortlichen einerseits und denen, für die Verantwortung übernommen wird, andererseits. Das wird etwa aus folgender Darstellung deutlich: »Die Gemeinde von heute muß die Privatisierung ihrer Frömmigkeit ebenso wie die gesellschaftliche Verengung ihrer Basis durch eine entschlossene Wendung zur Welt in christlicher Verantwortung ihr gegenüber überwinden ... Dieser Aufbruch der Kirche zur menschlichen Gesellschaft hin schließt die echt politische Verantwortung der Kirche für die Welt in sich ... Es geht um die Rettung der menschlichen Gesellschaft als einer Gemeinschaft menschlichen Lebens in Ve rantwortung und Freiheit.« 87
Nach dem Verständnis des Autors dieser Sätze ist die Gemeinde offensichtlich in der Lage, für die Welt Verantwortung zu übernehmen, d. h.: Die Gemeinde sieht sich hier gegenüber der Welt in der Rolle des verantwortlichen Helfers. Ideologiekritisch wurde zu den eben zitierten Sätzen allerdings bemerkt: »Dem Verantwortungsadressaten ist der Verantwortliche prinzipiell übergeordnet. Wenn nun faktische Herrschaft- oder Einflußmöglichkeiten auf einen konkreten Adressaten fehlen, so ist es nicht verwunderlich, wenn dies durch Heraufbeschwören eines abstrakten Adressaten vor sich selbst und vor anderen kompensiert wird (vielleicht kann man das angeführte Kirchenzitat in dieser Weise interpretieren).« 88
Dieser Vermutung pflichte ich bei. Die Kritik wird durch den selbstverständlichen Hinweis, die Kirche sei vor Gott für die Welt verantwortlich, nicht entkräftet, sondern eher noch verstärkt: Die Berufung auf die Verantwortungsinstanz »Gott« legitimiert die Kirche als eine Vermittlerin des Wortes Gottes zusätzlich gegenüber dem Verantwortungsadressaten »Welt«, aber: die Gemeinde vor Gott für die Welt verantwortlich, was besagt das schon, wenn nicht die Aufrechterhaltung eines Überlegenheitsanspruches [Überlegenheitsan-spruches]
87
Joachim Beckmann, Kirche und Gesellschaft, in: Ders., Friedrich Karrenberg (Hg.), Verantwortung für den Menschen. Beiträge zur gesellschaftlichen Problematik der Gegenwart, Stuttgart 1957, 16f 88 Norbert Schmidt-Relenberg, Über Verantwortung. Ein Beitrag zur Soziologie der Alltags-Klischees, in: KZSS 22 (1970), 260
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der Kirche trotz ihrer faktischen Randstellung in der gegenwärtigen Gesellschaft. Ernst Lange und seine Mitarbeiter haben sich um eine Präzisierung des Begriffes »verantwortliche Gemeinde« bemüht. Für sie ist der Verantwortungsadressat das diasporafähige Gemeindeglied, die Verantwortungsinstanz jedermann, der Rechenschaft über ihre Hoffnung fordert. Insofern trifft die gegenüber dem Zitat von Joachim Beckmann berechtigte Ideologiekritik auf die Verwendung des Begriffes »verantwortliche Gemeinde« bei Ernst Lange und seinen Mitarbeitern nicht in gleicher Weise zu. Bei ihnen wird »Verantwortung« nicht im Sinne der Übernahme von Herrschaft über einen Unmündigen im Namen einer übergeordneten Instanz verwendet, sondern als Antwort auf eine Frage in einem herrschaftsfreien Dialog. Weil jedoch der zum Klischee verkommene Begriff »Verantwortung« von dem geschilderten Bedeutungshof umgeben ist, möchte ich davon absehen, den Begriff »verantwortliche Gemeinde« als normatives Kriterium für die Gemeindepraxis zu übernehmen. Ernst Lange und seine Mitarbeiter verbanden mit dem Begriff »verantwortliche Gemeinde« den Gedanken, daß alle Gemeindeglieder an der Verantwortung teilnehmen und nicht prinzipiell unterschieden werden soll zwischen den Verantwortlichen in der Gemeinde und den übrigen Gemeindegliedern. Dieser Gedanke entspricht durchaus dem des allgemeinen Priestertums, der in einer kommunikativen Gemeindestruktur verwirklicht wird. In Aufnahme der Intention von Ernst Lange formuliere ich als Leitgedanken-. »Gemeinde der Befreiten«. Er hält das Interesse an einer kommunikativen Gemeindepraxis fest, ohne die mit dem Begriff »Verantwortung« verbundene Hypothek eines hierarchischen Gefälles von den Verantwortlichen zu den Adressaten ihrer Verantwortung mit sich zu schleppen. In dem Leitgedanken »Gemeinde der Befreiten« kommt zum Ausdruck, daß die Gemeindeglieder ihre Freiheit nicht sich selbst verdanken. Denn es handelt sich ja gerade um die geschenkte Freiheit der gerechtfertigten Sünder, die in ihrem neuen Leben zu verwirklichen ist. Damit ist zugleich klargestellt, daß der Leitgedanke »Gemeinde der Befreiten« nicht nur eine formale Feststellung trifft, die mit beliebigen Inhalten ausgefüllt werden könnte, sondern streng auf die inhaltliche Bestimmung des » Evangeliums « als der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit zu beziehen ist. Diesen Zusammenhang hat Jürgen Moltmann folgendermaßen begründet: »Die Gemeinde soll ›in der Freiheit, zu der uns Christus befreit hat‹, bestehen (Gal. 5,1). Sie ist die Gemeinschaft der Freien. In ihrer Ordnung soll die eschatologische [eschatologi-sche]
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Freiheit Bestand gewinnen. Die Ordnung der Kirche Christi muß darum eine Freiheitsordnung sein und schon hier die Erlösung des Menschen von Sünde, Gesetz und Tod darstellen. In der Christusgemeinschaft sind Menschen von der Unterdrückung, die sie von anderen Menschen trennt, zum freien Umgang miteinander befreit.« 89
Die verheißene eschatologische Freiheit realisiert sich schon jetzt als Antizipation in der Freiheitsordnung der Gemeinde. Ordnung und Freiheit sind jedoch unvereinbar, wenn die Ordnung dominiert und als geschlossenes System die Freiheit erstickt. Dagegen bezeichnet »Freiheitsordnung« jene Gemeindestruktur, die der kommunikativen Verwirklichung der geschenkten Freiheit dient. Spielregeln dieser Kommunikation sind - Offenheit - Herrschaftsfreiheit - Partizipation - Solidarität. Diese Begriffe bringen zum Ausdruck, woran sich die Gemeindepraxis orientieren sollte, wenn sie jene geschenkte Freiheit in ihrer Lebenswelt realisieren will. Die genannten Begriffe sind nicht im Sinne eines Ideals zu verstehen, das als unerfüllbare Forderung den Zwang des Gesetzes aufrichtet, sondern als regulative Prinzipien, die sich im Prozeß der Christentumsgeschichte selbst als notwendige Kriterien gesetzt haben. Wenn also jene Spielregeln in die Diskussion eingeführt werden, dann im Sinne von Hinweisen auf die auch in den volkskirchlichen Gemeinden enthaltenen Möglichkeiten, die entdeckt und - wenigstens fragmentarisch -verwirklicht werden können. Als Arbeitshypothese der Gemeindepraxis kann deshalb formuliert werden: in den amorphen oder verkrusteten, betriebsamen oder gelähmten, selbstzufriedenen oder resignierten Gemeinden leben die Elemente der Gemeinde der Befreiten. Keine Gemeinde ist dazu verurteilt, sich mit ihrem jeweiligen Zustand abzufinden. Sie hat immer die Möglichkeit, sich selbst im Vollzug ihrer Praxis zu überschreiten, um zu ihrer Wahrheit zu finden. Gemeinden, die von solcher Arbeitshypothese geleitet, ihre Praxis kritisch analysieren und konstruktiv verändern wollen, brauchen keinem Maximalprogramm zu verfallen. Es käme darauf an, daß da und dort die Wirkungen jener Elemente in praktischen Vollzügen erkennbar werden. So kann etwa die Einrichtung eines offenen Jugendtreffs Offenheit, der Versuch eines Pfarrers, seine Mitarbeiter als selbständige
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Jürgen Moltmann, Kirche in der Kraft des Geistes. Ein Beitrag zur messianischen Ekklesiologie, München 1975, 319
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Partner zu akzeptieren, Herrschaftsfreiheit, die Gestaltung eines Gottesdienstes durch Behinderte Partizipation und die Aufnahme einer Friedensgruppe in die Räume des Gemeindehauses Solidarität signalisieren. Bei Kirchenvorstandssitzungen, Gemeindeversammlungen und Gemeindetagungen sollten diese Elemente reflektiert und in die Planung der Gemeindearbeit umgesetzt werden. Am Ende dieser Erwägungen steht die Frage, unter welchen Bedingungen die Erwartungen, die mit dem Leitgedanken »Gemeinde der Befreiten« und den Spielregeln Offenheit, Herrschaftsfreiheit, Partizipation und Solidarität verbunden sind, in einer kommunikativen Gemeindepraxis eingelöst werden müssen. Diese Bedingungen und auf sie bezogene Ansätze der Gemeindepraxis sollen im folgenden Abschnitt erörtert werden. 5. Kommunikative Gemeindepraxis zwischen Erwartung und Realität Für die Gemeindepraxis maßgebende Bedingungen der Realität sollen an einem Fall erörtert werden, der zwar nicht verallgemeinert werden kann, aber doch exemplarisch ist, weil an ihm Tendenzen sichtbar werden, die nicht nur für volkskirchliche Gemeinden im Ruhrgebiet kennzeichnend sind. Michael Schibilsky, seit 1977 Gemeindepfarrer in Bottrop, zugleich seit 1982 Lehrbeauftragter für Praktische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum, skizziert die äußeren Bedingungen seiner Gemeindepraxis, anschaulich und präzise zugleich, in den folgenden Sätzen: » Der Bottroper Süden, mein eigener Pfarrbezirk also, ist durch eine Fülle überörtlicher Funktionen belastet: Auf wenigen Quadratkilometern: vierspurige Ausfallstraße, vierspurige Stadtumgehung, Bundesautobahn, fünf Bahnkörper der Bundesbahn (Güter- und Personenverkehr), Mülldeponie, Industriegebiet. Das alles in ursprünglich reiner Wohnbebauung. inzwischen droht ein Komplex aus mehreren Hochhäusern (jeweils 32 Familien pro Haus mit ca. 160 Kindern pro Hochhaus direkt an der Kreuzung zweier vierspuriger Schnellstraßen) zum sozialen Brennpunkt zu werden. Die Wohnungswirtschaft erweitert diese Hochhaus-Siedlung noch.« 90
Aus dieser Schilderung der Umwelt der Gemeinde geht hervor, daß die Großsysteme »Wirtschaft« und »Polltik«, deren Funktionieren unabding-
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Michael Schibilsky, Subjektwerdung von Gemeinden zwischen Betreuungspastoral und basiskirchlicher Bewegung in Bottrop, in: Norbert Mette (Hg.), Wie wir Gemeinde wurden. Lernerfahrungen und Erneuerungsprozesse in der Volkskirche, München/Mainz 1982, 196-220; Zitat 200, Anm. 8
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bare Voraussetzung für entwickelte Industriegesellschaften ist, zugleich die Lebensqualität der Wohnquartiere zerstört. Inzwischen hat Michael Schibilsky, Glücksfall eines praktizierenden Theoretikers und schreibenden Praktikers, nicht nur aufschlußreiche Illustrationen dieser Realität nachgeliefert91 , sondern dankenswerterweise unter der Überschrift »Gemeindearbeit im Industriegebiet eine Lehrstelle der Praktischen Theologie«92 auch dargestellt, wie Gemeindepraxis unter den gegebenen Bedingungen aus der Sicht des Gemeindepfarrers aussieht. Besonders aufschlußreich ist dabei, daß er seine Beobachtungen und reflektierten Erfahrungen mit denjenigen vergleicht, die Karl Philipps vor zwanzig Jahren in einer Veröffentlichung93 mitgeteilt hat und die sich auf das gleiche Praxisfeld beziehen. Ich kann und will hier die Ausführungen Michael Schibilskys nicht im einzelnen referieren, sondern deren Lektüre nachdrücklich empfehlen und zunächst nur ein längeres Zitat wiedergeben, in dem die Einschätzung der Veränderung der Lebensbedingungen, unter denen sich die Gemeindepraxis vollzieht, knapp zusammengefaßt wird: »Zu den Stichworten, die noch vor zwanzig Jahren zutreffend und einigermaßen umfassend die soziale Lage, die konkreten Lebensbedingungen charakterisierten: Traditionsverlust durch Heimatverlust, Identitätsverlust, Mißachtung des Menschen, Fremdheit, oberflächliche Bindungen, starke Familienbezogenheit (›Familien-Egoismus‹), die dominierende Stellung des Betriebs, das Pendlerproblem, Schichtarbeit, Machtfaktoren wie Betrieb, Gewerkschaft, Krankenkasse, Organisationen und Verbände, die Probleme von Kinderfeindlichkeit, individuelles Leistungsdenken, die Neigung, mehr sein zu wollen, als man ist, manchmal oberflächliches Zusammenleben - das alles bildet ein breites Panorama der sozialen Wirklichkeit, wie sie damals von Karl Philipps beschrieben worden ist. Einiges hat sich verändert (vgl. Kap. 1), einiges ist geblieben, anderes ist hinzugekommen: vor allem das Ausländerproblem, das in dieser Form zur damaligen Zeit nicht bestanden hat (in Schulen meiner unmittelbaren Nachbarschaft ist der Anteil türkischer Kinder deutlich höher als der deutscher Kinder); sodann die Fragen von Arbeitslosigkeit und deren direkte und indirekte Folgen; sodann die zunehmende Gefährdung des sozialen Netzes und die aktive Auseinandersetzung mit den Opfern einer solchen Entwicklung; außerdem haben sich die politische Landschaft und das politische Spektrum deutlich verändert. Die bereits von Philipps thematisierte Grunderfahrung, daß das Zusammenleben der Menschen häufig oberflächlich und unverbindlich geworden ist (15), hat sich sicherlich noch verschärft. Die Grunderfahrung heißt heute: jeder fühlt sich zu kurz gekommen! Zu wenig Achtung, zu wenig Zuwendung, zu wenig
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Michael Schibilsky, Alltagswelt und Sonntagskirche. Gemeindearbeit im Industriegebiet, München/Mainz 1983, 137-144 92 AaO. 145-187 93 Karl Philipps, Dienst der Kirchengemeinde in der Industriewelt, Handbücherei für die Gemeindearbeit, Heft 25, Gütersloh 1963
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Respekt, zu wenig Anerkennung, zu wenig zuerkannte Menschenwürde, kurz: zu wenig Menschenliebe, das prägt weithin die Lage.« 94
Dieser Vergleich verdeutlicht auf eindrucksvolle Weise, welcher Prozeß der Veränderung der für die Gemeindepraxis maßgebenden Lebensbedingungen ihrer Mitglieder in einem verhältnismäßig kurzen Zeitraum stattgefunden hat. Wie schon gesagt, ist dieser Fall nicht ohne weiteres verallgemeinerungsfähig. Es gibt gewiß noch viele Gemeinden, vor allem in ländlichen Bereichen, die scheinbar im Windschatten dieses Veränderungsprozesses liegen. Dennoch ist dieser Fall exemplarisch für gesamtgesellschaftliche Prozesse, deren Auswirkungen, mehr oder weniger deutlich wahrnehmbar, bis in den entlegensten Winkel reichen. Unter solchen Bedingungen vollzieht sich gegenwärtig Gemeindepraxis. Um für sie sinnvolle Strategien zu finden, sollen einige Gesichtspunkte für die Analyse dieser Bedingungen erörtert werden. Was in dem herangezogenen exemplarischen Fall eindrucksvoll geschildert wird, läßt sich im Kontext gesamtgesellschaftlicher Prozesse erklären, wenn dazu die Bestimmung des Verhältnisses von »System« und »Lebenswelt« aufgegriffen wird, die Jürgen Habermas in seiner »Theorie kommunikativen Handelns« durchgeführt hat.95 »Lebenswelt« begreift Jürgen Habermas im Anschluß an Edmund Husserl und Alfred Schütz als den Hintergrund für alle aktuellen Situationen, als ein »... Reservoir von Selbstverständlichkeiten und unerschütterlichen Überzeugungen, welche die Kommunikationsteilnehmer für kooperative Deutungsprozesse benutzen«96 .
Diese Selbstverständlichkeiten und Überzeugungen sind aufbewahrt in der Sprache und in den kulturellen Überlieferungen. Sie werden abgestützt durch institutionelle Ordnungen einerseits und Persönlichkeitsstrukturen andererseits. Zu den institutionellen Ordnungen gehört auch die Gemeindepraxis, insbesondere die Amtshandlungen Taufe, Trauung und Beerdigung. Kirche und Gemeinde werden von den Individuen nicht nur als Institutionen neben anderen wahrgenommen, sondern sie stehen als Bedingungsfaktoren ihrer Lebenswelt zugleich gewissermaßen im Rücken der Individuen.
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Michael Schibilsky, aaO. 152f Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde, Frankfurt 1981, bes. Bd. 2, 171-294 96 AaO. Bd. 2, 189 95
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Da wird z.B. aus dem Bericht einer Konfirmandin aus Bottrop sehr schön deutlich, den Michael Schibilsky seinem Kapitel über die Gemeindearbeit im Industriegebiet vorangestellt hat: »Ich wurde in einer Kirche getauft. Ich werde auch in einer Kirche konfirmiert. Ich werde auch später kirchlich heiraten. Und wenn ich später vielleicht doch ein Kind haben werde, wird es auch in einer Kirche getauft. Und wenn ich dann einmal sterben werde, werde ich auch von der Kirche beerdigt. Ich finde, das gehört einfach zum Ablauf des Lebens. « 97
Neben den institutionellen Ordnungen stützen die Persönlichkeitsstrukturen die Lebenswelt ab. Die zitierte bottroper Konfirmandin fährt in ihrem Bericht fort: »Auch ist es so, wenn man in die Schule kommt. Man geht zehn Jahre zur Schule, dann kommt man aus der Schule, dann erlernt man einen Beruf, und so ist das auch mit der Kirche. Und so geht es immer weiter, und wird immer mehr. Man wird ja praktisch auch zu so einem Lebenslauf gezwungen. Unsere Eltern haben es so gemacht. Deren Eltern haben es auch so gemacht. Es hat sich schon so eingebürgert. Es gibt aber auch immer welche, die aus der Reihe tanzen, die ihr Leben anders gestalten wollen. Die werden aber von der Gesellschaft gar nicht geachtet. Die Verwandten sind enttäuscht. Die Eltern bitten immer: Kind, das kannst du uns doch nicht antun, was sollen denn die Leute denken. Ich finde, man soll frei entscheiden, wie jeder selber will. Und man soll nicht auf die Meinung der Leute hören. Man soll nach seinem freien Willen handeln.« 98
Hier wird der Widerspruch zwischen der Anpassung der Individuen an die Gesellschaft einerseits, ihr Grundbedürfnis nach freier, persönlicher Lebensgestaltung andererseits deutlich erkennbar. Noch ist nicht zu sehen, wie im Leben der Konfirmandin der Widerspruch, auf der einen Seite »praktisch zu so einem Lebenslauf gezwungen« zu sein und andererseits doch nach seinem freien Willen handeln zu sollen, aufgelöst werden kann. Den Abweichlern unter ihren Altersgenossen, »die aus der Reihe tanzen«, gibt die Berichterstatterin kaum Chancen: »Die werden von der Gesellschaft gar nicht geachtet.« Teilt sie selbst diese Erfahrung? jedenfalls besteht sie darauf, frei zu entscheiden, »wie jeder selber will« und auch nicht auf die Meinung der Leute zu hören, sondern nach seinem freien Willen zu handeln. Es muß offen bleiben, ob Bestandteile jenes Reservoirs an Selbstverständlichkeiten und unerschütterlichen Überzeugungen, die die Lebenswelt ausmachen, bereits in der Persönlichkeitsstruktur dieser Heranwachsenden verankert sind oder ob sie lediglich Klischees wiedergibt, hinter denen sich
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Michael Schibilsky, aaO. 145 Ebd.
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ihre Person verbirgt. Im ersten Falle wäre die ich-starke Jugendliche in der Lage, sich mit den erfahrenen Widersprüchen auseinanderzusetzen und so zur Abstützung der Lebenswelt beizutragen. Die Lebenswelt im Rücken leben die Individuen in einer Gesellschaft, deren Strukturen durch die großen Systeme bestimmt werden. Habermas unterscheidet zwischen dem politischen System mit dem Medium der Macht und dem ökonomischen System mit dem Medium des Geldes. Für die Loyalität der Individuen gegenüber den Anforderungen des Staates und der Wirtschaft hat das soziokulturelle System zu sorgen, in dem die Erziehungsinstitutionen ihre Funktion ausüben. Habermas zeigt, wie im Zuge der Ausdifferenzierung von Staat und Wirtschaft bis hin zu einer neuen Sozialstruktur, in der die Subsysteme der Marktwirtschaft und der modernen Verwaltung komplementär aufeinander bezogen sind, zugleich eine Rationalisierung der Lebenswelt erfolgt sei. Zur Erklärung dieses Rationalisierungsprozesses der Lebenswelt greift Habermas auf das dreistufige Modell der Entwicklung des moralischen Bewußtseins von Lawrence Kohlberg99 zurück: archaische Gesellschaften entsprechen dem präkonventionellen Stadium der moralischen Entwicklung. Die Normen stützen sich nicht auf äußere Sanktionen, sondern sie sind »unmittelbar in den rituellen Handlungen der Kultgemeinschaft verwurzelt«100 . Magische Ethik und geoffenbartes Recht bestimmen die Lebenswelt. Im Zuge der Ausdifferenzierung staatlicher Gewalt mit ihrem Machtmonopol wird traditionelles Recht ausgebildet. Damit ist die konventionelle Ebene des moralischen Bewußtseins erreicht: die Lebenswelt wird jetzt abgesichert durch eine Rechtsordnung. Verstöße gegen ihre Normen werden bestraft. Die religiös verankerten Weltbilder legitimieren die Struktur der Lebenswelt. Im postkonventionellen Stadium verändert das Steuerungsmedium Geld die Struktur der Lebenswelt derart, daß erfolgsorientiertes Handeln von sittlichen Motiven entkoppelt und seine Rechtmäßigkeit nur noch an der Einhaltung einwandfreier Verfahren gemessen wird. Die Moral ist jetzt nur noch im Persönlichkeitssystem verankert, dem das formale Recht gegenübersteht. An die Stelle religiös begründeter Weltbilder tritt eine kommunikative Ethik. Diese Verschiebung zu immer abstrakteren Formen der Konsenssicherung hat ihre Entsprechung in immer allgemeineren und formaleren Wertorientierungen. War die Sozialstruktur archaischer Gesellschaften vom An-
Lawrence Kohlberg, Zur kognitiven Entwicklung des Kindes, dt. Frankfurt 1974 Jürgen Habermas, aaO. 263
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sehen und Einfluß einzelner Personen und Gruppen geprägt, so orientieren sich die Mitglieder politisch konstituierter Gesellschaften an der Amtsautorität der Herrschenden. In modernen Gesellschaften schließlich wird einerseits die autonome Anwendung allgemeiner Prinzipien für den Privatbereich gefordert, während die öffentlichen Angelegenheiten nach formal-legitimen Verfahrensweisen geregelt werden. Durch die Rationalisierung der Lebenswelt erfahren die Individuen einen Zuwachs an Freiheit. Diese wird jedoch dadurch zum Schein, daß im Zuge der Steigerung der Komplexität der Gesellschaft die Individuen für die gesellschaftliche Praxis überflüssig werden. »Entsprachlichte Kommunikation wie Geld und Macht verknüpfen Interaktionen in Raum und Zeit zu immer komplexeren Netzen, ohne daß diese überschaut und verantwortet werden müßten.« 101
Systemische Zwänge der materiellen Reproduktion der Gesellschaft greifen unauffällig in die Formen der sozialen Integration ein und machen so die Lebenswelt zu ihrem Instrument. Die Daseinsvorsorge übernehmen Staat und Wirtschaft mit Hilfe der Medien Macht und Geld. Wie hoch der Preis ist, der dafür gezahlt werden muß, ging aus der Schilderung hervor, die Michael Schibilsky von den Lebensbedingungen seiner Gemeinde im Ruhrgebiet gegeben hat. Aber es bleibt nicht bei dieser Lageanalyse, sondern es wird gezeigt, wie die Störung der Lebenswelt zu Ansatzpunkten einer kommunikativen Gemeindepraxis werden können. Wie hat sich die Gemeinde mit der Lage ihrer Mitglieder auseinandergesetzt? Michael Schibilsky stellt fest: zugenommen hat die Beratungsarbeit102 ; die Bereitschaft, sich zu übergreifenden politischen Fragen (Friede, Dritte Welt) zu äußern, sei in manchen Gemeinden erkennbar gewachsen. 103 Angebote der Gemeinden zur seelischen Stabilisierung und Konzentration würden ebenso angenommen wie gruppen- und personenbezogene Arbeit mit Jugendlichen.104 Gewachsen seien auch die ökumenischen Kontakte in den meisten Gemeinden.105 Gottesdienste bekämen neue Anziehungskraft, wenn sie erfahrungsbezogen gestaltet werden. 106 Die Amtshandlungs-Seelsorge bedeute »aktualisierte und konkretisierte Lebensbegleitung an Wendepunkten des Lebens«107 , beziehe als »integrierte Amtshandlungspraxis« [Amts-handlungspraxis]
101
AaO. 275 Michael Schibilsky, aaO. 158 ff; 170 ff; 179 103 AaO. 180 104 Ebd. 105 Ebd. 106 AaO. 163 ff 107 AaO.167 102
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108
(Joachim Matthes) die Lebenssituation der indirekt betroffenen Angehörigen mit ein108 , sei Anlaß für offene und ehrliche Gespräche109 , sei ferner »die intensivste Form der Gemeindearbeit an distantierten* Gemeindegliedern«110 und »sollte einmünden in Formen der Gruppen-Seelsorge oder doch mindestens in Formen des Gemeindeaufbaus durch kasualbezogene Gemeindegruppen«111 . Der Konfirmandenunterricht solle sozialisationsbegleitend und erfahrungsorientiert sein.112 Die »Situations-Seelsorge« in der Arbeit mit »gemeindlichen Gruppen, die auf Grund einer vergleichbaren lebensgeschichtlichen Situation entstehen«113 (z. B. Konfirmanden-Eltern-Gruppen; Patienten-Gruppen u. a.) und Geselligkeit (Gemeindefeste)114 seien ebenso wie das schriftliche Wort (Gemeindebrief)115 unverzichtbare Formen der Gemeindearbeit. Diese Hinweise können in doppelter Hinsicht interpretiert werden: zunächst fällt auf, daß sie allesamt auf Störungen und Irritationen der Lebenswelt bezogen sind. Auf dem Hintergrund der Analyse von Jürgen Habermas kann gesagt werden: es handelt sich bei diesen Formen der Gemeindepraxis durchweg um Versuche der Rekonstruktion der Lebenswelt unter den Bedingungen einer komplexen Gesellschaft. Damit ist nicht die im Grunde unerfüllbare und darum sinnlose Anforderung gemeint, in die Stadien der archaischen und vormodernen Gesellschaft zurückzukehren und die ihnen entsprechenden Strukturen der Lebenswelt wieder aufzurichten. Das geht u. a. auch daraus hervor, daß Michael Schibilsky Verwaltung und Organisation als notwendige Bedingungen der Gemeindepraxis bezeichnet.116 Bei nüchterner Betrachtung der Lage scheint eine Rekonstruktion der Lebenswelt nur unter der Bedingung möglich zu sein, daß die ökonomischen und politischen Systeme ihre Funktion der Daseinsvorsorge weiterhin ausüben. Dies ist allerdings nur erreichbar, wenn diese Systeme nicht den sogenannten Sachzwängen blindlings folgen, sondern nur dann, wenn das verständigungsorientierte menschliche Handeln wieder in politische Praxis umgesetzt werden kann. Eine Bedingung dafür ist es, daß die Lebenswelt nicht als Mittel der Systeme dient, sondern ihre Selbständigkeit unter neuen Bedingungen zurückgewinnt. Dazu könnte die Gemeindepraxis einen Bei-
AaO. 169 Ebd. * So im Original. 110 Ebd. 111 Ebd. 112 AaO. 174 113 AaO. 176 114 AaO. 177ff 115 AaO. 178 116 AaO. 181 109
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trag leisten. Insofern kann auch gesagt werden, daß in der gegenwärtigen Lage alle Versuche in den Kirchengemeinden, die Störungen der Lebenswelt konstruktiv aufzugreifen, zugleich als ein indirekter Dienst der Kirche an der Gesellschaft begriffen werden kann. Das ist jedoch nicht erreichbar, ohne funktionale Dienste (z.B. Gemeindeberatung, Jugendarbeit, Erwachsenenbildung, Industrie- und Sozialarbeit, Akademiearbeit, Kirchentag etc.) für die Gemeindepraxis in Anspruch zu nehmen. Eine zweite Feststellung ist für unsere Thematik noch wichtiger. Alle von Michael Schibilsky genannten Ansätze erfordern eine kommunikative Gemeindepraxis. Durchweg ist verständigungsorientiertes Handeln für die genannten Formen der Gemeindearbeit charakteristisch. Das wird besonders deutlich am Beispiel der Kasualpraxis, wenn Michael Schibilsky bemerkt: »Amtshandlungen sind so gut oder so schlecht, wie die Gespräche, die sie begleiten.« 117
In diesem Satz werden nicht, wie es zuweilen noch immer geschieht, Ritual und Gespräch gegeneinander ausgespielt. Werner Jetter hat die kommunikative Funktion von Ritualen in der kirchlichen Praxis herausgestellt.118 Er charakterisiert das Ritual, wie es im Gottesdienst und bei den Amtshandlungen vollzogen wird, als »Sprachgewähr und Raum der Verschonung«119 . Das heißt: jedes Ritual gewähre Sprache und binde zugleich an sie. Auf der anderen Seite ermögliche es aber auch den »bloßen Mitvollzug als Signal der Zustimmung«120 . Nicht ausgeschlossen sei jedoch, und mit dem Altern des Rituals werde dies wahrscheinlicher, daß Rituale statt Sprachgewährung Sprachverarmung bewirken. 121 Deshalb ist Michael Schibilsky zuzustimmen, wenn er den Wert der Amtshandlung an dem sie begleitenden Gespräch mißt. Kommunikative Gemeindepraxis öffnet den Mund der Stummen und läßt sie ihre Sprache finden. Daß in dem so eröffneten Gespräch nicht nur die unmittelbaren Belange der Redenden verhandelt werden, sondern zugleich der weltweite Horizont ihres Lebens sichtbar wird, soll der letzte Abschnitt des Berichtes der Bottroper Konfirmandin dokumentieren: «Man hört erst in der Kirche, daß es immer noch Menschen auf der Welt gibt, die hungern müssen. Worüber man sich früher überhaupt keine Gedanken gemacht hat.
117
AaO. 167 Werner Jetter, Symbol und Ritual. Anthropologische Elemente im Gottesdienst, Göttingen 1978, 87 119 AaO. 94 120 Ebd. 121 AaO. 95 118
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Ich habe im Konfirmandenunterricht erst richtig verstanden, was Gott ist und die Kirche. Ich konnte mir früher einfach keine Vorstellung davon machen. Als ich noch nicht im Konfirmandenunterricht war, dachte ich, er wäre langweilig. Aber das stimmt nicht. Wir diskutieren im Konfirmandenunterricht über Probleme, die uns angehen, und wie wir armen Menschen helfen können. Und man merkt, daß man mit seinen Problemen nicht allein ist, und daß einem geholfen wird, mit seinen Problemen und der Welt besser fertig zu werden. Ich habe es bis jetzt nicht bereut, daß ich in den Konfirmandenunterricht gegangen bin. Für mich gab es bis jetzt nur Positives. Unser Pfarrer ist zu uns nicht wie ein Pfarrer, sondern wie ein Freund. Mit dem kann man über alles reden. Und ich habe viel gelernt in dieser Zeit.« 122
Zweierlei scheint mir in unserem Zusammenhang an dem Schlußabschnitt dieses Berichtes bemerkenswert zu sein: diese Konfirmandin hat an einer kommunikativen Gemeindepraxis teilgenommen, und sie wurde von dieser Erfahrung überrascht, weil sie offenbar mit Kirche, Konfirmandenunterricht und Pfarrer Vorstellungen verbunden hat, die keine Offenheit der Gemeindepraxis für ihre Lebensprobleme erwarten ließen. Die mögliche kommunikative Gemeindepraxis ist also häufig verdeckt durch hierarchische Strukturen, die einerseits in den Vorstellungen, vielleicht auch Vorurteilen, der Kirchenmitglieder verankert sind, die aber auf der anderen Seite durch die Realität nicht-kommunikativer Praxis in vielen Gemeinden bestätigt werden. Es käme für die »Gemeinde der Befreiten« darauf an, ihre Praxis als Prozeß der kritisch-konstruktiven Vermittlung von System und Lebenswelt in der Perspektive der Verwirklichung geschenkter Freiheit zu begreifen. Der Entdeckungszusammenhang, in dem diese Aufgabenstellung hinreichend unverstellt wahrgenommen werden kann, sind jene Störungen der Lebenswelt, die im Kontext der konkreten Gemeindepraxis in unterschiedlicher Weise auftreten. Um diese Störungen wahrzunehmen, müssen die alltäglichen Erlebnisse der Gemeindeglieder in ihrer Lebenswelt als Erfahrungen gemeinsam reflektiert werden. Diese Reflexion erfordert für eine verantwortliche Gemeindepraxis die Überführung der alltäglichen Erlebnisse in einen Begründungszusammenhang theologischer Theorie. Das bedeutet gewiß eine Distanzierung von der Unmittelbarkeit der eigenen Erlebnisse, jedoch in dem Interesse, sie theoretisch begründet als Erfahrungen fruchtbar zu machen. An diesem Begründungsvorgang sind die Gemeindeglieder selbst beteiligt. Erst nach diesem Durchgang wird es möglich sein, Kriterien für die Verwirklichung konkreter Gemeindepraxis zu entwickeln und zu praktizieren. Das bedeutet, daß eine Praxistheorie von Kirchengemeinden in den Gemeinden selbst entwickelt werden muß. Was dazu im theologischen Theoriebildungsprozeß [Theo-riebildungsprozeß] 122
Michael Schibilsky, aaO. 145
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insgesamt beigetragen werden kann, muß am Ort der Praxis selbst konkretisiert werden. Dieser Vermittlungsprozeß zwischen Praxis und Theorie ist am Ort der Gemeinde als Aufgabe der in der Gemeinde mitarbeitenden Theologen zu begreifen. Dabei hilft es verhältnismäßig wenig, wenn die Praktiker der Gemeindearbeit diese theologische Theoriebildung in bewußter und gewollter Abkoppelung von dem Theoriebildungsprozeß der Theologie an den Hochschulen betreiben. Umgekehrt ist zu fordern, daß in eben diesen Prozeß der theologischen Theoriebildung die Erfahrungen der Praxis stärker eingehen als dies weithin bisher der Fall ist.
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II. FUNKTIONEN UND STRUKTUREN CHRISTLICHER GEMEINDEN
Vorbemerkung: In diesem Kapitel werden Begriffe aus der Soziologie verwendet. Es mag zunächst befremden, wenn nach den »Funktionen« und »Strukturen« der »Gemeinde der Befreiten« gefragt wird. Während die Wendung »Gemeinde der Befreiten« Zustimmung oder Widerspruch herausfordert, verbindet sich mit den Begriffen »Funktion« und »Struktur« die Kühle sachlicher Distanz. Für die beabsichtigte Analyse der Gemeindepraxis sind jedoch die genannten soziologischen Begriffe brauchbarer und dem Thema angemessener als die herkömmlichen Bezeichnungen »Auftrag bzw. Dienst« und »Gestalt bzw. Formen« christlicher Gemeinden. Eine Untersuchung von Kirchengemeinden nach den Grundsätzen der empirischen Sozialforschung1 wird hier nicht vorgelegt. Vielmehr sollen Praktiker dazu angeregt werden, ihre eigene Praxis mit Hilfe dazu geeigneter Instrumente zu untersuchen. Dazu ist es notwendig, gewissermaßen einen Schritt zurückzutreten, um von den alltäglichen Erlebnissen und Handlungszwängen in der Gemeinde einen gewissen Abstand zu gewinnen. Dazu sind gerade Begriffe aus der Fachsprache der Soziologie hilfreich. Sie können dazu beitragen, einen neuen Blick für die eigene Praxis zu gewinnen. Im übrigen weise ich an dieser Stelle noch einmal darauf hin, daß hier keine direkten Vorschläge zur Verwirklichung kommunikativer Gemeindepraxis gemacht werden sollen. Untersucht werden die Bedingungen, unter denen kommunikative Gemeindepraxis ermöglicht bzw. verhindert wird. Die sorgfältige Untersuchung dieser Bedingungen ist eine notwendige Voraussetzung gelingender kommunikativer Gemeindepraxis. 1. »Gemeinde der Befreiten« als Hypothese der empirischen Analyse Mit dem in der Vorbemerkung begründeten Wechsel in der Terminologie wird der Leitgedanke »Gemeinde der Befreiten« nicht verabschiedet. Er
1
Norbert Glatzel, Gemeindebildung und Gemeindestruktur, Paderborn 1976
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2
geht vielmehr als Hypothese in die folgende Analyse der Bedingungen kommunikativer Gemeindepraxis ein. Mit dieser Feststellung wird dem Sachverhalt entsprochen, daß empirische Analysen stets geleitet sind von theoretischen Annahmen. Wenn im vorhergehenden Kapitel auch keine Theorie der Gemeinde im strengen Sinne des Begriffs entwickelt wurde, so meine ich doch, mein erkenntnisleitendes Interesse hinreichend geklärt zu haben. Damit sind Kriterien benannt worden, die an verschiedenen Stellen der Analyse wieder auftauchen werden und die stillschweigend auch da vorausgesetzt sind, wo sie nicht ausdrücklich erwähnt werden. Bevor die Begriffe »Funktion« und »Struktur« näher erläutert werden, ist die grundsätzliche Frage zu erörtern, wer als Subjekt der Analyse der eigenen Gemeindepraxis vorausgesetzt wird. Die Frage stellt uns vor erhebliche Probleme. Denn prinzipiell gilt für unsere Thematik: die Analyse der Bedingungen kommunikativer Gemeindepraxis ist eine gemeinsame Angelegenheit aller an dieser Gemeindepraxis Beteiligten. Das heißt mit anderen Worten: grundsätzlich sind alle Gemeindeglieder Subjekte und nicht Objekte der Analyse der Bedingungen der Gemeindepraxis. Diese ideale Annahme ist indes aus praktischen Gründen nicht zu verwirklichen. Denn es ist schwer vorstellbar, daß Gemeindeglieder, die in der durchschnittlichen Gemeindepraxis eher als Objekte der Angebote der Mitarbeiter begriffen denn als selbst verantwortliche Subjekte gemeinsamer Praxis anerkannt werden, bei der Analyse der Bedingungen dieser Praxis selbständig beteiligt sind. Gerade deshalb ist es jedoch notwendig, dem damit gestellten Problem einige Aufmerksamkeit zu widmen. Es liegt nahe, den Begriff »Praktiker« auf die hauptberuflichen Mitarbeiter der Gemeinde einzugrenzen, allenfalls noch die ehrenamtlichen Mitarbeiter einzubeziehen. Damit wäre aber bereits entschieden, aus welcher Perspektive die Problematik abgehandelt wird. Es gibt gute Gründe für die Annahme, daß hauptberufliche Mitarbeiter und andere Gemeindeglieder die Gemeinde aus unterschiedlicher Perspektive ansehen. Während die Gemeindeglieder in der Regel die Kirche als einen traditionellen Herrschaftsverband betrachten und deshalb geneigt sind, dem Pfarrer in der Gemeinde eine dominante Position im Sinne eines Feudalherren zuzuschreiben, tendieren die hauptberuflichen Mitarbeiter eher dahin, die Kirche als eine bürokratische Organisation2 zu begreifen und demzufolge den Organisationsaspekt der Gemeinde besonders hervorzuheben. Anders als die »Praktiker« entwerfen die »Theoretiker«, in diesem Falle der Vertreter der theologischen Wissenschaft, je nach der Forschungslage
Yorick Spiegel, Kirche als bürokratische Organisation, München 1969
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3
ihrer Disziplin, ein Bild von Gemeinde, das zwar sicher mitgestaltet wird durch ihre Erfahrungen, die sie zugleich als Gemeindeglieder machen, das aber seine Substanz aus ihrer beruflichen Beschäftigung mit der christlichen Überlieferungsgeschichte gewinnt. Das geschieht z.B. so, daß aus biblischen Texten das »Prinzip Gemeinde« herausgearbeitet3 oder bestimmte Aussagen über die christliche Gemeinde, z. B. die paulinische Charismenlehre, als maßgebend für die gegenwärtige Gemeindepraxis herausgestellt wird.4 Der Gemeindepfarrer und die Gemeindepfarrerin, theologisch gebildete hauptberufliche Mitarbeiter der Gemeinde, sind in ihrer Wahrnehmung der konkreten Gemeinde einerseits geleitet von ihren theologisch begründeten theoretischen Annahmen, andererseits bestimmt durch ihre Berufsrolle, die sie wiederum von den übrigen hauptberuflichen Mitarbeitern unterscheidet. Diese unterschiedlichen Perspektiven dürfen weder voneinander isoliert noch gegeneinander ausgespielt werden. Insbesondere wäre es problematisch, wollte man die Bestimmung der Funktionen und Strukturen der Gemeinde den Theologen sowie den hauptberuflichen Mitarbeitern vorbehalten, die übrigen Gemeindeglieder also dabei ausschließen. Der Abstand der unmittelbaren Erfahrung der Gemeinde durch die Laien von der durch Berufstätigkeit vermittelten Sicht der hauptberuflichen Mitarbeiter und von dem durch distanzierende Theoriearbeit entwickelten Begriff »Gemeinde« der wissenschaftlichen Theologen ist dann überwindbar, wenn es gelingt, das in jeder der genannten Perspektiven enthaltene Theorie-Praxis-Verhältnis zu klären. Es ist sinnvoll, anzunehmen, daß manche »Laien« ihre Gründe haben, am Gemeindeleben teilzunehmen bzw. sich vom Gemeindeleben fernzuhalten, für ihre Zustimmung zu Erscheinungsformen der Gemeinde wie für ihre Kritik daran, ohne sich diese Gründe in jedem Falle bewußt zu machen. So kann etwa ein Gemeindeglied trotz enttäuschender Erfahrungen mit langweiligen Predigten und unbeteiligten Zuhörern dennoch ab und zu in den Gemeindegottesdienst gehen, weil ihm irgendwann einmal die These Zinzendorfs: »Ich statuiere kein Christentum ohne Gemeinschaft!« begegnet ist und eingeleuchtet hat. Andererseits kann die Exklusivität der Kerngemeinde ein Gemeindeglied davon abhalten, sich in der Gemeinde zu engagieren, weil die vorherrschende Sektenmentalität im Widerspruch zu seiner Auffassung von offener Gemeinde steht. Für die Mehrzahl der Kirchenmitglieder aber ist der Bezug
Ferdinand Klostermann, Prinzip Gemeinde. Gemeinde als Prinzip des kirchlichen Lebens und der Pastoraltheologie als der Theologie dieses Lebens, Wien 1963 4 Georg Eichholz, Was heißt charismatische Gemeinde?, TEH 77, München 1960
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5 6
zur Gemeinde, abgesehen von gelegentlichem Gottesdienstbesuch, irrelevant geworden. Ihre Verbindung zur Gemeinde läuft über den Pfarrer, dem sie im Konfirmandenunterricht und anläßlich von Kasualien begegnen, der sie vielleicht auch einmal in ihrer Wohnung besucht hat. Für die hauptberuflichen Mitarbeiter in der Gemeinde gilt in der Regel, daß sie die in der Ausbildung möglicherweise erworbene Theorie der Gemeinde im ersten »Praxisschock« über Bord geworfen haben und jetzt versuchen, mit Faustregeln, Rezepten und Methoden ihren Kurs zu finden. In diesen Faustregeln, Rezepten und Methoden stecken jedoch immer auch diffuse Theorieelemente, die vielleicht zusammenpassen, vielleicht auch einander widersprechen. Wenn es dem Praktiker gelingt, diese theoretischen Elemente kritisch aufzuklären und daraus seine Praxistheorie der Gemeindearbeit zu entwickeln, dann braucht er nicht »von der Hand in den Mund« zu leben, sondern kann überlegt und langfristig, d.h. verantwortlich handeln. Dabei können ihm die »Theoretiker« dann helfen, wenn sie unter Heranziehung geeigneter empirischer Forschungsmethoden (z.B. teilnehmende Beobachtung; Gruppendiskussion; biographisches Interview) die Perspektive der Laien einnehmen und die gewonnenen Ergebnisse auf die theologische Theoriebildung der Gemeinde beziehen wie umgekehrt. »Laien«, »Praktiker« und »Theoretiker« sind dann im offenen System eines »Lernkreises« miteinander verbunden. Daß der Aspekt der »Laienperspektive« gerade bei der Bestimmung der Funktionen und der Strukturen von Kirchengemeinden nicht fehlen darf, ergibt sich, soziologisch gesehen, daraus, daß mit Max Weber von einem Bestand der Gemeinde nur da geredet werden kann, »wo die Laien 1. zu einem dauernden Gemeinschaftshandeln vergesellschaftet sind, auf dessen Ablauf sie 2. irgendwie auch aktiv einwirken. Ein bloßer Verwaltungssprengel, der die Kompetenzen der Priester abgrenzt, ist eine Parochie, aber noch keine Gemeinde«5 . Die bewußt vage Formulierung, die Laien wirken auf das dauernde Gemeinschaftshandeln in der Gemeinde »irgendwie auch aktiv« ein, soll andeuten, daß diese Laienaktivität verschieden begründet und von unterschiedlicher Intensität sein kann. Zur Begründung verweist Max Weber auf die Elemente der Prophetie, des Laientraditionalismus und des Laienintellektualismus. Mit diesen »im Kreis der Laien wirksamen Mächte(n)«6 , auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, hat sich die Priesterschaft auseinanderzusetzen:
Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 19765 , 277 AaO.278
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»Der großen Machtstellung der Priester steht, je mehr die Organisation spezifischen Gemeindecharakter trägt, desto mehr die Notwendigkeit gegenüber, im Interesse der Erhaltung und Propagierung der Anhängerschaft den Bedürfnissen der Laien Rechnung zu tragen.« 7
Für die praktische Wirkung der Religiosität gewinnt innerhalb der Gemeinde die Beziehung zwischen Priestern und Laien maßgebende Bedeutung. Wie stark die ursprüngliche Machtstellung des Priesters noch immer selbst in protestantische Gemeinden hineinwirkt, macht die Bemerkung eines Pfarrers deutlich: »Die Leute falten sozusagen unsichtbar die Hände«8 , wenn sie ihrem Pfarrer begegnen. Aus der Sicht evangelischer Theologie ist klar, daß die Laien für den theologischen Begriff der Gemeinde ebenso konstitutiv sind, wie die zum Dienst in der Gemeinde Berufenen. Theologisch kontrovers ist das Verhältnis zwischen Berufenen und Laien in der Gemeinde. Wenn über das Verhältnis von »Amt« und »Gemeinde« reflektiert wird, so ist schon diese Redeweise nicht unproblematisch, weil sie das »Amt« aus der »Gemeinde« herausnimmt und ihr gegenüberstellt. Im Grunde paßt diese Rede nur zu der römisch-katholischen Lehre vom Priester, der in der Weihe einen character indelebilis empfangen hat und sich dadurch qualitativ von den Laien in der Gemeinde unterscheidet. Nach protestantischer Auffassung ist diese Lehre mit dem Offenbarungsglauben unvereinbar: Durch das Sakrament der Taufe sind alle Christen von gleicher Qualität.9 Wenn Männer und Frauen zum öffentlichen Dienst in der Gemeinde ordiniert werden, so ist damit, theologisch gesehen, kein qualitativer Unterschied zwischen ihnen und den Laien gesetzt. Vielmehr muß man sagen, daß der um der Ordnung willen zum Dienst in der Gemeinde Berufene stellvertretend für die Gemeinde handelt, die insgesamt mit dem Dienst der Versöhnung beauftragt ist. Dies muß im Auge behalten werden, wenn hauptberufliche Mitarbeiter dazu neigen, den Organisationsaspekt der Gemeinde hervorzuheben. Sie unterscheiden sich von den übrigen Gemeindegliedern jedenfalls dadurch, daß sie in ihrer Gemeindetätigkeit »Religion als Beruf« ausüben, während jene am Gemeindeleben in ihrer Freizeit teilnehmen. Diese Unterscheidung ist so banal, daß sie meist unberücksichtigt bleibt. Wird jedoch nicht zur Kenntnis genommen, daß die Gemeindepraxis für die hauptberuflichen
7
Ebd. Günther Bormann, Kommunikationsprobleme in der Kirche, in: Joachim Matthes (Hg.), Kirche und Gesellschaft, Reinbek bei Hamburg 1969, 188 9 Vgl. dazu die Ausführungen zu Luthers Lehre vom allgemeinen Priestertum, in: Kap. I 3.3, S. 30ff 8
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Mitarbeiter Arbeit bedeutet, während die übrigen Gemeindeglieder in ihr einen Teil ihrer Freizeit verdringen, ergeben sich daraus Mißverständnisse, unerfüllbare Erwartungen und Scheinkonflikte. Die hauptberuflichen Mitarbeiter entrichten zwar, wie alle anderen Gemeindemitglieder, ihre Kirchensteuer; sie werden aber für ihre Berufstätigkeit in der Gemeinde bezahlt. Es liegt nahe, damit die Vorstellung zu verbinden, ihr Gehalt sei ein Entgelt dafür, daß sie den »Dienstleistungsbetrieb« der Gemeinde organisieren. Die anderen Gemeindeglieder kommen dadurch in die Lage von Konsumenten des durch die hauptberuflichen Mitarbeiter organisierten Angebots. Der Begriff des »praktizierenden Katholiken«, für den es im evangelischen Bereich kein unmittelbar vergleichbares Wort gibt, ist ein Hinweis darauf, daß im Falle der christlichen Gemeinde die Bezeichnung »Praktiker« nicht auf die in der Gemeinde Berufstätigen begrenzt werden kann. Das gilt insbesondere dann, wenn der Begriff »mündige Gemeinde«10 als Maßstab der gemeinsamen Praxis gilt. Die Feststellung, alle Gemeindeglieder sind »Praktiker« wird demnach als Hypothese in unsere Überlegungen eingeführt. Dadurch soll nicht verwischt werden, daß es hinsichtlich der Gemeindepraxis folgenden Unterschied gibt: Die Mehrzahl der Gemeindeglieder nimmt in der Freizeit an der Praxis der Gemeinde teil; für die hauptberuflichen Mitarbeiter ist die Gemeindepraxis Inhalt ihrer Berufstätigkeit. Für den praktischen Theologen, der an einer Universität forscht und lehrt, ist die Gemeindepraxis, an der er als Gemeindeglied teilnimmt, in der er auch gelegentlich den Gemeindepfarrer in einem Gottesdienst vertritt, zugleich Gegenstand seiner wissenschaftlichen Reflexion. 2. Erläuterung der verwendeten Begriffe Für die Entwicklung einer Praxistheorie von Kirchengemeinden ist es wichtig, einen Verständigungsprozeß zwischen den Praktikern unterschiedlicher Ausprägung herbeizuführen. Dazu sind die Begriffe »Funktion« und »Struktur« deshalb geeignet, weil sie bei der gemeinsamen Analyse der Gemeindepraxis helfen können. Die Bedeutung dieser Worte für unseren Zusammenhang muß zunächst geklärt werden.
10
Hans-Georg Link, Mündige Gemeinde. Gesichtspunkte zu ihrer Struktur, in: EvTh 36 (1976), 253-262
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2.1 Funktionen als tatsächliche und wünschenswerte Folgen von Handlungen Das Wort »Funktion « ist sowohl ein wissenschaftlicher Begriff, z. B. aus der Mathematik, wo er die »gesetzmäßige Abhängigkeit einer (abhängig veränderlichen) Größe von einer oder mehreren anderen (unabhängig veränderlichen) Größen«11 ausdrückt, als auch ein Wort der Umgangssprache, wenn z.B. danach gefragt wird, welche Funktion Herr Müller in seinem Betrieb hat oder wenn festgestellt wird, daß die Lehrerin Meier am Montag, 8 Uhr, in ihrer Klasse in Funktion tritt. Unsere Verwendung des Begriffes kommt der Umgangssprache nahe, wenn wir unter Funktionen tatsächliche bzw. wünschenswerte Folgen von Handlungen der Gemeinde, sowohl in ihr selbst wie durch sie in ihrer Umwelt, verstehen. Zugleich wird damit die Grundbedeutung des lateinischen Wortes functio = »Verrichtung«12 aufgenommen. Das entspricht dem herrschenden Sprachgebrauch in der Soziologie, der unter Funktion »die einem Teil im Rahmen eines Ganzen obliegende Verrichtung versteht«13 . Kirchengemeinden sind in unserem Lande nicht mehr identisch mit bürgerlichen Gemeinden; selbst in überwiegend katholischen oder evangelischen Dörfern gibt es immer eine Minderheit, die zu einer anderen Konfession gehört oder aus der Kirche ausgetreten ist. Bezogen auf die Gesamtheit der Bürger sind die Kirchengemeinden Teile eines Ganzen. Von ihrem Selbstverständnis her können sich Kirchengemeinden schwerlich auf sich selbst beschränken. Die Gottesdienste jedenfalls sind öffentliche Veranstaltungen, zu denen jedermann Zutritt hat, soweit er bereit ist, sich an die dort geltenden Regeln zu halten. Die Unterscheidung zwischen tatsächlichen und wünschenswerten Funktionen führt ein kritisches Element ein. So kann z.B. der Gottesdienst im Rahmen einer Bürgerwoche die tatsächliche Funktion haben, die Leistungen der Kommunalpolitiker für das Gemeinwesen freundlich zu bestätigen; es könnte aber auch die wünschenswerte Funktion eines solchen Gottesdienstes sein, auf ungelöste Probleme aufmerksam zu machen und Wege zu ihrer Lösung vorzuschlagen. Das gewählte Beispiel zeigt, daß es notwendig ist, Kriterien namhaft zu machen, welche Funktionen der Kirchengemeinde als »wünschenswert« gelten können. Weil darüber nicht von vornherein und ein für alle mal Übereinstimmung herrschen dürfte, fordert die Frage nach der sinnvollen
11
Das Bertelsmann Lexikon, Bd. 1, Gütersloh 1953, Sp. 1368 Gerhard Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Gütersloh 1968, Sp. 1368 f 13 Niklas Luhmann, Funktion IV., in: HWP Bd. 2, Darmstadt 1972, Sp. 1142f 12
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Unterscheidung von tatsächlichen und wünschenswerten Funktionen der Kirchengemeinde den offenen Dialog aller Beteiligten. 2.2 Strukturen als unveränderbare bzw. veränderbare Voraussetzungen von Funktionen In welchem Maße dieser offene Dialog über wünschenswerte Funktionen der Gemeinde möglich ist, das hängt vor allem von ihrer Struktur ab. In der Umgangssprache bedeutet Struktur das Gefüge, der Bau, die innere Gliederung, die Anordnung der Teile in einem Ganzen. Zum Zweck unserer Überlegungen genügt eine vergleichsweise grobe Strukturanalyse. Wir fragen nach der personellen, rechtlichen und finanziellen Struktur der Kirchengemeinde. Da die personelle und finanzielle Struktur der Kirchengemeinde durch ihre rechtliche Struktur bestimmt wird, ist an dieser Stelle ein Exkurs zum gegenwärtig für die Kirchengemeinde geltenden Kirchenrecht aufschlußreich. Ich verwende dazu eine Veröffentlichung von Albert Stein,14 mit der er »ein theologisch verantwortetes Lernbuch des geltenden Kirchenrechts der evangelischen Kirchen deutscher Sprache«15 vorlegte. Nach der Darstellung der Voraussetzungen wird das evangelische Kirchenrecht ausgehend vom Gottesdienst entfaltet, weil sich in der evangelischen Gottesdienstordnung die Grundstrukturen eines evangelischen Kirchenrechts zeigen, »die sich als Auftrag und Dienstgemeinschaft, Sendung und Aufsicht, Regel und Befreiung beschreiben lassen«16 . An das Kapitel »Das Recht des Gottesdienstes«17 schließt sich sofort das Kapitel »Das Recht der Gemeinde«18 an. Erst im Anschluß daran wird das die »Kirche im größeren Bereich«19 betreffende Recht abgehandelt. In diesem Aufbau des Lernbuches kommt zum Ausdruck, daß der Begriff »Gemeinde« ein Schlüsselbegriff des evangelischen Kirchenrechts ist.20 »Evangelische Gemeinde bildet sich in dem zur Stetigkeit hinstrebenden Zusammenkommen von Christen innerhalb eines gemeinsamen Lebenskreises zum Gottesdienst sowie zum Dienst an anderen Christen und für die Welt.« 21 Diese Definition des Rechtsbegriffs der Gemeinde ist nicht auf die örtlich begrenzte Körperschaft (Parochie) festgelegt, sondern umfaßt auch die Personalgemeinde (z.B. Anstaltsgemeinden, Militärgemeinden, Hochschulgemeinden) sowie das mit dem sprachlich nicht glücklichen Begriff »Paragemeinde« bezeichnete Zusammenkommen von Christen auf Zeit (z.B. Akademietagungen, Freizeiten, Kirchentag).22 [Kir-chentag]
14
Albert Stein, Evangelisches Kirchenrecht. Ein Lernbuch, Neuwied/Darmstadt 1980 AaO. 1 16 AaO. 37 17 AaO.37-74 18 AaO.75- 131 19 AaO.131-184 20 AaO.76 21 AaO.75 22 AaO. 77 ff 15
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Unter Berufung auf Martin Luther betont Albert Stein den Vorrang der Gemeinde und stellt fest: »Daraus folgt, daß Kirchenrecht in allen Fragen rechtlicher Ordnung im Zweifel für die Gemeinde auszulegen ist.« 23 Grundlegend für das Recht der Aufträge innerhalb der Gemeinde ist der Gedanke des allgemeinen Priestertums.24 Auf dieser Grundlage hat der evangelische Pfarrer »heute als rechtsgeschichtlich gewachsenes Grundamt einen berufsmäßig herausgehobenen Volldienst an den Mitchristen seiner Gemeinde inne«25 . Um ihre Aufträge auszuführen, benötigt die Gemeinde neben Gemeindepfarrer(in) und freiwilligen Helfern Mitarbeiter, teilweise im Status von Kirchenbeamten, häufiger im Angestelltenverhältnis.26 Der Geldbedarf der Kirchengemeinden wird in der Bundesrepublik Deutschland aus Kirchensteuermitteln gedeckt, die »zentral vereinnahmt und den Kirchengemeinden nach einem Verteilungsschlüssel für ihren Eigenbedarf zugewiesen werden. Als kirchliche Körperschaften führen die Kirchengemeinden Haushaltspläne, die aus Gründen der Vergleichbarkeit nach einem einheitlichen, gesamtkirchlichen Schema aufgeschlüsselt werden. Bauvorhaben und Darlehensaufnahmen bedürfen regelmäßig der vorherigen Genehmigung durch die kirchliche Aufsichtsbehörde«27 .
Für die Praxis einer Kirchengemeinde ist es von großer Bedeutung, ob ein Pfarrer oder eine Gruppe von Mitarbeitern mit verschiedener Ausbildung ihre Personalstruktur darstellen; ob die rechtliche Regelung des Kirchenvorstandes bestimmt, daß der Pfarrer von Amts wegen sein Vorsitzender ist oder ob auch andere Kirchenvorsteher nach geltender Rechtslage den Vorsitz übernehmen können; ob das gemeindeleitende Gremium kompetent über den Haushalt der Gemeinde bestimmen kann oder lediglich finanzielle Zuteilungen aus dem Kirchensteueraufkommen verwaltet. Da die Funktionen der Gemeinden bis zu einem gewissen Grad von ihren Strukturen abhängen, ist es notwendig, auch in die Strukturanalyse ein kritisches Moment einzuführen. Diese Strukturkritik kann daran anknüpfen, daß solche kritischen Elemente in unterschiedlicher Weise das Gemeindeverständnis protestantischer Kirchen bestimmt haben und auch im römischen Katholizismus ihre unübersehbaren Spuren hinterließen. So ist es z. B. sinnvoll, von einer Radikalisierung demokratischer Vorstellungen für das strukturelle Gefüge von Kirchengemeinden von den lutherischen über die reformierten bis hin zu den freien Kirchen zu sprechen. Für den katholischen Bereich mag der Hinweis auf die Reformorden und die Basisgemeinden verdeutlichen, daß auch die Strukturen der Weltkirche keineswegs unveränderbar sind. Für die Einschätzung der Veränderbarkeit jeweils herrschender Strukturen [Struk-turen]
23
AaO.80 AaO. 95 25 AaO. 102 26 AaO.123f 27 AaO.128f 24
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der Gemeinden ist die Tradition, in der sich diese Gemeinden gebildet haben, sorgfältig zur Kenntnis zu nehmen. Zwar sind die Funktionen von den Strukturen nicht absolut festgelegt; dennoch gehört es zu den Bedingungen der Möglichkeit, zwischen tatsächlichen und wünschenswerten Funktionen der Gemeindepraxis unterscheiden zu können, daß bei den Strukturen Unterschiede gemacht werden, zwischen Strukturelementen, die veränderbar sind, und Strukturelementen, die entweder grundsätzlich oder jedenfalls unter den herrschenden Bedingungen nicht verändert werden können. So gibt es z.B. gute Gründe für die Annahme, daß Gemeinden in unserem volkskirchlichen System in ihrer Personalstruktur auf hauptberufliche Mitarbeiter nicht verzichten können. Aber das Strukturelement der Begrenzung der Beauftragung zu Wortverkündigung und Sakramentsverwaltung auf Männer erwies sich jedenfalls in den evangelischen Landeskirchen als durchaus veränderbar. Trotz erheblicher Widerstände ist die Möglichkeit, Frauen mit theologischer Ausbildung zum Dienst in der Gemeinde zu ordinieren, Bestandteil des evangelischen Kirchenrechts geworden. Es ist denkbar, daß eines Tages auch homosexuell orientierte Männer und Frauen als Pfarrer bzw. Pfarrerinnen in der Gemeinde tätig sein können.28 Die Besetzung von Pfarrstellen mit Nichttheologen ist ebenfalls ein veränderliches Element der Personalstruktur der Gemeinden. Ein gemeindeleitendes Gremium ist ein notwendiges Element der Gemeindestruktur; veränderbar ist, das zeigt schon die unterschiedliche Rechtslage in den einzelnen Landeskirchen, die Bestimmung über den Vorsitz in diesem Gremium: Es muß nicht unbedingt der geschäftsführende Pfarrer, es kann auch ein Laie sein. Auch ohne grundsätzliche Änderung des Kirchensteuersystems gehört die Stärkung der Haushaltskompetenz der Ortsgemeinde gegenüber der jetzt vorherrschenden Kompetenz von Gesamtkirchenverwaltungen und Landeskirchen zu den veränderbaren Elementen ihrer Struktur. 2.3 Zum Verhältnis von Funktionen und Strukturen Bei der Erläuterung der Bedeutung der verwendeten Begriffe »Funktion« und »Struktur« wurde bereits angedeutet, wie sich Funktion und Struktur zueinander verhalten. Zum besseren Verständnis der folgenden Ausführungen ist es notwendig, darzulegen, wie dieses Verhältnis zu bestimmen ist. Zunächst soll daran erinnert werden, daß die als Hypothese eingeführte
28
Helmut Kentler (Hg.), Die Menschlichkeit der Sexualität. Berichte - Analysen - Kommentare, ausgelöst durch die Frage: Wie homosexuell dürfen Pfarrer sein?, München 1983
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Formel »Gemeinde der Befreiten« als normatives Kriterium für die Analyse der Gemeindepraxis zu gelten hat. Zu prüfen ist, ob die tatsächlichen Funktionen und die vorfindlichen Strukturen diesem Kriterium gerecht werden. Nur unter diesem Gesichtspunkt ist es auch sinnvoll, sowohl zwischen tatsächlichen und wünschenswerten Funktionen als auch zwischen unveränderbaren und veränderbaren Strukturen zu unterscheiden. Wünschenswert sind diejenigen Funktionen, in denen die Gemeinde der Befreiten zum Zuge kommt und alle Strukturen, die sie daran hindern, müssen verändert werden. Dazu ist es erforderlich, anzugeben, was denn als wünschenswerte Funktion christlicher Gemeinden zu gelten hat. Weil die dem Wort Glaubenden zur Freiheit befreit werden, antworten sie dem Wort Gottes, indem sie als freie Subjekte mit freien Subjekten, als »mündige Christen« miteinander leben. Ist es die Grundfunktion der christlichen Gemeinde, die geschenkte Freiheit zu leben, so wird sie allen Versuchen widerstehen, sie zu anderen Zwecken »umzufunktionalisieren«. Sie wird sich also nicht zur Legitimation dominanter Wertvorstellungen und zur Durchsetzung der in der Gesellschaft herrschenden Interessen in Anspruch nehmen lassen. Als »Gemeinde der Befreiten« erweist sie sich da, wo sie für die Geltung der Menschenrechte eintritt, gerade für Ohnmächtige und Entrechtete. Um diese Grundfunktion wahrnehmen zu können, bedarf die Gemeinde entsprechender Strukturen. Sie sind den Funktionen unterzuordnen, haben ihnen zu dienen. Die Personalstruktur der Gemeinde, ihre rechtliche Verfassung sowie ihre finanziellen Mittel sind dann ihren wünschenswerten Funktionen angemessen, wenn sie die Selbständigkeit ihrer Mitglieder nicht behindern, sondern fördern. Das Verhältnis von Funktionen und Strukturen der Gemeinde ist als dialektisches zu denken: einerseits ist die Gemeinde auf Strukturen angewiesen, wenn sie ihre Funktionen wahrnehmen soll; auf der anderen Seite sind die Strukturen der Gemeinde von ihren Funktionen her zu kritisieren und zu verändern, sofern sie ihnen im Wege stehen. Geschlossene und hierarchische Strukturen sind mit der Grundfunktion der Gemeinde, die geschenkte Freiheit in offener Kommunikation zu leben, unvereinbar. Nehmen wir zur Erläuterung folgenden Fall an: In einer Kirchengemeinde hat sich, entstanden aus einem Kreis von Eltern ehemaliger Konfirmanden, eine Gruppe gebildet, die sich nicht damit abfinden möchte, daß ein Teil der schulentlassenen jugendlichen keine Ausbildungsstelle bekommt. Die Gruppe fordert von der Gemeindeleitung, daß sich auch die Kirchengemeinde mit dem Problem der fehlenden Ausbildungsstellen befaßt. Dadurch kommt es im Kirchenvorstand zu einem Zielkonflikt. Während die Mehrheit der Kirchenvorsteher die Meinung vertritt, die Gemeinde habe sich auf Gottesdienst, Unterricht und Seelsorge zu beschränken, setzt sich eine Minderheit um den Vertrauensmann der Jugend im Kirchenvorstand engagiert für die Belange
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der betroffenen jugendlichen ein. Der Gemeindepfarrer als Vorsitzender des Kirchenvorstands unterstützt die Meinung der Mehrheit und erklärt, die Gemeinde könne den jugendlichen Konfirmandenunterricht erteilen, sie konfirmieren, ihnen anschließend die Teilnahme an Jugendkreisen anbieten und sie seelsorgerlich begleiten. Es sei nicht Aufgabe der Kirchengemeinde, sich um Ausbildungsplätze für die jugendlichen zu kümmern. Im übrigen pflichte er der Erklärung der Bundesregierung bei, daß alle dazu fähigen und willigen jugendlichen einen Ausbildungsplatz bekämen, sofern sie sich flexibel auf die gegebene Lage einstellen. Der Antrag der Initiativgruppe wird mit großer Mehrheit abgelehnt. Legen wir das normative Kriterium »Gemeinde der Befreiten« auf diesen Fall an, so ist festzustellen: die Struktur der Gemeinde (Dominanz des Pfarrers, Mehrheitsverhältnisse im Kirchenvorstand) verhindert, daß eine offene Auseinandersetzung über die Funktion der Gemeinde in Gang kommt. Die Fortsetzung dieses Falles ist in verschiedener Hinsicht denkbar. Ich schildere nur zwei extreme Möglichkeiten: Der Vertrauensmann im Kirchenvorstand protestiert gegen die Abstimmungsniederlage, indem er seine Mitarbeit im Kirchenvorstand beendet, einige Mitglieder der Initiativgruppe treten aus der Kirche aus. Im übrigen bleibt die Anregung eine Episode und das Gemeindeleben geht weiter wie bisher, als wäre nichts geschehen. Eine andere Möglichkeit könnte so aussehen: die Initiativgruppe akzeptiert zunächst ihre nach geltenden Regeln erfolgte Abstimmungsniederlage und überlegt, mit welchen Strategien sie ihr Ziel weiterverfolgen könnte. Sie sucht sich zunächst weitere Bundesgenossen in der Gemeinde, bemüht sich, in Einzelgesprächen mit dem Gemeindepfarrer und den Kirchenvorstehern ihr Anliegen verständlich zu machen. Sie regt darüber hinaus eine Gemeindetagung an, auf der die strittige Frage mit dem Interesse diskutiert werden soll, ob und wenn ja, auf welche Weise sich die Kirchengemeinde bei der Lösung des Problems beteiligen kann. Es gelingt der Gruppe auf diese Weis e zu erreichen, daß die Thernatik nach gründlicher Vorbereitung erneut im Kirchenvorstand diskutiert wird. Sie schlägt ein Modellprojekt vor, das mit Hilfe der übergemeindlichen Jugendsozialarbeit entwickelt wurde. Dies sieht vor, daß eine Werkstatt eingerichtet wird, in der jugendliche ohne Ausbildungsplatz unter fachlicher Anleitung alte Möbel erneuern, die dann preiswert an Familien mit geringem Einkommen verkauft werden. Nach Ablauf der dreijährigen Modellphase, die mit öffentlichen Mitteln finanziert wird, soll dann die Kirchengemeinde das Projekt übernehmen. Zu diesem Zweck müßte sie eine neue Planstelle für einen Sozialpädagogen beantragen, der gemeinsam mit zwei nebenberuflich mitarbeitenden Handwerksmeistern die jugendlichen fördert, ihnen nach Möglichkeit zu anderen Ausbildungsplätzen verhilft. Während die erste dieser beiden Möglichkeiten einen vollständigen Kommunikationsabbruch mit einigen Gemeindegliedern zur Folge hätte, aber ohne Konsequenzen für die Struktur und Funktion der Gemeinde wäre, käme bei der Verwirklichung der zweiten Möglichkeit ein Prozeß in Gang, in dem sowohl offen über die Funktion der Gemeinde gesprochen wird als auch u.U. ihre Strukturen verändert werden. Während die Tendenz von der Kommunikationsverweigerung hin zum Kommunikationsabbruch mit dem Kriterium »Gemeinde der Befreiten« unvereinbar ist, kann der in Gang gekommene Kommunikationsprozeß als Indiz für eine kommunikative Gemeindepraxis gelten, die dem Kriterium »Gemeinde der Befreiten« entspricht, übrigens ganz unabhängig davon, ob der oben geschilderte Ansatz zur Problemlösung verwirklicht werden kann oder nicht.
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Die gewählten Beispiele zeigen deutlich, daß die Strukturen der Gemeinden verflochten sind in die Strukturen ihrer Landeskirche und in die gesellschaftlichen Strukturen insgesamt. Gleichwohl gibt es innerhalb des gegenwärtig gültigen Rechtsrahmens viele Möglichkeiten zu Veränderungen von Strukturelementen. Nur dann, wenn diese Möglichkeiten ausgenützt werden, ist auch zu erwarten, daß von den Synoden weitergehende Strukturreformen durchgeführt werden. Diese wiederum sind keineswegs völlig unabhängig von gesamtgesellschaftlichen Prozessen. Wenn in einer Gesellschaft Strukturreformen gelingen, die eine selbständigere Teilnahme der Bürger an den Entscheidungsprozessen ermöglichen, dann ist dies auch für Strukturreformen in der Kirche förderlich. Stagniert die Veränderungsfähigkeit einer Gesellschaft, dann bleibt dies nicht ohne Auswirkung auf die Kirchen. 3. Tatsächliche und wünschenswerte Funktionen christlicher Gemeinden29 3.1 Sinnvermittlung und Hilfe in Krisensituationen als tatsächliche Funktionen christlicher Gemeinden Die Feststellung, die Kirche übe ihre tatsächlichen Funktionen in unserer Gesellschaft durch die Vermittlung von Sinn und durch Hilfe in Krisensituationen aus, ist bereits zu einer stereotypen Formel geworden, die häufig zitiert wird.30 Empirische Untersuchungen haben diese Annahme bis zu einem gewissen Grad bestätigt.31 Auch die weitere Hypothese, der Einfluß der Kirchen im Bereich der Sinnvermittlung nehme ab, die Erwartung an ihre Hilfe in Krisensituationen werde größer, kann durch Beobachtungen belegt werden. Die Funktionen der Kirche sind aber nicht ohne weiteres identisch mit den Funktionen der Gemeinde. Die Präsenz der Kirche in den Medien, kirchliche Stellungnahmen zu Grundsatzfragen, Kirchentag und Akademien, das Engagement von Christen für den Frieden und gegen Umweltzerstörung sind eine Reihe von Aspekten der kirchlichen Sinnvermittlung, die sich
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Rolf Zerfaß, Gemeinde als Thema im Religionsunterricht, in: KatBl 100 (1975), 449-467 Karl-Wilhelm Dahm, Beruf: Pfarrer, München 1971, 305 ff 31 Helmut Hild (Hg.), Wie stabil ist die Kirche? Ergebnisse einer Umfrage, Gelnhausen/Berlin 1974, 209ff 30
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in der Praxis von Kirchengemeinden nur punktuell und mannigfach gebrochen wiederfinden. Im Gottesdienst geschieht dies noch am ehesten. Die Zahl der evangelischen Gottesdienstbesucher in Bayern hat 1982 um 0,3 % zugenommen32 ; ein langjähriger Rückgang der Teilnahme am Gottesdienst scheint (vorübergehend?) zum Stillstand zu kommen. Die Zahl der Menschen, die z.B. durch gemeindliche Sozialstationen Hilfe in Krisensituationen erfahren, ist notwendigerweise begrenzt. Demgegenüber stellen Caritas und Diakonie in großem Umfang auf übergemeindlicher Ebene Maßnahmen zur Hilfe in Krisensituationen bereit. Für die Ortsgemeinde gilt, daß die Funktion der Sinnvermittlung und der Lebenshilfe in erster Linie mit den Kasualien verbunden sind. Taufe, Firmung, Konfirmation, Trauung und Beerdigung sind diejenigen Handlungen, durch die Gemeinden vornehmlich ihre tatsächliche Funktion ausüben. Warum ist das so? In der Kasualpraxis begleitet die Gemeinde Menschen an Bruchstellen ihrer Biographie. Der Entschluß zur Heirat, die Geburt eines Kindes, der Übergang der Kinder in den Status von Erwachsenen, der Tod eines Familienangehörigen unterbrechen die Selbstverständlichkeit des bisherigen Lebenslaufs und veranlassen den einzelnen dazu, rückblickend und vorausschauend auf das eigene Leben und auf sein Verhältnis zum Familienverband zu reflektieren. Dabei stellt sich die Frage nach dem Sinn ein und will beantwortet werden. Die noch immer vorwiegend an Säuglingen vollzogene Taufe begründet die Kirchenmitgliedschaft; die Option der Jüngeren und besser Ausgebildeten für die Erwachsenentaufe33 könnte, wenn der Absicht die Tat folgt, diesen Befund in einigen Jahrzehnten verändern. Firmung und Konfirmation werden ebenso wie die kirchliche Bestattung von der überwiegenden Mehrzahl der Kirchenmitglieder begehrt. Der Prozentsatz der kirchlichen Trauungen war jahrelang rückläufig; das muß aber nicht eine grundsätzliche Ablehnung dieser Amtshandlung bedeuten, sondern hängt auch damit zusammen, daß die Zahl derjenigen Paare zunimmt, die auch auf die standesamtliche Trauung verzichten. Die Kasualien fallen in die Zuständigkeit der Ortsgemeinden und sie sind das bevorzugte Medium für die Ausführung ihrer tatsächlichen Funktionen. Dieser Sachverhalt wird in seiner ganzen Tragweite erst dann erkannt, wenn beachtet wird, daß in den kirchlichen Amtshandlungen Sinnvermittlung und Lebenshilfe miteinander verbunden sind und sich gegenseitig bedingen. Durch diese wechselseitige Verbindung von Sinnvermittlung und
Werner Hofmann, in: Süddeutsche Zeitung vom 6. 8. 1982 Helmut Hild (Hg.), aaO. 88 ff
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helfender Begleitung sind die im Bereich der Ortsgemeinde vollzogenen Amtshandlungen charakterisiert. Dabei ist zu berücksichtigen, daß diese Verbindung durch die Berufsrolle des Gemeindepfarrers garantiert wird. Das gilt nicht nur für Konfirmandenunterricht und Konfirmation, bei denen der Pfarrer als »Lehrer« und »Helfer« in Funktion tritt34 , sondern für die Gemeindepraxis insgesamt: Die Verbindung der beiden Grundfunktionen wird durch den Pfarrer in der Schlüsselrolle garantiert.35 Während sich die Funktion der Gemeinde auf die besondere Situation der Gemeindeglieder in ihrem lebensgeschichtlichen Zusammenhang bezieht, betrifft die Funktion der Kirche eher den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang. Diese beiden Aspekte, der individuell-lebensgeschichtliche und der gesamtgesellschaftliche, können weder voneinander getrennt noch ohne weiteres zur Deckung gebracht werden; sie sind dialektisch miteinander zu vermitteln. Das hat u. a. zur Folge, daß die Schlüsselrolle des Pfarrers, der nicht nur helfender Begleiter der individuellen Lebensgeschichte der Gemeindeglieder ist, sondern zugleich die Institution Kirche repräsentiert, unvermeidlich als konfliktreich erfahren wird. Der besseren Bearbeitung dieser Konflikte mag es dienen, wenn in der angedeuteten Weise zwischen der Funktion der Gemeinde und der Funktion der Kirche unterschieden wird. Als Zwischenergebnis ist festzuhalten: Die tatsächlichen Funktionen der Gemeindepraxis beziehen sich vornehmlich auf die individuelle Lebensgeschichte der Gemeindeglieder, werden in erster Linie in den Amtshandlungen vollzogen und diese sind mit den faktischen Funktionen des Gemeindepfarrers unmittelbar verbunden. 3.2 Zeugnis, Gemeinschaft und Dienst als wünschenswerte Funktionen christlicher Gemeinden Die unbestreitbare tatsächliche Funktion der Gemeinde durch ihre Kasualpraxis darf uns trotz ihrer zunehmenden Wertschätzung nicht daran hindern, die kritische Frage zu stellen, ob diese Funktion dem Selbstverständnis christlicher Gemeinden entspricht. Rudolf Bohren36 hat in einer erfrischenden Polemik gegen die Behauptung, unsere Kasualpraxis sei die missionarische Gelegenheit der Gemeinden in der Volkskirche, die These aufgestellt,
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Christof Bäumler, Der Nachwuchs der Volkskirche, in: ThPr 8 (1973), 230-242 Peter Krusche, Der Pfarrer in der Schlüsselrolle, in: Joachim Matthes (Hg.), Erneuerung der Kirche. Stabilität als Chance. Konsequenzen aus einer Umfrage, Gelnhausen/Berlin 1975, 161-188 36 Rudolf Bohren, Unsere Kasualpraxis - eine missionarische Gelegenheit?, TEH 83, München 1960 35
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die herrschende Kasualpraxis immunisiere gegen die Botschaft des Evangeliums: »Die Tatsache, daß die Amtshandlungen zum bürgerlichen Leben hinzugenommen werden, ohne daß man das geistliche Leben will, läßt vermuten, daß sich die Menschen gegenüber der Botschaft bei den Kasualien immunisieren.« 37
Bohren stellt demgegenüber die Frage nach dem Kirche-Sein der Kirche, und er beantwortet sie mit dem Hinweis auf die Grundfunktionen Zeugnis, Gemeinschaft und Dienst.38 Besonders seit der Versammlung des Weltrats der Kirchen 1961 in New Delhi dient die Trias Kerygma – Koinonia – Diakonia häufig zur Kennzeichnung des Auftrags der christlichen Gemeinde. Den faktischen Funktionen der Sinnvermittlung und der Hilfe in Krisensituationen wären demnach als wünschenswerte Funktionen der Gemeinde entgegenzustellen: Die Ankündigung des in Jesus von Nazareth in Kraft getretenen Reiches Gottes; die Realisierung der Gemeinschaft der Befreiten und der Dienst der Gemeinden in der Welt. Bohren will die Kasualpraxis nicht abschaffen, sondern in die Verantwortung von Hausgemeinden überführen: »Eine Neuordnung der Kasualpraxis möchte das ›Angebot‹ von 1. Kor. 12 hören und es daraufhin wagen, daß der Gemeinde Geist und damit Charismen (Geistesgaben) geschenkt sind und werden, so daß die Gemeinde aus Geistlichen besteht, aus Geistbegabten. So wird die Neuordnung im Verein mit einer neuen Predigt von der Gemeinde zu geschehen haben, beides miteinander und ineinander, damit dies werde: Eine mündige Gemeinde in einer mündigen Welt.« 39
Der Vorstoß von Rudolf Bohren macht die Diskrepanz von Theorie und Realität, von wünschenswerten und faktischen Funktionen der Gemeinde sichtbar. Diese Diskrepanz wird noch nicht überwunden, wenn theologische Normen der Realität volkskirchlicher Gemeinden entgegengesetzt und aus ihnen unmittelbare Handlungsanweisungen abgeleitet werden. Die folgenden Feststellungen von Karl Lehmann treffen m. E. zu und dürfen deshalb bei unseren Überlegungen nicht außer acht gelassen werden: »Trotz vieler Ansätze steckt die Theologie der Gemeinde noch in den Anfängen und ist längst noch nicht integraler Bestandteil jeder Ekklesiologie. Auch wurde das Prinzip ›Gemeinde‹ oft zu sehr mit einer Fülle pastoraler Erwartungen aufgeladen, daß die so konzipierte Sozialgestalt christlicher Gemeinschaft zu einer Real-Utopie wurde: Eine Gemeinde von höchster Einmütigkeit und radikaler Gesinnungsgleichheit, Abbau aller Unterschiede, Verzicht auf jede Vorrangstellung, ›herrschaftsfreie Gemeinde‹, zugleich ›kleine Herde‹ und universal offene Gemeinde. Nun ist es gewiß
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AaO. 14 AaO. 16 39 AaO.32f 38
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sinnvoll, neuen und intensiveren Gemeinschaftsformen christlichen Lebens nachzudenken, um bisher nicht geahnte und vor allem nicht realisierte Möglichkeiten auszuschöpfen. Solches geschah von den ersten Ordensgründungen bis zu heutigen Versuchen (vgl. z.B. ›Integrierte Gemeinde‹, Basisgemeinden). Die Wirkung solcher antizipierender Utopie besteht jedoch nicht nur in einem radikalen Einsatz für das, was möglich sein könnte (›Kirchenträume‹), sondern kann nicht selten auch zu einer Überforderung und zum grundsätzlichen Zweifel führen, ob es jemals so sein wird und sein kann. Das gilt besonders für die oft enge Alltagswirklichkeit der christlichen Gemeinden, von denen (sic!) man sich im Überschwang solcher Erwartungen nur noch mehr entfernen kann.« 40
Die Warnung davor, sich in utopischem Überschwang von der Alltagswirklichkeit christlicher Gemeinden zu entfernen, ist gewiß berechtigt. Ihre Beachtung darf uns dennoch nicht daran hindern, zu versuchen, die der christlichen Gemeinde verheißenen Möglichkeiten in ihrer Wirklichkeit kritisch-konstruktiv zur Geltung zu bringen. In diesem Sinne ist gerade der Begriff »Real-Utopie« dazu geeignet, die Chancen zur Verwirklichung der in der christlichen Gemeinde enthaltenen Möglichkeiten zu entdecken und sie unter den gegenwärtigen Bedingungen in die Gemeindepraxis umzusetzen. Eine utopische Vorstellung von christlicher Gemeinde bei gleichzeitiger Ausblendung ihrer empirisch wahrnehmbaren Realität bleibt bloße Illusion. Die Anerkennung der Realität volkskirchlicher Gemeinde ohne die Wahrnehmung der in ihr enthaltenen Möglichkeiten beugt sich der Normativität des Faktischen. Der Begriff »Real-Utopie« hält das Problembewußtsein für die unabschließbare Aufgabe wach, unter den Bedingungen der engen Alltagswirklichkeit christlicher Gemeinden Wege zu entdecken und zu gehen, auf denen die wirklichen Gemeinden ihren Möglichkeiten besser entsprechen als bisher. Nur auf diese Weise kann die Wahrheit des Satzes: »Ecclesia est semper reformanda« in der alltäglichen Gemeindepraxis bewährt werden. 3.3 Kritische Vermittlung von tatsächlichen und wünschenswerten Funktionen christlicher Gemeinden Die tatsächlichen und die wünschenswerten Funktionen in der Gemeinde liegen offensichtlich auf verschiedenen Ebenen. Sinnvermittlung und Hilfe in Krisensituationen sind empirisch nachweisbare Funktionen. Bei Zeugnis-, Gemeinschaft und Dienst handelt es sich um theologische Begriffe, die einen normativen Anspruch erheben. Das Problem besteht darin, wie beide Ebenen miteinander vermittelt werden können. Ein bloßer Vollzug der faktischen [fak-tischen]
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Karl Lehmann, Gemeinde, in: Franz Böckle u. a., Christlicher Glaube in moderner Gesellschaft, Teilband 29, Freiburg/Basel/Wien 1982, 5-65, Zitat 10
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Funktionen bei gleichzeitiger Abwehr der theologischen Normen hat zur Folge, daß die Gemeinde lediglich ihre vorfindliche Praxis sichert, indem sie sich ihrer Umgebung anpaßt. Sie tut, was die Menschen von ihr erwarten, verzichtet aber möglicherweise darauf, ihre authentischen Ziele zu verwirklichen oder, anders formuliert, ihren Auftrag zu erfüllen. Beruft sie sich auf die theologischen Normen, ohne die Erwartungen der Menschen zu berücksichtigen und sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen, so werden die theologischen Normen zur Ideologie: Von der Gemeinde wird behauptet, daß sie Funktionen ausübe, die sie faktisch nicht ausübt. Wer als Amtsträger theologisch etwas anderes will, als er faktisch vollbringt, erwirbt sich ein »unglückliches Bewußtsein«. Dies könnte auch für die kerngemeindlichen Kreise gelten. Das ist dann nicht der Fall, wenn die theologischen Normen als regulative Prinzipien der Funktionen der Gemeinde verstanden werden. Das heißt: das Kriterium »Gemeinde der Befreiten« wird nicht als Ideal verstanden, das durch die Leistungen der Gemeindeglieder erfüllt werden könnte. Dies würde ihr »unglückliches Bewußtsein« nur verstärken. Werden indes das Kriterium »Gemeinde der Befreiten« und seine Elemente Offenheit, Herrschaftsfreiheit, Partizipation und Solidarität als regulative Prinzipien begriffen, als Spielregeln unverzerrter Kommunikation, dann können sie sich als Maßstäbe einer möglichen Praxis der Freiheit auf dem engen Feld alltäglicher Gemeindewirklichkeit bewähren. Weil die »Gemeinde der Befreiten« nicht Produktion selbstbestimmter Freiheit, sondern Rekonstruktion geschenkter Freiheit ist, steht sie nicht unter dem Zwang des Gesetzes, sondern in der Freiheit des Evangeliums. Eine Praxistheorie der Kasualien41 wird dies ebenso zu berücksichtigen haben wie eine Theorie der Gemeindepraxis insgesamt. Nur dann, wenn wünschenswerte, an den theologisch begründeten Normen orientierte Funktionen der Gemeindepraxis ständig mit ihren tatsächlichen, auf die Erwartungen der Menschen eingehenden Funktionen, kritisch vermittelt werden, wird sowohl der empirische als auch der transempirische Charakter42 christlicher Gemeinden ernstgenommen. 4. Funktionstypen christlicher Gemeinden Keine Gemeinde gleicht der anderen. Um sich für die eigene Gemeindepraxis orientieren zu können, halte ich unter empirischem Aspekt den Vor-
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Klaus Will, Sinngebung und Lebenshilfe. Zur theologischen Theorie der Amtshandlungen, Diss. München 1981 42 Wolf-Dieter Marsch, Institution im Übergang. Evangelische Kirche zwischen Tradition und Reform, Göttingen 1960
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schlag von Manfred Dehnen und Gisela Richter-Junghälter für sinnvoll, zwischen einem bewußtseinsorientierten, einem bedürfnisorientierten und einem handlungsorientierten Funktionstyp der Gemeinde zu unterscheiden.43 Das bedeutet nicht, diese Funktionstypen seien in irgendwelchen konkreten Gemeinden in reiner Form verwirklicht. Gemeinden sind diesen Funktionstypen dann zuzuordnen, wenn sich in ihrer Praxis überwiegend solche Merkmale finden, die für einen dieser drei Funktionstypen charakteristisch sind. 4.1 Die bewußtseinsorientierte Gemeinde Beim Funktionstyp der bewußtseinsorientierten Gemeinde steht die Aufgabe der Sinnvermittlung im Vordergrund. Orientiert an der wünschenswerten Funktion des Zeugnisses wird besonders Gewicht auf den Gottesdienst und die ihn begleitenden Gemeindeveranstaltungen gelegt. Im Konfirmandenunterricht wird die Vermittlung der Lehre betont. Theologische Information für Mitarbeiter und Gemeindeseminare zu theologischen Themen stehen auf der Prioritätenliste obenan. Alle Aktivitäten der Gemeinde sind bei diesem Funktionstyp dem Verkündigungsauftrag untergeordnet. Die Tatsache, daß bei diesem Akzent der Gemeindepraxis nur ein kleiner Teil der Gemeinden erreicht wird, kann durch den Hinweis auf die »kleine Herde« theologisch erklärt und legitimiert werden. Der Pfarrer als Theologe dominiert, die Mitarbeiter sind Gehilfen des Geistlichen Amtes. Die Gefahr dieses Funktionstyps besteht darin, zu behaupten, die wünschenswerte Funktion der Gemeinde bereits zu erfüllen und damit die tatsächlich wahrgenommene Funktion zu überspielen. Ist dies der Fall, dann wird das Bewußtsein der Gemeinde zum »unglücklichen Bewußtsein«: vermeintlich die Freiheit des Evangeliums weitergebend dient die Gemeinde in Wirklichkeit der Stabilisierung der jeweils herrschenden Verhältnisse durch die Vermittlung einer diese legitimierenden Ideologie. Damit geht einher, daß die Dominanz des Amtsträgers bzw. der Amtsträgerin die Selbständigkeit der Gemeindeglieder erschwert oder gar verhindert. Diese Gefahr läßt sich nur da überwinden, wo einerseits unter den Gemeindegliedern das Selbstbewußtsein mündiger Christen entsteht, auf der anderen Seite Gemeindepfarrerinnen und Gemeindepfarrer dieses Selbstbewußtsein nicht nur dulden, sondern fördern, weil dies dem Kriterium »Gemeinde der Befreiten« entspricht.
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Vgl. Manfred Dehnen/Gisela Richter-Junghölter, Gemeindeplanung als sozialer Prozeß, Gelnhausen u.a. 1980, 75-82
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4.2 Die bedürfnisorientierte Gemeinde Beim Funktionstyp der bedürfnisorientierten Gemeinde wird von den Erwartungen der Gemeindeglieder ausgegangen. Die Verbindung von Sinnvermittlung und helfender Begleitung im Zusammenhang der Kasualpraxis steht im Mittelpunkt. Die tatsächlichen Funktionen der Gemeinde werden bei diesem Funktionstyp ernstgenommen und dienen als Leitlinien der Praxis. Wenn die Diskrepanz zwischen tatsächlichen und wünschenswerten Funktionen der Gemeinde bei diesem Funktionstyp überhaupt in den Blick kommt, so wird sie nicht nach den theologischen Normen hin aufgelöst. Eher wird versucht, diese so zu interpretieren, daß sie zur Erfüllung der in der Gemeinde bestehenden Erwartungen motivieren. Der Pfarrer übernimmt seine Schlüsselrolle in bewußter Aufnahme der Bedürfnisse der Gemeindeglieder. Die Gruppen in der Gemeinde ermöglichen gemeinsame Erfahrungen. Dieser Funktionstyp ist in Gefahr, unter Berufung auf nur oberflächlich wahrgenommene Bedürfnisse der Gemeindeglieder die Grundfunktion der Gemeinde nicht zur Geltung zu bringen. Zur Überwindung dieser Gefahr ist die gemeinsame Arbeit an der theologischen Begründung der Gemeindepraxis unverzichtbar. Aber nur dann, wenn sie auf die empirisch erhobenen Bedürfnisse der Gemeindeglieder kritisch-konstruktiv bezogen bleibt, kann vermieden werden, daß die theologische Reflexion zu einer realitätsfremden Selbstverständigung von Experten verkommt. Dies passiert nicht nur im Wissenschaftsbetrieb der Theologie, sondern auch in Gesprächszirkeln theologisch interessierter Gemeindeglieder. Realitätsbezogene und damit erfahrungsoffene theologische Reflexion gehört zu den wichtigsten Aufgaben der Erwachsenenbildung in der Gemeinde. 4.3 Die handlungsorientierte Gemeinde Der Funktionstyp der handlungsorientierten Gemeinde wird mit dem Hinweis, Kirche sei »Kirche für die Welt« legitimiert und rückt die Aufgaben der Gemeinde im Gemeinwesen in den Vordergrund. Nicht der Selbstvollzug der Gemeinde, sondern ihre Sendung in die Gesellschaft bestimmen die Gemeindepraxis. Diskriminierte und benachteiligte Einzelne und Gruppen werden nicht nur diakonisch betreut; sie werden als Herausforderung zu einer politischen Praxis der Gemeinde angenommen. Alle Aktivitäten der Gemeinde werden in diesen Kontext einbezogen. Der Pfarrer wird zum theologisch ausgebildeten Berater einer Dienstgruppe von verantwortlichen Mitarbeitern. Die Gruppen der Gemeinde konstituieren sich in erster Linie als Projektgruppen.
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Die Wahrnehmung der Grundfunktion der Gemeinde ist im Falle des handlungsorientierten Funktionstyps auf doppelte Weise gefährdet. Auf der einen Seite legen die Formeln »Kirche für die Welt« und »Sendung der Gemeinde in die Gesellschaft« die Vermutung nahe, daß im Hintergrund eine grundsätzliche Trennung von Kirche und Gesellschaft angenommen wird. Damit wird der Sachverhalt abgeblendet, daß Kirche und Gemeinden schon immer in gesamtgesellschaftliche Prozesse verwickelt sind. Die Vorstellung von überlegenen christlichen Helfern gegenüber den Hilfsbedürftigen könnte die Wahrnehmung der Realität verzerren. Auf der anderen Seite tritt bei diesem Funktionstyp ein aktionistisches Element in den Vordergrund. Der Zwang zum Handeln kann die Frage nach dem Sinn verdrängen. Der offene Diskurs in der Gemeinde kommt unter dem permanenten Handlungsdruck zu kurz. Beide Gefahren lassen sich nur dann überwinden, wenn einerseits die Verflechtung der Gemeinde in die gesellschaftlichen Prozesse nicht geleugnet wird und auf der anderen Seite Gelegenheiten zum offenen Diskurs auf Gemeindeversammlungen und Gemeindetagungen geschaffen werden. 4.4 Kritische Integration der Funktionstypen Nach der vorausgegangenen Darstellung der Funktionstypen christlicher Gemeinden drängt sich die Frage auf, welcher von ihnen die geforderte kritische Vermittlung zwischen den tatsächlichen Funktionen der Gemeinde und ihrer wünschenswerten Grundfunktion am ehesten gewährleisten könnte. Der bedürfnisorientierte Funktionstyp könnte sich darauf beschränken, die tatsächlichen Funktionen der Gemeinde lediglich besser als bisher wahrzunehmen. Gegenüber den anderen beiden Funktionstypen könnte geltend gemacht werden, sie gingen an der Realität der Gemeinden vorbei. Im Falle der bewußtseinsorientierten Gemeinde hingegen wird in der Überzeugung, an der Wahrheit des Evangeliums festzuhalten, gegen den bloßen Dienstleistungsbetrieb bedürfnisorientierter Gemeindepraxis und die politische Parteinahme handlungsorientierter Gemeinden polemisiert. Wer das Konzept handlungsorientierter Gemeinden bevorzugt, wird dem bewußtseinsorientlerten Funktionstyp vorwerfen, er blende den gesellschaftlichen Kontext aus und verfälsche das Evangelium zur Ideologie und dem bedürfnisorientierten Funktionstyp gegenüber behaupten, er kompensiere durch das Eingehen auf die Bedürfnisse der Gemeindeglieder lediglich deren Leiden unter den gesellschaftlichen Verhältnissen, anstatt bei der kritischen Veränderung dieser Verhältnisse aktiv mitzuwirken. Für diese wechselseitige Polemik ließen sich zahlreiche literarische Belege
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finden. In vielen Diskussionen bei Pfarrkonferenzen werden diese meist latenten Konflikte manifest, wenn Herausforderungen von Kirche und Gemeinde durch Traditionsabbruch bei der Beantwortung der Sinnfrage, Bedrohung der Lebenswelt durch Aufrüstung, ökologische Katastrophe und Abschied von der Arbeitsgesellschaft erörtert werden. Von der die Untersuchung leitenden Hypothese einer »Gemeinde der Befreiten« her geurteilt, kann keinem der beschriebenen Funktionstypen der Rang absoluter Geltung zuerkannt werden. In allen Funktionstypen sind nämlich Elemente enthalten, die einer kommunikativen Gemeindepraxis förderlich sind. Aus diesem Grunde legt es sich nahe, eine kritische Integration dieser unterschiedlichen Funktionstypen zu versuchen. Ein solcher Vorschlag lenkt den Verdacht auf sich, es sollten dadurch die vorhandenen Gegensätze vorschnell harmonisiert werden. So könnte etwa meine nach der Auffassung von Hermann Steinkamp »weithin konsensfähige Formel von der ›Gemeinde als kritischem Prinzip einer offenen Volkskirche‹ «44 zu dem Mißverständnis Anlaß geben, als sei damit der Streit »Volkskirche« oder »Gemeindekirche« erledigt. Die mit dem Versuch einer solchen Formulierung verbundene Absicht läuft darauf hinaus, zu einem offenen Diskurs beizutragen, in dem christliche und kirchliche Praxis unter den gegenwärtigen, geschichtlich vermittelten gesellschaftlichen Verhältnissen genauer wahrgenommen und tragfähiger begründet werden kann sowie Vorschläge zu ihrer besseren Realisierung gemacht werden können. An dieser Absicht möchte ich festhalten, wenn ich im Anschluß an Gert Schneider45 meine eben zitierte Formel durch die folgende ergänze: Das kritische Prinzip der Gemeinde ist das Subjektsein des einzelnen Gemeindegliedes, der »mündige Christ«. Ich begreife diese Formulierung als eine Konsequenz der bekannten These Dietrich Bonhoeffers »Christus als Gemeinde existierend«, nicht als ihren Gegensatz. Gerade bei Dietrich Bonhoeffer lassen sich nämlich Gedanken zur »Mündigkeit« finden, die für unseren Zusammenhang fruchtbar zu machen sind.46 Sie können hier nicht im einzelnen entfaltet werden. Ein Hinweis auf den Grundgedanken Bonhoeffers muß genügen: Er begründet die Mündigkeit des Menschen gegenüber dem Vormund »Religion« mit der These, die Offenbarung des wahren Gottes als des leidenden Gottes zerschlage den Machtgott menschlicher Religion und befreie den Menschen zu verantwortlicher [verantwort-licher]
Hermann Steinkamp, Vorwort zu Gert Schneider, Grundbedürfnisse und Gemeindebildung. Soziale Aspekte für eine menschliche Kirche, München/Mainz 1982, 11 45 Gert Schneider, aaO. bes. 149ff 46 Vgl. dazu Christof Bäumler, Der Begriff der Mündigkeit bei Dietrich Bonhoeffer, 1966, in: ders., Unterwegs zu einer Praxistheorie. Gesammelte Aufsätze zur kirchlichen Jugendarbeit, München 1976, 149-161
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Existenz. Der mündige, verantwortliche Mensch lebe in der Nachfolge Jesu. Ihr Inhalt sei Liebe, ihre Form Freiheit. Das müsse sich darin auswirken, daß die Gemeindeglieder es lernen, als mündige Christen zu leben. Nur eine Kirche, die in Freiheit an der Liebe Gottes teilnehme, könne die Frage beantworten, wie sich Christus heute als Herr der mündigen Welt erweise.47 Wird der mündige, als Subjekt anerkannte Christ als kritisches Prinzip der Gemeinde verstanden, so bedeutet dies für die Gemeindepraxis, daß sich die Gemeindeglieder gegenseitig als freie, verantwortliche Subjekte anerkennen. Eben dies unterscheidet, nach Bonhoeffer, die christliche Gemeinde als Liebesgemeinschaft von menschlichen Sympathiegemeinschaften. Während in diesen die einzelnen Mitglieder in unmittelbare Beziehungen zueinander treten wollen, was letzten Endes darauf hinauslaufen kann, daß sie entweder andere von sich oder sich von anderen abhängig machen, wird in jener die Beziehung der Gemeindeglieder untereinander durch Jesus Christus vermittelt, in dem jeder einzelne gerechtfertigt und damit als freies Subjekt anerkannt ist. Die daraus folgende wechselseitige Liebe ist frei von jedem Zwang zur Unterdrückung von Schwachen oder zur Unterwerfung unter Mächtige. Wenn von diesen Oberlegungen aus versucht werden soll, die beschriebenen Gemeindetypen so aufeinander zu beziehen und miteinander zu verbinden, daß dabei ihre die kommunikative Gemeindepraxis fördernden Elemente zum Zug kommen, so stellt sich die Frage, wo bei diesem Versuch einzusetzen ist. Das scheint am ehesten bei jenem Gemeindetyp möglich zu sein, der als der bewußtseinsorientierte beschrieben wurde. Denn er nimmt die christliche Überlieferungsgeschichte auf und möchte sie weitergeben. Ihre Anwendung in der Praxis ist das vorrangige Interesse solcher Gemeinden, die dem handlungsorientierten Gemeindetyp zuzuordnen sind. Demgegenüber scheinen bedürfnisorientierte Gemeinden weniger an der Weitergabe der christlichen Wahrheit und an ihrer Bewährung im Alltag als vielmehr an der Befriedigung der Bedürfnisse ihrer Mitglieder interessiert zu sein. Worauf aber richten sich die menschlichen Bedürfnisse? Gert Schneider ist dieser Frage nachgegangen und kommt dabei in kritischer Auseinandersetzung mit der Diskussion des Bedürfnisbegriffes, die hier nicht im einzelnen referiert werden kann, zu einem Konzept menschlicher Grundbedürfnisse. Diese begreift er als »Chiffre für Subjekthaftigkeit«48 .
AaO.160 Gert Schneider, aaO. 149ff
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Was ist damit gemeint? Schneider zeigt zunächst, daß sich die in der Diskussion über die menschlichen Grundbedürfnisse geäußerten Auffassungen zwei unterschiedlichen Positionen zuordnen lassen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen. Von der einen Seite wird behauptet, menschliche Grundbedürfnisse seien in den Individuen von Natur aus angelegt und drängen nach ihrer Befriedigung. Demgegenüber wird geltend gemacht, die menschlichen Grundbedürfnisse seien Steuerungsmechanismen komplexer Gesellschaften, die ihre Mitglieder integrieren, indem sie bei ihnen solche Bedürfnisse wecken, die dann befriedigt werden, wenn sich die Individuen an die Gesellschaft anpassen. Aus dieser, notwendigerweise stark verkürzten Darstellung, geht hervor, daß in beiden Fällen das Subjekt unter die Räder kommt. Im ersten Falle überflutet, in der Sprache der Psychoanalyse beschrieben, das Es mit seinen Trieben das Ich. Im zweiten Falle geht das Ich im Strudel des Vergesellschaftungsprozesses unter. Von hier aus können übrigens auch die Vorbehalte gegen eine bedürfnisorientierte Gemeindepraxis erklärt werden. Würde sie nicht entweder der natürlichen Bedürfnisbefriedigung Vorschub leisten, anstatt die Personwerdung zu fördern oder stellt sich nicht eine bedürfnisorientierte Gemeindepraxis als Dienstleistungstrieb zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse den gesellschaftlichen Steuerungsmechanismen als zusätzliches Instrument zur Verfügung? Gert Schneider hält die Alternative, die menschlichen Grundbedürfnisse seien entweder eine natürliche Anlage der Individuen oder Steuerungsmechanismen komplexer Gesellschaften, für falsch. Einerseits erweise sich das menschliche Grundbedürfnis, als Subjekt anerkannt zu werden, gegenüber gesellschaftlichen Anpassungszwängen als widerstandsfähig. Insofern kann man die Grundrechte als die Formulierung des menschlichen Grundbedürfnisses, als Subjekt anerkannt zu werden, begreifen. Auf der anderen Seite kann das menschliche Individuum seine Subjekthaftigkeit nicht im Alleingang verwirklichen. Denn erst in der Kommunikation mit anderen Menschen wird sich der Mensch seiner Subjekthaftigkeit bewußt. »Damit bekommen die menschlichen Grundbedürfnisse gleichzeitig aber auch eine andere Bedeutung: Sie werden nicht mehr als ausschließlich autonome Instanzen ohne sozialen Kontext gesehen, sondern sie sind empirisch wahrnehmbar in solchen Prozessen, in denen der einzelne Mensch sich angenommen und anerkannt weiß und seine Identität mit anderen zu gewinnen vermag, seine Wesentlichkeit erfährt.« 49
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Wenn diese Annahmen plausibel sind, dann legt es sich nahe, mit dem Versuch, die geschilderten Funktionstypen christlicher Gemeinden kritisch zu integrieren, beim Typ der bedürfnisorientierten Gemeinde anzusetzen. Dabei wären die wahrnehmbaren Bedürfnisse der Gemeindeglieder nicht nur oberflächlich zu befriedigen, sondern als Zeichen für das dahinter liegende Bedürfnis, als Subjekt anerkannt zu werden, ernst zu nehmen.50 In der Kasualpraxis ergeben sich dazu mannigfache Möglichkeiten. Diese Anerkennung als Subjekt findet ihre Begründung durch die Offenbarung des wahren Gottes im leidenden Gott, wie dies Bonhoeffer zu zeigen versuchte.51 Von hier aus ist eine Verbindung zum Funktionstyp bewußtseinsorientierter Gemeinden möglich. Denn in der christlichen Oberlieferungsgeschichte ist die Anerkennung der menschlichen Person, die Rechtfertigung des Sünders, zentrales Thema. Recht verstanden ermöglicht das Bewußtsein der Gemeinde, Trägerin dieser Überlieferung zu sein, die Begründung des Subjektseins ihrer Mitglieder. Die Sinnvermittlung im Kontext christlicher Überlieferungsgeschichte bringt die Wahrheit zur Geltung, daß der Mensch nicht im Vorhandenen, also auch nicht in seinen vordergründigen Bedürfnissen aufgeht, sondern der Anerkennung als Person bedarf. Die Person aber lebt im sozialen Kontext. Das wird im handlungsorientierten Funktionstyp der Gemeinde in den Mittelpunkt gestellt. Dieser Kontext ist jedoch nicht nur außerhalb der Gemeinde, sondern in ihr selbst präsent. In der Begegnung mit anderen Gemeindegliedern erfährt das einzelne Gemeindeglied auf der Ebene alltäglichen Erlebens jene Anerkennung der Person, ohne die auch die überzeugendste theologische Begründung der Subjektivität abstrakt bleibt. Darüber hinaus hält der handlungsorientierte Funktionstyp die Erkenntnis wach, daß die Gemeinde auf der Schnittfläche von System und Lebenswelt lebt und in ihrer Praxis an dem Versuch einer konstruktiven Vermittlung von System und Lebenswelt teilnimmt. Deshalb vermag eine handlungsorientierte Gemeindepraxis die soziale Identität des Individuums zu bewahren, ohne seine Festlegung auf bestimmte Rollenidentitäten, einerseits als Gemeindeglied, andererseits als
Dorothee Sölle, Der Wunsch ganz zu sein. Gedanken zur neuen Religiosität, 1974, in: Merkur 28 (1974), 320-327 51 Dietrich Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, hg. von Eberhard Bethge, München 1952, 241 f In einer stringenteren Weise als dies in den verschiedenen Texten Bonhoeffers geschehen ist, entwickelt Falk Wagner eine theologische Theorie der Subjektivität. U. a.: Christologie als exemplarische Theorie des Selbstbewußtseins, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Die Realisierung der Freiheit. Beiträge zur Kritik der Theologie Karl Barths, Gütersloh 1975, 135-167
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Staatsbürger, zu verstärken. Nur dann, wenn sich eine handlungsorientierte Gemeinde abschneidet von den Grundbedürfnissen der Mitglieder und der Begründung ihres Personseins durch die christliche Überlieferung wird sie in einen Aktionismus verfallen, der sinnleer und beziehungslos bleibt. Bei diesem Versuch, die Funktionstypen der Gemeinde zu integrieren, werden erste Konturen einer Praxistheorie der Kirchengemeinde erkennbar. Der Ansatz bei den Bedürfnissen der Gemeindeglieder verweist auf den Entdeckungszusammenhang, in dem sich die Gemeindepraxis vollzieht. Hier sind eine Fülle alltäglicher Entdeckungen zu machen. Sie reichen von den Bedürfnissen von Eltern, sich über Erziehungsprobleme auszutauschen, über die Bedürfnisse älterer Menschen nach Geselligkeit und dem Bedürfnis seelisch Kranker nach Beratung bis hin zu Initiativgruppen zum Thema »Frieden« und »Ökologie«. Die ganze Palette der Gemeindepraxis wird zum Entdeckungsfeld, wenn nach den hier zum Ausdruck kommenden Bedürfnissen gefragt wird und nicht nur aus Gründen der Tradition oder der Konkurrenzfähigkeit Programme angeboten werden. Der Kirchenvorstand bzw. das Presbyterium wäre als der Ort zu begreifen, an dem solche Entdeckungen von Bedürfnissen ausgetauscht werden. Die Entdeckung von wahrnehmbaren Bedürfnissen ist unter dem normativen Kriterium »Gemeinde der Befreiten« in den Begründungszusammenhang zu überführen. Damit wird die Intention des bewußtseinsorientierten Funktionstyps aufgenommen. Bezogen auf die entdeckten Bedürfnisse ist danach zu fragen, ob diese als Chiffre von Subjekthaftigkeit interpretiert werden können. Dies wird in einem geduldigen, offenen Diskurs erfolgen müssen, damit nicht vorschnell Bedürfnisse als oberflächliches Allotria aus der Gemeindepraxis ausgeschieden werden. Das Bedürfnis von jugendlichen beispielsweise, sich mit ihresgleichen, unbehelligt von pädagogischen Nachstellungen, zu treffen und ihren eigenen Lebensstil zu entwickeln, kann als Chiffre für Subjekthaftigkeit verstanden werden. Denn hinter diesem Bedürfnis steht ohne Zweifel der Wunsch, als eigenständige Person anerkannt zu werden. Da dies nicht ohne weiteres als selbstverständlich akzeptiert wird, muß in der Gemeinde darüber geredet werden können, wie eine offene Jugendarbeit zu begründen sei. Der Begründungszusammenhang der an den Bedürfnissen ihrer Mitglieder orientierten Gemeindepraxis wäre also in einem offenen Diskurs in der Gemeinde theologisch zu reflektieren. Insbesondere ist dies die Aufgabe des leitenden Gemeindegremiums. Darüber hinaus aber sollte es jedem Gemeindeglied offenstehen, sich an der Lösung dieser Aufgabe zu beteiligen. Gottesdienst, Gemeindeseminare und Gemeindeversammlungen sind die bevorzugten Orte dieses begründenden Diskurses. Der handlungsorientierte Funktionstyp schließlich verweist auf den Realisierungszusammenhang [Rea-lisierungszusammenhang]
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der Gemeindepraxis. Die begründeten Bedürfnisse der Gemeindeglieder sollen in der Gemeindepraxis aufgenommen werden. Dazu sind Handlungskonzepte notwendig, die mit den entdeckten Bedürfnissen und ihrer Begründung in Verbindung gebracht werden müssen. Der Rückverweis auf den Entdeckungszusammenhang stellt sicher, daß nicht nur die Vorstellungen derjenigen verwirklicht werden, die das Handlungskonzept der Gemeinde entwerfen und durchführen wollen. Die Prüfung der Verbindung des Handlungskonzeptes mit dem Begründungszusammenhang sorgt dafür, daß nicht nach dem Motto: »Hauptsache, es geschieht etwas!« verfahren wird, sondern daß die Handelnden auch über den Sinn des Handelns Rechenschaft geben können. Das wird auch dazu beitragen, daß sich in der Gemeindepraxis Aktion und Kontemplation gegenseitig ergänzen. Der Begriff »Realisierungszusammenhang« geht über die Dimension des Handelns hinaus und schließt die Erfahrung von Sinn ein. Entdecken, Begründen und Realisieren in der Gemeindepraxis verbindet die in den geschilderten Funktionstypen der Gemeinde jeweils isolierten Akzente miteinander zu einer Praxistheorie, die in der gemeinsamen Praxis entsteht, korrigiert und weiterentwickelt wird. In den Gemeinden, die idealtypisch einem Funktionstyp zugeordnet werden können, sind immer auch die anderen Momente vorhanden. Ob sie zum Zuge kommen können, das hängt nicht nur von der Bereitschaft der Gemeindeglieder ab, ihre Praxis zu reflektieren und sich u. U. von eingespielten Gewohnheiten zu trennen, sondern in noch höherem Maße von den Strukturen, in denen sich die Praxis volkskirchlicher Gemeinden abspielt. Sie sollen im folgenden Kapitel untersucht werden. 5. Tatsächliche und wünschenswerte Strukturen christlicher Gemeinden 5.1 Die organisierte Parochie als tatsächliche Struktur christlicher Gemeinden Die tatsächliche Struktur der Kirchengemeinde in unserer Gesellschaft läßt sich auf den Begriff »organisierte Parochie« bringen. Günter Kehrer definiert die Gemeinde als eine »auf lokaler Grundlage beruhende soziale Organisation«52 . Die »lokale Grundlage« ist historisch zu erklären. Waren die Gemeinden der ersten Generation von ihrer sozialen Umwelt deutlich unterschieden, [un-terschieden]
52
Günter Kehrer, Gemeinde, in: Gert Otto (Hg.), Praktisch-theologisches Handbuch, Hamburg 19752 , 251
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so stellte sich bereits in der zweiten Generation das Problem der Anpassung der christlichen Gemeinden an die sie umgebende Gesellschaft. »Die neutestamentliche Parochie ist die örtliche Gemeinschaft der Gläubigen in der Zerstreuung, am besten vorgestellt als Zusammenkunft einer Hausgemeinde in einer weiträumigen heidnischen Großstadt.«53 Durch die Beendigung der Christenverfolgungen der ersten Jahrhunderte und durch die Überführung der christlichen Religion in den Status der »religio licita« wurde »die in der Urgemeinde aufgehobene Identität von sozialer und religiöser Loyalität wieder hergestellt«54 . Das Element der autonomen Gemeindebildung auf örtlicher Ebene ging im Maße der Ausbildung der Suprematie des römischen Bischofs und des durch sie herrschend gewordenen Episkopat-Prinzips verloren. Die Kirche entfaltet sich auf örtlicher Ebene in den Parochien (Pfarreien), ihren kleinsten organisatorischen Einheiten, die jeweils in Diözesen zusammengefaßt sind. Im Zuge der Christianisierung der Germanen kommt in deren Bereich ein neues Moment in die Struktur der Pfarrei. Das sogenannte Eigenkirchenwesen besagt, »daß, wer eine Kirche auf seinem Grund und Boden errichte, daran und an allem, was ihr vom Grunde oder von dritten zugewiesen werden, das vererbliche und veräußerliche Eigentum behalte, mit dem außer der Nutzung auch die volle Leitungsgewalt gegeben sei«55 . Erst in spätmerowingischer und karolingischer Zeit entstand »die Pfarrei im eigentlichen Sinn, jene Einrichtung vorwiegend vermögensrechtlichen Charakters, kraft welcher die Einwohner eines bestimmten Bezirks nur an eine einzige Kirche und deren Vorsteher für alle, nunmehr mit Gebührenentrichtung (Stolgebühren) verbundenen Amtshandlungen sich halten mußten und vermöge deren dieser Geistliche für seine Amtstäthigkeit auf diesen Bezirk und dessen Insassen und Angehörige streng beschränkt war, also das Pfarrecht im Sinne eines kirchlichen Zwangs- und Bannrechtes (Pfarrzwang) das für die weltlichen Rechte dieser Art (z.B. Mühlenzwang) vorbildlich wurde«56 .
Wenn in der Reformation auch, im Unterschied zum römischen Katholizismus, die Gemeinde wieder zum Strukturprinzip der Kirche wurde, die örtlichen Gemeinden also zum tragenden Element der kirchlichen Struktur, so hat sich dadurch an der tatsächlichen Struktur der Ortsgemeinden auch im Bereich der Reformationskirchen kaum etwas geändert. Die Anerkennung des jeweiligen Landesherrn als »Notbischof« führte dazu, daß im Luthertum die Ortsgemeinden auch staatliche Funktionen wahrnahmen. So fungierte etwa in Schweden bis in die jüngste Vergangenheit der Gemeindepfarrer [Gemein-depfarrer]
53
Gottfried Holtz, Die Parochie. Geschichte und Problematik, Gütersloh 19673 Günter Kehrer, aaO. 252 55 Hinschius/Ulrich Sturz, Patronat, RE 3, Bd. 15, Leipzig 1904, 242 56 Ulrich Stutz, Pfarre, Pfarrei, RE 3 , Bd. 15, Leipzig 1904, 242 54
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zugleich als staatlicher Standesbeamter. In der reformierten Tradition ist das Eigengewicht der Ortsgemeinde von ]eher größer gewesen. Die kirchlichen Vereinsbildungen im 19. Jahrhundert waren von dem Interesse geleitet, die Gemeinde als Strukturprinzip gegenüber der als Verwaltungsbezirk der kirchlichen Institution begriffenen Parochie zur Geltung zu bringen. Für den rechtlichen Status der gegenwärtigen Kirchengemeinde gilt, dass sie »keine freiwillige Assoziation von Individuen, sondern eine Zusammenfassung von Konfessionsangehörigen eines bestimmten Gebietes in einer Einheit eigenen Rechtes«57 ist. In der Regel sind Kirchengemeinden Körperschaften des Öffentlichen Rechts. In organisationssoziologischer Sicht weist die Struktur der gegenwärtigen Ortsgemeinde die typischen Merkmale von Organisationen auf: 1. Sie verfolgt bestimmte Ziele (Funktionen) 2. Sie bedient sich zur Erreichung dieser Ziele rationaler Methoden 3. Sie besitzt ein Gefüge von Positionen Als Organisationsprinzip der Evangelisch-Lutherischen Landeskirchen wurde von Günther Bormann und Sigrid Bormann-Heischkeil das »pastorale Grundmodell« herausgearbeitet.58 Folgende Aspekte der lokalen Gemeinde werden betont: 1. Bürokratische Organisation: Einrichtung von Ämtern und die Verteilung der für die Ziele der sozialen Gruppe erforderlichen regelmäßigen Tätigkeiten als amtliche Pflichten. 2. Hierarchische Organisation: Ausbildung eines Ranggefüges von Ämtern mit durch Regeln festgelegten Leitungs- und Kontrollvollmachten. 3. Ein-Mann-Prinzip: Alle Leitungs- und Kontrollfunktionen sind im Gemeindepfarrer konzentriert. 4. Ein-Weg-Kommunikation: Die wichtigen Informationen werden vom Gemeindepfarrer an Mitarbeiter und Gemeindeglieder weitergegeben. 59 5.2 Die geistliche Kommunikationsgemeinschaft als wünschenswerte Struktur christlicher Gemeinden Die wünschenswerte Struktur der Gemeinde wird mit Formeln wie »Gemeinde aus dem Wort«60 , »Gemeinde als allgemeines Priestertum aller
57
Günter Kehrer, aaO. 253 Günther Bormann/Sigrid Bormann-Heischkeil, Theorie und Praxis kirchlicher Organis ation, Opladen 1971 59 AaO.55 60 Robert Frick/Wolf-Dieter Marsch (Hg.), Gemeinde aus dem Wort?, in: Sonderheft der MPTh 54 (1965), 10 58
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Glaubenden«61 oder »Charismatische Gemeinde«62 angedeutet. Bereits die Tatsache, daß sich der Begriff »Gemeinde« im Bereich der reformatorischen Kirchen gegenüber dem Begriff »Pfarrei« durchgesetzt hat, ist ein Hinweis auf den Widerspruch zwischen dem Selbstverständnis der Gemeinde und ihrer tatsächlichen Struktur. Dieser Widerspruch kann durch eine der vorfindlichen Gemeinde angepaßte Theorie scheinbar aufgehoben werden.63 Bürokratie und Hierarchie, Ein-Mann-Prinzip und Ein-Weg-Kommunikation scheinen da ihre die Menschen entfremdenden Wirkungen zu verlieren, wo behauptet wird, sie stünden im Dienste der Gemeinde, die durch Wort und Sakrament erbaut wird. Die tatsächlichen Strukturen der Gemeinde ermöglichen durchaus die Wahrnehmung der erwarteten Funktion der Vermittlung von Sinn als Hilfe in Krisensituationen. Sobald jedoch die wünschenswerten Funktionen Zeugnis, Gemeinschaft und Dienst in den Blick genommen werden, erscheinen die bürokratischen und hierarchischen Strukturen der nach dem Ein-Mann-Prinzip und im Sinne der Ein-Weg-Kommunikation organisierten Gemeinde die Ausübung der gewünschten Funktionen erheblich zu beeinträchtigen, ja geradezu zu verhindern. Die Weltkirchenkonferenz in New Delhi hatte 1961 die Aufgaben Zeugnis-, Gemeinschaft und Dienst als die zentralen Funktionen von Kirche und Gemeinde erneut herausgestellt. Im Zuge der Studienarbeit »Strukturen missionarischer Gemeinden« hatte sich die westeuropäische Arbeitsgruppe mit dem Problem des »morphologischen Fundamentalismus« befaßt. Gemeint ist mit diesem Begriff, analog zum biblizistischen Fundamentalismus, eine Einstellung, die die bestehenden Formen des christlichen Gemeinschaftslebens als unveränderbar betrachtet. »So wird z.B. das Parochial-System, das in einer bestimmten Periode der Kirchengeschichte für die besonderen Bedürfnisse jener Zeit entwickelt wurde, häufig für die eine morphe oder Form gehalten, in der die Gemeinde echten Gehorsam zum Ausdruck bringt.« 64
Die Folgen eines fundamentalistisch-überhistorischen Gemeindeverständnisses pointiert J. C. Hoekendijk in folgender Formulierung: »Die kirchliche Gemeinde, wie wir sie kennen, isoliert die Menschen von ihrem Milieu und verlangt von ihnen ein Maß an Anpassung und Gleichschritt, das es unmöglich [un-möglich]
61
Christof Bäumler, Der Dienst des Pfarrers in der missionierenden Gemeinde, in: EvTh 24 (1964), 291-311 62 Georg Eichholz, Was heißt charismatische Gemeinde?, TEH 77, München 1960 63 Diese These wird von Günther Bormann und Sigrid Bormann-Heischkeil, aaO., 42ff entfaltet 64 Ökumenischer Rat der Kirchen (Hg.), Die Kirche für andere und Die Kirche für die Welt im Ringen um Strukturen missionarischer Gemeinden, Genf 1967, 22
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macht, sich frei und unverkrampft in der Welt zu bewegen. Es sollte darum nicht verwundern, daß beinahe überall, wo es um das Apostolat und neue Wege in der Welt geht, mit Leidenschaft um das Lebensrecht einer Gemeinde ›neben der Gemeinde‹ gekämpft wird. ... Wenn uns die Angst vor einer Spaltung der Kirche an diesem Experiment hindert, dann vollziehen wir eine andere und für das Apostolat schlechthin tödliche Spaltung: Das Schisma mit der Welt.« 65
Während die Struktur der Parochie einer stabilen Gesellschaft angemessen war, müßten in der Weltgesellschaft im Wandel neue gemeindliche Strukturen entwickelt werden, um Zeugnis, Gemeinschaft und Dienst glaubwürdig leben zu können. Auf die Frage, wie solche Strukturen dann aussehen würden, sind zwei unterschiedliche Konzepte entwickelt worden. Gemeinden in der Arbeitswelt und Hausgemeinden sollen die Parochie mindestens ergänzen, besser sogar ablösen. »Eine Handvoll Stenotypistinnen und Verkäuferinnen in einem Warenhaus; ein Dutzend Arbeiter in den verschiedenen Werkabteilungen eines Betriebes; acht Wissenschaftler mit ihren Frauen in einer großen chemischen Fabrik; eine Gruppe christlicher Lehrer im Lehrer-Collegium einer großen Schule; eine kleine Gemeinde aus zwei oder drei Straßen, die als Hausgemeinde in der Wohnung eines ihrer Glieder zusammenkommt. Sie sollten versuchen, in ihrem eigenen jeweils besonderen Lebensbereich Kirche zu sein, Volk Gottes.« 66
Deutlich wird daraus, daß sich neue Strukturen der Gemeinde sowohl im Produktions- als auch im Reproduktionsbereich entwickeln sollten; weniger klar ergibt sich aus diesen programmatischen Formulierungen, wie das geschehen soll. Die herkömmliche Parochie bekommt in diesem Dokument nur noch eine Funktion in besonderen, nicht näher bezeichneten Situationen: »An bestimmten Orten ist es wichtig, die Ortsgemeinde in jeder möglichen Weise zu stärken, zusammenzuhalten und sie zu hüten, wie ein Hirte seine Herde sammelt und ernährt.« 67
Inwiefern betreffen diese ökumenischen Erwägungen zu den wünschenswerten Gemeindestrukturen die Gemeindepraxis unter den Bedingungen der Volkskirche in der Bundesrepublik Deutschland? Bezogen auf das letzte Zitat ist zunächst festzustellen, daß die Parochie bei uns noch immer als der Normalfall, keineswegs als die Ausnahme gilt. Zwar ist man allgemein wohl etwas zurückhaltender geworden gegenüber dem Verständnis von der Ortsgemeinde als der Herde, die von einem Hirten zusammengehalten, gehütet und ernährt wird. Aber jedenfalls ist die territoriale* [terro-toriale]
65
J. Chr. Hoekendijk, Die Zukunft der Kirche und die Kirche der Zukunft, Stuttgart 1964,
38 66
Gerhard Brennecke (Hg.), Jesus Christus das Licht der Welt. Bericht über die Dritte Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Neu-Delhi 1961, Berlin 1963, 89 67 AaO. 89 * Im Original: terrotoriale.
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Parochie die Regel, alle anderen Formen der Gemeinde sind die Ausnahme. An welche Gemeindeformen ist dabei zu denken? Neben der Ortsgemeinde gibt es seit längerer Zeit sogenannte »Personalgemeinden«. Gelegentlich wird dieser Begriff verwendet, um folgenden Sachverhalt zu beschreiben: Gemeindeglieder, die in ihrer eigenen Parochie aus verschiedenen Gründen nicht heimisch werden, suchen Kontakt mit einem Pfarrer einer anderen Gemeinde, besuchen die von ihm gehaltenen Gottesdienste, bitten ihn, Amtshandlungen zu übernehmen und legen Wert auf seinen seelsorgerlichen Rat. Von Personalgemeinden kann man hier jedoch nur in dem Sinne sprechen, daß es sich um die Bindung einer mehr oder weniger großen Anzahl von Christen an einen Pfarrer, meist einen berühmten Prediger oder beliebten Seelsorger handelt. In der Regel werden unter dem Begriff »Personalgemeinden« jedoch solche Gemeinden zusammengefaßt, deren Mitglieder durch eine besondere Lebenssituation miteinander verbunden sind, u.a. Anstaltsgemeinden in Einrichtungen der Diakonie, Hochschul- bzw. Studentengemeinden, Militärgemeinden, Schulgemeinden in kirchlichen Schulen, Gemeinden in Strafvollzugsanstalten. Während im katholischen Bereich neben einer verfaßten Betriebsgemeinde (Christliche Betriebsgemeinde in VOEST-ALPINE in Linz/Österreich) einige in der Rechtsform von Vereinen organisierte Arbeitergemeinden68 entstanden sind, ist dies im deutschsprachigen Bereich sonst nicht der Fall. Am ehesten noch sind die ökumenischen Studien zu neuen Strukturen der Gemeinde für diejenigen Gemeindebildungen relevant, die mit dem, zwar sprachlich nicht glücklichen69 , jedoch die Lage treffend charakterisierenden Begriff »Para-Gemeinde« bezeichnet werden, als neue Gemeindebildungen »neben der Gemeinde«. Erfaßt werden mit diesem Begriff unterschiedliche Formen des Zusammenkommens von Christen auf Zeit, z. B. bei Akademietagungen, Freizeiten oder auf den Kirchentagen. In ihnen haben sich Strukturen entwickelt, die für eine kommunikative Gemeindepraxis förderlich sind. Das gilt vor allem für den Kirchentag und da wiederum besonders für die Abendmahlspraxis.70 Das »Feierabendmahl« 71 hat bis in die Ortsgemeinden hinein weitergewirkt.
Paul Schobel, Aus der Werkstatt einer »Arbeitergemeinde«, in: Norbert Mette (Hg.), Wie wir Gemeinde wurden. Lernerfahrungen und Erneuerungsprozesse in der Volkskirche, München/Mainz 1982, 54-64 69 Albert Stein, Evangelisches Kirchenrecht. Ein Lernbuch, Neuwied/Darmstadt 1980, 79 70 Peter Cornehl, Evangelische Abendmahlspraxis im Spannungsfeld von Lehre, Erfahrung und Gestaltung. Ein Beitrag zum Gespräch zwischen den Generationen, in: Hans Martin Müller/Dietrich Rössler (Hg.), Reformation und Praktische Theologie. Festschrift für Werner Jetter, Göttingen 1983, 22-50 71 Georg Kugler, Feierabendmahl. Zwischenbilanz, Gestaltungsvorschläge, Modelle, Gütersloh 1981
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Schließlich ist hier die Basis-Gemeinde zu nennen, auf die in einem späteren Zusammenhang72 noch näher eingegangen werden soll. Entstanden in der katholischen Kirche in Lateinamerika hat die »Basis-Gemeinde« mit dem in der Erfahrung in besonderen Situationen bewährten Gedanken der »Kirche von unten« in unserem Bereich zunächst die theoretische Diskussion über »Volkskirche und/oder Gemeindekirche«73 vorangetrieben. Zunehmend wird versucht, die Impulse der Basis-Gemeinden für die strukturelle Veränderung volkskirchlicher Gemeinden fruchtbar zu machen.74 Das ist deshalb naheliegend, weil die Basis-Gemeinden im Unterschied zu den zeitlich begrenzten Para-Gemeinden als dauerhafte Alternativen zu den parochialen Gemeinden begriffen werden können. Die Tendenz geht auf die neue Gemeindeentwicklung mit Strukturen, die die wünschenswerten Funktionen besser ermöglichen sollen als die bürokratische Organisation der herkömmlichen Parochie. Die Richtung dieser Strukturveränderung wird durch den Begriff der »geistlichen Kommunikationsgemeinschaft«75 angedeutet. Gemeint ist mit diesem Begriff eine Struktur, bei der die kommunikativen Elemente im Vordergrund stehen. Es ist nicht zufällig, daß in den sehr pauschalen Beschreibungen des neuen Strukturtyps die Mahlgemeinschaft eine konstitutive Bedeutung bekommt. Pointiert und bildhaft ausgedrückt: An die Stelle der in Reih und Glied auf den Kirchenbänken sitzenden Gemeinde, der durch ihren Pfarrer das Wort Gottes von der erhöhten Kanzel herab verkündigt wird, tritt die Mahlgemeinschaft der miteinander am Tisch sitzenden Gemeindeglieder, bei der das Zeugnis als Tischrede weitergegeben wird und die sich so auf ihren gemeinsamen Dienst in der Welt vorbereitet. 5.3 Kritische Vermittlung von kommunikativen und organisatorischen Gemeindestrukturen Die parochiale Gemeindestruktur kann die kommunikativen Elemente der Gemeinde ersticken. In der verwalteten Gemeinde werden die Gemeindeglieder [Gemeinde-glieder]
72
Vgl. in diesem Kapitel Abschnitt 7.6, S. 110ff Norbert Mette, Gemeinde - wozu? Zielvorstellungen im Widerstreit, in: Norbert Greinacher/Norbert Mette/Wilhelm Möhler, Gerneindepraxis. Analysen und Aufgaben, München/Mainz 1979, 91-107 74 Norbert Mette, Chancen einer Basiskirche in der Bundesrepublik Deutschland?, in: Hubert Frankemölle (Hg.), Kirche von unten, Alternative Gemeinden. Modelle - Erfahrungen - Reflexionen, München/Mainz 1981, 17-35 75 Ernst Lange, Chancen des Alltags, Oberlegungen zur Funktion des christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, Stuttgart/Gelnhausen 1964, 109ff 73
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zu Konsumenten der organisierten Veranstaltungen und Dienstleistungen. Umgekehrt gilt jedoch, daß die kommunikativen Elemente der Gemeinde auf eine Organisationsstruktur angewiesen bleiben, wenn vermieden werden soll, daß nicht zufällige und kurzlebige Bildungen an die Stelle der alten Parochial-Struktur treten. An dieser Stelle ist ein Hinweis auf die Funktion des Kirchenrechts angebracht. Es wird, gerade von Laien, meist nur in seiner einschränkenden Wirkung gesehen und beklagt. Solche Erfahrungen dürfen jedoch nicht die positiven Funktionen kirchenrechtlicher Regelungen verdecken: sie dienen der Stabilisierung und Kontinuitätssicherung, allerdings unter der Voraussetzung, daß im Zuge von Strukturreformen auch kirchenrechtliche Bestimmungen verändert werden können. Da Strukturveränderungen beim Vorhandenen ansetzen müssen, um nicht unerfüllbares Postulat zu bleiben, stellt sich die Frage, wie die Strukturen des pastoralen Grundmodells verändert werden müssen, um nicht nur die tatsächlichen Funktionen in der Gemeinde ausüben zu können, sondern für das Gelingen der wünschenswerten Funktionen bessere Voraussetzungen zu schaffen. Genauer müßte die Frage lauten: Welche Struktur-Elemente sind prinzipiell oder aus gegenwärtig kaum zu beeinflussenden Gründen unveränderbar, welche sind veränderbar? Bei der Erörterung dieser Frage wird vorausgesetzt, daß die christliche Gemeinde immer eine soziale Gestalt haben wird. Das klingt wie eine Banalität. Dennoch gibt es Überlegungen, die im Grunde eine soziale Gestalt christlicher Gemeinde überflüssig machen würden. So braucht die Amtskirche im strengen Sinn keine Gemeinde. Sie wäre auch dann Kirche, wenn es nur Amtsträger gäbe. Der Klerus geweihter Priester scheint auf die soziale Gestalt der Gemeinde verzichten zu können. Ihm genügt das Kirchenvolk. Steht das christliche Individuum im Mittelpunkt, dann benötigt es zwar zu seiner Entwicklung die Kirche und die Gemeinde. Selbständig geworden ist es aber nicht mehr auf sie angewiesen. Der erwachsene Christ lebt selbständig im Kontext des Christentums. Die soziale Gestalt der Gemeinde scheint für ihn nicht mehr notwendig zu sein.76 Aber selbst bei diesen Gedankenexperimenten ist der Wegfall der sozialen Gestalt der Gemeinde nur scheinbar. Denn im katholischen Kirchenvolk bilden sich Gemeinden und der einzelne Protestant kann ohne wenigstens lockeren und gelegentlichen Kontakt mit anderen Christen kaum auf die Dauer seine christliche Existenz führen. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, daß die Sozialität des Christen-
Trutz Rendtorff, Kirche als Schule des Christentums. Eine Skizze, in: EvErz 26 (1974), 295-306
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tums nicht nur die formale Frage seiner Gestalt betrifft, sondern als inhaltliches theologisches Problem reflektiert werden muß.77 Die Vermittlung des Allgemeinen, d. h. der christlichen Überlieferung mit dem Besonderen, d. h. der individuellen Biographie des einzelnen Christen, vollzieht sich in erfahrbaren, dauerhaften Sozialinteraktionen in der jeweiligen gesellschaftlichen Situation. »Gemeinde« ist die soziale Gestalt jenes Vermittlungsprozesses; ihre Strukturen müssen ihn gewährleisten. Damit ist zunächst festgehalten, daß die Struktur der Gemeinde die Bildung von Gruppen ermöglichen muß. Diese Feststellung kann daran anknüpfen, daß Gruppenbildungen in den Gemeinden seit Pietismus und Erweckungsbewegung, intensiv seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zunächst im Gegensatz zu den Parochien und dann in den überlieferten parochialen Strukturen selbst längst zu einem allgemeinen Sachverhalt geworden sind. Das pastorale Grundmodell wurde ergänzt durch die sich in Gruppen konstituierende Kerngemeinde. Problematisch an dieser Entwicklung ist der von der Kerngemeinde erhobene Anspruch, die Gesamtheit des Christentums auf lokaler Ebene zu repräsentieren, während zugleich die Mehrzahl der Gemeindeglieder auf die Rolle von Empfängern gemeindlicher Dienstleistungen reduziert wurde.78 Strukturell wurde diese Entwicklung dadurch zementiert, daß einerseits die Träger des Amtes Einfluß auf die Gruppen der Kerngemeinden nahmen, und daß andererseits neben den örtlichen Honoratioren Angehörige der Kerngemeinde in die Leitungsgremien der Gemeinde gewählt wurden. Strukturelle Veränderungen im Interesse der Wahrnehmung der wünschenswerten Funktionen der Gemeinde müßten folgende Perspektive haben: Die Anregung und Ermöglichung selbstbestimmter Gruppen mit unterschiedlichen Inhalten79 sowie die Differenzierung der Personalstruktur der Gemeinde mit dem Ziel, die verschiedenen Gruppen angemessen beraten zu können. 80 Beides läßt sich nur erreichen, wenn die hierarchische Struktur der Gemeinde schrittweise durch kommunikative Strukturen er-
Dietrich Bonhoeffer, Sanctorum communio. Dogmatische Untersuchungen zur Soziologie der Kirche, 1930, München 1954; Gerhard Sauter, Kirche als Gestalt des Geistes. Das theologische und das soziologische Problem der Institutionalität christlicher Gemeindebildung, in: EvTh 38 (1978), 358-369 78 Trutz Rendtorff, Kirchengemeinde und Kerngemeinde. Kirchensoziologische Bemerkungen zur Gestalt der Ortsgemeinde, in: Friedrich Fürstenberg (Hg.), Religionssoziologie, Neuwied/Berlin 1964, 235-247 79 Dieter Emeis, Die Gruppe in der Kirche. Ein Weg zur Überwindung der Identitätskrise im Glauben, 1973, in: Norbert Greinacher/Norbert Mette/Wilhelm Möhler (Hg.), Gemeindepraxis. Analysen und Aufgaben, München/Mainz 1979, 257-267 80 Jürgen Hach, Teamarbeit konkret - die Faktoren Ziel, Leistung und Funktionsgliederung, in: WPKG 67 (1978), 201-215
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setzt wird. Der Begriff »kommunikative Struktur« wird hier deshalb dem Begriff »demokratische Struktur« vorgezogen, weil dieser meist im Sinne einer repräsentativen Formaldemokratie gebraucht wird. »Kommunikative Struktur« ist im Sinne von Fundamental- oder Basis-Demokratie zu verstehen und darf nicht dazu verleiten, latente und manifeste Konflikte in der Gemeinde zu verdrängen, sondern fordert dazu auf, unter weitgehendem Verzicht auf formale Mehrheitsentscheidungen sich langfristig an der Lösung bzw. der Verarbeitung von Konflikten im Interesse an einem Konsens zu engagieren. Auch kommunikative Strukturen können nicht auf organisatorische Strukturelemente verzichten. An der Stelle einer bürokratischen Verwaltungsstruktur der Ortsgemeinde wäre eine Organisationsstruktur zu entwickeln, in der Elemente von Selbstverwaltungen so miteinander verbunden werden, daß die kooperative Organisationsstruktur der Gemeinde für alle Beteiligten möglichst durchsichtig wird. Langfristig würde sich das so erreichen lassen, daß die unterschiedlichen Gruppen Kandidaten für die gemeindeleitenden Gremien aufstellen, die auf diese Weise in ihrer Zusammensetzung allmählich der Struktur der Gemeindeglieder eher entsprechen als bisher. Für die schrittweise Transformation des pastoralen Grundmodells in das einer offenen Gemeinde sind wichtige Anregungen aus den Erfahrungen der Basisgemeinden zu gewinnen. 6. Strukturtypen christlicher Gemeinden Ähnlich wie bei den Funktionen Gemeindetypen gebildet wurden, soll dies auch im Blick auf die Gemeindestruktur geschehen. Hinsichtlich ihrer Struktur möchte ich in modifizierter Aufnahme eines Vorschlages von Hermann Steinkamp81 die Typen der verwaltungsorientierten, der organisationsorientierten und der kommunikationsorientierten Gemeinde unterscheiden. 6.1 Die verwaltungsorientierte Gemeinde Der Strukturtyp der verwaltungsorientierten Gemeinde entspricht der ursprünglichen Auffassung der Parochie als der kleinsten kirchlichen Einheit und versteht diese in erster Linie als Verwaltungseinheit. Obwohl hier zwischen [zwi-schen]
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Hermann Steinkamp, Gemeindestruktur und Gemeindeprozeß. Versuch einer Typologie, in: Norbert Greinacher/Norbert Mette/Wilhelm Möhler (Hg.), Gemeindepraxis. Analysen und Aufgaben, München/Mainz 1979, 77-89
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den Großkirchen insofern ein prinzipieller Unterschied besteht, als nach römisch-katholischer Auffassung sich die Gesamtkirche in die Einzelgemeinden hinein ausdifferenziert, während nach reformatorischer Auffassung die Einzelgemeinden die Gesamtkirche konstituieren, hat dieser Unterschied für die Gemeindestruktur im Falle der verwaltungsorientierten Gemeinde keine Folge. Für die römisch-katholische Kirche gilt als wichtigstes Merkmal dieses Typs der Vorstellungsgehalt, »der die einzelne Kirchengemeinde am unteren Ende eines Strukturgefüges sieht, in dem es weiter oben die Bistumsleitung und schließlich, an der Spitze der Pyramide, Rom und den Papst gibt«82 .
Für die evangelische Kirche kann demgegenüber davon ausgegangen werden, daß sich die Ortsgemeinde in gewisser Hinsicht als autonom versteht. Für die Struktur der Gemeinde ist in beiden Fällen ein hierarchisches Grundmuster anzunehmen. Während der katholische Gemeindepfarrer im Auftrag von Papst und Bischof seine Gemeinde verwaltet, kann sich der evangelische Gemeindepfarrer beim verwaltungsorientierten Strukturtyp gewissermaßen selbst als »Gemeindepapst« verstehen. In beiden Fällen liegen alle inhaltlichen und formalen Entscheidungen für die Gemeindepraxis in der Hand des Gemeindepfarrers. Der Pfarrer ist der Letztverantwortliche, die Gemeindemitglieder sind die Adressaten der Verwaltung von Wort und Sakrament durch den Gemeindepfarrer und als solche voneinander isolierte Individuen. 6.2 Die organisationsorientierte Gemeinde Die Struktur der organisationsorientierten Gemeinde ist durch eine Verbindung von hlerarchischen und kommunikativen Strukturelementen charakterisiert. Bei diesem Typ wird die Gemeinde in erster Linie als eine Organisation begriffen, die sich zur Ausübung ihrer Funktionen eine angemessene Organisationsstruktur verschafft und zur Erreichung ihrer Zwecke geeignete Methoden entwickelt. Die Organisationsstruktur sieht einerseits vor, daß zwischen dem Gemeindepfarrer und den übrigen Mitarbeitern klare Über- und Unterordnungsverhältnisse bestehen, während andererseits die Aufgliederung in Zuständigkeitsbereiche (z. B. Verkündigung und Information; Erziehung und Bildung; Seelsorge und Sozialhilfe; Gemeindeaufbau und Gemeindeleitung) eine relative Selbständigkeit von Mitarbeitern und Gemeindegruppen ermöglicht. Für einzelne Handlungsfelder sind Fachkräfte aus Pädagogik, Psychologie, Sozialarbeit notwendig. Daraus ergibt
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AaO.79
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sich, daß diese Organisationsstruktur mit hauptberuflichen Mitarbeitern nur bei sehr großen Gemeinden verwirklicht werden kann, die dazu bereit und in der Lage sind, Planstellen für Nichttheologen einzurichten. Andernfalls kann bis zu einem gewissen Grad daran gedacht werden, entsprechend ausgebildete Gemeindeglieder zur nebenberuflichen Mitarbeit heranzuziehen. Die Gemeindeglieder sind bei diesem Strukturtyp als mögliche Mitglieder von Gruppen zu betrachten. Der Verbindung von hierarchischen und kommunikativen Elementen entspricht der Modus »taktische Beteiligung«83 der Gemeindeglieder an den angebotenen Aktivitäten: Ziele werden von den Mitarbeitern vorgegeben, die Teilnehmer können über ihre inhaltliche und formale Realisierung mitbestimmen. Die Unterscheidung von religiösen Berufsrollen und religiösen Freizeitrollen ist für diesen Strukturtyp charakteristisch. »Gleichwohl bleibt die Rollendifferenzierung begrenzt, einerseits durch die – u.a. durch meist monopolartige theologische Sachkompetenz begründete – Dominanz der Pfarrerrolle, zu der alle übrigen Rollen letztlich komplementär definiert sind; andererseits durch die Zweiteilung in Veranstalter- und Konsumenten-Rollen.« 84
6.3 Die kommunikationsorientierte Gemeinde Der kommunikationsorientierte Strukturtyp entspricht weitgehend jenem Muster, das Hermann Steinkamp mit der Formulierung »Gemeinde als Gemeinwesen«85 bezeichnete. Der Gedanke, der »Prozeßorientierung«, den Steinkamp mit diesem Strukturtyp verbindet, wird im folgenden Kapitel aufgenommen.86 Gewiß ist es sinnvoll, im Interesse der Strukturreform Struktur und Prozeß miteinander in Verbindung zu bringen. In diesem Kapitel soll zunächst versucht werden, den empirisch nachweisbaren verwaltungs- bzw. organisationsorientierten Gemeindetypen den kommunikationsorientierten Strukturtyp als konkrete Utopie gegenüberzustellen. Konkret ist eine Utopie dann, wenn sie nicht als bloßes Ziel behauptet, sondern aus den in der jeweiligen Situation enthaltenen Möglichkeiten entwickelt wird. Die Grundvoraussetzung des kommunikationsorientierten Strukturtyps der Gemeinde ist das begründete Interesse der Gemeindeglieder, den Konsens [Kon-sens]
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Klaus Mollenhauer/Gerda Kasakos/Hedwig Ortmann/Ulrich Bathke, Evangelische Jugendarbeit in Deutschland. Materialien und Analysen, München 1969, 199-209 84 Hermann Steinkamp, aaO. 83 85 AaO. 84-86 Vgl. dazu auch den Bericht von Klaus Rückert, Gemeinde und Gemeinwesen. Entwicklung im Miteinander, ni : Norbert Mette (Hg.), Wie wir Gemeinde wurden, München/Mainz 1982, 98-113 86 Vgl. Kap. III
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in der Gemeinde zu verwirklichen. Es ist kaum zu bestreiten, daß die Begründung dieses Interesses von der »offiziellen Theologie« bisher noch nicht hinreichend erfolgte.87 Immerhin ist auf den Versuch zu verweisen, den Gedanken der Konziliarität in der ökumenischen Diskussion wieder zu beleben.88 Das hat nicht nur Konsequenzen für den Dialog zwischen den Kirchen, sondern auch für den Diskurs in den einzelnen Gemeinden. Die Erwägungen über die »Gemeinde der Befreiten«89 sind als Beitrag zu diesem Begründungsversuch zu verstehen. Wenn dort ausgeführt wurde, die Gemeinde der Befreiten habe die sich in Jesus Christus durchsetzende Gottesgerechtigkeit in gemeinsamer Praxis zu rekonstruieren90 , dann ist damit zugleich das Interesse der Gemeinde am Konsens begründet. Während die Frage nach dem Konsens der Gemeinde über ihre Ziele beim verwaltungsorientierten Strukturtyp als bereits beantwortet vorausgesetzt wird und beim organisationsorientierten Strukturtyp durch die Differenzierung in Handlungsfelder die Ziele konsensfähig vorgegeben sind, ist dieser Konsens in der kommunikationsorientierten Gemeinde gemeinsam zu entdecken und zu verwirklichen. Diese Forderung ist sinnvoll, weil in der christlichen Überlieferungsgeschichte konsensfähige Elemente enthalten sind, die in der neuen Situation rekonstruiert werden können. Diese Forderung ist notwendig, weil der Verzicht auf kommunikative Konsensbildung in der Gemeinde die Anerkennung eines beliebigen Partikularismus zur Folge hätte. An die Stelle einer das Monopol beanspruchenden Kerngemeinde träten dann verschiedene Basisgruppen mit unterschiedlichen Monopolansprüchen. Von ihnen könnten die wünschenswerten Funktionen Zeugnis, Gemeinschaft und Dienst ebensowenig überzeugend wahrgenommen werden wie von der in sich abgeschlossenen Kerngemeinde. Somit stellt sich die Frage, welche strukturellen Elemente die sinnvolle und notwendige Entdeckung des Konsensus der Ziele der Gemeindearbeit fördern. Als Antwort auf diese Frage sind zu nennen: - Weitgehender Verzicht auf hierarchische Strukturelemente; - Gruppengemeindeamt als Alternative zum Ein-Mann-Prinzip bzw. zur pfarrergeleiteten Mitarbeitergruppe; - Umfassendes Informationsnetz in jeder Richtung; - Gemeindeleitende Gremien aus Delegierten der Basisgruppen und den Mitgliedern des Gruppen-Gemeindeamtes.
Hermann Steinkamp, aaO. 87 Ernst Lange, Die ökumenische Utopie oder Was bewegt die ökumenische Bewegung?, Stuttgart/Berlin 1972, 202-207 89 Vgl. Kap. I 90 Vgl. in diesem Buch S. 26 f 88
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Charakteristisches Grundmerkmal dieses Modells ist die zweiwegige Kommunikation gleichrangiger Partner in der Gemeindepraxis. Dieses Merkmal wird dadurch realisiert, daß ihre eigenen Bedürfnisse organisierende Basisgruppen im Interesse am Konsens der Gemeinde kooperieren. Das setzt einmal voraus, daß die Basisgruppen sich weitgehend selbständig entwickeln können. Da Gemeinden dieses kommunikationsorientierten Strukturtyps ihre eigene soziale Gestalt nicht gegen ihre soziale Umwelt als geschlossenes System behaupten, sondern sich selbst als Element der sozialen Umwelt begreifen, ist einleuchtend, daß Probleme des Gemeinwesens durch die Basisgruppen thematisiert werden. Sowohl in der Prioritätensetzung dieser Probleme wie in der Art und Weise, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, bringen die gemeindlichen Basisgruppen einen eigenen Akzent in die Praxis des Gemeinwesens ein.91 6.4 Kritische Integration der Strukturtypen Ähnlich wie bereits bei den Funktionstypen92 ist auch hier zu fragen, ob einer der analysierten Strukturtypen für eine kommunikative Gemeindepraxis zu bevorzugen sei. Daß der Typ der kommunikationsorientierten Gemeinde dem Kriterium der »Gemeinde der Befreiten« entspricht und die Voraussetzungen für eine kommunikative Gemeindepraxis bietet, dürfte aus der Darstellung hervorgegangen sein. Diese Feststellung zu bejahen, bedeutet jedoch nicht zugleich, die Strukturtypen der verwaltungsorientierten und der organisationsorientierten Gemeinde grundsätzlich abzulehnen. Denn sie enthalten Strukturelemente, auf die auch eine kommunikative Gemeindepraxis nicht verzichten kann. Im Typ der verwaltungsorientierten Gemeinde kommt der Sachverhalt zum Ausdruck, daß die Ortsgemeinden als die kleinsten Einheiten des Systems der Volkskirche verwaltet werden. Wenn der Aspekt der Verwaltung in der Gemeindepraxis nicht in der Weise dominiert, daß sich Kirchenvorstand und Gemeindepfarrer in erster Linie als Vollzugsorgane kirchlicher Verwaltung verstehen, sondern sich als selbst verantwortliche Gemeindeleitung begreifen, dann kann die Verankerung der Einzelgemeinde in der Volkskirche als Entlastung von gesamtkirchlichen Aufgaben erfahren werden, die von der Ortsgemeinde nicht gelöst werden können. Daneben sind größere Projekte in den Einzelgemeinden, z.B. Bauvorhaben, nur im Zusammenhang eines innerkirchlichen Lastenausgleichs durchzuführen. Um-
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Hans-Eckehard Bahr, Konflikt und Versöhnung, in: ders. (Hg.), Konfliktorientierte Gemeinwesenarbeit. Niederlagen und Modelle, Darmstadt/Neuwied 1974, 9-41 92 Vgl. in diesem Kapitel Abschnitt 4.4, S. 75 ff
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gekehrt ist das System der Volkskirche auch unter dem Verwaltungsaspekt auf die Ortsgemeinden angewiesen. Die sorgfältige Wahrnehmung der Verwaltungsarbeit in den Kirchengemeinden leistet einen notwendigen Beitrag zur Funktionsfähigkeit der Volkskirche. So verstanden ist die Kirchengemeinde nicht nur die kleinste Verwaltungseinheit der Kirche, sondern ein selbständiges Strukturelement im Verwaltungsapparat der Volkskirche. Auch die kommunikationsorientierte Gemeinde kommt nicht darum herum, ihre Praxis organisieren zu müssen. Der entscheidende Unterschied zum Typ der organisationsorientierten Gemeinde besteht darin, daß die Effektivität der Organisation der Gemeindepraxis niemals zu Lasten ihrer kommunikativen Qualität gehen darf. Die Erfolgsbilanz einer beeindruckenden Anzahl von gut besuchten Gemeindeveranstaltungen, eines »flächendeckenden« Sozialdienstes und eines hohen Spendeaufkommens bleibt dann im Grunde negativ, wenn die Gemeindeglieder dabei auf eine Konsumentenrolle festgelegt oder allenfalls taktisch beteiligt werden. In der kommunikationsorientierten* Gemeinde sind dagegen Organisationsformen zu entwickeln, die den Gemeindegliedern eine strategische Beteiligung93 nicht nur bei der Festlegung der Inhalte und Formen, sondern auch bei der Suche nach den Zielen der Gemeindepraxis ermöglichen. Strategische Beteiligung entsteht nicht naturwüchsig, sondern entwickelt sich in einem langen Lernprozeß. Zu seinen organisatorischen Voraussetzungen gehören die Formen der Gemeindeberatung, die seit einiger Zeit praktiziert werden.94 Der Versuch, die Strukturtypen der Gemeinde in der Weise kritisch zu integrieren, daß die kommunikative Struktur der Gemeinde zum Zuge kommt, ohne die Notwendigkeit der Elemente »Verwaltung« und »Organisation« zu verleugnen, kann an die Geschichte der Kirchengemeinde anknüpfen. Wolfgang Lück hat gezeigt, daß in der Pluralität gegenwärtiger Kirchengemeinden die konstitutiven Strukturelemente Pfarramt, Gemeinde als Körperschaft des Öffentlichen Rechts, Pfarrhaus und Verein enthalten sind.95 Während Pfarramt und Gemeinde als Körperschaften Öffentlichen Rechtes den Strukturelementen Verwaltung und Organisation zugeordnet
Orig.: kommunikationsorientieren. Klaus Mollenhauer u. a., aaO. 189-199 94 Eva Renate Schmidt, Gemeindeberatung und Organisationsentwicklung in der Kirche, in: Reinhard Köster/Hans Oelker, Lernende Kirche. Ein Leitfaden zur Neuorientierung kirchlicher Ausbildung, München o.J. (1975), 183-192; Ingrid Adam/Eva Renate Schmidt, Gemeindeberatung. Gelnhausen/Berlin/Freiburg/Nürnberg 1977; dies. Umgang mit Zeit. Gemeindeberatung. Ergänzungsheft 1, Gelnhausen/Berlin/Freiburg/Nürnberg 1978 95 Wolfgang Lück, Praxis: Kirchengemeinde, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978 93
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werden können, sind Pfarrhaus und Verein Ansatzpunkte kommunikativer Strukturen der Gemeindepraxis. Historisch gesehen, ist die Entwicklung von christlichen Vereinen u. a. daraus zu erklären, daß die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte rechtliche Trennung der Kirchengemeinde als eigener Körperschaft von der politischen Gemeinde die Notwendigkeit mit sich brachte, ein eigenständiges Mitgliedschaftsbewußtsein in der Kirchengemeinde zu entwickeln.96 Mehr noch wird man sie freilich begreifen müssen als Organisationsform der sich im Gegensatz zum Staatskirchentum verstehenden freien Religion.97 Aber auch für diejenigen Vereine, die der Kirche nahe standen, gilt das Urteil von Kurt Schuster: »Gegenüber dem nicht nur Pietisten schwerfällig erscheinenden Behördenapparat der verfaßten Kirche erschloß sich im Rahmen der Vereine ein bisher in diesem Maß nicht ausgenütztes Betätigungsfeld für selbständig denkende und handelnde Laienchristen.« 98
Wolfgang Lück weist mit Recht darauf hin, daß erst mit der Hereinnahme des Vereinswesens in die Kirchengemeinde das sog. »Gemeindeleben« entstanden sei, daß mit dieser Eingemeindung aber zugleich eine Entmündigung der Laien einherging, deren Funktion der Gemeindepfarrer jetzt zusätzlich übernahm.99 In der gegenwärtigen Kirchengemeinde werde die Tradition der Vereine fortgesetzt durch Gruppen, die ihren Zweck in sich selbst haben und durch Gruppen, die einen Zweck außerhalb ihrer selbst verfolgen. Wolfgang Lück bezeichnet sie als »Selbsthilfeeinrichtungen« und »Projektgruppen« 100 . In beiden Fällen liegt nach meiner Auffassung in der Regel eine kommunikative Struktur unterschiedlicher Ausprägung vor. Findet sich in »Selbsthilfeeinrichtungen« häufig der Beteiligungstyp der »Gleichstimmung«101 , so wird man in Projektgruppen eher von strategischer Beteiligung sprechen können.102 Von solchen Projektgruppen sind am ehesten Anstöße zur Stärkung kommunikativer Gemeindestrukturen zu erwarten, falls es gelingt, ihnen in
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AaO.40 Friedrich Wilhelm Graf, Der »Freie Verein« als Organisationsform der freien Religion, in: ders., Die Politisierung des religiösen Bewußtseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz. Das Beispiel des Deutschkatholizismus, München 1978, 96 - 119 98 Kurt Schuster, Vereinswesen, 1. Evangelisches, in: RGG 3, Bd. VI, Sp. 1320 99 Wolfgang Lück, aaO. 42f 100 AaO.133 101 Klaus Mollenhauer u.a., aaO. 209-217 102 AaO. 189-199 97
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der Gemeindepraxis die Möglichkeit zu eröffnen, ihre Projekte vorzustellen und mit anderen Gemeindegliedern einen offenen Diskurs darüber zu führen. Häufig ist übrigens gerade bei solchen Gruppen ein Bewußtsein über die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge der Gemeindepraxis, über die Rolle der kirchlichen Institution im Kontext der Ökumene und über die Notwendigkeit von Organisationsformen ausgebildet. Eine kommunikative Struktur der Kirchengemeinde ohne das Bewußtsein vom Zusammenhang der Gemeindepraxis mit den Problemen des Systems und der damit verbundenen Notwendigkeit, die Elemente von Verwaltung und Organisation ernst zu nehmen, wäre in der Gefahr, zu einer vermeintlich naturwüchsigen Gemeinschaft zu verkümmern, die sich dann selber mit Hilfe von gruppendynamischen Theorieelementen zu interpretieren versucht. 7. Personalstruktur christlicher Gemeinden Dem Leser der vorangegangenen Ausführungen mag sich der Verdacht aufgedrängt haben, die Analyse der Funktionen und Strukturen christlicher Gemeinden übersehe den grundlegenden Sachverhalt, daß sich Gemeinden aus lebendigen Menschen mit ihren unverwechselbaren individuellen Biographien zusammensetzen. Ein solcher Verdacht kommt verständlicherweise immer dann auf, wenn versucht wird, die Fülle der vielfältigen menschlichen Wirklichkeit mit Hilfe soziologischer Begriffe für den Beobachter durchsichtig und für die Leser der mitgeteilten Beobachtungen diskutierbar zu machen. Sehr leicht entsteht dann der Eindruck, als Individuum in der so geschilderten Realität der Gemeindepraxis gar nicht vorzukommen, sondern durch den groben Raster von »Funktionen« und »Strukturen« hindurchzufallen. Dieser Eindruck könnte womöglich relativiert werden, wenn die soziologische durch eine psychologische Fragestellung ergänzt wird. Dies kann hier nicht geschehen, weil es den Rahmen der Untersuchung sprengen würde. Wer dieser Spur auf dem Hintergrund unserer Überlegungen nachgeht, begegnet wiederum dem Begriff der »Struktur«. Er wird in der Psychologie zur Kennzeichnung der Gesamtheit der Interessen eines Menschen (Eduard Spranger) bzw. zur Charakterisierung des »Aufbaus der Person« (Philipp Lersch) verwendet.103 Wilhelm Reich gebraucht bei seiner Analyse unterschiedlicher [unter-schiedlicher]
103
Wolfgang Metzger, Ganzheit - Gestalt - Struktur, in: W. Arnold/H. J. Eysenck/R. Meilli (Hg.), Lexikon der Psychologie, Band 1, Freiburg/Basel/Wien 1971, 675-682, bes. 678
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104 105
Charakterbildungen die Begriffe »Funktionen des Lebendigen«104 und »Charakterstruktur«105 . Sehr unterschiedliche psychologische Ansätze verwenden also ebenso wie die Soziologie die Begriffe »Funktion« und »Struktur«. Selbst wenn man diesen Zusammenhängen nachgeht, was hier, wie bemerkt, nicht geschehen kann, so wird auf diesem Wege der eingangs erwähnte Verdacht schwerlich ausgeräumt werden können. Der Eindruck des Individuums, persönlich nicht vorzukommen, bleibt häufig auch gegenüber psychologischen Untersuchungen bestehen. Grundsätzlich gilt, daß wissenschaftliche Aussagen erst in ihrem )eweillgen Theoriezusammenhang einleuchtend werden und ihre Erklärungskraft hinsichtlich der Phänomene, auf die sie bezogen sind, erweisen müssen. Indes ist im Zusammenhang einer Theorie der Gemeindepraxis die Feststellung, die Probleme der Individualität kämen nicht zur Sprache, alarmierend. Denn eine kommunikative Gemeindepraxis ist u. a. dadurch zu charakterisieren, daß alle an ihr beteiligten Menschen in ihrer jeweiligen Individualität anerkannt werden und zum Zuge kommen müssen. Insofern wäre die »Personalstruktur« einer christlichen Gemeinde als das Insgesamt der ihren Bestand bildenden Individuen zu definieren. In dem herkömmlichen Sprachgebrauch, die Gemeindeglieder als »Seelen« zu bezeichnen, der sowohl im Begriff des »Seelsorgers« aufbewahrt ist als auch in dem ironisch gebrauchten Begriff »Seelenpfennig« als Hinweis auf den Verteilungsschlüssel des Kirchensteueraufkommens je nach »Seelenzahl« der Gemeinde auftaucht, ist im Grunde die Würde des einzelnen als Person vor Gott wie seine unverwechselbare Individualität gemeint. Demgegenüber wäre es eine Engführung, wollte man die Personalstruktur der Gemeinde von vornherein nur auf die hauptberuflichen, nebenberuflichen und freiwilligen Mitarbeiter beschränken. Mag dies beim verwaltungsorientierten und beim organisationsorientierten Strukturtyp der Gemeinde angemessen sein, so wird die Gleichsetzung der Personalstruktur der Gemeinde mit ihrem Bestand an Personal beim kommunikationsorientierten Strukturtyp der Gemeinde äußerst problematisch. Indes kann auch in diesem Fall nicht davon abgesehen werden, daß faktisch in der Gemeindepraxis die Gemeindeglieder ohne besonderen Auftrag den Gemeindegliedern begegnen, die zugleich das » Personal« der Gemeinde bilden - und umgekehrt. Als Problemanzeige für die in den folgenden Abschnitten versuchte Analyse dieses Sachverhalts soll die bekannte Feststellung von Ernst Lange die-nen, [die-nen]
Wilhelm Reich, Charakteranalyse, 1933, Frankfurt 1981, 395 f AaO. 456, 477
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in den Kirchengemeinden versammle sich das » Ensemble der Opfer der Zeit«106 . Diese Annahme wird durch den folgenden Bericht eines Gemeindepfarrers belegt: »In offener Runde trifft sich die Gemeinde nach dem Gottesdienst zum - meiner Einschätzung nach - offenen Gespräch und beim Verabschieden sagt ein Gemeindeglied: 1ch hab mich gefreut, bei Ihnen gewesen zu sein!‹ « 107
Dieses Gemeindeglied empfand sich offenbar nicht als gleichberechtigter Sprecher in einem offenen Diskurs, sondern als Gast eines ihm überlegenen Hausherrn, den er gerade in dieser Position als erfreulich erlebt hat. Im Unterschied dazu schätzte der Pfarrer seine Rolle als die eines Gesprächspartners unter anderen und die Gesprächssituation als offen ein. Wenn das Gemeindeglied mit seinem Abschiedswort diese Situation als durch den Pfarrer definiert bezeichnet, kann dies Ausdruck eines Menschen sein, der zu den »Opfern der Zeit« gehört und in jeder Lage nach Sicherheit sucht, weil er offene Situationen nur schwer aushält. Falls diese Annahme zutrifft, dann wäre nach den Vermittlungsschritten zu fragen, die solche » Opfer der Zeit« gehen müssen, um schließlich als selbständige Menschen in offenen Situationen bestehen zu können. Auf der anderen Seite könnte der Pfarrer auch einer Selbsttäuschung erlegen sein, wenn er die Situation als offen einschätzte. Es könnte ja sein, daß er im Gespräch in einer Weise agierte, die in dem Abschiedswort des Gemeindegliedes ihren angemessenen Ausdruck fand. Der Besucher empfand die Situation als definiert durch die dominante Rolle des Pfarrers, während dieser annahm, es handele sich um eine offene Situation. Dann aber ist zu fragen, ob die zugeschriebene Pfarrerrolle grundsätzlich offene Diskurse verhindert oder ob es im Einzelfall an der Art und Weise ihrer Wahrnehmung liegt, wenn Gesprächsteilnehmer die Einschätzung des Pfarrers, es handle sich um eine offene Situation, nicht nachvollziehen können. Träfe die erste Vermutung zu, dann wäre die Pfarrerrolle grundsätzlich neu zu bestimmen, wenn es offene Diskurse in der Gemeinde geben soll. Ist indes die zweite Annahme richtig, dann könnte kontrollierte Selbsterfahrung dem Pfarrer helfen, die Art und Weise seiner Selbstrepräsentation besser kennenzulernen und künftig auf eine Weise zu agieren, die anderen Gesprächsteilnehmern mehr Möglichkeiten läßt, sich strategisch am Diskurs zu beteiligen. Der in der kurzen Mitteilung geschilderte »Fall lässt sich ohne zusätzliche [zu-sätzliche]
106
Ernst Lange, Chancen des Alltags. Überlegungen zur Funktion christlichen Gottesdienstes in der Gegenwart, Stuttgart/Geinhausen 1972, 295-300 107 Mitteilung von Matthias Flothow an den Verfasser
100
Information nicht abschließend beurteilen. Er sollte hier nur dazu dienen, die Komplexität der Handlungs- und Deutungsebenen zu erfassen, die unter dem Gesichtspunkt der Personalstruktur der Gemeinde zu berücksichtigen sind. 7.1 Religiöse Berufsrollen und religiöse Freizeitrollen Für die Untersuchung der Bedingungen der Kommunikation zwischen den Gemeindegliedern ohne besonderen Auftrag einerseits und dem »Personal« der Gemeinde andererseits ist die Unterscheidung zwischen religiösen Berufsrollen und religiösen Freizeitrollen, auf die zu Beginn des Kapitels bereits hingewiesen wurde108 , erneut aufzunehmen. Eine erste Beobachtung zeigt, daß diese Unterscheidung bei den verschiedenen Strukturtypen der Gemeinde auf jeweils besondere Weise berücksichtigt wird. Für die verwaltungsorientierte Gemeinde kommt diese Problematik kaum in den Blick. In diesem Fall wird vorausgesetzt, daß die Gemeindeglieder als Adressaten der Tätigkeit der Inhaber von religiösen Berufsrollen in ihrer Freizeit an Gottesdiensten, Amtshandlungen und Gemeindeveranstaltungen teilnehmen. Es wird von den Gemeindegliedern nicht erwartet, daß sie die Gemeindepraxis aktiv mitgestalten. Die Ehrenämter werden häufig von Pensionisten bzw. Rentnern übernommen, die nicht mehr durch berufliche Pflichten festgelegt sind. Dagegen ist für die organisationsorientierte Gemeinde das Verhältnis von religiösen Berufsrollen und religiösen Freizeitrollen problematisch. Denn die Beantwortung der Frage, welche Gemeindeglieder unter welchen Bedingungen an welchen Angeboten wenigstens taktisch beteiligt werden können, muß berücksichtigen, wieviel disponible Handlungszeit den einzelnen Gemeindegliedern jeweils zur Verfügung steht. Das hat Folgen für die Art der zu organisierenden Projekte. So lassen sich relativ leicht Gruppen von Hausfrauen bilden, in denen Erziehungsprobleme besprochen werden, wenn die Mitglieder dieser Gruppe keiner bezahlten Berufstätigkeit nachgehen und ihre Kinder im Kindergarten untergebracht sind bzw. die Schule besuchen. Viel schwieriger wird dies, wenn sich ein Arbeitskreis von Spezialisten, Angehörige verschiedener Berufe, regelmäßig treffen will, um z.B. über Probleme der Umweltethik nachzudenken. Da es in organisationsorientierten Gemeinden vor allem darum geht, Projekte für andere arbeitsteilig zu organisieren, müssen die Gemeindeglieder, die sich daran beteiligen wollen, nicht nur genügend Zeit dafür haben, sondern [son-dern]
108
Vgl. S. 59f (Ms 55)
101
auch Fähigkeiten mitbringen, die bei der Entwicklung solcher Projekte gebraucht werden. Das kann dazu führen, daß die Gemeindeglieder, die diese Fähigkeiten besitzen, aber wenig freie Zeit haben, überbeansprucht werden, während andere zwar genügend Zeit haben, jedoch keine Kenntnisse und Fähigkeiten besitzen, die sie zur Mitarbeit an vorgegebenen Projekten qualifizieren. Dieser Mangel an qualifizierten freiwilligen Mitarbeitern in der organisationsorientierten Gemeinde kann dann zu einer permanenten Überbeanspruchung der hauptberuflichen Mitarbeiter führen. Ihre Freizeit wird von der Wahrnehmung der Berufsrolle verschluckt. Die Zahl der Arbeitsstunden pro Woche geht nicht nur bei Pfarrern, sondern auch bei Jugendleitern und anderen hauptberuflichen Mitarbeitern solcher Gemeinden weit über die übliche 40 Stunden Woche hinaus. Auch in zeitlicher Hinsicht wird von ihnen die Erfüllung einer »Totalrolle« erwartet. (»Ein Christ ist immer im Dienst!«) Dies hat für die Mitarbeiter und ihre Familien belastende Konsequenzen. Die auf diese Weise entstehenden Konflikte sind in organisationsorientierten Gemeinden deshalb besonders schwer lösbar, weil sie sich den Strukturen der Leistungsgesellschaft anpaßt, ohne als religiöser Dienstleistungsbetrieb die in der Leistungsgesellschaft entwickelten Instrumente der Konfliktregelung wie Tarifverträge und Streikrecht übernehmen zu können. In der kommunikationsorientierten Gemeinde wird das gesellschaftlich bedingte Verhältnis von Arbeit und Freizeit weder ignoriert noch übernommen, sondern kritisch reflektiert. Indem nämlich der einzelne mit seinem Grundbedürfnis, als Subjekt anerkannt zu werden, als kritisches Prinzip der kommunikativen Gemeindepraxis gelten soll, werden sowohl verliehene Ämter wie fremdbestimmte Leistungen sekundär. Nicht das, was einer an Titeln oder Leistungen vorweisen kann, sondern daß er als Mensch das Recht hat, als Subjekt anerkannt zu werden, ist für die kommunikative Gemeindepraxis maßgebend. Weil ihm dieses Recht in der alltäglichen Praxis zwar formal zugesprochen, faktisch jedoch meist auf eine mehr oder weniger schmerzhafte Weise vorenthalten wird, soll die inhaltliche Geltung dieses Rechtes in der Gemeindepraxis wenigstens ansatzweise erfahren werden können. Der Versuch, die zuletzt genannte Forderung einzulösen, stößt auf eine Fülle schier unüberwindlicher Schwierigkeiten. Wie bereits öfter wird auch hier wieder ein Grundproblem kommunikativer Gemeindepraxis deutlich: wenn der einzelne als Subjekt anerkannt werden soll und wenn die Gemeindeglieder als anerkannte Subjekte in Beziehungen zueinander treten sollen, sind immer zugleich die gesellschaftlichen Bedingungen zu berücksichtigen, soweit sie für die Lebenswelt der an der Kommunikation Beteiligten relevant sind bzw. im Prozeß der Kommunikation relevant
102
109
werden. Im Zusammenhang der Bestimmung des Verhältnisses von religiöser Berufsrolle und religiöser Freizeitrolle wird das Verhältnis von Arbeit und Freizeit in der Gesellschaft für die kommunikationsorientierte Gemeinde relevant.109 Damit ist die Frage nach dem Sinn der Arbeit und ihrer Bedeutung für den einzelnen wie für die Gesellschaft untrennbar verbunden. Wenn es in der kommunikativen Gemeindepraxis um den Versuch einer Rekonstruktion der Lebenswelt in der Auseinandersetzung mit ihren Störungen durch die wuchernden gesellschaftlichen Großsysteme geht110 , dann sind derartig fundamentale Fragen wie die nach dem Sinn der Arbeit nicht nur zu diskutieren, sondern in gemeinsamer Praxis auch mögliche Antworten zu erproben. Der Begriff der »Eigenarbeit«111 könnte dazu dienen, die entsprechende Praxis von Projektgruppen in Kirchengemeinden112 zu reflektieren. Was ist mit »Eigenarbeit« gemeint? Sie ermöglicht als unbezahlte Tätigkeit im Unterschied zur bezahlten, lohnabhängigen Arbeit (»Lohnarbeit«) einen höheren Grad an Selbstbestimmung. Eigenarbeit ist aber keine Freizeitbeschäftigung, durch die physische Erholung von der Lohnarbeit und ein psychischer Ausgleich für die dort erfahrenen Versagungen erreicht werden sollen.113 Auf diese Weise ist Freizeit nur scheinbar Freiheit; faktisch macht sie die fremdbestimmte Lohnarbeit nur erträglicher. Als selbstbestimmte, produktive Tätigkeit versucht die Eigenarbeit den Zirkel von fremdbestimmter Lohnarbeit und einer auf sie bezogenen Freizeit zu überwinden. In der kommunikativen Gemeindepraxis könnten von daran Interessierten in gemeinsamer produktiver Eigenarbeit Projekte entwickelt werden, die möglicherweise über die Gemeinde hinaus anregend wirken. Als Beispiel nenne ich in diesem Zusammenhang Clubs von psychisch Kranken, die nach stationärer Behandlung in ihren Alltag zurückfinden sollen. Sie benötigen dazu Menschen, die sie bei diesem Versuch begleiten. Diese wiederum suchen sich therapeutisch ausgebildete Fachleute, die beratend mitarbeiten. Wenn die Initiative zur Bildung eines solchen Clubs nicht von den entlassenen Patienten ergriffen werden kann, was freilich der überzeugendste Ansatz wäre, dann käme es in diesem Fall entscheidend darauf
Jürgen Habermas, Soziologische Notizen zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit, 1958, in: Hermann Giesecke, Hg., Freizeit und Konsumerziehung, Göttingen 1968, 105-122 110 Vgl. S. 50 ff (Ms 46) 111 Christine und Ernst von Weizsäcker, Für ein Recht auf Eigenarbeit, in: Technologie und Politik 10. Die Zukunft der Arbeit, 2, Reinbek bei Hamburg 1978, 186ff 112 Dieter Emeis, aaO. 264f 113 Jürgen Habermas, aaO. 112-117
103
an, daß »Laien« versuchen, »Fachleute« zur Mitarbeit zu gewinnen und nicht, wie in den organisationsorientierten Gemeinden, die Projekte von professionellen Mitarbeitern vorgegeben und freiwillige Helfer an ihrer Durchführung taktisch beteiligt werden. Nehmen wir also für unser Beispiel an, daß »Laien« dieses Projekt anfangen. Sie werden, in Kommunikation mit den psychisch Kranken und den beratenden Therapeuten selber lernen, wie gestörte Formen der Kommunikation durch gelungenere Formen der Kommunikation zu überwinden sind. Die zur Mitarbeit an diesem Projekt notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten werden demnach nicht vorausgesetzt, sondern sie werden im Projekt selbst erworben. Obwohl nicht in der Produktion, sondern im Dienstleistungsbereich angesiedelt, wäre ein solches in Eigenarbeit entwickeltes Projekt produktiv, weil es konkrete »Hilfe zur Selbsthilfe« leistet, also eine Form diakonischer Gemeindepraxis darstellt und darüber hinaus dazu beitragen kann, daß Modelle offener Psychiatrie entwickelt werden, an denen es bisher weithin noch mangelt.114 7.2 Zur Problemgeschichte der Bestimmung des Verhältnisses von »Amt« und »Gemeinde« Die Versuche, das Verhältnis von Gemeindegliedern ohne besonderen Auftrag zu den hauptberuflich tätigen Gemeindegliedern In einer kommunikativen Gemeindepraxis neu zu bestimmen, stehen in einem problemgeschichtlichen Zusammenhang. Er soll deshalb in der gebotenen Kürze skizziert werden, weil der geschichtliche Rückblick dazu dienen kann, die Probleme gegenwärtiger Gemeindepraxis genauer zu erfassen. Unterbleibt ein solcher Rückblick, dann wirken geschichtlich entstandene Bestimmungen des Verhältnisses von Amt und Gemeinde in die gegenwärtige Praxis hinein weiter, ohne daß sie reflektiert und diskutiert werden können. Die Unterscheidung von religiösen Berufsrollen und religiösen Freizeitrollen auf soziologischer Ebene entspricht der theologischen Interpretation des Verhältnisses von »Amt« und »Gemeinde«. Die religiöse Berufsrolle ist die soziale Gestalt der Beauftragung zum ministerium ecclesiasticum. Gegenüber dem römisch-katholischen Amtsverständnis, das in der Priesterweihe begründet ist, hat die Reformation das ministerium ecclesiasticum als der ganzen Gemeinde aufgetragen betrachtet. Für die Personalstruktur der Gemeinde hatte die Wiederentdeckung des allgemeinen Priestertums keine
114
Bernhard Gramlich, Wir brauchen mehr gemeindenahe Psychiatrie, in: Radius 22 (1977), 2,39-44
104
durchschlagenden Konsequenzen, weil sie, wie Hermann Diem formuliert, in einer »polemischen Situation« erfolgte: »Sie ist einmal bestimmt durch die Ablehnung des römischen sacerdotiums und der darauf gebauten Hierarchie. Diese Ablehnung teilte sie zunächst mit dem Schwärmertum, gegen das sie sich freilich sehr bald energisch abgrenzen mußte. In diesem Zweifrontenkrieg kam sie mit ›rein‹ theologischen Gründen nicht durch, sondern mußte politisch-sozialen und staatskirchenrechtlichen Notwendigkeiten Rechnung tragen, wodurch sie zwangsläufig wieder in die Nähe der bisherigen Ordnung kam.« 115
Also nicht die Herausarbeitung der Bedeutung des allgemeinen Priestertums für die Personalstruktur christlicher Gemeinden, sondern der Versuch, das Verhältnis von Amt und Gemeinde zu bestimmen, setzt sich in der Folgezeit durch. Die Kontroverse, die darüber im Luthertum im 19. Jahrhundert geführt wurde, ist für die Problematik des Verhältnisses von Amt und Gemeinde in der Lutherischen Kirche bis in die Gegenwart hinein bestimmend geblieben. Ihre Exponenten waren Friedrich Julius Stahl und Johann Friedrich Wilhelm Höfling. Für Stahl ist das in Tod und Auferstehung Jesu Christi begründete Priestertum auf das eigene Heil der Christen bezogen, während das Amt als eigene göttliche Stiftung durch die Berufung und Sendung der Apostel eine »werkzeugliche Stellung für den Haushalt des Heils«116 hat. Höfling bestreitet diese Auffassung. Für ihn ist die Übertragung des öffentlichen Predigtamts als Beauftragung durch die Gemeinde vom allgemeinen Priestertum abgeleitet und hat diesem gegenüber keine besondere Qualität. Diese Kontroverse ist nicht abschließend ausgetragen worden. Es gelang nicht, das allgemeine Priestertum mit dem besonderen Amt auf eine überzeugende Weise zu verbinden. Ich stimme Hermann Diem zu, wenn er feststellt: »Was sich davon in's Kirchenrecht auswirkte, war nur der Rückgriff auf die Kirche als Anstalt, die der multitudo fidelium gegenüber die Gewähr für die Reinheit der Verkündigung und die Kontinuität des kirchlichen Lebens bieten soll. Was man dabei als ›Gemeinde‹ in die Kirchenverfassung einführte, hatte nichts mehr mit dem allgemeinen Priestertum zu tun, sondern war nur noch das genossenschaftlich sich organisierende ›Kirchenvolk‹ als Kontrahent des kirchlichen Amtes. Und die zur Handhabung dieses Verfassungsinstrumentes notwendige kirchenregimentliche Weisheit bestand - und besteht - darin, den Dualismus der beiden Strukturelemente, des anstaltlichen und des genossenschaftlichen ohne allzu große Erschütterung im Gleichgewicht zu halten, wobei es praktisch kaum einen Unterschied macht, ob das auf mehr episkopal-konsistoriale oder mehr presbytorial-synodale Weise geschieht.« 117
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Hermann Diem, Die Kirche und ihre Praxis, München 1963, 278 Friedrich Julius Stahl, Die Kirchenverfassung nach Lehre und Recht der Protestanten, 1840, 1862 2, 95, zitiert nach Hermann Diem, aaO. 275f 117 Hermann Diem, aaO. 277 116
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Für die Bestimmung des Verhältnisses von »Amt« und »Gemeinde« im gegenwärtigen Protestantismus ist die Auffassung Schleiermachers maßgebend geworden, auch da, wo man ihm sonst kritisch begegnet. Im 5 133 seiner Glaubenslehre heißt es: »Diejenigen Mitglieder der christlichen Gemeinschaft, welche sich überwiegend selbstthätig verhalten, verrichten durch Selbstmitteilung den Dienst am göttlichen Wort bei denen, die sich überwiegend empfänglich verhalten; welcher Dienst theils ein unbestimmter und zufälliger ist, theils ein förmlicher und geordneter.« 118
Einen qualitativen Unterschied zwischen den Selbsttätigen und den Empfangenden kennt Schleiermacher also nicht. Darauf weist bereits die Einschränkung »überwiegend« hin. Er sagt auch ausdrücklich, daß die evangelische Vorstellung von dem geordneten Dienst »... am sichersten darauf ruht, daß er in allem wesentlichen mit jedem allgemeineren und unbestimmten gleichartig ist«119 .
Aber selbst dann, wenn jene Ungleichheit in der Kirche gänzlich aufgehört hätte »... so bleibt doch immer in einem jeden Einzelnen eine solche Ungleichheit der Stimmung, daß er sich bald selbstthätig wirksam findet bald nur empfänglich angeregt.« 120*
D. h.: Gibt es auch keinen qualitativen Unterschied von selbsttätigen und empfangenden Christen, so ist doch der Unterschied von Selbsttätigkeit und Empfangen für die christliche Gemeinde konstitutiv. Auf den ersten Blick scheint hier eine überzeugende Lösung des Problems, wie sich allgemeines Priestertum und besonderes Amt zueinander verhalten, angebahnt zu sein. Bei näherem Zusehen stellen sich indes neue Fragen. Einmal ist auch bei Schleiermacher das Übergewicht der Selbsttätigen gegenüber den Empfangenden keineswegs überwunden. Rudolf Bohren121 hat unter Hinweis auf Schleiermachers »Kurze Darstellung des theologischen Studiums«122 plausibel gemacht, daß der Gegensatz zwischen den »Hervorragenden« und der »Masse«
118
Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhang dargestellt, Halle o.J., 183 02 , Teil 2, 293 f 119 AaO.296 120 AaO.294 * Reihenfolge von Fußnotenzeichen und Satzzeichen im Original anders: „... 120 .«“. 121 Rudolf Bohren, Daß Gott schön werde. Praktische Theologie als theologische Ästhetik, München 1975, 164-190 122 Friedrich Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Beruf einleitender Vorlesungen, 1810, 18302 , hg. von Heinrich Scholz, Hildesheim/New York 1969
106
»... in seiner Wirkung, anders vielleicht als in Schleiermachers Meinung und undialektisch – wie ich meine – die kirchliche Praxis bis zum heutigen Tage in weit stärkerem Maße bestimmt, als man gemeinhin annimmt.« 123*
Besonders die Idee des »Kirchenfürsten« unterstreicht bei Schleiermacher den Gegensatz von Klerus und Laien, der bei ihm zwar dialektisch überholt, doch nicht praktisch überwunden wird.124 In eine andere Richtung geht die Kritik von Hermann Diem an Schleiermacher. Er zitiert den § 133 der Glaubenslehre und kommentiert: »Damit soll der prinzipielle Unterschied zwischen dem öffentlichen Predigtamt und dem ›allgemeinen Priestertum‹ aufgehoben werden. Aber das geschieht nicht in der Weise, daß beide im selben Amt der Kirche rechtsverbindlich handeln. Vielmehr handelt umgekehrt keines von beiden im Amt der Kirche, da es dieses gar nicht mehr gibt.« 125
Aus der Kirche sei eine »freie Glaubens-, Gesinnungs- und Liebesgemeinschaft«126 geworden. Wie es zu einer durch das Recht Gottes konstituierten Kirche von dieser Position aus überhaupt noch kommen solle, sei nicht einsichtig. Das Gegenüber von kirchengründendem Wort und der dem Wort im Glauben antwortenden Gemeinde, das sich im Verhältnis von »Amt« und »Gemeinde« darstelle, ist nach Diem's Auffassung in Schleiermachers Konzept nivelliert worden. Die christliche Überlieferungsgeschichte begründet die aktuellen Erfahrungen christlicher Gemeinden. Wie dieser Sachverhalt in der Struktur der Gemeinde so zum Ausdruck kommt, daß hierarchische Strukturen in kommunikative Strukturen überführt werden, die allein dem allgemeinen Priestertum entsprechen würden, ist ein Grundproblem, das im ökumenischen Dialog weiterbearbeitet werden muß. Eine evtl. bilaterale Einigung von Luthertum und römischem Katholizismus auf die »episkopale Struktur« von Kirche und Gemeinde würde die Lösung dieses Problems eher behindern als fördern. 127 7.3 Der Pfarrer in der Schlüsselrolle 128 Es gehört zu den gesicherten Ergebnissen empirischer Analyse, daß den Pfarrern in den volkskirchlichen Gemeinden eine Schlüsselrolle zukommt.
123
Rudolf Bohren, aaO. 169 Reihenfolge von Fußnotenzeichen und Satzzeichen im Original anders: „... 123 .«“ 124 AaO.174 125 Hermann Diem, aaO. 318 126 Ebd. 127 Gemeinsame römisch-katholische/evangelisch-lutherische Kommission, Das geistliche Amt in der Kirche, Paderborn/Frankfurt 19822 128 Peter Krusche, Der Pfarrer in der Schlüsselrolle, in: Joachim Matthes (Hg.), Erneuerung der Kirche. Stabilität als Chance. Konsequenzen aus einer Umfrage, Geinhausen/Berlin 1975, 161-188 *
107
Die Frage ist, wie der Gemeindepfarrer mit dieser Rollenzuschreibung, nach der von ihm die kompetente Wahrnehmung der Letztverantwortung in der Gemeinde erwartet wird, umgeht. Das pastorale Grundmodell gilt als Legitimationstheorie der verwaltungsorientierten Gemeinde. Der Gemeindepfarrer ist faktisch auf seine Schlüsselrolle festgelegt, und die Theorie des pastoralen Grundmodells beseitigt jeden Zweifel daran, ob dies dem Wesen christlicher Gemeinde entspricht. Das hat Konsequenzen für die Gemeindestruktur der »überschaubaren Gemeinde«: »Als wünschenswerte Norm der überschaubaren Gemeinde hat die Pfarrei mit tausend Gemeindegliedern, einem Pfarrer und einem eigenen Gotteshaus zu gelten.« 129
In einer organisationsorientierten Gemeinde distanziert sich der Gemeindepfarrer teilweise von der Festlegung auf seine Schlüsselrolle. Zwar ist er auch in diesem Fall für alles in der Gemeinde verantwortlich, fühlt sich jedoch nicht in jeder Hinsicht kompetent. Die Delegation bestimmter Aufgaben an relativ selbständige einzelne Mitarbeiter der Gemeindegruppen gilt nicht nur als möglich, sondern ist aus organisatorischen Gründen sogar erwünscht. In relativer Distanz zu seiner Schlüsselrolle leitet der Gemeindepfarrer sowohl die Entscheidungsgremien wie die Gruppe der Mitarbeiter. Der Ausdifferenzierung einzelner Handlungsfelder entspricht die abgestufte Verantwortung der Mitarbeiter für einzelne Arbeitsbereiche gemäß ihrer Fachkompetenz. Geschäftsordnungen und die in ihnen festgelegten Verfahren dienen der Entscheidungsfindung, den Handlungsvollzügen und der Regelung von Konflikten. Die der organisationsorientierten Gemeindestruktur entsprechende Wahrnehmung der Schlüsselrolle fordert vom Gemeindepfarrer eine große Integrationsfähigkeit. In einer kommunikationsorientierten Gemeinde ist die Schlüsselrolle des Gemeindepfarrers in die kommunikative Struktur hinein aufgehoben. Diese Zielvorstellung wird durch einen bloßen Verzicht auf die Wahrnehmung der Schlüsselrolle durch den Gemeindepfarrer sicher nicht erreicht. Vielmehr müßte er seine Schlüsselrolle bewußt und überlegt mit dem Ziel einsetzen, kommunikative Gemeindestrukturen aufzubauen. Das erfordert vom Gemeindepfarrer eine ausgeprägte Fähigkeit der Selbstreflexion. Die überzeugende Wahrnehmung seiner Schlüsselrolle, um Prozesse besser gelingender Kommunikation in der Gemeinde in Gang zu bringen, steht immer in der Gefahr, alte Abhängigkeiten vom Pfarrer nicht hinreichend abzubauen und zusätzlich neue zu schaffen. Die Barrieren zwischen einer ver-
129
Hugo Schnell, Die überschaubare Gemeinde, Berlin/Hamburg 1962, 41
108
waltungsorientierten und einer kommunikationsorientierten Gemeinde sind so hoch, daß die Transformation vermutlich nur über die organisationsorientierte Gemeinde gelingen kann. Da organisationsorientierte Gemeinden, in denen der Pfarrer seine Schlüsselrolle so wahrnimmt, daß wenigstens eine taktische Beteiligung der Gemeindeglieder ermöglicht wird, empirisch nachgewiesen werden können, ist die Zielvorstellung kommunikationsorientierter Gemeinden, in der die Schlüsselrolle des Gemeindepfarrers in kommunikativen Strukturen strategischer Beteiligung aufgehoben ist, keine blanke Utopie. 7.4 Teampfarramt 130 Während der Pfarrer seine Schlüsselrolle in der hierarchischen Struktur verwaltungsorientierter Gemeinden unmittelbar und allein wahrnimmt, erfordert die organisationsorientierte Gemeinde eine funktionsgegliederte131 Tätigkeit ihrer Pfarrer. Dies sieht so aus, daß im Falle der Zusammenarbeit mehrerer Pfarrer in einer Gemeinde jeder von ihnen außer der Beteiligung am Predigtdienst und den Amtshandlungen sowie der Seelsorge in seinem Sprengel besondere Funktionen in einem bestimmten Arbeitsfeld, z.B. Konfirmandenunterricht, Diakonie oder Erwachsenenbildung für den gesamten Gemeindebereich übernimmt. Der Pfarrer ist dann Mitglied der für das jeweilige Praxisfeld zuständigen Mitarbeitergruppe; häufig führt er dort den Vorsitz. Für die Praxis der organisationsorientierten Gemeinde ist die wechselseitige Information aller Mitarbeiter eine unabdingbare Voraussetzung. Da sich die Schlüsselrolle der Pfarrer nicht nur in ihrem jeweiligen Sprengel, sondern auch auf der Gemeindeebene insgesamt bei der organisationsorientierten Gemeinde durchhält, ist es sinnvoll von einem Teampfarramt zu sprechen. Nach Anlaufschwierigkeiten konnten bisher vor allem zwei Vorzüge von Teampfarrämtern beobachtet werden: jeder der beteiligten Pfarrer kann neben der umfassenden Zuständigkeit
130
Jochen Muhs/Michael Rannenberg/Joachim B. Zierau, Teampfarramt in modernen Wohngetthos, Wuppertal 1972 Zur Problematik des Teampfarramts vgl. Niklas Luhmann, Die Organisierbarkeit von Religionen und Kirchen, in: Jakobus Wössner (Hg.), Religion im Umbruch, Stuttgart 1972, 268 ff. Das Teamprinzip sei dann undurchführbar, wenn es auf eine Beteiligung aller an allem hinauslaufe. Dies führe zu einer Verschärfung der Konflikte gegenüber dem segmentierten Zustand, in dem jeder seine Kanzel habe. Es sei in der Regel eine geringe Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft bei Ortsgeis tlichen festzustellen. 131 Yorick Spiegel, Kooperative und funktionsgegliederte Gemeindeleitung, in: WPKG 60 (1971), 162-167
109
im Bereich seines Sprengels eine spezielle Fachkompetenz seiner Wahl nicht nur entwickeln, sondern auch in der Praxis verwirklichen. Bei funktionierender wechselseitiger Information wird, das ist der zweite Vorzug, die Gemeindepraxis insgesamt effizienter. Bereits der Begriff »Teampfarramt« signalisiert aber auch eine Gefahr, die mit diesem Konzept verbunden sein kann. Das Team der Pfarrer entwickelt eine Eigendynamik, die geeignet ist, die Machtposition gegenüber den Gemeindegliedern im Unterschied zu dem einsam und einzeln ihre Gemeinde bzw. Sprengel verwaltenden Pfarrer noch weiter auszubauen. Zugleich wird das größer gewordene Gefälle zwischen Pfarrern und Gemeindegliedern funktional verkleidet. Gegenüber einer funktionierenden und effizienten Gemeindepraxis ist konstruktive Kritik von Seiten der Gemeindeglieder scheinbar unnötig und faktisch schwierig. Für die Selbstorganisation der religiösen Bedürfnisse132 von Gemeindegruppen bestehen in einem durch ein funktionsgegliedert arbeitendes Teampfarramt bestimmten organisationsorientierten Gemeinde nur geringe Chancen. 7.5 Gruppen-Gemeindeamt Dem Strukturtyp der kommunikationsorientierten Gemeinde wäre ein Gruppengemeindeamt angemessener als ein Teampfarramt. Unter »Gruppengemeindeamt« soll verstanden werden, eine Kooperative von hauptberuflichen Mitarbeitern unterschiedlicher Ausbildung (Theologie, Soziologie, Psychologie, Sozialpsychologie, Sozialpädagogik, Gemeinwesenarbeit etc.), die in einer größeren Gemeinde langfristig in dem Interesse zusammenarbeiten, Bedingungen für die strategische Beteiligung aller Gemeindeglieder an der Gemeindepraxis zu entwickeln. Das könnte dann gelingen, wenn sich die hauptberuflichen Mitarbeiter als Berater selbstorganisierter Gemeindegruppen begreifen und entsprechend handeln. Dieser im Kontext der Erfahrungen von Fortbildungsinstitutionen entwickelte Gedanke läßt sich indes kaum in die gemeindliche Praxis übertragen. Selbst wenn es da und dort gelungen ist, freiwerdende Pfarrstellen in größeren städtischen Gemeinden mit Psychologen, Pädagogen oder Gemeinwesenarbeitern zu besetzen, so wurde damit noch nicht erreicht, daß sich das aus Theologen und Nichttheologen zusammengesetzte Team als Gruppe von Beratern verstand und entsprechend von den Gemeindegliedern auch in Anspruch [An-spruch]
132
Gert Schneider, Grundbedürfnisse und Gemeindebildung. Soziale Aspekte für eine menschliche Kirche, München/Mainz 1982
110
genommen wurde. Falls die Kommunikation im Team glückte, wurde zwar die Dominanz der Theologen in der Regel zu Gunsten kommunikativer Teamstrukturen abgebaut. Bei den an verwaltungsorientierte, bestenfalls an organisationsorientierte Gemeindepraxis gewohnten Gemeindegliedern wurden jedoch Phänomene der Desorientierung sichtbar. Das hängt vermutlich damit zusammen, daß die dem Gemeindepfarrer zugeschriebene Schlüsselrolle zwar in die kommunikative Struktur des Teams hinein aufgehoben wurde, daß dies jedoch von den Gemeindegliedern weithin nicht nachvollzogen bzw. nicht gebilligt werden konnte. Das auf der Ebene zwischenmenschlicher Beziehungen langsam aufgebaute Vertrauen zum Gemeindepfarrer kann nicht einfach auf einen anderen kompetenten Fachmann übertragen werden. 133 Wer traditionelle Erwartungen an den Gemeindepfarrer richtet, der begegnet nun anstatt dem allzuständigen »Generalisten« einer Gruppe von Spezialisten. Wenn diese sich unter Handlungsdruck eher für den handlungsorientierten Funktionstyp der Gemeinden einsetzt, dann bleiben sowohl die Aufnahme der Bedürfnisse der Gemeindeglieder wie Prozesse ihrer Bewußtseinsbildung leicht auf der Strekke. 7.6 Basis-Gemeinden Neuerdings wird die Hoffnung auf strategische Beteiligung der Gemeindeglieder an der Gemeindepraxis häufig mit dem Begriff der »Basisgemeinde«134 verbunden. »Basis wird hier verstanden als konkrete Versammlung ›am Ort‹, in der sich der Selbstvollzug der Kirche ereignet, auch ›wenn sie oft klein und arm ist oder in der Zerstreuung lebt‹, wie ›Lumen Gentium‹ 26 aussagt; nicht im Sinne eines marxistischen Basisbegriffs, bei dem die Macht der Herrschenden von oben die Masse der Zukunft beraubt, sie in der Lage des bloßen Objekts hält und dies mit einer Ideologie rechtfertigt.« 135
Zur »Spitze« der Großkirche, repräsentiert durch das kirchliche Amt, steht die »Basis« in einem dialektischen Verhältnis: Ohne kirchliche Institution wäre eine chaotische Entwicklung der Basisgemeinden unvermeidbar; ohne Basisgemeinden wäre kein konkreter »Selbstvollzug der Kirche« (Karl Rahner) möglich.
133
Zum Problem der Überweisung an Therapeuten vgl. Howard J. Clinebell, Modelle beratender Seelsorge, 1966, dt. München/Mainz 1977, 176-190 134 Rafael Josef Kleiner, Basisgemeinden in der Kirche, Graz 1976 135 AaO.23
111
Etwas anders stellt sich das Verhältnis der »Basisgemeinde« zur herkömmlichen Parochie dar. Zwar werden spontane Basisgruppen gelegentlich als aktive Kerne in den Parochien definiert, als Tendenz gilt jedoch eher, daß sie sich selbst als Gemeinden in einem ökumenischen Sinne verstehen und nicht nur die Struktur der verwaltungsorientierten Parochie, sondern auch die Grenzen der Konfessionskirchen transzendieren. Der Begriff »Basisgemeinde« stammt aus der Diskussion im katholischen Bereich und es ist bemerkenswert, daß sich im Zusammenhang der Theorie der Basisgemeinden ein neues Verständnis des Verhältnisses von Großkirche und Einzelgemeinde anbahnt. Während bisher im Katholizismus die Parochie als kleinste Einheit der kirchlichen Institution begriffen wurde und dies, trotz des reformatorischen Neuansatzes, von Ausnahmen abgesehen, auch im Protestantismus weiterhin faktisch so blieb, konnte die latein-amerikanische Bischofskonferenz 1968 in Medellin formulieren: »Die christliche Basisgemeinde ist der primäre, grundlegende Kern der Kirche, der auf seiner Ebene die Verantwortung auf sich nehmen muß, für den Reichtum und die Ausbreitung des Glaubens sowie für den Kult, der ihn zum Ausdruck bringt. Sie ist infolgedessen die Initialzelle für die kirchliche Strukturierung, der Herd der Evangelisation und gegenwärtig der hauptsächliche Ausgangspunkt zur Hebung und Entwicklung des Menschen.« 136
Hier werden reformatorische Ansätze vom allgemeinen Priestertum aufgenommen und in Aussagen zur Struktur der Gemeinde umgesetzt. Der Begriff »Basisgemeinde« rückt in das Zentrum des ökumenischen Dialogs. Die Spannung, wenn nicht gar der Widerspruch, der in den Aussagen des Dokuments von Medellin zum Ausdruck kommenden Konzeption von christlicher Gemeinde als Kern christlicher Kirche zu den bikonfessionellen Erklärungen zum kirchlichen Amt137 ist unverkennbar. Zwar ist Theorie und Praxis von Basisgemeinden keineswegs auf den latein-amerikanischen Raum begrenzt, sondern in den verschiedensten Bereichen der Weltkirche aktuell. 138 Aber es ist genauer zu prüfen, was der Begriff »Basisgemeinde« für die Gemeinden im deutschen Sprachgebiet aussagt. Dazu gibt eine Äußerung des Bensberger-Kreises, in dem 1974 veröffentlichten Dokument: »Offene Gemeinde. Memorandum deutscher Katholiken« Anhaltspunkte: »Die Unterschiedlichkeit dieser Gruppen gehört mit zu ihrer Konstitution von unten her. Ihre gemeinsamen Zielvorstellungen suchen sie auf verschiedenen Wegen zu verwirklichen. Inspiration geben ihnen das Verhalten und das Wort Jesu. In der Gemeinschaft wird der Geist Jesu als Realität und Kraft erfahren, die Menschen und
136
Zitiert nach der Übersetzung bei Rafael Josef Kleiner, aaO. 27 Vgl. Anm. 127 138 Rafael Josef Kleiner, aaO. 26-29; 34-36 137
112
Gruppen verändert, so daß sie sich dem Nächsten und seiner Lebenswelt zuwenden. jeder trägt bei, was er kann und erhält dabei selbst neue Lebenschancen. Im Umgang miteinander äußert man frei seine Meinung, kommt zu gemeinsamer Willensbildung, lernt Konflikte austragen und den Glauben im politischen Engagement konkretisieren.« 139
Eine grundlegende Schwierigkeit, die Erfahrungen der lateinamerikanischen Basisgemeinden140 in die Gemeindepraxis unter den Bedingungen der Volkskirche in der Bundesrepublik Deutschland zu übertragen besteht darin, daß in Lateinamerika Unterprivilegierte und Diskriminierte die »Basis« bilden, während sich die vielfältigen Gemeindebildungen, die in der Bundesrepublik als »Basisgemeinden« bezeichnet werden, mit einem schmerzhaften Einwand auseinandersetzen müssen, den Hermann Pius Siller so wiedergibt: »Er lautet: ›Basis‹ benennt eine bestimmte Klassenzugehörigkeit im sozialen Konflikt. In diesem Konflikt stehen wir aber alle auf der anderen Seite, auf der Seite der Herrschenden und Ausbeuter. Als o nehmen wir diesen Begriff zu Unrecht in Anspruch.« 141
In seinem Bericht über die Basisgemeinde Frankfurt stellt sich Siller diesem Einwand auf überzeugende Weise. Er deutet zunächst an, daß der gegen den Begriff »Basisgemeinde« erhobene Einwand doch nur dann voll zutrifft, wenn die Befreiung von Hunger und die Befriedigung materieller Bedürfnisse auch schon die Befreiung von Erniedrigung und Herrschaft einschließt. Das aber sei nicht der Fall. je mehr sich die materiellen Standards von den elementaren Bedürfnissen abheben, desto nötiger werde es, »zur Wahrung des Systems die Steigerung der Bedürfnisse zu verwalten«142 . Die Herstellung und Befriedigung von Bedürfnissen werde so zum »sanften Instrument der Systemintegration«143 . Im Widerspruch zu solcher »Sozialtechnologie«, in der Menschen und Gruppen nur noch als austauschbare Elemente vorkämen, reklamiere die Kategorie »Basis« »die Würde der menschlichen Subjekte und deren Bedürfnisse«144 .
139
Zitiert nach Rafael Josef Kleiner, aaO. 29; vgl. Günter Hartmann, Christliche Basisgruppen und ihre befreiende Praxis. Erfahrungen im Nordosten Brasiliens, München/Mainz 1980 140 Leonhard Boff, Die Neuentdeckung der Kirche. Basisgemeinden in Lateinamerika, Mainz 1980 141 Hermann Pius Siller, Der Weg einer Gemeinde in der gesellschaftlichen und kirchlichen Situation der Bundesrepublik Deutschland. Die Basisgemeinde Frankfurt, in: Hubert Frankemö lle (Hg.), Kirche von unten. Alternative Gemeinden, München/Mainz 1981, 137 142 Ebd. 143 AaO. 138 144 Ebd.
113
145
»Basisgemeinde« wäre demnach zu begreifen als eine Gemeinde von Subjekten, die unter der Überfremdung ihrer Lebenswelt durch das gesellschaftliche System leiden und ihre christliche Praxis als Widerspruch gegen diese Überfremdung artikulieren. Diese Praxis vereinigt in der Basisgemeinde Frankfurt etwa 60 Christen aus verschiedenen Schichten der Bevölkerung. Der anschauliche Bericht von Hermann Pius Siller verschweigt nicht die Schwierigkeiten, die in der kommunikativen Gemeindepraxis dieser Basisgemeinde zu überwinden waren und noch zu überwinden sind. Die Stichworte »Sichaufrichten«, »Hinuntergehen« und »Sand aus den Augen wischen« reflektieren, wie sich diese Gruppe von Christen in ihrer Lage zu orientieren versuchte. Siller bezieht die Leitbegriffe Koinonia (Gemeinschaft), Diakonia (Dienst) und Martyria (Zeugnis), die in diesem Kapitel bei der Bestimmung der wünschenswerten Funktionen der Gemeindepraxis bereits eingeführt wurden145 , auf die gemeinsamen Anstrengungen der Basisgemeinde und ergänzt sie durch die Leitbegriffe Leiturgia (Gottesdienst) und Prophetie. Es ist sehr aufschlußreich, welche Verlegenheiten der Gemeindepraxis aufgedeckt und welche Möglichkeiten besser gelingender Gemeindepraxis entdeckt werden, wenn die eigenen Erfahrungen mit Hilfe dieser Leitbegriffe reflektiert werden. Auch die »Selbstverständigungen« über die Frage, ob und wie die Praxis der Basisgemeinde Frankfurt den Kennzeichen der wahren Kirche, den »notae ecclesiae« Einheit, Katholizität, Heiligkeit und Apostolozität entspricht, machen diesen Bericht zu einem lehrreichen Fallbeispiel. Ich bin auf diesen Bericht deshalb etwas ausführlicher eingegangen, weil er dazu geeignet ist, die in diesem Kapitel enthaltenen Erwägungen zur kommunikativen Gemeindepraxis auf die konkrete Praxis einer Basisgemeinde zu beziehen. Freilich stellt sich jetzt die Frage, ob sich unter den bei uns gegebenen Verhältnissen kommunikative Gemeindepraxis nicht doch nur in solchen Gemeinden verwirklichen läßt, die, wie im Falle der Basisgemeinde Frankfurt, aus einer Personalgemeinde, der Katholischen Studentengemeinde, entstanden sind, kaum aber unter den Bedingungen einer Parochie. Mit dieser Frage setzt sich Heinz-Manfred Schulz auseinander.146 Er berichtet am Beispiel der territorialen Gemeinde Eschborn von den Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Basisgemeinde unter den Bedingungen einer Parochie. Es sei ein schwieriges Projekt, aus einer Territorialpfarrei zu einer Art Basisgemeinde zu werden.
Vgl. den Abschnitt 3.2 dieses Kapitels Heinz-Manfred Schulz, Die territoriale Gemeinde als Basisgemeinde. Zum Beispiel: Eschborn, in: Hubert Frankemölle (Hg.), aaO. 111 – 121 146
114
»Sicher überkommt diesen oder jenen bei dem Versuch manchmal die Versuchung, lieber mit Gleichgesinnten eine Gemeinde zu bilden, um noch reicher das erleben zu können, was das Evangelium verspricht und fordert. Aber was geschieht mit den anderen? Ging Jesus nur mit Gleichgesinnten um? Ich respektiere jeden, der sich persönlich für den Weg einer Personalgemeinde entscheidet oder für eine noch intensivere Gemeindeform wie etwa die der Integrierten Gemeinde. Aber wir brauchen auch die verstärkten Bemühungen, Territorialgemeinden für die Ziele einer Basisgemeinde zu öffnen. Viele Menschen haben ja doch immer noch vorzüglich oder gar nur am Wohnort Kontakt zur Kirche. Wir dürfen sie nicht aufgeben; denn Kirche ist für alle da. Wir dürfen die Schwerfälligkeit des Projektes Territorialgemeinde als Basisgemeinde nicht scheuen. Schließlich haben viele Menschen durch Kirche eine andere Prägung erfahren oder sind an Kirche gescheitert. Es wäre doch lieblos, sie deshalb nun gewissermaßen abzuschreiben. Und ich bin auch fest davon überzeugt, daß in jeder Gemeinde genügend Kräfte für eine Erneuerung geweckt werden können.« 147
Es mag nachdenklich stimmen, daß die meisten Berichte über Basisgemeinden aus dem katholischen Bereich stammen. Dort hat der Begriff »Basisgemeinde« eine ungleich größere Bedeutung als im Protestantismus. Das ist gewiß einmal darauf zurückzuführen, daß der ursprüngliche »Sitz im Leben« der Basisgemeinde der lateinamerikanische Katholizismus ist. Das »Evangelium der Bauern von Solentiname«148 wird fast immer erwähnt, wenn von Basisgemeinden die Rede ist. Dazu kommt, daß im Katholizismus der Bundesrepublik Deutschland die verwaltungsorientierte Pfarrgemeinde als kleinste kirchliche Einheit noch immer viel bestimmender ist als in den evangelischen Landeskirchen. Während hier der organisationsorientierten Gemeinde viele Möglichkeiten offenstehen, die in den letzten Jahrzehnten auch von seiten der Landeskirchen gefördert wurden, entstand unter Katholiken, die sich nicht mit dem Status des Kirchenvolkes abfinden, sondern als Gemeinde leben wollten, wohl ein größerer Leidensdruck, der dann die Entwicklung vieler Gemeindeprojekte gefördert hat, die sich, trotz erheblicher Unterschiede, dem Begriff der »Basisgemeinde« zuordnen lassen. In gewisser Weise vergleichbar damit sind im Protestantismus jene Versuche, damit ernst zu machen, daß die Basis volkskirchlicher Gemeinden jene Kirchenmitglieder bilden, die mit dem keineswegs mehr trennscharfen Begriff der »Arbeiter« bezeichnet werden. Wer sich, wie z. B. Michael Schibilsky im Ruhrgebiet149 , dafür einsetzt, daß die Volkskirche in ihrer Gemeindepraxis nicht bleibt, was sie weithin ist,
147
AaO. 112 Das Evangelium der Bauern von Solentiname. Gespräche über das Leben Jesu in Lateinamerika. Aufgezeichnet von Ernesto Cardenal, Wuppertal 19812 149 Michael Schibilsky, Evangelische Kirche im Ruhrgebiet. Erfahrungstheologis che Gesichtspunkte und religionssoziologische Aspekte, in: Hubert Frankemölle (Hg.), aaO. 140-174 148
115
nämlich »Bürgerkirche«, sondern zugleich zur »Arbeiterkirche« wird, um erst so »Kirche des Volkes« zu sein, begreift zu Recht seine Versuche im Zusammenhang von Basisgemeinden, die in der jeweiligen Situation kommunikative Gemeindepraxis verwirklichen wollen.
117
III. GEMEINDE ALS PROZESS
Christliche Gemeinden leben im Prozeß historischer Veränderung ihre eigene Geschichte im Schnittfeld von System und Lebenswelt. Auf diesen Sachverhalt sind wir bei der Analyse der Funktionen und Strukturen der Gemeinde bereits verschiedentlich gestoßen. Insofern sind die folgenden Überlegungen bei der Reflexion der Gemeindepraxis immer vorauszusetzen. Der Versuch, die verschiedenen Funktionstypen der Gemeinde zu integrieren1 , hat selbst Prozeßcharakter: Vom Entdecken der Grundbedürfnisse der Gemeindeglieder über ihre Begründung bis hin zu ihrer Realisierung legen die daran Beteiligten einen gemeinsamen Weg zurück, der nie an sein Ende kommen kann, wenn das Kriterium »Gemeinde der Befreiten« gilt. Dieses Kriterium ist in zwei Richtungen zu interpretieren, die mit den Metaphern »Leib Christi« 2 und »wanderndes Gottesvolk«3 gekennzeichnet werden können. Dabei vermag die paulinische Metapher »Leib Christi*« Funktion und Struktur der Gemeinde kritisch zu interpretieren, während die Rede vom »wandernden Gottesvolk« auf die Existenzform der Gemeinde in der Zeit aufmerksam macht.4 Mit der Überschrift dieses Kapitels »Gemeinde als Prozeß« soll festgestellt werden, daß die jeweilige Gemeindepraxis als ein Moment in einem geschichtlichen Prozeß zu begreifen ist. Von dem Kriterium »Gemeinde der Befreiten« aus geurteilt, ist die Geschichte christlicher Gemeinden im Kontext historisch-gesellschaftlich vermittelter Bedingungen nicht als bewußtloser Progreß, sondern als ein Prozeß zu begreifen, an dem die Gemeindeglieder als Subjekte beteiligt sind und für den sie deshalb auch im Rahmen der ihnen erreichbaren Möglichkeiten verantwortlich sind. Das wird in dem Maße der Fall sein, in dem es ihnen gelingt, die kommunikativen Ansätze in
1
Vgl. Kap. II, 6.4 in diesem Band Gert Schneider, Grundbedürfnisse und Gemeindebildung. Soziale Aspekte für eine menschliche Kirche, München/Mainz 1982, 25-28 3 Ernst Käsemann, Das wandernde Gottesvolk, München 1957 »Daß man das ευαγγελιον auf Erden nur als επαγγελια hat, ist für unseren Text grundlegende Voraussetzung. Daraus ergibt sich aber, daß die dem Offenbarungsempfänger gemäße Existenzform in der Zeit einzig die Wanderschaft sein kann.« (6) 4 Die Metapher »Volk Gottes« weist nicht nur auf die in die Zukunft hinein offene irdische Wanderschaft der Gemeinde hin, sondern stellt zugleich, in der Dialektik von Kontinuität und Diskontinuität, die Verbindung mit dem Judentum her. (Rudolf Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 1948, 116f) 2
118
5
der Gemeindepraxis gegenüber den zwar notwendigen, aber häufig dominanten Verwaltungs- und Organisationsaufgaben zu stärken. Gemeint sind damit nicht jene Formen der Kommunikation, die als Kennzeichen einer Gemeinschaftsideologie mit dem Beteiligungstyp der »Gleichbestimmung«5 zutreffend charakterisiert wurden. Gegenüber solchen Gesinnungsgemeinschaften, die sich in den Gemeinden mit sehr verschiedenen Zielen als Gebetskreise, Freundesgruppen, Clubs oder auch Friedensinitiativen bilden können, sind Formen einer Kommunikation zu entwickeln, denen das Prädikat »strategische Beteiligung«6 rechtens zukommt, weil nur unter dieser Bedingung wechselseitige Kommunikation möglich wird. In diesen Formen der Kommunikation ist der Prozeß Gemeinde als ein Aushandlungsprozeß der Grundbedürfnisse der Gemeindeglieder zu begreifen. Konstituiert wird er durch die Elemente des Entdeckens dieser Grundbedürfnisse, ihrer Begründung in einem offenen Diskurs und ihrer Realisierung durch regelgeleitete Verfahren. Die Bedingungen, unter denen dieser Aushandlungsprozeß stattfindet, sind historisch-gesellschaftlich vermittelt. Vermeintliche »Nullpunkte« nach großen Umbrüchen etwa 1848, 1918, 1933 oder 1945 haben sich hinterher stets als Fehleinschätzungen entlarvt. Unabgetragene Hypotheken, z.B. das Mißverhältnis der kirchlichen Institution zur Arbeiterschaft, belasten auf unterschiedliche Weise auch die Geschichte von Einzelgemeinden. In dieser haben, mehr wohl in römisch-katholischen und lutherischen, als in reformierten und freikirchlichen Gemeinden, meist die jeweiligen Pfarrer die kräftigsten Spuren hinterlassen. Ganze Gruppen von Gemeindegliedern bleiben lange Zeit noch auf »ihren« Pfarrer fixiert und messen jeden Nachfolger bzw. jede Nachfolgerin an den an jenem gewonnenen Vorstellungen von einem »guten« Pfarrer. Der Versuchung, sich durch den Bau von Kirchen, Gemeindehäusern und Kindergärten oder auch durch die Gründung von diakonischen Einrichtungen Denkmäler zu setzen, ist nicht jeder Gemeindepfarrer gewachsen. Die Geschichte vieler Gemeinden ist durch ihre Pfarrer bestimmt worden, vor allem von denen, die eine längere Zeit an einem Ort wirkten. Das muß keineswegs grundsätzlich negativ beurteilt werden. Die Frage ist nur, ob die pfarrherrlichen Interessen unter voller Ausnutzung der Amtsvorgabe durchgesetzt wurden oder ob es der Pfarrer bzw. die Pfarrerin verstanden haben, ihre Schlüsselrolle so wahrzunehmen, daß sich in dem Aushandlungsprozeß verallgemeinerungsfähige Interessen von Gemeindegliedern durchgesetzt und Gestalt gewonnen haben.
Klaus Mollenhauer/Gerda Kasakos/Hedwig Ortmann/Ulrich Bathke, Evangelische Ju gendarbeit in Deutschland. Materialien und Analysen, München 1969, 209-218 6 AaO.189-199
119 1. Wie wir wurden, was wir bewußtseinsmäßig und strukturell sind In der gegenwärtigen Diskussion Volkskirche versus Gemeindekirche7 kommt eine Problemlage zum Ausdruck, die für die Beurteilung der Möglichkeiten und Grenzen der gegenwärtigen Praxis von Kirchengemeinden von höchstem Belang ist. Die Kontroverse läßt sich zugespitzt in folgende Frage fassen: Handelt es sich bei Kirchengemeinden um die untersten Verwaltungseinheiten des volkskirchlichen Systems oder sind sie als autonome »Basisgemeinden« zu begreifen? Beide Behauptungen lassen sich plausibel begründen. Prüft man die entsprechenden Argumente, so entsteht der Eindruck, daß die erste Auffassung eher ein Sein, die zweite vorrangig ein Sollen beschreibt. Denn die Forderung nach Basisgemeinden tritt als ein Postulat gegen die herrschende Form von Gemeinde auf ' das entweder aus biblischen Aussagen über christliche Gemeinden abgeleitet oder aus den Erfahrungen von Basisgemeinden, vornehmlich aus dem südamerikanischen Bereich gewonnen wird; beide Ableitungsreihen können auch kombiniert werden. Die so aufgemachte Alternative sollte bereits durch meine These von der Gemeinde als dem kritischen Prinzip der offenen Volkskirche8 auf eine Weise überwunden werden, die sich nicht mit der Addition widersprüchlicher Elemente begnügt und eine erschlichene Synthese vermeiden möchte. Die Ortsgemeinde ist die lokale Repräsentation9 der Großkirchen in der Bundesrepublik Deutschland und zugleich in ihrer kommunikativen Struktur kritisches Prinzip der großkirchlichen Organisation. In welch unterschiedlichem Sinne die großkirchliche Organisation als »Volkskirche« bezeichnet wurde, zeigt schon ein kurzer Blick in die Geschichte dieses Begriffs. Friedrich Schleiermacher gebrauchte bereits 1822 den Begriff »Volkskirche« und zwar als Kritik am Staatskirchentum. »Gegenüber dem obrigkeitlich verwalteten Christentum der Preußischen Union und der sich in dessen Gefolge herausbildenden hierarchischen Struktur der Pastorenkirche forderte er eine Bekenntnis - und Kultusfreiheit gewährende Volkskirche mit einer synodalen Verfassung.« 10
7
Norbert Mette, Volkskirche. Eine Problemanzeige, in: StdZ 195 (1977), 191-205 Christof Bäumler, Gemeinde als kritisches Prinzip einer offenen Volkskirche, in: Gotthold Müller (Hg.), Rechtfertigung - Realismus - Universalismus in biblischer [im Orig.: biblicher] Sicht. Festschrift für Adolf Köberle, Darmstadt 1978, 246-266 9 Heinz-Dietrich Wendland, Die Parochie als lokale Repräsentation der Volkskirche, in: ThPr 9 (1974), 265-277 10 Norbert Mette, aaO. 192 8
120
Schleiermachers Volkskirche tendierte zur Menschheitskirche. Da die absolute Gesellschaft der Menschheit nicht darstellbar ist, war für ihn die Volkskirche »freie Kirche als Zusammenfassung der mannigfachen Kirchengemeinden zur geistigen Einheit für den Abschnitt Volk innerhalb der Menschheit«11 .
Prinzip der Volkskirche ist hier die Ökumene.12 In einem ganz anderen Sinne als Schleiermacher begriff Johann Hinrich Wichern einige Jahrzehnte später die Volkskirche als »Kirche für das Volk«. Als Volkskirche habe die Kirche in alle Teile des Volkes helfend und rettend einzudringen. Das Grundmodell war die religiös und sozial gesunde Familie, nach deren Muster die Volkskirche gedacht war, gewissermaßen als die Innenseite des Staates.13 Weder Schleiermachers noch Wicherns Konzeption der Volkskirche konnten sich angesichts der vorherrschenden politisch-gesellschaftlichen Tendenzen ihrer Zeit durchsetzen. Auch die Erklärung der Offenbacher Protestanten vom 18. Januar 1846, abgegeben ohne gesamtkirchlichen Rückhalt, ist so eine bloße Episode ohne Auswirkungen geblieben: das allgemeine Priestertum, ihr Horizont
11
Theodor Strohm, Hat die Volkskirche eine Zukunft?, in: ThPr 9 (1974), 256 Alfred Adam zeichnet den Begriff »Volkskirche« in den Kontext von Schleiermachers Ekklesiologie ein: »Die Familie ist und bleibt die wahre Kirche Schleiermachers. Aber zwischen dieser vollendeten Organisation des Menschentums und der in Unbestimmtheit schwebenden Menschheit sieht er Mittelglieder, Ruheplätze auf dem Wege zum Universum, deren Verbundenheit mit bestimmten Ideen ihr Leben ausmacht« (Alfred Adam, Nationalkirche und Volkskirche im deutschen Protestantismus, Göttingen 1938, 101). Insofern stehe der Begriff der Volkskirche nicht im Mittelpunkt der Gedanken Schleiermachers, »... sondern bezeichnet eine am Rande des Systems liegende Sondergestaltung der Kirche in ihrer geschichtlichen Daseinsweise« (aaO. 103). Geprägt wurde der Begriff »Volkskirche« von Schleiermacher im Zuge seiner Auseinandersetzung mit der preußischen Union, in der er sich, ohne Erfolg, für die Einführung einer Presbyterial- und Synodalordnung gegen die von ihm als rückständig abgelehnte Episkopalverfassung einsetzte, geleitet von dem Interesse, daß das Kirchenvolk frei von staatskirchlicher Beeinflussung werden sollte (aaO. 105). Zutreffend ist sicher die Feststellung Adams, Schleiermachers Gedanke der Volkskirche erinnere, der Herkunft seines Autors entsprechend, »... an die reformierte Organisation in selbständigen Gemeinden und frei verbindenden Synoden sowie an den sozialen Aufbau der Brüderkirche« (aaO. 105). Indes hat die von Rudolf Bohren geäußerte Vermutung, daß Schleiermachers Gedanke vom Unterschied, ja Gegensatz zwischen den Hervorragenden und der Masse, den Geistlichen und den Laien, auf eine undialektische, von Schleiermacher so nicht beabsichtigte Weise beeinflußt habe, viel für sich. (Rudolf Bohren, Daß Gott schön werde. Praktische Theologie als theologische Ästhetik, München 1975, 168f.) Trifft dies zu, dann wäre die Wirkungslosigkeit des kritischen Elementes in Schleiermachers Begriff der Volkskirche auch von den unaufgehobenen Widersprüchen in Schleiermachers theologischem Denken selbst wenigstens mitbedingt. Vgl. Kap. II, S. 105 f 13 Theodor Strohm, aaO. 258 12
121
»Nach gewissenhafter Erklärung der Zeitumstände sind wir unterzeichnete Mitglieder der hiesigen evangelischen Gemeinden entschlossen, uns an der Erneuerung der Evangelischen Kirche, an der Fortsetzung der Reformation des 16. sec. zu beteiligen. Wir hoffen, dadurch im Bruderbunde mit Gleichgesinnten aus allen Konfessionen, und namentlich mit den Katholiken deutschen Bekenntnisses, zu dem Baue einer von der Weltkirche umschlossenen deutschen Volkskirche zu wirken.« 14
Wicherns Programm einer Sozialgestaltung des christlichen Volkes durch die Volkskirche als »Kirche für das Volk« scheiterte letztlich daran, daß die christlich-soziale Volkskirche im Zuge ihrer Verwirklichung beide, Staat und Kirche, in sich hätte aufsaugen müssen. »Die Volkskirche wäre die Innenseite des Volkes geworden, das Volk hätte in seiner Kirche die totale Organisation seines Lebens erhalten.« 15
Als sich die Diskussion um die Volkskirche 1918 nach dem Ende des landesherrlichen Kirchenregiments neu belebte, und der Begriff Volkskirche Aufnahme in die Verfassungen von acht Landeskirchen fand16 , konnte weder an Schleiermacher noch an Wichern angeknüpft werden. Zwar versuchte Martin Rade 1918 das allgemeine Priestertum der Gläubigen als Strukturprinzip der Kirche erneut zur Geltung zu bringen17 : »Das Recht zu taufen, zu trauen, zu begraben, zu predigen, Seelsorge zu üben und das Herrenmahl auszuteilen soll jedem evangelischen Christen frei sein.« 18
Aber die Stürme der Zeit scheinen die aus dem Zwangsstaatskirchensystem entlassenen Landeskirchen nur als fest organisierte, öffentlich-rechtliche Körperschaften zu überleben. Die von Ideologie nicht freie Theorie dazu lieferte dann Otto Dibellus19 : »Was ist eine Kirche? Sie ist ein Organismus, der als eine in sich selbständige Form religiösen Lebens eine Gesamtheit von Menschen umfassen will, ein Organis -mus, [Organis -mus]
14
Zitiert aaO. 257 AaO. 258 16 Alfred Adam, Nationalkirche und Volkskirche im deutschen Protestantismus, Göttingen 1938, 169. Es handelte sich um die Landeskirchen in Nassau, Anhalt, Thüringen, Bremen, Lübeck, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und Waldeck. Alfred Adam schließt die Schilderung der Schwierigkeiten, mit dem Begriff »Volkskirche« in den Verfassungen zurechtzukommen, mit folgenden Sätzen ab: »Das eine ist klar: Die Volkskirche, wie sie die liberale Linke auf Grund ihrer Herkunft aus der Aufklärung zu verstehen gezwungen war, mußte bekenntnisfeindlich sein; der Einbau des volkskirchlichen Gedankens in die Kirchenverfassungen hat die Bekenntnisgebundenheit der betroffenen Landeskirchen an der Wurzel verletzt. Die Geschichte gerade dieser Kirchen seit jenen Tagen kann den Betrachter sehr nachdenklich stimmen« (aaO. 174). 17 Martin Rade, Das königliche Priestertum der Gläubigen und seine Forderung an die evangelische Kirche unserer Zeit, Tübingen 1918 18 AaO. 16 19 Otto Dibelius, Das Jahrhundert der Kirche, Berlin 1927 15
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der sich auf ein Bekenntnis und auf einen Kultus gründet, dessen Einheit und Tradition sich zusammenfassen in einem bischöflichen Amt.« 20
In diese Kirche werden die Menschen hineingeboren; sie muß »Heimat für den ganzen Menschen und für sein gesamtes Leben«21 sein. Sie umfaßt alle, die sich nicht ausdrücklich von ihr scheiden. Ihr Verhältnis zum Staat beschreibt Dibelius so: »Das Leben der Nation soll unter einheitlichen Normen stehen. Die Kirche wird daher immer versuchen, ihre Anschauungen auch im staatlichen Leben durchzusetzen. Aber sie wird sich nur orientieren an dem in Gott gebundenen Gewissen, nicht an Beschlüssen von Parlamenten. Das gibt ihr das Recht und die Pflicht, das Gewissen des Staates zu sein.« 22
Hier zeigt sich, daß die Kirche als Körperschaft des Öffentlichen Rechts durch die Theorie von der Kirche als einer eigenen Lebensform, die zugleich Anspruch auf das Volk erhebt, legitimiert wird. Die Realität entsprach freilich eher den folgenden Sätzen Adolf von Harnacks: »Wir deutschen Lutheraner und Unierten sind eine Pastoren- und Theologenkirche, d. h. eine Kirche, in welcher die Laien alle Aktionen kirchlicher Art schließlich doch nur von den Pastoren und Theologen erwarten und ihre kirchlich-evangelische Freiheit eben darin erkennen, daß sie mit der Kirche nichts zu tun haben brauchen. Der der Kirche wohlwollende deutsche evangelische Laie – es sind 90 bis 95% – bewährt in der Hochschätzung der Taufe, des Religionsunterrichts seiner Kinder, der Konfirmation, der Trauung, des kirchlichen Begräbnisses und im Besuche von 1 bis 3 Gottesdiensten im Jahr seine Kirchlichkeit. Abgesehen davon empfindet er sich als freier Christ, der seinen Weg und seine Erbauung selbst suchen muß und sich von der kirchlichen Überlieferung so viel oder so wenig aneignet, als ihm zusagt.« 23
In einem Punkt stimmen diese sicher weithin zutreffenden Einschätzungen der kirchlichen Wirklichkeit mit der Theorie von der Kirche als einer eigenen Lebensform, die Anspruch auf das ganze Volk erhebt, überein: dem kirchlichen Amt wird nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch eine
20
AaO.97 AaO. 87 22 AaO.98 23 Adolf von Harnack, Aus Wissenschaft und Leben 2, 146 f, zitiert bei Martin Rade, aaO. 14f und bei Theodor Strohm, aaO. 259 Der in dem Zitat von Harnack zum Ausdruck kommende Sachverhalt ist nach der wohl zutreffenden Auffassung Martin Rades das Ergebnis einer historischen Entwicklung: »Statt daß die Befreiung zum königlichen Priestertum alle Gemeindeglieder zu kirchlichpriesterlichem Handeln geführt hätte, diente sie 1. auf dem Umwege über Wahl und Vokation zur Aufrichtung des Privilegiums der Pastoren in der Gemeinde, und 2. durch die religiöse Verklärung des Berufs und des gesamten profanen Daseins zur Entwöhnung der Nichtpastoren von der Teilnahme am kirchlichen Handeln« (ebd.). 21
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zentrale Funktion zugesprochen, die nicht von der Gemeinde, sondern von den Pastoren wahrgenommen wird. Während sich der Begriff »Volkskirche« von den Deutschen Christen für ihre Verbindung von Religion und Volkstum verwenden ließ, sind die Thesen der Barmer-Bekenntnissynode von 1934 der Konzeption einer Gemeindekirche verpflichtet. »Die Kirche ist die Gemeinde von Brüdern, sie ist Gemeindekirche. Die Kirche ist keine Amtskirche, sondern eine Kirche, in der die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten Dienstes wahrgenommen wird in der Weise, daß innerhalb der verschiedenen Ämter keine Rangfolge, keine Hierarchie, keine Herrschaft entsteht. Die Kirche ist als Gemeindekirche insofern Volkskirche, als sie an Christi Statt die Botschaft von der freien Gnade Gottes auszurichten hat ›an alles Volk‹ (These 6).« 24
Dieser Blick auf die Problemgeschichte des Begriffes »Volkskirche« zeigt, daß seine Definition immer bezogen auf die gesamtgesellschaftliche Lage erfolgte. So protestiert Schleiermacher mit seiner Interpretation des Begriffes Volkskirche gegen restaurative Tendenzen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die im Staatskirchentum preußischer Observanz zum Ausdruck kamen. Wicherns Plädoyer für eine Volkskirche, die der Rettung des heillosen Volkes dienen soll, ist als Antithese gegen die Forderung nach einer revolutionären Veränderung der frühkapitalistischen Klassengesellschaft zu begreifen. Otto Dibelius rief das »Jahrhundert der Kirche« aus, als in der Sicht der überwiegenden Mehrheit der Protestanten das Staatsgefüge der konstitutionellen Monarchie zerstört war, und die Kirche sich als eigenständiger Organismus ausbilden mußte, verbunden mit dem Anspruch, das Gewissen des Staates zu sein und insofern den früheren Zustand mit anderen Mitteln fortzusetzen. Als ihr zentrales Strukturelement gilt das Bischofsamt. Die Bekennende Kirche kritisierte die Volkskirchenideologie der völkischen »Deutschen Christen«, ohne selbst den Anspruch aufzugeben, an Christi Statt die Botschaft von der freien Gnade an alles Volk auszurichten. Insofern begreift auch sie sich als Volkskirche. Ihr zentrales Strukturelement ist die Gemeinde.25 Dabei ist in der Bekennenden Kirche einerseits in einer bruderschaftlichen Leitungsstruktur kooperatives Handeln von Pfarrern [Pfar-rern]
24
Theodor Strohm, aaO. 260. Besonders deutlich wird diese Konzeption in einem Vortrag von Alfred de Quervain auf der Arbeitstagung des Coetus reformierter Prediger Deutschlands in Barmen vom 25.-27. Oktober 1937. Alfred de Quervain, Die Herrschaft Christi über seine Gemeinde und die Bezeugung dieser Herrschaft in der Gemeinde, in: EvTh 5 (1938), 45-57 25 Gerti Graff u.a. (Hg.), Unterwegs zur Mündigen Gemeinde. Die evangelische Kirche im Nationalsozialismus am Beispiel der Gemeinde Dahlem, Stuttgart 1982
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und Gemeindegliedern erprobt worden, während andererseits an Formen der Pastorenkirche festgehalten wurde. Für die Geschichte der Nachkriegszeit ist charakteristisch, daß die beiden letztgenannten Tendenzen wirksam geblieben sind: Die Vorordnung der großkirchlichen Organisation gegenüber der Gemeindepraxis einerseits und die Orientierung an der Gemeinde, verbunden mit einer gewissen Zurückhaltung oder sogar Aggression gegenüber den Forderungen der Kirchenleitung und Kirchenverwaltung andererseits. 2. Gemeinden entdecken ihre eigene Geschichte. Zwei Beispiele Es ist keineswegs selbstverständlich, daß sich Gemeinden als verantwortlich für den Prozeß ihrer eigenen Geschichte begreifen. Das Wort »Prozeß« könnte auch im Sinne eines »Progresses« für die gleichsam naturwüchsige Entwicklung einer bestimmten Gemeindepraxis verstanden werden. Das Wachstum der Gemeinde oder auch ihr zahlenmäßiger Rückgang werden dann als bloße Folgen von Wanderungsbewegungen der Bevölkerung registriert. Die Veränderung der Veranstaltungsformen der Gemeinde erscheint lediglich als Anpassung an jeweilige Moden. Über diesen Anpassungsprozeß wird jedoch keine Rechenschaft abgelegt. Eingefahrene Gewohnheiten haben stabilisierende Funktionen im Wandel der Situation, ohne daß nach den Gründen gefragt wird, die zu diesen Gewohnheiten geführt haben. Auf die Frage z.B., warum in bestimmten Gemeinden, keineswegs nur auf dem Lande, Männer und Frauen bis vor wenigen Jahren getrennt zum Abendmahl gingen, konnte man die Auskunft bekommen: »Das war schon immer so!« Das heißt: der bewußtlose Progreß wird durch unreflektierte Konventionen erträglicher. Die gewohnten Selbstverständlichkeiten in der Gemeindepraxis werden dann fragwürdig, wenn aus dem alltäglichen Rahmen fallende Entscheidungen zu treffen sind. 2.1 Ein markanter Einschnitt in der Geschichte von Ortsgemeinden ist der Entschluß, die Planung und die Durchführung der Erbauung einer Kirche und eines Gemeindehauses. Meist lohnt es sich, über die Namengebung der Kirche Näheres in Erfahrung zu bringen. Der Entscheidungsprozeß, in dessen Verlauf eine Kirche ihren Namen bekommt, sagt häufig etwas aus über das
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Selbstverständnis von Gemeindegruppen, vielleicht auch der Gemeinde insgesamt. So berichtet z.B. ein Gemeindepfarrer, daß der Versuch, der 1961 fertiggestellten Kirche einer Stadtrandgemeinde in München einen Namen zu geben, scheiterte: »Es gab zwei Gruppen mit je einem Namensvorschlag. Die eine Gruppe war für den Namen ›Barnabas-Kirche‹, die andere für den Namen ›Martha-Maria-Kirche‹. Die beiden Gruppen konnten sich nicht einig werden. So blieb die Kirche zunächst ohne Namen. Man sprach von der ›Kirche in der Alten Heide‹ « 26
Der Gemeindepfarrer schlug dann dem Kirchenvorstand den Namen »Nikodemus-Kirche« mit folgender Begründung vor: »Nikodemus schien mir für die Gemeinde mit ihrer besonderen Struktur ein passender Namenspatron zu sein. Er verkörpert unter denen, die Jesus nach dem Bericht des neuen Testamentes nahestanden (Job. 7,50; 19,39) die Wissenschaft (Job. 3); der Gemeinde in der Alten Heide mit ihrem alten Bestand aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war damals eine doppelte Aufgabe gegeben- Die neuentstehende Studentenstadt Freimann mit ihren vielen Studenten und die Max-Planck-Institute mit ihren vielen Wissenschaftlern zu integrieren und sich dem Thema ›Glaube und Wissenschaft‹ zu stellen.« 27
Er fiel mit diesem Vorschlag durch, weil sich die Vertreter der traditionellen Gemeinde mit ihm nicht identifizieren konnten. Der Kompromißvorschlag »Nikodemus-Kirche in der Alten Heide« wurde dann einstimmig angenommen. Dieses Beispiel gibt in doppelter Richtung bemerkenswerte Hinweise: Einmal erwies sich die Aufgabe, der neugebauten Kirche einen Namen zu geben, als ein Anlaß, sich sowohl der Zielsetzung der Gemeindepraxis wie der Entstehung dieser Gemeinde am nördlichen Rand der Großstadt München zu vergewissern. Wir erfahren nicht, wer die Gruppen waren, die die Namen »Barnabas-Kirche« bzw. »Martha-Maria-Kirche« vorschlugen und welche Vorstellungen sie mit diesen Namen verbanden. Aus der Begründung des Gemeindepfarrers für seinen dritten Vorschlag geht hervor, daß im Bereich einer nach dem Ersten Weltkrieg entstandenen Stadtrandgemeinde eine Studentenstadt gebaut wurde, wissenschaftliche Institute entstanden und, unmittelbar am Englischen Garten gelegen, eine Reihe von großzügigen Einfamilienhäusern den Bestand an kleinen Siedlerhäuschen und älteren Villen ergänzte. Kirche und Gemeindesaal wurden in dem Bereich der traditionellen Gemeinde »Alte Heide« errichtet, charakterisiert
26
Ernst Wörle, Wie kam unsere Kirche zu dem Namen »Nikodemus-Kirche in der Alten Heide«?, in: Evang. Luth. Pfarramt Nikodemuskirche, München (Hg.), Treffpunkt Gemeinde. 20 Jahre Nikodemuskirche in der Alten Heide, München 1981 27 Ebd.
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durch Reste einer Arbeitersiedlung und bald nach dem Zweiten Weltkrieg errichteter Sozialwohnungen. Die Studentenstadt Freimann und das Villenviertel am Englischen Garten sind von der »Alten Heide« durch eine verkehrsreiche Ausfallstraße getrennt. Pfarrhaus, Mitarbeiterwohnung und Gruppenräume wurden später im Villenviertel errichtet. Die traditionelle Gemeinde, aus einem Gemeindeverein hervorgegangen, befand sich bei der Namengebung der neuen Kirche an einem entscheidenden Punkt ihrer Geschichte. So jedenfalls sah es der Gemeindepfarrer. Die Vertreter der traditionellen Gemeinde sahen sich nicht in der Lage, seinem Vorschlag zu folgen, der neuen Aufgabe der Gemeinde in dem Namen »Nikodemuskirche« einen symbolischen Ausdruck zu geben. Der schließlich gefundene Kompromiß »Nikodemus-Kirche in der Alten Heide« signalisiert, daß diese Gemeinde erst durch einen geduldigen Aushandlungsprozeß ihre gemeinsame Aufgabe finden und lösen wird. Der zweite Hinweis des Beispiels der Namensgebung einer Kirche macht darauf aufmerksam, daß in dem gemeinsamen Aushandlungsprozeß Kompromisse28 gefunden werden müssen. Für den Charakter des Aushandlungsprozesses in dieser Gemeinde scheint mir kennzeichnend zu sein, daß es offenbar gelungen ist, für die Entscheidung dieser wichtigen Frage einen einstimmigen Beschluß zu erreichen. Das wird nicht immer der Fall sein können. Viele Entscheidungen in der Gemeinde werden nur durch Mehrheitsbeschlüsse zustande kommen, zumal dann, wenn unter Zeitdruck entschieden werden muß. Nun könnte man einwenden, daß in der Konsensformel »Nikodemus-Kirche in der Alten Heide« künftige Konflikte bereits enthalten sind. Im Blick auf die angedeutete Geschichte der Gemeinde ist dieser Einwand sicher berechtigt. Dennoch deutet die Formel die Bereitschaft der unterschiedlichen Gruppen in der Gemeinde an, den, Aushandlungsprozeß in einem offenen Diskurs fortzusetzen, aus dem niemand ausgeschlossen und in dem niemand unterdrückt wird. 2.2 Ein Testfall für die Prüfung der Frage, ob sich Gemeinden als verantwortlich für ihre eigene Geschichte begreifen, dürfte für ältere Gemeinden ihr Verhalten während des Kirchenkampfes sein. Hatten die »Deutschen Christen« [Chri-sten]
28
Mit Recht hat Klaus Rückert beim Lesen des Manuskripts an dieser Stelle auf die Bedeutung des Kompromisses für die Demokratie in Wolfgang Trillhaas, Ethik, Berlin 1959, 377f hingewiesen.
127
29
die Mehrheit in den Entscheidungsgremien oder lebte die Gemeinde in der »Bekennenden Kirche«? Diese Frage ist besonders schwer zu beantworten für Gemeinden in den sog. »intakten Landeskirchen«. Wurde Juden geholfen oder wurde das Problem der Judenvernichtung verdrängt? Wurde das Ende des Zweiten Weltkriegs als Befreiung von nationalsozialistischer Herrschaft oder als Zusammenbruch des Deutschen Reiches erfahren? Diese und ähnliche Fragen könnten dazu dienen, die Problemgeschichte der Gemeinde in dieser Zeit deutlicher zu sehen. Das Beispiel der Gemeinde Berlin-Dahlem ist sicher nicht verallgemeinerungsfähig, hat aber eine paradigmatische Bedeutung. Zur Einweihung des Friedenszentrums Martin-Niemöller-Haus wurde am 16. Januar 1982 die Ausstellung: »Unterwegs zur mündigen Gemeinde? - Die Evangelische Kirche im Nationalsozialismus am Beispiel der Gemeinde Dahlem« eröffnet.29 Diese Gemeinde »im vornehm verhaltenen Villenvorort«30 stand im Mittelpunkt des Kirchenkampfes. Im Pfarrhaus organisierte Martin Niemöller den Widerstand des Pfarrernotbundes gegen die Einführung des Arier-Paragraphen in der Kirche. Im Gemeindehaus fand 1934 die Dahlemer Synode statt, auf der die kirchenrechtlichen und organisatorischen Konsequenzen aus der »Barmer Erklärung« gezogen wurden. Nach der Gemeinde Dahlem wurde der radikale »dahlemitische Flügel« der Bekennenden Kirche benannt, in dem Pfarrer Fritz Müller (»Müller-Dahlem«) lange Zeit den Vorsitz führte. Die soziale Struktur der Gemeinde Berlin-Dahlem war bestimmt von gutbürgerlichen Kreisen. Daß Pfarrer Martin Niemöller immer noch den Ruf »eines einwandfrei ›national‹ gesinnten U-Boot-Kommandanten aus dem 1. Weltkrieg« 31 hatte, wußten auch die Gerichte zu würdigen. Berlin-Dahlem war keine typische Gemeinde. Paradigmatisch für unsere Fragestellung, wie Gemeinden ihre Geschichte verantworten, ist die Gemeinde Berlin-Dahlem jedoch deshalb, weil 50 Jahre danach Gemeindeglieder dokumentierten, wie sich die Praxis ihrer Gemeinde im Kirchenkampf vollzogen hat. Auch in Dahlem versuchten die »Deutschen Christen« die Mehrheit im Gemeindekirchenrat zu gewinnen, blieben jedoch in der Minderheit.32 Ein Gemeindeglied, Dr. Elisabeth Schmitz* schrieb an Helmut Gollwitzer
Gern Graff u. a., aaO. Die Ausstellung kann ausgeliehen werden: Martin Niemöller Haus. Pacelliallee 61, 1000 Berlin 33 30 Kurt Scharf, aaO. V 31 Peter Winzeler, aaO. 151 32 Im Gemeindekirchenrat war das Stimmenverhältnis der Liste »Evangelium und Kirche« zu der Liste »Deutsche Christen« 6:2, in der Gemeindeverordnetenversammlung 23:17; aaO. 17 * Im Orig. ebenfalls kein Komma.
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nach dessen Bußtagspredigt am 16. November 1938 in der Annenkirche Berlin-Dahlem: »Ich bin überzeugt, daß mit dem letzten Juden auch das Christentum aus Deutschland verschwindet.« 33
Gemeindeglieder hielten die täglichen Fürbittegottesdienste, als Martin Niemöller im Konzentrationslager Dachau inhaftiert war und Helmut Gollwitzer aus Berlin ausgewiesen, mit »Reichsredeverbot« belegt und im Dezember 1940 zum Militärdienst eingezogen worden war. Gemeindeglieder hielten auch Kontakt zu jüdischen Mitchristen, die seit dem 1. September 1941 den Judenstern tragen mußten: »... Jetzt zum wichtigsten, dem gestirnten Himmel um uns ... Es war eine schwere Woche, aber es ist alles mit so viel Hilfe von Gott ... gegangen, daß jetzt, etwa seit Mittwoch, alle wieder da sind, fester vielleicht noch als bisher, ohne das Gefühl, bemitleidet zu werden, sondern mit dem Bewußtsein, gebraucht und nicht losgelassen zu werden ... « 34
Der Deportation ihrer jüdischen Mitglieder standen die nichtjüdischen Gemeindemitglieder ohnmächtig gegenüber; sie halfen beim Packen, bildeten einzelne zu Laienpredigern aus, feierten Abschiedsgottesdienste mit Abendmahl vor dem Abtransport in die Konzentrationslager, versuchten durch Briefe und Pakete Kontakt mit den Deportierten zu halten.35 Auch in Dahlem war es schließlich nur noch eine kleine Gruppe von Gliedern der »Bekennenden Gemeinde«, die sich trotz Verbot zu den täglichen Fürbittegottesdiensten traf. Auch in Dahlem kam der Widerstand gegen die Judenvernichtung zu spät. Es wäre also falsch, diese Gemeinde zum Unterschied zu allen anderen als die große Ausnahme zu verklären. Gegenwärtig sind auch dort sehr konservative Einstellungen und Verhaltensweisen wirksam. Dennoch enthalten die geschilderten Fakten Anhaltspunkte, die andere Gemeinden veranlassen könnten, zu prüfen, wie sich ihre Gemeindeglieder in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft verhielten. Verantwortung für die eigene Geschichte zu übernehmen, heißt nicht nur, Treue zum Glauben, Mut zum Widerstand sondern auch ängstliches Versagen, heimliche und offensichtliche Schuld zu übernehmen und daraus für Gegenwart und Zukunft zu lernen. Die Autoren des Ausstellungskatalogs weisen mit Recht darauf hin, daß im Streit um den Frieden neue Bewährungsproben auf christliche Gemeinden zukommen.
33
AaO. 91 Elsie von Stryk in einem Brief an Helmut Gollwitzer vom 26. 9. 1941, aaO. 107 35 AaO. 113 34
129 3. Zur Rolle des Amtes im Prozeß Gemeinde Die gemeinsame Entdeckung der eigenen Geschichte wird am ehesten in kommunikationsorientierten Gemeinden gelingen. Die Grundbedürfnisse der Gemeindeglieder sind in der geschichtlichen Herkunft der Gemeinde freigelegt, verdeckt oder verformt worden. Sie können deshalb nur in gemeinsamer »Spurensicherung« weitergeführt, aufgedeckt oder in ihre authentische Form gebracht werden. Das Beispiel der Gemeinde in Berlin-Dahlem zeigte, daß und wie heute an im Kirchenkampf freigelegte Grundbedürfnisse, als mündige Gemeindeglieder die Gemeindepraxis mitzubestimmen und zu gestalten, angeknüpft werden kann. Dabei darf nicht übersehen werden, daß die soziale Struktur dieser Gemeinde für die Partizipation von Gemeindegliedern an der Gemeindepraxis gute Voraussetzungen bot. Dennoch ist nicht zu verkennen, daß es auch in Berlin-Dahlem die Pfarrer waren, von denen die Initiative ausging und die sowohl die Kontinuität wie die Konflikte im Prozeß der Gemeindepraxis wesentlich bestimmten. Damit stellt sich auch in diesem Zusammenhang die Frage nach dem Verhältnis von Amt und Gemeinde als ungelöstes Problem. Auf theoretischer Ebene ist es in der reformatorischen Theologie und in der von ihr bestimmten Theologiegeschichte nicht gelungen, die Rechtfertigungslehre mit Hilfe der paulinischen Charismenlehre für die Lehre von der Kirche fruchtbar zu machen.36 Ebensowenig haben sich bisher neue Ansätze, die Lehre vom Heiligen Geist auf ihre Konsequenzen für die Gemeindepraxis hin zu untersuchen, durchsetzen können.37 Faktisch wirkten Amt, Kanon, Credo und Kirchenrecht in der Geschichte der Kirche als Elemente der Sicherung des Überlebens der kirchlichen Institution im geschichtlichen Wandel. Dies war und ist für die Gemeindepraxis nicht folgenlos geblieben. Zwar ist es nicht zu bestreiten, daß die soziale Gestalt der Religion in Kirche und Gemeinde auf stabilisierende Elemente nicht verzichten kann. Insofern kann man kaum davon reden, bereits die Herausbildung solcher Elemente sei ein historischer Unglücksfall gewesen. Wohl aber wird man von einem solchen dann sprechen müssen, wenn sich das kirchliche Amt gegenüber dem »Prozeß Gemeinde« verselbständigt. Nach der Auffassung von Eduard Schillebeeckx läßt sich diese Fehlentwicklung [Fehl-entwicklung]
36
Ernst Käsemann, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: ders., Exegetische Versuche und Besinnungen, Bd. 1, Göttingen 1960, 109-134 37 Carl Heitmann/Heinz Mühlen (Hg.), Erfahrung und Theologie des Heiligen Geistes, Hamburg/München 1974
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vom III. und IV. Lateran-Konzil bis hin zum Tridentinum mit seiner einseitig antireformatorischen Reaktion verfolgen38 : »Die Verhältnisse haben sich hier, verglichen mit der frühen Kirche, grundlegend geändert: Ein Priester wird geweiht, damit er die Eucharistie feiern kann; in der frühen Kirche wurde gesagt, er werde als Amtsträger ›eingegliedert‹, damit er als Leiter der Gemeinde auftreten kann; mit anderen Worten, die Gemeinde berief ihn als Beauftragten für den Gemeindeaufbau, und gerade deshalb war er auch die geeignete Person, der Eucharistie vorzustehen. Eine Verschiebung, die entscheidend ist; jedenfalls: eine juristisch verengte Wiedergabe dessen, was die frühe Kirche gewollt hat.« 39
Trifft dieses Urteil zu, dann käme es darauf an, die Verselbständigung des Amtes gegenüber der Gemeinde im ökumenischen Dialog rückgängig zu machen, um so zu einem ökumenischen Konsens zu kommen.40 Wenn klar ist, daß die Pfarrer als Gemeindeleiter in den Gemeinden integriert sind und ihr nicht als geweihte Priester bzw. ordinierte Geistliche separat gegenüber stehen, dann ist ein Modell zu finden, das allen am »Prozeß Gemeinde« Beteiligten Rollendistanz und kritische Reflexion ihrer Rollen ermöglicht. Dies wäre insbesondere eine Bedingung dafür, die Verselbständigung des Amtes gegenüber der Gemeinde zugunsten einer reflektierten Selbststeuerung der Gemeinde aufzuheben. Aus dem allzuständigen und allkompetenten Amtsträger der verwaltungsorientierten Gemeinde und dem Funktionär der organisationsorientierten Gemeinde würde der Gemeindepfarrer in der kommunikationsorientierten Gemeinde zu einem kritisierbaren Moderator, der selbständige Person unter selbständigen Personen ist. 4. Modelle der Entscheidungsfindung: »Verfahren« oder » Diskurs « ?41 Auf dem Hintergrund der skizzierten Problemgeschichte des Verhältnisses von Amt und Gemeinde ist die Frage zu untersuchen, auf welche Weise Entscheidungen über Ziele und Inhalte der Gemeindepraxis gefunden, getroffen und durchgesetzt werden. In verwaltungsorientierten Gemeinden liegt das Entscheidungsmonopol
38
Edward Schillebeeckx, Das kirchliche Amt, dt. Düsseldorf 1981 AaO.97f 40 AaO. 111-119 41 Vgl. zum folgenden Abschnitt: Rolf Hanusch, Der Streit um die Lehrpläne. Legitimationsprobleme der Reform des Religionsunterrichts, München/Mainz 1983, 47-60 39
131
zwar nicht de jure, wohl aber de facto beim Gemeindepfarrer. Zwar sind auch hier Beschlüsse des gemeindeleitenden Gremiums notwendig. In der Regel werden diese aber nicht gegen die Interessen des Gemeindepfarrers gefaßt. Häufig beschränken sich umgekehrt die Kirchenvorstände bzw. Presbyterien darauf, die Vorschläge des Pfarrers in Beschlüsse umzusetzen, die dann in der Gemeindepraxis verwirklicht werden sollen. Wird die Gemeinde hingegen an der Entscheidungsfindung beteiligt, so bieten sich dafür zwei unterschiedliche Modelle an, die durch die Begriffe »Verfahren« und »Diskurs« gekennzeichnet werden können. Im ersten Fall werden Entscheidungen so getroffen, daß alle von ihr Betroffenen die Ergebnisse, die in regelrecht ablaufenden Verfahren erreicht wurden, unabhängig von ihren persönlichen Interessen und Überzeugungen, anerkennen. Niklas Luhmann hat diese »Legitimation durch Verfahren«42 am Beispiel von Gerichtsverhandlungen erläutert. Solche Verfahren sind »... Sozialsysteme besonderer Art, die kurzfristig und vorübergehend konstituiert werden, um bindende Entscheidungen zu erarbeiten. Sie werden für diese Funktion aus dem allgemeinen Rollenzusammenhang mehr oder weniger ausdifferenziert. Ihre legitimierende Funktion beruht auf dieser Rollentrennung«43 .
Dieses Modell der Entscheidungsfindung läßt sich auf die Sitzungen von Kirchenvorständen übertragen. Ihre Mitglieder werden rechtzeitig zu einer Sitzung eingeladen, wobei ihnen die Tagesordnung mitgeteilt wird. Als Kirchenvorsteher, also getrennt von ihren sonstigen Rollen, beraten und entscheiden die Mitglieder dieses »Sozialsystems besonderer Art« nach den Regeln der Geschäftsordnung über die in der Tagesordnung vorgegebenen Inhalte. Ihre Mehrheitsbeschlüsse sind für die Gemeindepraxis bindend. Die Voraussetzung für das Modell »Verfahren« kann so formuliert werden: weil der Konsens über die Fülle der unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen der Gemeindeglieder nicht herstellbar ist, entstehen für alle verbindliche Entscheidungen auf dem Wege regelgeleiteter Verfahren. »Legitimität beruht somit nicht auf freiwilliger, Anerkennung, auf persönlich zu verantwortender Überzeugung, sondern im Gegenteil auf einem sozialen Klima, das die Anerkennung verbindlicher Entscheidungen als Selbstverständlichkeit institutionalisiert und sie nicht als Folge einer persönlichen Entscheidung, sondern als Folge einer amtlichen Entscheidung ansieht.« 44
Während also bei dem Modell »Verfahren« die subjektiven Bedürfnisse und Interessen der einzelnen Gemeindeglieder ausgeklammert werden, sind
42
Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969 Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Bd. 2, Hamburg 1972, 263 44 Niklas Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Neuwied 1969, 34 43
132
45
sie für das Modell »Diskurs«45 Grundlage und Ausgangspunkt der Argumentation. Auf dem Wege eines Verständigungsprozesses, an dem sich alle Betroffenen beteiligen, sollen verallgemeinerungsfähige Interessen herausgearbeitet werden. Folgende Annahmen werden dabei vorausgesetzt: – Jeder Teilnehmer ist in der Lage, über die Gründe seines Handelns Rechenschaft abzulegen. – Jeder Teilnehmer folgt Normen, die ihm gerechtfertigt erscheinen. – Jeder Teilnehmer folgt seinen Normen intentional; unbewußte Motive werden nicht unterstellt. Während das Modell des »Verfahrens« plausibel erscheint, weil jedermann einsehen kann, daß und wie es funktioniert, werden gegen das Diskursmodell theoretische und, vor allem, aus der alltäglichen praktischen Erfahrung Einwände erhoben. Es sei sehr die Frage, ob die Teilnehmer am Diskurs in der Lage sind, über die Gründe ihres Handelns Rechenschaft abzulegen. Das religiöse Bewußtsein reiche in tiefe Schichten der Persönlichkeit hinein und entziehe sich deshalb den Voraussetzungen vernünftiger Argumentation. Auch sei es tiefenpsychologisch nicht haltbar, den Teilnehmern am Diskurs keine unbewußten Motive zu unterstellen, weil unbewußte Anteile notwendig immer in den Diskurs eingingen. Ein vernünftiger Diskurs setze die gleichgewichtige Rede aller Diskursteilnehmer voraus; dies sei bei dem unterschiedlichen Bildungsniveau der Teilnehmer nicht gegeben. Vor allem verkenne das Diskursmodell den Kontext der Klassengesellschaft, deren Struktur einen herrschaftsfreien Diskurs als Illusion erscheinen lasse.46 Diesen und ähnlichen Einwänden ist insofern Recht zu geben, als sich gelungene Diskurse in der Praxis kaum nachweisen lassen. Insofern ist mit dem Diskursmodell eher ein »Sollen« als ein »Sein« verbunden. Ist das Modell »Diskurs« demnach bloßer Schein? Jürgen Habermas charakterisiert den Diskurs als »ideale Sprechsituation«, die in einer »kontrafaktischen Antizipation«, also entgegen allen feststellbaren Kommunikationsstörungen gelungene Kommunikation vorwegnimmt. Daß es sich bei dieser Bestimmung keineswegs um eine pure Behauptung handelt, über die hinweg man auch in der Gemeindepraxis zur Tagesordnung übergehen könnte, um sich nüchtern auf die Entscheidungsfindung
Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz, in: ders./Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie was leistet die Systemforschung?, Frankfurt 1971, 101-141 46 Christine Koreng, Norm und Interaktion bei Jürgen Habermas, Düsseldorf 1979
133
47
durch Verfahren zu beschränken, wird jedoch schon daraus ersichtlich, daß jedermann, der sich mit einem anderen Menschen in einem Gespräch verständigen möchte, dabei von den genannten Annahmen ausgeht: Wer könnte je auf eine wirkliche Verständigung mit einem Gesprächspartner hoffen, wenn er nicht davon ausgehen kann, daß alle beide in der Lage sind, ihr Handeln zu begründen; daß sie beide Normen folgen, die sie für richtig halten und daß sie einander nicht unbewußte Motive unterstellen, die in Widerspruch stehen zu ihren geäußerten Absichten. Man mag angesichts der alltäglichen Erfahrung irrationalen Handelns, dem verbreiteten Hang, Autoritäten blindlings zu folgen und der Bereitschaft, sich und andere zu täuschen, solche Annahmen, die einen vernünftigen Diskurs als möglich erscheinen lassen, naiv nennen. Die Alternative zu einer solchen »Naivität« bestünde jedoch in nichts anderem als der resignierten Anerkennung der Verhältnisse, wie sie sind. An dieser Stelle zeigt sich die Nähe des Diskursmodells zu der theologischen Begründung des Kriteriums »Gemeinde der Befreiten«47 . Was nämlich unter der als unveränderbar vorausgesetzten Normativität des Faktischen als Naivität erscheinen mag, wird in der Perspektive der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit als Vor-Schein gelungener Kommunikation sichtbar. In der Tat steht das Diskursmodell erst dann auf tragfähigem Grund, wenn die Bemühung um Verständigung in der Gewißheit der Versöhnung erfolgt, die bereits in Kraft gesetzt wurde und deren jedermann einsichtige Vollendung noch aussteht. Deshalb entsprechen alle Versuche eines herrschaftsfreien Diskurses im Interesse an der Herstellung eines Konsens dem Kriterium der »Gemeinde der Befreiten«. Damit wird nicht der Glaube an die Versöhnung an die Stelle vernünftiger Argumentation gesetzt, wohl aber der reformatorischen Erkenntnis, daß der Glaube die Vernunft zu ihren Möglichkeiten zu befreien vermag, Rechnung getragen. Was bedeutet das für die Gemeindepraxis? Während das Modell »Verfahren« der Entscheidungsfindung unter Ausklammerung der subjektiven Bedürfnisse und Interessen zu praktikablen Ergebnissen führt, wird im Diskursmodell das Recht der am Prozeß der Entscheidungsfindung beteiligten und von ihr betroffenen Subjekte geltend gemacht. Wie der Diskurs praktisch geführt werden soll ist zugegebenermaßen nicht leicht vorstellbar. In einem geistvollen und mit Genuß lesbaren Beitrag zur Diskussion zwischen Niklas Luhmann und Jürgen Habermas bemerkt Harald Weinrich, er könne sich zwar den Beginn eines solchen Diskurses vorstellen, nicht aber
Vgl. Kap. I
134
sein Ende.48 Tatsächlich kann der Diskurs weder zeitlich noch räumlich begrenzt gedacht werden. Eben dies macht aber das Diskursmodell für Prozesse der Entscheidungsfindung in christlichen Gemeinden interessant. Denn die christlichen Gemeinden leben sowohl im Zusammenhang einer -wenn man das Judentum hinzunimmt - mehrere Jahrtausende umfassenden Überlieferungsgeschichte als auch im Kontext der ökumenischen Weltchristenheit. Der Diskurs in den Ortsgemeinden findet zwar in einer begrenzten Zeit unter bestimmten örtlichen Bedingungen statt. Aber er ist zugleich ein Moment des durch die christliche Überlieferungsgeschichte hindurch im Weltkontext stattfindenden Dialogs. So weit entfernt solche Feststellungen auch von der alltäglichen Praxis christlicher Gemeinden in der Bundesrepublik Deutschland unter ihren jeweiligen lokalen Bedingungen zu sein scheinen, so fehlt es doch nicht völlig an Hinweisen, daß der Zusammenhang zwischen dem versuchten Diskurs in der Gemeinde und dem ebenfalls versuchten universalen Diskurs in der Ökumene wenigstens punktuell hergestellt wird. So ist die Bedeutung der Friedensthematik für die Gemeindepraxis nicht mehr zu übersehen. Wenn in die Fürbitte in einem Gemeindegottesdienst der von »amnesty international« vorgeschlagene »Gefangene des Monats« eingeschlossen wird, dann wird, für einen Moment, der Zusammenhang zwischen der Gemeindepraxis und dem Weltkontext erfahrbar. Wir werden noch darauf zurückkommen, daß auf das Modell »Verfahren« für die Prozesse der Entscheidungsfindung auch in christlichen Gemeinden nicht verzichtet werden kann. Dennoch sollte, bei nüchterner Einschätzung der für einen praktischen Diskurs bestehenden Schwierigkeiten, das soziale Klima in der Gemeinde gerade nicht durch die funktionierenden Verfahren, sondern durch die uneingelösten Möglichkeiten des Diskurses bestimmt werden. 5. Diskurs als regulatives Prinzip der Verfahren im »Prozeß Gemeinde« Für die Aushandlung der unterschiedlichen Bedürfnisse und Interessen im »Prozeß Gemeinde« kann die Alternative nicht heißen, man müsse sich entweder formaler Verfahren bedienen oder dem idealen Diskurs möglichst weit annähern. Auch eine bloße Addition beider Modelle, wenn etwa ein
48
Harald Weinrich, System, Diskurs, Didaktik und Diktatur des Sitzfleisches, in: Merkur 26 (1972), 801-812; abgedruckt in: Franz Maciejewski (Hg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Theorie-Diskussion Supplement 1, Frankfurt 1973, 145-161
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Kirchenvorstand seine formalen Entscheidungen den Gemeindegliedern auf einer Gemeindeversammlung diskursiv vermitteln möchte, bringt noch keine Lösung. Da in Kirchengemeinden in begrenzter Zeit Entscheidungen getroffen werden müssen, sind formale Entscheidungsverfahren notwendig. Dazu gehören evtl. auch Kampfabstimmungen und Mehrheitsbeschlüsse. Entscheidend ist es jedoch, das Diskurs-Modell als kritisches Regulativ der Verfahren zur Geltung zu bringen. Auf diese indirekte, vermittelte Weise ist das Diskurs-Modell durchaus praxisrelevant. Das soll durch einige Hinweise erläutert werden. 5.1 Die Gemeindeglieder als Subjekte des Prozesses Gemeinde Die Gemeindepraxis hat es immer eilig und ist zu Entscheidungen gedrängt, während der Diskurs noch andauert. Der Haushaltsplan muß zu einem bestimmten Termin verabschiedet sein. Die Frage, ob die Form des Konfirmandenunterrichts geändert werden soll, läßt sich nicht beliebig verschieben. Die Anstellung eines Diakons oder eines Sozialpädagogen auf einer vakanten Planstelle kann nicht länger hinausgeschoben werden. Die Beispiele können erweitert werden. Auf der einen Seite ist es deshalb unwahrscheinlich, daß für solche Entscheidungen in angemessener Frist stets ein Konsens erreicht wird; also müssen sie verfahrensgerecht, wenn es nicht anders geht, durch Kampfabstimmungen und Mehrheitsbeschlüsse entschieden werden. Andererseits sind zuweilen auf den ersten Blick nebensächliche Probleme und ihre Lösung für die Gemeindepraxis gleichwohl höchst folgenreich. Wenn z.B. beide Bewerber für die erwähnte vakante Planstelle gleich gut geeignet sind, scheint es belanglos zu sein, ob der Diakon oder ob der Sozialpädagoge den Vertrag bekommt. Aber es kann sich nach getroffener Entscheidung herausstellen, daß sowohl auf seiten des Kirchenvorstands als auch beim Diakon wie beim Sozialpädagogen ein jeweils verschiedenes Konzept von kirchlicher Jugendarbeit vertreten wird. Die Entscheidung ist nach Regeln getroffen, der Diskurs über ihre Konsequenzen beginnt. Wie sind Entscheidungen durch Verfahren und unabschließbarer Diskurs angemessen miteinander zu verbinden? Wie wird vermieden, daß der Prozeß Gemeinde von Verfahren zu Verfahren weiterläuft, ohne daß über den Sinn der getroffenen Entscheidungen reflektiert wird? Wie läßt es sich verhindern, daß unter Berufung auf den noch nicht abgeschlossenen Diskurs notwendige Entscheidungen auf die lange Bank geschoben oder der Gemeinde von außerhalb aufgenötigt werden? Verfahren und Diskurs lassen sich nicht problemlos miteinander verbinden. Wenn ein vertretbarer Konsens darüber erreicht werden soll, ob sich
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die getroffenen Entscheidungen in der Perspektive des weitergehenden Diskurses rechtfertigen lassen, dann ist dies nur unter der Bedingung möglich, daß die Gemeindeglieder in ihrem Subjektsein ernst genommen werden. Dies wäre mit Sicherheit dann nicht der Fall, wenn die Gemeindepraxis von Verfahren zu Verfahren weiter organisiert wird, ohne daß die Gemeindeglieder dazu Stellung beziehen können. Die durch Verfahren getroffenen Entscheidungen müßten also vorbereitet sein durch diskursive Meinungsbildung und begleitet werden durch diskursive kritische Reflexion. Alle dafür vorhandenen Möglichkeiten vom Gemeindebrief mit Leserbriefen über Gemeindeversammlungen mit möglichst vielen Diskussionsrednern und Gemeindetagungen bis hin zu Konfirmandenelternseminaren und Hausbesuchen sollten genutzt werden, damit ein Klima des Diskurses entsteht, in dem auch durch Verfahren getroffene Entscheidungen als konsensfähig gelten können. 5.2 Entscheidungen durch Verfahren sind vorläufig und revidierbar Werden die Entscheidungen durch Verfahren in vorwiegend verwaltungs- bzw. organisationsorientierten Gemeinden gerade ihrer unproblematischen Selbstverständlichkeit wegen die Gemeindepraxis bestimmen, gilt in kommunikationsorientierten Gemeinden die Maxime: »Im Zweifel für den Diskurs!« Das bedeutet natürlich nicht, daß in kommunikationsorientierten Gemeinden auf Entscheidungen durch Verfahren prinzipiell verzichtet werden könnte. Wegen der Begrenztheit der Zeit und der tendenziellen Unbegrenztheit der subjektiven Bedürfnisse, die beide auch für die Praxis kommunikationsorientierter Gemeinden Rahmenbedingungen setzen, sind Verfahren in jedem Falle notwendig. Hier wird ihr vorläufiger Charakter hervorgehoben und nicht ihre selbstverständliche Gültigkeit. Entscheidungen aufgrund regelrechter Verfahren sind so lange selbstverständlich akzeptiert, bis angestoßen durch den weitergehenden Diskurs, in einem neuen Verfahren die getroffene Entscheidung revidiert wird. Das ist freilich leichter gedacht und hingeschrieben als verwirklicht. Die Entscheidung etwa, eine Kirche zu bauen, läßt sich von einem bestimmten Zeitpunkt der Planung ab kaum mehr, nach Beginn der Ausführung gar nicht mehr revidieren, allenfalls noch modifizieren. Daraus ist jedoch nicht abzuleiten, die Forderung nach der Revidierbarkeit von Entscheidungen von Verfahren sei unsinnig. Vielmehr gilt die Maxime: je schwieriger eine Revision von Entscheidungen durch Verfahren voraussichtlich sein wird, desto langfristiger, sorgfältiger, umfassender ist der vorbereitende Diskurs zu führen.
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Die Überzeugung, daß Entscheidungen revidierbar sind, muß keineswegs dazu führen, Verfahren und ihre Ergebnisse auf die leichte Schulter zu nehmen. Wohl aber kann Kritikern getroffener Entscheidungen gegenüber der Verweis auf die regelrecht abgewickelten Verfahren nicht schon als hinreichendes Argument gelten. Der Diskurs darüber, ob die getroffene Entscheidung auf die Dauer akzeptiert werden kann oder ob sie revidiert werden muß, ist grundsätzlich offen zu halten. Wenn die prinzipielle Revidierbarkeit von Entscheidungen im Bewußtsein der Gemeindeglieder verankert ist, dann verringert sich die Gefahr eines Mißbrauchs von Verfahren durch die Mitglieder von Entscheidungsgremien. Ein Kirchenvorstand, der damit rechnen muß, daß seine Entscheidungen im weitergehenden Diskurs der Gemeinde geprüft werden, bemüht sich sorgfältiger um die Konsensfähigkeit seiner Entscheidungen und beruft sich nicht nur auf die Legitimität seiner Verfahren. 5.3 Der unabschließbare und grenzenlose Diskurs als Grundmodell der »Kommunikation des Evangeliums« Das Diskurs-Modell eröffnet den begrenzten Entscheidungen durch Verfahren einen universalen Horizont. Gewiß: Die Entscheidungsgremien einer Kirchengemeinde können die Probleme der Welt nicht lösen. Auch wenn Kirchengemeinden in der Bundesrepublik auf den Bau von Kirchen in Zukunft prinzipiell verzichten würden, wären damit die Probleme der Dritten Welt nicht beendet und der Weltfriede nicht sicherer geworden. Aber es bedeutet schon einen qualitativen Unterschied, ob bei der Entscheidung für einen Orgelbau nur die in der Gemeinde vorfindlichen Bedürfnisse berücksichtigt werden oder ob als Diskussionspartner auch Menschen in der Dritten Welt vor Augen, in den Köpfen und Herzen der an der Entscheidung Beteiligten präsent sind. Die Vermutung ist nicht abwegig, daß die für die Entscheidungen in der Gemeinde notwendigen Verfahren anders verlaufen, wenn sie veranlaßt durch das kritische Regulativ des unbegrenzten Diskurses, mit den bereits gestorbenen, den heute und in Zukunft lebenden Menschen rechnen. Mit solchen Überlegungen werden die Grenzen des Machbaren überschritten. Während die Bedingungen für Verfahren durch die Regeln hergestellt werden, denen sie zu entsprechen haben, gründet der Diskurs letztlich in der Religion. Wenn sich im Diskurs das menschliche Grundbedürfnis nach Gerechtigkeit und die sich in Jesus Christus durchsetzende Gerechtigkeit Gottes begegnen, werden die begrenzenden Bedingungen menschlichen Lebens geöffnet. Eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen dieses Diskurses ist die Auseinandersetzung jedes einzelnen Diskursteilnehmers
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mit der Frage nach dem Sinn seines Lebens.49 Diese Frage stellen heißt, sich der Herausforderung durch persönlich betreffende Erfahrungen zu stellen, durch die der selbstverständliche Ablauf des alltäglichen Lebens fragwürdig wird. Diese Herausforderung wird dann umgangen, wenn durch die bloße Wiederholung tradierter Inhalte der Religion die Frage nach dem Sinn der eigenen Lebensgeschichte als bereits beantwortet behauptet wird. Die Antwortschablonen bleiben dann der eigenen Lebensgeschichte äußerlich. Sie dienen vor allem auch dazu, die Erfahrungen des Unsinnigen, des Sinnwidrigen und des Sinnlosen zu verdrängen. Dieser Herausforderung wird auch dann ausgewichen, wenn der Mensch sich selbst als die Instanz begreift, die letzten Endes Sinn konstituiert. Er wird als isolierter vermeintlicher Sinngeber des Sinnlosen in eine Lage gedrängt, aus der er sich entweder in die alltäglichen Plausibilitäten flüchtet, mit denen wir uns gegen die Sinnfrage immunisieren oder er verzweifelt. Begreifen sich die Diskursteilnehmer als Sinnkonstrukteure ihres Lebens, dann bleibt ihnen die Wahl zwischen dem Rückzug (freilich nur auf Zeit!) ins philosophische-theologische Oberseminar jenseits der Realität von System und Lebenswelt oder in die Bildung einer elitären Gruppe, die versucht, der Realität ihre Sinnkonstruktion aufzuzwingen. Ist indes die Antwort auf die Sinnfrage im Evangelium von der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit vorgegeben, dann bedeutet das keineswegs, diese Antwort auf äußere Autorität hin anzunehmen. Gegen die in menschlicher Religiosität häufig zu beobachtende Heteronomie sperrt sich sowohl der Inhalt des Evangeliums wie das menschliche Grundbedürfnis nach Gerechtigkeit, d. h. als freies, unverwechselbares Subjekt anerkannt zu werden. Indem Gott im gekreuzigten Jesus von Nazareth auf seine unmittelbare Selbstdurchsetzung verzichtet, erkennt er in der Rechtfertigung der Gottlosen, die Menschen als freie Subjekte an. Der Glaube an diesen Gott vollzieht in einem die Anerkennung des Gekreuzigten als Auferweckten, als Herrn der Welt und die Anerkennung der Menschen als freier Subjekte unter den Bedingungen ihrer begrenzten Zeit. Unter diesen Voraussetzungen erfolgt in einem offenen, prinzipiell unbegrenzten Diskurs nicht die Konstruktion, sondern die Rekonstruktion des Sinnes in ständiger Auseinandersetzung mit den Erfahrungen von Unsinn, Sinnwidrigem und Sinnlosigkeit.50
Traugott Koch, Religion und die Erfahrung von Sinn, in: Hans-Eckehard Bahr (Hg.), Religionsgespräche. Zur gesellschaftlichen Rolle der Religion, Darmstadt/Neuwied 1975, 120-145 50 Emil Brunner, Wahrheit als Begegnung, Zürich/Stuttgart 19632
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Dann wäre auch klar, daß der Diskurs nicht eine Methode der Gemeindepraxis ist, die bei bestimmten Gelegenheiten verwendet wird, sondern das Grundmodell, nach dem sich die Kommunikation des Evangeliums in der Gemeindepraxis insgesamt vollziehen sollte. In diesen Diskurs eingelagert sind regelgeleitete Verfahren, in denen prinzipiell revisionsfähige Entscheidungen getroffen werden müssen. 6. Unterwegs zur kommunikationsorientierten Gemeinde? Wird in der angedeuteten Weise das Diskurs-Modell als regulatives Prinzip der Entscheidung durch Verfahren zur Geltung gebracht, dann könnten diskursive Elemente das soziale Klima einer Gemeinde in Richtung auf den Strukturtyp der kommunikationsorientierten Gemeinde verändern. Die Gelegenheiten dazu sind vielfältig. Sie reichen von informellen Gesprächen über Konfirmandenarbeit und Familienfreizeiten bis zu Gemeindeversammlungen, Gemeindetagungen und Gemeindefesten. Gemeindepfarrer können durch die Art, in der sie ihre Schlüsselrolle handhaben, entscheidend dazu beitragen, daß in der Gemeinde eine diskursive Kultur entsteht. Praktisch müßten die Gemeindepfarrer lernen, die ihnen von den Gemeindegliedern angetragene Rolle des Schiedsrichters, des allein kompetenten Interpreten der christlichen Überlieferung und des Führers in allen Angelegenheiten der Gemeindepraxis nicht selbstverständlich zu akzeptieren. Sie nehmen ihre Aufgabe gerade dann wahr, wenn sie die Entscheidung darüber, was in der Gemeindepraxis geschehen soll, an die Gemeindeglieder zurückgeben. Diese Rückgabe der Entscheidung muß in einem weitergehenden Dialog verständlich gemacht werden. Dazu sind auch gekonnte Techniken des Gesprächs für sich allein keineswegs hinreichend. Erfahrungen aus der Seelsorge-Ausbildung führen zu der Einsicht, daß jede Gesprächstechnik ohne menschliche Echtheit oberflächlich bleibt und manipulativ wirken kann. Der »Kommunikation des Evangeliums«51 entspricht eine Gemeindepraxis, in der die kleinen, feinen und zarten Pflänzchen der gegenseitigen Annahme aller an ihr Beteiligten gedeihen können. Das Fragezeichen hinter der Überschrift dieses Abschnitts soll ausdrücken, daß die Chancen dafür nicht überschätzt werden dürfen. Um die Bedingungen für solche Fortschritte in der zweiwegigen, symmetrischen
51
Ernst Lange, Kirche für die Welt, hg. von Rüdiger Schloz in Zusammenarbeit mit Alfred Buthenuth, München/Gelnhausen 1981, 101-129
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Kommunikation in der Praxis zu untersuchen, soll in den folgenden Abschnitten der Außenaspekt der Gemeindepraxis und ihr Innenaspekt unter der Fragestellung in den Blick genommen werden, welche Möglichkeiten und welche Schwierigkeiten sich auf dem Wege zur kommunikationsorientierten Gemeinde erkennen lassen. 6.1 Das Verhältnis der Ortsgemeinde zur großkirchlichen Organisation als Sonderfall des Verhältnisses von Lebenswelt und System Im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung52 haben sich die Kirchen als bürokratische Organisationen53 auszubilden begonnen. Merkmale solcher Organisationen sind u. a. Unpersönlichkeit, Differenzierung und Spezialisierung. Sie finden sich besonders ausgeprägt in der staatlichen Verwaltung, deren Grundfunktion nach Max Weber die Ausübung legaler Herrschaft ist. »Der Typus des rationalen legalen Verwaltungsstaates ist universaler Anwendung fähig und er ist das im Alltag Wichtige. Denn Herrschaft ist im Alltag primär: Verwaltung.« 54
Yorick Spiegel hat 1969 eine Studie veröffentlicht, in der er die Kirchen als bürokratische Organisationen begreift: »Die Kirchenleitung übt Macht aus, und zwar vor allem auf die in der kirchlichen Organisation Beschäftigten. Es gibt ein festgelegtes und sich ständig vervollkommnendes System der Vorschriften und Instanzenwege, das mit starker Unpersönlichkeit verbunden ist, und schließlich besteht eine klar gegliederte hierarchische Ordnung. Soziologisch gesehen ist die Kirche also in die Reihe der bürokratischen Organisationen einzuordnen. Sie ist damit nicht hinreichend beschrieben und weist eine ganze Anzahl vom Idealtypus abweichenden Verhaltensweisen auf, die durch ihre besondere Zielsetzung bedingt sind. Aber sie ist auch bürokratische Organisation.« 55
Demgegenüber orientiert sich das Selbstverständnis der Kirchenleitung in der Regel nicht an der Ausübung von legaler Herrschaft durch bürokratische Organisation, sondern an dem der gesamten christlichen Gemeinde aufgetragenen Dienst. Diese Auffassung liegt auch der vierten These der theologischen Erklärung der Bekenntnissynode von Barmen 1934 zugrunde, in der es heißt:
52
Heinrich Ludwig, Die Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung, München/Mainz 1976 53 Yorick Spiegel, Kirche als bürokratische Organisation, München 1969 54 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 19765 , 126 55 Yorick Spiegel, aaO. 18
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»Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der einen über die anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes. «
Yorick Spiegel bemerkt dazu mit Recht kritisch: »Der Begriff des Dienstes verhindert sehr stark eine klare Einsicht, daß faktisch die Kirchenleitung Macht ausübt, zwar keine unbeschränkte, aber doch in größerem Umfange als die formulierten Ordnungen es erkennen lassen. Das unterschiedliche Ausmaß von Abhängigkeit, das zwischen den einzelnen »Diensten« der Kirche besteht, wird nicht artikuliert.« 56
Es wäre demnach die häufige Berufung auf den »Dienst« zugleich eine Leugnung des Sachverhaltes, daß es sich bei den Großkirchen auch um bürokratische Organisationen handelt. Da die Kirchen in der differenzierten Gesellschaft als institutionalisierte Religion ein System neben anderen Systemen darstellen, steht nicht mehr die Frage zur Debatte, ob sie bürokratische Organisationen sind, sondern wie mit diesem Sachverhalt kritisch und konstruktiv umgegangen werden kann. Neben der Berufung auf den Dienstgedanken mag übrigens auch die in den letzten Jahren erfolgte Betonung des Begriffes »Gemeinde« eine Ursache dafür sein, daß dies bisher nur unzureichend erfolgte. Dabei wäre dieser kritisch-konstruktive Umgang mit der Kirche als einer bürokratischen Organisation eine der Bedingungen für die Möglichkeit, auf dem Wege zu kommunikationsorientierten Gemeinden weiter zu kommen. Denn problematisch ist weniger, daß sich die Großkirchen in der differenzierten Gesellschaft auch als bürokratische Organisationen auszubilden begonnen haben, sondern daß dieser Umstand einerseits noch weithin geleugnet wird, und daß auf der anderen Seite die in den Strukturen einer bürokratischen Organisation enthaltenen positiven Möglichkeiten noch zu wenig entwickelt wurden. Das zweite gilt nach der Auffassung von Yorick Spiegel hinsichtlich der Differenzierung und der Spezialisierung. Faktisch herrsche in den Kirchenleitungen noch immer das doppelte Monopol von Theologen und Juristen.57 Nach Peter Dienel wäre im Informations-, Personal- und Finanzbereich der Kirche »... das Vorhandensein von autonomen Subsystemen wichtig. Wie sonst sollte die immer wieder notwendige Adaption an neue Umweltsbedingungen* und damit neue Aufgabenstellungen erreicht werden«58 .
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AaO.18f AaO.44 * So im Original. 58 Peter Dienel, Kirche 1980, Schriften der Ev. Akademie in Hessen und Nassau Nr. 78, 1968,38 57
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Bei den Ungereimtheiten und Zufälligkeiten in der Personalplanung der Kirche macht sich dieser Mangel schmerzlich bemerkbar. Die Spezialisierung ist hinsichtlich des Religionsunterrichts relativ weit gediehen. In der Seelsorge ist gegenwärtig eine Ausbauphase zu beobachten. Im Bereich der diakonischen Praxis ist Spezialisierung wohl bereits am ausgeprägtesten entwickelt. Es gibt Gründe für die Annahme, mit zunehmender Differenzierung und Spezialisierung werde das Moment des Unpersönlichen in der kirchlichen Organisation zurücktreten. »Die Kontrolle durch unpersönliche Regeln wird vor allem deshalb zunehmend schwierig, weil sich die organisatorischen Funktionen differenzieren und zunehmend Spezialaufgaben anfallen, die nur durch dafür vorgebildete Spezialisten bewältigt werden können.« 59
Das heißt also: je differenzierter und spezialisierter sich die kirchliche Praxis weiterentwickelt, desto schwerer ist sie noch einer unpersönlichen Kontrolle zu unterwerfen. Für die Chancen kommunikationsorientierter Gemeinden ist dieser Prozeß der Differenzierung und Spezialisierung des kirchlichen Systems ambivalent. Bringt er einerseits die Möglichkeit mit sich, den vielfältigen Aufgaben der Gemeindepraxis mit Hilfe beratender Fachleute angemessen zu begegnen, so ist auf der anderen Seite nicht zu verkennen, daß damit die großkirchlichen Systeme in die Lebenswelt der Gemeinden eingreifen und den verwaltungs- sowie organisationsorientierten Gemeindetyp gegenüber der kommunikationsorientierten Gemeindepraxis favorisieren. Yorick Spiegel stellt die interessante These auf: »Wir sind heute an einem Zeitpunkt angelangt, der in zunehmendem Maße die oben geschilderte Differenzierung kirchlicher Struktur und die Spezialisierung auf bestimmte Arbeitsgebiete erwarten läßt. Dies wird mit einer gewissen Zwangsläufigkeit eine Veränderung der kirchlichen Bürokratie mit sich bringen. Daher müssen gerade an diesem Zeitpunkt intensive Oberlegungen einsetzen. Wie sind neuartige Organisationsformen zu entwickeln, die 1. die bisherige Unabhängigkeit des Pfarrers in die neugestaltete Institution einbringen, die zugleich 2. den Spielraum sichern, den die Spezialisten für eine erfolgreiche Durchführung ihrer Innovation benötigen und 3. den alten, aber auch neuen Bedürfnissen der Gemeindeglieder zu einer so deutlichen Artikulation verhelfen, daß diese Bedürfnisse weder von der Kirchenleitung noch von den Spezialisten übergangen werden können.« 60
In unserem Zusammenhang interessiert vor allem die dritte Forderung. Gewiß ist die Frage naheliegend, ob der erwartete Spielraum für Spezialisten [Speziali-sten]
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Yorick Spiegel, aaO. 43 AaO.67
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Gemeindeglieder in eine womöglich noch abhängigere Lage bringen könnte und außerdem garantiert die Sicherstellung der Unabhängigkeit der Gemeindepfarrer an sich noch keineswegs stärkere Berücksichtigung kommunikativer Elemente in der Gemeindepraxis. Es kann im Gegenteil durchaus der Fall eintreten, daß sich Gemeindepfarrer und Kirchenleitung auf Kosten der Gemeindeglieder streiten oder verständigen. Die Spezialisten, sofern ihnen der nötige Spielraum tatsächlich zur Verfügung steht, könnten ihre Kompetenz womöglich auch gegen die Bedürfnisse der Gemeindeglieder zur Geltung bringen. Demnach könnte die Erfüllung der ersten beiden Forderungen zu Lasten der dritten Forderung gehen. Deshalb müßte der Akzent auf die Forderung nach der Möglichkeit, die Bedürfnisse der Gemeindeglieder zu artikulieren, gesetzt werden. Das bedeutet, daß die Pfarrer ihre Unabhängigkeit und die Spezialisten ihre Kompetenz dazu verwenden, diese Bedürfnisse aufzunehmen und in der Gemeindepraxis zum Zuge kommen zu lassen. Dazu wäre eine Reflexion des Professionalisierungsprozesses notwendig. Wie alle zweckrationalen Großorganisationen in komplexen Industriegesellschaften tendieren auch die Großkirchen dazu, ihren strukturellen Anpassungszwang gegen die von ihnen ganz oder teilweise abhängigen Menschen voll auszuspielen, um ihren eigenen Bestand wenigstens zu erhalten. Es entspricht der immanenten Logik dieser Tendenz, daß aus dem Blickwinkel der Großkirche betrachtet, die verwaltungsorlentierte, räumlich definierte, statische Gemeinde gegenüber solchen Gemeinden favorisiert wird, in denen die subjektiven Bedürfnisse der Gemeindeglieder zum Zuge kommen und die die Verantwortung für ihre eigene Geschichte übernehmen. Gemeinden im Prozeß werden offensichtlich als Gefährdung der Stabilität der Volkskirche erfahren. Es hat keinen Sinn, verwaltungsorientierten Großkirchen, die sich zugleich als zweckrationale Großorganisationen begreifen, kommunikationsorientierte Gemeinden im Sinne der Basisgemeinde als unvermittelbare Forderung entgegenzusetzen. Eine Transformation verwaltungs- und organisationsorientierter Gemeinden in kommunikationsorientierte Gemeinden wird nur da gelingen können, wo sich Großkirche und Einzelgemeinde in einem dialektischen Prozeß füreinander öffnen.61 Der abstrakte Gegensatz einer »Kirche von oben« und einer »Kirche von unten« muß in einem dialektischen Vermittlungsprozeß zwischen großkirchlicher Institution und kommunikationsorientierter Einzelgemeinde aufgehoben werden. Es spricht in der gegenwärtigen [gegen-wärtigen]
Helmut Gollwitzer, Was ist Kirche?, in: ders., Vortrupp des Lebens, München 1975, 111-120
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Situation der Volkskirche viel dafür, daß die Initiative für diesen Vermittlungsprozeß von den Einzelgemeinden ausgehen muß. Das ist gemeint, wenn die Gemeinde als kritisches Prinzip einer offenen Volkskirche bezeichnet wird.62 Wie kommt dieser dialektische Vermittlungsprozeß zwischen kommunikationsorientierter Einzelgemeinde und großkirchlicher Organisation zustande, wie wird er in Gang gehalten und welche Instrumente stehen zur Verfügung? Auslöser sind häufig konkrete Konflikte zwischen einer Einzelgemeinde und der großkirchlichen Organisation. Ob es sich darum handelt, daß die Pläne einer Gemeinde für den Bau ihrer Kirche auf skeptische Zurückhaltung bei den »kirchlichen Behörden« stoßen und in Eigeninitiative gegen diese durchgesetzt werden63 , ob es darum geht, für einen bewährten Lektor und Prädikanten die Zulassung zur Sakramentsverwaltung zu erreichen oder ob sich die Mitglieder einer Friedensinitiative in einer Gemeinde an die Kirchenleitung wenden, weil ihnen die offiziellen Stellungnahmen ihrer Kirche zur Friedensthematik ungenügend erscheinen - derartige Konflikte könnten jeweils den dialektischen Vermittlungsprozeß eröffnen. In Gang gehalten wird er freilich nur dann, wenn eine fehlgeschlagene Initiative nicht alsbald in Resignation übergeht bzw. erreichte Erfolge nicht lediglich selbstzufrieden registriert werden. Es käme darauf an, in den Gemeinden Strategien zu entwickeln, bei denen zwischen kurzfristig erreichbaren, mittelfristig anzustrebenden und langfristig erwünschten Ziele zu unterscheiden wäre. So könnte z.B. die Ablehnung der Zulassung des erwähnten Prädikanten zur Abendmahlsverwaltung durch die Kirchenleitung mit der Bitte um ein Gespräch zwischen dem Kirchenvorstand der Gemeinde und dem zuständigen Referenten der Kirchenleitung beantwortet werden. Denkbar wäre es auch, gutachterliche Stellungnahmen von Universitätsinstituten anzufordern und diese in dem weitergehenden Dialog zu verwenden. Ein wichtiges Instrument für den dialektischen Vermittlungsprozeß zwischen Kirchengemeinden und großkirchlicher Organisation ist der Deutsche Evangelische Kirchentag.64 Als »Laienbewegung«, in dessen Veranstaltungen die Kommunikation der an ihnen beteiligten Menschen zunehmende [zuneh-mende]
Christof Bäumler, Gemeinde als kritisches Prinzip einer offenen Volkskirche, in: Gotthold Müller (Hg.), Rechtfertigung - Realismus - Universalismus in biblischer Sicht. Festschrift für Adolf Köberle, Darmstadt 1978, 245-266 63 Klaus Rückert, Gemeinde und Gemeinwesen. Entwicklung im Miteinander, in: Norbert Mette (Hg.), Wie wir Gemeinde wurden. Lernerfahrungen und Erneuerungsprozesse in der Volkskirche, München/Mainz 1982, 109f 64 Christof Bäumler, Der Kirchentag als Element einer offenen Volkskirche, in: ThPr 14 (1979), 94-103
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Bedeutung gewann, eignet sich der Kirchentag durchaus als ein Medium des Dialogs zwischen Einzelgemeinden und der großkirchlichen Organisation. Der offensichtlich an die Grenze seiner Kapazität gelangte »Markt der Möglichkeiten« bietet in dieser Hinsicht besondere Chancen. Er könnte nämlich, noch mehr als schon bisher, dazu dienen, reflektierte Erfahrungen kommunikationsorientierter Gemeinden einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen und dadurch auch die Thematik in Synoden und Kirchenleitungen zu beeinflussen. Es handelt sich also nicht nur darum, die Impulse des Kirchentags in die Realität der Ortsgemeinde umzusetzen65 , sondern es ginge auch umgekehrt darum, Initiativen von Kirchengemeinden auf dem Kirchentag zur Diskussion zu stellen. Denkbar wäre es durchaus, daß sich mehrere kommunikationsorientierte Gemeinden gemeinsam an einem Stand auf dem Markt der Möglichkeiten beteiligen. Diese wenigen Hinweise sollen hier darauf aufmerksam machen, wie im Interesse an der Entwicklung kommunikationsorientierter Gemeinden Strategien aussehen könnten, die geeignet sind, den dialektischen Prozeß zwischen Kirchengemeinden und großkirchlicher Organisation voranzubringen. 6.2 Prozesse in der Gemeinde Für den Innenaspekt der Gemeinde gilt: Der »Prozeß Gemeinde« wird durch Prozesse in der Gemeinde in Gang gehalten. Sie sind sehr vielschichtig, werden von vielen Faktoren, vor allem aber durch die Menschen bestimmt, die sich in der Gemeindepraxis engagieren. Dieter Emeis weist mit Recht darauf hin, daß die Gruppen in der Kirche ein Weg zur Überwindung von Identitätskrisen im Glauben sein können.66 Deshalb schon ist es notwendig, daß die Gemeindepraxis die Bildung von Gruppen ermöglicht. Die Kirchengemeinden sind meist zu groß und ihr internes Bezugssystem zu komplex, um selbst von ihren einzelnen Mitgliedern noch als »Gruppe« erfahren werden zu können, zu der sie gehören und in denen sie als Christen leben können. In dem Maße, in dem die primären Gruppen der Familien sich kaum mehr als Untergruppen der christlichen Gemeinden erfahren, ist die Bedeutung von Gruppen in der Gemeinde gewachsen. Wie im Zusammenhang der Erörterung der Strukturen der Gemeinde bereits [be-reits]
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Hans-Ulrich Hartnik, Der Kirchentag und die Gemeinde. Erwartungen eines Neulings, in: ThPr 14 (1979), 128-131 66 Dieter Emeis, Die Gruppe in der Kirche. Ein Weg zur Oberwindung der Identitätskrise [im Orig.: Indentitätskrise] im Glauben, 1973, in: Norbert Greinacher/Norbert Mette/Wilhelm Möhler (Hg.), Gemeindepraxis. Analysen und Aufgaben, München/Mainz 1979, 257-267
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erwähnt wurde67 , unterscheidet Wolfgang Lück bei den vorfindlichen Gruppen in den Gemeinden zwischen Selbsthilfeeinrichtungen und Projektgruppen. 68 Während die einen Stabilisierung, Vertiefung des Glaubens und Befriedigung des Bedürfnisses nach sozialen Kontakten ermöglichen, seien die anderen zur Bearbeitung außerhalb der Gruppenmitglieder liegender Projekte gegründet worden. Obwohl diese Unterscheidung beim ersten Zusehen sinnvoll zu sein scheint, weil in ihr der Binnenaspekt und der Außenaspekt der Gruppe jeweils dominant ist, erscheint sie bei näherem Zusehen doch nicht trennscharf genug zu sein. Denn in den meisten Fällen werden die Motivationen der Selbsthilfegruppen auch bei Mitgliedern von Projektgruppen anzutreffen sein und umgekehrt werden viele Mitglieder von Selbsthilfegruppen mit einem gewissen Recht für sieh in Anspruch nehmen, sich nicht nur mit sich selbst zu beschäftigen, sondern auch Projekte außerhalb ihres Gruppenhorizonts zu verfolgen. Eine Typologie der Gemeindegruppen gibt es bisher noch nicht. Die folgenden Bemerkungen wären mißverstanden, sollten sie ein »Schubladendenken« veranlassen. Es handelt sich um einige Gesichtspunkte, die der Analyse dieser vielfältigen Gruppen in der Gemeinde dienen sollen. Dabei kann die Annahme als sinnvoll gelten: Die Prozesse in der Gemeinde manifestieren sich in Gruppenbildungen und die Art dieser Gruppenbildungen entspricht dem jeweils vorherrschenden Strukturtyp der Gemeinde. Für verwaltungsorientierte Gemeinden sind die »ständischen« Jugend-, Männer- und Frauengruppen charakteristisch. In ihnen sollen potentiell alle Gemeindeglieder Gelegenheit bekommen, über die Gottesdienste hinaus christliche Gemeinschaft zu praktizieren. Die beiden Kriterien der Unterscheidung der Gruppen sind hier Alter und Geschlecht. Wenn auch damit gerechnet wird, daß sich jeweils nur eine Minderheit der Gemeindeglieder an diesen Gruppen beteiligen wird, so ergibt sich aus dem dahinterstehenden Denkmodell, daß tendenziell alle Gemeindeglieder in diesen ständischen Gruppen erfaßt werden sollten. Faktisch führt dies jedoch dazu, daß sich die in diesen Gruppen aktiven Gemeindeglieder als »Kerngemeinde« verstehen und die Gemeindepraxis, zusammen mit den Mitarbeitern der Gemeinde, maßgeblich bestimmen. Organisationsorientierte Gemeinden wenden sich mit ihren Angeboten an bestimmte Zielgruppen, die sich aus der sozialen Struktur der Gemeinde ergeben. Aus der Analyse dieser Struktur entwickeln die Mitarbeiter Projekte, die sie den entsprechenden Zielgruppen, z.B. jungen Familien, arbeitslosen jugendlichen, Hausfrauen, Alleinerziehenden, alten Menschen, Akademikern [Aka-demikern]
Vgl. S. 96 f Wolfgang Lück, Praxis: Kirchengemeinde, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1978, 129-136
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usw. anbieten. Eine taktische Beteiligung der Mitglieder solcher Zielgruppen an deren Programmen ist erwünscht. Bei der Zielgruppenarbeit organisationsorientierter Gemeinden müssen Prioritäten gesetzt werden, weil die zur Verfügung stehenden Mittel im ordentlichen Haushalt der Gemeinden sowie die erreichbaren Zuschüsse aus öffentlichen Mitteln für die Jugend- und Erwachsenenbildung, für diakonische Selbsthilfe und ähnliche Veranstaltungen begrenzt sind. Die Entscheidung über die Prioritäten trifft das Leitungsgremium der Gemeinde in regelgeleiteten Verfahren. Der Intention kommunikationsorientierter Gemeinden entspricht es im Idealfall, wenn sich Gemeindeglieder in autonomen Gruppen organisieren, um ihre Bedürfnisse und Interessen zu artikulieren und zur Geltung zu bringen. In diesem Falle geht die Initiative nicht von den Mitarbeitern aus, sondern von Gemeindegliedern, die ihre höchst unterschiedlichen Bedürfnisse gemeinsam mit anderen in der Gemeindepraxis berücksichtigt sehen wollen. Da dies nicht am Gremium der Gemeindeleitung vorbei möglich ist, werden sie versuchen, auf dessen Zusammensetzung Einfluß zu gewinnen. Bei Wahlen zum Kirchenvorstand kandidieren gelegentlich auch Repräsentanten solcher autonomen Gruppen. Werden sie gewählt, dann können sie ihre Interessen im Leitungsgremium der Gemeinde vertreten und die Prioritätensetzung in der Gemeinde beeinflussen. Eine andere Möglichkeit besteht in der Bildung von Vereinen, die bestimmte Ziele verfolgen und einzelne Mitglieder des Leitungsgremiums sowie einzelne Mitarbeiter der Gemeinde dafür zu gewinnen versuchen. Wenn die vielen denkbaren autonomen Gruppen sich weder isolieren noch in einen Dauerkonflikt mit anderen Gruppen sowie mit den Gremien der Gemeindeleitung und den Mitarbeitern der Gemeinde begeben wollen, ist ein offener Diskurs die Bedingung der Möglichkeit, hier eine Verständigung herbeizuführen. Entsprechend vorbereitete und durchgeführte Gemeindetagungen ermöglichen einer größeren Zahl von Gemeindegliedern sich daran zu beteiligen. Für die gegenwärtige Lage ist es wohl charakteristisch, daß die klassischen »ständischen« Gruppen seltener anzutreffen sind als früher, obgleich sie in ländlichen und kleinstädtischen Gemeinden durchaus noch eine Rolle spielen. Der Typ der Zielgruppenarbeit hat sich, vor allem in großstädtischen Gemeinden, weihin durchgesetzt. Dagegen finden sich nur seltene Beispiele für die autonome Gruppenbildung in Kirchengemeinden und durch sie ausgelöste Prozesse. Auf dem Wege zu kommunikationsorientierten Gemeinden wäre die Frage zu untersuchen, wie sich der Widerspruch zwischen der Behauptung, »ständische« Gruppen seien für alle Gemeindeglieder offen und der Tatsache, daß nur wenige Gemeindeglieder davon Gebrauch machen, auflösen
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läßt. Ein Ansatz dazu wäre die Hypothese, daß dies dann gelingen könnte, wenn die Prozesse zwischen organisierter Zielgruppenarbeit einerseits und autonomen Gruppen andererseits als Phänomene der Gemeindepraxis im Prozeß gesellschaftlicher Differenzierung begriffen werden. Während nämlich die » ständischen « Gruppen den ihnen entsprechenden sozialen Kontext in einer Ständegesellschaft hatten, machen organisierte Zielgruppen und autonome Gruppen in der Gemeinde die Ausdifferenzierung von System und Lebenswelt in der Gemeindepraxis selbst erkennbar. Indem die Prozesse zwischen organisierter Zielgruppenarbeit und den Initiativen autonomer Gruppen untersucht werden, wird die Behauptung konkretisiert, Gemeindepraxis vollziehe sich gegenwärtig im Schnittpunkt von System und Lebenswelt. Weder steht das Amt prinzipiell für das großkirchliche System noch können alle mit dem Verlegenheitsausdruck »Gemeindeleben« gekennzeichneten diffusen Prozesse in der Gemeinde als Manifestation christlicher Lebenswelt begriffen werden. Vielmehr zeigen die komplexen Erwartungen an den Gemeindepfarrer sowie die verschiedenen Versuche, durch Modelle des Team-Pfarramts bzw. des Gruppengemeindeamts angemessenere Lösungen von Problemen der Gemeindepraxis zu finden, zugleich, daß der Konflikt zwischen System und Lebenswelt die Funktion des Amtes in der Gemeinde nicht unberührt gelassen hat, sondern die Frage aufwirft, ob das Amt in der Gemeinde die Interessen des Systems vertritt oder die lebensweltlichen Bedürfnisse der Gemeindeglieder zu artikulieren und durchzusetzen hilft. Daß dieser Konflikt weder nach der einen noch nach der anderen Seite hin glatt aufgelöst werden kann, dürfte klar sein. Es gehört unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen zu den zentralen Aufgaben der Träger des Amtes, den Konflikt zwischen System und Lebenswelt im Prozeß Gemeinde konstruktiv zu bearbeiten. Von dieser Einsicht aus läßt es sich auch begründen, warum den Kasualien gegenwärtig wieder mit Recht besondere Bedeutung zuerkannt wird. Es handelt sich bei der Geburt eines Kindes, bei der Gründung einer Familie, beim Obergang von der Kindheit in das Jugendalter und bei der Trennung von einem Verstorbenen nicht nur um Krisen individueller Biographien.69 Zugleich kommt in ihnen der Konflikt zwischen den Ansprüchen des gesellschaftlichen Systems auf die Individuen und ihrem Grundbedürfnis nach einem gelingendem menschlichen Leben zum Ausdruck. Die kirchlichen Amtshandlungen Taufe, Trauung, Konfirmation und Begräbnis sind unter diesem Gesichtspunkt als die Individuen entlastende Rituale und neue
Richard Riess, Die Krisen des Lebens und die Kasualien der Kirche, in: EvTh 35 (1975), 71-79
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Kommunikation eröffnende Handlungen zu begreifen, in denen dieser Konflikt thematisiert und kritisch-konstruktiv bearbeitet werden kann.70 Wenn diese Annahme zutrifft, dann wären z.B. junge Ehepaare, Konfirmanden und Konfirmandeneltern diejenigen Gruppen in der Gemeinde, deren Grundbedürfnisse in einem zielgruppenorientierten Angebot aufgenommen werden könnten. Während in verwaltungsorientierten Gemeinden mit ihren »ständischen« Gruppen die Ausdifferenzierung von System und Lebenswelt um den Preis des Rückzugs in das Ghetto einer Sekte geleugnet wird, stellen sich organisationsorientierte Gemeinden mit ihrer Zielgruppenarbeit insofern auf die Anforderungen der großen gesellschaftlichen Systeme ein, als sie Defizite ausgleichen und Gemeindeglieder in den Systemen funktionsfähiger machen wollen. Dagegen meldet sich in autonomen Gruppen der Widerstand gegen die im Gefolge des blinden Wachstums der ökonomischen und politischen Systeme unvermeidliche Bedrohung der Lebenswelt zu Wort. Solche autonomen Gruppen, die sich überwiegend im Kontext der Friedens- und Ökologiebewegung bilden, haben nur in kommunikationsorientierten Gemeinden die Chance, in der Gemeindepraxis selbst zum Zuge zu kommen. Ihr Widerstand gegen die Bedrohung der Lebenswelt überschreitet freilich nur dann die Haltung bloßer Abwehr, sei es in Form der Verteufelung des »Systems«, sei es in der Gestalt des Auszugs in eine idyllische helle Welt, wenn es gelingt, ihn in eine konstruktive Systemkritik umzusetzen. Ein solcher Versuch liegt da vor, wo Methoden der Gemeinwesenarbeit in die Gemeindepraxis übernommen werden.71 Geschieht dies, dann zeigt sich an den dabei auftretenden Konflikten, daß der Widerspruch zwischen System und Lebenswelt in der Kontroverse zwischen zielgruppenorientierter funktionaler Gemeinwesenarbeit und von den Gruppen Betroffener organisierter kritischer Gemeinwesenarbeit zum Vorschein kommt.72 Während die Leitungsgremien organisationsorientierter Gemeinden von der nach der Methode der Gemeinwesenarbeit erfolgenden Entwicklung zielgruppenorientierter Projekte eine Verbesserung ihrer funktionalen Gemeindepraxis erwarten, begreifen sich manche Gemeinwesenarbeiter als Initiatoren, Anwälte und Berater autonomer Gruppen von Betroffenen. Die daraus resultierenden Konflikte in der Gemeindepraxis enden in solchen
Wolfgang Steck, Die soziale Funktion der Trauung, in: WPKG 63 (1974), 27-46 Alexander von Oettingen, Kirchliche Gemeinwesenarbeit - Konflikt und gesellschaftliche Strukturbildung. Eine empirische Untersuchung im Kontext der Ekklesiologie Dietrich Bonboeffers, Frankfurt/Bern/Las Vegas 1979 72 Werner Müller, Zum gegenwärtigen Stand von Gemeinwesenarbeit, in: Hans-Eckehard Bahr/Reimer Gronemeyer (Hg.), Konfliktorientierte Gemeinwesenarbeit. Niederlagen und Modelle, Darmstadt/Neuwied 1974, 83 –111 71
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Fällen häufig mit der Kündigung bzw. der Entlassung des Gemeinwesenarbeiters aus dem Dienst der Gemeinde.73 Anstatt vorhandene Probleme zu lösen, scheint man sich mit der Übernahme von Methoden der Gemeinwesenarbeit in ihrer kritisch-konstruktiven Variante nur zusätzliche Probleme für die Gemeindepraxis einzuhandeln. Doch ist hier vor zu raschem Urteil zu warnen. Obwohl eine weitergehende Professionalisierung der Gemeindepraxis durch die Anstellung von Gemeinwesenarbeitern keineswegs unproblematisch ist74 , könnte sich doch auf diese Weise eine konstruktive Vermittlung von funktionaler Zielgruppenarbeit und der Selbstorganisation Betroffener erreichen lassen. Notwendige Bedingungen dafür wären, – daß in den Leitungsgremien der Gemeinde das Problembewußtsein für die Aufgaben der Gemeinden im Schnittpunkt von System und Lebenswelt wächst, – daß die Gemeindepfarrer und die übrigen Mitarbeiter im Gemeinwesenarbeiter einen selbständigen Partner anerkennen, – daß der Gemeinwesenarbeiter mit seinen eigenen Profilierungsbedürfnissen gegenüber den anderen Mitarbeitern kritisch umzugehen vermag und – vor allem, daß alle Mitarbeiter der Gemeinde die Bildung autonomer Gruppen fördern und ihre zielgruppenorientierten Projekte auf die Initiativen solcher Gruppen beziehen lernen. 6.3 Gemeindeplanung als sozialer Prozeß75 Der Begriff »Planung« hat seinen Sitz im Leben in organisationsorientierten Gemeinden. Die »Planenden« stehen den »Betroffenen« gegenüber.76 Ihr Verhältnis stellt sich, entsprechend den Strukturtypen der Gemeinde, unterschiedlich dar. Die Unterschiede werden am deutlichsten, wenn nach dem Modus der Beteiligung der Betroffenen gefragt wird. Die zentrale Planung verwaltungsorientierter Gemeinden läßt im Grunde nur eine passive Beteiligung der Betroffenen zu. Sie sind die Abnehmer eines vorgeplanten Angebots. Es besteht kaum eine Chance, daß ihre Bedürfnisse und Interessen in den Planungsprozeß eingehen. Der institutionelle Rahmen ist normativ vorgegeben.
73
Walter Dennig/Hannes Kramer (Hg.), Gemeinwesenarbeiter in christlichen Gemeinden, Freiburg/Gelnhausen/Berlin o.J. (1972) 74 Hans-Uwe Otto/Kurt Utermann (Hg.), Sozialarbeit als Beruf. Auf dem Weg zur Professionalisierung?, München 1971 75 Manfred Dehnen/Gisela Richter-Junghölter, Gemeindeplanung als sozialer Prozeß, Gelnhausen/Berlin/Stein/Zürich/Köln 1980 76 AaO. 121 f
151
Die dezentralisierte Planung organisationsorientierter Gemeinden ermöglicht eine taktische Beteiligung der Betroffenen. Je nach dem Grade der Sensibilität und der Konfliktfähigkeit von Planenden und Betroffenen werden die Bedürfnisse und Interessen der Betroffenen zur Geltung gebracht werden können. Die im institutionellen Rahmen vorgegebenen Handlungsmöglichkeiten werden mehr oder weniger weitgehend ausgenutzt. Bei der gemeinsamen Planung kommunikationsorientierter Gemeinden sind die Betroffenen strategisch beteiligt. Sie bilden autonome Gruppen, organisieren ihre Bedürfnisse und Interessen, ergreifen die Initiative und versuchen in der Auseinandersetzung mit anderen Gruppen zu verallgemeinerungsfähigen Interessen zu gelangen. Der institutionelle Rahmen wird in diesem Falle nicht als unveränderbar betrachtet. Wenn z.B. Gemeinwesenarbeiter herangezogen werden, erfolgt dadurch eine Veränderung der institutionell vorgegebenen Personalstruktur. Denkbar sind auch Veränderungen der rechtlichen Struktur, z.B. der Bestimmungen über den Vorsitz in Leitungsgremien in der Gemeinde. Damit kommunikationsorientierte Gemeinden nicht bloße Wunschvorstellungen bleiben, sind Ansätze der Transformation organisationsorientierter Gemeinden in kommunikationsorientierte Gemeinden im Prozeß der Gemeindeplanung aufzugreifen. Manfred Dehnen und Gisela junghölter machen mit Recht darauf aufmerksam, daß Prozesse in der Gemeinde durch eine Initiativgruppe in Gang gesetzt werden, die sich über anstehende Probleme informiert, Ziele formuliert und vorläufige Strategien entwickelt. »Die Initiativgruppe kann aus einem professionellen Team für Gemeinwesenarbeit/Gemeindearbeit bestehen oder aus engagierten und zielbewußten arbeitenden Bürgern bzw. Gemeindemitgliedern.« 77
Es ist klar, daß die Chancen strategischer Beteiligung größer sind, wenn die Initiativgruppe aus engagierten und zielbewußten Gemeindegliedern besteht. Die Gefahr besteht in diesem Falle darin, daß die Initiativgruppe dazu neigt, ihre partikularen Bedürfnisse und Interessen unmittelbar zur Geltung zu bringen. Dem Leitungsgremium der Gemeinde kommt dann die Aufgabe zu, diese Bedürfnisse und Interessen der Initiativgruppe aufzunehmen und Aushandlungsprozesse in Gang zu bringen, die zu verallgemeinerungsfähigen Interessen führen. Solches Vorgehen verzichtet nicht auf die Mitarbeit eines professionellen Teams, macht jedoch in jeder Phase des Planungsprozesses klar, daß seine Funktion in der Beratung selbstorganisierter Gruppen besteht. Das hat allerdings weitreichende Folgen für die Ausbildung, die Fortbildung und das Selbstverständnis der professionellen Mitarbeiter.
77
Ebd.
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78
Die geschichtliche Dimension christlicher Gemeinden wird im Planungsprozeß dann ernst genommen, wenn dieser sich nicht darauf beschränkt, für erkannte Probleme künftige Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln, sondern zugleich eine »Spurensicherung« der Problemgeschichte vornimmt. Vorschläge zur Gemeindeanalyse78 berücksichtigen die Dimension der »Spurensicherung« noch nicht hinreichend. Wahrscheinlich wäre es für den Prozeß Gemeindeplanung hilfreich, wenn Elemente der Spurensicherung stärker als bisher in die alltägliche Gemeindepraxis eingeführt würden. Dies wäre z.B. unter dem Stichwort »Konfirmanden entdecken ihre Gemeinde« in der Konfirmandenarbeit möglich.79 Auch im Religionsunterricht sollte die lokale Kirchengeschichte mehr als bisher zum Zuge kommen.80 Die Verbindung von historisch-kritischen und empirisch-kritischen Methoden ist nicht nur für die praktisch-theologische Forschung, sondern auch für die Gemeindepraxis von Belang.81 Mit diesen Hinweisen soll verdeutlicht werden, daß Gemeindeplanung, jedenfalls in kommunikationsorientierten Gemeinden, kein abgehobener Vorgang ist, in dem die Wissenden und Mächtigen in der Gemeinde planen, was in der kommenden Zeit geschehen soll. Sondern Gemeindeplanung ist ein Moment der Gemeindepraxis: die gemeinsam Handelnden blicken hinter sich und suchen die Spuren der Herkunft als christliche Gemeinde; sie schauen sich selbst gewissermaßen über die Schulter, um ihre gegenwärtige Gemeindepraxis in Augenschein zu nehmen und sie sehen nach vorne, um eine Gemeindepraxis zu planen, die sie gemeinsam verantworten können. Gemeindeplanung ist so verstanden, nicht ein gewissermaßen technisches Verfahren mit dem Zweck, das, was ohnehin in der Gemeinde geschieht, effizienter zu machen. Sondern Gemeindeplanung meint, die Reflexion des »Prozesses Gemeinde«, in der Absicht, die Verantwortung für die Gemeindepraxis gemeinsam und bewußt zu übernehmen. Dabei kann es durchaus zu neuen Schwerpunktsetzungen kommen. Ein Ergebnis der »Spurensicherung« könnte z.B. darin bestehen, daß entdeckt wird, wann und wie sich
AaO. 99-120; vgl. auch: Rolf Zerfaß, Die Gemeindeanalyse als pastorales Praktikum, 1975, in: Norbert Greinacher/Norbert Mette/Wilhelm Möhler (Hg.), Gemeindepraxis. Analysen und Aufgaben, München/Mainz 1979, 68-76 79 KU-Praxis, Heft 5, 5-31 80 Ein entsprechendes Projekt wurde im Sommersemester 1980 nach Mitteilung von Helmut Anselm im Rahmen der Religionslehrerausbildung der Universität Augsburg am Beispiel der Kirchengemeinde Erkheim durchgeführt und stieß auf großes Interesse der beteiligten Studierenden 81 Christof Bäumler, Zum Verhältnis von Theologie und empirischer Sozialforschung, in: ders./Gerd Birk/Jürg Kleemann/Gerhard Schmaltz/Dietmar Stoller, Methoden der empirischen Sozialforschung in der Praktischen Theologie. Eine Einführung, München/Mainz 1976, 239-255
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die Distanz der kirchlichen Institutionen zur Arbeiterschaft82 in der Geschichte der eigenen Gemeinde konkretisiert hat. Die Analyse der Gemeindepraxis wird vermutlich ergeben, daß die auch in den Gemeinden herrschenden Normen der Mittelschicht faktisch dazu geführt haben, daß Gemeindeglieder aus der Arbeiterschaft kaum Zugang zur Gemeindepraxis haben. Das ergibt häufig schon ein Vergleich zwischen der Sozialstruktur der Gemeinde insgesamt mit der Sozialstruktur der an den Aktivitäten der Gemeinde teilnehmenden Gemeindeglieder oder mit der Zusammensetzung des Kirchenvorstandes. Schon mancher Gemeindepfarrer wurde dadurch veranlaßt, seine Vermutung, daß im Bereich seiner Gemeinde ohnehin kaum Arbeiter wohnen, zu korrigieren. Spurensicherung und Gemeindeanalyse können in diesem Fall die Entscheidung vorbereiten, in Zukunft in der offenen Jugendarbeit mit Arbeiterjugendlichen einen Schwerpunkt der Gemeindepraxis zu sehen.83 6.4 Gemeinden im Prozeß permanenter Strukturreformen Wer gegenwärtig über den »Prozeß Gemeinde« nachdenkt, kann die Frage nicht übergehen, warum die Anstöße zur Strukturreform der Kirchengemeinden, die in der Konsequenz der Weltkirchenkonferenz 1961 in New-Delhi84 und des II. Vatikanischen Konzils 1962 bis 196585 erfolgten, kaum wirksam geworden sind. Die Beantwortung dieser Frage würde umfassende Studien voraussetzen und kann nicht in wenigen Sätzen gegeben werden. Für die Stagnation des Prozesses der Transformation verwaltungs- und organisationsorientierter Gemeinden zu kommunikationsorientierten Gemeinden können aber für den Bereich der Bundesrepublik Deutschland wenigstens einige Vermutungen geäußert werden. Rudolf von Thadden macht in einem aufschlußreichen Vergleich von Hochschulreform und Kirchenreform86 darauf aufmerksam, daß in der Kirche jeder, der für eine stärkere Berücksichtigung demokratischer Kategorien eintritt, dickere Mauern durchstoßen und zuerst theologische Geschütze auffahren muß, bevor er praktisch argumentieren kann.87 Im Unterschied [Un-terschied]
82
Godwin Lämmermann, Interpretationen und Hypothesen zur Kirchlichkeit von Arbeitern, in: ThPr 15 (1980), 208-220 83 Dietrich Schirmer/Eva Schirmer, Deklassiert? Arbeiterjugendliche in der Kirche, München/Mainz 1976 84 Ökumenischer Rat der Kirchen (Hg.), Die Kirche für andere und Die Kirche für die Welt im Ringen um Strukturen missionarischer Gemeinden, Genf 1976 85 Xavier Rynne, Die Erneuerung der Kirche. Die vierte Sitzungsperiode des Zweiten Vatikanischen Konzils, dt. Köln/Berlin 1967 86 Rudolf von Thadden, Hochschulreform und Kirchenreform, in: PTh 70 (1981), 77-84 87 AaO.79
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zur Hochschulreform, die es leichter hatte in den praktischen Bereich vorzustoßen, dort freilich auch Fehler machte, jedoch die Gegenkräfte zwang, pragmatisch zu argumentieren und sich praktisch zu exponieren, hatte die Kirchenreform kaum eine Chance, ihre Möglichkeiten und Grenzen unter Beweis zu stellen. »Wie so viele Ansätze zur Erneuerung in der Kirchengeschichte ist sie (sc. die Kirchenreform) im Vorfeld konkreter Verwirklichung steckengeblieben oder in Randzonen des kirchlichen Lebens abgedrängt worden. In Kirchentagsdiskussionen und Gruppenbegegnungen hat sie Scheinblüten und bestenfalls Augenblickserfolge erlebt; in Synoden und Gemeinden is t sie nur seiten über das Stadium der Erprobung einzelner neuer Arbeitsformen hinaus gelangt. Am häufigsten jedoch sind die Bemühungen um eine Reform der Kirche dahingelangt, wo sie im Bereich der Kirche seit jeher aufgehoben zu werden pflegen: in die theologische Diskussion.« 88
Auch wenn ich über die Relevanz von Erfahrungen auf dem Kirchentag gerade für die Gemeindepraxis eine andere Auffassung vertrete89 , so ist doch die Beobachtung nicht zu bestreiten, daß die Reformdiskussionen weit über die tatsächlichen praktischen Veränderungen hinweggehen. Wenn stattdessen nicht wenige jüngere Pfarrer für die handlungsorientierte Gemeinde optieren und sich in ihr nicht selten exponieren, so hat von Thadden auch dafür eine plausible Erklärung bereit: »Wo nach sozialem Engagement und sozialem Dienst in der Welt gerufen wird, steht häufig Frustration in der eigenen kirchlichen Arbeit im Hintergrund. Wer wollte es einem Pfarrer verübeln, wenn er sich angesichts mangelnden Lebens in seiner Gemeinde nach Betätigung auf anderen Feldern sehnt, um zu neuen Grenzen zu gelangen?«90
Wiederum ist natürlich diese Erklärung nicht erschöpfend gemeint. Es gibt sehr wohl andere, sehr gute Gründe, sich in der Kirche gesellschaftlichen Problemen zuzuwenden, und den Versuch zu machen, die Gemeinde dafür zu gewinnen. Zutreffend ist jedoch die Beobachtung, daß der mühsame Prozeß der Demokratisierung der Kirche kaum vorankam und richtig ist auch die These, daß Öffnungen nach außen und innere Strukturreform unmittelbar zusammenhängen: »Solange kirchliche Gremien nur nach dem Prinzip der Abwehr unliebsamer Elemente konstruiert sind, wird kaum eine Chance bestehen, ihrer Provinzialisierung erfolgreich entgegenzuwirken. Wo aber eine Öffnung auch verfassungsrechtlich ernsthaft gewagt wird, wo nach dem Prinzip gedacht wird, Anreize zur Beteiligung [Beteili-gung]
88
AaO.80 Christof Bäumler, Kirchentag als Element einer offenen Volkskirche, in: ThPr 14 (1979), 94-103 90 Rudolf von Thadden, aaO. 82f 89
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von Menschen zu schaffen, da wird auch größere Aussicht bestehen, die Verengung des kirchlichen Milieus zu überwinden.« 91
Neben der Begrenzung auf die theoretische Reformdiskussion und dem Ausbruch aus der frustrierenden Erfahrung der Gemeindepraxis in lohnendere Arbeitsfelder hat wohl auch die Ungeduld mancher Reformer in der Gemeinde und die Unfähigkeit, Schritte der Veränderung dem traditionellen Gemeindekern zu vermitteln, zur Stagnation des Transformationsprozesses beigetragen. Es ist sicher nicht einfacher geworden, an der Weiterführung dieses Prozesses teilzunehmen. Die Dringlichkeit der Aufgabe aber ist eher gewachsen. Die Angst vor der Zukunft kann nur in kommunikativen Prozessen überwunden werden.
91
AaO. 83
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Norbert Mette GEMEINDE IST MÖGLICH. EIN NACHWORT
Eine Vielfalt von Eindrücken und Anregungen ist bei mir nach der Lektüre dieses Buches haften geblieben. Einige Formulierungen fand ich so originell, daß sie mich aufmerken ließen; sie verhalfen mir dazu, Geläufiges auf einmal in einer neuen, teilweise überraschenden Perspektive zu sehen. Theoretische Zusammenhänge wurden mir bewußter, bisher nicht so deutlich gesehene Aspekte der Gemeindepraxis klarer. Einige »Kostproben« möchte ich – ohne Anspruch auf Vollständigkeit und Systematik – aneinanderreihen: – Gemeinde als »Gleichnis der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit in der jeweiligen Situation«1 – diese Umschreibung sowie die Weise, wie Chr. Bäumler mit Hilfe des Rückgriffs auf die Gleichnisreden Jesu die Eigenart der Praxis christlicher Gemeinde zu bestimmen versucht, finde ich erhellend. Gleichnisse, so macht Bäumler im Anschluß an neuere Gleichnistheorien deutlich, sind nicht nur ein Erzählgut, das in den Gemeinden aufbewahrt und tradiert wird. Sondern Gleichnisse fordern dazu auf, daß sie in der jeweiligen Situation rekonstruiert werden. Von ihnen können immer wieder innovatorische Impulse für das Gemeindeleben - nach »innen« und nach »außen« ausgehen. – Die Erinnerung an Bonhoeffers Bestimmung der Gemeinde als »Liebesgemeinschaft«, die durch Jesus Christus konstituiert wird, in Abgrenzung zur »Sympathiegemeinschaft« erweist sich mit Blick auf einige innerkirchliche Tendenzen als höchst aktuell. Die Gemeinde ist nicht einfach ein Ort psychischer Geborgenheit und sozialer Harmonie - fernab aller gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte. Sondern sie findet sich mitten darin vor. Wie mit dieser Realität umgegangen wird, wie sie Stück für Stück in die mit Jesus Christus gegebene neue Wirklichkeit transformiert wird, das ist bzw. wäre ihr besonderes Erkennungsmerkmal. – Mithilfe seines problemgeschichtlichen Rückblicks anhand der ausgewählten vier Paradigmen zeigt Bäumler überzeugend auf, daß es kein zeitlos gültiges Muster von Gemeindepraxis gibt, das nur kopiert zu
1
Siehe S. 24.
158
–
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–
–
–
2
Siehe S. 72.
werden brauchte. Sondern es ist immer wieder neu eine Verständigung darüber zu erzielen, welche Sozialform und welches soziale Handeln in der gegebenen geschichtlich-gesellschaftlichen Situation der in Jesus Christus sich durchsetzenden Gottesgerechtigkeit entspricht. Man kann darum sagen, daß sich die Kontinuität der Gemeinde Jesu Christi in der überraschenden Vielfalt der historischen Verwirklichungsformen zeigt. Zu vergegenwärtigen ist dabei allerdings, um eine weitere einprägsame Formulierung von Bäumler aufzugreifen, daß Gemeinde »nicht Produktion selbstbestimmter Freiheit, sondern Rekonstruktion geschenkter Freiheit«2 ist. Die Unterscheidungen zwischen den tatsächlichen und den wünschenswerten Funktionen bzw. Strukturen und die daraus gebildeten Typologien von Gemeinden sind sehr instruktiv. Bemerkenswert ist auch, daß Bäumler die Gemeindetypen nicht einfach antithetisch gegenüberstellt und sie als alternative Möglichkeiten ausgibt, sondern daß er um eine -im Sinne kommunikativer Gemeindepraxis - konstruktive kritische Vermittlung bemüht ist. Gemeinde nicht als isolierte Größe, sondern als in Gesellschaft und (Groß-)Kirche eingebunden zu betrachten, ist eine wichtige durchgehende Perspektive in Bäumlers Überlegungen. Auch wenn es gilt, die in der Gemeinde geltenden Prinzipien des Umgangs miteinander auch über sie hinaus Praxis werden zu lassen, bleibt nüchtern einzugestehen, daß dem entgegenstehende Gegebenheiten umgekehrt auf sie einwirken. Das Ideal einer »integrierten Gemeinde« erweist sich als problematisch, insofern es diese Wechselwirkung durch eine abstrakte Gegenübersetzung ablösen möchte. Gerade für hauptamtlich im Gemeindedienst Tätige ist es aufschlußreich, daß Bäumler sich nicht bloß deren Perspektive von Gemeinde zu eigen macht, sondern sehr bewußt auch die Perspektive von »Laien« in Anschlag bringt. Es wird deutlich, daß die Unterschiedlichkeit dieser Perspektiven sich im Alltag der Gemeinden alles andere als folgenlos auswirkt, daß im Gegenteil viele Verständigungsschwierigkeiten u. ä. daraus resultieren. Das Wortspiel »Progreß« und »Prozeß« finde ich sehr anregend. Dieses allein gibt schon einen ersten Anstoß, daß die Geschichte einer Gemeinde nicht länger als bewußtloser Progreß abläuft, sondern als reflektierter Prozeß wahrgenommen wird. Übrigens hat das Wort »Prozeß« bei mir eine weitere Assoziation ausgelöst: Stellen wir uns vor, unseren Gemeinden hierzulande würde der Prozeß [Pro-zeß]
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gemacht, was könnten sie überzeugend zu ihrer eigenen Verteidigung anführen? Was bedeutet der Prozeß Gemeinde angesichts der dringend anstehenden Fragen, die sich von der Tagesordnung der Welt her stellen? Ist angesichts dessen Schleiermachers Option für die Ausweitung der Volkskirche zur Menschheitskirche - anstelle des hierzulande weithin gepflegten Provinzialismus - nicht aktueller denn je? Diese Perspektive der Verantwortung der Gemeinde im weltweiten Horizont müßte m. E. noch kräftiger, als es in diesem Buch geschieht, ausgearbeitet werden3 . Vieles weitere wäre noch zu nennen, z.B. die Hinweise zum Verhältnis von Arbeit und Freizeit in der Gemeinde oder zu einer kommunikativeren Ausgestattung der hauptamtlichen Dienste. Wie angedeutet, reizt manches auch, Bedenken anzumelden oder Rückfragen zu stellen: –
–
3
Auch wenn im reformatorischen Prinzip der einen Gemeinde die zweifache Lebensform der Christenheit in Weltkirche und Nachfolgegruppen letztlich aufgehoben ist, ist dessen Wirkungsgeschichte ein Indiz dafür, wie schwer es ist, es zur gelebten Praxis werden zu lassen. Nicht umsonst spricht Bäumler von der Gemeinde als kritischem Prinzip der Volkskirche. Unklar bleibt jedoch, wer die Subjekte sind, die sich für dieses Prinzip einsetzen. Müßte unter diesem Gesichtspunkt der ekklesiologische Beitrag von Basisinitiativen nicht auch in der protestantischen Kirche viel stärker in den Blick genommen und gewürdigt werden? In dem Mißtrauen vor einer Vereinnahmung des Individuums durch Kirche und Gemeinde kann ein spezifisches und bleibend gültiges Moment der reformatorischen Tradition erblickt werden. Daran hält auch Bäumler fest: Der Gemeinde als kritischem Prinzip einer offenen Volkskirche ordnet er gewissermaßen ein kritisches Prinzip der Gemeinde vor, nämlich den mündigen, als Subjekt anerkannten einzelnen Christen. So sehr dem zuzustimmen ist, ist zu fragen, wie dieses Subjekt ausgebildet wird. Ist es dafür nicht seinerseits auf entsprechende soziale Bedingungen angewiesen? Gemeinde ist also in gewisser Weise auch als notwendige Voraussetzung christlicher Subjektwerdung zu begreifen. Die von Bäumler zitierte Bonhoeffer-Formel »Christus als Gemeinde existierend« weist in die Richtung einer solchen dialektischen Vermittlung von Individualität und Sozialität.
Diesbezügliche Perspektiven finden sich u. a. in dem Synodenbeschluß »Unsere Hoffnung« etwa unter den Stichworten »Für die Tischgemeinschaft mit den armen Kirchen« und »Für eine lebenswürdige Zukunft der Menschheit«, in: L. Bertsch u. a. (Hg.). Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland. Offizielle Gesamtausgabe I, Freiburg 1976, 84-111, bes. 109ff.
160
–
Gerade weil Bäumler selbst die Gefahr einer einseitigen Verbalisierung und Intellektualisierung sieht, wäre stärker herauszuarbeiten, inwiefern der Diskurs als regulatives Prinzip einer kommunikativen Gemeindepraxis Symbol und Ritual nicht ausschließt.
II Doch nicht nur daß eine solche Fülle von anregenden und diskussionswürdigen Einzelaspekten zusammengetragen worden ist, läßt eine Lektüre dieses Buches lohnend werden. Es leistet insgesamt auch einen beachtlichen Beitrag zur aktuellen praktisch-theologischen Theoriebildung zum Praxisfeld Gemeinde. Im Vordergrund steht die Frage, wie unter den Bedingungen der gegenwärtigen gesellschaftlichen wie kirchlichen Strukturen eine kommunikative Gemeindestruktur Gestalt gewinnen kann. Mit ein paar knappen Bemerkungen sei dieser Beitrag zur Theoriediskussion gewürdigt: – »Christliche Gemeinden leben im Prozeß historischer Veränderung ihre eigene Geschichte im Schnittfeld von System und Lebenswelt«.4 Prägnanter läßt sich kaum in einem Satz zusammenfassen, welche Dimensionen in einer praktisch-theologischen Theorie der Gemeindebildung zu berücksichtigen sind. Gemeindliche Praxis vollzieht sich eben in einem komplexen Geflecht von Beziehungen und Zusammenhängen. Da ist zum einen der eigene geschichtliche Hintergrund zu nennen, der die aktuelle Ausgestaltung nicht unerheblich prägt. Diese Tradition braucht nicht nur als belastend und einengend erfahren zu werden; von ihr können auch, zumal wenn sie kritisch aufgearbeitet wird, innovative Momente ausgehen. Bäumler bringt dafür instruktive Beispiele. Zum anderen spielt der soziohistorische Kontext eine große Rolle. Bäumler greift hierbei auf die in einigen soziologischen Ansätzen geläufige Unterscheidung von System und Lebenswelt zurück und sieht den spezifischen gesellschaftlichen Dienst, den Gemeinden zu erbringen hätten, darin, einen Beitrag zur Rekonstruktion der bedrohten Lebenswelt zu leisten. Sie steht solidarisch auf der Seite der Unterprivilegierten und Leidenden, denen ihr Recht, Mensch zu sein, auf vielfältige Weise bestritten, verkürzt oder zerstört wird. Eine weitere Dimension bildet die gegenwärtig antreffbare Sozialgestalt von Gemeinde. Zu ihrer Analyse bedient sich Bäumler der strukturell-funktionalen Theorie, gemäß der Gemeinde als spezifisch strukturiertes Teilsystem in Kirche und Gesellschaft erfaßt wird, das sehr unterschiedliche Funktionen ausübt und Leistungen er-
4
Siehe S. 117.
161
–
–
5
Siehe S. 44.
bringt. Darüber hinaus entnimmt er dieser Theorie die Einsicht, daß eine Gemeinde, so sehr sie auf ständige kommunikative Verflüssigung, auf unabschließbaren und grenzenlosen Diskurs, auf permanente Strukturreform angelegt ist, ohne Strukturen nicht auskommt und auf Verfahren nicht gänzlich verzichten kann. Damit ist bereits angedeutet, daß eine praktisch-theologische Theorie der Gemeindebildung und -arbeit es nicht bloß bei einer Beschreibung der Realität beläßt, sondern Möglichkeiten ihrer Transformation erkundet. Mit seiner Arbeitshypothese bringt Bäumler dies deutlich zum Ausdruck: »In den amorphen oder verkrusteten, betriebsamen oder gelähmten, selbstzufriedenen oder resignierten Gemeinden stecken die Elemente der Gemeinde der Befreiten. Keine Gemeinde ist dazu verurteilt, sich mit ihrem jeweiligen Zustand abzufinden. Sie hat immer die Möglichkeit, sich selbst im Vollzug ihrer Praxis zu überschreiten. «5 Diesem Zitat ist zweierlei zu entnehmen: Zum einen gibt sich Bäumler über den derzeitigen Zustand von Gemeinden in der volkskirchlichen Situation keinerlei lllusionen hin; ungeschminkt nimmt er ihn zur Kenntnis. Zum anderen hält er jedoch an der Überzeugung fest, daß mit einer noch so deprimierenden Zustandsbeschreibung das letzte Wort über diese Gemeinden nicht gesprochen ist. Es ist nicht zulässig, Gemeinden bloß an ihrer Vorfindlichkeit zu bemessen, sie darauf festzulegen. Vielmehr kommt es darauf an, die Wirklichkeit von der darin angelegten Möglichkeit her sehen und beurteilen zu lernen. Bäumler faßt das in die theologische Formel von der sich in Jesus Christus durchsetzenden Gottesgerechtigkeit. Kennzeichnend für christliche Gemeinden ist also eine dialektische Existenzweise zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit. Diese Spannung zwischen dem »Schon« der geschenkten Freiheit und dem »Noch-Nicht« ihrer vollen Verwirklichung »in Stellvertretung« gilt es wahrzunehmen und produktiv auszuhalten. Die Gemeinden zu befähigen, sich auch unter der Perspektive ihrer Möglichkeit wahrnehmen - d.h. sie sehen und praktisch dafür eintreten - zu lernen, ist ein Grundanliegen dieses Buches. Ziel und zugleich Weg dieser Transformation gibt Bäumler in dem Begriff an, der als Leitkategorie das ganze Buch durchzieht: »kommunikative Gemeindepraxis«. Er ermöglicht es, faktische und mögliche Gemeindepraxis sowohl voneinander zu unterscheiden als auch aufeinander zu beziehen. Alle Leistungen, die von einer Gemeinde erbracht werden, alle ihre strukturellen und personellen Gegebenheiten, alle Planungen, die sie vornimmt, sind daraufhin zu prüfen, ob sie den Raum einer kommunikativen Freiheit eröffnen.
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Gemeindliches Handeln als Praxis kommunikativer Freiheit - in dieser Bestimmung ist enthalten, daß die Gemeinde über die Freiheit nicht verfügt; im Gegenteil, konstitutiv für sie ist das Geschenk der zugesagten Befreiung6 . Diese Erfahrung der Freiheit kommt zur Geltung, indem die Gemeinde sich als Raum und Anwalt der Freiheit begreift und vollzieht - nach innen und nach außen. Treffend spricht Bäumler im Anschluß an Bonhoeffer vom »stellvertretenden Handeln«. Eine derartige Gemeindepraxis bleibt fragmentarisch. Das ist allerdings kein Grund, sich mit dem jeweils Erreichten zufrieden zu geben. Daß eine Gemeinde aus der Erfahrung der Freiheit heraus lebt und in ihrem Vollzug als kommunikative Freiheit realisiert, hat sich im konkreten Fall zu erweisen und ist immer neu anzustreben. III Damit ist die praktische Stoßrichtung dieses Buches angesprochen. Die Nüchternheit der theoretischen Reflexion kann das praktische Engagement, das Bäumlers Ausführungen leitet, nicht übersehen lassen. Den zahlreichen theologischen Leitbildern von Gemeinde wird nicht lediglich ein weiteres hinzugefügt. Sondern das theoretische Bemühen ist darauf gerichtet, operationalisierbare Kriterien für eine kommunikative Gemeindepraxis zu entwickeln. Darin sieht Bäumler die Aufgabe, um die sich insbesondere die praktische Theologie zu kümmern hat. Sie kann und darf den Gemeinden keine Rezepte liefern. Sondern ihr muß es darum zu tun sein, theoretische Begriffe und Zusammenhänge zu entwickeln, mit deren Hilfe Gemeinden in die Lage versetzt werden können, sich selbst ein Bild von ihrer augenblicklichen Situation zu machen und die darin verborgenen Möglichkeiten aufzuspüren. Kritische Analyse und konstruktive Veränderung können und sollen nicht »von außen« oder »von oben« vorgeschrieben werden; sondern sie liegen in der Verantwortung der Gemeinden. Theoretische Überlegungen werden damit nicht überflüssig. Aber sie stehen nicht normierend über der Praxis, sondern begleiten diese, indem sie die erforderlichen Hilfestellungen geben. Übrigens handelt es sich bei dieser praktisch-theologischen Konzeption um eine konsequente Befolgung des Prinzips der kommunikativen Freiheit.
6
Zur systematischen Fundierung vgl. W. Huber, Folgen christlicher Freiheit, NeukirchenVluyn 1983, bes. 113-127, 205-216; H. Peukert, Sprache und Freiheit. Zur Pragmatik ethischer Rede, in: F. Kamphaus/R. Zerfaß (Hg.), Ethische Predigt und Alltagsverhalten, München-Mainz 1977, 44-75. - Signaturen einer kommunikativen Gemeindepraxis werden anschaulich in den Texten von Th. Pröpper, Gottes Ja - unsere Freiheit, Mainz 1983.
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7
Zwar mögen manche Begriffe und theoretischen Zusammenhänge, zumal wenn Bäumler sie den Sozialwissenschaften entlehnt hat, ungewohnt klingen. Aber gerade ein solcher befremdender Eindruck kann sich als vorteilhaft erweisen. Er läßt nämlich die Distanz gewinnen, die notwendig ist, damit man sich von der eigenen Praxis ein möglichst unvoreingenommenes Bild machen kann. Die meist unreflex vorgenommenen Schwerpunktsetzungen sowie die zugleich damit vernachlässigten Aufgabenfelder können deutlicher wahrgenommen werden. Die von Bäumler entwickelten Typologien beispielsweise ermöglichen es, daß Gemeinden ihre Praxis differenzierter einschätzen und sich daraufhin überlegen können, wie sie in ihrer spezifischen Situation einer kommunikativen Gemeindepraxis noch besser Gestalt geben können. Gemeinden werden befähigt, über ihr Tun und ihren Weg Rechenschaft abzulegen. Um das Gesagte noch handhabbarer erscheinen zu lassen: Vorstellbar ist beispielsweise, daß die Verantwortlichen einer Gemeinde zusammentragen, welche Funktionen in dieser Gemeinde faktisch ausgeübt werden, und überlegen, wie sich das zu den wünschenswerten Funktionen verhält. Oder nach Ablauf eines Jahres kann gefragt werden, was von dem, »was gelaufen ist«, als »Progreß« zu charakterisieren ist und was als »Prozeß«. Sind solche Stichworte erst einmal festgehalten, kommt es fast wie von selbst zu einem Verständigungsprozeß darüber, wie der weitere Weg der Gemeinde verlaufen soll und kann. Hierzu bedarf es neben der theologisch-theoretischen Handlungsorientierung einer anderen als bisher geläufigen Ekklesiologie. Ihr Material bestände aus Erzählungen darüber, wie Gemeinden mehr und mehr zum Raum und Anwalt kommunikativer Freiheit geworden sind7 . Vielleicht kann darin bereits ein Indiz kommunikativer Gemeindepraxis gesehen werden, nämlich ob aus den Gemeinden heraus solche (Nachfolge-)Geschichten erzählt werden.
Anregend sind u. a. die Berichte in N. Mette (Hg.), Wie wir Gemeinde wurden. Lernerfahrungen und Erneuerungsprozesse in der Volkskirche, München-Mainz 1982.
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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS
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NAMENREGISTER Adam, A. 120 f Adam, 1. 95 Anselm, H. 152 Arens, E. 24f Bahr, H. E. 94 Bathke, U. 92, 118 Beckmann, J. 42 Bethge, E. 35 Boff, L. 112 Bohren, R. 69f, 105f, 120 Bonhoeffer, D. 10, 21, 24, 33ff, 76f, 89, 158, 160, 163 Bormann, G. 59, 83 f Bormann-Heischkeil, S. 83f Brennecke, G. 85 Brunner, E. 138 Bultmann, R. 25, 117 Cardenal, E. 114 Clinebell, H. j. 110 Cornehl, P. 86 Crossan, j. D. 25 Dahm, K.-W. 67 Dehnen, M. 73, 150 Dennig, W. 150 Dibelius, O. 121 f, 123 Diern, H. 104 ff Dienel, P. 141 Dodd, Ch. H. 25 Eichholz, G. 24f, 57, 84 Emeis, D. 89, 102, 145 Frick, R. 83 Friedrich, G. 16 Flothow, M. 99 Fuchs, E. 25 Glatzel, N. 55 Gollwitzer, H. 127f, 143 Graf, F. W. 96 Graff, G. 123, 127 Gramlich, B. 103 Güttgemanns, E. 25 Habermas, J. 47, 49 f, 102, 132 f Hach, J. 89 Hahn, F. 29 Hanusch, R. 130 v. Harnack, A. 122 Hartmann, G. 112 Hartnik, H.-U. 145
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Heinrich, R. 37, 39 Heitmann, C. 129 Hild, H. 67 Hinschius 82 Höfling, J. F. W. 104 Hoekendijk, J. C. 84 f Hofmann, W. 68 Holtz, G. 82 Huber, W. 163 Husserl, E. 47 Jeremias, J. 25 Jetter, W. 52 Jülicher, A. 25 Jüngel, E. 25 Käsemann, E. 21, 24, 27ff, 117, 129 Kasakos, G. 92, 118 Kehrer, G. 8 1 ff Kentler, H. 64 Kleiner, R. J. 110ff Klostermann, F. 57 Koch, T. 138 Kohlberg, L. 49 Koreng, Ch. 132 Kramer, H. 150 Krusche, P. 69, 106 Kugler, G. 86 Lange, E. 18f, 22, 40f, 43, 87, 93, 98f, 139 Lämmermann, G. 153 Lehmann, K. 70f Lersch, Ph. 97 Link, FL-G. 60 Linnemann, E. 24f Ludwig, H. 140 Luck, U. 16 f Lück, W. 95 f, 146 Luhmann, N. 61, 108, 131, 133 Luther, M. 10, 23f, 30ff, 34, 39, 63 Marsch, W.-D. 72, 83 Matthes j. 51, 59, 106 Melanchthons, Ph. 15 Mette, N. 87, 119 Metzger, W. 97 Mollenhauer, K. 92, 95 f, 118 Moltmann, J. 22 f, 3 8, 43 f Mühlen, H. 129 Muhs, J. 108 Müller, F. 127
Müller, W. 149 Niemöller, M. 127f v. Oettingen, A. 149 Ortmann, H. 92, 118 Otto, H-U. 150 Peukert, H. 163 Philipps, K. 46 Pröpper, Th. 163 de Quervain, A. 123 Rade, M. 121 f Rahner, K. 110 Rannenberg, M. 108 Reich, W. 97 f Rendtorff, T. 88f Richter-Junghölter, G. 73, 150 Riess, R. 148 Rückert, K. 92, 126, 144 Rynne, X. 153 Scharf, K. 127 Sauter, G. 89 Schibilsky, M. 45ff, 114 Schillebeeckx, E. 129f Schirrner, D. 153 Schirmer, E. 153 Schleiermacher, F. 105f, 119ff, 123, 160 Schlink, E. 15 Schmidt, E. R. 95 Schmidt-Relenberg, N. 42 Schmitz, E. 127 Schneider, G. 10, 20f, 76ff, 109, 117 Schnell, H. 107 Schobel, P. 86 Schütz, A. 47 Schulz, H.-M. 113 Schuster, K. 96 Schweizer, E. 20 Siller, H. P. 112 f, 141 Sölle, D. 79 Spiegel, Y. 56, 108, 140ff Spranger, E. 97 Stahl, F. J. 104 Steck, W. 149 Stein, A. 62f, 86 Steinkamp, H. 76, 90ff Storck, H. 24 Strohm, T. 120, 123 Sturz, U. 82
v. Stryk, E. 128 v. Thadden, R. 153 f Thielicke, H. 24 Trillhaas, W. 126 Utermann, K. 150 Via, D. 0. 25 Wagner, F. 81 Wahrig, G. 61 Weber, M. 5 8 f, 140 Weinrich, H. 133 f v. Weizsäcker, Ch. 102 v. Weizsäcker, E. 102 Wendland, H.-D. 119 Wichern, J. H. 120f, 123 Will, K. 72 Winzeler, P. 127 Wörie, E. 125 Zerfaß, R. 67, 152, 164 Zierau, J. B. 108 Zinzendorf 57