Verlag Volk und Welt Berlin
Zweiter Band
Kriegstagebücher Simonow
Titel der Originalausgabe: Разные дни воины, том...
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Verlag Volk und Welt Berlin
Zweiter Band
Kriegstagebücher Simonow
Titel der Originalausgabe: Разные дни воины, том II Aus dem Russischen von Corrinna und Gottfried Wojtek (Kapitel 1-15) und Günter Löffler (Kapitel 16-32) Militärische Beratung Egon Krenz Mit einem Einschub des Autors, erstmalig in vorliegender DDR-Ausgabe Band 2 Seite 665/666
1. Auflage © Verlag Volk und Welt, Berlin 1979 (deutschsprachige Ausgabe) L. N. 302, 410/20/79 Printed in the German Democratic Republic Alle Rechte für die Deutsche Demokratische Republik vorbehalten Redakteur: Hannelore Freter Einbandentwurf: Axel Bertram Gruppe 4 Satz, Druck und Einband: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30 LSV 7202 Bestell-Nr. 647 525 5 DDR 22,20 M (2 Bände)
1942
1 In der Nacht vom 30. zum 31. Dezember 1941 ging ich zum Redakteur, um einige Korrekturen an meiner Reportage „Juni – Dezember“ vorzunehmen, die für die nächste Nummer vorgesehen war, und plötzlich, ich war selbst überrascht, bat ich ihn, mich am Morgen für zwei Tage nach Swerdlowsk zu meinen Angehörigen fliegen zu lassen, am 2. spätestens am 3. würde ich wieder in Moskau sein. Der Redakteur war einverstanden und gab Anweisung, in einer der am nächsten Tag nach dort fliegenden Maschinen für mich einen Platz zu beschaffen. Alles schien in bester Ordnung zu sein. Ich sah mich schon am nächsten Abend in Swerdlowsk. Nach Beendigung der Korrekturen hielt ich mich noch im Zimmer des Redakteurs auf, und er bat mich, Grossmans Erzählung „Schreite schneller“ noch für die gleiche Nummer durchzusehen. Ich sollte sie um zwanzig Zeilen kürzen, und außerdem wollte Ortenberg wissen, ob ich die Geschichte psychologisch glaubhaft fand. Es ging darin um folgendes: Der Truppenteil, bei dem der Held der Erzählung als Koch dient, näherte sich unvorhergesehen auf fünfzehn Kilometer dem Dorf, in dem die Frau des Kochs lebt, die er schon ein halbes Jahr nicht mehr gesehen hat. Der Koch hat von seiner Tätigkeit schon genug, und er bittet, den Aufklärungstrupp begleiten zu dürfen. Der Bataillonskommandeur läßt sich jedoch
nicht erweichen. Am nächsten Abend soll der Truppenteil weiterziehen. Der unmittelbare Vorgesetzte des Kochs – ein Leutnant – beurlaubt ihn bis zum Abend des nächsten Tages, damit er im Dorf seine Frau besuchen kann. Der Koch bereitet sich schon darauf vor, als er plötzlich zum Bataillonskommandeur gerufen wird, der endlich seine Bitte erfüllt. Er soll noch in der gleichen Nacht mit einem Aufklärungstrupp ins Hinterland der Deutschen. Der Koch schwankt zwischen der Liebe zu seiner Frau und seinem Pflichtgefühl, und trotz der großen Verlokkung, seine Frau wiederzusehen, siegt das Pflichtgefühl. Auf die Frage des Redakteurs antwortete ich, die Situation sei vielleicht nicht allzu lebensecht, psychologisch aber sei sie schon glaubwürdig. Da es vom Sujet her möglich war, würde, psychologisch gesehen, wohl jeder von uns handeln wie der Held dieser Erzählung. Ich kürzte Grossmans Erzählung um zwanzig Zeilen und unterhielt mich dann noch mit Ortenberg; um zwei Uhr nachts traf plötzlich die Nachricht vom Beginn unserer Landungsoperation in Kertsch und Feodossija ein. Ortenberg teilte mir die soeben per Telephon eingetroffenen Informationen mit und meinte, man werde jemanden hinschicken müssen. Ehrlich gesagt, hatte ich diesmal keine große Lust, dorthin zu fliegen. Auch Ortenberg tat, als käme ich dafür nicht in Frage, und er erörterte mit mir sogar, wen man schicken könne – Pawlenko oder einen anderen Korrespondenten. Dann beorderte er telephonisch Pawlenko zu sich. Ich aber ging in die Kantine Tee trinken. Nach etwa fünfzehn Minuten – ich hatte einige Gläser
Tee getrunken – rief Ortenberg in der Kantine an. „Simonow, komm doch mal zu mir. Ich möchte dich doch auf die Krim schicken. Ich habe niemanden sonst. Pawlenko ist krank geworden.“ Als ich bei ihm eintrat, lag Grossmans Erzählung auf seinem Schreibtisch. „Ich habe niemanden so recht, den ich schicken könnte“, sagte Ortenberg. „Notfalls könnte ich außer Pawlenko und dir auch noch einen anderen auftreiben, aber das schmeckt mir nicht. Ich will dich nicht zwingen, entscheide selbst. Meine Zusage nehme ich nicht zurück – du kannst nach Swerdlowsk fliegen. Na?“ Ungeduldig sah er mich an. Ich überlegte. Mit einem Bein war ich schon in Swerdlowsk. Dann blickten wir uns an, unsere Blicke fielen auf Grossmans Erzählung, und wir mußten unwillkürlich lächeln. „Na ja“, sagte ich, „da es eine psychologisch glaubwürdige Situation ist, werde ich wohl fahren müssen. Nur, vielleicht kannst du mich vorher noch mit Swerdlowsk verbinden.“ Zuerst rief Ortenberg bei den Fliegern an und besorgte mir einen Platz in einem Flugzeug, das am nächsten Morgen nach Krasnodar fliegen sollte. Dann telephonierte er mit dem Volkskommissariat für Post- und Fernmeldewesen und sagte, er müsse innerhalb der nächsten Viertelstunde mit Swerdlowsk sprechen. Zehn Minuten später hatte er die Verbindung. Er klemmte seinen Redakteurskram unter den Arm und ging hinaus. Aus verschiedenen Gründen war das kein fröhliches Gespräch, und ich kam mit finsterer
Miene aus dem Zimmer. Ortenberg bemerkte es sofort und fragte: „Was ist los?“ Ich meinte, es wäre nichts weiter, und ging in mein Zimmer, um mich wenigstens noch für zwei Stunden aufs Ohr zu legen. Aber ich war noch nicht eingeschlafen, als ich dringend zum Redakteur Ortenberg gerufen wurde. Ortenberg hatte, nachdem er mein Gesicht gesehen hatte, sich aus eigenem Antrieb noch einmal Swerdlowsk geben lassen, wieder verließ er das Zimmer, und ich telephonierte ein zweites Mal. Das zweite Gespräch verlief nicht besser als das erste. Ich schlief mit unserem Photoreporter Sascha Kapustjanski in einem Zimmer. An seinem Fußende standen riesige Filzstiefel. Meine Filzstiefel aber waren mir zu eng, ich hatte Angst, mit ihnen auf den weiten Flug zu gehen, und so drehte ich zum erstenmal in meinem Leben ein krummes Ding: Ich zog aus Kapustjanskis Filzstiefel die Fußlappen und tauschte mit ihm die Filzstiefel, die Fußlappen legte ich fein säuberlich wieder hinein. Unterwegs zum Flugplatz blieb unser Wagen im Schnee stecken, erst nach geraumer Zeit waren wir wieder heraus, so daß wir schließlich erst eintrafen, als unsere Maschine bereits zum Start rollte. Auf meine Frage an den Diensthabenden des Flugplatzes, wo das Flugzeug nach Krasnodar sei, wies er auf eine bereits weit draußen auf dem Flugplatz rollende Maschine. Das war dumm und peinlich. Der Eindruck konnte entstehen, ich sei absichtlich nicht geflogen. Ich war ratlos. Meinen kleinen Koffer in der Hand, stand ich völlig verwirrt auf dem Flugplatz. Plötzlich blieb das
rollende Flugzeug stehen. Es war mit den Rädern in eine Schneewehe geraten und mußte erst wieder heraus bugsiert werden. Der Diensthabende und ich rannten zu der Maschine und erreichten sie, völlig außer Atem, gerade in dem Moment, da sie bereits wieder aus der Schneewehe heraus war und der Pilot das Gas aufdrehte, um zu starten. Wie sich herausstellte, war mein Platz bereits besetzt, ein Passagier war in den Rumpf verfrachtet worden, ein weiterer saß vorn auf dem Platz des Navigators. Es war ein Flugzeug vom Typ SB, und mehr Plätze gab es darin nicht. Schimpfend erklärte sich der Pilot jedoch bereit, mich mitzunehmen, und buchstäblich im allerletzten Augenblick wurde ich samt meinem Koffer hochgehoben und in die Navigatorkanzel gepfercht. Zum besseren Verständnis will ich die Kanzel näher beschreiben. Auf dem Sitz des Navigators saß bereits der eine Mitreisende, und in dem Zelluloidschutzschild war in extra angefertigten Ausschnitten ein Zwillings-MG montiert. Ich wurde hinein gequetscht, und die Luke wurde von unten zugeschlagen. Das Flugzeug machte einen Satz und rollte an. Sitzen konnte ich nicht, und so hockte ich mich halb schräg auf die Kolben der MGs. Ich konnte mich in dieser Enge kaum rühren, und nur mit Mühe konnte ich mir mit der Hand über das Gesicht fahren oder die Pelzmütze zurechtrücken. Es war ein Hundewetter. Wir umflogen Gebiete mit starken Schneestürmen, wurden hin und her geworfen und durchgeschüttelt. Durch die MG-Ausschnitte fegte eisige Luft herein, immerhin hatten wir an
diesem Tag unten auf der Erde etwa dreißig Grad Kälte. Als wir nach annähernd vier Flugstunden in der Nähe von Kamensk landeten, wo der Stab der Südfront damals lag, kletterte ich halbtot aus dem Flugzeug. In Gesicht und Händen hatte ich kein Gefühl mehr, die Füße konnte ich kaum bewegen. Ich zitterte vor Kälte, was sich am leichtesten beheben ließ. In der Fliegerkantine schüttete ich dreihundert Gramm Wodka in mich hinein, mir wurde innerlich warm, doch so sehr ich auch Gesicht und Hände mit Schnee abrieb, sie blieben weiß. Zu allem Unglück konnten wir nicht mehr am gleichen Tag weiterfliegen. Als ich hörte, der Stab der Südfront liege in der Nähe, fielen mir Bekannte ein, die bei der Frontzeitung arbeiteten, unter ihnen Kolja Kruschkow. Ich rief bei der Zeitung an und erreichte Kruschkow auch. Eine halbe Stunde darauf nahm mich ein Lkw nach Kamensk mit, am nächsten Morgen gegen acht, zur Startzeit, sollte ich mich wieder auf dem Flugplatz einstellen. Ohne große Mühe fand ich die Redaktion. Ich freute mich, Kolja Kruschkow dort anzutreffen und den Korrespondenten der „Prawda“ Martyn Mershanow kennenzulernen, der mein Weggefährte nach Krasnodar und später nach Feodossija werden sollte. Ich legte mich auf ein Bett, und nachdem ich eine Viertelstunde lang Kruschkows Fragen über Moskau beantwortet hatte, fiel ich in einen totengleichen Schlaf. Ein Klirren weckte mich. Im Zimmer standen
Kruschkow und ein Unbekannter. Kolja holte eine Flasche hervor. Es war schon zwei Uhr nachts. So hatte ich also den Jahreswechsel verschlafen. Besagte Flasche enthielt einen „Chateau Ikema“. Wir tranken jeder ein Teeglas davon, dann gingen Kolja und sein Begleiter wieder, ich tastete mein erfrorenes Gesicht ab und legte mich wieder hin. Als ich mich am nächsten Morgen in einer Spiegelscherbe besah, entdeckte ich auf meinen Wangen, am Kinn und auf der Stirn dunkelrote Flecke, auf denen sich hier und da schwarzer Schorf gebildet hatte. Meine Hände zeigten die gleichen Flecke. Und die Füße waren so geschwollen, daß ich sie sogar in Kapustjanskis Filzstiefel nur mit größter Anstrengung hineinzwängen konnte. Doch wir mußten weiterfliegen. Auf dem Weg zum Flugplatz hielten wir bei einem Lazarett an, wo man mir Salbe auf Gesicht und Hände strich. Meine Hände wurden verbunden, und man legte mir auch einen Gesichtsverband an, der nur Nase, Mund und Augen frei ließ. Einer meiner Reisegefährten vom Vortag – ein Kurier, der mich, wie am Vorabend verabredet, abholte –, sagte, wir flögen von einem anderen Flugplatz ab und auch mit einer anderen Maschine. Somit konnte ich wohl meinen Koffer und mit ihm die Schuhe, die Wattejacke und die Flasche Wodka abschreiben. Zusammen mit dem Kurier und Mershanow fuhr ich zum anderen Flugplatz. Nach einigem Palaver mit dem Piloten Skrynnikow, einem verwegenen, aber arroganten Burschen, nahmen wir dann doch in dessen Flugzeug Platz, einer Maschine vom Typ „Vul-
tee“. Vor einiger Zeit hatten wir von einer amerikanischen Firma eine Lizenz für den Bau dieser leichten Sturzkampfbomber erwerben wollen, doch dieses Vorhaben war nicht verwirklicht worden, und etwa zehn dieser als Muster gelieferten Maschinen flogen nun in unserer Armee. Im Flugzeug war es recht geräumig: in der Kanzel konnte man menschlich sitzen. Trotz ihrer guten Manövrierfähigkeit und einer Geschwindigkeit von rund dreihundert Kilometern in der Stunde hatte die „Vultee“ einen Mangel, der darin bestand, daß es im ganzen Land nur diese wenigen Maschinen gab und ihre Silhouette in keinem einzigen Flugzeugerkennungshandbuch enthalten war, weshalb unsere Flakartilleristen und auch unsere Jagdflieger nicht nur einmal drauf und dran waren, diese unglücklichen Maschinen runterzuholen. Wir nahmen also unsere Plätze in der „Vultee“ ein, und gegen vierzehn Uhr hatten wir den Luftraum über dem Flugplatz Krasnodar erreicht. Unten ging es zu wie beim Turmbau zu Babel. In Krasnodar war ungewöhnlich viel Schnee gefallen, fast anderthalb Meter, er hatte alle auf dem Flugplatz stehenden Maschinen zugeweht, außerdem standen am Rande des Flugplatzes noch etliche beschädigte Maschinen. Bis jetzt war erst eine Landebahn vom Schnee geräumt, und auf ihr drängelte sich eine ganze Flugzeugherde. Aus der Luft war deutlich zu erkennen, wie sich auf dem Flugplatz Hunderte von Menschen im Schnee abschufteten, aber einstweilen war zum Landen buchstäblich kein Platz. Beim Aufsetzen im Schnee konnten wir uns überschlagen, und auf der Landebahn war kein freies Fleckchen – wenn man die
Landerollstrecke unserer „Vultee“ in Betracht zog. Skrynnikow erhielt vierzig Minuten lang keine Landeerlaubnis, und er kreiste fast bis zum letzten Tropfen Treibstoff über dem Flugplatz. Schließlich sagte er sich, daß er so oder so runter müsse, da der Treibstoff zur Neige ging, vollführte ein tollkühnes Landemanöver und schlängelte sich zwischen den stehenden Flugzeugen hindurch. Inzwischen war es gegen 15.00 Uhr des 1. Januar geworden. Und wir waren erst bis Krasnodar gekommen. Jetzt mußten wir von hier aus weiter entweder nach Kertsch oder nach Feodossija, was ganz in unserem Ermessen lag. Die vom Flugplatz in die Stadt führenden Straßen waren zugeweht; Autos fuhren nicht, aber die Straßenbahn sollte in Betrieb sein. Nach anderthalb Kilometern Fußmarsch stiegen wir in die Straßenbahn und fuhren in die Stadt. Vor sechs oder sieben Tagen, zu Beginn der Operation, war ein Teil des Stabes der Kaukasusfront unter dem Oberbefehlshaber, General D. T. Koslow, und dem Mitglied des Kriegsrates, Divisionskommissar F. A. Schamanin, nach hier verlegt worden. Der Rest des Stabes war noch am bisherigen Standort, in Tbilissi. Außer dem Auftrag, mich in Kertsch oder Feodossija umzusehen, hatte ich noch den Auftrag erhalten, für unsere Zeitung einen sogenannten Autorenbeitrag von General Koslow über die Operation von der Front, an der er befehligte, zu beschaffen. Nachdem ich mich beim Adjutanten ein Stündchen auf dem Diwan ausgeruht hatte, wurde ich beim Oberbefehlshaber vorgelassen. Koslow hatte die Fünfzig überschritten und war ein stämmiger Mann,
mit gedunsenem, griesgrämigem Gesicht und grauem Haar. Er trug zwei Orden aus dem Bürgerkrieg. Mit anderen Generalen, denen ich im Krieg begegnet war, hatte er absolut keine Ähnlichkeit. Das rührte wohl daher, daß für jene der Krieg längst in vollem Gange war, während er für ihn noch etwas Neues darstellte und er sich psychisch noch nicht voll und ganz aus der Friedenszeit in die Kriegszeit versetzen konnte. Der iranische Feldzug schien für die Transkaukasusfront so etwas wie ein psychologisches Unglück zu sein, denn bei den Männern, die vor Beginn dieses Feldzugs noch nicht am gegenwärtigen Krieg teilgenommen hatten, bestand ein völlig falscher erster Eindruck von Kampfhandlungen. Und so mancher von ihnen hat das später auf der Krim bitter bezahlen müssen. Koslow berichtete mir über den Verlauf der Operation, ich machte mir Notizen und bat um die Erlaubnis, anhand dieser Notizen einen Artikel vorzubereiten. Er war einverstanden. Außerdem bat ich für den nächsten Morgen um eine U-2 für einen Flug nach Kertsch und um ein Papier, auf das hin nach meiner Rückkehr von Kertsch mich das nächste Flugzeug mitsamt dem Material zurück nach Moskau brachte. Das alles wurde mir zugesagt, und ich ging zur operativen Abteilung, um mir dort zusätzliche Informationen zu holen, die ich für den Artikel benötigte. Ich bekam sie noch im Laufe der Nacht, aber natürlich schaffte ich in dieser Nacht den Artikel nicht mehr; ich wollte ihn nach meiner Rückkehr aus Kertsch schreiben. Mershanow war in dieser Nacht operativer als ich. Er schaffte es, schon am nächsten Morgen die
erste Information nach Moskau zu übermitteln. Nebenbei bemerkt, traf der ständige Prawdakorrespondent für die Transkaukasusfront Kosyrjow, aus Tbilissi kommend, erst an diesem Tage in Krasnodar ein. Wie mir klar wurde, hatte man eben seiner Tranigkeit wegen Mershanow von der Südfront hierhergeschickt. Ich sage das nicht, um jemandem etwas Schlechtes nachzusagen, sondern weil das ganz allgemein ein wunder Punkt war und man hier nur schwer durchsieht. Ein Korrespondent, der beim Frontstab sitzt und die Sonderleitung, den Telegraphen, das Telephon an der Hand hat, kann seine Berichte freilich operativer, früher als alle anderen absenden. Ein Korrespondent, der bei einem Armeestab hockt, hat insbesondere während einer Offensive in dieser Hinsicht bereits viel geringere Möglichkeiten; er kann nur äußerst kurze Telegramme oder buchstäblich nur ein paar Worte über die Sonderleitung übermitteln. Ein Korrespondent schließlich, der sich bei einer Division aufhält oder noch weiter vorn, kann seine Berichte erst durchgeben, wenn er von dort zurück ist. So übermittelt derjenige, der alles selbst miterlebt hat, seine Berichte schließlich später als alle anderen. Das war so und wird immer so sein. Am schwersten haben es die gewöhnlichen Korrespondenten, die alles mit eigenen Augen sehen und rechtzeitig und operativ Berichte übermitteln sollen, was man nur von einem Stab aus tun kann. Den einfachen Korrespondenten der „Krasnaja Swesda“ verzieh man das nicht, was man mir als Schriftsteller
zuweilen nachsah – die Verzögerung eines Artikels um ein, zwei Tage mit der Begründung, er sei besser geschrieben als andere, die früher eingetroffen seien. Am Morgen des 2. Januar begaben Mershanow und ich uns zum Flugplatz, wo die U-2 standen. Es war Befehl gegeben, uns eine der Maschinen für den Flug nach Kertsch zur Verfügung zu stellen. Seit dem frühen Morgen war heftiger Schneesturm. Für die ersten Kilometer zum Flugplatz brauchten wir länger als eine Stunde, dann blieb unser Wagen stecken. Drei Kilometer lagen noch vor uns. Wir hatten schon die halbe Wegstrecke hinter uns, als wir einem vom Flugplatz zurückkommenden Flieger begegneten, der auch an diesem Tag nach Kertsch fliegen sollte. Er teilte uns ganz offiziell mit, für heute seien alle Starts abgesetzt; als wir wieder in der Stadt waren, überprüften wir seine Mitteilung telephonisch, doch er hatte die Wahrheit gesagt. Wir mußten den Flug auf den nächsten Tag verschieben. Obwohl das schlecht war, konnte ich andererseits Koslows Artikel fertigmachen, ihn an die Redaktion absenden und anderntags mit ruhigem Gewissen nach Kertsch weiterfliegen. Nachdem ich mir in der operativen Abteilung noch zusätzliche Informationen von der Frühlage besorgt hatte, stellte ich den Artikel fertig und legte ihn Koslow vor. Bis zum späten Abend bekam ich Koslow nicht mehr zu Gesicht, und ich dachte im stillen – sicherlich zu Recht –, es gibt auf der Welt wohl keinen beschäftigteren Menschen als einen noch nicht kampferprobten General. Über die Sonderleitung setzte ich mich mit dem Re-
dakteur in Verbindung und informierte ihn von dem ausgefallenen Flug nach Kertsch und daß ich anderntags fliegen würde und hoffe, in der Frühe noch den von mir verlangten Artikel Koslows durchgeben zu können. „Beeil dich und komm zurück“, sagte der Redakteur. „Rasch alles erledigen und zurückkommen. Klar?“ In der Nacht suchten Mershanow und ich das Mitglied des Kriegsrates der Front Schamanin auf. Schamanin hatte auf dienstlicher Ebene noch ein Hühnchen mit Andrej Semjonowitsch Nikolajew zu rupfen, der nach wie vor Mitglied des Kriegsrates der 51. Armee war. Ich hatte mich dummerweise sehr positiv über diesen prächtigen Menschen geäußert, und sofort begann Schamanin ihn schlechtzumachen. Er war Nikolajew früher einmal unterstellt gewesen, und einem ehemaligen Vorgesetzten einen Fußtritt zu versetzen, ist nun mal für jeden gehässigen Menschen eine wahre Wonne. Schamanin zog lang und breit über Nikolajew her, er saß, während Mershanow und ich vor ihm standen. Das Gespräch dauerte rund zwei Stunden, und wir standen und standen. In solchen Situationen hielt ich es stets für meine Pflicht, mir vor Augen zu halten, daß ich ein Mensch in Soldatenuniform bin und erst in zweiter Linie Schriftsteller. Bietet mir ein Vorgesetzter keinen Platz an, habe ich zu stehen. Diesmal aber, als das ganze zwei Stunden gedauert hatte, musterte ich Schamanin recht neugierig: Vielleicht bietet er uns doch noch einen Platz an? Er bot uns keinen an. Wenn er uns Korrespondenten damit ganz bewußt auf unsere Stellung hinweisen wollte, mochte es noch
angehen. Viel schlimmer aber, wenn er es ohne Absicht getan hatte – dann sprang er mit allen so um. Nach der Veröffentlichung meines Tagebuchs in der Zeitschrift erhielt ich einen Brief von einem Politoffizier der 2. Stoßarmee, zu der im Sommer 1942, nach den Krimereignissen, Schamanin, wie auch Mechlis in der Dienststellung herabgesetzt, als Chef der Politabteilung abkommandiert worden war. Wie ich dem Brief entnehmen konnte, hatte sich Schamanin dort, nachdem er Pulver gerochen und viel erlebt hatte, an seinem neuen Platz wenn auch nicht als ausgeglichener, so doch zweifellos als tapferer und im großen und ganzen gerechter Mann gezeigt. Auf diesen Brief hin möchte ich in meinem Buch auch einer Beurteilung Platz einräumen, die von meinem Standpunkt zu einem Menschen abweicht, dem ich im Krieg zu einer anderen Zeit, unter anderen Umständen und in einer anderen Dienststellung begegnet bin. Zurück zum Tagebuch. Noch in der gleichen Nacht las Koslow meinen Artikel und sagte, im großen und ganzen sei alles richtig, doch ich solle mich noch mit dem Stabschef beraten. Spät nachts war ich beim Stabschef. Auch er las den Artikel und hatte nichts einzuwenden, sagte aber, man müsse ihn noch mit den Seeleuten durchsprechen. Der Vertreter der Seeleute im Frontstab war ein bejahrter Vizeadmiral vom Schlage alter Seeoffiziere, ein baumlanger Mann mit Bürstenhaarschnitt, dessen
Äußeres mich an Photos aus dem ersten Weltkrieg erinnerte. Der Vizeadmiral saß, den Kopf in die Hand gestützt, die Lider halb geschlossen, mir gegenüber auf einem Diwan. Es schien, als schlafe er. Davon, daß er den Artikel las, zeugte nur eine Hand, die in gleichmäßigen Abständen die Seiten umblätterte. Schließlich hob er den Blick der müden Augen, musterte mich kurz wie ein zufälliges Käferchen, sagte gleichgültig: „Ich habe keine Einwände“, erhob sich und ging. Der Artikel ging wieder an Koslows Adjutanten zurück, und Mershanow und ich übernachteten beim Stab. In der Früh fegte wieder ein Schneesturm übers Land, und wieder flogen keine Flugzeuge. Mittlerweile hatten wir nun schon den 3. Januar. Da beschlossen wir, unseren Plan zu ändern, den Zweiuhrzug nach Noworossisk zu nehmen, um von dort auf dem Seeweg zur Krim zu gelangen. Nach Kertsch oder nach Feodossija – je nachdem, wohin das erste Schiff ging. Der Vormittag verging in der Erwartung, daß Koslow sein „Plazet“ gab und ich den Artikel durchgeben konnte. Zwanzig Minuten vor Abfahrt unseres Zuges bekam ich den Artikel zurück und bat im letzten Augenblick Korrespondentenkollegen um den Kameradschaftsdienst, ihn telegraphisch abzusenden. Der Artikel kam zwar in Moskau an, wurde aber aus mehreren Gründen nicht veröffentlicht. Übrigens war es vielleicht ganz gut, daß dieser Artikel, der von einer Operation berichtete, die so glänzend begann und so kläglich endete, nicht in der Presse erschien. Durch die von tiefem Schnee bedeckten Straßen von Krasnodar stapften wir zum Bahnhof und stiegen in
einen Zug, der aus Vorortwagen zusammengestellt war und uns in sechsstündiger Fahrt nach Noworossisk brachte. Im Dunkeln erreichten wir nach halbstündigem Fußmarsch die Uferstraße, wo in einem kleinen zweigeschossigen Haus der Stab der Schwarzmeerflotte lag. Ich hoffte dort Asarow, Mitglied des Kriegsrates der Flotte, anzutreffen, den ich von Odessa her kannte, doch er war nicht da, und ich mußte mich an den Kommissar des Stabes der Rückwärtigen Dienste wenden, der bedauernd meinte, wären wir nur eine halbe Stunde früher gekommen, so hätten wir noch den Kreuzer „Krasny Kawkas“ erreicht, der vor genau zwei Minuten – dabei warf er einen Blick auf die Uhr – abgelegt hätte und in Richtung Feodossija ausgelaufen sei. Ich vertraute dieser Pünktlichkeit nicht allzu sehr und bat ihn deshalb, sicherheitshalber im Hafen anzurufen. Vielleicht war der Kreuzer noch gar nicht weg. Er antwortete, bei der Flotte sei Pünktlichkeit wirklich Pünktlichkeit. Aber ich ließ nicht locker. Bei seinem Anruf stellte sich heraus, der Kreuzer lag noch hier, mußte aber jede Minute auslaufen. Wir ließen uns vom Kommissar eine Bescheinigung geben und rasten in Begleitung eines Matrosen wie von der Tarantel gestochen vom Stabsgebäude über die Uferstraße zu dem abgelegenen Liegeplatz des Kreuzers. Alle Liegeplätze waren mit Schiffen belegt. Es war Frost und schneite. Über dem Meer und dem Kai kräuselte sich ein dichter weißer Dunstschleier. Dumpf dröhnten die Schritte der Matrosenstreifen. Zwanzig Minuten später langten wir beim Kreuzer an, auf dem man noch gar nicht ans Ablegen
dachte. Es wurden immer noch Geschütze, Munitionskästen, Autos und anderes mehr verladen. Außer den Frachten beförderte der Kreuzer Stabsangehörige der 44. Armee auf die Krim, deren Führung sich bereits in Feodossija befand. Im Winter sahen die Seeleute weniger flott aus als sonst. Sie trugen Halbpelze und waren nur an ihren schwarzen Matrosenmützen zu erkennen. Bis zum Ablegen verging noch eine weitere Stunde. Zwei Matrosen begannen vom ersten Tag der Landung zu erzählen, aber ich konnte mich vor Müdigkeit nicht aufrecht halten und schlief ein. Um vier Uhr morgens liefen wir in Feodossija ein. Gleich nach dem Anlegen wurde mit dem Ausladen begonnen. Mershanow und ich gelangten, dank unserer Journalistenbehendigkeit, mit als erste ans Ufer. Sämtliche Anlegeplätze, ja das ganze Ufer war mit Munitionskisten, irgendwelchen anderen Kisten und Fahrzeugen vollgestopft. Im Hintergrund waren die bizarren Umrisse zerstörter Lagerhäuser zu sehen, verbogene und zum Himmel aufragende Dachbleche. An der niedrigen Hafenmauer, an die ich mich noch von 1924 erinnerte, lagen zusammengekrümmte tote Deutsche. Wir irrten eine Weile durch dieses Ruinen – und Trümmerlabyrinth – das Ergebnis unseres Artilleriebeschusses in der Nacht der Landung und der auf unsere Landung folgenden Bombenangriffe der Deutschen – und verließen dann den Hafenbereich. Die Stadt stieg in Form eines großen Hufeisens bergan. Zu dieser Stunde wirkte sie düster und öde. Die
Temperatur betrug 19 Grad unter Null, im Süden ist die Kälte stets viel unangenehmer als im Norden. Ein heftiger Wind wehte vom Meer her. Viele Häuser waren zerstört. In den Häuserwänden gähnten die leeren Fensterhöhlen. Halbe Wände fehlten. Die sperrangelweit offenstehenden Türen klapperten im Wind, Fensterglas fiel klirrend herunter, ausgeglühte Dachbleche flatterten Fahnen gleich von den Hausdächern herab und schlugen bei heftigen Böen scheppernd gegen die Mauern. Je höher wir hinaufkamen, desto mehr stehen gelassene deutsche Autos bekamen wir zu sehen – LKWs und Pkws. Hier und dort lagen auf den Bürgersteigen und auf dem Fahrdamm noch tote deutsche Soldaten. Die Stadt war überraschend genommen worden. Alle Autos, die die Deutschen in den Garagen und auf den Straßen der Kälte wegen mit abgelassenem Kühlwasser abgestellt hatten, waren dort stehengeblieben, wo man sie für die Nacht abgestellt hatte. An Typ und Anzahl der Fahrzeuge war sofort zu erkennen, wo die Deutschen was untergebracht hatten. Die Leichen in den Straßen waren manchmal nur dürftig bekleidet. Die überraschten Deutschen waren oft so aus den Häusern herausgerannt, wie sie gingen und standen, und viele waren in den Häusern umgekommen. Zwischen Weihnachten und Neujahr hatte sich das abgespielt. In den Wohnungen der deutschen Offiziere, aber auch in den Soldatenquartieren waren Lebensmittel aus ganz Europa gehortet. Französischer Champagner und Kognak, dänischer Speck, holländischer Käse, norwegische Heringe und so weiter und so fort.
Es dämmerte. Mershanow und ich gingen durch die Stadt und schauten unterwegs bei der Sonderabteilung vorbei, wo man uns riet, später noch einmal wiederzukommen, und uns interessantes Material versprach. So gingen wir weiter durch die Straßen und betraten ein Haus, in dem in zwei nebeneinanderliegenden Zimmern die Praxis eines Zahnarztes und eine deutsche Apotheke untergebracht gewesen waren. Die Fensterscheiben waren entzwei. Schnee lag auf dem Behandlungsstuhl, alle möglichen Glasbehälter, Fläschchen, Schälchen und Medikamente, Tabletten und Pillen lagen herum. Vielleicht hatten die Deutschen vor ihrer Flucht im letzten Moment alles zerschlagen und dieses Durcheinander angerichtet, vielleicht aber hatten auch die Unseren alles durcheinandergeworfen, nur um die deutsche Ordnung zu zerstören. Bei so einer Gelegenheit kam unsereiner nun mal nicht dagegen an, alles, was einem in die Hände fällt, wie Kraut und Rüben durcheinanderzuwerfen. Als es hell wurde, setzten Bombenangriffe ein. Unsere Fliegerabwehrgeschütze standen hilflos auf den Plätzen und Kreuzungen von Feodossija. Es waren ihrer schon viele übergesetzt worden, der Jammer war nur, daß die Deutschen einen Transporter versenkt hatten, der mit Flak-Munition nach hier unterwegs gewesen war. Streng nach Dienstvorschrift standen die Flak-Artilleristen bei ihren Kanonen, aber sie konnten nicht feuern. Alles in allem ein rechtes Drama. Die Deutschen griffen Feodossija nur in kleinen Gruppen an, zu neunt, zu sechst, manchmal waren es auch nur drei oder zwei Maschinen. Dafür
kamen sie aber fast pausenlos, es ging wie am Fließband. Alle fünf Minuten waren bald am einen, bald am anderen Ende der Stadt Detonationen zu hören. Nach einer halben Stunde machten wir uns durch die gleichen Straßen auf den Rückweg und sahen unterwegs neue Trichter, die kurz zuvor noch nicht dagewesen gewesen waren. Ich hatte einen Photoapparat mit und schoß einige Bilder: zerstörte Häuser, auf den Kreuzungen stehende Flaks. Besonderen Erfindungsgeist legte ich damit nicht an den Tag, und ich konnte mich auch nicht entschließen, dies oder jenes nach Art der Photoreporter zu stellen. Das Photographieren ist mir immer peinlich vor den Menschen, die ich aufnehme, und ich bringe es einfach nicht über mich, sie zu bitten, sich eigens für mich in Positur zu stellen. Nach einigen Aufnahmen streikte meine „Leica“, anscheinend war sie eingefroren. Nach anderthalb Stunden stießen wir bei einer Hauseinfahrt in einer der zentral gelegenen Straßen auf zwei Burschen von der Armeezeitung der 44. Armee. Sie luden uns zu sich ein, erzählten, was sich hier in Feodossija abgespielt hatte, und überredeten uns, mit ihnen zu frühstücken. Die Jungs von der Redaktion waren niedergeschlagen. Vor kurzem hatte es in einer Nachbarstraße einen ihrer Reporterkollegen erwischt. Er war nur von einem Bombensplitter getroffen worden, doch er hatte am Koppel Handgranaten hängen gehabt, und die hatten ihn in Stücke gerissen. Als sie hörten, wir blieben höchstens vierundzwanzig Stunden und wollten dann mit einem der nächsten Schiffe abdampfen, schrieben die Jungs Notizen für ihre Re-
daktion in Noworossisk, und baten uns, die Berichte auf dem Rückweg unbedingt abzugeben. Sie teilten darin auch den Tod ihres Kameraden mit. Als wir gerade beim Frühstück waren, kam ein alter Setzer in die Druckerei, einer der zwei oder drei Juden, die seinen Worten nach in ganz Feodossija überlebt hatten. Einer bösen Ahnung folgend, war er nicht in die deutsche Kommandantur gegangen, als alle in der Stadt lebenden Juden dort registriert und gesammelt wurden. Er hatte sich versteckt. Alle anderen, die sich gemeldet hatten – an die tausend – waren umgekommen. Vorausgreifend möchte ich sagen, daß ich wohl nie vergessen werde, wie dann im Februar in Moskau eine jüdische Frau zu mir kam. Sie hatte erfahren, daß ich vor kurzem aus Feodossija zurückgekommen war und bald wieder auf die Krim, auf die Halbinsel Kertsch zurückkehren würde, und sie wollte etwas über Feodossija hören und auch, ob meiner Meinung nach dort ihre alten Eltern und ihr Sohn überlebt haben könnten, ihn hatte sie bei Kriegsausbruch ausgerechnet nach Feodossija zu ihren Eltern geschickt. Dort wähnte sie ihn sicher. Was konnte ich ihr antworten? Hoffnungsvoll blickte sie mich an, und mir fiel der alte Setzer ein, der mir mit bebender Stimme von dem Geschehen in Feodossija berichtet und an den Fingern einer Hand die Namen der wenigen Überlebenden aufgezählt hatte. Von der Druckerei ging Mershanow zur Sonderabteilung, ich aber ging zu den Garagen von Sojustrans. Gerüchten zufolge sollten dort mehrere hundert deutsche Autos stehen, und ich wollte davon Aufnahmen machen.
Verschwunden war in den Straßen die nächtliche Beklommenheit, hervorgerufen durch die Finsternis, das Klirren der Scheiben, das Klappern der offenen Türen und die fernen, seltenen MPi-Feuerstöße. Dafür lag bedrückende Hilflosigkeit in der Luft, weil die Deutschen die ganze Zeit die Stadt ungestraft bombardieren konnten. Bis zu den Garagen war es nur ein Kilometer, aber auf dem Wege dorthin mußte ich mich zweimal der Länge nach hinwerfen und abwarten, ob der Allmächtige sich meiner erbarmen würde oder nicht. Es war ein kalter, selten klarer Wintertag. Nach alter Gewohnheit drehte ich im Liegen den Kopf herum und sah die Bomben fallen, die sich wie schwarze Tropfen von den Flugzeugen lösten. In den Garagen gab es wirklich eine erstaunliche Fahrzeugzusammenstellung: „Mercedes“, „Opel“, LKWs, riesige Stabsbusse. In dem Pförtnerhaus vor der Garage stieß ich auf einen Ingenieur-Leutnant, der mir erzählte, er habe mit seinen Rotarmisten diese Garagen genommen und sei nun als Leiter hiergeblieben. Wir gingen zusammen über den Hof. Meine „Leica“ schien sich wieder erwärmt zu haben, und ich machte Aufnahmen. Als wir zum Pförtnerhäuschen zurückkamen, sagte der Leutnant: „Das ist vielleicht eine Garage. Was da für Gerümpel herumliegt! Da sieht man nicht mehr durch. Und wie groß der Hof ist. Und dann noch die Schuppen und Winkel, da soll sich der Teufel auskennen. Im Laufe des gestrigen Tages haben wir vier Deutsche geschnappt, die hielten sich zwischen den Autos versteckt. Sie haben auf uns geschossen und einen von meinen Leuten verwundet.
Heute haben wir noch einen aus einem Autobus geholt. Er hatte sich unter einen Sitz verkrochen, ein Loch durch die Karosserie gebohrt und da durchgeschossen. Was meinen Sie, wie die schießen? Mitten im Bombenangriff und im Getöse schießen sie. Wenn wieder alles still ist, verhalten sie sich ruhig. Sie lassen sich schwer schnappen, aber jetzt haben wir sie wohl alle. Auf einen haben wir eine ganze Zeit durch sämtliche Schuppen Jagd gemacht und haben ihn schließlich doch gekriegt.“ Gerade in diesem Augenblick lösten die nächsten drei „Junkers“ ihre Formation auf und gingen zum Sturzflug über. Wir schmiegten uns an die Mauer. Auf der Straße hinter der Garage krachten Einschläge. Und plötzlich hörte ich nicht, sondern sah nur, wie unmittelbar neben uns von der Ziegelmauer Splitter zur Seite spritzten. Wir sprangen hinter die Ecke zurück. „Da haben wir’s“, sagte der Leutnant ruhig. „Da hält sich noch einer versteckt. Kommen Sie lieber rein, sonst kriegen wir noch was ab.“ Wir gingen ins Pförtnerhäuschen. Das Dröhnen der Flugzeuge verstummte. „Jetzt können wir wieder hinaus“, sagte der Leutnant. „Bei dieser Stille schießt er nicht. Das steht fest.“ Es war ein seltsames Gefühl, daß eben erst ein MPi-Schütze auf uns geschossen hatte. Der Leutnant rief zwei Soldaten herbei und befahl ihnen, noch einmal alle Schuppen zu durchsuchen. Ich schob mehrere deutsche Illustrierte, die in der Garage herumlagen, in meinen Brotbeutel. Auf dem Titelblatt der einen prangte der dicke Göring mit gütigem Gesicht, auf einem anderen drückte Ley in
einer devoten Verbeugung Hitler die Hand. Von der Garage ging ich zur örtlichen Behörde. Unterwegs mußte ich noch einmal in Deckung gehen und einen Bombenangriff abwarten. Mir kam plötzlich jene Empfindung der Müdigkeit und Abgestumpftheit, ja fast Gleichgültigkeit in den Sinn, die mich während eines Bombenangriffs in den ersten Kriegstagen an der Westfront überkommen hatte. Die örtliche Behörde war in einem kleinen Haus untergebracht, das inmitten einer halbzerstörten Straße unversehrt geblieben war. Repräsentant der örtlichen Behörde war ein Leutnant der Staatssicherheit von mittlerem Wuchs, ein müder, von der Fülle seiner neuen Pflichten niedergedrückter Mann, der mir sagte, andere Vertreter der Macht wären noch nicht in der Stadt eingetroffen, so daß er hier vorläufig alles allein machen müsse: Vorsitzender des Stadtsowjets, Leiter des NKWD und Leiter der Miliz. Er wäre einfach Mädchen für alles. „Nie hätte ich gedacht, daß es so viele Lumpen in der Stadt gibt“, meinte der Leutnant. „Sind es denn so viele?“ fragte ich. „Sehr viele. Weiß der Teufel, wo die alle herkommen!“ Seinem Ton konnte ich entnehmen, daß seine Worte nicht aus seinem Diensteifer oder beruflichen Mißtrauen resultierten, sondern er war ehrlich erstaunt und bekümmert. Mir fiel ein, daß ich noch vor dem Krieg eine Erzählung über Jalta schreiben wollte, aber ich hatte bis jetzt nur den Titel: „Stadt der sündigen Frauen“. Es sollte eine Erzählung über einen Kurort sein, in den die Menschen nur für einen Monat kommen – und
alles – Liebe und Sympathie – meistens nur einen Monat währt. Und an den Einwohnern dieser Stadt ziehen ewig, wie in einem Kaleidoskop, Menschen vorüber, die nur für kurze Zeit hergekommen sind und die hier keine hohen Ansprüche stellen. Diese Erinnerung hatte wohl keine direkte Beziehung zu dem, was mir der Leutnant erzählte, aber damals meinte ich, daß sich gerade in solchen Kurorten alle möglichen Leute aus der Vergangenheit finden müßten, die im Verborgenen lebten, sich versteckten, sich ruhig verhielten, immer auf etwas wartend, immer unzufrieden, die aber mitunter nicht nur die Macht haßten, sondern auch all jene, die für eine Zeitlang hierherkamen, diese Gäste aus einem anderen Leben. Ich sagte dem Leutnant, ich wolle mit den Inhaftierten sprechen, die wegen Kollaboration mit den Deutschen verhaftet worden seien. Er antwortete, an diesem Tage ließe sich das nicht einrichten, weil er im Augenblick niemanden vernehmen könne, er habe keine Mitarbeiter, sei wirklich ganz allein. „Sehen Sie“, sagte er. „Da ist dieser Bürgermeister Grusinow, ein ausgemachter Schweinehund. Oder der Polizeichef – alles klar! Aber vielleicht können Sie mir eines erklären, Genosse. Vor zwei Wochen, zu Neujahr, haben die Deutschen hier eine öffentliche Werbeaktion für ein Bordell gestartet. Sie haben die Frauen einfach aufgefordert, sich freiwillig zu melden. Ich habe die Unterlagen aus dem Bürgermeisteramt darüber da. Und es haben sich Frauen gefunden, die darauf eingegangen sind. Was soll ich jetzt mit ihnen anfangen? Die Deutschen sind nicht
mehr dazu gekommen, das Bordell zu eröffnen – wir haben sie daran gehindert. Aber die Bewerbungen habe ich. Was soll ich jetzt mit diesen Weibern anfangen. Woher sind die gekommen? Für so was kann man sie nicht erschießen, dafür reicht’s nicht, und einlochen… Nehmen wir mal an, ich loche sie ein, was weiter mit ihnen?“ Ich fragte ihn, wo der Bürgermeister jetzt sei. „Den Bürgermeister habe ich der Sonderabteilung der Armee überstellt, er sitzt bei denen…“ In meinem Frontnotizbuch ist folgende kurze Aufstellung von Fakten und Namen enthalten, die mir der Leutnant der Staatssicherheit, B. G. Welikowski, an jenem Tage mitteilte: „Die Deutschen haben in der Stadt 917 Juden erschossen. Am 1. Dezember wurden alle Juden registriert, angeblich zum Arbeitseinsatz. Ihnen war befohlen, sich mit Lebensmitteln für zwei Tage einzufinden, am 3. Dezember wurden alle erschossen. Von 12 Jahren aufwärts. Kinder unter 12 Jahren sind betäubt und den Müttern zurückgegeben worden. Die Mütter wurden dann erschossen, und diese Kinder hat man somit bei lebendigem Leibe begraben. Am 12. Dezember wurden die Krimtschaken gesondert aufgerufen. 300 Personen meldeten sich. Viele sind, durch die bittere Erfahrung klüger geworden, geflüchtet. Alle, die sich meldeten, wurden in einem Panzergraben erschossen und dann verscharrt. Noch zwei Tage lang konnte man ihr Stöhnen hören, aber die Posten ließen niemanden ran. Ort des Geschehens war der vormals Bedrisowsche Kalksteinbruch. Das
gleiche hatte man auch mit den Karaimen vor, aber das haben sie nicht mehr geschafft. Die Registrierung wurde vorgenommen von der Stadtverwaltung unter Leitung von Andrshijewski und Grusinow. Andrshijewski, Nikolai Iwanowitsch – Bauingenieur. Grusinow, Wassili Sofronowitsch – Fachmann für Obst-, Gemüse-und Weinbau. Grischin – Polizeichef, Buchhalter.“ Ich ging zur Sonderabteilung. Dort erhielt ich ungefähr die gleiche Auskunft wie von dem Leutnant – man hätte weder Leute noch Zeit für Verhöre. Ich wurde nachdrücklicher. Sie hätten dafür keine Zeit, bekam ich zur Antwort, aber ich könne den Bürgermeister Grusinow ja befragen, man werde ihn gleich vorführen. Zehn Minuten wartete ich allein im Zimmer. Der Bombenangriff dauerte an, und das Haus erbebte fast pausenlos. Endlich trat ein Rotarmist ein und hinter ihm ein hochgewachsener Mann in Lederjacke, Reithosen, ausgeblichenen Stiefeln, eine Kosakenmütze auf dem Kopf. Seinem Äußeren nach war er um die Fünfzig. Er hatte ein kräftiges, noch jung wirkendes Gesicht mit einer Hakennase, seine Lippen waren fest zusammengepreßt. Ich erinnere mich der ersten Empfindung bei seinem Anblick. Er sah aus wie der Leiter einer Wirtschaftseinrichtung, ein fürsorglicher Wirtschafter, der nach oben buckelt und nach unten tritt und hinter allen von ihm abhängigen Frauen her ist. Dieser Mann ekelte mich an. Ich verabscheute ihn weit mehr als jeden kriegsgefangenen Deutschen. Bei
der Stärke dieses Gefühls spielten zwei Momente eine Rolle: erstens hatte er den Deutschen gedient, das heißt, er war ein Verräter. Und zweitens wäre meine Abscheu vielleicht nicht ganz so stark gewesen, hätte man ihn als unseren prinzipiellen Feind ansehen können, der überzeugt war, Rußland dürfe nicht so sein, wie es war, und daß es besser wäre, einen Teil seines Territoriums an die Deutschen abzutreten, um auf dem Rest einen bürgerlichen oder absolutistischen Staat wieder zu errichten, ihn um jeden Preis wieder zu errichten, nur um nicht unter der Sowjetmacht leben zu müssen. Dieser Mann aber hatte offensichtlich überhaupt keine Prinzipien, nicht einmal solche. Das Schicksal Rußlands war ihm völlig egal. Ihn interessierte nur die eigene Person, sein eigenes Schicksal, sein eigenes Wohlergehen. Für mich war er ein Symbol alles Stagnierenden, wenn es nur genug raffen konnte, mit sich und der Welt Zufriedenen; all des Kleinbürgerlichen, Hoffnungslos-Habgierigen, das ich von Kindheit an gehaßt hatte. Ich las einmal bei Chlebnikow die großartigen Worte, von nun an hätte sich die Milchstraße der Menschheit in eine Milchstraße der Erfinder und eine Milchstraße der Erwerber geteilt. So sah ich also ein Teilchen der Milchstraße der Erwerber vor mir. Vor ein paar Jahren hatte es dieser Kerl verstanden, Kandidat der Partei zu werden. Er war Direktor eines Obst- und Weinbaubetriebs, aber der größte Traum seines Lebens war offenbar, ein richtiger Herr zu sein, nicht bloß Direktor. Sicherlich hat er sich unter der Sowjetmacht sehr bemüht, ein solcher Herr zu sein, das heißt, er hat gestohlen und
unterschlagen. Er wartete auf die Deutschen, und sein Spürsinn sagte ihm, daß unter ihnen seine Wünsche restlos in Erfüllung gehen könnten. Und der für ihn nunmehr nachteilige Umstand, daß er seinerzeit Kandidat der Partei geworden war, wurde aufgewogen durch den erfreulichen Umstand, daß seine Frau zum Glück eine Wolgadeutsche war und Deutsch konnte. Offenbar machte er sich Hoffnung, daß man ihm seiner deutschen Frau wegen die frühere Parteizugehörigkeit nachsehen werde. Bereits in den Tagen der Evakuierung hatte er sie durch einen raffinierten Schachzug aus dem Kaukasus zu sich nach Feodossija kommen lassen. Und seine neue Karriere begann er damit, daß er, nachdem er alle seine Mitarbeiter in die Evakuierung vorausgeschickt hatte, selbst zurückblieb, angeblich, um die Lager und Keller zu sprengen oder in Brand zu stecken. In Wirklichkeit aber verriegelte und versiegelte er sie und tauchte unter, um den Ausgang der Kämpfe abzuwarten. Als er nach Beendigung der Kämpfe wieder ans Tageslicht kam, schleppten die deutschen Soldaten bereits alles aus diesen Kellern weg. Damals machte er einen geschickten Schachzug: Er ging zum deutschen Kommandanten, um sich bei ihm zu beschweren, erklärte, er habe diese Keller gerettet, damit sich die deutsche Führung ihrer planmäßig bedienen könne, und nicht, damit jeder x-beliebige eindringen und wegschleppen könne, was ihm in die Hände fiel. Zufrieden mit dem Eifer dieses Gauners, setzte ihn der deutsche Kommandant sofort zum Verwalter der Keller ein und wies ihn an, Wein nur
auf schriftliche Aufforderung von der Kommandantur auszugeben. Bald darauf wurde auch die deutsche Frau in Aktion gesetzt, die sich im Bürgermeisteramt anstellen ließ, und später wurde Grusinow zum Stadtoberhaupt ernannt. Sowohl seine Psychologie als auch die Beweggründe seines Handelns schienen mir nach dem anderthalbstündigen Gespräch mit ihm völlig klar. Bloß zweierlei wollte mir nicht in den Kopf. Erstens hoffte er immer noch auf etwas und begriff offenbar nicht, daß er kein anderes Ende zu erwarten hatte als die Erschießung. Und zweitens fürchtete er sich schrecklich vor dem Luftangriff, der auf die Stadt im Gange war. Er zitterte um sein Leben. Offenbar waren diese beiden Gefühle in ihm miteinander verflochten. Eben deshalb, weil er immer noch nicht an die Ausweglosigkeit seiner Lage glaubte, fürchtete er sich vor den Bomben. Mehrmals wiederholte er, er werde sich noch „verdient machen“, und suchte sich in dem Gespräch mit mir auf die allerdümmste Weise zu rechtfertigen. Als ich ihn fragte, ob nicht er es gewesen sei, der die Listen zur Erschießung der Juden und Karaimen angefertigt habe, antwortete er, nein, er nicht. Als ich ihn fragte, wo denn die Listen aufgestellt worden seien, antwortete er, im Bürgermeisteramt. „Aber Sie waren doch der Bürgermeister!“ „Ja, der war ich.“ „Also haben Sie doch auch die Listen geschrieben?“ „Nein, ich habe sie nicht geschrieben.“ „Wer denn dann?“ „Meine Mitarbeiter.“
Dann fragte ich ihn nach den Unbedenklichkeitsbescheinigungen, die er den einen ausgestellt, anderen aber verweigert hatte. Darauf antwortete er, er selbst habe keinen an die Deutschen ausgeliefert und niemand denunziert. „Aber wer hat dann denunziert?“ „Wurde ich von den Deutschen gefragt, so gab ich ihnen Auskunft. Haben sie mich nicht gefragt, hielt ich den Mund.“ „Also haben Sie nur dann Menschen denunziert, wenn die Deutschen Sie nach ihnen gefragt haben?“ „Ja.“ Auch der Umstand, daß er einen Menschen erst dann an die Deutschen verriet, wenn sie sich nach ihm erkundigten, dünkte ihm offenbar als ein seine Schuld mildernder Umstand. Jedenfalls wiederholte er das mehrmals. Während unseres Gesprächs schlugen draußen zwei Bombenserien ein. Beide Male rutschte er schon bei den ersten Anzeichen des Bombardements auf dem Stuhl hin und her, er ließ sich hinuntergleiten und legte sich auf den Fußboden. Beim erstenmal beherrschte ich mich noch, beim zweitenmal aber schrie ich ihn an: „Begreifen Sie denn nicht, Sie werden so oder so erschossen? Was wollen Sie denn da unten auf dem Fußboden?“ Sich überwindend und zitternd setzte er sich wieder hin und sagte: „Ich hoffe immer noch, das in mich gesetzte Vertrauen rechtfertigen zu können.“ Unvorstellbar, daß ein Mensch in einer solchen Situation noch einen solchen Satz herausbringt, er aber bekam ihn über die Lippen. Und nach diesen Worten
haßte ich ihn nicht einmal mehr – ich empfand nur noch Abscheu und Ekel, in einem Maße, daß es mir schwergefallen wäre, ihn anzufassen. Das war kein Mensch mehr, sondern eine Qualle. Nach dem Gespräch mit Grusinow traf ich Martyn Mershanow in der Druckerei, und wir gingen zusammen zu den Matrosen, die hier als erste an Land gegangen waren. Sie sollten in der Stadt geblieben und ihre Abteilung der Kommandantur zugeteilt sein. Die Kommandantur befand sich in einer der tiefer gelegenen Straßen Feodossijas in der Nähe des Hafens. Das Haus lag in einem imaginären geometrisch exakten Kreis von mehreren Trichtern, die die Bomben der beiden letzten Tage hinterlassen hatten. Alle Scheiben waren herausgeflogen, die Fenster waren mit Säcken verhängt, und in der Kommandantur blakten Ölfunzeln. Eng war es dort, und es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen. In der Stadt regierten als Kommandantenkompanie Matrosen von Aidinows Abteilung, die sich in der ersten Nacht des Landeunternehmens als erste am Ufer festgekrallt hatten. In der Kommandantur unterhielt ich mich ein paar Stunden mit Abteilungskommandeur Aidinow, mit Kommissar Ponomarew und einigen Soldaten. In diesen Menschen hielt der fröhliche Elan nach dem geglückten Landeunternehmen noch an, gleichzeitig waren sie jedoch in diesen Tagen sehr erschöpft und aufgebracht über die nicht enden wollenden Bombenangriffe. Ich übertreibe wohl nicht, wenn ich sage, daß die Menschen in der Stadt eben wegen dieser Wut und Hilflosigkeit angesichts der pausenlosen
Bombenangriffe überaus nervös waren. Und gerade weil ich meine Angst und das Verlangen unterdrükken wollte, meine Angelegenheiten zu erledigen und heil und gesund zurückzukommen, befragte ich die Leute besonders sorgfältig und bedächtig… Das Notizbuch enthält zahlreiche Eintragungen, ich möchte nur eine davon bringen – den Bericht des Abteilungskommissars N. F. Ponomarew: „Ein Vorstoß mit sieben Booten. Wir krallten uns fest, aber dann – her mit Feodossija! Was soll ich viel erzählen? Magometow, Zipulindra, Schalachow und Samurajew sind den Heldentod gestorben. Von 300 Mann 82 gefallen, 36 verwundet. Wir sollten den Hafen und die beiden nächstgelegenen Straßen nehmen. Wir nahmen die Kaimauer, und da sahen wir, daß bei denen Panik ausgebrochen war. Sollten wir da etwa stehenbleiben? Also vorwärts! Und wir nahmen die halbe Stadt. Ich hatte zwei Exemplare von Stalins Rede bei mir. Gab den Befehl: Die Verwundeten im Haus des Dockers sammeln. Die Einwohner bemühten sich um die Verwundeten. Ein Exemplar der Rede gab ich einem älteren Mann. Sofort war er von der Menge umringt. Gleich nebenan waren das Krankenhaus und das Entbindungsheim; die Schwestern kamen angelaufen, um zu lesen. Ein Mädchen empfing mich mit den Worten: ,Onkelchen, kann man jetzt das rote Halstuch wieder umtun? Ich hab das Abzeichen „Sei bereit!“ Vor den Deutschen hatte ich es versteckt…’ Im Hafen erbeuteten wir 225 Gewehre, 25 Maschinengewehre, in der Stadt, und das war noch nicht alles, 800 beladene Autos. In der vierten Morgenstunde sind wir an Land
gegangen, gleich darauf haben wir die Kaimauer genommen und sind dann weiter durch die Straßen vorgegangen. Die Infanterie kam so um sechs, sieben Uhr nach. Bis zum Abend des 30. hatte sie die Stadt restlos durchkämmt. Im Stadtzentrum aber ist um jedes Haus gekämpft worden. Die Matrosen waren hier die erste Macht. Immer werden Menschen hierherkommen und ihr Andenken ehren, zumal dies ein Kurort ist.“ Beim Überlesen dieser Zeilen blicke ich auf ein Photo. Es ist der Entwurf des Denkmals für das Feodossijaer Landeunternehmen, das sich schon bald am Kai der Landetruppen in Feodossija erheben wird. Dieses Photo wurde mir von dem kürzlich verstorbenen Generalmajor Alexej Nikolajewitsch Perwuschin geschickt, dessen Kampfweg dort in Feodossija auf dramatische Weise endete. Als Kommandeur der 106. Schützendivision hatte er an deren Spitze im November 1941 standhaft bis zum letzten Moment unseren Rückzug von Kertsch auf die Taman-Halbinsel gedeckt und war im Dezember, nun schon als Befehlshaber einer Armee, in Feodossija gelandet. Am 20. Tag der Kämpfe um Feodossija aber wurde der junge, sechsunddreißig Jahre alte Armeebefehlshaber so schwer verwundet, daß er erst nach sieben Monaten Blindheit und dreizehn von Filatow persönlich durchgeführten Operationen das Augenlicht wenigstens zum Teil wiedererlangte. Von einer Rückkehr zur Truppe, zur kämpfenden Armee aber konnte keine Rede mehr sein. Vor mir liegt ein Telegramm – datiert vom 18. Januar 1942, das von Feodossija an den Frontstab in Kras-
nodar gerichtet war: „Luftangriff auf Armeestab. Armeebefehlshaber, Mitglied des Kriegsrates und Stabschef verwundet.“ So wurde gleich am ersten Tag der deutschen Gegenoffensive die 44. Armee mit einem Schlag ihrer Führung beraubt, und damit nahm das ganze Drama des Rückzugs dieser Armee aus Feodossija seinen Anfang. Wenn ich an Perwuschin und an die einst unter seiner Führung in Feodossija an Land gegangenen Männer denke, fallen mir die Worte Ponomarews ein, des Kommissars einer Abteilung Marineinfanterie, die dieser vor langer Zeit beim Detonieren deutscher Bomben in einer der allerersten von uns befreiten Städte gesagt hatte: Immer werden Menschen hierherkommen und ihr Andenken ehren… Die Zeilen Olga Bergholz’ „Keiner ist vergessen, und nichts wird vergessen“ waren noch nicht in den Marmor des Piskarjow-Friedhofs eingemeißelt, hatten sich noch nicht fest in unser Bewußtsein eingeprägt… Doch wie man sieht, bedurften die Menschen dieser noch nicht ausgesprochenen Worte schon damals, im ersten Jahr des Krieges. Um sechs Uhr abends, es wurde schon dunkel, beendete ich meine Gespräche mit den Matrosen. Nach ihren Worten sollte in allernächster Zeit ein Dampfer die Anker lichten und nach Noworossisk auslaufen. Wir machten uns auf den Weg zur Anlegestelle. Eben an Land gegangener Ersatz marschierte durch die Straßen, und die Männer blickten sich immer wieder nach den klappernden Türen und den im Wind knat-
ternden Dachblechen um. Wir waren noch etwa dreihundert Meter von der Anlegestelle entfernt, als plötzlich weiter vorn mehrere heftige Detonationen ertönten und eine Flammensäule gegen den Himmel schoß; beim Näherkommen erkannten wir, daß unser Dampfer nicht ablegen würde. Eine der eben detonierten Bomben hatte ihn am Heck getroffen. Nachdem wir ein Weilchen auf dem Kai in der wenig angenehmen Nachbarschaft der ausgeladenen Munitionsstapel herumgestanden hatten, gingen wir zurück zur Kommandantur, um nach einem anderen Schiff zu fragen. Mit Einbruch der Dunkelheit war es in der Kommandantur noch enger geworden: Überall lagen auf dem Fußboden und den Diwans schlafende Menschen. In der Zwischenzeit, in der ich auf den Kommandanten wartete, legte ich mich auch hin und schlief eine geschlagene Stunde. Als der Kommandant kam, kritzelte er für uns ein paar Worte auf einen Zettel, irgendwo an der Mole – wo genau, wußte er nicht – liege ein „Seejäger“, der in ein bis anderthalb Stunden die Anker lichte und volle Fahrt voraus nach Noworossisk auslaufe. Wir wieder zurück zum Kai. Obwohl es vom Standpunkt der realen Gefahr aus während des Krieges für mich weit schrecklichere Tage und Stunden gegeben hat, werde ich diese Nacht wohl lange nicht vergessen. Vielleicht weil ich mit meinen Nerven am Ende war, vielleicht weil ich nach der ewigen Herumfahrerei in der letzten Zeit müde war, oder vielleicht weil ich zuviel an die Frau dachte, die ich so herbeisehnte und die jeden Tag in
Moskau eintreffen mußte, und diese Nacht möglicherweise die letzte war, die mich vom Wiedersehen trennte – wahrscheinlich aber war es alles das zusammengenommen – war mir in dieser Nacht schwerer ums Herz als sonst. Als wir die Kommandantur zum zweitenmal verließen, war es schon völlig dunkel, man sah nicht einmal die Hand vor Augen. Wir kamen zum Kai; ganz in der Nähe brannten, Leuchtzeichen gleich, immer noch zwei von Bomben getroffene Dampfer. In einiger Entfernung brannten zwei Häuser. Der Hafen von Feodossija lag sozusagen im Halbkreis dieser Leuchtzeichen, nach denen sich die Deutschen orientierten und pausenlos ihre Bomben abluden. Wir gingen den Kai entlang. Überall Trümmer, verbogene und zerfetzte Eisenteile, zusammengedrückte und deformierte Öl- und Benzinfässer, von den Dächern der Lagerhäuser losgerissene Dachbleche. In der Finsternis fielen wir alle Augenblicke in Löcher, traten auf Eisenstücke, schlugen hin. So suchten wir rund eine Stunde lang, konnten aber den „Seejäger“ nicht entdecken. Wir gingen an der Hafenmauer entlang, als plötzlich direkt über uns eine Leuchtrakete aufzuckte. Sie verstreute gleißend weißes Licht, und da ich aus Erfahrung wußte, was folgen würde, schrie ich Mershanow zu: „Nieder!“ und warf mich selbst hin, wo ich gerade stand. Links und rechts von mir war so etwas wie eine Deckung: irgendwelche Kistenstapel ragten in die Höhe. Die Rakete leuchtete weiter, es fielen aber noch keine Bomben. Ich drehte das Gesicht nach oben. Alles ringsum war von dem Licht-
schein übergossen. Es war unnatürlich hell wie in einem kleinen Zimmer, in das man mit einer riesigen elektrischen Lampe hineinleuchtet. Ich sah mich um, wo ich da eigentlich lag. Heute erinnere ich mich schmunzelnd daran, damals aber war mir nicht danach zumute. Ich lag zwischen zwei ordentlich übereinandergebauten Kistenstapeln, die gelbe Streifen und die schwarze Aufschrift „Minen“ trugen. In der nächsten Kistenreihe lag Mershanow in der gleichen Stellung wie ich. Kaum waren wir uns klar, zwischen Minen zu liegen, schlugen nacheinander drei oder vier Bomben ein. Zu unserem Glück gingen sie in einiger Entfernung nieder, so an die dreihundert Meter, vielleicht auch noch weiter. Irgendwo in der Nähe dröhnte eine Detonation, unsere Minenkisten aber blieben heil und mit ihnen auch wir. Die Leuchtrakete verlosch. Wir gingen weiter. Suchten eine weitere Stunde nach dem Boot, fanden es aber nicht. Da konstruierte ich mir aus meinen Kindheitserinnerungen das Bild der Bucht von Feodossija und sagte zu Mershanow, der Kommandant müsse jene Mole mit dem Leuchtturm gemeint haben, die rechts von der Bucht weit ins Meer hinausrage, und wir hätten den „Seejäger“ durchaus nicht dort gesucht, wo er liegen solle. Also machten wir uns von der linken Seite der Bucht zur rechten auf. Wir wollten den Weg abkürzen und folgten unmittelbar dem Ufer. Der Luftangriff klang ab. Die Deutschen kamen nur noch vereinzelt, doch jedes Flugzeug kurvte, nachdem es seine Bomben abgeladen hatte, noch solange
in der Luft, bis das nächste kam. In Abständen von fünfzehn bis zwanzig Minuten fielen Bomben auf die Stadt. Wir gingen am Kai entlang und sahen gegenüber der Stelle, wo wir noch vor kurzem gelegen hatten, ein Schiff festmachen. Wir gingen näher heran. Es war der Holzfrachter „Serow“, der eben aus Noworossisk eingetroffen war und nun endlich in Feodossija die langersehnten Granaten für die Flak-Geschütze sowie LKWs und Preßluftflaschen löschte, von denen ein Vorrat notwendig war, damit unsere Jäger hier in Feodossija landen konnten. Für alle Fälle erkundigten wir uns, wann dieser Dampfer wieder ausliefe. Man sagte uns, in vier Stunden, sobald die Ladung gelöscht sei. Wir gingen weiter. An einer Stelle auf dem Kai brannten immer noch die Reste von Lagerhäusern, und hier türmten sich überhaupt so viele Trümmer auf, daß ein Durchkommen in der Dunkelheit schier unmöglich war. Also gingen wir höher in die Stadt hinauf und folgten dann hinter der Hafenmauer wieder den tiefer gelegenen Straßen. Um diese Zeit setzte wieder heftiger Luftangriff ein, wohl an die zehn- bis fünfzehnmal mußten wir in Deckung gehen. Die Deutschen warfen schwere Sprengbomben ab, die noch lange nach der Detonation alles ringsum aufstöhnen und aufjaulen ließen. Pfeifend sausten Splitter durch die Luft, schlugen auf Dächer, prallten von ihnen ab. Die Straßen in der Nähe des Hafens waren mit Leichen deutscher Soldaten übersät. Manche von ihnen lagen ausgestreckt, andere saßen seltsam da, und wir mußten uns mehrmals unmittelbar neben ihnen hinwerfen.
Schließlich erreichten wir die Mole und gingen auf ihr entlang. Einen „Seejäger“ gab es auch hier nicht. Jetzt blieb uns nichts anderes übrig, als den Holzfrachter „Serow“ zu nehmen, doch dazu mußten wir wieder den ganzen Kai zurück. Der Luftangriff dauerte an. Wir hatten den Holzfrachter fast erreicht, als in nächster Nähe ein schreckliches Pfeifen die Luft zerschnitt. Wir warfen uns hin, schmiegten uns an die niedrige südliche Hafenmauer. Dann krachte es so sehr, daß ich noch Sekunden reglos liegenblieb. Die ganze linke Körperhälfte – Kopf, Arm und Bein – alles wirkte irgendwie fremd, wie aus Watte, und es schien, als hätte jemand dieses Fremde gewaltsam in mich hineingezwängt. Mershanow lag hinter mir. Ohne mich umzudrehen, stieß ich ihn mit dem Fuß an und fragte, ob er noch lebe. Er gab keine Antwort. Ich fragte noch einmal. Er schwieg. Und erst beim drittenmal, als ich aus vollem Halse rief, antwortete er, ja, er lebe noch, aber selbst wenn er tot wäre, brauchte ich ihn nicht mit den Füßen an den Kopf zu stoßen. Als wir uns erhoben, sahen wir, daß die Kreuzung, der wir uns gerade genähert hatten, nicht mehr da war. Eine Bombe war genau auf die Kreuzung gefallen und hatte alle vier Häuser zerstört, die an den vier Ecken gestanden hatten. Der Trichter war so groß, daß wir ihn durch einen anderen Wohnblock umgehen mußten, um unseren Weg fortsetzen zu können. Das war die letzte Bombe gewesen. Nach ihr herrschte zwei Stunden lang absolute Stille. Wir langten beim Holzfrachter an, legten unsere Papiere vor und wurden in die Messe geführt, tod-
müde setzten wir uns dort hin und warteten auf das Ende der Löscharbeiten und das Auslaufen. Mershanow versuchte zu lesen, ich aber wollte gewohnheitsgemäß die bangen Minuten verschlafen. Ein Stoß weckte mich. Ich war vom Diwan geschleudert und mit vollem Schwung gegen Wand und Tisch geworfen worden. Als ich aufstand, war die Tür sperrangelweit offen – die anderen waren schon hinausgerannt. Eine schwere Bombe war in nächster Nähe des Dampfers niedergegangen, durch die Detonation war die Munition in die Luft geflogen, und es hatte den Dampfer ordentlich durchgerüttelt. Wie später festgestellt wurde, hatte diese Detonation einen Riß im Schiffskörper bewirkt, und unser Holzfrachter schaffte es mit Müh und Not bis Noworossisk. Der Luftangriff setzte mit neuerlicher Kraft ein, aber die Ladung wurde weiter gelöscht. Als ich von Deck in die Messe zurückkam, saßen dort drei Seeleute und unterhielten sich mit dem Ersten Offizier. Sie waren von einem in der Nähe liegenden Dampfer, der immer noch brannte. Sie erzählten, wie ihr Dampfer von der Bombe getroffen wurde und es ihrer Stewardeß ein Bein weggerissen hätte. Sie waren völlig durchgefroren, und hier auf dem Holzfrachter wärmte man sie ein wenig mit Wodka auf. Das Trinken aber nützte nicht viel. Sie waren niedergeschlagen, und immer wieder ging einer von ihnen auf Deck, blickte auf sein Schiff und sagte, wenn er zurückkam: „Alles steht in Flammen.“ Schließlich schlief ich über ihrem Gespräch ein und erwachte gegen acht. Wir fuhren auf offener See und
hielten Kurs auf Noworossisk. Meine linke Kopfhälfte, der linke Arm und das linke Bein schmerzten. Ich legte mich auf diese linke Körperseite, damit ich die Schmerzen nicht so spürte, und vertiefte mich in „Krieg und Frieden“; glücklicherweise hatte ich dieses Buch in der Schiffsbibliothek gefunden. Im Laufe des Tages unterhielt ich mich längere Zeit mit mehreren Seeleuten unseres Holzfrachters. Ich will mir nicht herausnehmen, vom Standpunkt der Seekriegsstrategie ein Urteil zu fällen, aber dieses Gespräch wie auch gewisse persönliche Eindrücke ließen mich zu der Meinung gelangen, daß wir unsere Handelsflotte im Schwarzen Meer anfangs nur ungenügend schützten, wir deckten die Handelsschiffe nur ungenügend durch Einheiten der Seekriegsflotte, bauten auf ihnen zwei, drei Kanonen auf und ließen sie zu mitunter gefährlichen Reisen auslaufen. So war es unter anderem auch in Feodossija, wo nach der großartigen Landungsoperation der Truppen beim Nachschub der Verstärkungen und der Munition die Dampfer einfach drauflosfuhren, ohne Geleitschutz, und die Deutschen vier oder fünf von ihnen versenkten. Ich weiß nicht, vielleicht trifft das alles nicht zu, aber damals, auf dem Holzfrachter, bildete ich mir eben diese Meinung. Was die Handelsmatrosen angeht, mit denen ich an diesem Tag sprach, so waren das schon tapfere Burschen, aber sie fühlten sich bitter gekränkt, ja sogar zum Untergang verdammt: Na ja, vielleicht schafften sie noch eine Reise, vielleicht noch eine zweite, aber dann… Offenbar waren sie an diesem Tag stark beeindruckt davon, daß vor ihren
Augen, in ihrer nächsten Nähe, im Hafen von Feodossija zwei Dampfer versenkt worden waren. Vielleicht aber auch davon, daß sie auf ihrer Fahrt nach Feodossija selbst geschlagene zwei Stunden lang einem Bombenangriff ausgesetzt gewesen waren. Lange dachte ich über dieses bittere Gespräch nach, und als ich später den Erlaß über die Auszeichnung von Seeleuten der Handelsflotte las, mußte ich an die Jungs von der „Serow“ denken, und ich freute mich für sie. Dokumente des Zentralarchivs der Seestreitkräfte bestätigten, was ich in meinem Tagebuch über die Schwere der deutschen Luftangriffe auf Feodossija und über jene harten Prüfungen gesagt habe, denen unsere Schiffe sowohl beim. Löschen in Feodossija als auch auf dem Hin- und Rückweg unterworfen waren. Hier nur einige Auszüge aus diesen Dokumenten: „… 4. 1. Von der ,Krasny Kawkas’ gehen in Feodossija Truppen an Land. Luftwaffen des Gegners versenkten in Feodossija den Transporter ,Krasnogwardejez’ und setzten den Transporter ,Taschkent’ in Brand. Fliegerbomben beschädigten die Transporter ,Kursk’ und ,Dimitroff… Infolge Angriff der gegnerischen Luftwaffe wurde am 4. 1.42 im Hafen von Feodossija der Transporter ,Nogin’ versenkt… Der Transporter ,Syrjanin’ sank infolge der Beschädigungen, die er am 4. 1. beim Angriff der gegnerischen Luftwaffe davontrug. Die Transporter ,Asow’, ,Krasny Profintern’, ,Kalinin’ und ,Kursk’, die mit Truppen nach Feodossija unterwegs waren, wurden am 5. 1. zum Ausladen in die Straße von
Kertsch weitergeleitet… Der durch Schläge der gegnerischen Luftwaffe im Raum Feodossija beschädigte Kreuzer ,Krasny Kawkas’ traf am 5. 1. 42 in Tuapse ein. Beschädigt waren die Ruder, die Hauptgeschütztürme, zwei Fliegerabwehrlafetten, die Schraubenwelle der Maschine Nr. 3 ist durchschossen, das Schiff hat vier Unterwasserlecks am Heck, der Rumpf weist zahlreiche Risse auf, die Heckabteilung hat 1000 Tonnen Wasser genommen, die Schiffssteuerung ist ausgefallen.“ In diesen Dokumenten ist auch ein Absatz über das Schiff enthalten, auf dem wir zurückfuhren: „Der Dampfer ,Serow’, beim Angriff gegnerischer Flugzeuge auf Feodossija beschädigt, wurde auf der Fahrt von Feodossija nach Noworossisk am 5. 1. 42 um 16.35 Uhr im Gebiet von Kap Kysaulski von der gegnerischen Luftwaffe erfolglos angegriffen…“ Abends gingen wir in Noworossisk an Land und begaben uns direkt vom Dampfer zum Flakbefehlsstand, wo ich diesmal Asarow antraf. Als er hörte, daß ich soeben aus Feodossija zurückgekommen war und ihm anscheinend einfiel, daß ich anfangs des Krieges einmal auf einem U-Boot mitgefahren war, sagte er: „Tja, Genosse Simonow, wenn Sie ein bißchen früher angekommen wären…“ „Was wäre dann?“ „Wir haben Landungstrupps an verschiedene Stellen losgeschickt. Einen davon mit einem U-Boot. Das wäre was für Sie gewesen.“ Nach kurzer Pause setzte er hinzu: „Jammerschade, daß Sie nicht da waren, ich hätte Sie schon untergebracht.“ In finsterster Nacht langten wir in der Redaktion der
Armeezeitung der 44. Armee an, eben jener Zeitung, in deren Außenredaktion wir in Feodossija gewesen waren. Wir wurden dort herzlich aufgenommen, saßen noch lange im Gespräch beisammen. Die von uns überbrachte Kunde vom Tod des Genossen löste bei den Jungs von der Redaktion eine Trauer aus, wie wir sie bei Menschen finden, die der Tod eines anderen zwar sehr bekümmert, die sich aber gleichzeitig daran gewöhnt haben, auch mit der Möglichkeit des eigenen Todes zu rechnen. Schließlich brachte man uns zum Schlafen unter: Mershanow im Arbeitszimmer des Redakteurs, mich im Zimmer nebenan, wo die Stenotypistinnen schliefen. Die armen Mädchen mußten beide mit einem Bett vorlieb nehmen, und ich bekam das andere. Ich schlief wie ein Toter. Da wir den ersten Zug nach Krasnodar bereits verschlafen hatten, konnten wir erst in der zweiten Tageshälfte weiterfahren. Als die Mädchen, mit denen ich das Zimmer geteilt hatte, vom Tod dieses Jungen in Feodossija erfuhren, waren sie sehr verstört und weinten sogar. Die eine beruhigte sich bald wieder, die andere aber hatte ständig verschwollene Augen. Als das weinende Mädchen einmal aus dem Zimmer ging, fragte ich die andere leise, was denn mit ihr sei. Da erzählte sie mir stockend vor Aufregung die traurige Geschichte, das weinende Mädchen und der gefallene Bursche seien ein Liebespaar gewesen und hätten heiraten wollen. Da er nach Feodossija fahren mußte, hätten sie ausgemacht, sich entweder hier oder dort in Feodossija zu treffen und zu heiraten. Das sei zwischen ihnen fest verabredet gewesen, und
jetzt sei die Ärmste natürlich sehr traurig und weine. Ich hatte Mitgefühl mit diesem Mädchen, und als ich eine halbe Stunde drauf den Redakteur traf, machte ich ihm Vorhaltungen: Wie konntet ihr das dem Mädchen ohne Vorbereitung einfach ins Gesicht sagen? Das Mädchen hat doch geliebt, wollte heiraten; man hätte sie schonend vorbereiten müssen. Nun heult sie unaufhörlich. „Welches Mädchen? Wer heult? Wer? Was ist?“ fragte der Redakteur verdutzt. Ich erzählte es ihm. „Daran ist kein wahres Wort“, sagte der Redakteur. „Die haben sich doch kaum gekannt. Er ist ein prima Bursche gewesen, und ich weiß genau, daß da nichts war. Möglich, daß sie ein bißchen in ihn verschossen war, aber mehr nicht. Da bin ich ganz sicher, dafür lege ich meine Hand ins Feuer, sonst würde ich es nicht sagen. Das sind alles nur Hirngespinste. Sie sind traurig, und da haben sie sich was zusammengesponnen.“ Ich glaubte dem Redakteur, glaubte, daß er die Wahrheit sagte, und hielt mir vor Augen, daß Mädchen im Krieg wirklich ein schweres Los haben, sie sehnen sich nach einer wunderbaren Liebe und malen sich allerlei aus, und dann so etwas. Sie trauerten ehrlich um diesen Burschen, hatten sich aber außerdem noch diese romantische Geschichte ausgedacht. Ein innerstes Bedürfnis ließ die ganze Geschichte entstehen. Ich wollte sogar ein Gedicht darüber schreiben, aber es wurde nichts Rechtes daraus, doch später, als ich das Stück „Russische Menschen“ schrieb, baute ich diese dem Leben abgelauschte Geschichte fast voll-
ständig mit hinein. Abends fuhren wir dann nach Krasnodar, in unserem Wagen fuhr noch eine aserbaidshanische Delegation, die Geschenke an die Front von Moskau brachte. Am anderen Morgen in Krasnodar suchte ich direkt vom Zug aus die Redaktion der Regionszeitung auf, wo ich den Redaktionssekretär Kopit antraf, einen beleibten fidelen Mann vom Schlage jener Provinzjournalisten, die Gott und die Welt kennen. In ihrer Redaktion steht mit Sicherheit ein Stuhl, auf dem Majakowski einmal gesessen hat, jeder von Rang und Namen war schon bei ihnen, hat etwas für sie geschrieben, ist von ihnen gedruckt worden, und von ganzem Herzen lieben sie die Literatur und die Menschen, die auch nur eine entfernte Beziehung zu ihr haben. Kopit half mir mit einer Stenotypistin aus, und in einem Zuge diktierte ich den Artikel „Die letzte Nacht“ über die Einnahme von Feodossija. Am Abend gab ich den Artikel über die direkte Leitung weiter, und noch in der Nacht setzte ich mich hin, um einen zweiten über Grusinow zu schreiben – „Der Verräter“. Noch in der gleichen Nacht bekam ich über die Sonderleitung eine Verbindung mit dem Redakteur, der mir sagte, der eine Artikel sei bereits eingegangen, und mit dem zweiten solle ich bei erster bester Gelegenheit nach Moskau fliegen. Am nächsten Morgen traf ich zum großen Glück in der Passierscheinstelle des Stabs den bekannten Flieger Tushilin, mit dessen SB ich einmal von Rostow nach Moskau geflogen war. Er sollte anderen-
tags nach Moskau fliegen, und ich war sicher, daß wir auch am gleichen Tag dort eintreffen würden. Tushilin gehörte zu denen, die, ohne Rücksicht auf das Wetter, unterwegs nicht gern übernachteten. Am nächsten Morgen landeten wir um fünf, noch vor Sonnenaufgang, in Moskau, auf dem gleichen Flugplatz, von dem aus ich am Silvesterabend nach Süden gestartet war…
Hiermit enden die während des Krieges gemachten Aufzeichnungen über meine Dienstreise auf die Krim. In meinem Archiv fand ich eine mit dieser Fahrt zusammenhängende alte Dienstkorrespondenz Ortenbergs vom 31. Dezember 1941, adressiert an Nikolajew, damals Mitglied des Kriegsrates der 51. Armee. „Lieber Genosse Nikolajew! Ich gratuliere Dir zum ersten Sieg und schließe Dich als meinen Kampfgefährten fest in die Arme. Ich weiß, daß der erste Sieg für Euch nicht leicht war und viel Blut gekostet hat – um so bedeutsamer ist er. Ich bin überzeugt, daß Ihr die Sache zu einem guten Ende bringen werdet. Ich schicke Simonow mit dem Flugzeug für ein paar Tage hinunter. Verübel ihm nicht, daß er seinerzeit nicht auf die Krim zurückgekehrt ist. Gegen seinen Wunsch habe ich Simonow damals in den Hohen Norden geschickt. Ich ersuche Dich, Simonow behilflich zu sein, und vor allem schicke ihn möglichst schnell mit Material nach Moskau zurück.“ Dieses Dienstschreiben gab mir Ortenberg mit, als ich auf
die Krim flog. Damals wußten weder er noch ich, daß ich nicht zur 51. Armee stoßen würde, die in Kertsch an Land gegangen war, sondern zur 44. die in Feodossija gelandet war. Der Redakteur hatte sich gesagt, er müsse meinen guten Ruf bei Nikolajew verteidigen, weil ich damals, als ich von der Krim zurückflog, Nikolajew versprochen hatte, zurückzukommen, aber nicht zurückgekommen war. Außerdem hatte es Ortenberg für notwendig erachtet, zu betonen, daß sein Korrespondent in diesem Fall Befehl hatte, in aller Eile Material zu sammeln und nach Moskau zurückzukehren. Diesen Satz hatte Ortenberg nicht zufällig in das Dienstschreiben eingebaut. Wir Korrespondenten sahen uns mitunter moralischen Schwierigkeiten gegenüber: Einerseits war es peinlich, auf dem Höhepunkt der Kämpfe von der Front zurück nach Moskau zu fahren oder zu fliegen, andererseits aber lag unsere Rückkehr im Interesse der Sache. Unser Redakteur hatte das erkannt, was das von mir zitierte Dienstschreiben dokumentiert. Diese mit der Fahrt nach Feodossija zusammenhängenden Seiten des Buches sind bereits früher veröffentlicht worden. Ich möchte nun Briefauszüge von zwei Männern bringen, die an den von mir beschriebenen Ereignissen teilnahmen. Diese Briefe atmen den Hauch dieser Zeit, zudem enthalten sie einige präzisierende Fakten. Der erste Brief stammt von Valentin Dmitrijewitsch Meshewitsch, der damals auf der „Serow“ fuhr. „… Sie haben die damalige Situation der Seeleute von der Handelsschiffahrt richtig eingeschätzt. Bei
Kriegsende waren von den noch fahrenden Handelsschiffen nicht mehr als zehn übrig, unter ihnen der Erzfrachter ,A. Serow’, auf dem Sie die Überfahrt von Feodossija nach Noworossisk mitmachten. Von dem Holzfrachter ,Serow’ unterschied er sich nur dadurch, daß auf seinem Deck Kräne montiert waren und nicht Frachtwinden und Ausleger. Ihnen als Landratte kann man diese Ungenauigkeit verzeihen. Unsere Stimmung haben Sie genau beschrieben. Besonders kränkend für uns war, daß wir als Zivilisten angesehen wurden. Als ich mich zusammen mit anderen jungen ,Serowern’ in Noworossisk freiwillig zu den Seestreitkräften meldete, wies man uns im Kriegskommissariat ab. Heute aber heißt es trotz der uns verliehenen Auszeichnungen, wir hätten nicht in der Armee gedient und wären bei den Kampfhandlungen lediglich Zuschauer gewesen. Aber das ist unser persönliches Problem. Wenn Sie etwas über das Schicksal des Dampfers ,A. Serow’ wissen möchten, so kann ich Ihnen kurz einiges darüber mitteilen. Gebaut wurde er kurz vor dem Krieg auf der Nikolajewer Werft. Er fuhr auf der Linie Mariupol – Poti und transportierte Erz. Nach der von Ihnen beschriebenen Reise fuhr die ,Serow’ nach Kertsch, nach Kamyschburun und Sewastopol. Sie war der letzte Transporter, der aus Sewastopol auslief, weil sie im Laderaum II einen Volltreffer erhalten hatte. Das Leck an der rechten Bordseite war einige Quadratmeter groß. Mit Hilfe von Tauchern legte die Besatzung ein Pflaster auf, pumpte das Wasser aus und brachte die ,Serow’, die mit vier Lecks nicht mehr als einen Meter Freibord hatte, nach
Noworossisk. Vor der Aufgabe von Noworossisk sollte die ,Serow’ nach Batumi ins Dock kommen, aber noch vor Gelendshik bekam sie im Laderaum III noch ein Leck und wurde auf eine Sandbank gesetzt. Wieder flickte die Besatzung das Leck, pumpte das Wasser aus, brachte das Schiff nach Poti und später nach Batumi. Nach Instandsetzung fuhr die ,Serow’ von 1943 bis 1944 auf der Linie Batumi – Trapezunt. Diese Reisen hatten es gleichfalls in sich, da wir nur bis zu den neutralen Gewässern Geleitschutz hatten und das Schiff von dort an allein und ohne Bewaffnung seinen Weg nach Trapezunt und zurück fortsetzte. Die Lage wurde noch durch den Umstand erschwert, daß die Deutschen in Trapezunt eine Vertretung hatten, so daß deren Flotte über die Bewegungen des Dampfers Bescheid wußte. Nach Kriegsende fuhr die ,Serow’ noch nach Rumänien, Bulgarien und lief Mittelmeerhäfen an. Ihr beispiellos treuer Dienst riß jedoch 1949 ab, als die ,Serow’ querab von Sewastopol im Winter bei Sturm auf eine Mine lief und in die Luft flog. Die Druckwelle der Detonation in Feodossija, die Sie erwähnen, schleuderte meinen Freund und Mitschüler von der Schiffahrtsschule, Aljoscha Kotschurowski, gegen eine Schottwand der Aufbauten und tötete ihn. Mit Ihren Erinnerungen haben Sie mich fast davon überzeugt, daß ich gar nicht so ein Feigling war, denn mir achtzehnjährigem Bürschlein war damals wirklich sehr mulmig, ich dachte mir aber, verglichen mit der richtigen Front sei das ein Kinderspiel…“
Den anderen Brief erhielt ich von Juri Michailowitsch Kokarew, Redakteur bei der Zeitung der 44. Armee: „… Und nun zu dem einen Tag in Noworossisk, wo Sie sich bei den Redaktionsmitarbeitern der Armeezeitung ,Na Schturm’ aufhielten, deren Redakteur ich war. Im wesentlichen stimmt alles, aber ich will Ihnen sagen, was sich mir eingeprägt hat. Wir sind mit Besuchen von Schriftstellern nicht gerade verwöhnt worden. Unsere Redaktionskader kamen vorwiegend aus der Provinz. Sicherlich habe ich die Begegnung mit Ihnen in den ersten Januartagen des Jahres 1942 deshalb so gut im Gedächtnis behalten. Sie platzten in durchnäßten Filzstiefeln und durchnäßtem Kampfanzug bei uns herein. Sie waren kaum über die Schwelle getreten, war Ihre erste Bitte: Jungs, Wodka…’ Sie sahen völlig durchgefroren aus, und wir zogen Ihnen sofort die Oberbekleidung herunter. Wodka aber hatten wir nicht. Wir stellten Konserven und eine Flasche Riesling auf den Tisch. Das war natürlich nicht ganz das Richtige, aber wir machten uns sofort daran, Sie und Martyn zu bewirten. Und gegen 11.00 Uhr abends lasen Sie uns dann Gedichte vor. Sie hatten selber den Vorschlag gemacht: ,Wollt ihr mal hören?’ Uns kamen die Tränen. Doch nicht etwa vom Alkohol, sondern vom Krieg, von der Trauer um Gennadi Solotzew, den dreiundzwanzigjährigen Moskauer, der fiel, ohne je geliebt zu haben. Uns kamen die Tränen wegen der Trennung von unseren Lieben und weil wir uns alle nach Zärtlichkeit sehnten. Und da blamierte ich mich tüchtig. Als Sie mit ,Wart auf
mich’ zu Ende waren, flüsterte ich: ,Wie schön…’ Und Sie boten mir unvermittelt an: ,Wenn du willst, gebe ich es dir. Kannst es veröffentlichen…’ Das kam völlig überraschend. Und ich stotterte herum, die Zeitung brauche was Heroisches und nichts Intim-Lyrisches. Als dann die ,Prawda’ dieses Gedicht brachte, schlug ich mir an meinen Glatzkopf. Bevor Sie schlafen gingen, erbaten Sie von mir für nächsten Vormittag eine Stenotypistin. Anderntags war ich platt, als Sie mir gegen elf Ihren ,Verräter’ zum Lesen brachten. Wir gaben ihn sofort in Satz. Sie haben ihn also nicht in Krasnodar diktiert, sondern bei uns, und wir haben ihn zuerst veröffentlicht. Sie können das nach den abgelegten Armeezeitungen überprüfen…“ Aus diesem Brief wird ersichtlich, daß ich durcheinanderbrachte, wo und in welcher Reihenfolge ich meine Beiträge über Feodossija schrieb. In der Tat hatte ich einen davon bereits in Noworossisk diktiert und nur den zweiten in Krasnodar… Jedenfalls war, als ich am 9. Januar zurück nach Moskau kam, einer davon bereits in der „Krasnaja Swesda“ erschienen, und der andere wurde unmittelbar danach gebracht.
2 Sicherlich weil ich gerade von der Krim zurückgekommen war, erinnerte sich Ortenberg plötzlich an meine erste Fahrt dorthin, im Jahr 1942, und kaum hatte ich den „Verräter“ abgetippt, rief er mich wie-
der zu sich. „Hör mal, Simonow, du erinnerst dich doch, als du letztes Mal von der Krim zurückkamst, hast du mir doch erzählt, Korpskommissar Nikolajew hätte zu dir gesagt, die Tapferen fielen seltener?“ Erstaunt antwortete ich, ja, ich könne mich erinnern. „Weißt du“, sagte der Redakteur, „du könntest eine Erzählung über dieses Thema schreiben. Das ist doch ein wichtiger und im Grunde auch richtiger Gedanke.“ Ich verließ ihn recht kleinmütig, weil ich noch nie im Leben Erzählungen geschrieben hatte, und mir während meiner Arbeit als Frontkorrespondent der „Krasnaja Swesda“ niemals der Gedanke gekommen war, aus allem, was ich erlebt hatte, keine Korrespondenz, sondern eine Erzählung zu schreiben. Die Erinnerungen an die Arabatsker Landzunge, die nach dem Gespräch mit Ortenberg auf mich einstürmten, halfen mir, die erste Erzählung zu schreiben. Ich rief mir Nikolajew und seine festeste und unerschütterlichste Überzeugung ins Gedächtnis, wonach die Tapferen seltener fallen als die Feiglinge, ordnete einige Details dieses für mich denkwürdigen Tages nach meinen Vorstellungen und legte zwei Tage später meine erste Erzählung, „Der dritte Adjutant“ betitelt, dem Redakteur auf den Schreibtisch. Die Erzählung fand Anklang, sie wurde in Satz gegeben, und mich schickte man für kurze Zeit – wenn ich mich recht erinnere für ein oder zwei Tage – in die Gegend von Moshaisk, dessen Einnahme jeden Augenblick erwartet wurde, zu der es dann aber erst eine Woche später kam. Ich kehrte mit drittrangigem Material zurück, das
nicht in die Zeitung kam. An das Material kann ich mich nicht mehr erinnern. Aufzeichnungen von dieser Fahrt besitze ich nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich bei der Rückkehr zu meiner Freude erfuhr, die „Prawda“ habe während meiner Abwesenheit „Wart auf mich“ gebracht. Kurz zuvor hatte ich es zusammen mit einem anderen Gedicht – „Gedenkst du, Aljoscha, der Straßen im Regen…“ – Ortenberg für die „Krasnaja Swesda“ angeboten. „Gedenkst du, Aljoscha…“ hatte Ortenberg gefallen, und er brachte es bald darauf, doch bei „Wart auf mich“ war er unschlüssig gewesen, und er hatte mir das Gedicht mit den Worten zurückgegeben, es eigne sich wohl nicht für eine Soldatenzeitung, es sei nicht gut, den Soldaten das Herz schwerzumachen – die Trennung sei so schon bitter genug! Unsere „Krasnaja Swesda“ befand sich damals in dem gleichen Gebäude wie die „Prawda“ und die „Komsomolka“. Nach meiner Rückkehr aus Feodossija traf ich, aus dem Schreibzimmer kommend, im Redaktionskorridor den Prawda-Redakteur Pjotr Nikolajewitsch Pospelow. Er lud mich in sein Zimmer zu einem Glas Tee ein. Ich dachte, er wolle mich über die Fahrt nach Feodossija ausfragen; er hatte schon immer die Gewohnheit, die Leute in sein Zimmer zu schleppen und bei einem Glas Tee aus ihnen herauszuholen, wo sie gewesen waren und was sie gesehen hatten. Diesmal aber drehte sich das Gespräch wider Erwarten nicht um meine Fahrt, sondern um Gedichte. Pospelow beklagte, daß in der „Prawda“ in letzter Zeit nur selten Gedichte erschienen seien, und fragte mich, ob ich nicht etwas
Passendes hätte. Ich antwortete zuerst, ich hätte nichts. „Mir haben doch Genossen erzählt, Sie hätten unlängst hier etwas vorgelesen.“ „Eigentlich habe ich schon was“, sagte ich. „Aber das Gedicht eignet sich nicht für die Zeitung. Auf jeden Fall nicht für die ,Prawda’.“ „Wieso denn nicht für die ,Prawda’? Vielleicht ist das gerade das Richtige für die ,Prawda’?“ Und so las ich nach kurzem Zögern Pospelow das Gedicht „Wart auf mich“ vor, das mir die „Krasnaja Swesda“ nicht abgenommen hatte. Als ich geendet hatte, sprang Pospelow aus seinem Sessel auf, schob die Hände tief in die Taschen seiner blauen Wattejacke und ging in seinem kalten Zimmer auf und ab. „Was denn? Meiner Meinung nach ist das Gedicht gut“, sagte er. „Geben Sie es uns zur Veröffentlichung in der ,Prawda’. Warum eigentlich nicht? Bloß haben Sie da eine Zeile drin mit ,gelbem Regen’… Lesen Sie die doch noch mal.“ Ich wiederholte: „ ,Warte, wenn der Regen fällt, gelb und trüb und schwer…’ „ „Wieso ,gelb’?“ fragte Pospelow. Mir fiel es schwer, ihm den „gelben Regen“ logisch zu erklären. „Ich weiß nicht, wieso ,gelb’. Wahrscheinlich wollte ich mit diesem Wort meine Schwermut ausdrücken.“ Pospelow ging noch eine Weile auf und ab, und dann rief er Jaroslawski an. „Jemeljan Michailowitsch, kommen Sie doch bitte mal zu mir…“ Ein paar Minuten später betrat der graubärtige Jemeljan Michailowitsch Jaroslawski,
den Pelz fröstelnd über die Schultern geworfen, das Zimmer des Redakteurs. „Lesen Sie das Gedicht doch bitte Jemeljan Michailowitsch vor.“ „Ich finde es gut“, sagte Jaroslawski, als ich fertig war. „Und was halten Sie von dem ,gelben Regen’, Jemeljan Michailowitsch… Wie kann Regen gelb sein?“ fragte Pospelow. „Aber das ist doch ganz einfach“, sagte Jaroslawski. „Haben Sie denn nie bemerkt, daß der Regen alle möglichen Farben haben kann? Es gibt auch gelben, wenn der Boden gelb ist…“ Er selbst malte in seiner Freizeit, und deshalb wohl fand er für meinen „gelben Regen“ ein weiteres Argument, das logischer war und Pospelow mehr überzeugte, als meine eigene Erklärung. Dann baten sie mich beide, das Gedicht ein drittes Mal zu lesen. Ich las es und überließ es Pospelow, der sagte: „Wir bringen es.“ Als ich ein paar Tage später aus der Gegend des wider Erwarten noch nicht genommenen Moshaisk zurückkehrte, fand ich mein „Wart auf mich“ in der „Prawda“ veröffentlicht. Etwa in den Tagen, da „Wart auf mich“ erschien, reifte in mir der Entschluß, ein Theaterstück über meine Kriegserlebnisse zu schreiben. Den ersten Anstoß dazu hatte wohl das Zusammentreffen mit Moskauer Schauspielern damals im Dezember gegeben, als sie sich im Gespräch mit mir darüber beklagten, daß der Krieg vor ihrer Nase stattfände, aber ein Stück über diesen Krieg hätten sie nicht. „Wenn Sie eins schreiben würden…“ Ich begann mit dem Stück Mitte Januar und schloß es
Mitte März ab. Drei Wochen von diesen zwei Monaten entfielen für zwei Fahrten an die Front. Gleich nachdem ich mit dem Stück begonnen hatte, bat ich um einen Monat Urlaub, erhielt aber fürs erste nur zwanzig Tage. Beim Durchsehen der Briefe an meine evakuierten Eltern, die sie aufgehoben haben, fand ich ein paar schnoddrige Zeilen über diesen Urlaub; ich nahm damals an, dieser Ton werde auf sie beruhigend wirken. „Ab heute, und zwar genau ab 21. 1. 42, hat Euer Sprößling zwanzig Tage Urlaub, um ein Stück über den Krieg zu schreiben. Nach Ablauf dieses Urlaubs plant Euer Sohn, sich in den äußersten Süden zu begeben. Was aber, nebenbei bemerkt, auch vom Wollen des Redakteurs abhängt.“ In den Papieren aus der Kriegszeit fand ich auch ein paar Seiten, die sich auf die Arbeit an dem Stück beziehen. Sie waren ein Jahr später, im März 1943, für eine amerikanische Nachrichtenagentur geschrieben – damals waren die „Russischen Menschen“ in Großbritannien erschienen und auf einer amerikanischen Bühne aufgeführt worden. „Als ich den letzten Akt des Stücks bei Regisseur Gortschakow ablieferte, fragte er mich: ,Wie haben Sie es nur geschafft, in der Zeit das Stück zu schreiben?’ Diese Frage war für mich komplizierter, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Ich hatte nicht erst an dem Tag begonnen, als ich es der Stenotypistin diktierte, sondern an jenem, da ich in den Krieg hineingeriet. Über viele Kriegseindrücke wollte ich ausführlicher,
tiefschürfender und ernsthafter sprechen, als ich es in einem gewöhnlichen Zeitungsbericht hätte tun können. Im Juli 1941 war ich bei einem Regiment, das Mogiljow verteidigte. Dort traf ich Menschen, die diese Stadt, als sie bereits zu beiden Seiten umgangen war, bis zur letzten Patrone hielten. Dort in Mogiljow kam mir zum erstenmal der Gedanke, daß ich, sollte ich am Leben bleiben, unbedingt etwas über diese Menschen schreiben würde. Sie waren von den eigenen Leuten abgeschnitten und verteidigten diese Stadt dennoch ohne Zaudern und ohne Zagen. Später, im August, kam ich nach Odessa, in jenen für diese Stadt so schweren Tagen, als man die Reserven an den Fingern abzählen konnte und keine Verstärkung herankam. Die Deutschen hatten das Wasserwerk besetzt, das die Stadt mit Wasser versorgte, in der Stadt gab es so gut wie kein Wasser, es wurde danach angestanden und becherweise ausgegeben. Dennoch hielt sich die Stadt, und dort in Odessa nahm ich mir vor, später eine große Sache über eine belagerte Stadt zu schreiben. Im September war ich dann auf der Krim, geriet während der Kämpfe dort auf eine kahle Landzunge, hier herrschte Dürre, und es gab keinen Tropfen Trinkwasser, zu beiden Seiten nur Salzwasser. Wie alle anderen, die damals dorthin geraten waren, mußte ich viel ausstehen, und in einer dieser schweren Minuten sagte ich mir, ich müsse unbedingt am Leben bleiben und später über all das schreiben. Dann verschlug es mich in den Hohen Norden auf die Rybatschi-Halbinsel, wo die Menschen unter Polarbedingungen lebten und sich genau wie in Odessa in
der Lage einer belagerten Garnison befanden. Und ich dachte, man müsse doch über so ein belagertes, aber nicht besiegtes Stück russischen Bodens schreiben. Während unserer Dezember – und Januaroffensive zog ich mit unseren Truppen in befreite Städte ein, sah in ihnen Spuren der Tapferkeit und Spuren des Leids, sah kriegsgefangene Deutsche und in unsere Hände gefallene Verräter. Das war es, was mir bisher für das Stück gefehlt hatte. All das zusammengenommen war eben der eigentliche Beginn der Arbeit an den ,Russischen Menschen’. Und obwohl ich durch Frontfahrten zweimal aus der Arbeit herausgerissen wurde, ist ,herausgerissen’ wohl nicht das richtige Wort, weil mir auch auf diesen Fahrten das Leben noch mancherlei soufflierte, was ich für das Stück brauchte.“ Wenn ich heute diese im Frühjahr 1943 nach Amerika geschickten Seiten lese, bemerke ich natürlich die leichte Prahlerei mit meiner Fronterfahrung. Gerade der Zustand der Belagerung, des Abgeschnittenseins, den ich mehrere Male erlebte, ließ mich dieses Sujet für das Stück wählen und kein anderes. Ich saß in Moskau und schrieb das Kriegsstück. Zuerst hieß es „Zehn Tage“, dann „Hinter dem Liman“, und erst später erhielt es auf einen Rat meines Frontkameraden Moris Slobodski, damals Korrespondent der „Krasnoarmejskaja Prawda“, seinen endgültigen Titel „Russische Menschen“. Auf diese Schaffensperiode und auf die Frontfahrten, die diese Arbeit immer wieder unterbrachen, beziehen sich
einige Manuskriptseiten, die ich ein oder zwei Jahre nach den darin beschriebenen Ereignissen zu Papier brachte. … Es kamen wieder etwas mehr Menschen nach Moskau. Das Hotel „Moskwa“ war schon stärker belegt als im Dezember. Ich gab mein Hotelzimmer auf und auch den Diwan in der Redaktion und fand vorübergehend Unterkunft bei Bekannten. Obwohl sich wieder mehr Menschen in Moskau aufhielten, standen in der Stadt immer noch viele Wohnungen leer. Das Zimmer in der Redaktion mit Schreibtisch, Sessel, Schrank und Bett aber beließ man mir doch für den Fall eventueller Nachtdienste, die ich nebenbei bemerkt nie hatte. Ortenberg wußte, ich würde aufs erste Wort hin an die Front fahren, doch er zwang mich nicht, in der Redaktion zu hocken, wenn ich in Moskau war. Er gab, mir Urlaub mit Vorbehalt, damit ich an dem Stück „Russische Menschen“ schreiben konnte. „Du hältst das Stillsitzen sowieso nicht lange aus“, sagte er. Das war sein ständiger Prolog, mit dem er mich einwickelte. Das Leben in Moskau lief eine Spur geregelter ab als im Dezember, wies aber nach wie vor seine typischen Merkmale auf. In den Wohnungen war es kalt, und um sich aufzuwärmen, zog man Wodka einem Glas Tee vor. Der Wodka wurde aus den verschiedensten Quellen beschafft, unter anderem brachte man ihn von der Front mit. Die Wagen der Frontkorrespondenten waren nach wie vor ein Teil der Behausung. Man war bemüht, in ihnen einen Vorrat an Lebens-
mitteln und auch an Kraftstoff zu haben, um jeden Augenblick losfahren zu können. Hier möchte ich einige Worte über das damalige winterliche Leben meiner Kollegen Frontkorrespondenten einfügen, die halb in Moskau, halb an der Front waren, so wie es sich in dem ein Jahr später geschriebenen Gedicht „Die Gastgeberin“ darstellte: „… Mir steht nicht zu, dich gut zu nennen oder schlecht, doch ist gewiß: In jener schweren Zeit war in dir jene weiblich weiche Seele, in deiner Stimme all die Zärtlichkeit, die ihnen fehlte, Wochen, Jahre fehlte, wenn sie des Morgens fuhren zu den Fronten hin nach Rshew, Kaluga, Charkow, auf die Krim. Kein Mädchen winkte ihnen traurig zu, kein Abschiedswort und kein Trompetenklang, die Frau sehr fern und ahnungslos, doch bang. Am Morgen dann der Krieg, der sie schon jahrelang in seine eiserne Umarmung zwang…“ An Sonntagen, zuweilen auch mitten in der Woche, fuhr Ortenberg in aller Frühe, wenn die nächste Nummer fertig war, an die Front und schlief unterwegs im Wagen. Während ich die „Russischen Menschen“ schrieb, fuhr ich ein paarmal zu ihm in die Redaktion. Manchmal nahmen wir in dem Kämmerchen neben seinem Arbeitszimmer rasch einen Imbiß, wobei ich Wodka trank, Ortenberg aber Muskateller, und dazu aßen wir Essiggürkchen. Er war im Besitz einer Riesenbüchse Essiggurken, die
man nicht auf einen Ritt leerbekam, selbst wenn man sie so gern aß wie ich. Diese „Sitzungen“ waren nur kurz, denn wie immer hatte Ortenberg viel zu tun. Aber es war sehr angenehm, wenigstens ein Weilchen in seinem Kämmerchen, dem wärmsten Raum in der ganzen Redaktion, sitzen zu können. Da es so klein war, wurde es von einer Heizsonne schnell erwärmt. Ich diktierte das Stück unserer Redaktionsstenotypistin Musa Nikolajewna Kusko täglich nach Feierabend. Die Idee, das Stück einer Stenotypistin zu diktieren, hatte mir zum Teil mein jugendlicher Übermut eingegeben, der noch Auftrieb erhalten hatte, nachdem ich mehrere Reportagen direkt in die Maschine einwandfrei herunterdiktiert hatte, zum Teil aber auch die Angst, ich würde nicht fertig werden, man könnte mich vorher an die Front schicken. Ich war es noch nicht gewohnt, einer Stenotypistin zu diktieren, ich tat das recht laut, spielte die Rollen aller handelnden Personen mit voller Lautstärke, ja manchmal brüllte ich sogar. So gab es in der Wohnung, in der ich wohnte, eines Tages einen rechten Trubel. Ich war dabei, das siebente Bild zu diktieren, in dem die alte Safonowa mit ihren letzten Worten die Faschisten verflucht. Musa Nikolajewna saß zusammengekauert am Tisch und malte still ihre stenographischen Zeichen, ich aber brüllte, mich vergessend, daß es durch die ganze Wohnung schallte: „Ihr Hunde! Wessen Ausgeburt seid ihr bloß? Krötenbrut seid ihr! Schlangenbrut!“ Als die Hausfrau in der Küche mein Gebrüll hörte, nahm sie an, es wäre zwischen mir und der sanften und stillen Musa Nikolajewna zum Streit gekommen, und kam ins Zimmer gelaufen. Sie sah
völlig verstört aus, während wir nicht die geringste Ahnung hatten, warum sie kam, doch als wir endlich begriffen, wollten wir uns ausschütten vor Lachen. Als ich den ersten Akt fertig hatte, begleitete ich Ortenberg auf dessen nächster Fahrt an die Front. Der erste Akt war unwahrscheinlich lang geworden, doch ich brachte ihn trotzdem zu Gortschakow. Ich las ihn laut vor und ließ ihn da, nachdem wir ausgemacht hatten, nach meiner Rückkehr von der Fahrt wieder zusammenzukommen. Einige Stunden später jedoch, kurz bevor ich losfahren mußte, stürmte Gortschakow ohne vorherigen Anruf bei mir herein und sagte, falls ich an der Front aufgehalten werden sollte, werde er die Rollen ohne mich verteilen und mit den Proben beginnen. „Aber ich bin doch noch gar nicht fertig“, sagte ich. „Macht nichts, macht nichts“, sagte Gortschakow, „wir fangen gleich an zu arbeiten, halten Sie sich das ständig vor Augen, dann werden Sie eher fertig! So wird bei Ihnen was draus und auch bei uns. Bloß nicht mehr so lang! Wenn Sie so weitermachen, kommen Sie noch auf dreihundert Seiten. Soviel Text verkraften wir einfach nicht!“ Schmunzelnd fuchtelte er mir mit der dicken Mappe, die den ersten Akt enthielt, vor der Nase herum. „Völlig offensichtliche Längen streiche ich gleich raus. Wie ist’s, sind Sie einverstanden?“ Er blätterte das Stück durch, und fast auf jeder Seite waren diese „völlig offensichtlichen“ Längen angestrichen. Ich erklärte mich einverstanden und bereute es später nicht. Ein solcher Arbeitsbeginn war ganz nach meinem Sinn, und als wir in den frühen
Morgenstunden an die Front fuhren, dachte ich unterwegs über die Fortsetzung nach. Wir fuhren mit zwei Wagen und hatten Redaktionsfahrer – Mironow und Itkin, die beide später fielen. Im ersten Wagen fuhr der Graphiker und Karikaturist Boris Jefimow mit, im zweiten Mischa Bernstein. Wenn ich mich recht erinnere, war das unsere letzte gemeinsame Fahrt vor seinem Tod. Zunächst fuhren wir auf der Minsker Chaussee zur 5. Armee, und zwar zu jener ihrer Divisionen, die unmittelbar an der Chaussee lag. An ihre Nummer kann ich mich heute nicht mehr erinnern, ich weiß nur, daß es eine der Divisionen war, die schon am Chalchyn gol gekämpft hatten. Ihr Kommandeur war General Orlow, den ich nicht kannte, mit dem Ortenberg aber schon vom Chalchyn gol her bekannt war. Ortenberg, der für immer und ewig eine Schwäche für die alten Chalchyngoler hatte, brachte Orlow aus Moskau eine Generalspapacha zum Geschenk mit, die dieser, wie sich herausstellte, selbst nicht hatte auftreiben können. Der General freute sich über unser Kommen wie auch über die Papacha. In diesen Tagen war bei seiner Division Ruhe. Größere Kampfhandlungen fanden an der Flanke der Armee zur Umgehung von Gshatsk statt, denn zu diesem Zeitpunkt war man bereits zu der Überzeugung gelangt, daß Gshatsk frontal nicht genommen werden könne und man es umgehen müsse. Bei Orlows Division kam es nur ab und an zu einem Schußwechsel und zu kleineren Plänkeleien, die den Gegner ablenken sollten. Der Divisionsstab lag in der Nähe einer Chaussee in mehreren Wohnbunkern und in den drei oder vier
verschont gebliebenen Häusern eines niedergebrannten Dorfes. Alles war, wie es sich für einen Ruhetag gehört – Mittagessen aus der Feldküche und Wodka. Ortenberg musterte mich und Mischa Bernstein mißtrauisch, aber wir tranken jeder nur noch ein zweites Gläschen, weil wir froren. Bei diesem kurzen Zusammentreffen hat sich mir der Divisionskommandeur durch nichts Besonderes eingeprägt; mir blieb lediglich der Eindruck eines lieben, guten Menschen. Er trug eine Panzerfahrerhaube, Stiefel, Wattchosen und Pelzjacke, und erinnerte in seinem Äußeren wenig an einen General. Damals war es Mode, sich so ein bißchen nach Partisanenart zu kleiden, so, wie es jedem gerade einfiel, und nicht nur meine Kollegen Frontkorrespondenten huldigten dieser Mode. Nach dem Mittagessen, es war inzwischen schon dunkel geworden, begaben wir uns zu einem Regimentsstab. Dieser lag drei Kilometer vom Divisionsstab entfernt in einer großen Scheune, wie ich glaube, dem einzigen Gebäude, das von einem völlig niedergebrannten Dorf übriggeblieben war. In der Scheune waren mehrere Räume abgeteilt, ein Ofen stand darin, und es war verhältnismäßig warm. Nach der Begrüßung wurden Karten auf den Tisch gepackt, und der Regimentskommandeur trug Orlow und Ortenberg die Lage vor. Geplant war eine nächtliche Operation mit einem Bataillon. Ein Durchbruch sollte stattfinden, irgendwo sollte in eine Flanke eingedrungen und unter dem Schutz des und des Feuers eine Höhe genommen werden, auf der die Deutschen saßen und unser Vordringen auf eine andere Höhe
behinderten, und diese andere Höhe wiederum… Nach dem Vortrag zu urteilen, schien das alles sorgfältig durchdacht, und doch wurde ich das Gefühl nicht los, das Ganze könne möglicherweise für die Katz sein und diejenigen, die den Plan jetzt vortrugen, wären selber nicht restlos vom Gelingen überzeugt. Allzu exakt berichteten sie schon im voraus in allen Einzelheiten, wie sich das Ganze abspielen, wer wohin vorstoßen und wer bis wohin kommen würde. Immer stärker wurde in mir das Gefühl, daß dieser so sorgfältig ausgearbeitete Plan scheitern würde. Diese ganze Teiloperation hatte für die Einnahme von Gshatsk sicherlich keinerlei Bedeutung; eine Nachtgefecht – geführt von nur einem einzigen Bataillon irgendwo in einem untergeordneten Abschnitt – vermochte wohl kaum etwas an der Gesamtlage zu ändern. Ich hatte die dunkle Vorahnung, daß dem Vorhaben kein Erfolg beschieden sei und alles lediglich damit endete, daß im Morgengrauen Tote im Schnee lagen und mehrere Dutzend Männer mit leichten oder schweren Wunden zum Sanitätsbataillon abtransportiert wurden… Natürlich war es von mir vermessen, beurteilen zu wollen, wann eine Teiloperation notwendig und wann sie sinnlos war, aber ich hatte an jenem Abend das Gefühl, dieses Hin und Her sei völlig sinnlos – rauf auf die Höhe, runter von der Höhe, wieder rauf, wieder runter, ein Hin und Her, zu dem es kommt, wenn der Angriffsschwung bestimmter Einheiten einer Armee bereits erlahmt ist. Andere Einheiten mochten ein andermal und am
ehesten wohl an einer anderen Stelle durchaus imstande sein, erfolgreich vorzugehen, aber jetzt und hier reichten die Kräfte nicht aus. Doch eine Offensive, die bis zum nächsten richtigen Schlag eigentlich schon versickert ist, führt immer noch eine Scheinexistenz in den Köpfen der Menschen und in den Zeitungen… So auch diesmal, und später sah ich es noch des öfteren mit eigenen Augen. Der Divisionskommandeur billigt den Plan des Regimentskommandeurs und meldet die geplanten Kampfhandlungen an den Armeestab weiter; von dort werden sie bestätigt, und wenn schließlich alles bestätigt ist, setzt der Divisionskommandeur den Regimentskommandeur und dieser wiederum den Bataillonskommandeur unter Druck, der die Operation unmittelbar durchzuführen hat. Für einen Erfolg reichen die Kräfte nicht, und wenn es mitunter auch gelingt, eine Höhe oder drei oder vier Unterstände zu nehmen, sind die Verluste bei einer solchen Teiloperation, die nicht mit einem großangelegten Angriff zusammenhängt, letztlich bei uns meist höher als bei den Deutschen. Sind der Regimentskommandeur oder der Bataillonskommandeur wahre Haudegen, und das waren sie meistens, dann gehen sie mit den Soldaten vor und fallen nicht selten durch einen MG-Feuerstoß oder einen Granattreffer. Und hinterher geht dann eine Meldung an den Armeestab, daß die Operation entweder gelungen, nicht gelungen oder nur teilweise gelungen ist… Nachdem alle lang und breit die Karte und die vom Stabschef des Regiments angefertigte Geländeskizze studiert hatten,
erschienen auf dem Tisch Teller mit der gleichen heißen Kohlsuppe wie im Divisionsstab. Wir blieben nach dem Essen noch ein Weilchen in der Scheune sitzen, hörten auf das Schießen der Granatwerfer und kehrten dann auf der gleichen tiefverschneiten Straße, die sich wie ein riesiger Graben durch die Schneewehen wand, zum Divisionsstab zurück. Hier sagte Ortenberg, er werde mit dem Bataillon zu dem nächtlichen Unternehmen vorgehen. Der Divisionskommandeur wollte schon protestieren, doch dann erinnerte er sich an die Art Ortenbergs, die er vom Chalchyn gol her kannte, und widersetzte sich nicht erst lange. Ich verspürte nicht die geringste Lust, den warmen Raum zu verlassen und in der Nacht mit dem Bataillon durch den Schnee zu stapfen, um an jener Operation teilnehmen zu können, gegen die ich von Anfang an voreingenommen gewesen war. Ich hatte einfach keine Lust, unnötigerweise meine Nase dorthin zu stecken, wo man verdammt schnell sein Leben lassen konnte. Da aber fragte mich Ortenberg: „Na wie ist’s, gehen wir zusammen?“ Unsere Beziehungen zueinander verboten es mir, „nein“ zu sagen, und ich stimmte zu. Nun konnte ich nur noch darauf hoffen, daß das Ganze aus irgendeinem Grunde abgeblasen würde. Entweder die Operation selbst oder aber unsere Teilnahme daran. Die Operation war für zwei Uhr früh angesetzt. Ortenberg hatte letzte Nacht bis in die Morgenstunden die Zeitung fertiggemacht und kein Auge zugetan.
Als wir wieder bei der Division waren, legte er sich hin, um ein wenig zu schlafen, nicht ohne den Stabschef der Division vorher zu bitten, ihn eine Stunde vor Beginn zu wecken. Er schlief sofort ein, und ich hoffte, der Stabschef würde ihn nicht wecken. Ich selbst bat nicht darum, geweckt zu werden, weil ich mir sagte, wenn Ortenberg losgeht, wird er mich schon wach machen. Die Offiziere der Division verspürten wohl kaum große Lust, einen Redakteur der „Krasnaja Swesda“ mit einem Bataillon zum Angriff zu schicken, zumal sie hinterher die Verantwortung trugen, wenn ihm etwas zustieß. Und es kam wirklich so. Um 6.00 Uhr erwachten wir von allein. Es war noch dunkel und Ortenberg, der nicht wußte, wie spät es war, wollte sich auf den Weg zum Bataillon machen. Doch da sagte man ihm, die Teiloperation sei inzwischen beendet mit einem Ergebnis, das man in solchen Fällen einen „Teilerfolg“ nennt, also mit so gut wie fast nichts. Jetzt noch loszugehen, war es zu spät. Hinterher kam es mir vor, als habe Ortenberg in dieser Nacht selbst keine besondere Lust, zu dem Bataillon hinauszugehen. In seiner Unrast hatte er einfach die ihm gewohnte Regel befolgt, soviel wie nur möglich mit eigenen Augen zu sehen, und mir deshalb am Abend den Vorschlag gemacht mitzugehen, während er nun, da alles bereits vorbei war und das noch dazu ohne sein Verschulden, sich darüber nicht sehr betrübt zeigte. Wir machten uns auf zur 32. Division, die an der Flanke der Armee operierte. Je weiter wir uns von der Minsker Chaussee entfernten und uns unserem Ziel
näherten, desto deutlicher wurde der Unterschied zwischen einem zeitweilig ruhigen Frontabschnitt und einem kämpfenden Abschnitt. Zu beiden Seiten der zerstörten Straße gähnten dunkle Trichter und lagen Pferdekadaver, einige waren noch unversehrt, mitunter zerhackte man oder zersägte man sie wie Brennholz. Fast immer kam bei einer Offensive der Verpflegungsnachschub ins Stocken, und kaum wurde die Verpflegung knapper, wanderte das Pferdefleisch in die Feldküchen. Je länger wir fuhren, desto aufgewühlter waren die Straßen, die Dörfer waren niedergebrannt, und der Schnee war mit Trichtern übersät. Endlich stießen wir an einer Straßengabelung bei einer Brandstätte auf eine sogenannte Hilfsführungsstelle – den vorgeschobenen Gefechtsstand der 5. Armee. Zwischen den Häuserruinen waren Unterstände ausgehoben. In einen von ihnen zwängten wir uns hinein. Er war stabil gebaut, mehrere Lagen Stämme verstärkten die Decke, es war eng, aber sauber, wir erblickten einen Kanonenofen, Tisch und Bett. Im Unterstand saßen der Befehlshaber der 5. Armee, General Goworow, und ein Generalleutnant der Artillerie mit einem Doppelnamen, der mir entfallen ist, wenn ich nicht irre, war es der Chef Artillerie der Fernostfront, der zum Kennenlernen der Praxis hierher an die Westfront und speziell zu Goworow gekommen war, wohl weil Goworow selbst Artillerist war und seine 5. Armee teils wegen ihres Befehlshabers, teils aber auch wegen ihrer reichen Ausstattung mit Artillerie damals die „Artilleriearmee“ genannt wurde. Goworow sah aus wie fünfundvierzig. Er war ein
stämmiger, schwarzhaariger Mann mit klugem, spöttischem Gesicht. Er sprach betont gelassen und mit jener zurückhaltenden, wohlüberlegten Sanftheit, die man nicht selten bei Menschen antrifft, die sich zwar eine Zeitlang beherrschen können, in Wirklichkeit aber schroff und heftig sind, namentlich wenn sie in Wut geraten. Der General aus dem Fernen Osten war ein grauhaariger Mann, er sah aus wie fünfzig oder auch ein bißchen älter, war korpulent, ruhig und besonnen. Als wir hereinkamen, führten die Generale gerade ein Gespräch, und ich mit meinem damals mehr oder weniger geschärften Blick fand sofort heraus, daß irgendwo bei der Armee eine brenzlige Lage entstanden sein mußte, daß wir in einem kritischen Augenblick kamen und den beiden Generalen, namentlich Goworow, unser Kommen nicht sehr recht war. Nebenbei bemerkt, ließ sich Goworow, der Ortenberg von früher her gut zu kennen schien, seine Verstimmung nicht anmerken und forderte uns auf, wir sollten es uns im Unterstand bequem machen und ein Glas Tee trinken. Als aber Ortenberg gleich darauf erklärte, von hier geradewegs zum Kommandeur der 32. Division, Polossuchin, fahren zu wollen, und sich erkundigte, wo der wohl anzutreffen sei, erwiderte Goworow recht energisch, Polossuchin sei zur Zeit nicht auf direktem Weg zu erreichen, weil die Straße zur B-Stelle, wo sich Polossuchin derzeit aufhalte, unter heftigem Granatwerferbeschuß liege, und wie man zu ihm gelangen könne, werde sich erst morgen herausstellen, wenn sich dies und das an der gegen-
wärtigen Lage geklärt habe. Wenn wir dorthin wollten, müßten wir schon mit einem Panzer fahren. Das alles sagte er in ruhigem, keinen Widerspruch duldenden Ton, und er fügte hinzu, die B-Stelle, wo sich Polossuchin aufhalte, liege weit vor dem Divisionsstab. „Aber zum Divisionsstab kommt man durch?“ erkundigte sich Ortenberg. „Zum Stab?“ fragte Goworow ungehalten zurück, und den Blick auf Ortenberg gerichtet, sagte er nach kurzem Zögern, zum Stab käme man schon. Und er zeigte auf der Karte den Weg dorthin. In dem Moment wurde er zum Fernsprecher gerufen, der in einem anderen Unterstand installiert war, und wir schickten uns zum Aufbruch an. Der Generalleutnant aus dem Fernen Osten, der Artillerist, versuchte Ortenberg die Fahrt auszureden, er meinte, jetzt, mitten am Tage, dorthin zu fahren, sei unsinnig und gefährlich, denn die Deutschen deckten nicht nur die Straße dorthin, sondern auch das Gelände hier bei ihren Unterständen fortwährend mit schweren Granaten ein. Er war besorgt, uns könne etwas zustoßen. Sieben Monate nach diesem Gespräch wurden Ortenberg und ich gleichzeitig an ihn erinnert. Während eines unserer beharrlichen, aber trotzdem erfolglosen Versuche, im September von Norden her durchzubrechen, um Stalingrad zu entsetzen, kamen wir zu den angreifenden Truppenteilen in der Gegend des Sowchos „Kotluban“, wo wir erfuhren, ganz in der Nähe, ungefähr fünfhundert Meter weiter, sei eben jener General aus dem Fernen Osten, der uns sei-
nerzeit vor Moskau bei Goworow geraten hatte, ja recht vorsichtig zu sein, mit seinem Wagen in einen Bombenangriff geraten und umgekommen. Ein weiteres Beispiel für die Ironie des Schicksals. Goworow sprach lange über die direkte Leitung, Ortenberg hatte es wie immer eilig, und wir brachen zu Polossuchins Division auf, noch bevor Goworow wieder da war. Wir setzten die Fahrt im Wagen fort. Ortenberg war sich erst nicht schlüssig, doch dann ließ er Boris Jefimow beim Armeegefechtsstand zurück und machte mit ihm aus, ihn auf dem Rückweg von Polossuchins Division wieder mitzunehmen. Jefimow war darüber sehr verärgert. Der Karte nach waren es bis zum Divisionsstab noch drei oder vier Kilometer. Die Straße war mehrmals verstopft – Autos und Fuhrwerke waren im Schnee steckengeblieben –, und je länger wir fuhren, desto schleppender kamen wir voran. Später, hinter einem niedergebrannten Dorf, lag freies Feld vor uns, an das sich Wald anschloß. Von dort her drangen in kurzen Abständen die Detonationen von Wurfgranaten herüber, und am Feldrand schossen bald da, bald dort die Rauchpilze der Einschläge in die Höhe. Wir fuhren an diesem Feld entlang und stießen schließlich unmittelbar an der Straße auf den Divisionsstab. In einem der Unterstände, die unmittelbar auf dem Feld ausgehoben oder in den Kellern von zerstörten oder niedergebrannten Häusern eingerichtet worden waren, trafen wir auf den Divisionskommissar Martynow.
Wie uns Goworow schon gesagt hatte, war der Divisionskommandeur, Oberst Polossuchin, nicht hier – er befand sich seit letzter Nacht in der B-Stelle, zwei Kilometer von hier entfernt, und bei Tage war kein Durchkommen dorthin. Die hinführende Straße wurde beiderseits von deutschen MPi-Schützen beschossen. Wie sich später herausstellte, hatte sich die Division beim Angriff wie eine spitze Zunge in die deutschen Stellungen hineingeschoben. Nicht nur vorn, sondern auch zu beiden Seiten der Straße lagen die Deutschen. Die Breite des von der Division gebahnten Korridors betrug wie des öfteren in letzter Zeit an der breitesten Stelle kaum mehr als einen Kilometer. Es war schwer auszumachen, woher die deutschen Granatwerfer feuerten, die Einschläge aber hörte man von allen Seiten. Man setzte uns nach der Fahrt einen Imbiß vor, den wir in aller Eile hinunterschlangen. Martynow und der Leiter der Politabteilung der Division, Jefimow, machten ein unmutiges Gesicht, weil sie uns nichts Richtiges geben konnten, ein in dieser Situation gewiß törichter, aber doch ehrlicher Kummer. Mischa Bernstein knipste, und ich machte mir nach den Ausführungen von Martynow und dem Leiter der Politabteilung Notizen für einen späteren Bericht. Wenig später entschloß sich Ortenberg, wenigstens ein Stückchen weiter vorzugehen und sich umzusehen. Er nahm Bernstein mit und war gleich darauf verschwunden. „Und du schreib nur, schreib“, sagte er im letzten Augenblick, in einem Ton, als wolle er sich bei mir
entschuldigen, weil er mich nicht mitnahm. „Das nächste Mal gehen wir beide.“ Ich machte weiter Notizen über die Kampfhandlungen der Division an den vorangegangenen Tagen. Auch Martynow ging hinaus, und ich blieb mit dem Leiter der Politabteilung allein. Die MPi-Feuerstöße von links und jetzt auch die hinter uns wurden immer heftiger. Ich hörte auf zu schreiben und ging gleichfalls nach oben. Jetzt kam das Schießen aus nächster Nähe, von der Straße her. Ich stand eine Weile oben und lauschte, dann ging ich zurück in den Unterstand. Gleich nach mir kam auch Martynow und erkundigte sich ärgerlich, ob wir alle eine Waffe hätten. Ich bejahte. Er sagte, es bestünde kein Anlaß zur Beunruhigung, aber links sei ein Bataillon der Deutschen bis an die Straße vorgedrungen. Die Deutschen würden natürlich zurückgeschlagen, doch sei es seine Pflicht, sich für alle Fälle zu erkundigen, ob wir bewaffnet seien. Ortenberg und Mischa waren immer noch nicht wieder da. Ich machte mir Sorgen um sie, machte mir Vorwürfe, weil ich nicht mitgegangen war. Gottlob kamen Ortenberg und Mischa endlich zurück. Sie hatten sich ordentlich im Schnee gewälzt und polterten in den Unterstand. Wie sich nun herausstellte, waren sie zur B-Stelle des Artillerieregiments gegangen; die B-Stelle lag im Hagel von Wurfgranaten, und sie hatten in Deckung gehen müssen. Wie gewöhnlich machte sich Ortenberg über Mischa lustig und sagte, er hätte nicht gewußt, wie flink er in den Schnee hechten könne. „Was habe ich davon, wenn ich stehenbleibe?“ parierte Mischa gelassen.
„Hast recht, aber du tauchst doch ein bißchen zu schnell unter. Was bist du eigentlich? Schwimmer? Oder Korrespondent der ,Krasnaja Swesda’? Das paßt mir gar nicht. Noch mal nehme ich dich nicht mit“, meinte Ortenberg lachend. Anderthalb Stunden später, es dämmerte, ließ das MPi-Feuer nach. Die MPi-Schützen wurden von der Straße zurückgedrängt, und wir brachen zum Rückweg auf. Nach dem üblichen Versprechen, wir würden ganz bestimmt noch einmal bei der Division vorbeischauen, verließen wir mit Martynow den Unterstand. Der Divisionskommissar hatte sich die ganze Zeit ernst und reserviert gegeben. Er hatte kaum einmal gelächelt, manchmal aber war er im Gespräch aufgebraust, und dieses Aufbrausen war meiner Meinung nach nichts anderes als der Ausdruck seiner inneren Erregung. Ich traf später noch mehrmals mit ihm zusammen, und diese Begegnungen bestätigten meinen ersten Eindruck von ihm als eines zu tiefen und starken Gefühlen fähigen Menschen. In völliger Dunkelheit fuhren wir zurück. Vorgezogene Truppenteile der Division kamen uns entgegen; die sollten den sich in diesem Abschnitt abzeichnenden Erfolg sicherlich ausbauen. Wer einmal im Winter über Frontstraßen gefahren ist, die zu beiden Seiten von Schneewehen umgeben sind und auf denen man nirgends wenden kann, wird sich mühelos vorstellen können, wie das Ausweichen einer entgegenkommenden Truppenkolonne auf so einer Straße aussieht. Für die vier Kilometer zu Goworows Gefechtsstand benötigten wir rund sechs Stunden: bald stießen wir
auf Autokolonnen, bald auf Fuhrwerke, bald auf weggerutschte LKWs, und beim Versuch, sie zu umfahren, gerieten wir selbst in Schneewehen und mußten unsere Autos herausholen. Wie immer in solchen Situationen, erwies sich Mischa Bernstein als unersetzlich. Bald ging er voraus, die Pelzmütze ins Genick geschoben, den Mantel offen, die „Leica“ an seinem dicken Bauch baumelnd, und wies uns den Weg, bald offenbarte er Bärenkräfte, wenn wir die Wagen wieder und wieder schieben mußten. Mit fremder Hilfe und auch mit eigener Kraft mußten wir unsere Wagen an die fünfzehnmal aus dem Schnee schieben, und ohne uns lange in Goworows Gefechtsstand aufzuhalten – Goworow selbst war weggefahren – ließen wir Boris Jefimow einsteigen und langten gegen Mitternacht beim Armeestab an, der weit hinter dem vorgeschobenen Gefechtsstand Goworows lag. Dort, in einem großen Dorf in der Nähe von Moshaisk, fanden wir verhältnismäßig schnell das Bauernhaus, in dem der Chef der Politabteilung der Armee, Brigadekommissar Abramow – der später fiel –, sein Quartier hatte, bei ihm trafen wir den Brigadekommissar S. und auch P. F. Judin an, der aus Moskau gekommen war, um in den Truppenteilen Vorlesungen zu halten. Sie alle waren den ganzen Tag bei den Truppen gewesen, hatten sich eben erst, bei Einbruch der Dunkelheit, hier zusammengefunden und tranken nun Tee. Die Hütte war groß, es war in ihr sauber und warm, und unwillkürlich fiel mir der Kontrast auf zwischen der geräumigen Unterkunft des Armeestabs und Goworows kleinem Unterstand
in dem zerstörten Dorf: Enge, ausgesprochene Gefechtsatmosphäre, Fernsprechapparate, die Karte, der Adjutant. S. war ein rundlicher Mann, er strotzte vor Gesundheit und trug drei Rotbannerorden an der Feldbluse. Mein erster Eindruck von ihm war, daß er sich im Unterschied zu dem zurückhaltenden, schweigsamen Chef der Politabteilung zuweilen gern aufspielte, und das besonders vor Künstlern. Die Armee, die direkt an der Moshaisker Chaussee lag, war mehr mit Besuchen von Schriftstellern, Schauspielern und allen möglichen Delegationen verwöhnt worden als andere, und S. hatte die Allüren eines ermatteten Gastgebers. Im Gespräch mit uns gab sich S. ausgesprochen frontmäßig, und bedeutete uns bei den verschiedensten Anlässen, daß er ein alter Krieger sei. Obwohl es gewöhnlich eher so ist, daß die Menschen etwas, was ihnen in Fleisch und Blut übergegangen ist, nur selten hervorheben. Ortenberg, der S. von früher kannte, ich glaube noch vom Finnischen Krieg her, konnte ihn offensichtlich nicht ausstehen. Jedenfalls gerieten sich die beiden im Nu über eine militärische Frage in die Haare, obwohl, wie das in solchen Fällen oft ist, die Schärfe des Streits durch Scherze überspielt wurde und alles auch mit einem Scherz endete. Wir saßen nicht lange zusammen, jeder trank ein Glas Tee, und das anfangs lebhafte Gespräch wurde unvermittelt schleppend. Alle waren müde vom Tag und wollten schlafen. Wir verabschiedeten uns, und um zwei in der Nacht traten wir die Rückfahrt nach Moskau an. Kurz vor unserer Abfahrt klopfte sich S.
ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlaß, auf seine drei Rotbannerorden und sagte zu Ortenberg: „Ich liebe nun mal das Einförmige.“ Ortenberg verzog das Gesicht, schwieg aber, als hätte er es nicht gehört. Wir fuhren durch das halbzerstörte Moshaisk und kamen noch weitere zehn Kilometer zügig voran. Dann aber blieben wir auf einer Umleitung in einer riesigen tiefen Pfütze stecken. Sie hatte sich während des kürzlichen Tauwetters gebildet und trug nur eine dünne Eisschicht. Eine Stunde lang stießen wir in dieser Pfütze vor und zurück, um uns herauszuarbeiten, und da ich den Wagen schob, wurde ich dabei naß bis zum Bauch. So sehr ich mich während der weiteren Fahrt auch bewegte, um mich aufzuwärmen, klapperten meine Zähne noch, als wir in Moskau ankamen. Nach den Aufzeichnungen in meinem Notizblock, die ich bei den Divisionen von Polossuchin und Orlow gemacht hatte, schrieb ich eine kurze Korrespondenz, die Ortenberg aber nicht veröffentlichte, und ehrlich gesagt, lohnte es sich wohl auch nicht, sie zu drucken. Es störte mich nicht so sehr, aber den Menschen gegenüber, die ich aufgesucht und nach diesem und jenem gefragt hatte, war es mir peinlich. An dieser Stelle möchte ich meine Ausführungen unterbrechen. Streng genommen wird das Wort „Operation“ in der Militärwissenschaft gewöhnlich für Handlungen von Fronten bzw. Armeen gebraucht. In meinen Aufzeichnungen aber kommt dieses Wort wahrscheinlich deshalb so oft vor, weil es in der
realen Wirklichkeit des ersten Kriegsjahres nicht nur in Armeestäben, sondern auch bei Divisionen und Regimentern üblich war. Viele Kommandeure machten auch dann gern davon Gebrauch, wenn es richtiger gewesen wäre, nicht von „Teiloperationen“, sondern von Gefechten örtlicher Bedeutung zu sprechen. So beschloß ich, jenes kleine Merkmal der Militärphraseologie jener Zeit zu bewahren, die auch in meinen Aufzeichnungen ihre Spuren hinterlassen hat. Beim Kramen in meinem Archiv stieß ich auf einen unvollendeten Artikel, der nicht einmal eine Überschrift trug und den ich, wohl im Zusammenhang mit dem dritten Jahrestag des Krieges, hatte schreiben wollen. Und obwohl dieser Artikel im Juni 1944 geschrieben war, stand sein Anfang im Zusammenhang mit unserer Winteroffensive vor Moskau. Deshalb möchte ich zwei Seiten dieses Manuskripts gerade hier und nicht an der Stelle bringen, wo von den Ereignissen des Jahres 1944 die Rede sein wird: „Zwei Wochen lang hatte ich das Glück und konnte die Kampfhandlungen unserer Truppen auf der Karelischen Landenge beobachten, die Durchbrechung der ersten, der zweiten und schließlich der dritten finnischen Verteidigungslinie, die Einnahme von Wyborg und den weiteren Vormarsch zur Staatsgrenze. Das militärische Fazit der Operationen zu ziehen ist natürlich Sache der höheren Führung, aber ich als Schriftsteller möchte doch gewisse psychologische Schlußfolgerungen anstellen über das, was ich sah. Meisterliches Können und Besonnenheit – das sind
die wichtigsten Wesenszüge, die heute und hier den Stil der Führung der militärischen Operationen auf allen Ebenen, vom Kompanieführer bis zum Befehlshaber eines großen Verbandes, auszeichnen. Stets wenn etwas Neues und Starkes beeindruckt und das Auge erfreut, erinnert man sich unwillkürlich der vorausgegangenen Etappen des Krieges, 2ieht man unwillkürlich in Gedanken einen Vergleich zwischen dem Stil des Handelns unserer Kommandeure damals und heute. In diesen Tagen ließ ich unsere Winteroffensive vor Moskau in den Jahren 1941/42 Monat für Monat vor meinen Augen abrollen. Grandios im Vorhaben und im Gesamtergebnis, ging sie nicht ohne Grund als Zerschlagung der Deutschen vor Moskau und als das Urbild aller seither von uns errungenen Siege in das Bewußtsein des Volkes ein. Dabei aber war sie unsere erste große Offensive, eine Schule zum Sammeln von Erfahrungen. Und beim Durchlaufen dieser harten Schule lernten wir auch aus unseren eigenen Fehlern. Denkt man zurück an einzelne Handlungen unserer Kommandeure in jener Zeit und vergleicht man sie mit dem heutigen Geschehen, wird sich auch ein militärischer Laie des Gefühls einer gewissen Bitternis nicht erwehren können. Ach, hätten wir doch nur damals schon alles gewußt, was wir heute wissen, hätten wir es nur damals schon verstanden, alles so zu tun, wie wir es heute machen! Es fällt einem die Funkscheu jener Zeit ein und das praktisch fast völlige Fehlen jeglicher Funkverbindung; man erinnert sich des endlosen Umherirrens auf den Straßen, immer auf der Suche nach Stäben,
von den größten bis hin zu den kleinsten; man gedenkt blutiger Frontalangriffe auf Ortschaften, die hätten umgangen werden können; man erinnert sich der starren Nahtlinien zwischen benachbarten Truppenteilen, des mangelnden Könnens zu manövrieren und des häufig allzu engstirnigen Auffassens der Aufgaben im Bereich des eigenen schmalen, exakt begrenzten Abschnitts ohne zwingende Notwendigkeit dazu, sondern eben wegen jenes Mangels an Wendigkeit, was zu all diesen Frontalangriffen führte. Ich erinnere mich zahlreicher Fälle, da Kommandeure ihren Stabsapparat nicht nutzten, was bei der Verfolgung des Gegners dazu führte, daß ein Stabschef mitunter tagelang keine Ahnung hatte, wo sein Kommandeur steckte. Man erinnert sich der, scheint’s, unerläßlichen und ständigen Fahrten der Kommandeure von Verbänden zu ihren Truppenteilen, was geradezu System geworden war und oft den Verlust der Führung zur Folge hatte. Beweggrund zu diesen Fahrten war natürlich das Verlangen, den Vollzug der gegebenen Befehle persönlich zu kontrollieren, doch wurde diese Vollzugskontrolle oftmals falsch aufgefaßt und allein als persönliche Aufgabe des Kommandeurs verstanden. Recht gut erinnere ich mich eines Falls, da ein Armeebefehlshaber so sehr danach trachtete, mit seiner kleinen operativen Gruppe ständig vorn zu sein, daß er sich zufrieden gab, wenn nur seine Aufklärung noch vor ihm lag. Darin wie in vielem anderen lag natürlich ein schöner und tapferer menschlicher Wesenszug, es sprachen daraus grenzenlose Tapfer-
keit und die Entschlossenheit, eine bestimmte Ortschaft um jeden Preis zum festgelegten Zeitpunkt zu nehmen, und wenn man sie zwanzigmal angreifen mußte. Aus alldem sprach der grandiose Elan einer Armee, die sich ihrer Kraft bewußt geworden war und erstmals zu einer großen Offensive überging. Unendlich viele Kommandeure aber besaßen damals offensichtlich noch nicht die Reife, die Erfahrung, den Überblick, die Besonnenheit und das Können, die Truppen zu führen, und deshalb standen oft, trotz des grenzenlosen Mutes der Männer, in Tausenden kleinen Teiloperationen die Verluste und die aufgewandten Anstrengungen in einem eklatanten Mißverhältnis zu den erreichten Ergebnissen. Grandios im ganzen und oftmals nur in Einzelheiten unvollkommen, so sieht man heute, nach drei Kriegsjahren, unsere erste große Offensive vor Moskau…“ So sah ich den Winter 1941/1942 aus der Sicht des Sommers 1944, den wir mit dem ungestümen Durchbruch der Mannerheim-Linie begannen. So sahen einige meiner „psychologischen Schlußfolgerungen“ aus, wie ich sie damals nannte. Ich kehrte am 4. Februar nach Moskau zurück und schloß um den 20. herum die „Russischen Menschen“ ab. Ich hatte gerade den Schlußpunkt unter die erste Rohfassung gesetzt, als mich Ortenberg an eben jenem Abend zu sich bat, um sich nach dem Stück zu erkundigen. Ich sagte, es sei bis zum letzten Punkt geschrieben, ich brauche nur noch die Feinbearbeitung zu machen. „Das ist gut“, sagte er. „Du fliegst morgen früh nach Kertsch.“ „Was ist denn dort los?“
„Mechlis ist dort. In den nächsten Tagen wird sich in der Gegend etwas tun, und deshalb ist Eile geboten.“ Ich erkundigte mich, ob ich allein fliegen solle oder mit noch jemandem. „Allein. Wir haben ohnehin schon drei Mann dort: Slessarew, Bejlinson und Tjomin.“ Am nächsten Tag flogen wir so gegen neun vom Zentralflughafen ab. Die „Douglas“ war eine Frachtmaschine, sie transportierte einige große Kisten mit Panzermotoren und etwa zehn kleinere mit Detonatoren. Die fünf oder sechs Fluggäste hatten es sich zwischen den Kisten bequem gemacht. Neben mir saß Brigadekommissar Jemeljanow, der dann Chef der Politverwaltung der Krimfront werden sollte. Jetzt flog er los, weil ihn Mechlis angefordert hatte. Es war kalt, und als die „Douglas“ in Stalingrad zwischenlandete, war ich durchgefroren. In Stalingrad dauerte das Auftanken eine Ewigkeit, dann forderten die Flieger mehrmals den Wetterbericht an… Schließlich mußten wir auf dem Flugplatz übernachten. Bis zur Stadt war es weit, Fahrzeuge gab es nicht, und so kam ich damals nicht nach Stalingrad hinein. Mein Nachbar im Nachtquartier war ein Oberst, der am nächsten Tag von Stalingrad nach Saratow fliegen sollte. Ein paar Tage zuvor hatte ich von Chmelew, der mit dem Moskauer Künstlertheater nach Saratow evakuiert worden war, einen Brief erhalten, in dem er mich bat, mich mit ihm in Verbindung zu setzen, denn er hätte erfahren, daß ich an einem Kriegsstück schriebe. In Moskau war ich nicht dazu gekommen,
den Brief zu beantworten, und so schrieb ich hier im Nachtquartier in Stalingrad die Antwort an Chmelew, und im Nachsatz bat ich, man möge dem Überbringer des Briefes unbedingt Einlaß zu einer Vorstellung verschaffen. Diesen Nachsatz ließ ich den Oberst lesen und war völlig sicher, daß der Brief nunmehr seinen Empfänger auch erreichen würde. Und so war es dann auch. Am nächsten Morgen flogen wir von Stalingrad weiter, und der Flugzeit nach näherten wir uns bereits Krasnodar, als aus der Pilotenkanzel plötzlich ein schrilles Alarmsignal ertönte. Unser Flugzeug hatte eigens eine Kanzel für den Bordschützen, die etwa in der Mitte des Rumpfoberteils eingebaut war. Der Bordschütze, der ein Schläfchen gemacht hatte, schwang sich schleunigst auf seinen Sitz und machte sich in der Kanzel am Zwillings-MG zu schaffen. Er drehte es hin und her, und dann gab er einen Feuerstoß nach dem anderen ab. Ich las gerade einen Roman, und als der Bordschütze auf seinen Sitz kletterte und das Feuer eröffnete, wurde mir doch etwas sonderbar zumute, ich hörte auf zu lesen, doch dann sagte ich mir, ich könnte ja doch nichts tun, riß mich zusammen und vertiefte mich wieder in das Buch, obwohl ich dabei die Feuerstöße mitzählte. Nach dem zehnten Feuerstoß schrie der Bordschütze: „Er hat abgedreht!“ Der Navigator kam aus seiner Kanzel, starrte, das Gesicht an das Fenster gepreßt, lange nach draußen und bekräftigte: „Er hat abgedreht.“ In großer Entfernung erkannte ich ein sich entfernendes winziges Flugzeug, anscheinend einen Jäger.
„Meiner Meinung nach ist das einer von uns“, sagte der Navigator. „Ich bin mir so gut wie sicher, daß das einer von uns ist. Das nächste Mal wird er wissen, was es heißt, einen von hinten anzufliegen. Wenn einer von hinten anfliegt, muß man ihm ein paar draufbrennen, und wenn’s hundertmal ein ,eigener’ ist, sonst beballert er einen irrtümlich und meldet noch, er hätte eine Junkers runtergeholt.“ Eine halbe Stunde später landeten wir ohne weitere Zwischenfälle in der Staniza Krymskaja. Ich hatte geglaubt, wir würden bis Kertsch weiterfliegen, aber wie sich nun zeigte, lautete der Flugauftrag der Flieger nur bis Krymskaja; die Maschine sollte ihre Fracht dort abliefern, und wir Passagiere konnten zusehen, wie wir weiterkamen! Auf dem Flugplatz von Krymskaja war von den Adressaten der Frachten nichts zu sehen, offenbar sollten diese doch in Kertsch übernommen werden, aber der Flugauftrag lautete eben nur bis Krymskaja, und da Befehl nun mal Befehl ist, weigerten sich die Flieger, weiterzufliegen, zumal über der Straße von Kertsch „Messerschmitts“ Sperre flogen. Trotz allen guten Zuredens flogen sie nicht weiter, und wir begaben uns zum Stab der Fliegerdivision, die noch hier in Krymskaja lag, aber anderntags auf die Halbinsel Kertsch verlegt werden sollte. An diesem Tag gelang es uns nicht mehr, nach Kertsch weiterzufliegen. So übernachteten wir in Krymskaja und flogen am nächsten Morgen mit einer TB-3 nach Kertsch. Man hatte uns gesagt, über Temrjuk erwarteten uns Jäger. Beim Anflug auf Temrjuk flogen wir drei
Schleifen über dem Flugplatz, und tatsächlich stiegen gleich darauf Jäger auf und gaben uns bis Kertsch das Geleit. Wir beschrieben einen Halbkreis über Kertsch und landeten auf dem Flugplatz unweit von jenem Panzergraben, in dem die Deutschen mehr als siebentausend Menschen ermordet und verscharrt hatten. Wir machten uns auf in die Stadt. Dort stellte sich heraus, daß die Politverwaltung der Krimfront noch am gleichen Abend in das Dorf Leninskoje, dem neuen Standort des Stabes, verlegt werden sollte. In der bis zur Abfahrt verbleibenden Zeit ging ich zur Frontzeitung, wo ich den Redakteur antraf, Regimentskommissar Beresin, bei dem ich früher einmal, 1939 in Tschita, eine Nacht auf dem Diwan in der Redaktion verbracht hatte, bevor ich zum Chalchyn gol weitergeflogen war. In der Politverwaltung herrschte die vor einer Verlegung übliche Hektik, und wir fuhren los, als es Nacht wurde. Die Nacht war dunkel, und es nieselte. Wie es meine Gewohnheit war, schlief ich die ganze Fahrt über und wunderte mich dann, daß wir schon angelangt waren. Nachdem wir längere Zeit durch die schmutzigen Dorfstraßen geirrt waren, fanden wir schließlich doch die Hütte zum Übernachten, und legten uns schlafen – Jemeljanow und der mit ihm gekommene Brigadekommissar Wesselow. Nach dem Aufwachen erfuhr ich, daß die Offensive bereits um fünf oder sechs Uhr morgens begonnen hatte. Das Wetter war abscheulich – es nieselte nicht mehr wie am Vortage, sondern es goß in Strömen.
Durch die Dorf Straßen mußte man schleichen wie eine Fliege über den Honig, nur mit Mühe konnte man die Füße aus dem Schlamm ziehen. Die Wolken hingen dicht über der Erde. In der Politverwaltung herrschte das bei personellen Veränderungen übliche Durcheinander; Jemeljanow war soeben zum Chef der Politverwaltung ernannt worden, der bisherige aber war auch noch da und machte sich hier immer noch zu schaffen. Manche Mitarbeiter waren gegen andere ausgetauscht worden, den einen hatte man eingesetzt, einen zweiten versetzt, einen dritten in der Dienststellung herabgesetzt. Den ganzen Tag bemühte ich mich vergeblich um einen Wagen. Den Stab der 51. Armee konnte ich nur so erreichen, denn dort sollten sich nach Meinung von Männern, die etwas davon verstanden, die interessantesten Ereignisse abspielen. Ich verspürte kein Verlangen, den Oberbefehlshaber der Front, General Koslow, mit meiner Bitte zu belästigen, seitdem ich ihn im Januar während der Operation von Feodossija kennengelernt hatte, zu Mechlis aber ließ mich dessen Begleitoffizier nicht vor, der selbst im Rang eines Brigadekommissars stand. Ich konnte keinen Wagen ergattern, der mich hätte zum Stab der 51. mitnehmen können, und so hockte ich den ganzen Tag in Leninskoje herum. Schließlich machte ich mich in der Nacht, als ich schon jede Hoffnung aufgegeben hatte, einen Wagen zu erwischen, doch noch einmal auf den Weg zu Mechlis. Aber ich geriet in das typische Aufbruchsdurcheinander: Mechlis fuhr selbst zur 51. Armee. In
seinem Vorzimmer warteten mir unbekannte Generale auf ihn. Einer von Mechlis’ Ordonnanzoffizieren, Amelin, sagte mir, ich sei zu einer ungünstigen Zeit gekommen, Mechlis habe viel um die Ohren, er könne mich nicht empfangen, und einen Wagen bekäme ich sowieso nicht. Als Antwort auf meine Bitte, mich doch in einem der Wagen zur Armee mitzunehmen, sagte er, alle wären voll besetzt. Immer wieder im Schlamm versinkend, ging ich zur Hütte, in der wir übernachtet hatten. Es goß immer noch wie aus Kannen. Und im stillen dachte ich, daß man bei diesem Regen mit einem Wagen morgen gar nicht mehr durchkommen würde. Jemeljanow, der auch zum Übernachten zurückkam, war der gleichen Meinung und riet mir, auf einen Wagen zu pfeifen und zur Armee zu reiten. Diese Aussicht begeisterte mich nicht sonderlich. In meiner Kindheit hatte man mich Bürschlein in der Garnison zwar hin und wieder für ein paar Minuten auf ein Pferd gesetzt, aber ansonsten war ich mein Lebtag noch nie richtig geritten. Doch die Hauptsache war, ich erreichte die Armee. Und wenn hoch zu Roß, dann eben hoch zu Roß. Jemeljanow, der inzwischen seine Funktion als Chef der Politverwaltung übernommen hatte, gab einen Befehl, und am nächsten Morgen ritt vor unserer Hütte ein Pferdehalter mit zwei Pferden vor. Der Pferdehalter war ein pockennarbiger, rothaariger älterer Soldat namens Kutscherenko. Bis zum Stab der 51. Armee hatten wir fünfunddreißig bis vierzig Kilometer im Sattel vor uns. Irgendwo auf halbem Wege, bei einer Eisenbahnstation, sollten wir in einer
Meldestelle anhalten, die Pferde wechseln und diese hier zurückschicken. Mit Hilfe des Pferdehalters kletterte ich auf das Pferd, und kaum waren wir über den Dorfrand hinaus, als mir klar wurde, daß ich für die nächste Zeit sicherlich Kavallerist werden mußte. Über der Straße lag das Dröhnen steckengebliebener Autos. Manche saßen im Schlamm fest und kamen weder vorwärts noch rückwärts, andere krochen so langsam durch den Schlamm, daß wir sie auf unseren Mähren überholten. Mein Pferd sah ungefähr so aus wie das, auf dem d’Artagnan in Paris Einzug gehalten hatte – es war von unbestimmter Farbe und ebenso unbestimmten Alters. Übrigens erwies es sich als günstig, daß es nicht mehr in der ersten Jugendblüte stand. Ohne jede Eigeninitiative trottete es hinter dem Pferd des Pferdehalters her, und das war für mich genau das Richtige. Wir kamen nur langsam voran. Die Hufe versanken im Schlamm. Endlich erreichten wir nach vier Stunden, in denen wir nach meinen Berechnungen rund zwanzig Kilometer zurückgelegt hatten, die Station zum Pferdewechseln. Die Station war von Menschen und beladenen Fuhrwerken verstopft. Alles versank im Schlamm. Rings um die Bahnhofsgebäude und zwischen den Gleisen Trichter über Trichter. Fast alle Gebäude hatten etwas abbekommen. Überall lagen die Überreste von deutschen Ausrüstungsstücken verstreut, Munitionskisten, schlammbedeckte Granaten lagen herum, die von den Deutschen und den Rumänen schon im Januar bei ihrem Rückzug aus Kertsch zurückgelassen worden waren. Auf dem Gleis stand ein langer Transportzug, der aus offenen
Flachwagen bestand. Auf den Plattformen drängten sich Infanteristen mit Maschinengewehren. Auf einige Wagen hatte man leichte Geschütze hinaufgewuchtet. Es lag auf der Hand, daß, sollte dieses Wetter noch tagelang anhalten, die Eisenbahn in dieser Zeit das einzige reale Transportmittel sein würde. Zwischen drei durch Granaten zerstörten Gebäuden stand ein völlig unversehrtes Haus, und in ihm war die Meldestelle untergebracht, die wir suchten. Wir hatten es eilig. Der Pferdehalter machte sich auf, um festzustellen, ob man hier unsere Pferde wechseln würde. Aber er wurde abgewiesen und kam unverrichteterdinge zurück. Da ging ich hin. Ich trug eine Wattejacke und war von oben bis unten mit Schmutz bedeckt. Als der Kommandant der Meldestelle, ein geschniegelter Unterleutnant, meinen schäbigen Aufzug sah, weigerte er sich zuerst, uns Pferde zu geben, doch als ich rabiat wurde und sagte, schließlich sei ich der Ranghöhere, käme aus Moskau usw. usw…. ließ er mir sein eigenes Pferd ab, das dermaßen tänzelte, daß der Pferdehalter es nur mit Mühe halten konnte. Ich weiß nicht, warum er mir ausgerechnet dieses Pferd gab. Am ehesten wohl aus Rache, damit mir die Lust verging, mich so aufzuspielen. Jedenfalls drängten sich der Leutnant und seine Leute, die wohl gesehen hatten, wie ich angeritten kam, und sich ein Urteil über meine Reitkünste gebildet hatten, vor dem Haus und sahen mit unverhohlenem Interesse dem Augenblick entgegen, da ich mich auf das Pferd des Leutnants schwingen würde.
Für ein Zurück war es zu spät. Auf dem Wege hierher war ich inzwischen dreimal abgestiegen und wieder aufgesessen, und auch jetzt schwang ich mich, nachdem ich den Fuß in den Steigbügel geschoben hatte, zu meiner großen Freude recht elegant, wie mir schien, in den Sattel. Damit war ich aber auch schon mit meiner Kunst am Ende. Kaum saß ich im Sattel, jagte das Pferd, ohne mich auch nur im geringsten zu beachten, mit mir über die Straße, dann den Eisenbahndamm hinauf und in vollem Galopp über die Schwellen, dabei die Menschen, die nicht schnell genug beiseite sprangen, mit der Brust wegdrängend. Es jagte über die Schwellen, und ich hatte nur den einen Gedanken: Bloß nicht runterfallen! Als es mir schließlich vor Hilflosigkeit und Wut schier die Kehle zuschnürte, faßte ich die Zügel ganz kurz und riß sie so nach hinten, daß das Pferd den Kopf zurückwarf und stehenblieb. Ich wollte nichts mehr riskieren und hatte es eilig, herunterzukommen, doch da passierte das Beschämendste: Nachdem ich einen ganzen Kilometer galoppiert war, ohne herunterzufallen, verhedderte ich mich jetzt, da ich schon halb unten war und mit einem Bein auf der Erde stand, mit dem anderen Fuß im Steigbügel und landete der Länge nach im Schlamm, wobei ich glücklicherweise die Zügel nicht fahren ließ. Kaum war ich wieder auf den Füßen, ich war noch gar nicht dazu gekommen, mich zu säubern, holte mich der Pferdehalter ein, und da entschloß ich mich, vernünftigerweise das Pferd mit ihm zu tauschen,
bevor es zu spät war. Und so zuckelte ich die ganze restliche Strecke hinter ihm her auf einem ebenso friedlichen, nicht mehr jungen Pferdchen wie dem, auf dem ich anfangs geritten war. Gegen fünf Uhr nachmittags erreichte ich hundemüde von dem ungewohnten Ritt und steif von Wind und Regen endlich doch das Dorf, in dem der Stab der 51. Armee lag. Anhand der Karte stellten wir fest, daß wir sechsunddreißig Kilometer geritten waren. Der Stab aber war nicht mehr hier, es war nur eine Kurierstelle zurückgeblieben, wo man mir nach Vorlage meiner Papiere mitteilte, der Stab sei näher an die Frontlinie verlegt worden, etwa acht Kilometer von hier entfernt. Also wieder aufs Pferd, und nach weiteren anderthalb Stunden gelangten wir, es war schon dunkel, schließlich in ein kleines, durch Artilleriefeuer halbzerstörtes Dorf. Die Dorfstraßen versanken im Schlamm, und es goß immer noch in Strömen. Spreizbeinig, auf unsicheren Füßen wankte ich ins nächste Haus, wo ich die Bestätigung erhielt, daß diesmal alles geklappt hatte: Wir waren wirklich beim Stab der 51. angelangt. Und ich erfuhr hier sogar etwas Erfreuliches, nämlich daß der Sekretär des Kriegsrates der 51. nach wie vor Wassili Wassiljewitsch Rostschin war, mit dem ich mich im August 1941 auf der Krim angefreundet hatte. Man hatte mich gleich aufmerksam gemacht, daß ich den Pferdehalter und die Pferde nicht behalten durfte, und so mußte ich mich von Kutscherenko verabschieden. Wir hatten uns unterwegs viel miteinander unterhalten. Er war ein nicht mehr junger, ruhiger, lieber und
guter Mensch; mit der Armee war er aus seinem Heimatdorf an den Don zurückgegangen, wo er Frau und Tochter – eine Schönheit, wie er versicherte – zurückgelassen hatte. Wir hatten unsere Verpflegung miteinander geteilt und aus meiner Taschenflasche Wodka getrunken. Als ich im Scherz sagte, nach dem Krieg käme ich und hielte um seine Tochter an, lachte er. So fiel es mir doch recht schwer, mich von ihm zu trennen. Übrigens ist mir später so manches Gespräch, das ich mit Kutscherenko geführt habe, wieder eingefallen, und einiges daraus habe ich in einer Erzählung, die ich nach der Rückkehr von der Krim für die „Krasnaja Swesda“ schrieb, verarbeitet. Die Erzählung war an sich nicht sehr gelungen. Die Zeitung brachte sie dann doch mit einigen Kürzungen, wodurch sie noch schlechter wurde. Nachdem ich mich von dem Pferdehalter verabschiedet hatte, machte ich Rostschin ausfindig. In den sechs Monaten, die ich ihn nicht gesehen hatte, waren seine Schläfen ergraut. Er bewohnte ein Zimmerchen mit Küche in einer Hütte, die an das Haus angebaut war, in dem der Armeebefehlshaber Quartier genommen hatte. Ohne lange herumzufragen, tat er, was in solchen Fällen das wichtigste war: Er setzte mir Wodka zum Aufwärmen vor, gab mir zu essen und wies mir ein freies Bett an. Das getan, ging er seinen Geschäften nach, ich aber konnte, obwohl ich todmüde war, lange nicht einschlafen, so sehr taten mir nach dem ungewohnten Ritt sämtliche Knochen weh. Als Rostschin in der Nacht zurückkam, setzte er sich zu mir aufs Bett. Die 51. Armee hatte nun schon die zweite Woche ein neues Mitglied des Kriegsrates, das
Andrej Semjonowitsch Nikolajew abgelöst hatte. Davon hatte ich bereits im Frontstab gehört, doch auf meine Frage, was mit Nikolajew sei, hatte ich keine klare Antwort erhalten. Die einen sagten, er sei abgesetzt, andere meinten, er sei nicht abgesetzt, sondern versetzt worden. „Man hat ihn nicht versetzt, sondern abgesetzt“, sagte Rostschin. Und in seiner ruhigen, spöttischen Art berichtete er mir von allem, was sich nach meiner Abreise Ende September 1941 auf der Krim zugetragen hatte. Er sprach auch von Nikolajew, ohne sein Bedauern zu verhehlen. Er erzählte, was für ein feiner Kerl Nikolajew war und wie sie sich im Oktober und November 1941 von der Halbinsel Kertsch zurückgezogen hatten, wie sie in den Stellungen bei Akmonai und später vor Kertsch kämpften. Er selbst war fast die ganze Zeit mit Nikolajew zusammen und dieser sei in den letzten Tagen der Kämpfe vor Kertsch nicht mehr nur unvorstellbar tapfer gewesen – das war man an ihm gewohnt –, sondern er, Rostschin, glaubte beobachtet zu haben, daß Nikolajew den Tod zu suchen schien, ohne ihn zu finden. Das was Rostschin sagte, schien mir der Wahrheit sehr nahe zu kommen. Es konnte nicht nur eine tragische Pose gewesen sein, Nikolajew war niemals auch nur im geringsten ein Mensch der Pose gewesen; doch ich erinnerte mich jetzt meines Gesprächs mit ihm auf der Krim, noch vor Beginn der Kämpfe, als er von sich aus und in schlichten Worten einen Satz sagte, der sich mir eingeprägt hatte: Die 51. Armee werde die Deutschen nicht auf die Krim las-
sen, er hafte dafür mit seinem Leben und sei verpflichtet, sie nicht reinzulassen oder aber zu sterben. Und nach diesen seinen eigenen vor Beginn der Kämpfe geäußerten Worten mußte er in den letzten Tagen auf der Krim, auf dem letzten Fußbreit Krimboden auch gelebt haben. „Doch er war nicht damals abgesetzt worden, sondern jetzt, im Februar, nachdem die 51. Armee bei Kertsch gelandet war und die Stadt befreit hatte. Rostschins Meinung nach war diese Absetzung ungerecht, und er sagte, Nikolajew habe nicht so darunter gelitten, weil er selbst betroffen war, mehr wegen der enttäuschten Hoffnungen, wegen der allgemeinen Lage, die besonders schwierig geworden war, nachdem sich der Nachbar, die 44. Armee, die durch einen Bombenangriff auf einen Schlag ihren ganzen Kriegsrat verloren hatte, nicht mehr in Feodossija halten konnte. Nach Rostschins Meinung hatte sich die 51. Armee gerade in dieser kritischen Lage ausgezeichnet geschlagen und die Landenge gehalten. Was die gegenwärtige Offensive anbelangte, enthielt sich Rostschin direkter Wertungen, doch aus seinem bekümmerten Lächeln schloß ich, daß die nun schon den zweiten Tag andauernde Offensive nicht recht vom Fleck kam und dabei das überraschend hereingebrochene Hundewetter eine erhebliche Rolle spielte, bei dem alles, auch die Panzer, steckenblieb. Im Morgengrauen ging ich zum Befehlshaber der 51. Armee, General Lwow. Lwow war ein stämmiger, gutaussehender Mann in den Fünfzigern mit ergrauenden Schläfen und vollem grauem Schnurrbart. In hohen, über die Knie rei-
chenden schmutzigen Reitstiefeln mit Sporen daran saß er auf einer Bank am Tisch und schlug sich mit einer Reitgerte gegen die Stiefelschäfte. Auf den ersten Blick machte er auf mich den Eindruck eines mürrischen, nicht sehr gesprächigen Menschen. Sicherlich war es etwas voreilig von mir, den ersten Eindruck auf den Charakter dieses Mannes schlechthin zu übertragen. Die Tage waren außerordentlich schwer, die Kampfhandlungen führten zu keinem Erfolg, und vielleicht war eben damit Lwows Verdrießlichkeit zu erklären. Ich bat den General um den Rat, welche Truppenteile seiner Armee ich aufsuchen solle. Nach kurzem Schweigen stellte er eine Gegenfrage: „Reiten Sie?“ Zögernd bejahte ich. „Na bestens, ich werde heute alle Truppen abreiten“, sagte Lwow. Was blieb mir anderes übrig? Ich antwortete, es sei mir eine Freude, ihn begleiten zu dürfen. Er murmelte etwas in seinen Bart, rief den Adjutanten herbei und befahl ihm, für mich ein möglichst gutes Pferd und einen Pferdehalter bereitzustellen. Die Worte „ein möglichst gutes Pferd“ jagten mir einen Schrecken ein, besorgt mußte ich an das Pferd des Leutnants denken, doch da ich dem General nun mal gesagt hatte, ich könne reiten, mußte ich in den sauren Apfel beißen. Ich ging bei Rostschin vorbei und teilte ihm mit, daß ich mit Lwow ausreiten werde. Als Rostschin das Wörtchen „ausreiten“ vernahm, lächelte er spöttisch. Sein Lächeln verhieß nichts Gutes. An der Treppe standen Pferde und Pferdehalter schon bereit, und in einer zehn Mann starken Kavalkade ritten wir los. Lwow, sein Adjutant, ihr Pferdehalter, ich und mein Pferdehalter,
der Chef des Pionierdienstes der Armee und noch ein paar Kommandeure. Schon nach einer Viertelstunde begriff ich, daß es eine Sache ist, auf einem ruhigen Pferd gemächlich hinter einem Pferdehalter herzutrotten, und eine ganz andere, mit Lwow zu reiten. Der General ritt in gleichmäßigem scharfem Trab und trieb von Zeit zu Zeit das Pferd leicht mit der Peitsche an. Obwohl der Weg schauderhaft und der Schlamm stellenweise fast einen halben Meter hoch war, wechselte Lwow nur selten aus dem Trab in den Schritt. Ich kann mich nicht mehr genau an alle Einzelheiten dieses Tages erinnern, aber ich weiß noch recht gut, daß sich Lwow unterwegs nicht ein einziges Mal umsah, ob die Männer hinter ihm auch mitkamen. Auf Lwows Befehl hatte ich ein gutes Pferd bekommen, und so hatte ich keine Schwierigkeiten. Nach etwa zehn Kilometern fiel bereits ein Teil der Mitreitenden zurück. Unsere Gruppe, die Pferdehalter nicht mitgerechnet, war nur mehr vier Mann stark: Lwow, sein Adjutant, der Chef des Pionierdienstes und ich armer Sünder. Wir überquerten die Eisenbahnstrecke, passierten die Linie unserer Stacheldrahtverhaue und die Hauptkampflinie, von wo die Offensive ausgegangen war, und dann bot sich uns das Bild all dessen, was in den letzten beiden Tagen hier geschehen war. Eine schmale verschlammte Straße wand sich durch die Felder, die sich rein äußerlich kaum von ihr unterschieden: der gleiche Schlamm, allerdings ohne Fußspuren. Auf der Straße, auf den Umleitungen, in den Schluchten und Senken – überall steckengebliebene Autos. Sie dröhnten und
keuchten, die Motoren jaulten, aber weder menschliche noch übermenschliche Anstrengungen noch Flüche brachten sie von der Stelle. Unter dem unaufhörlichen Regen, der nun schon den dritten Tag anhielt, verwandelte sich der strukturlose Salzboden in einen Brei. Alles ringsum schwamm buchstäblich in diesem Brei. Sogar die Traktoren krochen, sofern sie fuhren und nicht steckengeblieben waren, mit einer Geschwindigkeit von einem halben Kilometer in der Stunde dahin und boten mit ihrem Jaulen und den durchdrehenden Ketten wohl einen noch hoffnungsloseren Anblick als die stehenden Fahrzeuge. Das Niemandsland war schnell durchquert. Dann überquerten wir auf einer rasch zusammengezimmerten wackligen Brücke einen Panzergraben und passierten die erste Linie der rumänischen Stacheldrahtverhaue und Gräben. Hier bot sich mir ein unvergeßliches Bild. Links und rechts der Straße, soweit das Auge reichte, dehnte sich ein riesiges, morastiges Feld, zertrampelt, als wäre eine riesige Viehherde darüber getrieben worden. Und auf diesem Schlammfeld, aus dem hier und da die vergilbten Halme vorjährigen Grases aufragten und das mit unzähligen flachen Minentrichtern wie besät war, lagen Tote. Selten habe ich im Krieg so viele Tote auf einer so großen und überschaubaren Fläche liegen sehen. Das waren rumänische Minenfelder, die zwischen der ersten und der zweiten Verteidigungslinie der Rumänen lagen, mit einer Ausdehnung von etwa einem Kilometer. Zahllose Tote lagen verstreut – Rumänen und auch unsere Leute. Zuerst waren die Rumänen, als sie aus ihrer ersten
Verteidigungslinie flohen, in ihre eigenen Minenfelder geraten. Und dann hatte offenbar auch Unsere, die den über diese Felder zurückweichenden Rumänen auf den Fersen waren, das gleiche Schicksal ereilt. Die Toten lagen meist auf dem Bauch, so wie sie im Laufen hingestürzt waren – das Gesicht auf der Erde, die Arme vorgestreckt. Manche hockten in den seltsamsten Haltungen da. Einige hielten noch das Gewehr in den Händen, andere hatten es neben sich liegen. Die sonderbaren, ungewöhnlich hohen schwarzen Lammfellmützen der Rumänen, die gewiß nicht sehr fest auf dem Kopf saßen, lagen neben oder vor ihnen im Schlamm. Anhand dieses Anblicks machte ich mir ein Bild davon, was sich hier abgespielt hatte. Als wir in die erste Stellungslinie der Rumänen einbrachen, vielleicht sogar schon früher, als wir sie mit Artilleriefeuer eindeckten, flüchteten sie Hals über Kopf. Wahrscheinlich hatten sie darüber vergessen, daß hinter ihnen, zwischen ihrer ersten und zweiten Stellung, ihre eigenen Minenfelder lagen, daß es nur wenige schmale Gänge durch diese Minenfelder gab, und waren in heller Flucht über diese Minenfelder gerannt, in denen nicht nur eine Panzermine neben der anderen lag, sondern auch noch Infanterieminen ausgelegt waren. Sie rannten so dicht bei dicht, daß auf jeden, der auf eine Mine trat und in Stücke gerissen wurde, noch ein paar durch die Splitter getroffene Soldaten kamen. Und jetzt erinnerten diese Toten an Menschen, die sich hingelegt hatten, um zu verschnaufen, oder gestolpert und hingeschlagen waren. Nach einer Zeitspanne, die offenbar nicht lang genug
gewesen war, um die über die Rumänen hereingebrochene Katastrophe zu erkennen, waren dann die Unseren, nachdem sie in die erste Grabenlinie eingedrungen waren, in ihrem Eifer, die Rumänen zu verfolgen, ins gleiche Minenfeld geraten. Der Anblick war so bedrückend, daß Lwow, der schon in der alten Armee als Stabshauptmann gedient hatte, ein Mann also, für den nach drei Kriegen das Bild des Todes nichts Neues war, heillos fluchte. Zum erstenmal während dieses Rittes hielt er sein Pferd an, winkte den Chef des Pionierdienstes heran und putzte ihn wegen der miserablen Erkundung der gegnerischen Minenfelder gehörig herunter. Drei Kilometer weiter preschte der Chef des Pionierdienstes, ob nun durch den vorangegangenen Anpfiff aufgeschreckt oder ob ihm tatsächlich Angaben über die rumänischen Minenfelder eingefallen waren, zu Lwow heran, der gerade abbiegen wollte. Lwow wollte den Weg abkürzen und querfeldein reiten. Der Chef des Pionierdienstes wollte ihm das Weiterreiten verwehren, wobei er erklärte, daß seinen Informationen zufolge eben dieses zwei Kilometer lange Feld von den Rumänen vermint worden sei. Lwow musterte ihn spöttisch und sagte: „Ihre Informationen taugen einen Dreck, auf die gebe ich nichts mehr.“ „Hier stimmen sie wirklich, Genosse Generalleutnant“, sagte der Oberst. „Die Stelle hier ist wirklich vermint, das weiß ich genau.“ „Nichts wissen Sie genau“, sagte Lwow mit grimmigem Spott. „Wir werden gleich die Genauigkeit Ihrer Informationen überprüfen.“ Und er trieb sein
Pferd geradenwegs auf das angebliche Minenfeld. Dem Oberst, dem Adjutanten, den Pferdehaltern und mir blieb nichts weiter übrig, als dem Befehlshaber zu folgen. Die Hufe der Pferde versanken im Morast, und wir brauchten für den Ritt über dieses Feld eine volle halbe Stunde. Endlich hatten wir die Abkürzung hinter uns gebracht und eine andere, querlaufende Straße erreicht, und da hielt Lwow sein Pferd zum zweitenmal an und wandte sich mit dem gleichen grimmigen Spott an den Chef der Pionierdienste: „Na, wo ist denn Ihr Minenfeld?“ „Wir sind durchgeritten“, behauptete der Oberst dickköpfig. Lwow musterte ihn schweigend, und ritt weiter. Nach einem weiteren Kilometer kamen wir an einer „Katjuscha“-Feuerstellung vorbei. Kaum hatten wir sie passiert, als einer der Kommandeure hinter uns herrannte und schrie, wir sollten zur Seite reiten, gleich würde eine Salve abgeschossen. „Habt ihr denn eine so flache Flugbahn, daß uns die Köpfe wegrasiert werden könnten?“ fragte Lwow. „Das nicht, aber angenehm ist’s auch nicht“, erwiderte der Kommandeur. „Im Krieg ist alles unangenehm“, meinte Lwow mürrisch und ritt weiter. Wir hatten gerade hundert Meter hinter uns gebracht, als hinter uns die Salve aufheulte. Der Eindruck war stark. Über unsere Köpfe sauste eine ganze Abteilung dieser Ungetüme hinweg. Die Pferde scheuten, und ich wäre um ein Haar im Schlamm gelandet. Zum einzigen Mal sah ich ein Lächeln in Lwows Gesicht. Er zügelte das Pferd und lächelte, als er zu den
„Katjuschas“ hinübersah und den Flug ihrer Geschosse verfolgte, und murmelte etwas vor sich hin, was sich anhörte wie „Tolle Sache, verflucht noch mal“. Das vermeinte ich jedenfalls von seinen Lippen ablesen zu können. Das Krachen und Jaulen war so laut, daß kein Wort zu verstehen war. Nach dem, was ich im Verlauf dieses Tages noch sah, zeichnete sich deutlich das Scheitern der Offensive ab, und Lwow schien sich darüber im klaren zu sein. Alles blieb im Schlamm stecken, die Panzer kamen nicht voran, die Geschütze waren irgendwo hinten steckengeblieben, genauso die Kraftfahrzeuge, und die Granaten mußten herangetragen werden. In der Hauptverteidigungslinie wimmelte es von Menschen. Weder früher noch später habe ich es erlebt, daß so viele Menschen nicht im Gefecht, nicht beim Angriff, sondern bei den sich ständig wiederholenden Artillerieüberfällen umkamen. Bestimmt alle zehn Meter war einer dieser Gefahr ausgesetzt. Die Männer kamen nicht vom Fleck und wußten sich keinen Rat. Weit und breit keine Schützengräben, keine Dekkungslöcher – nichts. Alles spielte sich auf dem nackten, morastigen, von allen Seiten her absolut offenen Feld ab. Die Toten versanken im Schlamm, und auf diesem Feld hier wirkte der Tod aus einem unerfindlichen Grund besonders schrecklich. Nicht sonderlich dicht, aber pausenlos und beharrlich beharkten die deutschen Geschütze das Gelände. Schließlich erklommen wir einen Hügel, auf dem sich die B-Stelle von Divisionskommandeur Wolkow befand. Der hochgewachsene Mann in der gutsitzenden
Uniform, über der er eine Wattejacke trug, beantwortete die Fragen des verärgerten Lwow mit der Würde und Gelassenheit eines Menschen, für den das Scheitern der Offensive feststand. Daß der Befehlshaber in Harnisch geriet, wunderte ihn nicht. Wolkows Gesichtsausdruck und seinem Tonfall waren zu entnehmen, daß sich dieser Mann in den letzten Tagen mit dem Gedanken abgefunden hatte, jeden Augenblick in den Tod zu gehen, und ihm jetzt, mitten in dem Geschehen, gleichgültig war, ob er einen Orden erhielt oder einen Rüffel. Die Truppen der Division gingen vor. Zur Rechten waren die Limane des Asowschen Meeres zu sehen. Vorn erkannte man eine schmale Wasserzunge – Liman oder Flüßchen. Die angreifenden Ketten durchwateten das Flüßchen oder den Liman, erklommen am jenseitigen Ufer einen langgestreckten Hügel, auf dessen Kuppe sich die Rumänen festgesetzt hatten. Von der B-Stelle aus war deutlich zu sehen, wie sich die Angreifer an einigen Stellen zusammendrängten, sich an anderen hingegen zu einer schütteren Schützenkette auseinanderzogen, wie sie an der einen Stelle langsamer, an der anderen rascher vorwärts kamen, man sah, wie ringsum Wurfgranaten detonierten und die Männer sich hinwarfen, aber gleich wieder aufsprangen und vorstürmten. Unsere Geschütze feuerten über uns hinweg. Die Deutschen und Rumänen beantworteten das Geschützfeuer. Und wenn auch dort vorn an manchen Stellen weiter gestürmt wurde, zeichnete sich doch ab, daß die Hoffnung auf einen Erfolg geschwunden war. Sogar aus den Befehlen und Zurechtweisungen war das he-
rauszuhören, die Lwow verteilte, so streng sie auch schienen. Von der rechten Flanke ritten wir zur linken. Unterwegs sahen wir wieder Panzer, die im Schlamm steckengeblieben waren oder mit einer Geschwindigkeit von nicht mehr als einem Kilometer in der Stunde vorrückten und in diesem weglosen Gelände beim besten Willen nicht der Infanterie folgen, ihr heute keine Unterstützung mehr leisten konnten, die jedoch befehlsgemäß weiter zu stürmen versuchte. Es war nicht nur ein regnerischer, sondern auch ein nebliger Tag. Die Nebelschwaden schienen hundert Meter über den Köpfen zu hängen. Auf dem Weg zur linken Flanke ritt Lwow auch noch bei zwei Brigaden vorbei, und ich hatte das Gefühl, daß ich bei den bedrückenden Gesprächen, die sich an diesem Tag überall wiederholten, nicht unbedingt dabeisein mußte. Gemeinsam mit den Pferdehaltern wartete ich im Freien auf Lwow. Es war kein Flugwetter, aber die Deutschen ließen sich an dem Tag vom Wetter nicht beeindrucken und flogen trotzdem. Zum ersten und bis dahin einzigen Mal im bisherigen Kriegsverlauf sah ich diesen ungewöhnlichen Luftangriff, der den üblichen Angriffen so gar nicht glich. Die Wolken und der Nebel hingen tief über der Erde. Es regnete unaufhörlich. Wie große Fische tauchten die deutschen „Junkers“ fast im Tiefflug aus dem Nebel auf, feuerten aus den MGs, verschwanden, nachdem sie sich kurz orientiert hatten, wieder .im Nebel, und warfen dann, unsichtbar geworden, ihre Bomben ab. Wahrscheinlich operierten sie deshalb so, weil sie, wenn sie aus dem Nebel herausstießen, viel zu tief
flogen und ein Bombenwurf aus dieser Höhe sie selbst gefährdet hätte. Ich und die Pferdehalter – und dabei sage ich durchaus die Wahrheit – wir fühlten uns nicht sehr wohl in unserer Haut. Wir hatten nur den einen Wunsch – es möge möglichst schnell dunkel werden. Die Hütte, in der ich die letzte Nacht verbracht hatte, dünkte mir ein ersehntes Heim. Die Pferdehalter und ich hatten es ein paarmal sehr eilig, uns hinzuwerfen, wenn in der Nähe eine Bombe einschlug. Der Selbsterhaltungstrieb ließ mich einen Platz zwischen zwei Pferden suchen. Kaum war ich abgesessen, versank ich auch schon knietief im Schlamm, und wollte ich den Stiefel wieder in den Steigbügel schieben, so mußte ich ein ganzes Pud Matsch mit den Fingern abstreifen. Es ging auf den Abend zu. Wir ritten zur linken Flanke der Armee, wo sich bei der Bahnlinie Kertsch-Wladislawowka die Nahtstelle zur benachbarten 44. Armee befand. Wladislawowka hätte laut Plan gleich am ersten Tag genommen werden sollen, doch es war auch jetzt, am dritten Tag, noch nicht in unserer Hand. Ein Panzerzug der Deutschen feuerte von dort in regelmäßigen Abständen seine schweren Granaten herüber. Als wir bei der Division an der linken Flanke anlangten, war es schon fast dunkel. Ihr Gefechtsstand und die Gefechtsstände der sie unterstützenden Artillerieregimenter – alles steckte buchstäblich bis zum Hals im Schlamm, in Gruben und Löchern, die hier und da auch mal mit Zeltbahnen überdeckt waren. Von Zeit zu Zeit krepierten bald hier, bald dort deutsche Granaten. Lwow sprach eine halbe Stunde mit dem Divisions-
kommandeur und den Kommandeuren der Artillerieregimenter. In einiger Entfernung ließen, obwohl es schon dunkel war, die „Junkers“ ihre Bomben weiterhin durch die Wolken fallen. Bei völliger Dunkelheit ritten wir zurück und schlugen den einzigen festen Weg ein, nämlich am Bahndamm entlang. Aber dort zu reiten, war schier unmöglich. Am Bahndamm waren eine Unmenge mit Mänteln und Zeltbahnen abgedeckte Gruben und Löcher ausgehoben, und in diesen Gruben und Löchern wärmten sich die Soldaten auf und ließen ihre Sachen trocknen. So erklommen wir den Bahndamm und ritten direkt auf den Schwellen. Später bogen wir von den Schienen auf eine Straße, besser gesagt auf etwas Ähnliches wie eine Straße ab. Auf dem Rückweg ritt Lwow, wo dies nur anging, im Trab. Wir hatten an diesem Tag wohl sechzig Kilometer zurückgelegt. Mein Pferd begann zu lahmen und blieb immer weiter zurück. Ich trieb es mit aller Kraft an, denn ich fürchtete, falls ich zurückblieb, die Nacht irgendwo hier in diesem Schlamm zubringen zu müssen, weil ich allein den Weg nicht finden würde. Als wir uns Akmonai näherten, war es schon Nacht. In den halbzerstörten Scheunen am Bahndamm flammte grelles Licht auf. Mit Autogenschweißgeräten wurden hier Einschüsse in Panzern zugeschweißt. Der Pferdehalter sagte, jetzt blieben uns noch etwa sechs Kilometer. Nach diesen letzten sechs Kilometern übergab ich in der Nähe des Stabes mein Pferd dem Pferdehalter und schleppte mich mühsam in Rostschins Hütte. Er re-
dete auf mich ein, ich solle etwas essen, aber obwohl ich seit früh nichts in den Magen bekommen hatte, brachte ich nicht einmal mehr die Kraft zum Essen auf. Vor dem Ofen zog ich mir die Stiefel von den Füßen, humpelte zum Bett, ließ mich der Länge nach darauf fallen und schlief gleich darauf wie ein Toter. Der nächste Tag war der übliche Stabstag eines Korrespondenten mit den routinemäßigen Besuchen bei der Abteilung Aufklärung und der Abteilung zur Arbeit unter den Truppen des Gegners, mit dem Lesen der Aufklärungsberichte, der Politmeldungen und der Protokolle von Kriegsgefangenenvernehmungen. Den Rest des Tages verbrachte ich nach den vorhergegangenen Ritten im Bett… Hier unterbreche ich meine Aufzeichnungen aus der Kriegszeit. Der Sekretär des Kriegsrates der 51. Krimarmee, Wassili Wassiljewitsch Rostschin, der mir damals in seiner Hütte Unterkunft gewährte, war, wie aus seiner Personalakte hervorgeht, zu Kriegsbeginn ein schwerkranker Mann und lebte seiner Tuberkulose wegen auf der Krim. Das hinderte ihn nicht daran, gleich in den ersten Kriegstagen zur Armee zu gehen und bis Kriegsende zu kämpfen. Er machte die beiden bitteren Krimepopöen mit, die im Jahr 1941 und auch die von 1942, dann kämpfte er vor Stalingrad, und das Kriegsende erlebte er in Deutschland als Chef einer Stabsabteilung. Immer bei der 51. Armee. Einige Worte über etwas, was ich damals nicht in meinem Tagebuch notiert habe. An jenem Tag war ich nicht nur zur Abteilung Aufklärung gegangen und hatte, vom Reiten wie zerschla-
gen, den Rest des Tages in Rostschins Hütte verbracht, sondern ich hatte auch ein Gedicht geschrieben, das ich einige Jahre später vollendete und das noch später, erst nach Kriegsende, gedruckt wurde. Heute kann ich nicht mehr sagen, welche Zeilen dieses Gedichtes ich damals zu Papier brachte und welche später, aber daß ich dieses Gedicht eben an diesem Tage begann, daran erinnere ich mich genau. Genauso, wie ich nie vergessen werde, wo mir dreißig Jahre später auf der zum 17. Breitengrad führenden zerbombten und von tropischen Regengüssen überschwemmten Straße die ersten Zeilen von „Es gibt kein fremdes Leid“ einfielen, meines Poems über Vietnam; als ich dieses Poem schrieb, mußte ich an unseren nun schon lange zurückliegenden Krieg denken. Das Gedicht, begonnen damals dort, auf der Halbinsel Kertsch, in Rostschins Hütte, ist auf seine Art auch ein Tagebuch: Ein gutes halbes Stündchen nun sind wir im Quartiere, im Warmen, und trocknen die Stiefel am Ofen hier, die naß sind zum Gotterbarmen. Auch ich trockne am Ofen. Wozu eigentlich? Heißt’s doch „Sitzt auf!“, wenn der Morgen graut, und wir alle werden, da im Felde kein Öfchen, doch wieder triefnaß sein bis auf die Haut. Nur Regen gibt’s dort, wie für ewig mit den Schweifen der Pferde verwoben,
und Granatengeheul, daß mit eins sind alle Gedanken zerstoben. Doch hier in der Hütte kann unsereins die Stiefel ziehn von den Füßen, die Glieder wärmen im raschelnden Stroh und endlich die Liebste grüßen. Zuerst dies: Der Angriff währt nun schon der Tage drei, wir kämpfen um eine Höhe, die zerwühlt ist von Eisen und Blei. Am ersten Tag hatten wir kein Glück: Es goß und goß wie aus Kannen, die Geschütze, die ihre Arbeit getan, schwiegen, und dann begannen die Infanteristen vorzugehn, doch schon nach einer knappen Stund sank auch der letzte Panzer noch bis zum Turm auf der Sintflut Grund. Bei jedem Angriff ohne Fortune tritt ein jene schreckliche Wende, da er, obgleich gescheitert schon, die Truppen doch treibt bis zum Ende. Nein, noch ist nicht widerrufen vom Befehl nur das kleinste Stück, gleich einem gestrengen Pendel stößt er uns vor und zurück.
Das Unheil ist schon bekannt dem Stab, auch unserm finstren General, der schweigend treibt sein Pferd zum Trab, zum Ritt ins umkämpfte Tal. Wir waren zusammen geritten in die Gegend von Dshantar, als bläute der Tag hinterm Hügel und die Sonne im Aufgehen war. Auf der Ebene dort bei Akmonai, da tränkt’ ein Regenguß die Erde, daß troffen vor Nässe nicht nur wir, sondern auch die uns tragenden Pferde. Immer wieder das gleiche Bild auf allen drei Werst, die wir ritten, Schlamm und Schlamm und wieder Schlamm und aufheulende Motore inmitten. Trichter wie schwärende Wunden. Wasser und Schlamm, wo der Tod geharrt, zerfetzte Leitungskabel und Pferde, im Sprung erstarrt. Auf dem Minenfeld liegen Tote, so in den Morast gewühlt, als hätte Freund Hein mit ihnen frech Zahl oder Wappen gespielt. Die nahe der Straße liegen, ähneln Kindern so sehr,
fragend, dem Tode nicht trauend: „Was will denn eigentlich der?“ Als wär’n sie nicht hier gestorben, sondern in andrer Flur, und der Kutscher hätt sie verloren von der grausigen Leichenfuhr. Daneben tote Rumänen, die auf der Flucht die Granate traf, wie von hinten zu Boden gestoßen schlafen sie nun den letzten Schlaf. Leb wohl denn. Regen hängt wieder seit der Frühe grau über den Hügeln, und unterm Fenster die tänzelnden Pferde klirren schon mit den Bügeln. Gleich brechen wir auf. Die Burschen stehn an der Treppe bereit. Sie rauchen und fluchen aufs Wetter, als hätten wir noch viel Zeit… Doch zurück zu meinen Prosaaufzeichnungen. Spätabends lernte ich im Armeestab Nikolai Iwanowitsch kennen, und man riet mir, mich ihm anderntags, bei seinem Ritt zu den Truppenteilen anzuschließen. Er hatte ein unauffälliges Äußeres, schien so gehemmt, daß ihn die Anwesenheit Fremder verlegen machte, in diesem Fall die meine. Er sagte mir kurz, er wolle am nächsten Vormittag die Truppenteile abreiten, ich könne ja mitkommen. Ich stimmte
zu und dachte im stillen, daß mir das Schicksal offenbar beschieden hatte, Kavallerist zu bleiben. Im Morgengrauen ritten wir los auf zwei trübseligen Pferdchen. Nikolai Iwanowitschs Pferd war nicht besser als das meine, er selber saß trübselig darauf, und überhaupt war dieser ganze Morgen trübselig: der Himmel, die Erde und alles auf der Welt. Der vorgestrige Ausritt mit Lwow wiederholte sich fast in allen Einzelheiten. Zuerst ritten wir an den im Schlamm steckengebliebenen Autos vorbei, die es in den vergangenen vierundzwanzig Stunden noch tiefer ins Erdreich gezogen hatte, vorbei an den im Schlamm versunkenen Traktoren und Panzern, vorbei an dem Minenfeld mit den Toten… Dann ging es wie gehabt zur Division von Oberst Wolkow. Es regnete zwar noch, aber es war nicht mehr so neblig, und die Deutschen machten sich das bessere Wetter zunutze und bombardierten systematisch sämtliche Wege. Zunächst kamen wir recht gut davon, die Bomben fielen in einiger Entfernung von uns, mal rechts, mal links, doch dann gerieten wir an einer Wegegabelung in der Nähe eines im Schlamm festsitzenden Panzers in einen Bombenangriff. Eine Staffel „Junkers“ durchstieß die an diesem Tag erheblich höhere Wolkendecke und warf ihre Bomben im Umkreis dieser Gabelung ab. Nikolai Iwanowitsch war gottlob nicht abgesessen, denn wären wir abgesessen und hätten uns auf die Erde geworfen, so hätten wir, die durch das Dröhnen der Bombendetonationen außer Rand und Band geratenen Pferde kaum an den Zügeln halten können.
Die Pferde tänzelten und bäumten sich auf wie in der Zirkusarena; zwei- oder dreimal wäre ich beinahe aus dem Sattel geflogen. Schließlich gelang es mir, zu dem im Schlamm steckenden Panzer zu reiten, das Pferd dicht an ihn heranzudrängen und, mich mit einer Hand an der Kanone festhaltend, es auch dort zu halten. Der Panzer bot zumindest von einer Seite Deckung. Nach dem Bombenangriff ritten wir weiter. Wieder waren viele Opfer zu beklagen – Tote und Verwundete. Ein Soldat zog einem Toten die Stiefel ab. Nikolai Iwanowitsch, der erst vorbeigeritten war, wollte schon das Pferd wenden, doch dann winkte er ab und ritt weiter. Als wir eine halbe Stunde darauf bei Oberst Wolkow anlangten, nahm der Haltung an und meldete die Lage. Er tat das exakt nach Vorschrift. In Wolkows Augen aber las ich den unausgesprochenen, an Nikolai Iwanowitsch adressierten Vorwurf: „Was wollen Sie denn hier? Müssen Sie mir auch noch den Kopf heiß machen?…“ Nikolai Iwanowitsch aber tat alles, was er für nötig erachtete. Er ritt hinter Wolkow auf den Hügel, sah lange durchs Fernglas, und als man ihn, wie es in solchen Fällen üblich ist, darauf hinwies, man dürfe hier nicht lange herumstehen, und schon gar nicht hoch zu Roß – man könne anvisiert, beschossen und getötet werden –, antwortete er, das sei doch nicht so wichtig. Er war wohl gerade im Begriff gewesen, von dem Hügel herab zu reiten, als man ihn auf die Gefahr hinwies. Doch nun blieb er ganz unnötig noch eine Viertelstunde oben, unnötig deshalb, weil er alles Sehens-
werte in den ersten Minuten bereits gesehen hatte. Vom Hügel aus bot sich das gleiche Bild wie am Vortag. Es bestürzte mich durch seine Trostlosigkeit. Wieder sah man den in ein Flüßchen übergehenden Liman, wieder durchquerte die Infanterie, die bis dahin die ihr gestellte Aufgabe nicht erfüllt hatte und das heute nachzuholen versuchte, den Liman und stürmte die dahinter liegende Höhe. Nikolai Iwanowitsch beobachtete das Gefechtsfeld und stellte von Zeit zu Zeit Fragen. Der Divisionskommandeur beantwortete sie. Nachdem Nikolai Iwanowitsch Antwort auf alle seine Fragen erhalten hatte und er sich offenbar sagte, nun hätte er sich lange genug unter Todesgefahr dort aufgehalten, verabschiedete er sich von Wolkow und ritt weiter. Auf dem Weg zur nächsten Division verirrten wir uns, und statt im Dorf Tulumtschak, wohin wir eigentlich mußten, wären wir beinahe in dem vom Gegner besetzten Dorf Korpetsch gelandet. Wir merkten es aber noch rechtzeitig, machten noch rechtzeitig kehrt und hielten, um uns über die Richtung zu orientieren, eine ganze Weile auf einem Hügel und beobachteten, wie unsere heraufkriechenden Panzer immer wieder hoffnungslos im Schlamm versanken. Nach geraumer Zeit machten wir uns wieder auf den Weg. Unterwegs sahen wir, wie sich die Deutschen in Staffeln zum Bombenangriff formierten, diesmal aber lagen die Bombeneinschläge in einiger Entfernung. Endlich erreichten wir eine kleine Höhe, auf der sich ein Verbindungsgraben entlang zog. Der Graben
führte in einen Unterstand, wo der gesuchte Gefechtsstand der Division lag. Wir ließen die Pferde zurück, stiegen zu Fuß den Hang hinauf, folgten dann dem Verbindungsgraben weiter nach oben und betraten den Unterstand, in dem wir den Stabschef der Division antrafen (der Divisionskommandeur war vorn bei einem Regiment), und hielten uns völlig unplanmäßig zwei volle Stunden in diesem Unterstand auf, weil die Deutschen nach einer halben Stunde, als wir gerade aufbrechen wollten, eben diese Höhe unter starken Beschuß nahmen, vielleicht sogar von dem gleichen Panzerzug aus wie vorgestern. Der Unterstand erbebte unter den naheliegenden Einschlägen der schweren Granaten. Ständig waren wir eines Volltreffers gewärtig und unterhielten uns krampfhaft über alles mögliche, nur um uns unsere Angst nicht anmerken zu lassen. Zur Selbstkontrolle wirft man in solchen Fällen gewöhnlich einen Blick auf die anderen. Ich sah ein paarmal zu Nikolai Iwanowitsch hinüber. Ruhig und gelassen saß er auf der schmalen Bank in diesem feuchten Unterstand, als hätte er keine Angst, als spielten ihm die Nerven nicht mit, sondern als harre er einfach der Dinge. Der Beschuß hielt an. Man bot Nikolai Iwanowitsch einen Imbiß an, zu meinem Ärger aber lehnte er ab, denn ich war heißhungrig wie immer dann, wenn ich Angst habe oder mir nicht ganz wohl in meiner Haut ist. Nach etwa einer Stunde hörte der Beschuß auf. Der Stabschef hatte noch etwas mit Nikolai Iwanowitsch zu besprechen, und der bat mich, derweilen die Pferdehalter und die Pferde näher heranzuholen,
damit wir weiterreiten könnten. Gleich nach unserer Ankunft war noch ein Artillerieoberst, ein Georgier, in den Unterstand gekommen – ein hagerer, nicht mehr junger, erschöpfter Mann. Als wir im Unterstand auf das Ende des Beschusses warteten, berichtete er lebhaft von den Geschehnissen dieses Tages, und dies in allen Einzelheiten. Bietet das Gesamtbild des Geschehens keinen Grund zur Fröhlichkeit, erzählt der Mensch besonders gern von etwas Gutem und Gelungenem. Deshalb wohl war der georgische Oberst mehrmals auf die Heldentaten eines seiner Richtschützen zu sprechen gekommen und hatte eine seiner Batterien, die mit nur sechs Schüssen eine B-Stelle der deutschen Artillerie kurz und klein geschlagen hatte, sehr gelobt. Als er hörte, daß mich Nikolai Iwanowitsch zu den Pferden schickte, und er seinen Worten entnahm, wir wollten weiterreiten, bat ihn der Oberst, sich zu den Feuerstellungen entfernen zu dürfen. Wir verließen zusammen den Unterstand, ich ging nach rechts den Hang hinunter zu den Pferden, er aber bog nach links ab zum Verbindungsgraben. Zu den Pferden und zu den Pferdehaltern war es ein ganzes Stück. Nach kaum fünfzig Schritten setzte ein neuerlicher Artillerieüberfall ein, so daß ich in den Unterstand zurücklief. Gleich nach mir sprang einer der Stabskommandeure in den Unterstand und sagte, der Artillerieoberst, eben jener, von dem ich mich vor ein paar Minuten getrennt hatte, sei im Verbindungsgraben durch die Splitter einer der ersten Granaten in den Bauch getroffen und tödlich verwundet worden. „Wo ist er?“ erkundigte sich Nikolai Iwanowitsch.
„Man hat ihn schon weggeschafft.“ „Weggeschafft“, sagte Nikolai Iwanowitsch. „Ja…“ Und mehr sagte er nicht. Auch diesmal dauerte der Beschuß lange. Wieder bebte und schwankte der Unterstand, wieder, nun schon zum zweitenmal, wurde uns ein Imbiß angeboten. Und wieder verzichtete Nikolai Iwanowitsch. Endlich trat Ruhe ein. Wir schwangen uns auf die Pferde und ritten weiter. Ich weiß nicht, wieso, aber es war so: Wie tags zuvor sah ich auch heute viele Gefallene, aber diesmal jagte mir nicht der Anblick der in der Steppe liegenden Toten Entsetzen ein, sondern die so überraschende tödliche Verwundung des georgischen Obersten, mit dem ich mich zwei oder drei Minuten zuvor unterhalten und den es gleich darauf erwischt hatte; fast gleichzeitig hatte ich mit ihm den gleichen Unterstand verlassen – nur war ich nach rechts gegangen und er nach links… Zu der Schützenbrigade, die wir noch aufsuchen mußten, brauchten wir lange, der Ritt zog sich hin, wir kamen vom Weg ab, blieben im Schlamm stekken. Die Deutschen setzten den regelmäßigen Artilleriebeschuß fort. Die Granaten flogen über unsere Köpfe und krepierten irgendwo hinter uns. Ihr Orgeln war gräßlich, das Heulen ging durch Mark und Bein, und die Einschläge erinnerten an das ferne Schmatzen einer riesigen Bestie. Zweimal gerieten wir in einen Bombenangriff. Beide Male sprangen wir von den Pferden, und als wir wieder aufsaßen, waren wir naß bis auf die Haut und schmutzig von oben bis unten.
Nach langen Irrwegen fanden wir schließlich doch die B-Stelle der Schützenbrigade – einen tiefen Graben mit Schützenlöchern, in einen flachen Hügel hineingetrieben. Im Graben knöcheltiefer zäher Morast. Brigadekommandeur Petrunin: sein Stoppelbart war drei Tage alt, sein Stahlhelm auf dem Kopf eingebeult, die Wattejacke hatte er mit einem abgewetzten Koppel umgürtet, er war dreckbespritzt von oben bis unten und noch schweißnaß, weil er eben erst von dem Bataillon durch den Schlamm zurückgewatet war, das er zum Angriff geführt hatte. Der Angriff war erfolglos gewesen, erfolglos wie alles an diesem Tag. Petrunin machte auf mich den Eindruck eines guten Kommandeurs, der sich aber in einer unangenehmen Situation befindet. Er war sehr deprimiert, fluchte wild, ohne vor dem Vorgesetzten ein Blatt vor den Mund zu nehmen, und jammerte, sagte mit tränenerstickter Stimme, vor zwei Tagen hätte er noch eine Brigade gehabt, von der jetzt nur noch ein paar Reste übrig seien, und am meisten gehe es ihm an die Nieren, daß so viele Männer sterben müßten, nur um lumpige drei Kilometer vorzurücken. Gemäß festgelegtem Plan lautete sein Befehl, das Dorf weiter vorn noch einmal anzugreifen. Man war davon ausgegangen, es aus der Bewegung heraus frontal nehmen zu können, weil unsere Panzer es um diese Zeit bereits von zwei Seiten umgangen hätten. Und die Panzer – wir hatten sie unterwegs gesehen – waren in der Tat auf der Ebene vorgekrochen, doch sie kamen im Schlamm so langsam vorwärts, daß eines völlig klar war – sie würden bis zum Einbruch der Dun-
kelheit die Ortschaft keinesfalls umgehen können, die von Petrunins Brigade angegriffen werden sollte. Petrunin indessen sollte in genau einer Stunde das Dorf erneut angreifen, zu einem Zeitpunkt also, da es die Panzer noch nicht geschafft haben würden und es auch nicht schaffen konnten. Lange standen wir da und sahen die Panzer vorrücken. Schon stand fest, daß nichts daraus werden würde, daß sie zu spät kamen. Minutenlang schien mir, daß sie jetzt, jetzt wie durch ein Wunder schneller rollten als noch eben und sich alles einrenken, eine plötzliche Wende zum Guten nehmen würde… Aber sie konnten nicht schneller rollen, und nichts renkte sich ein. Und als der festgelegte Zeitpunkt heran war, winkte Petrunin wütend ab und erteilte seinem Bataillon über Feldfernsprecher den Befehl, die Ortschaft allein, ohne Unterstützung durch die Panzer anzugreifen. Und nach weiteren vierzig Minuten versickerte der Angriff, wie nicht anders zu erwarten gewesen war. Nikolai Iwanowitsch wollte schon weiterreiten, als die Meldung kam, Rumänen oder Deutsche wären bei Petrunins Bataillon zum Gegenangriff übergegangen, und nun hielt es Nikolai Iwanowitsch nicht mehr für angängig, jetzt wegzureiten. Es dunkelte schon, und immer noch goß es in Strömen… Der rumänische Gegenangriff wurde mühelos zurückgeschlagen. Nachdem die Meldung hierüber und auch noch die Bestätigung der Meldung eingetroffen waren, sagte sich Nikolai Iwanowitsch, nun stünde seinem Aufbruch nichts mehr im Wege, nun könne er dies mit gutem Gewissen tun. Wir ritten noch bei einer anderen Division vorbei und
trafen mitten in der Nacht wieder beim Armeestab ein. Ich erkundigte mich bei Rostschin, wie es zum Tagesausgang um die Lage an der Front bestellt sei. Er winkte ärgerlich ab. „Ich dachte, Sie könnten mir das sagen, schließlich kommen Sie von dort!“ Ich antwortete, ich hätte nicht die geringste Vorstellung von der wirklichen Lage. Mich habe lediglich das ungute Gefühl erfaßt, es werde ein Mißerfolg werden. Rostschin sagte, mein Gefühl trüge mich nicht, und wir wären den ganzen Tag nicht ein Stück vorangekommen. Ich verbrachte einen weiteren Tag bei den Truppenteilen der 51. Armee, in dessen Verlauf sich nichts Erfreuliches ereignete. Bis zum Einbruch der Nacht waren wir wieder an keiner Stelle vorangekommen, damit war meiner Überzeugung nach der Mißerfolg besiegelt. Ich hatte schon früher das Gefühl gehabt, und das Geschehen dieser Tage hier auf der Krim hatte mich nur noch bestärkt, daß, kommt es weder am ersten, noch am zweiten, noch am dritten Tag zu einem entscheidenden Vorstoß, die Offensive fehlgeschlagen ist und bis zu einer neuerlichen Umgruppierung und einem neuerlichen Vorstoß auch nichts daraus werden wird. Nach einer kurzen Beratung mit Rostschin entschloß ich mich, zum Frontstab zu reiten, und nachdem man mir ein Pferd und einen Pferdehalter zugeteilt hatte, machte ich mich auf den Rückweg nach Leninskoje. Ich hatte mich inzwischen anscheinend ans Reiten gewöhnt, jedenfalls schafften wir den Rückweg nach
Leninskoje in ungefähr sieben Stunden. Unterwegs begegneten wir einer frischen Division, die auf die vorderen Linien zumarschierte. Die Männer stampften am Straßenrand über die schlammige, stark ramponierte Straße. Junge Burschen ohne Bart, mit neuen Stahlhelmen, neuen, noch nicht abgetragenen Uniformen. Sie marschierten exakt im Gleichschritt, wie bei einer Übung zogen sie die MGs hinter sich her und schoben die Granatwerfer auf ihren Karren. Mein Herz krampfte sich zusammen beim Anblick dieser Männer, die heute so ruhig und exakt im Gleichschritt dahinzogen und schon morgen, in zwei Tagen oder in einer Woche in die Hölle der Kämpfe geraten würden… Am nächsten Vormittag schössen unsere Flaks direkt über Leninskoje eine deutsche „Junkers“ ab. Die Flieger wurden gefangengenommen, unter ihnen auch ihr Hauptmann oder Major, der Kommandeur einer deutschen Aufklärerstaffel. Als ich erfuhr, sie sollten in der Abteilung Aufklärung verhört werden, ging ich hin, um mir die Genehmigung zu einem Gespräch geben zu lassen. Doch da kam auf einmal der dicke Gehilfe von Mechlis herausgerollt, den jeder in der Redaktion früher, als er noch Zeitungsmann war, ganz ungeniert und respektlos Pascha genannt hatte. Er rollte heraus und brüllte los, wer hier nichts zu suchen habe, möge sich unverzüglich verziehen, die Abteilung Aufklärung sei schließlich keine Pressestelle! Überhaupt führte er sich auf, als habe er nie bei einer Zeitung gearbeitet. Er dachte gar nicht daran, sich in unsere Lage als Korrespondenten zu versetzen. Wie sehr ich auch auf ihn einredete, er
schrie weiter, wir sollten uns verziehen. Wir mußten uns trollen, ohne Gelegenheit gehabt zu haben, mit den kriegsgefangenen deutschen Fliegern zu sprechen. Wir hatten gehofft, wenigstens ein bißchen Material für die Zeitung zu ergattern. In der zweiten Tageshälfte fuhren Bejlinson, unser Krimfrontkorrespondent, und ich auf einem vorbeikommenden Lkw nach Kertsch. Wir waren kurz vor der Stadt, als ein Luftangriff einsetzte: Bomben detonierten, unsere Flak-Artillerie schoß von allen Seiten, die Geschoßbahnen der MGs kreuzten sich in der Luft… Wir mußten schleunigst das Haus erreichen, wo die Korrespondenten der „Krasnaja Swesda“ untergebracht waren. Vorher setzten wir noch beim Lazarett einen Verwundeten ab, den wir unterwegs in den Wagenkasten genommen hatten. Vor der Korrespondentenunterkunft stiegen wir naß und steifgefroren ab und gelangten über die vom Hof hinaufführende wacklige Holztreppe in das kleine Zimmer im ersten Stock. Tjomin, unser Photoreporter von der „Krasnaja Swesda“, war zu unserer großen Freude schon da, hatte aber zu unserem Kummer nichts Eßbares noch etwas zu trinken da, alles war wie ausgefegt. Bejlinson schlug vor, in die Kantine des Kertscher Flottenstützpunkts zu gehen und es dort zu versuchen. Die Flaks bellten, was das Zeug hielt, und wir waren bemüht, uns an den Häuserwänden zu halten und in großen Sätzen so schnell wie möglich voranzukommen. Schon nach zwanzig Minuten hatten wir die Messe des Flottenstützpunkts erreicht. An einem Tisch saßen Seeleute, die uns an ihren Tisch baten.
Am Kopfende saß der Kommandeur des Stützpunkts, Konteradmiral Frolow. Er aß sein Abendbrot und krümmte sich dabei vor Schmerzen, sein Kopf war so von Binden eingehüllt, daß unverständlich war, wo er den Wodka hineingoß und wo seine Stimme hervordrang. Am Tag zuvor hatte der Stab der Seeleute einen Bombenvolltreffer abbekommen, es hatte mehrere Tote gegeben, Frolow hatte eine schwere Kopfverletzung davongetragen und war noch dazu von Splittern gestreift worden, aber er war bei der Truppe geblieben und hatte das Kommando über den Stützpunkt behalten. Der Bombenangriff hörte bald auf, und kurz danach verstummte auch das Flakfeuer. Ohne diese Begleitmusik unterhielten wir uns mit Frolow. Aus diesem Gespräch und noch zwei weiteren Unterredungen, die wir vor meinem Abflug hatten, schätzte ich ihn ein als Mann mit scharfem und unbändigem Verstand. Ich blieb einige Tage in Kertsch. Suchte in dieser Zeit den Oberbefehlshaber der Luftstreitkräfte der Krimfront auf, fuhr zu einem Fliegerregiment, wo ich mit Fliegern sprach, und war auch beim Kertscher Graben. Obwohl schon zugeschüttet, bot er ein grausiges Bild – hier und dort ragten noch Beine, Arme oder ein halbvermodertes Stück Stoff heraus. Zwei Tage lang sprach ich mit Kertscher Partisanen und tat hier das einzige Greifbare für die Zeitung während dieser ganzen Fahrt: Ich sammelte Material für Reportagen über den Kampf in den Katakomben von Kertsch.
In den Tagebuchaufzeichnungen beschränkte ich mich lediglich auf eine kurze Erwähnung dieser heldenhaften Seite in der Geschichte der Stadt. Im Notizbuch aber fand ich einen Bericht, den ich nach den Worten von Nikolai Iljitsch Banytsch, dem Stabschef der Partisanenabteilung „Lenin“, festgehalten hatte: „Geboren 1910 im Dorf Majak bei Kertsch. Russe. Fischer von Beruf, vom dreizehnten Lebensjahr an. Unser Dorf ist ein Fischerdorf. Ich leistete meine Dienstzeit bei der Armee ab und besuchte dort die Nachrichtenschule. Ich wurde als unterer Kommandeursdienstgrad entlassen. Seit 1937 bin ich in der Partei. Drei Brüder sind bei der Armee, zwei davon bei den Pionieren. Ich arbeitete als Abteilungsleiter im Fischverarbeitungsbetrieb, meldete mich zweimal als Freiwilliger beim Kriegskommissariat. Das Rayonparteikomitee der Partei teilte mich zur Partisanenabteilung ein. Ich stimmte diesem Vorschlag zu. Befürchte aber immer noch, sie könnten mich wieder streichen! Dann bin ich zum Stabschef ernannt worden, wir haben die Leute ausgebildet und alles getan, was nötig war. Als sich die Deutschen Kertsch näherten, gingen die Jungs tagsüber weiter ihrer Arbeit nach, nachts aber bereiteten sie den Fels vor – schafften Lebensmittel und Munition hin, aber auch Zement für den Bau von Wasserbehältern. Am 14. November war unsere Abteilung komplett. Waffen wurden ausgegeben – Gewehre, MGs, Handgranaten. Zu der Zeit hatten wir in den Felsen bereits Posten aufgestellt. In den Katakomben ist es so: Geht das Licht aus, bist du ver-
loren. Selbst wenn du in diesen Felsen geboren bist. Zu unserer Abteilung gehörten fünfundfünfzig Männer und fünf Frauen. Wir zogen uns in die Tiefe der Gänge zurück und verbarrikadierten einen Teil der Ausgänge hinter uns. Am 21. November trieb der Deutsche die Einwohner, die in den vorderen Gängen Unterschlupf gesucht hatten, hinaus, und am 22. stieß er auf uns. Er legte die verbarrikadierten Gänge frei und fing an zu schießen. Wir erwiderten das Feuer, legten dann aber in den Gängen, durch die die Deutschen vordringen mußten, Sprengbomben und ließen sie detonieren. Wir hörten Schreie und Stöhnen. Der Fels reagiert sehr empfindlich auf Erschütterungen, menschliche Stimmen hallen dumpf wieder. Wir kannten die Stellen, an denen man von oben mit dem Bohrer durchkommen könnte. Und da hörten wir sie auch schon bohren! Wir legten Steine bereit, auch zum Abstützen, damit die Deutschen nicht merkten, wenn der Bohrer durch war. Aber sie schafften es nicht und gaben es auf. Besonders schlimm war es bei uns mit dem Wasser. Zwei Becher pro Tag gaben wir aus. Ohne besondere Genehmigung gab es keine zwanzig Gramm darüber. Schon am dritten Tag, den wir da drinnen zubrachten, trieb der Deutsche die Einwohner zusammen und zwang sie, unsere Gänge von außen zuzubetonieren, und dort, wo das nicht ging, ließ er die Gänge sprengen. Nur einige Ausgänge blieben offen, dort stellten die Deutschen Posten auf. Eines Tages kamen zwei Deutsche in einen der Gänge. Wir ließen sie herankommen. Einer der beiden besaß den Mut, eine Fackel zu tragen. Dann legten wir sie um. Wir woll-
ten sie zu uns ranholen und durchsuchen, aber die Deutschen draußen verhinderten das, sie warfen Handgranaten, später aber verbarrikadierten sie den Ausgang und sprengten den Fels über den Leichen, der sie unter sich begrub. Aus dem Fels herauszukommen, war sehr schwierig. Schon das leiseste Klopfen war durch eine zwei Meter dicke Felswand zu hören, hatte man ein Licht bei sich – und ohne Licht ging’s nicht – war das schon von weitem zu sehen. Einmal machten wir heimlich einen neuen Ausschlupf in den Fels, und Viktor Ludin kroch durch das enge Loch hinaus. Kaum war er draußen, hielten sie ihm ein Seitengewehr in den Rücken, aber der Deutsche verlor den Kopf, und Ludin konnte gerade noch zurückschlüpfen. Über den Katakomben hatten die Deutschen nahezu ein ganzes Regiment stationiert, sie legten befestigte Punkte mit Schießscharten an, setzten MPi-Schützen ein. Sie dachten, wir wären hier unten sehr viele, aber in Wirklichkeit waren wir nicht genug, um überall Wachen aufzustellen. Rund um die Uhr hatten wir Posten aufgestellt. Einer von uns – Kotschubej – war unser Aufklärer. Am Tage kroch er in die Ausgangsstellung, in der Nacht stieg er dann aus und erreichte die Fabrik in der Stadt. Als er zurückkam, berichtete er uns, Moskau und Leningrad seien eingeschlossen, und den Deutschen auf der Krim sei für die Einnahme von Sewastopol Urlaub versprochen worden. So erfuhren wir, daß Sewastopol immer noch nicht gefallen war! Am schönsten aber war, daß Unsere über Kertsch Flugblätter für die Bevölkerung abgeworfen hatten, in denen stand, daß wir Neujahr
gemeinsam feiern würden! Als Kotschubej mit diesem Flugblatt nachts zu uns zurückkehrte, verirrte er sich und stieß auf eine verbarrikadierte Wand. Hinter ihm stiegen deutsche Leuchtkugeln auf. Er räumte im Laufe der Nacht die Barrikade beiseite und stieß in den frühen Morgenstunden mit blutenden Händen zu uns. In den Katakomben gab es kein Tageslicht. Es war absolut dunkel. Wir waren auf Kerzen, Laternen und Taschenlampen angewiesen. Zu den Posten bestand Fernsprechverbindung, Wasser hatten wir für zweieinhalb Monate. Wir hatten Seemannsuhren mit einem Vierundzwanzig-Stunden-Werk, ich zog sie selbst auf und blätterte auch den Kalender um. Mit dem Kalender klappte es gut, die Uhren aber gingen zwei Stunden vor. Einmal am Tag, nach dem Frühstück, wurde Wasser ausgegeben. Jeder konnte sich seine Ration einteilen. Als der Deutsche die Katakomben sprengte, kürzten wir die Verpflegungsration um ein Drittel, damit wir uns länger halten konnten. Die Verpflegung wurde von den Frauen verteilt, auch das Wasser wurde von einer Frau ausgegeben – der Leiterin der Wasserausgabe, wie wir sie nannten. In den ersten Tagen hatten wir noch Brot, aber unter der Erde war es feucht, alles verschimmelte und vermoderte, so daß uns unser Mehlvorrat zustatten kam, davon buken wir Brot. Zum Geburtstag des Genossen Stalin baten wir die Leiterin der Wasserausgabe, Anna Rodionowna, Piroggen mit Schafskäse zu backen, denn sie hatte schon einmal, zum Tag der Verfassung, Pastetchen für uns gebacken.
Eines Tages wollte der Leiter des Verpflegungsdienstes, Woitenko, Gemüsesalat anrichten, alle hatten Appetit auf was Würziges, er bat um die Genehmigung, und ich wollte sie schon geben, doch dann besann ich mich anders – schließlich muß man die roten Beten und die Kartoffeln ungeschält kochen, also würde Wasser vergeudet! Ich geh zu ihm und sag, mit dem Gemüsesalat ist’s Essig. Was willst du denn mit dem Wasser von den Kartoffeln und den roten Beten anfangen? Er: ,Das Kartoffelwasser verwenden wir für Suppe.’ – ,Und das von den roten Beten?’ Darauf fand er keine Antwort, und ich mußte es untersagen. Kein Mensch kann sich vorstellen, wie schmutzig es dort unter der Erde ist. Eines Tages schneite es, der Schnee fiel durch Deckenspalten in den Gang. Da baten alle, besonders die Frauen, Kommissar Tscherkes um die Erlaubnis, vor der Nase der Deutschen Schnee reinholen zu dürfen. Sie gingen los, brachten Schnee an und wuschen sich mal gründlich. An manchen Stellen tropfte klares Wasser von der Decke. Jeder besorgte sich ein Gefäß und stellte es unter – das war eine zusätzliche Ration, dafür liefen sie gern ein ganzes Stück. Eine von unseren Wachen war auf Posten eingeschlafen, einmal und dann noch einmal, wir luden ihn vor und auch den Leiter der Aufklärung, Anani Semjonowitsch Sajtschenko. Wir sagten: ,Führt ihn ab und erschießt ihn. Sajtschenko führte ihn weg, aber auf halbem Weg sagte er: ,Kehr um. Bitte um Vergebung!’ Er kehrte um, bat um Vergebung, und wir verziehen ihm. Vom 25. zum 26. Dezember hörten wir heftiges
Schießen und das Krachen von Bombeneinschlägen. Durch unsere Ausgucke im Fels konnten wir deutsche Kolonnen vorbeiziehen sehen. Wir beschossen sie, sie rannten auseinander, doch dann belegten sie uns mit Wurfgranaten. Am 27. unternahmen wir einen Ausbruch. Mit einem MG hielt Kisljakow eine Schießscharte nieder, von der uns ein deutscher MG-Schütze beschossen hatte, und mit Brandgeschossen setzten wir eine nahe gelegene Funkstation in Brand. Die Deutschen lauerten uns immer noch auf. Erst am 29. früh zogen sie ihre Posten ab. Wir gingen hinaus und beschossen die abrückenden Deutschen. Das muß man sich mal vorstellen, einfach so rauszugehen, frische Luft ringsum, und man kann sich zu voller Größe aufrichten! Wir holten unsere Fahne aus den Katakomben und pflanzten sie im Fels auf. Dann überfielen wir das Dorf Adshimuschkai und befreiten die von den Deutschen dort festgehaltenen Geiseln. Unterwegs zerstörten wir sechs Kraftfahrzeuge, und in einem davon erbeuteten wir die Papiere eines Regimentsstabs. Wir hätten wahrscheinlich noch mehr getan, doch als wir die Katakomben verließen, waren wir von der Sonne und dem Schnee geblendet, wir waren wie blind. Wir konnten es noch nicht fassen und wußten nicht, ob wir träumten. In einem Befehl, den wir überall anschlugen, hieß es, daß ab sofort im Stalin-Stadtbezirk die Partisanenabteilung ,Lenin’ die Gewalt übernehme. Ein Leninbild hatten wir in den Katakomben hängen…“ Ich habe diesen Bericht in meine Tagebuchauf-
zeichnungen eingefügt, weil die allgemeine Atmosphäre der Tage von Kertsch im Februar und März 1942 die gleichen triumphierenden Töne aufwies, die in den Stimmen jener Menschen mitschwangen, die standgehalten hatten und mit der Waffe in der Hand nach oben, ans Tageslicht gedrungen waren, um unsere Landungstruppen willkommen zu heißen. Durch Kertsch und Umgebung fuhr ich in dem gleichen Redaktions-“Emka“ mit dem Segeltuchverdeck, mit dem ich damals, 1941, von Moskau nach Sewastopol gefahren war. Jetzt pfiff er schon auf dem letzten Loch, schnaufte und stöhnte, fuhr aber immer noch. Bei unserem letzten Rückzug von der Krim über die Meerenge von Kertsch hatte man ihn noch mit rausgekriegt, dann fuhren Korrespondenten mit ihm bei Rostow, später im Nordkaukasus, und schließlich war er wieder hier gelandet, diesmal, um seine Tage bei unserem zweiten Rückzug von Kertsch zu beschließen. Ich möchte meine Gedanken über diesen Rückzug äußern. Die Katastrophe vollzog sich zwei Monate nach meiner Abreise von Kertsch. Niemand braucht es mir heute, nach so langer Zeit, abzunehmen, aber schon als ich von der Armee zuerst nach Kertsch und später nach Moskau zurückkehrte, war mir nach dem Anblick der stümperhaft und sinnlos direkt an die Hauptverteidigungslinie geworfenen Truppen und nach dem daraus entstandenen Durcheinander, das ich während unserer erfolglosen Offensive erlebt hatte, die schlimme Vorahnung gekommen, die Sache würde ein böses Ende nehmen. Überall unmit-
telbar an der Hauptverteidigungslinie standen so viele Truppen, daß ihre große Masse an sich schon die Wachsamkeit abschwächte. Keiner befestigte sich, keiner grub sich ein. Nicht nur an der Hauptverteidigungslinie, sondern auch im Hinterland wurde nichts für den Fall eventueller aktiver Handlungen des Gegners unternommen. Hier an der Krimfront galt damals im Februar die Losung: „Alles nach vorn, nach vorn, nach vorn!“ Es hatte den Anschein, Heldenmut könne man allein beweisen, indem sich alles möglichst nahe der Front, an der Hauptverteidigungslinie drängelte und nur keine Truppenteile im Hinterland blieben, daß sich ja niemand außerhalb des Schußbereichs der gegnerischen Artillerie aufhielt… Es war wie eine unbegreifliche und furchtbare Manie, wie ich sie weder vorher noch hinterher jemals erlebt habe. Fuhr man jedoch nur zehn Kilometer zurück ins Hinterland, sah man weder Truppen noch Panzerabwehrknoten, weder Schützengräben noch Artilleriestellungen. Zwischen der Front und Kertsch lag ein so gut wie menschenleerer Raum. Sogar in der Linie der berühmten Stellungen von Akmonai war nicht ein einziger neuer Graben ausgehoben worden, während die alten, noch von der früheren Verteidigung übriggebliebenen Gräben ramponiert waren. Die Truppen hatten sich auf dem Weg nach vorn nach allen Richtungen hin Löcher gegraben, offenbar um sich nachts darin aufzuwärmen. Nein, ich lüge nicht, wenn ich sage, daß ich schon damals, im Februar und im März, eine trübe Vorah-
nung hatte. Nach mehrtägigem Aufenthalt in Kertsch fuhr ich noch einmal zum Stab der Luftstreitkräfte und erfuhr, daß die Truppen zur Verteidigung übergegangen seien, daß eine Umgruppierung eingeleitet wurde und neue Kampfhandlungen vorbereitet würden. Unter diesen Umständen wollte ich schnell nach Moskau fliegen, wo meine Anwesenheit zumindest für ein paar Tage dringend notwendig war, um die „Russischen Menschen“ fertigzustellen. Nach Absprache mit der Redaktion stieg ich am Morgen des 8. März in eine „Douglas“ Richtung Moskau. Pilot dieser Maschine war übrigens der sympathische bärtige Flieger Bojew, der vier Monate später hinter Rostow im Tiefflug gegen einen Hügel prallte. Bojew wurde zum Krüppel, und Jewgeni Petrow, der als einer seiner Passagiere von Sewastopol zurückkehrte, fand den Tod. Mit kurzer Zwischenlandung in Krasnodar waren wir binnen fünf Stunden in Moskau. So endete meine Reise – vom journalistischen Standpunkt aus die am wenigsten ergiebige – da ich aber zehn Jahre nach dem Krieg über den Krieg schreiben würde, war es wohl eine der wichtigsten Reisen… Nicht zehn, sondern fast dreißig Jahre sind seit Kriegsende und seit unserem Sieg vergangen, und immer noch kann ich diese Seiten des Tagebuchs nicht ohne Schmerz und Kummer lesen. Die mißglückte Offensive, deren Zeuge ich damals wurde, war das unmittelbare Vorspiel für alles Folgende. Sowohl bei dem Mißerfolg im Februar als auch bei
der Niederlage im Mai hatte Mechlis, der an der Krimfront als Bevollmächtigter des Hauptquartiers eingesetzt war und sich dort aufführte wie Stalins persönlicher Vertreter, den fähigen, aber willensschwachen Oberbefehlshaber der Front an die Wand gedrückt und alles selber in die Hand genommen. Er führte eben nach der Art eines persönlich fanatisch tapferen, in militärischer Hinsicht jedoch wenig versierten Mannes, der seinen Kopf für sich hat und keine andere Meinung gelten läßt. Wie man mir erzählte, soll Stalin, als sich Mechlis nach der Krimkatastrophe bei ihm zum Rapport meldete, ihn gar nicht zu Wort haben kommen lassen, er soll ihm nur den Satz „Verflucht sollen Sie sein!“ entgegen geschleudert und das Zimmer verlassen haben. Das erscheint mir glaubhaft, ist zumindest psychologisch möglich. Ich wurde in meiner Ansicht noch bestärkt, als ich in A. M. Wassilewskis Buch „Sache des ganzen Lebens“ las, wie außerordentlich streng das Hauptquartier in seiner Direktive vom 4. Juni 1942 auf die Niederlage von Kertsch reagierte, die für Sewastopol so folgenschwer war: „Die Hauptursache für die mißlungene Operation auf Kertsch liegt darin, daß das Oberkommando der Front mit Koslow, Schamanin und Wetschni, der Vertreter des Hauptquartiers, Mechlis, sowie die Armeebefehlshaber, allen voran die Befehlshaber der 44. Armee, Generalleutnant Tschernjak, und der 47. Armee, Generalmajor Kolganow, das Wesen des modernen Krieges nicht erkannt hatten.“ Beim nochmaligen Lesen meiner Aufzeichnungen erinnerte ich mich bekümmert vieler Menschen, die
in jenem Frühjahr auf der Krim fielen, ohne Stalingrad und den Kursker Bogen erlebt zu haben, und so auch nicht mehr mit eigenen Augen sehen konnten, wie sich der Krieg veränderte, wie er sich vom Osten nach dem Westen wandte. Zu den vielen im Frühjahr 1942 dort Gefallenen gehörten auch Männer, die ich begleitet und auch in meinen Aufzeichnungen erwähnt habe – so Nikolai Iwanowitsch und Generalleutnant Wladimir Nikolajewitsch Lwow. Im ersten Weltkrieg war er Unterleutnant (und nicht Stabshauptmann, wie es in meinem Tagebuch heißt), im Bürgerkrieg Kommandeur einer Brigade, in den zwanziger Jahren militärischer Berater in der Mongolei und in China, dieser erfahrene und tapfere Mann hätte – wäre er nicht gleich in den ersten Tagen der Kämpfe auf der Halbinsel Kertsch gefallen – in diesem, dem vierten Krieg in seinem Leben, ganz bestimmt noch vieles vollbringen können. Natürlich begegnete ich zu meiner Freude im weiteren Kriegsverlauf auch den Männern, die überlebt und die die schwere Epopöe auf der Krim im Frühjahr 1942 unversehrt überstanden hatten. Aber auch sie dachten selbst in den Tagen der allergrößten Siege nicht gern daran zurück. Die Menschen tragen die unterschiedlichsten Kriegserinnerungen mit sich herum, auch weniger schöne, aber an das, was damals auf der Halbinsel Kertsch geschah – nein, daran erinnert sich wohl keiner gern!
4 Am 8. März kehrte ich nach Moskau zurück, und zu meiner nächsten Korrespondentenfahrt an die Westfront brach ich erst am 5. April auf. Fast einen Monat arbeitete ich an den „Russischen Menschen“, einmal in der engen, mit Mahagonimöbeln vollgestopften ungeheizten Wohnung Nikolai Michailowitsch Gortschakows, dann wieder direkt bei den Proben in dem gleichfalls ungeheizten Haus der Filiale des Moskauer Akademischen Künstlertheaters in der Petrowski-Pereulok, wo damals das Moskauer Dramentheater seine Vorstellungen gab, wie sich zu dieser Zeit das Theater des Lensowjets nannte. In ihm spielten Schauspieler anderer Theater, die in Moskau geblieben waren. Wegen der Luftangriffe begannen die Vorstellungen sehr früh, schon am Nachmittag, und die Hälfte aller Plätze des ungeheizten Theatersaals nahmen Leute in Halbpelzen ein, wie sie an der Front getragen wurden. Gortschakow, der das Theater leitete und mein Drama inszenierte, war als glänzender Komödienregisseur bekannt, und zu Beginn unserer Arbeit an den „Russischen Menschen“ bereitete mir dieser Umstand sogar Sorge, die jedoch bald wich. Wie auch in vielen anderen Menschen, hatte der Krieg in Gortschakow etwas bloßgelegt, dessen er sich selbst nicht bewußt gewesen war und was ihn überraschte, und zwar eine gewisse tragische Seite, die bis dahin in ihm geschlummert hatte.
Trotz seines Humors und seiner äußerlichen fröhlichen Umgänglichkeit war Nikolai Michailowitsch im Grunde eher ein verschlossener Mann. In diesem Kriegswinter und – frühjahr aber lebte und arbeitete er mit einer ungewöhnlichen Aufgeschlossenheit. Er galt in Theaterkreisen als Diplomat, doch buchstäblich im Gegensatz zu seiner früheren Art arbeitete er mit den Schauspielern so an meinem Kriegsstück, als hätte er selbst Frontluft geschnuppert, er legte seine Gedanken offenherzig und mitunter recht scharf auf den Tisch, äußerte sich sowohl über die Unvollkommenheiten des Stückes als auch über schwache Leistungen der Schauspieler. Ich habe in meinem Leben viele Stücke geschrieben, aber die höchste moralische Befriedigung empfand ich damals, 1942, bei der Arbeit an den „Russischen Menschen“. Im Theater war es eisig kalt. Bei den Proben hauchten wir uns auf die Fäuste und mummelten uns in die Mäntel. Wir arbeiteten pausenlos Tag und Nacht, weil alle fieberten, dieses Stück herauszubringen – ob es nun gut oder schlecht war –, wenn es nur vom Geschehen an der Front berichtete. Am Moskauer Dramentheater gab es zu der Zeit zwei hervorragende Schauspieler: Dmitri Orlow und Rostislaw Pljatt. Und gerade sie spielten in den „Russischen Menschen“ die beiden Rollen, die mir am besten gelungen waren – Globa und Wassin. Dmitri Nikolajewitsch Orlow schien mir damals, im Jahre 1942, in seinem ganzen Wesen und seiner Haltung all den Menschen unendlich ähnlich zu sein, denen ich an der Front in den verschiedensten
Dienststellungen begegnete, erfahrenen, nicht mehr jungen russischen Menschen, die sich ohne viele Worte, als wäre es das Selbstverständlichste, den Krieg aufbürdeten und ihn auf ihren Schultern trugen, ohne viel Worte zu machen, ohne sich für Helden zu halten und ohne zu vergessen, sich gelegentlich auch mal lustig zu machen über die Deutschen, über sich selbst und auch über den Tod. Nicht von ungefähr hat Orlow später den Tjorkin so unvergleichlich gelesen. Und obwohl der an verschiedenen Kriegsschauplätzen stückchenweise abgeguckte Militärfeldscher Globa aus meiner Feder stammte und nicht aus der Orlows, erinnere ich mich recht gut, wie ich gleich bei den ersten Proben spürte, daß Orlow von diesem Menschen, den ich geschrieben hatte, mehr wußte als ich selbst. Er identifizierte sich von Anfang an voll mit dieser Rolle und verkörperte nur noch Globa auch bei den Proben, nach dessen Gewohnheit die Daumen hinterm Koppel und die Redenden mit einem schalkhaften Lächeln musternd. Im Theater war es grimmig kalt. Orlow aber störte die Kälte bei den Proben nicht, er mummelte sich nicht ein, fror nicht, er hatte die Wattejacke lässig über die Schultern geworfen und drückte seine Brust heraus; seine Gesten ließen nicht erkennen, ob er gefroren oder es eilig gehabt hätte. Nie werde ich vergessen, wie Orlow-Globa, zuerst auf den Proben und dann auch bei den Vorstellungen, mit dem Lied „Sang die Nachtigall in den Zweigen, fragt ich bang das Glücksvögelein…“ auf den Lippen in den Tod ging. In dem Augenblick, da Globa endgültig klar war, daß er in den sicheren Tod geht,
räusperte er sich, kaum hörbar, vor Erregung. Und allein dieses Räuspern und die winzige Pause, in der er sich die Wattejacke zuknöpfte, machte deutlich, wie ungern er starb. Das Lied begann er kaum hörbar, mit vor Erregung leicht brüchiger Stimme. Doch als er der Erregung Herr geworden, rang er sie mehr und mehr nieder, zornig und keck, und endete, als speie er dem Tod ins Angesicht. Hätte Orlow mich nicht schon bei den Proben überzeugt, daß Globa, in den Tod gehend, dieses Lied nicht nur gerade so singen konnte, sondern auch mußte, hätte ich es sicherlich nicht in dem Stück gelassen. Ich fand den Schluß der Szene gut, aber ich war von seiner Lebensechtheit nicht restlos überzeugt. Erst Orlow überzeugte mich. Die „Russischen Menschen“ wurden mitten im Krieg geschrieben, und die Personen des Stückes waren fast durchweg mir bekannte Menschen, an die ich mich auch erinnerte. Für den Zuschauer war das unwichtig, aber für mich, den Autor, war es wesentlich. Hinter Dr. Charitonow, dem Stadtoberhaupt, stand für mich der Bürgermeister Grusinow von Feodossija. Hinter der Fahrerin des Anderthalbtonners Valja Anostschenko stand die Begegnung mit dem übermütigen und tapferen Mädchen, der „Fahrerin“ auf der Arabatsker Landzunge. Die Art im Umgang mit den Menschen, die ich auf der Rybatschi-Halbinsel an Dmitri Iwanowitsch Jerjomin bemerkt hatte, ließ mich Hauptmann Safonow in dem Stück eben so und nicht anders gestalten. Alle, die den stillsten, ungeschicktesten und tapfersten von uns Frontkorrespondenten, Jewgeni Kriger,
von der Front her kannten, konnten leicht herausfinden, wer das Urbild des Journalisten Panin in meinem Stück war. Und wohl nur eine einzige der handelnden Personen in den „Russischen Menschen“, nämlich Major Wassin, den Rostislaw Pljatt spielte, hatte im Krieg keinen Prototyp. Das heißt, einen hatte sie schon, aber nicht an der Front, sondern im tiefen Hinterland, in Molotow, wohin meine Eltern im Herbst 1941 gegangen waren. In diesem Fall war alles andersherum abgelaufen: Ich hatte den Mann nicht von der Front geholt, sondern ihn dorthin, an die Front, versetzt, den Mann, der gegen seinen Willen nicht am Krieg teilnehmen konnte. Mein Stiefvater, der von meinem fünften Lebensjahr an mir alle seine Begriffe von den Regeln des menschlichen Verhaltens beizubringen suchte, war damals bereits sechzig. Berufssoldat, Offizier und später Kommandeur in der Roten Armee, Teilnehmer am Japanischen Krieg, am ersten Weltkrieg und am Bürgerkrieg, fünfmal verwundet und zusätzlich durch Gas vergiftet, war er zu Kriegsbeginn so leidend, daß alle seine Gesuche, ihn an die Front zu schicken, erfolglos blieben. Er erlebte den Krieg dort, im Hinterland, in Molotow; er lehrte Militärwesen an einer evakuierten Moskauer Hochschule und schrieb mir nur selten knapp gehaltene Briefe. Ich an der Front aber maß mich in Augenblicken der Schwäche oder der Unentschlossenheit nicht nur einmal an ihm. Nebenbei bemerkt, fällt es mir leichter, mit den Zeilen des erst nach dem Krieg entstandenen Poems „Der Vater“ von ihm zu erzählen:
Kein Wort der Sehnsucht oder Angst in euren Briefen an die Front, obwohl du um den Einzgen bangst und euch das Alter nicht verschont. Nur einen stolzen Satz hört ich dich sagen, er drang aus weiter Ferne zu mir her: Hast du auch Schweres jetzt zu tragen – das Schicksal des Soldaten war stets schwer! In all den Jahren hab ich mich gefragt: Wie würde sich der Vater jetzt entscheiden? Hätt er an meiner Stell den Sprung gewagt? Würd er im sichern Graben bleiben? Der Vater wäre, wo die Mündungsfeuer blitzen, er würd auf den Befehl nicht baun? Würd nicht nur im Gefechtsstand sitzen, der Meldung harren, ihr vertraun? Gedenke ich des Krieges schwerer Zeit, kann ich des Mannes nicht vergessen, der Tag und Nacht mir stand zur Seit, der, Vaterstell vertretend, Vater mir gewesen… Und diesen Mann, der für mich moralischer Maßstab war, versuchte ich mir nicht im Hinterland, sondern an der Front vorzustellen. So entstand im Stück Major Wassin, dessen Rolle im Frühjahr 1942 Rostislaw Pljatt probte. Ich hatte von einem real existierenden Menschen exakte Vorstellungen, und ich muß zugeben, daß ich Pljatt bei den Proben sogar etwas behinderte, weil ich
ihm unbedingt eben diesen Mann zeigen wollte. Um so dankbarer war ich dem Schauspieler, der alles Überflüssige meiner Ratschläge, die winzigen Details, die nur für mich selbst von Belang waren, wegließ und diese Rolle mit einer derart inneren Ähnlichkeit zu ihrem Prototyp spielte, daß die Gestalt Major Wassins mir für alle Zeiten mehr bedeutete als nur eine Bühnenrolle. Ich möchte meinen Bericht über die Arbeit an dem Stück „Russische Menschen“ mit Auszügen aus einem damals geschriebenen Brief beschließen. Als ich im April 1942, die Proben waren im vollsten Gange, an die Front fuhr, faßte ich meine Gedanken und Vorstellungen zusammen und hinterließ Gortschakow eine lange Mitteilung. Da auch andere Theater das Stück inszenieren wollten, meinte ich, der Brief könne auch ihnen von Nutzen sein. Sicherlich hat hierbei auch das Gefühl eine Rolle gespielt, daß mir eine Fahrt an die Front bevorstand und kein Mensch gegen den Tod gefeit ist. Der Brief enthielt viele nur das Theater betreffende Gedanken. Diese lasse ich weg und zitiere nur jene den Krieg betreffenden Stellen. Das Stück „Russische Menschen“ war für mich der erste Versuch, diese Ansichten zusammenzufassen. Und ein ebensolcher Versuch, nur in anderer Form, waren einige Seiten des Briefes: „… Man muß unbedingt empfinden, daß der Krieg nicht auf der ersten Seite des Stücks beginnt und nicht auf seiner letzten endet. Hat das Stück hundert Seiten, so sind schon vor seiner ersten Seite dreihundert Seiten Krieg geschrieben, und auf seine letzte Seite folgen noch sechshundert Seiten Krieg. Alles bein-
haltet das dicke Buch Krieg. In der Mitte des Buches, einem dünnen Heftchen gleich, ist das Stück eingeheftet. Für die Helden des Stücks beginnt der Krieg nicht mit dem ersten Bild. Für sie ist schon lange Krieg, sie haben sich an ihn gewöhnt, sie kämpfen schon lange, haben dem Tod ins Auge geblickt, und er ist für sie nichts Neues. Der Krieg ist nicht eine einzige ständige Gefahr, eine einzige Todeserwartung, ein einziger Gedanke an den Tod. Wäre es so, kein Mensch könnte den Belastungen des Krieges auch nur ein halbes Jahr, ja nicht einmal einen Monat standhalten. Der Krieg ist die Todesgefahr, die ständige Möglichkeit, getötet zu werden, und zugleich beinhaltet er alle Zufälle und Besonderheiten, alltägliche Details, die uns ständig begleiten und nicht nur im Krieg. Selbst wenn der Mensch ständig in Gefahr ist, so denkt er nicht ständig an sie, vielleicht schon aus dem einfachen Grund nicht, weil er all das tut, was man üblicherweise so oder so im normalen Leben auch tut. Und er tut es nicht nur, sondern beschäftigt sich auch in Gedanken damit. Denkt täglich und stündlich daran. Wenn er am Vortage hätte umkommen können und wenn er am folgenden Tag wie durch ein Wunder dem Tod entgeht, dann bedeutet dies nicht, daß er heute nicht daran denkt, ob seine Unterwäsche sauber oder schmutzig ist; er wird mit Sicherheit daran denken. Mehr noch. Er wird schimpfen, wenn er keine Möglichkeit hat, seine Wäsche zu waschen, in diesem Augenblick völlig vergessend, daß er am nächsten Tag sterben könne, einerlei, ob er saubere oder schmutzige Unterwäsche trägt. Dieser Alltagskram
kostet den Menschen Zeit und moralische Kraft. Und das ist gut so, denn sonst könnte sich der Mensch mit nichts anderem befassen als mit den Gedanken an die Gefahr. Das Gefühl der Gefahr ist allgegenwärtig. Mehr noch. Hält dieses Gefühl lange Zeit an, stumpft es den Menschen ab. Wobei man sich vor Augen halten muß, daß alles in der Welt relativ ist. Und das, was Sie, mit Ihrer Schauspielerbrigade frisch an der Front eingetroffen, für eine Gefahr ansehen, hält der Regimentskommandeur, zu dem Sie gekommen sind, für Sicherheit. Der Beschuß des Dorfes, in dem Sie eine Vorstellung geben, ist durch weittragende Artillerie für Sie eine Gefahr, für ihn aber ist das relative Sicherheit, weil er am Morgen im Kampf gestanden hat. Einem Menschen, der vom Kampf zurückgekommen ist, kommt ein Dorf, das von weittragenden Granaten erreicht wird, vor wie ein Erholungsheim, wie ein Sanatorium, wie sonst was, nur nicht wie das, was es Ihnen zu sein scheint, der Sie gerade aus Moskau dort eingetroffen sind. Damit will ich niemandem einen Vorwurf machen. Ich führe es lediglich als Beispiel an. Weil jemandem in Nowosibirsk das seltener bombardierte Moskau nur zu einem gewissen Grad als gefährlicher Ort erscheint, während Sie, der Sie eben von einer Fronttournee nach Moskau zurückgekehrt sind, die Stadt für einen absolut sicheren Ort halten. Das Angstgefühl verläßt die Menschen nie. Zwei Ursachen aber mildern es an der Front. Die eine ist der Gedanke, man könne nicht nur zweihundert Meter von den Deutschen entfernt, sondern manchmal
auch zwanzig Kilometer entfernt getötet werden; und die zweite, die Hauptursache ist, daß der Mensch an der Front pflichtgemäß soviel bedenken muß, daß er sich über seine Sicherheit gar keine Gedanken machen kann. Deshalb stumpft das Angstgefühl an der Front ab und nicht, weil sich die Menschen so sehr daran gewöhnt hätten, daß sie keine Furcht mehr kennen. Nun zur Frage des Risikos. Dazu, daß Menschen ihr Leben so aufs Spiel setzen, daß sie kaum eine Überlebenschance haben. Bei der Darstellung von Menschen, die unter solchen Bedingungen leben, muß man bedenken, daß Globa wie Valja nicht von irgendeinem sicheren Ort zur Aufklärung aufbrechen, sondern von einer Stadt, die von den Deutschen eingeschlossen ist, wo sie alle stündlich vom Tod bedroht sind. Zwischen dem tödlichen Risiko, das sie auf sich nehmen, und jenem Risiko, dem sie ständig, ja stündlich ausgesetzt sind, ist kein großer Schritt. Unter solchen Umständen fällt es leichter, sowohl Entscheidungen zu fällen, die einen selbst betreffen, als auch andere in den Tod zu schicken. Am allerwenigsten ist der Krieg eine Anhäufung von Abenteuern. Er ist schwer, unberechenbar, und läuft sehr oft keineswegs so ab wie ursprünglich gedacht. Zweifellos stimmen im Krieg die Ereignisse logisch überein. Doch überall und immer kommt es zu Verstößen gegen die Logik. Krieg ist nicht Geometrie. In ihm läßt sich nicht eine Gerade von Punkt A zum Punkt B ziehen. Geraden gelingen nicht. Es werden Zickzacklinien daraus. Tagtäglich stellen sich den Menschen zahllose unvorhergesehene Hindernisse in
den Weg, reale wie physische, weil, ich wiederhole es, der Krieg schwer ist und überreich an Zufällen. Zu den Deutschen. Rosenberg ist ein Sadist und ist erfüllt von den niedrigsten Instinkten. Deshalb ist er nicht etwa ein abstoßend häßlicher Popanz, eine Memme. Werner ist ein Soldat, der nicht viel Federlesens macht, er ist grob und erbarmungslos. Doch deshalb ist er nicht ein in Eisen geschmiedetes Stück Fleisch. Beide sind sie gewöhnliche Menschen. Und das ist ja gerade das Schreckliche, daß diese auf den ersten Blick und ihrem Benehmen nach normalen Menschen genau genommen Ungeheuerlichkeiten verüben. Der Schluß des Stücks darf nicht in eine Verherrlichung unserer Waffen ausarten. Das wäre unnötig und schädlich. Da ich nun mal beim Schluß des Stückes bin, möchte ich eindringlich an meine eingangs erwähnten Worte erinnern: Das Stück ist nur ein dünnes Heft im dicken Buch des Krieges. Und auf die letzte Seite des Stückes, auf der seine Helden die Stadt von den Deutschen zurückerobern, folgen noch sechshundert Seiten Krieg, noch viele Monate Gefahr. Für jene, die auf der letzten Seite des Stückes noch am Leben sind, ist der Krieg nicht aus, er ist für sie noch in vollem Gange. Die Deutschen sind noch nicht zerschlagen, noch haben wir uns nicht an ihnen gerächt. Werner und Krause sind aus dem Stück unversehrt hervorgegangen, und das tat ich bewußt, es ist kein Zufall…“
In den ersten Apriltagen fuhr ich zusammen mit Gabrilowitsch und dem Photokorrespondenten Minsker für eine Woche an die Westfront zur 5. Armee und hielt mich dort die meiste Zeit bei einem Regiment der Division Oberst Polossuchins auf, der damals bereits gefallen war. Auf dem Rückweg nach Moskau fuhr ich zum Sanitätsbataillon der Division, wo Major Grizenko lag, der Kommandeur des Regimentes, bei dem ich einmal gewesen war, und unterhielt mich einige Stunden mit ihm. Später verglich ich seinen Bericht mit meinen eigenen Beobachtungen und schrieb für die Zeitung die Korrespondenz „Der Tag, an dem überhaupt nichts passierte“. Auf der Rückfahrt von Polossuchins Division streikte unser Wagen, und ich fuhr auf einem vorbeikommenden Lkw, der Brennholz geladen hatte, nach Moskau und machte mich fast unverzüglich ans Schreiben meines Berichts. Mit ihm wollte ich anderen wenigstens eine schwache Vorstellung davon vermitteln, was mir damals so schwer auf der Seele lag. Die tagtägliche Last des Krieges, die unendlichen Anstrengungen der Menschen, angesichts deren mich die so unendlich leichtfertigen Fragen in Wut brachten, die Tag für Tag viele der in Moskau Herumlungernden bewegten und Diskussionsgegenstand der „Pikeewesten“ waren: „Warum sind wir stehengeblieben?“, „Warum bringt der Bericht heute wieder keine Erfolgsmeldung?“, „Warum?“, „Warum?“… Darum eben! Weil, um das runde Waldstück, das auf keiner Karte verzeichnet ist, es sei denn auf einer im Maßstab 1:500,
nehmen zu können, jeder, beim Regimentskommandeur angefangen, zum vierzigsten oder fünfzigsten Mal im Laufe des Winters sein Leben aufs Spiel setzen muß, weil manch einer dafür sterben muß. Und weil das alles unendlich schwer ist, ganz besonders dann, wenn der allgemeine große Schwung der Offensive bereits erlahmt ist. Bei dieser für uns schweren Periode angelangt, möchte ich meine Aufzeichnungen unterbrechen und eine Seite aus den Erinnerungen K. K. Rokossowskis einfügen, auf der er von der Warte des Befehlshabers der Armee aus den allgemeinen Sinn jener einzelnen Fakten analysiert, mit denen ich als Korrespondent mich bald hier, bald dort konfrontiert sah. In seinem Buch „Soldatenpflicht“ schreibt er: „Der Gegner war zwar vor Moskau zurückgeworfen worden und hatte eine Niederlage erlitten, aber seine Verteidigungsfähigkeit war noch ungebrochen. Er hatte sich letzten Endes festsetzen können und verlegte frische Truppen aus dem Westen an die sowjetisch-deutsche Front. Dort waren die Streitkräfte durch unsere Alliierten nicht gebunden. Unsere erschöpften Soldaten konnten den Gegner lediglich bald an dieser, bald an jener Stelle zurückwerfen. Das kostete aber Kräfte, ohne daß Entscheidendes erreicht wurde. Unsere Truppen kamen nur mühsam voran. Wiederholte Besuche bei den verschiede-’nen Truppenteilen und an verschiedenen Abschnitten überzeugten mich davon, daß wir nicht imstande waren, einen entscheidenden Erfolg zu erzielen. Die Regimenter und Divisionen waren gelichtet, es fehlte an Maschinengewehren, Granatwerfern, Artillerie
und Munition; Panzer waren nur noch wenige übriggeblieben. Ich hielt es daher für besser, die gewonnene Atempause auszunutzen, zur Verteidigung überzugehen und Kräfte und Mittel für eine mächtige Offensive zu sammeln. Nach Angaben unseres Stabes war uns der Gegner an Kräften bedeutend überlegen. Es war doch paradox: Der Stärkere verteidigt sich, und der erheblich Schwächere greift an! Und noch dazu bis an die Hüften im Schnee. All das wurde mit Berechnungen und Schlußfolgerungen in einem ausführlichen Bericht an den Oberbefehlshaber der Front gemeldet. Die Antwort: ,Führen Sie den Befehl durch!’ So blieb uns nichts anderes übrig, als weiter zu überlegen, wie die Aufgabe gelöst werden konnte.“ Zurück zu meinen Aufzeichnungen. … Einige Tage nach meiner Rückkehr nach Moskau unternahm ich eine weitere Fahrt, oder besser gesagt, ich unternahm sie nicht, da ich nicht bis an die Front kam. Sascha Kapustjanski und ich brachen in einem „Emka“ in Richtung Juchnow auf und blieben einfach stecken, ohne die Front erreicht zu haben. Der Frühjahrseisgang hatte zwei Brücken weggerissen, und wir hätten bis zu ihrer Instandsetzung zwei oder drei Tage auf der Straße warten müssen. Diese Fahrt sollte nur drei bis vier Tage dauern, und so kehrte ich unverrichteterdinge nach Moskau zurück. Die Lage an der Front war so, daß die „Krasnaja Swesda“ zur Zeit keinen Dienstreiseauftrag für mich hatte. Aus den verschiedensten Gründen aber hatte
sich mein Privatleben so entwickelt, daß es mich mit allen Fasern von Moskau weg an die Front zog. Ich ging zu Ortenberg und sagte ihm, ich wolle, solange an der Westfront Ruhe herrsche, noch einmal nach Norden in den Murmansker Abschnitt fahren. „Und für wie lange?“ erkundigte er sich. Ich gab zur Antwort, für einen Monat. „In euch Schriftstellern soll sich der Teufel auskennen“, sagte Ortenberg. „Wenn dringend gefahren werden muß, habt ihr entweder gerade angefangen zu schreiben, oder ihr seid noch nicht fertig! Und wenn nichts vorliegt und in aller Ruhe geschrieben werden könnte, wollt ihr weg!“ Ich wiederholte, daß ich fahren wolle. Und mit dem ihm eigenen Einfühlungsvermögen, das ihm Menschen, die ihn weniger gut kannten als ich, nie zugetraut hätten, gab er seine Einwilligung zu meiner Fahrt nach dem Norden. Ich wohnte wieder im Hotel „Moskwa“, und als ich dort Jewgeni Petrow traf, begann ich ihn noch am gleichen Abend mit der Aussicht auf eine gemeinsame Fahrt zu locken. Er war sofort Feuer und Flamme und fragte mich erst hinterher nach dem Norden aus. Dann bekräftigte er, er käme auf jeden Fall mit, und rief, nachdem es für ihn beschlossene Sache war, seine Vorgesetzten im Informationsbüro an, um deren Zustimmung einzuholen… In jenen Tagen vor der Abfahrt nach Murmansk traf ich zum erstenmal mit Alexander Sergejewitsch Stscherbakow zusammen, der damals Sekretär des Zentralkomitees, des Moskauer Stadtkomitees und
gleichzeitig Leiter des Informationsbüros war. Als ich nach dem Krieg Lücken in meinen Kriegsaufzeichnungen schließen wollte, reproduzierte ich aus der noch relativ frischen Erinnerung für mich wichtige Einzelheiten dieses Zusammentreffens. Eines Tages rief Fadejew in der „Krasnaja Swesda“ an und sagte, Stscherbakow wolle mich sehen. Eine halbe Stunde später war ich bei ihm im Gebäude des Moskauer Stadtkomitees am Karetnoi Rjad. Das Gespräch überraschte mich genauso wie die Einladung. Ich hatte kurz vorher im Verlag „Molodaja Gwardija“ einen Gedichtband abgeliefert. Er bestand aus zwei Teilen: Der erste enthielt fünfundzwanzig Gedichte, die später das Büchlein „Mit dir und ohne dich“ ausmachten, der zweite Teil einige meiner Frontballaden und andere Kriegsgedichte. Etwa eine Woche vor Stscherbakows Einladung hatte ich ein Gespräch im Verlag, in dem keine Übereinstimmung erzielt wurde, wie es so schön heißt. Der Redakteur, genauer der Verlag, wollte es nicht riskieren, die Mehrzahl der für den ersten Teil des Buches vorgesehenen lyrischen Gedichte herauszubringen. Nach langem Hin und Her erklärte ich mich bereit, ein einziges Gedicht herauszunehmen, und zwar „Vergessen für eine Stunde die Namen…“, und sagte zum Redakteur, ich sei nicht damit einverstanden, daß ein Buch von mir erschiene, aus dem gut fünfzehn Gedichte herausgenommen seien, sie sollten es sich noch einmal durch den Kopf gehen lassen; wenn ich von der Front zurück sei, könnten wir uns darüber unterhalten.
Als ich zu Stscherbakow kam und wir uns begrüßten, sah ich zu meiner Verwunderung auf seinem Schreibtisch eben jenes Manuskript meiner Gedichte liegen, das ich im Verlag abgegeben hatte. Es konnte nur von dort auf seinen Tisch gewandert sein; das zweite Exemplar des Manuskripts besaß ich, und weitere Exemplare gab es nicht. Ich hatte mein Manuskript erspäht, und Stscherbakow hatte das bemerkt, allein er erwähnte es mit keinem Wort, sondern erkundigte sich, wann ich wieder an die Front führe. Ich antwortete, übermorgen. „Wohin?“ fragte er. „An die Karelische Front, in den Abschnitt Murmansk“, gab ich zur Antwort. „Und was wollen Sie dort?“ Diese Frage befremdete mich etwas. Ich erklärte, ich wolle einige Reportagen für die „Krasnaja Swesda“ schreiben. „Aber Sie waren doch schon im Norden, und das reichlich lange“, sagte Stscherbakow. Das sei schon richtig, entgegnete ich, aber ich wolle während der Gefechtsruhe an den Hauptfronten noch einmal die gleichen Orte aufsuchen, da das Material aus dem Norden für die Zeitung sicherlich was hergäbe. „Das ist es ja gerade – während der Gefechtsruhe“, sagte Stscherbakow. „Sie könnten die ruhige Zeit nutzen, sich in Moskau an den Schreibtisch setzen und arbeiten. Müssen Sie denn dorthin fahren? Wer drängt Sie?“ Recht energisch antwortete ich, es sei mein eigener Entschluß, zu fahren, und ich hätte mich schon darauf eingerichtet. „Na, nehmen Sie sich bloß in acht“,
sagte Stscherbakow und wiederholte: „Nehmen Sie sich in acht. Jetzt wollen wir uns mal über Ihre Gedichte unterhalten. Sie haben doch ein Manuskript bei der ,Molodaja Gwardija’ abgegeben?“ Ja, das hätte ich. „Wir haben die Gedichte von dort angefordert und sie uns angesehen.“ Das „wir“ sagte er unbestimmt, so daß nicht ersichtlich war, ob sich das auf ihn bezog oder ob er noch jemanden meinte. Damals kam ich nicht dahinter, wie es sich tatsächlich verhielt. „Wir haben sie hier gelesen“, sagte Stscherbakow. „Was gibt es da für Unstimmigkeiten zwischen Ihnen und dem Verlag? Warum liegen Sie sich in den Haaren?“ Ich entgegnete, wir lägen uns nicht in den Haaren, ich hätte mich lediglich nicht mit dem Verlag einigen können, und wir wären so verblieben, daß wir uns nach meiner Rückkehr von der Front noch einmal darüber unterhalten wollten. „Was heißt – nicht einigen? Worüber denn?“ fragte Stscherbakow. Der Verlag wolle, erklärte ich, von den fünfundzwanzig Gedichten des ersten Teils nur acht oder neun bringen. Ich hingegen sei der Meinung, es könnten alle Gedichte bis auf eins veröffentlicht werden. „Und gegen welche Gedichte haben die was?“ fragte Stscherbakow und forderte mich auf, neben ihm am Tisch Platz zu nehmen. „Wollen wir sie uns mal ansehen.“ Auf dem Tisch vor uns lag das Exemplar meines Manuskripts mit sämtlichen Bemerkungen der Redaktion, mit allen mir gut bekannten Randkorrekturen auf den einzelnen Seiten. Wir gingen das Manuskript Gedicht für Gedicht
durch und vor allem jene Gedichte, gegen die man in der Redaktion Einwände hatte. Und jedes Mal meinte Stscherbakow, seiner Meinung nach könne das gedruckt werden. „Das ist alles?“ fragte Stscherbakow, als wir am Ende angelangt waren. „Das ist alles.“ „Wir werden mit dem Verlag reden“, sagte Stscherbakow. „Ich denke, die werden uns zustimmen, daß man das alles bringen kann. Das Problem wäre also erledigt… Aber Momentchen mal, Sie haben gesagt, über ein Gedicht wären Sie sich mit ihnen einig. Wo ist es? Haben wir es uns angesehen?“ Ich sagte, wir hätten es uns nicht angesehen, ich hätte es herausgenommen. „Aber vielleicht war das nicht richtig?“ fragte Stscherbakow. „Ich weiß nicht recht, gut möglich, daß es ein Fehler war“, sagte ich. „Aber die Argumente des Redakteurs, der von diesem Gedicht sagte, man könne es anders auffassen, als es gemeint sei, schienen mir gewichtig.“ „Und wie haben Sie es gemeint?“ Ich sagte, meiner Ansicht nach besinge dieses Gedicht keineswegs die leichtfertige Liebe, es erzähle einfach davon, wie es im Leben nun mal so geht, gleichzeitig zeige es die Sehnsucht nach wahrer Liebe. „Vielleicht werden andere das herauslesen, was Sie hineingelegt haben?“ meinte Stscherbakow. „Können Sie es auswendig?“ Ich sagte das Gedicht auf „Vergessen für eine Stunde die Namen…“ Er bat mich, es noch einmal aufzusagen.
Nach längerem Schweigen sagte er: „Wissen Sie, meiner Meinung nach sind diese Verse durchaus nicht zweideutig. Ich beispielsweise habe Ihre Absicht genau so verstanden, wie Sie sie mir schilderten. Möglich, daß andere etwas anderes hineinlegen, aber Sie verstehen es so und ich auch. Also sind wir schon zwei.“ Er lächelte. „Nehmen Sie dieses Gedicht mit auf. Die sollen es ruhig auch veröffentlichen.“ Verwundert und erfreut über diese Wendung des Gesprächs, bedankte ich mich für die Unterstützung. „Und nun“, meinte Stscherbakow, das Manuskript zuklappend, „möchte ich mich mit Ihnen über folgendes unterhalten. Man hat das Gefühl, daß Sie dort, an der Front, ein bißchen zuviel riskieren. Genauer gesagt, daß Sie den Tod suchen. Wie ist das? Ist da was dran?“ Er musterte mich aufmerksam und forschend. Was sollte ich auf diese Frage antworten? Ich hatte den Tod nicht gesucht, das stimmte nicht. Aber riskieren mußte man schon etwas, besonders im Jahr 1941, und das nicht nur einmal. Bei manchen Fahrten hatte sich das einfach so ergeben. Und in gewissem Sinne schmeichelte mir Stscherbakows Frage: Er wußte also, wie ich mich an der Front verhielt, daß ich im großen und ganzen nicht feige war und in so manches Schlamassel hineingeraten war. Zugleich aber war ich verblüfft. Woher wußte er das? Und vor allem, warum fragte er mich danach? Ich erwiderte, nein, ich suche den Tod nicht, ich hätte ihn nie gesucht und würde ihn nie suchen. Ich hätte keinen Grund dazu. „Keinen?“ warf Stscherbakow hartnäckig ein.
Und zum erstenmal kam mir der Gedanke, er wisse etwas aus meinem Privatleben. „Keinen“, antwortete ich. Das war die Wahrheit, denn ich hatte den Tod nie gesucht, was auch immer gewesen sein mochte. „Mich hat eine Strophe in Ihren Gedichten ein wenig beunruhigt.“ Stscherbakow griff nach dem Manuskript, blätterte darin und las laut vor: Du bist mein Schicksal in der Welt, und wenn sich auch kein Richter findet, das Urteil „lebenslänglich“ ist gefällt, ich selber hab es mir verkündet. Weder damals noch heute schien und scheint mir, daß diese Strophe etwas enthält, was darauf schließen ließe, ich suchte den Tod. Aber offenbar hat die Verbindung der Zeile „Du bist mein Schicksal in der Welt“ mit dem Wörtchen „lebenslänglich“ diesen falschen Eindruck erweckt, und nachdem Stscherbakow die Strophe laut gelesen hatte, sah er mich abermals forschend an. „Wie soll man diese Verse verstehen?“ Ich antwortete, eine Erklärung falle mir schwer, aber ich wolle durchaus nicht sterben, im Gegenteil, ich wünsche mir sehnlichst, das Kriegsende zu erleben. „Dann ist es ja gut“, sagte Stscherbakow. „Das mit den Gedichten wäre also erledigt.“ Er stand auf und reichte mir die Hand. „Und wenn Sie fahren, seien Sie vorsichtiger, riskieren Sie nichts. Das müssen Sie mir versprechen. Geben Sie auf sich acht. Und keine Dummheiten.“
Über Stscherbakow war man in Literatenkreisen unterschiedlicher Meinung. Bei diesem ersten Zusammentreffen mit ihm machte er auf mich den Eindruck eines herzensguten Menschen, der sich seiner Herzensgüte ein wenig schämt. Aus seinem Mund zu hören, ich solle auf mich achtgeben, war für mich jungen Dachs natürlich angenehm schmeichelhaft. Wie gut, daß ich damals vernünftig genug war, mich vor niemandem mit diesem Zusammentreffen großzutun… Diese nach dem Krieg und nach Stscherbakows Tod niedergeschriebenen Seiten meiner Erinnerungen lagen viele Jahre in der Schublade, und das alles liegt heute so lange zurück, daß ich die damaligen guten Worte Stscherbakows vor meiner Abreise nach Murmansk zitieren kann, ohne daß es mir peinlich sein müßte. Über die Fahrt selbst sind die Aufzeichnungen aus der Kriegszeit erhalten geblieben. Jewgeni Petrow erhielt die Genehmigung für die Reise, und am nächsten Tag stiegen er, ich und der Photokorrespondent Oleg Knorring von der „Krasnaja Swesda“ in den Zug nach Archangelsk. Die direkte Verbindung Moskau-Murmansk war noch nicht wiederhergestellt, und von Archangelsk nach Murmansk mußten wir entweder fliegen oder per Bahn über Oboserski nach Belomorsk fahren, wo wir zusehen mußten, wie wir weiterkamen. Wir erreichten Archangelsk ohne besondere Zwischenfälle. Innerhalb von zwei Tagen hatten wir meinen ganzen Wodkavorrat ausgetrunken und den Vorrat an Wurst, Zwiebeln und Knoblauch vertilgt.
Wie gewöhnlich, war Petrow sehr gesprächig, stellte eine Menge politische und militärische Prognosen hinsichtlich des Zeitpunkts auf, da unsere Verbündeten ernsthaft in den Krieg eintreten würden. Er meinte, das würde nicht vor 1944 der Fall sein. Wir sprachen über alle möglichen Dinge, die nicht unmittelbar den Krieg betrafen. Unterwegs las Petrow mein Manuskript von „Mit dir und ohne dich“, das ich mitgenommen hatte, und sagte, er werde es durchsehen und in der Kleinen Bibliothek des „Ogonjok“ herausbringen. Wie stets, hielt er auch diesmal sein Versprechen und erledigte das gleich nach der Rückkehr – er sah es durch, gab das Manuskript in Satz, und das Bändchen erschien in der Kleinen Bibliothek, doch da war er bereits tot. Wie im Fluge war uns die Zeit bis Archangelsk vergangen. Das Hotel „Intourist“ in einer der zentral gelegenen Straßen von Archangelsk erreichten wir zu Fuß. Dort bekamen wir zu dritt ein sogenanntes Luxusappartement, wie man es in Provinzhotels findet, zwei Räume – ein Aufenthaltsraum und ein Schlafraum mit zwei tiefen, sarkophagähnlichen Betten und alten, einstmals schönen, nun aber längst verblichenen Tapeten, deren einstmaliger Wert die Hotelleitung nicht dazu bringen konnte, sie herunterzureißen und die Wände neu anzustreichen. In diesem Hotel wohnten wir drei Tage. Zunächst in Erwartung eines Flugzeugs, dann aber in Erwartung eines Lazarettzugs, der von Archangelsk nach Belomorsk fahren sollte. An der Karelischen Front war anscheinend eine Offensive geplant, und man rechnete mit vielen Verwundeten.
Juri German und seine Frau besuchten uns einige Male im Hotel. Er diente damals in Archangelsk bei der Weißmeerflottille. Unsere Hotelnachbarn waren der Schriftsteller Wladimir Beljajew und seine Frau, die unlängst aus dem blockierten Leningrad hier eingetroffen waren. Wir aßen mehrmals gemeinsam zu Mittag und Abend. Das Hotelrestaurant machte einen recht düsteren Eindruck. Ein paar Leute von uns aßen dort, Militärs und Zivilisten, die anderen Gäste waren britische und amerikanische Seeleute, Kapitäne britischer und amerikanischer Handelsschiffe, und unzählige Polen. In Archangelsk gab es damals eine polnische Vertretung. Sie stellte hier wohl polnische Truppenteile auf oder sammelte die sich im Norden aufhaltenden Polen, um sie an die Wolga und nach Mittelasien zu transportieren, wo die Anders-Armee aufgestellt wurde. Hier bei Archangelsk machten sich unsere Flieger unter Anleitung britischer Instrukteure mit den britischen „Hurricanes“ vertraut. In den Straßen, besonders im Hafengebiet und in der Bahnhofsgegend, traf man häufig Briten und Polen in Militäruniformen. Beljajew und seine Frau berichteten von der schrecklichen Hungersnot in Leningrad, sie zählten auf, was sie dort alles getrunken und gegessen hatten, angefangen von Apothekenmixturen wie Baldriantropfen bis zu in Wasser weich gekochtem Leder. Aus ihren Berichten wurde der Schock dieser Menschen deutlich, die so sehr gehungert hatten, daß sie auch jetzt niemals wieder richtig satt zu werden glaubten. Beljajew machte einen sympathischen und intelligenten Eindruck. Auch seine Frau war sehr
sympathisch. Wir erinnerten uns, daß wir uns schon einmal in Belostok begegnet waren, von wo Beljajew, nebenbei bemerkt, seine Frau auch mitgebracht hatte, eine ehemalige Sportlerin und später eine bekannte Sportreporterin, die vor dem Krieg von Polen aus oft zu internationalen Wettkämpfen gefahren war. Unwillkürlich machte ich mir Gedanken über die seltsamen Wege des Schicksals: Ein Mädchen, in Polen geboren und aufgewachsen, war in ganz Europa herumgekommen, hatte dann einen Russen geheiratet, war in Leningrad in die schreckliche Blokkade hineingeraten, hatte dort ihr Kind verloren und war nun halbtot, mit Wasser in den Beinen, hierher nach Archangelsk verschlagen worden. Sie hatte sich schon wieder etwas erholt. Mein Gott, was hatte sie in diesen zweieinhalb Jahren nicht alles erlebt. Doch die Menschen sind nun einmal zähe Geschöpfe. Sie hatte es überlebt, unterhielt sich, war lieb und nett. Am Morgen des vierten Tages stiegen wir in den Lazarettzug nach Belomorsk. Der Zug war für Schwerverwundete bestimmt und bestand aus sogenannten Krigerow-Wagen mit einem breiten Gang in der Mitte und einer Reihe eingehängter Doppelstockbetten zu beiden Seiten. Unser Wagen war fast leer. Außer uns fuhren darin noch zwei oder drei Militärangehörige. Wir machten es uns auf drei unteren Betten bequem. Tagsüber richteten wir uns in einer Ecke ein, wo ein kleiner Apothekentisch und drei weißgestrichene Hocker standen. In unserem Wagen fuhr als Wagenaufsicht eine Krankenschwester mit, sie hieß wohl Tanja – ein
nettes, fröhliches und hübsches Mädchen. Petrow, Knorring und ich unterhielten uns oft mit ihr und machten ihr abwechselnd den Hof, hauptsächlich an den Haltestellen. Dort blieb der Zug immer längere Zeit stehen, und wir promenierten zusammen vor den Wagen auf und ab. Am Abend statteten Petrow und ich an einer Haltestelle der Zugapotheke einen Besuch ab. Dort erwarteten uns die Krankenschwester aus unserem Wagen und die Leiterin der Apotheke, die, als sie von uns erfahren hatte, auch gern leibhaftige Schriftsteller kennenlernen wollte und uns aus diesem Anlaß sogar ein kleines Abendessen vorsetzte, das aus einem Kolben voll Sprit und einem Stück Archangelsker Salzfisch bestand. Die Apothekenleiterin war ein zierliches, lustiges Mädchen mit einem spitzen Näschen und blitzenden Äuglein, sie schnatterte wie ein Maschinengewehr, und von allen Menschen, denen ich im Laufe meines Lebens begegnet bin, konnte es darin mit ihr wohl nur der Regisseur Stolper aufnehmen. Die Apotheke war ein abgeteiltes Eckchen, das bis zur Decke vollgestopft war mit Dosen, Gläsern, Salben und Pulvern. Es roch in dem Abteil so stark nach Apotheke, daß sogar der Fisch, den wir verspeisten, von diesem Geruch durchdrungen zu sein schien. Petrow hockte im Türkensitz auf der Bank und steuerte unmerklich das Gespräch. Aus dem Geplapper holte er geschickt heraus, was die Mädchen lasen und was nicht, warum sie gerade dieses lasen und nicht jenes, welche Bücher sie auf Grund der Handzettel mit empfohlener Literatur kannten, an-
gefangen von der Schule bis hin zur Fachschule und zur Armee, und welche Bücher sie einfach so in ihr Herz geschlossen hatten, ohne diese Empfehlungszettel. So saßen wir wohl an die vier Stunden, und dieses lange, etwas ungereimte und nette Gespräch in der Zugapotheke ist mir noch gut in Erinnerung. Um nicht durch alle Wagen zurück zu müssen, stiegen Petrow und ich an einem Haltepunkt aus und liefen am Zug entlang. Der aber setzte sich früher, als wir gerechnet hatten, in Bewegung, und wir mußten den ganzen nächsten Streckenabschnitt auf dem Trittbrett zubringen, weil die Türen der beiden Wagen von innen zugeriegelt waren. Wir hielten uns an den Griffstangen fest und unterhielten uns, besser gesagt, schrien uns etwas zu. Und an uns flog die karge und zugleich wunderschöne Landschaft des Nordens vorüber – niedrige Birken, Kiefern, Findlinge, Gesteinsbrocken, Moorboden… Diese eingleisige Zweigbahn, die Stalin, wohl einer genialen Vorahnung folgend, schon nach dem Finnischen Krieg im Frühjahr 1940 schleunigst zu bauen befohlen hatte, war nunmehr, nachdem die Finnen und die Deutschen die Strecke nach Murmansk abgeschnitten hatten, für die Karelische Front die Rettung. Sie machte damals auf uns einen recht merkwürdigen Eindruck. Eine schmale Eisenbahntrasse, gelegt durch die Moorlandschaft, so gut wie keine Ortschaften an der Strecke; nur ab und an ein paar einsame Blockhäuser oder Holzbaracken, an den Haltepunkten kleinere, an den Stationen größere.
Hier möchte ich meine damaligen Aufzeichnungen unterbrechen. Von „genialer Vorahnung“ hatte ich natürlich in meiner naiven Begeisterung gesprochen. In Wirklichkeit war der Bau dieser Bahn eine sehr vernünftige und aktuelle Angelegenheit gewesen, eingegeben von den Ereignissen im Finnischen Krieg. Doch ich habe mich jetzt, da ich meine Aufzeichnungen aus der damaligen Zeit in Druck gebe, wie immer in solchen Fällen jeglicher Korrekturen enthalten, die den Leser hindern könnten, sich mein damaliges Denken und Fühlen vorzustellen. Ich wende mich wieder den Aufzeichnungen zu. Nach etwa anderthalb Tagen waren wir in Belomorsk. Wir hatten Glück, trieben einen Wagen auf und trafen schon eine Stunde später im nördlichen Randgebiet von Belomorsk bei der Redaktion der Frontzeitung der Karelischen Front ein. Die Genossen empfingen uns herzlich. Dennoch hinterließ der in der Redaktion verbrachte Abend bei mir eine bedrückende Erinnerung. Zwei oder drei Monate zuvor, also nicht lange vor unserem Eintreffen, war in dieser Redaktion der älteste der dort arbeitenden Schriftsteller, der Kritiker Fjodor Lewin, verhaftet worden, den ich aus der Vorkriegszeit von Moskau her kannte und dem ich zu Kriegsbeginn an der Westfront begegnet war. Er hatte auf mich den Eindruck eines guten, sauberen und ehrlichen Menschen gemacht, und ich konnte einfach nicht glauben, daß er etwas hätte tun können, was tatsächlich Grund zu einer Verhaftung gewesen wäre. Ich hatte ihn so in Erin-
nerung, wie ich ihn an der Westfront erlebt hatte. Dort war er mir etwas verstört erschienen wie viele von uns in den ersten Kriegstagen, möglicherweise ein wenig pessimistisch angehaucht, wie viele andere von uns auch. Aber das, was man ihm, den Berichten nach zu urteilen, hier anhängen wollte, er hätte defätistische Stimmungen verbreitet, konnte und wollte ich nicht glauben. Später stellte sich auch heraus, daß ich recht hatte: Nach einigen Monaten Untersuchungshaft wurde er entlassen, rehabilitiert und wieder in die Partei aufgenommen. Wie sich herausstellte, hatte jemand blöd herumgequatscht und ihn angeschwärzt. Hierbei hatte sicherlich die nicht gerade gute Atmosphäre eine Rolle gespielt, die in der Redaktion entstanden war: Die Front rührte sich die ganze Zeit kaum von der Stelle, von den anderen Fronten trafen bei den Zeitungsleuten bald alarmierende, bald erfreuliche Nachrichten ein, hier aber tat sich nichts, und so etwas übt zuweilen einen schlechten Einfluß auf die Menschen aus. Zudem gehörte dem Redaktionsstab ein Mann an, der meiner Meinung nach total unbegabt war und sich, weiß der Teufel wie, unter die Schriftsteller gemogelt hatte. Ich erinnerte mich seiner noch aus der Vorkriegszeit, von dem Ausbildungslager für Frontkorrespondenten her, wo er sich auf einmal in die Rolle unseres Gruppenführers versetzt sah und wo sein Charakter – der des Tschechowschen Unteroffiziers Prischibejew – üppige Blüten trieb. Ein schlechter und unfähiger Kerl, zudem noch gekränkt, weil er es in der Literatur zu nichts brachte, und der daher um so mehr nach Macht
gierte und nach Gelegenheiten suchte, anderen eins auszuwischen, ihnen zu schaden… Fast den ganzen Abend sprachen wir über Lewin und darüber, was da eigentlich passiert war. Doch es war schwierig, zur Wahrheit vorzudringen und der Sache auf den Grund zu kommen, obwohl Petrow dies hartnäckig versuchte. Erst an diesem Abend erfuhr ich von ihm, daß man ihn schon in Moskau im Schriftstellerverband gebeten hatte, die Angelegenheit hier zu klären und ob hier nicht jemandem Unrecht getan werde; mit der gewohnten Sorgfalt war er bemüht, diesen Auftrag zu erledigen. Mir ist nicht bekannt, was er später, wieder in Moskau, darüber sagte und schrieb, an diesem Abend jedenfalls war er äußerst erregt und mißmutig. Spätabends riefen Petrow und ich beim Mitglied des Kriegsrates der Front, Korpskommissar Sheitow, an. Er sagte uns, wir sollten am anderen Morgen früh nicht mit dem Murmansker Zug weiterfahren, er forderte uns auf, am nächsten Tag pünktlich vierzehn Uhr bei ihm zu sein, und meinte noch, er werde schon dafür sorgen, daß wir nach Murmansk weiterkämen. Am nächsten Tag empfing er uns Punkt vierzehn Uhr. In seinem Vorzimmer saß niemand, niemand wartete auf ihn, sondern er erwartete uns. Wie stets bisher und wie ich es auch später erlebte, wenn ich zusammen mit Petrow jemanden aufsuchte, begann das Gespräch mit Fragen und Überlegungen Petrows über die Gesamtlage, über die Perspektiven und die Prognosen. Sheitow war ein hochgewachsener Mann von athletischem Körperbau und dermaßen breiten Schultern,
daß der auf ihnen sitzende Kopf dieser Schultern wegen doch klein wirkte. Er trug einen Bürstenhaarschnitt; er hatte ein einfaches Gesicht mit klugen, scharfblickenden Augen. Ohne die Notwendigkeit der militärischen Geheimhaltung eigens zu betonen, erzählte er uns alles, was wir seiner Meinung nach wissen durften und sollten, ein oder zwei Fragen Petrows wies er höflich zurück und meinte abschließend, er habe uns deshalb zurückgehalten, weil er am Abend selbst nach Murmansk fahre und uns mitnehmen könne. „Wir treffen uns pünktlich zwanzig Uhr am Bahnhof“, sagte er. Auf uns machte er den Eindruck eines Mannes, der sich Exaktheit und Pünktlichkeit zur Gewohnheit gemacht hatte, eines Mannes der Tat, der für jedes seiner Worte einsteht und mit jeder Minute sorgsam umgeht. Wir verabschiedeten uns von den Genossen in der Redaktion und fanden uns um zwanzig Uhr am Bahnhof ein. Der Zug, mit dem das Mitglied des Kriegsrates der Front fuhr, bestand aus Lokomotive, Tender, Salonwagen und zwei Flachwagen mit Vierling-MGs. Pausenlos bombardierten die Deutschen die Strecke nach Murmansk, die weißen Nächte begannen, und wir mußten pünktlich abfahren, um in der dunkelsten Zeit den durch Bomben gefährdetsten Abschnitt im Kreis Kestenga durchfahren zu können. Der Zug schaukelte, er fuhr sehr schnell, wir saßen am Tisch und tranken Tee und Kognak. Sheltows ganzes Auftreten ließ Zurückhaltung spüren. Wenn es auch Kognak zum Tee gab, tranken wir jeder doch nur ein Gläschen und keinen Tropfen mehr. Das
Gespräch mit uns war weder offiziell noch unnötig vertraulich. Sheltow, vor seiner Versetzung hierher Mitglied des Kriegsrates der Fernöstlichen Front, erzählte uns, wie es ihnen dort während der Sommer- und Herbstoffensive der Deutschen ergangen war, wie die Lage infolge eines möglichen Losschlagens der Japaner einerseits äußerst alarmierend und angespannt war, wie in den kritischen Tagen vor Moskau andererseits eine Division nach der anderen abgezogen wurde, um sie hierher, nach dem Westen, zu werfen. Petrow interessierte sich für das Leben unseres Gesprächspartners. Dabei stellte sich heraus, daß Sheltow Berufsoffizier, Major war, der die Frunseakademie absolviert hatte und dann erst zur Politarbeit übergewechselt war. Seine betont straffe Haltung war unter anderem wohl eben mit dem jahrelangen Truppendienst zu erklären. Er erwähnte, daß er seinerzeit an der Akademie Bester im Mehrkampf und im Skilauf gewesen sei und bis zum heutigen Tag bei jeder Gelegenheit zeitig aufstehe und vor Dienstbeginn Ski laufe. Er erzählte dies mit der inneren Befriedigung eines Menschen, der ein leidenschaftlicher Sportler ist. Schon am Vormittag trafen wir in Murmansk ein und begaben uns zusammen mit dem Chef rückwärtiger Dienste der 14. Armee, der Sheltow abholen gekommen war, direkt vom Bahnhof zum Gefechtsstand. Unterwegs wurde mir klar, daß dort, wo wir hinfuhren, sich nicht mehr der Armeegefechtsstand befinden konnte; die wichtigsten Stabsabteilungen waren aufs jenseitige Ufer der Kolabucht verlegt
worden und lagen nun westlich Murmansk zwischen Kilometer zwanzig und dreißig an der Straße nach Petsamo. Im ehemaligen Gefechtsstand waren nur der Chef der rückwärtigen Dienste und seine Leute zurückgeblieben. Ich habe in dem Bericht meiner vorangegangenen Fahrt in den Norden diesen Gefechtsstand wohl nicht näher beschrieben. Er ließ sich überhaupt nicht ausmachen: zwei mit Tarnnetzen überzogene Stahltore führten von zwei Seiten in den Fels hinein, wo die Stabsräume lagen. Das alles erinnerte an die schmalen Gänge auf einem Schiff mit den nach beiden Seiten abgehenden Kajüten. Über einem Tor türmte sich der riesige, Dutzende von Metern messende Felsen, den selbstverständlich keine Granate und keine Bombe durchdringen konnte. Der Boden im Gang war mit Matten bedeckt, eine Entlüftung war installiert. Kurz gesagt, das Ganze erinnerte ganz und gar nicht an ein feuchtes, unterirdisches Gewölbe und gefiel Petrow über alle Maßen, der es für durchaus in Ordnung hielt, daß sich die Menschen im Rahmen des Möglichen günstige Arbeitsbedingungen schufen. Während ein Boot für die Überfahrt fertiggemacht wurde, ging Sheltow seinen dienstlichen Angelegenheiten nach. Wir hielten uns hier etwa eine Stunde auf und fuhren dann durch Murmansk zur Anlegestelle, vorbei an dem mir wohlbekannten Hotel „Arktika“. Seit meinem letzten Aufenthalt hier waren in seiner Umgebung einige Bomben eingeschlagen, eine sogar auf der Treppe, aber zu meinem Erstaunen stand das Hotel immer noch und war in Betrieb. Nach all den Bombenangriffen war das of-
fenbar verwundbarste Ziel unversehrt geblieben, und zwar das achtgeschossige Seefahrerheim. Dort hatte man uns – Knorring, Petrow und mir – ein Zimmer zugewiesen. Wir legten alles Gepäck dort ab und eilten gleich darauf zum Kai, um Sheltow einzuholen. Nach der kurzen Überfahrt von einer halben Stunde legten wir bereits am anderen Ufer der Kolabucht an. Sheltow stieg in den ersten „Emka“, wir in den zweiten, und dann bekamen wir ihn auf dieser Fahrt nicht mehr zu Gesicht. Wie es einem Wagen, der hinter einem anderen herfahren muß, oft ergeht, stotterte unser „Emka ‘ in einem fort, bis er schließlich überhaupt nichts mehr sagte. An diesem Abschnitt der Petsamoer Straße war ich bisher noch nicht gewesen. Ich habe wohl eine besondere Vorliebe für die Landschaft des Nordens, jedenfalls verblüffte sie mich nun schon zum wiederholten Male durch ihre düstere Schönheit, durch die kalte und schroffe Verbindung von Schwarz und Weiß – die schwarzen Felsen, die schwarzen Baumstämme, das im transparenten arktischen Licht fast schwarz wirkende Geäst der Nadelbäume und der weiße Schnee. Die Straße war, soweit unser „Emka“ uns gebracht hatte, nicht gerade in bestem Zustand, sie war recht mitgenommen und führte außerdem noch ununterbrochen bergauf und bergab, und an besonders steilen Stellen mußten wir hin und wieder schieben. Zweimal brausten „Messerschmitts“ über uns hinweg. Als der „Emka“ uns endgültig im Stich ließ, warteten wir eine geschlagene Stunde bei der kleinen Erdhütte eines Regulierungspostens auf einen Wagen. Die
Hütte war ein winziges Bauwerk aus Findlingen und Steinbrocken, ringsum mit Schnee beworfen. Endlich nahm uns ein „Sankra“ mit zum Armeestab. Der Stab brauchte nicht einmal besonders getarnt zu werden, denn er war auch so aus einer Entfernung von zweihundert bis dreihundert Metern nicht mehr auszumachen. An dem Berghang ließ sich schwer auseinanderhalten, was riesige graue und schwarze Findlinge waren und was die halb in den Hang hineingebauten, halb mit Schnee beworfenen und von den schmutzigen Rinnsalen der ersten Frühjahrsregen umspülten Fertighäuser und Wohnbunker des Stabs. Von meinen alten Bekannten hielt sich Dmitri Iwanowitsch Jerjomin im Stab auf, der von seinem Posten als Kommissar eines Artillerieregiments auf der Rybatschi-Halbinsel zur Armee übergewechselt war, und zwar als Kommissar des Artilleriestabs. Vor kurzem war ihm der Rotbannerorden verliehen worden, worüber er sich sehr freute, und er nahm uns alle drei – Petrow, Knorring und mich – gastfreundlich in seinem Wohnbunker auf. Zwei bekamen das Bett des vorn weilenden Artilleriechefs der Armee, Oberst Ponitkin, zugewiesen, der dritte mußte mit zusammengeschobenen Hockern vorliebnehmen. Andere Bekannte traf ich nicht – die Hochseeaufklärer lagen in Murmansk und Poljarny, und der Leiter der 7. Abteilung, Rusow, hockte mit seinem Sender vorn bei der 14. Division und „zersetzte“ von dort aus die österreichischen Gebirgsjäger. Nach kurzer Beratung beschlossen wir, uns zu trennen: Knorring fuhr zu einer Division, Petrow und ich zu einer anderen, deren gegenwärtiger Kommandeur
Generalmajor Krassilnikow war, den ich noch vom Vorjahr von der Halbinsel Sredni und von der Rybatschi-Halbinsel her kannte. Am nächsten Morgen stellte uns Jerjomin seinen „Emka“ zur Verfügung, von der Division war zugesagt, uns einen Einweiser zur Straße entgegenzuschicken; auf der Petsamoer Straße sollten wir bis zum Kilometer siebenundfünfzig fahren. Von dem Einweiser an mußten wir den Weg zu Fuß fortsetzen. Nach stundenlanger Fahrt erreichten wir wohlbehalten die Stelle, wo wir tatsächlich von einem Einweiser erwartet wurden, einem forschen jungen Starschina, der sein Hochschulstudium abgebrochen hatte. Von hier bis zum Gefechtsstand der Division lagen sieben Kilometer Fußmarsch vor uns, größtenteils bergauf. Der steile bergan führende Weg war mit Geröll bedeckt, beim kürzlichen Tauwetter war der Boden ein wenig aufgetaut, dann war wieder Schnee gefallen, und nun waren die Steine von einer glatten Eisschicht überzogen. Nach drei Stunden im immer gleichbleibenden trüben Licht des beginnenden Polartages langten wir endlich bei der Division an. Der Stab war in drei kleinen Fertighäusern untergebracht, die sich unter einem riesigen Felsen an den flachen Hang schmiegten. Der Felsen war die höchste Erhebung in der Gegend, und alle nannten ihn „Zacke“. Auf seiner Spitze befanden sich an verschiedenen Punkten die B-Stellen des Kommandeurs des Artillerieregiments und zweier Abteilungen sowie eine B-Stelle des Divisionskommandeurs. Im Stabshäuschen war es heiß, das von den Finnen erbeutete Wellblechöfchen glühte. Der Kommandeur
und der Kommissar der Division waren bei den vorn liegenden Truppen, und hier machte ein kleiner schnurrbärtiger Oberst, der Stabschef der Division, den Hausherrn. Er bediente zwei Fernsprechapparate gleichzeitig: der eine verband ihn mit den Regimentskommandeuren und mit dem zu einem der Regimenter gefahrenen Divisionskommandeur, während der andere die Verbindung zwischen dem Gefechtsstand der Division und dem Armeestab besorgte. Für ein paar Sekunden trennte sich der Oberst von den Apparaten, um uns höflich, aber sehr knapp zu begrüßen und sich gleich darauf wieder an seine Apparate zu setzen. Dieses erste Mal verbrachten wir bei der Division drei Tage, und wann immer wir an diesen drei Tagen auch das Häuschen betraten, bot sich uns das gleiche Bild: der Stabschef hockte Tag und Nacht immer in der gleichen Stellung vor den Fernsprechern oder über der Karte; nur wenn das Rasseln der Fernsprecher einmal für kurze Zeit verstummte, ließ er den Kopf auf die Karte sinken und war im Nu eingeschlafen. Und neben ihm, auch fast immer in den gleichen Stellungen, ausgenommen die Nachtstunden, wenn sie schliefen, hockten an demselben langen Tisch, der Stabstisch und Eßtisch zugleich war, der Leiter der Politabteilung der Division und der Leiter der Sonderabteilung. Die Division hatte ersichtlich kein Glück mit diesen beiden Männern. Immer, wenn wir dort waren, saßen die beiden einander untätig gegenüber und tauschten belanglose Bemerkungen aus. Sie schienen hier bloß herumzusitzen und aufs Frühstück, aufs Mittagessen oder aufs Abendessen zu warten.
Da nun der Oberst als Stabschef der Ranghöchste von ihnen und zudem ständig sehr beschäftigt war, vergaß er immer wieder, daß es Zeit zum Mittag- oder Abendessen war; die beiden wagten im Beisein des bis über den Kopf in Arbeit steckenden Mannes nicht daran zu erinnern, daß Essenszeit sei. Gelangweilt hockten sie herum und warfen dem schwer arbeitenden und die Mahlzeiten vergessenden Oberst vorwurfsvolle Blicke zu. Gegen Ende unseres Aufenthalts schien mir sogar, daß er im stillen wütend auf die beiden war und das Mittag-und Abendessen absichtlich hinauszögerte. Ohne uns hätte er wohl selbst nichts gegessen, nur um sie zu ärgern und hungern zu lassen. Schließlich sagte der eine träumerisch: „Ja, ja, schön wär’s, wenn man was zwischen die Zähne kriegte.“ – „Schön wär’s“, pflichtete der andere bei. Ihr Herumsitzen erklärten die beiden im Gespräch mit uns damit, daß alle ihre Leute unterwegs wären, daß alle dort arbeiteten, wo es notwendig sei. Das stimmte wirklich. Sowohl der Stellvertreter des Leiters der Politabteilung als auch alle Instrukteure und sämtliche Mitarbeiter der Sonderabteilung waren bei den Regimentern und Bataillonen. Diese beiden aber hatten offensichtlich weder das geringste Verlangen, die Arbeit ihrer Leute an Ort und Stelle zu kontrollieren, noch sich überhaupt von diesem Tisch wegzurühren. Ihr Anblick ließ mich jedesmal unwillkürlich lächeln, um so mehr, als im allgemeinen ein immerwährendes Herumhocken im Stab für Leute ihres Dienstgrades durchaus nicht typisch ist. Als wir einmal beide unterwegs waren, machte sich Petrow Luft und wetterte auf die beiden. Er wollte
meinen Einwand nicht gelten lassen, das sei eine Ausnahmeerscheinung und es gebe auch im Krieg Drückeberger. Petrow meinte, egal, ob das nun eine Ausnahmeerscheinung sei oder nicht, ihn packe jedenfalls die Wut, und er müsse sich nur über die Engelsgeduld des Stabschefs wundern, den sie nur störten, daß der sie noch nicht zum Teufel gejagt hätte. Eine Szene, die sich am dritten Tisch abspielte, als wir wieder einmal den Gefechtsstand aufsuchten, gab Petrow den Rest. Der Stabschef war eben mal hinausgegangen, da meldete sich ein Bataillonskommissar beim Leiter der Politabteilung; er hatte sein Bataillon gerade von der zweiten Staffel hierher geführt und berichtete nun, daß sie einen schweren Marsch hinter sich hätten, daß die Männer müde und durchgefroren seien und daß ein möglichst gutes Quartier wünschenswert sei, damit sie sich aufwärmen könnten. Zu unserer Verwunderung putzte ihn der Leiter der Politabteilung herunter: „Was Sie für einen Marsch hinter sich haben und daß Sie sich aufwärmen und verpflegen müssen, haben Sie bei der Truppenführung vorzubringen! Damit soll sich gefälligst Ihr Regimentskommandeur befassen! Sagen Sie mir lieber, warum ich schon seit drei Tagen keine Politberichte mehr von Ihnen erhalten habe! Warum Sie das Berichtswesen vernachlässigen!“ Der Bataillonskommissar wollte erklären, auf einem langen Marsch hätte er sich vor allem darum zu kümmern, daß sich die Männer aufwärmen könnten und etwas zu essen bekämen, was er auch getan habe. Der Leiter der Politabteilung aber brüllte ihn an, er
dulde es nicht, daß die Politarbeit irgend jemandem überlassen werde, daß es nicht Sache des Kommissars sei, sich um die Verpflegung zu kümmern, daß er kein Quartiermacher sei… Vor unseren Augen spielte sich das Schlimmste ab, was man sich bei der Armee nur vorstellen kann: Ein Formalist, dem nur an der Wahrung der äußeren Formen gelegen war und dessen größte Sorge es war, daß er jetzt von seinen Vorgesetzten wegen nicht fristgemäßer Ablieferung der Berichte eines auf den Deckel bekommen könnte, fiel über einen guten und klugen Politarbeiter her, dessen erstes Anliegen es gewesen war, unter schwierigen Kriegsbedingungen den Männern das Leben wenigstens ein bißchen zu erleichtern, damit sie in guter Verfassung kämpfen konnten. Als der Bataillonskommissar gegangen war, entschloß sich Petrow, der innerlich kochte, dem Formalisten, der den ihm Unterstellten so angeschrien hatte, die Hölle heiß zu machen, und ließ sich gallig darüber aus, was er von Formalisten, Bürokraten und Beamtenseelen schlechthin halte. Petrow aber hatte seinen Gesprächspartner noch überschätzt. Ein etwas weniger selbstgefälliger Mann hätte begriffen, daß Petrows Tiraden an seine Adresse gerichtet waren. Dieser aber bekam überhaupt nichts mit, es ging an seinen Ohren vorbei, und Petrows Geschoß traf ins Leere. Nur schwer ist die richtige zeitliche Reihenfolge einzuhalten. Ich erinnere mich noch, daß wir die ersten Tage im Gefechtsstand der Division herumsaßen, um uns mit der Lage vertraut zu machen und Einzelheiten der in diesem Abschnitt nun schon sechs oder sieben Tage anhaltenden Offensive festzuhalten.
Ihr Ziel bestand darin, die österreichischen Gebirgsjäger von mehreren beherrschenden Höhen zurückzuwerfen, ans Ufer der Sapadnaja Liza vorzustoßen, um einen Abschnitt einzunehmen, von dem aus später die Offensive weiterentwickelt werden könnte. In diesen sieben Tagen war es auch gelungen, einige Höhen zu nehmen und auf einer Höhe ein Gebirgsjägerbataillon einzuschließen. Nach den Meldungen General Krassilnikows zu urteilen, der sich bei dem Regiment aufhielt, das die Gebirgsjäger eingeschlossen hatte, näherte sich die Aktion dem Ende. Doch ein starker Schneesturm zögerte die endgültige Zerschlagung der Gebirgsjäger hinaus. Wir setzten uns mit Krassilnikow in Verbindung und baten um einen Begleiter, der uns zu ihm führen könne. Bei dem derzeitigen Schneesturm lehnte er einen Begleiter ab. Morgen werde man weitersehen. Daneben gewann ich aus dem Telefongespräch den Eindruck, Krassilnikow wollte vor dem Gespräch mit Korrespondenten erst einmal die hinausgezögerte Liquidierung des Gebirgsjägerbataillons abschließen. Der Schneesturm dauerte die ganze Nacht. Uns kam er sehr stark vor, aber die Alteingesessenen hielten das für kleine Fische, verglichen mit den sonstigen Schneestürmen. Am nächsten Morgen kam Oberst Ponitkin, der Chef Artillerie der Armee, in den Gefechtsstand. Hier, zwischen Fels und Schnee, trugen die Männer alles mögliche: Wattejacken, Fallschirmspringerjacken, Halbpelze, die einen liefen in Filzstiefeln herum, andere in erbeuteten Gebirgsjägerschnürstiefeln. Oberst Ponitkin war korrekt gekleidet – Chromle-
derstiefel, einen neuen Mantel aus gutem Tuch, umgürtet von Koppel und neuem Schulterriemen, erstklassiges Kartenbrett, Meldetasche und Pistole in einer piekfeinen funkelnagelneuen Pistolentasche. Auf seinem Kopf saß eine fesche Artilleristenschirmmütze, und in der Hand trug er eine funkelnagelneue Lederaktentasche. So trat er in den Gefechtsstand, und in genau dem gleichen Aufzug machte er sich mit uns auf zur Artillerie-B-Stelle. Er kraxelte vor uns den eisglatten, vom Schnee verwehten Pfad auf den Felsen hinauf, sich mit einer Hand an Wurzeln und Steinen festhaltend, um nicht abzurutschen, mit der anderen nach wie vor seine Aktentasche umfassend. Nach etwa vierzig Minuten waren wir schließlich oben, und während dieser Zeit hatte der Schneesturm nachgelassen. Ponitkin, der sich nach dem Erklimmen der B-Stelle über die plötzlich eingetretene gute Sicht freute, zeigte uns unverzüglich das ganze Gefechtspanorama, unsere Stellung, die Stellung der Deutschen und das System der Feuerführung. Eigentlich konnte man das Ganze nur sehr bedingt als „Gefechtspanorama“ bezeichnen. Von der hohen Bergkuppe aus, auf der wir standen, konnte man durch das immer noch anhaltende leichte Schneetreiben vorn sowie links und rechts von uns felsige Hügel erkennen. Sie alle waren verschneit, alle waren mit niedrigem, aber dichtem Wald bestanden, und nur bei scharfem Hinsehen konnte man dort, wo ein Hügel in den nächsten überging, in den Senken und Kluften, fädchendünne Pfade ausmachen. Das eingeschlossene Gebirgsjägerbataillon lag links
von uns auf einem kleinen Hügel, der durch zwei andere Hügel verdeckt war und der deshalb von hier nicht zu sehen war. Ponitkin aber erachtete es trotzdem für notwendig, uns seine Lage zu zeigen. Andere Stellungen der Österreicher lagen in einer Entfernung von etwa zwei Kilometern direkt vor uns. Ponitkin zeigte uns die von uns genommenen Feuernester und Unterstände auf den Hügeln, die Stellen, wo sich unsere Infanterie vor erneuten Angriffen eingegraben hatte, wie auch die Unterstände und Feuernester der Österreicher, die noch genommen werden mußten. Lange Zeit besah ich mir das alles durchs Fernglas und auch durchs Scherenfernrohr und war mir, ehrlich gesagt, nicht immer sicher, auch wirklich das zu sehen, was er mir so ausführlich erklärte. Das heißt, ich sah schon etwas, und irgendwelche von diesen grauen Flecken, die ich durchs Scherenfernrohr und durchs Fernglas sah, waren sicherlich von uns bereits genommene oder nicht genommene Feuernester und Unterstände. Aber im Unterschied zu Ponitkin konnte ich nicht auseinanderhalten, welches die einen und welches die anderen waren, wenn ich auch, um den Oberst nicht zu verärgern, immer wieder sagte: „Ja, jaja, natürlich, ich sehe es.“ Als er an einer Stelle plötzlich von einem Unterstand zum anderen laufende Österreicher ausmachte, erschien mir diese Sehschärfe ganz und gar phantastisch. Nicht einen Augenblick zweifelte ich daran, daß Ponitkin das alles wirklich sah, aber ich mit meinem ungeübten Auge konnte nichts unterscheiden, um so mehr, als das immer noch anhaltende leichte Schneetreiben die Sicht doch arg behinderte.
In der B-Stelle hielten wir uns längere Zeit auf… Ich habe anfangs zu erwähnen vergessen, daß Ponitkin von Major Ryklis begrüßt wurde, den ich noch von der Rybatschi-Halbinsel her kannte; er war inzwischen Oberstleutnant geworden und führte hier ein Artillerieregiment, eben jenes, dessen B-Stelle sich auf der Bergkuppe befand. Nachdem uns Ponitkin in die Lage eingewiesen und uns durchs Fernglas und Scherenfernrohr alles Sehenswerte gezeigt hatte, gab er sich nicht länger mit uns ab und wandte sich Ryklis zu. Während unseres Aufenthaltes auf der Höhe feuerte das Regiment batterieweise. Manchmal sahen wir die Einschläge unserer Granaten mitten zwischen den grauen Flecken der Steine und Unterstände, manchmal nahm die Artillerie über die Bergkuppen hinweg jene unsichtbaren Senken unter Feuer, wo man eine Ansammlung des Gegners vermutete oder beobachtet hatte. Die dorthin vorgeschobenen Artilleriebeobachter standen in Funkverbindung mit der B-Stelle. Nach etwa dreistündigem, methodisch geführtem Feuer stieg hinter einer der Bergkuppen eine schwarze Qualmsäule zum Himmel. Ponitkin und Ryklis hatten sich darüber ausgetauscht und meinten erfreut, das könne nur der Brand sein eines von den Österreichern getarnt an einer Straße angelegten Treibstofflagers, das wir bislang nicht hätten erwischen können. Damit reißen die erhalten gebliebenen Aufzeichnungen über diese Fahrt ab. Ich hatte noch ein mit der Maschine geschriebenes
Heft aus der Kriegszeit besessen, das bis Juli 1942 reichte. Aber so sehr ich es nach dem Krieg auch suchte, ich konnte es nicht finden. In diesem verlorengegangenen Heft war neben vielem anderen auch meine einmonatige Fahrt mit Jewgeni Petrow und Knorring in den Norden eingetragen. Die „Krasnaja Swesda“ brachte fünf von dort übermittelte oder hinterher in Moskau geschriebene Reportagen von mir. An dem Tag, der auf jenen folgte, an dem meine Aufzeichnungen abreißen, hockten wir abermals lange in der B-Stelle bei den Artilleristen, am nächsten Tag aber gingen wir zu einem der Schützenregimenter, statteten den Aufklärern in der Aufklärungskompanie einen Besuch ab und sprachen dort mit soeben geschnappten Österreichern, die dem dort eingesetzten Gebirgskorps unter General Dietl angehört hatten. Später hielten wir uns bei den im Murmansker Frontabschnitt speziell aufgestellten Sanitätseinheiten auf, bei denen Nenzen als Rengespannfahrer aufopferungsvoll arbeiteten und die Verwundeten von den gefährdetsten Stellen, wo die geringste Bewegung das gegnerische Feuer auslöste, auf Renschlitten abtransportierten. In Murmansk besuchten wir die Jagdfliegerregimenter, die die Stadt verteidigten. Über einen unserer Jagdflieger, über Aljoscha Chlobystow, der einen doppelten Rammstoß unternahm, brachte die „Krasnaja Swesda“ eine Reportage von mir unter dem Titel „Ein russisches Herz“. Später waren wir in Poljarny auf eben vom Einsatz zurückgekehrten U-Booten.
Wir trafen mit amerikanischen Seeleuten zusammen, die damals mit dem letzten Geleitzug in Murmansk eingetroffen waren. Das alles zähle ich auf, um eine allgemeine Vorstellung von dieser Frontfahrt zu vermitteln, der letzten, von der Petrow lebend zurückkehrte. Während dieser Fahrt erhielt ich aus Moskau von der Redaktion die Mitteilung, daß ich mit dem Rotbannerorden ausgezeichnet worden sei. Auch diese Freude teilte Petrow, ein Mensch, der sich für Freunde mehr freuen konnte als für sich selbst, mit mir in dem Wohnbunker bei dem gastfreundlichen Dmitri Iwanowitsch Jerjomin. Damals, im Krieg, ergab es sich ganz von selbst, daß wir in diesem oder jenem vor allem unseren Frontkameraden sahen und ihn vor allem von dieser Seite her einschätzten. Genauso ging es mir damals auch mit Petrow. Heute jedoch, da seit seinem Tod mehr als dreißig Jahre vergangen sind, seit dem Erscheinen seiner und Ilfs Romane „Zwölf Stühle“ und „Die Jagd nach der Million“ mehr als vierzig, da der Schriftsteller Ilf – Petrow in meinem Bewußtsein längst zu einem Klassiker der sowjetischen Literatur geworden ist, sieht man die Vergangenheit doch in einem anderen Licht. Und ich möchte alles in dieses Buch aufnehmen, was für mich mit dem Andenken an Jewgeni Petrow verknüpft ist. Im Juli 1942, kurz nach seinem Tod, schrieb ich meine Erinnerungen über ihn. Obwohl sie schon damals, während des Krieges, veröffentlicht wurden, möchte ich hier doch jene Stellen aus diesen Erinnerungen bringen, die nicht bereits Gesagtes wie-
derholen. Nirgends lernt man einen Menschen so schnell und so gut kennen wie an der Front. Und nicht genug damit, vor allem lernst du ihn richtig kennen, so, wie er wirklich ist. Im Zug nach Archangelsk. Auf einer Station erblickt Jewgeni Petrowitsch zufällig einen gleichfalls an die Karelische Front fahrenden Bekannten. Schon nach einer halben Stunde hat er den Bekannten in unseren Wagen bugsiert, weitere fünf Minuten später sitzt er bei uns im Abteil, er ist fröhlich und guter Dinge und macht sich zusammen mit Petrow lachend daran, dies und das an seinen Sachen zu flicken. Nach einem Tag fährt unser Zug in der Station ein, wo Petrows Bekannter aussteigen muß. Wald, ein kleiner Bahnsteig, und die Aussicht, hier vierundzwanzig Stunden auf den Zug warten zu müssen, der ihn weiterbringt. Unser Reiseziel ist Archangelsk. Mit betrübter Miene verabschiedet sich Petrows Bekannter von uns, nur ungern steigt er an dieser Station aus, wo er keine Menschenseele kennt. Ich verabschiede mich im Wagen von ihm. Petrow aber steigt mit aus und bleibt bis zur Abfahrt des Zuges bei seinem Bekannten auf dem Bahnsteig stehen, dann springt er aufs Trittbrett und winkt ihm noch lange mit der Mütze. Wir fahren zusammen weiter, jener aber bleibt allein zurück, und Petrow möchte nicht, daß er sich allzu unglücklich vorkommt. Archangelsk. Wir warten auf das nächste Beförderungsmittel und müssen uns deshalb einen Tag hier
aufhalten. Am Abend gehen wir durch die Stadt. Die Straßen sind schmutzig, vernachlässigt. Der Kai ist der reinste Müllabladeplatz. Wir werden morgen an die Front fahren, und man sollte meinen, die Archangelsker Kommunalwirtschaft gehe uns nichts an. Für Jewgeni aber gibt es kein anderes Thema. Er ist wütend. Er mag diese Stadt im Norden sehr, und deshalb bringen ihn die Unordnung und der Schmutz so in Rage. Es wäre doch ein leichtes, sagt er, das ganze Zeug wegzuräumen und den Kai in einen ordentlichen Zustand zu versetzen. Einen ganzen Häuserblock gehen wir stumm nebeneinander her. Wie sich später herausstellt, hat Petrow in dieser Zeit darüber nachgedacht, wie man die Stadt in Ordnung bringen könnte, und dann entwickelt er uns einen Maßnahmeplan. Plötzlich fragt er: „Was meint ihr, ob wir morgen schon in aller Frühe losfahren?“ Ich antworte, es könne auch Abend werden. „Wenn wir erst am Abend fahren“, meint Petrow, „schreibe ich rasch noch ein Feuilleton für die hiesige Zeitung.“ Er sagt nicht, er werde es „unbedingt“ schreiben, wie wir das gewöhnlich so sagen. Er sagt einfach „ich schreibe“, und das heißt bei ihm unbedingt. Das Feuilleton ist in Gedanken fertig, der Termin für den Gang zur Zeitung steht fest. Doch es wird nur deshalb nichts daraus, weil wir schon im Morgengrauen losfahren. „Falls wir auf der Rückfahrt über Archangelsk kommen“, sagt Petrow, „schreibe ich das noch.“ In dem jetzt leeren Wagen für die Schwerverwundeten, in dem wir an die Front fahren, bittet Petrow den
Schaffner, eines der Betten herunterzuklappen, dann legt er sich darauf und probiert es aus. „Sehr bequem ist das nicht gerade, der Kopf liegt zu tief.“ Der Schaffner zeigt, wie das Kopfende angehoben werden kann. „Kann man auch nicht herausfallen?“ Der Schaffner führt die Vorrichtung vor, die das verhindert. Petrow sieht ihm aufmerksam zu und stellt noch ein paar Fragen, die die Bequemlichkeit für die Verwundeten betreffen. Dann sagt er zufrieden: „Ein prima Wagen, sehr bequem.“ Ihm gefällt der Wagen in dem alles so sinnvoll eingerichtet ist, daß es nichts zu bemängeln gibt. Auf der Station, wo wir umsteigen müssen, verbringen wir ein paar Stunden bei der Frontzeitung. Der Dichter Kowalenkow ist nun schon den zwölften Monat an diesem entlegenen Frontabschnitt tätig, ohne auch nur einmal nach Hause gefahren zu sein. Kowalenkow beklagt sich nicht, aber Petrow fühlt: Dieser Mann leidet darunter, daß seine Gedichte Moskau nicht erreichen und einige von ihnen, die nicht für die Zeitung geschrieben sind, nur in der Schublade liegen. Petrow fordert ihn auf, uns seine Gedichte sofort vorzulesen, und er vereinbart mit ihm die Edition eines Gedichtbändchens in der Kleinen Bibliothek des „Ogonjok“. Murmansk. Eine Frontstraße. Wir sitzen in der winzigen Erdhütte eines Regulierungspostens. Ein Telephonist meldet nach vorn und nach hinten die Anzahl der vorbeigekommenen Fahrzeuge. Mit Hilfe einer simplen Vorrichtung – eines Gummibands – hat er den Hörer so geschickt am Kopf befestigt, daß er
beim Sprechen die Hände für die Notizen frei hat. Das imponiert Petrow sehr. „Der ist in Ordnung“, sagt er beim Hinausgehen. „Eine Kleinigkeit nur, aber welche Arbeitserleichterung. Ach, wie oft fehlt’s bei uns gerade an so einem bißchen Erfindungsgeist!“ Wir kraxeln einen Berg hinauf. Unser Begleiter und ich sind leicht gekleidet, wir tragen Wattesachen. Petrow hat seinen Mantel an. Er schleppt eine Meldetasche, vollgepackt mit notwendigen Dingen, und eine Feldflasche. Beim Aufstieg kommt er außer Atem – sein Herz ist nicht ganz in Ordnung. Der Begleiter und ich bitten ihn, uns Flasche und Tasche zu geben. Doch vergebens. Keuchend und pustend langt Petrow oben an und sagt, nach Atem ringend, aber triumphierend: „Geschafft und nicht schlappgemacht. Bin es eben von der Westfront gewohnt, jeden Schritt zu fahren!“ Petrow ist ein penibler und für seine Aufgabe begeisterter Mann. Er mag korrekte Menschen, deren Wort gilt, und jenen besonderen Eifer, den die Liebe der Menschen zu ihrem Beruf, zu ihrer Waffengattung mit sich bringt. Er ist begeistert von dem Artilleriechef, einem älteren Oberst, der zur B-Stelle hinaufkraxelt und sorglich seine Aktentasche mitschleppt. Sie behindert ihn unterwegs, aber wenn uns dann der Oberst oben in die Lage einweist, sehen die von ihm säuberlich in der Aktentasche transportierten Karten aus wie neu. Ihre Eintragungen sind so exakt und ordentlich, als sollten sie bei der Prüfung im Kartenzeichnen vorgelegt werden.
Anderentags auf der gleichen B-Stelle. Der Regimentskommandeur korrigiert das Feuer mehrerer Batterien, und ab und an tritt er uns sein Fernglas ab. Ich finde mich leider nicht zurecht und laß mich nicht in Einzelheiten ein. Petrow aber wiederholt solange gewissenhaft und starrköpfig „Ich sehe nichts“, bis er im Blickfeld des Fernglases eben das winzige Pünktchen hat, auf das der Regimentskommandeur seine Aufmerksamkeit lenkt. Mitten in dieser Beschäftigung eröffnet eine deutsche Batterie, die die B-Stelle angeschnitten hat, das Feuer auf uns. Die Bergkuppe ist wie ein Tisch. Die B-Stelle besteht aus einer halbrunden niedrigen Mauer, aus Steinen bis zur Gürtelhöhe aufgetürmt, und ist von oben nicht abgedeckt. Die Granaten schlagen in nächster Nähe bald vor, bald hinter uns ein. Der Regimentskommandeur bemüht sich, die deutsche Batterie zum Schweigen zu bringen, doch vergeblich. Da rät er uns, nach unten zu gehen. „Wozu sind wir dann erst hergekommen?“ sagte Petrow. „Doch wohl gerade deswegen.“ In seinen Augen liegt der gleiche verwegene Ausdruck wie in den Augen des Regimentskommandeurs. In diesem Augenblick fühlt sich Petrow als Artillerist. Für ihn ist das Artillerieduell so interessant, daß er sich nicht wegrühren kann. Der Kommandeur kümmert sich nicht weiter um uns, sondern widmet sich der deutschen Batterie. Er will sie um jeden Preis ausschalten. Die Granaten schlagen nach wie vor rings um uns ein. Das Duell hat Petrow gepackt; und er will das System durchaus begreifen, nach dem der Regimentskommandeur das
Feuer korrigiert. Da Petrow die Vorgänge unbedingt begreifen will, fragt er den Regimentskommandeur ein paarmal etwas, doch dann bezähmt er sich, weil er ihn nicht bei seiner Arbeit stören will. Als zwei Granaten in unmittelbarer Nähe vor und hinter uns einschlagen, sagt der Beobachter, ein phlegmatischer Ukrainer, lässig: „Die haben uns eingegabelt. Eine vorn, eine hinten. Die nächste kriegen wir genau auf die Rübe.“ Petrow lacht und schreit mir ins Ohr: „Komisch, aber diese Art weiszusagen hat was ungemein Beruhigendes! Oder etwa nicht?“ Ihm gefällt die Seelenruhe des Ukrainers. Das Duell geht weiter. Nach einer neuerlichen Salve unserer Batterien lauscht der Regimentskommandeur gespannt, dann sagt er, die Deutschen meinend: „Die sagen keinen Piep mehr.“ Aber die Deutschen feuern die nächste Granate ab. Das wiederholt sich ein paarmal. In einer Feuerpause lacht Petrow. „Warum lachen Sie?“ frag ich. „Erzähl ich später.“ Endlich ist die deutsche Batterie zum Schweigen gebracht. Wir steigen vom Berg herab, gehen ins Zelt des Regimentskommandeurs. „Wissen Sie, warum ich gelacht habe?“ sagt Petrow. „Aber Sie dürfen nicht beleidigt sein, Genosse Oberstleutnant. In einer der Feuerpausen ist mir eingefallen, wie wir als kleine Jungs Abschlagen gespielt haben. Wir mußten einen abschlagen und dabei schreien: .Letzter!’ Ihr Artillerieduell hatte etwas von diesem Kinderspiel an sich.“ Im heftigen Schneesturm machen wir uns auf den Rückweg. Unterwegs legen wir hier und dort eine
längere Rast ein. Petrow nutzt diese Zeit für ein Gespräch mit den Männern und versucht, in die Einzelheiten des Frontlebens einzudringen. „Sie haben ja keine Ahnung, wie interessant das alles ist“, sagt er zu mir, als wir endlich an Ort und Stelle sind. „Sie gehen manchmal am Interessantesten vorbei. Der Redaktion kann man vorher ruhig versprechen, man wolle dieses und jenes schreiben. Sich selbst aber darf man das nie versprechen! Wenn Sie irgendwohin aufbrechen, können Sie vorher nie sagen, was Sie sehen werden und worüber Sie werden schreiben können. Anderenfalls fahren Sie mit einem zurechtgelegten Interessenkreis los und verpassen vieles, was außerordentlich wichtig ist!“ Für ihn ist Gleichgültigkeit ein unbekannter Begriff, und er kann in Fahrt kommen, wenn einer seine Meinung nicht teilt. Hält er etwas für richtig, so will er den Gesprächspartner unbedingt von seiner Sache überzeugen. Damit nicht genug, er will erreichen, daß sein Gesprächspartner später selber alles so macht, wie man es nach Petrows Meinung machen müßte. Es ärgert ihn, wenn Menschen, die ihm eigentlich gleichgültig sein könnten, etwas nicht so tun, wie es getan werden müßte. Und dies im Grunde darum, weil ihm kein einziger Mensch, mit dem er in Berührung kommt, gleichgültig ist. Auf dem Rückweg von der Hauptverteidigungslinie fängt er mit Knorring heftig an zu diskutieren. „Sagen Sie mir bloß mal, warum Sie im Krieg nur den Krieg photographieren und nicht das Leben festhalten?“ schreit Petrow. „Warum nur? Schließlich kämpfen die Männer nicht nur, sie leben auch.“
Knorring antwortet, unsere Redaktion veröffentliche nicht gern aus dem Krieg mitgebrachte Aufnahmen des Alltagslebens. „Und Sie selber möchten welche machen?“ fragt Petrow. „Ja.“ „Dann beweisen Sie, daß das richtig ist. Es ist Ihre Pflicht. Und wenn die ,Krasnaja Swesda’ die Photos nicht bringt, bringe ich sie bei mir im ,Ogonjok’. Eine ganze Seite, nein, zwei ganze Bildseiten über den Kriegsalltag! Geben Sie Ihr Einverständnis dazu! Ich weiß, warum Sie den Alltag nicht aufnehmen wollen! Sie fürchten, wenn Sie zu viele Aufnahmen über den Alltag bringen, könnte man sagen, Sie hätten in der Etappe rumgehockt. Aber das ganze Gerede sollte Ihnen egal sein! Sie müssen Ihre Arbeit machen. Wenn ich zurückkomme, schreibe ich einen speziellen Artikel über den Kriegsalltag. Sollen die doch von mir denken, was sie wollen! Der Oberst, bei dem wir vorhin den Schneesturm abgewartet haben, ist ein prächtiger Mann und bestimmt auch ein guter Soldat“, wandte sich Petrow an mich. „Sie haben sich dort gelangweilt, für mich aber war es sehr interessant, ihn zu beobachten. Anfangs war er allein da, dann sind hohe Vorgesetzte zu ihm gekommen. Stimmt’s? Und als die dann abgefahren sind, war er wieder allein.“ „Was soll daran interessant sein?“ „Interessant ist, daß er sich den ganzen Tag – bevor die Vorgesetzten kamen, als sie da waren und auch, als sie dann wieder weg waren – immer gleich verhalten hat. Er war nicht aufgeregt, als er sie erwartete, hat sich nicht überschlagen, als er sie begrüßte, und hat auch nicht erleichtert aufgeatmet, als er sie ver-
abschiedete. Also hat er das Gefühl der eigenen Würde. Er ist von seinem Tun überzeugt. Warum sollte er sich wegen irgend etwas oder vor irgend jemandem aufregen. Das ist gut so. Das verstehen nicht alle, und darüber muß man schreiben… Sie aber haben da rumgesessen und sich gelangweilt und darauf gewartet, daß wir endlich weiterfahren können. Das ist falsch. Sie pflichten mir doch bei?“ Der Krieg beschäftigt sein ganzes Denken, er spricht gern über ihn. Aber eben über ihn, und nicht über sich selbst im Krieg. Er weiß sehr gut, daß sich seine Gesprächspartner genau wie er schon in brenzligen Situationen befanden und das Gefühl sowohl des Muts als auch der Angst kennen. Erzählt er vom Krieg, sagt er nie „Ich ging vor“, „Wir lagen im Feuer“ oder „Da schlug ganz in der Nähe eine Granate ein!“. Er spricht nur über das, was alle interessiert. Meist erzählt er spannende, lustige und komische Geschichten. Tat einer unserer Weggenossen, ein guter und tapferer Kerl, ein bißchen zuviel des Guten mit Berichten darüber, wie sie vorgingen, wie sie im Feuerhagel lagen, hebt Petrow in komischem Entsetzen die Hände: „Schon wieder Kriegsgeschichten!“ und lächelt dazu verschmitzt, ohne zu beleidigen. Überhaupt verhält er sich Menschen gegenüber ausgesprochen feinfühlig. Unmittelbar vor unserer Rückreise aus dem Norden kommen wir zu einem Stützpunkt der U-Boot-Flotte. Eines der „Miniboote“ ist gerade von einem erfolgreichen, aber schwierigen Einsatz zurückgekehrt. Unterwasserbomben sind in seiner unmittelbaren Nähe detoniert, und sein Körper weist zahlreiche Dellen auf. Wie bei
den U-Boot-Männern Tradition, wird nach dem Einlaufen der Brigadekommandeur aufs Boot eingeladen, und mit ihm auch Petrow und ich. Es gibt ein auf die Schnelle zubereitetes Abendessen aus dem vom Einsatz übriggebliebenen Proviant. Blechbecher mit Wodka und Konservenbüchsen wandern von Hand zu Hand. Wir sitzen dicht beieinander. In dem Gedränge stößt jemand den Becher um, scheppernd fällt er zu Boden. Die U-Boot-Männer am Tisch zucken zusammen. Das ist ein Reflex. Eben erst haben sie stundenlang das Dröhnen der Detonationen vernommen, sie sind grenzenlos erschöpft und können sich vor Müdigkeit kaum auf den Beinen halten. Nach dem Abendessen schleppt ein junger E-Maschinist Petrow mit in seine Abteilung. Nach der enormen Anspannung haben die hundert Gramm Wodka bei ihm ihre Wirkung hinterlassen, und mit dem Eigensinn eines Beschwipsten besteht er darauf, daß Petrow unbedingt jede einzelne Delle in seiner Abteilung befühlt. Petrow folgt ihm gutmütig und befühlt die Dellen, sich immer wieder an verschiedenen Geräten und Apparaten stoßend. Das dauert eine ganze Weile, und ich will ihn erlösen. „Gedulden Sie sich, ich habe sie noch nicht alle gesehen“, sagt er ärgerlich und kriecht mit dem E-Maschinisten noch eine weitere Viertelstunde herum. Als wir wieder an Land gehen, meint Petrow zu mir: „Wieso kapieren Sie das nicht? Der Junge wollte mir zu gern alle seine Dellen vorführen. Ich habe begriffen, was die in diesen schweren Tagen durchgemacht haben. Wie hätte ich ihn da drängeln können?“
Menschlich gesehen hatte Petrow recht und nicht ich. Wir fliegen durch die helle Polarnacht von Murmansk zurück nach Moskau. Fünfhundert Kilometer fliegt das Flugzeug an der Frontlinie entlang. Zuerst döst Petrow vor sich hin, dann aber leiht er sich von mir das Dickens-Bändchen „Nicholas Nickleby“, macht es sich bequem und liest ganz hingerissen. Wir landen wohlbehalten. Im Juni kommt Petrow in mein Zimmer im Hotel „Moskwa“ und sagt, voraussichtlich werde er am nächsten Morgen nach Sewastopol fliegen. Ob ich nicht einen Regenmantel hätte. Ich gebe ihm meinen Mantel. Er probiert ihn an und schmunzelt. „Wenn Sie mir garantieren, daß ich unversehrt zurückkomme, garantier ich die Unversehrtheit Ihres Mantels. Erwarten Sie also uns beide zurück oder keinen von uns.“ Das ist das letzte, was ich von ihm höre, und das letzte Lächeln, das ich auf seinem klugen, verschmitzten Gesicht sehe… Nach Petrows Tod erhielt ich in Abständen Briefe von Menschen die während der Fahrt in den Norden mit ihm zusammengetroffen waren. Noch im Krieg trafen welche ein und auch noch viele Jahre danach. Hier zwei Auszüge aus diesen Briefen: „Es war auf dem Berg Pila innerhalb der kleinen Steinmauer, meiner sogenannten B-Stelle. Sie waren da und Jewgeni Petrow. Ich habe ihn und Sie immer wieder gebeten, hinunterzugehen, wo es sicherer war. Aber weder er noch Sie kamen dieser Aufforderung nach. Der Deutsche aber war wie rasend und hatte uns dicht eingegabelt. Ich erinnere mich noch an den Geruch des Pulverqualms. Sie sagten damals, Sie
schnupperten ihn zum erstenmal aus dieser Nähe. Und dann die Nacht in dem mit Schnee beworfenen Jurtenzelt am Fuße des Pila. Petrow, Sie und ich stießen mit Zünderhütchen auf meine zwanzigjährige Dienstzeit in der Armee an…“ So erinnerte sich der Kommandeur des Artillerieregiments Jefim Samsonowitsch Ryklis an das Zusammentreffen mit Jewgeni Petrow. „Ich habe Dich und Jewgeni Petrow unverzüglich in meinen Wohnbunker eingeladen und mich unterwegs bei Euch entschuldigt, daß ich, obwohl ich jetzt einen hohen Dienstgrad hätte, nur über eine unansehnliche Erdhütte verfüge, es wäre nicht so wie auf der Rybatschi-Halbinsel, und ich könnte Euch nicht so bewirten wie dort. In der Erdhütte war es recht eng. Von der Decke tropfte es herab. Meine Ordonnanz war ungemein erfinderisch. Sie hängte Konservenbüchsen unter jede Tropfstelle, damit es den Gästen nicht in den Kragen tropfte. Jewgeni Petrow bat mich, für ihn eine Schreibmaschine aufzutreiben. Ich erfüllte seine Bitte. Er wollte das bereits gesammelte Material von den Truppenteilen ins Reine schreiben. Außerdem schrieb er wohl über die Rentierskiläuferbrigaden. Das war etwas Neues jenseits des Polarkreises und damals einfach unersetzlich. Er überschrieb seine Erzählung ,Rentiere in Hosen’. Und auch daran kann ich mich gut erinnern. Während er schrieb, kümmerten wir beide uns um den Haushalt, das heißt, wir bereiteten das Abendessen vor. Und als es fertig war, hatten wir aus zwei Koffern einen primitiven Tisch gebaut – einen hochkant und den anderen als Tischplatte darüber. Darauf stellten wir zwei Blechbecher
und eine Konservenbüchse. Da platzte Oberst Rusow herein, der sehr bekümmert war, weil ihm unterwegs eine Flasche Sprit entzweigegangen war. Wir sagten ihm, er solle das Geschrei lassen, wir würden schon für seine Gesundheit sorgen und seine Füße wieder warm kriegen, die, wie er sich beklagte, beim Waten durch den tiefen Schnee pitschnaß geworden seien. Ja, das waren riesige Verwehungen! Als wir die Trinkgefäße füllten, schenktest Du Rusow heimlich Wasser statt Sprit ein. Rusow, der es in einem Zug runterkippte, weil sich Sprit ja gar nicht anders trinken läßt, verzog das Gesicht, so daß Jewgeni Petrow ganz betroffen war, Dich wegen dieses groben Scherzes sogar beschimpfte und ihm sofort das richtige Zeug einschenkte. Ja, so war das, lieber Kostja! Jewgeni Petrow gefiel mir sehr, weil er so diszipliniert und ernsthaft war. Er war einfach ein feiner Kerl…“ Das ist aus einem Brief von Dmitri Iwanowitsch Jerjomin, Kommissar des Artilleriestabs der 14. Armee. An diesen Briefen ist eigentlich nichts Besonderes, gute Menschen gedachten einfach eines guten Menschen – Jewgeni Petrows. Sie gedachten seiner wie noch viele andere. Ortenberg hätte es sehr gern gesehen, wenn Petrow ständig für unsere „Krasnaja Swesda“ arbeitete, und er war fest überzeugt, früher oder später werde es dazu kommen. Jedenfalls flog Petrow mit einem Dienstreiseauftrag von uns auf seine letzte Dienstreise. Er hatte folgenden Wortlaut: „An den Sonderkorrespondenten der ,Krasnaja
Swesda’, Schriftsteller Jewgeni Petrowitsch Petrow (Katajew). Nach Erhalt dieses Schreibens haben Sie sich auf Dienstreise an die Nordkaukasusfront in die Stadt Sewastopol zu begeben, um dort Aufträge der Redaktion zu erledigen. Nach Erledigung der Aufträge haben Sie nach Moskau zurückzukehren….“ Petrow kehrte nicht nach Moskau zurück. Das Flugzeug, mit dem er zurückflog, prallte zwischen Rostow und Millerowo im Tiefflug gegen einen Hügel. Nicht alle Insassen kamen dabei ums Leben, aber Petrow gehörte zu den Toten. Die „Krasnaja Swesda“ brachte seinen letzten Artikel über Sewastopol, dessen Rohfassung wir in seiner Kartentasche gefunden hatten. Der letzte Absatz dieses letzten Artikels von Petrow lautete: „Die Deutschen hatten zu einer List gegriffen. Sie verkündeten unüberhörbar, Sewastopol wäre eine uneinnehmbare Festung. Also war es an der Zeit, diese Frage zu klären. Der Hochseestützpunkt Sewastopol ist leider niemals eine Landfestung gewesen. Darin unterscheidet sich Sewastopol in nichts von, sagen wir, Singapur. Wir hatten den 21. Tag des Sturmangriffs. Es fiel immer schwerer, sich zu halten. Doch war es möglich, daß sich die Stadt trotz allem hielt. Allmählich glaubte ich auch schon an Wunder, denn die mehr als siebenmonatige Verteidigung Sewastopols war ja ein militärisches Wunder… Und da erblickten wir schließlich im Mondlicht das felsige Stückchen Land, an das jetzt unser ganzes Sowjetland mit Stolz und Mitgefühl denkt. Ich wußte, wie klein der Sewastopoler Frontabschnitt war, aber mein Herz krampfte sich zusammen, als ich
ihn von See her sah: so winzig wirkte er. Das Schiff war gegen zwei Uhr aus Sewastopol ausgelaufen…“ Dieser letzte Satz ist unvollendet geblieben. Fast ein Jahr nach Petrows Tod hielt ich mich bei der Südfront auf, die damals zwischen Rostow und Taganrog im Kampf stand, da bekam ich eine eitrige Angina. Ich lag zuerst im Sanitätsbataillon, dann in der Sanitätsstelle des Frontstabs. Der Militärarzt Nikolai Alexejewitsch Ljostsch, der mich dort behandelte, brachte mir die Hälfte einer liniierten Heftseite, auf die jemand mit violetter Tinte in einer unregelmäßigen Handschrift etwas hingeworfen hatte. „Das hab ich zwischen unseren Papieren gefunden. Ich kann nicht sagen, wie es da hingekommen ist. Nehmen Sie es und heben Sie es auf.“ Das war der traurige Wortlaut des Heftblattes, das mir ein Jahr nach Petrows Tod in die Hände kam: „Petrow, J. P. Postmortale klinische Diagnose. Komplizierte Fraktur des rechten Oberschenkels im unteren Drittel mit Bloßlegung des rechten Kniegelenks. Einfache Fraktur des rechten Processus coracoideus mit Blutung in die Höhle des rechten Schultergelenks. Multiple Verletzung der Kopfschwarte, vorwiegend im Okzipital- und Frontalgebiet. Totale Abtrennung der rechten Ohrmuschel und der Oberlippe. Todesursache – erheblicher akuter Blutverlust und Schock als Folge der zahlreichen schweren Schädigungen der Weichteile und des Skeletts.“ Beim Lesen sah ich die Steppe zwischen Rostow und Millerowo vor mir, die Trümmer des zerschellten Flugzeugs und den toten Petrow…
1942, nach Petrows Tod, schrieb ich ein seinem Andenken gewidmetes Gedicht: Der Freund war tot? Das ist nicht wahr. Du siehst nur nicht mehr sein Gesicht, das Obdach teilt er nicht mit dir und auch den letzten Tropfen nicht. Er stimmt nicht mehr ins Trinklied ein in der Hütte, vom Schnee zugeweht, er schläft nicht unterm Mantel dein, wenn im Ofen das Feuer ausgeht. Nicht alles, was ihr euch gewesen, nicht alles, was sich mit euch begab, verging mit seiner Hülle, liegt neben ihm im Grab. Messe ich heute, viele Jahre später, diese Worte an der Zeit, kann ich mich davon überzeugen, daß sie richtig waren. Ja, nicht alles verging…
5 Gleich in den ersten Tagen nach meiner Rückkehr aus dem Norden begegnete ich in Moskau Andrej Semjonowitsch Nikolajew, dem ehemaligen Mitglied des Kriegsrats der 51. Armee. Diese Begegnung, die unsere letzte sein sollte, ergab sich zufällig bei Tage im Foyer des Säulensaales, und anschließend waren wir bis zum Abend zusammen.
Nach seiner Absetzung durch Mechlis hielt sich Nikolajew für einen neuen Einsatz zur Verfügung, den er aber bis zu diesem Tag immer noch nicht erhalten hatte, er brannte vor Ungeduld, schrieb Gesuche um einen unverzüglichen Fronteinsatz, und sei es auch in einer niedrigeren Dienststellung. Über die Umstände seiner Absetzung verlor Nikolajew kein Wort. Ich wage nicht zu beurteilen, ob er gekränkt war oder nicht, jedenfalls kam er den ganzen Tag nicht einmal andeutungsweise darauf zu sprechen. Dieser Mann, der sich in den Kämpfen vor meinen Augen den Männern von seiner harten Seite gezeigt hatte, sprach an diesem Tag auf einmal – gleichsam als sei er der Pflicht ledig, nur über Dinge zu reden, die in Beziehung standen zu seiner unmittelbaren Aufgabe, dem Krieg – mit einer mich verwundernden jungenhaften, romantischen Schwärmerei von der Reinheit der Seele, an der es den Menschen mangele und die sich seiner Meinung nach erst dann endgültig einstellen werde, wenn überall in der Welt der Sozialismus herrsche. Er sprach von einem Mangel an Selbstaufopferung und insbesondere an Selbstverleugnung sogar bei den scheinbar besten Leuten. An diesem Tag wurde mir in all diesen Gesprächen auf einmal klar, daß seine Lebensgewohnheiten – das harte Bett mit der Soldatendecke, das geradezu erstaunlich mäßige Essen, das unbedingt eigenhändige Annähen der Kragen und das Putzen der Stiefel – nicht nur eine Angewohnheit waren, wie mir früher schien, sondern aus seinen Ansichten über das menschliche Verhalten resultierten.
Ich erinnere mich nicht mehr, wie er darauf kam, jedenfalls sprach er auf einmal über Spanien, und als er von der Niederlage der Republikaner sprach, hatte er Tränen in den Augen. Mir wurde klar, in Spanien war ein Stück seines Herzens zurückgeblieben, was nach der Niederlage der Republikaner in den Staub getreten wurde, und er konnte sich damit genausowenig abfinden wie mit der Besetzung von Kiew oder Kriwoi Rog durch die Deutschen. Diese Gespräche begründeten meinen letzten Eindruck von ihm. Alles übrige weiß ich nur aus Archivunterlagen, in denen ich nach dem Krieg wegen irgendwelcher Anhaltspunkte über sein weiteres Schicksal wühlte. Ich fand nur zwei. Der erste Anhaltspunkt ist der am 8. Mai 1942 vom Stellvertreter des Volkskommissariats für Verteidigung der UdSSR, Armeekommissar 1. Ranges, Mechlis unterzeichnete Befehl, daß „Andrej Semjonowitsch Nikolajew, Korpskommissar, der Politischen Hauptverwaltung der Roten-Arbeiter-und-Bauern-Armee zur Verfügung gestellt wird, und zwar als neuernannter Kriegskommissar der 150. Schützendivision.“ Ich war Nikolajew noch nach dem Datum begegnet, das unter diesem Dokument steht. Er hatte noch nichts von dieser Ernennung gewußt. Der von Mechlis auf der Krim genau an dem Tag, da die deutsche Offensive begann, unterzeichnete Befehl war anscheinend noch nicht in Moskau eingetroffen. Der zweite Anhaltspunkt ist eine kurze, mit Tinte geschriebene Eintragung in der Personalakte A. S. Nikolajews: „Vermißt im Juni 1942.“
Bei der weiteren Suche griff ich nach Unterlagen, die mit dem Schicksal der 150. Schützendivision zusammenhingen, die im Mai 1942 zur 57. Armee der Südwestfront gehörte. Diese Armee geriet bei unserer erfolglosen Offensive bei Charkow im Mai 1942 in einen Kessel, und ihr Befehlshaber, Generalleutnant Podlas, erschoß sich. Beim Lesen dieser Unterlagen dachte ich, daß Podlas in diesem kritischen Augenblick ungefähr dieselben Gedanken gehabt haben könne wie General Serpilin in meinem Buch „Die Lebenden und die Toten“, dem ein ähnliches Schicksal widerfahren war, und der sagte: „Ich fürchte mich nicht, vor den Augen aller zu sterben. Ich habe bloß kein Recht, als vermißt zu gelten!“ In blutigen Kämpfen und unter schwersten Verlusten brachen Teile der 57. Armee aus dem Kessel aus. Am 18. Mai ging die 150. Division in der Gegend des Haltepunkts Losowaja zur Verteidigung über, und am 6. Juni traf von der Armee bei der Front die Meldung ein, daß vierhundertsiebenundsiebzig Mann vom Bestand der 150. Division aus dem Kessel herausgekommen waren. In den Unterlagen wird erwähnt, daß bis zum 10. Juni 1942 weder etwas über das Schicksal des Divisionskommandeurs, Generalmajor D. J. Jegorow, noch über das ihres Stabschefs M. F. Schirjajew bekannt war. Es heißt darin auch, der Regimentskommissar Ljastschenko, „Leiter der Politabteilung und gleichzeitig Kriegskommissar der 150. Division“, sei nicht aus dem Kessel herausgekommen. Diese letzte Einzelheit – die Erwähnung Ljastschenkos „und gleichzeitig Kriegskommissar“ – läßt vermuten, daß Ni-
kolajew, der zum Kommissar dieser Division ernannt worden war, falls er sie noch erreicht hatte, offensichtlich zu Beginn der Kämpfe gefallen war und im Kessel schon der Leiter der Politabteilung seinen Platz einnahm. Nach der Zeitschriftenveröffentlichung der Tagebücher erhielt ich zwei Briefe, die meine Vermutung bestätigen. Der erste Brief kam aus Kiew von Professor Roman Wassiljewitsch Bersched. ….Besonders herzlich schreiben Sie über Korpskommissar A. S. Nikolajew. Alles, was Sie an Hand der Unterlagen feststellen konnten, bestätigt sein tragisches Schicksal. Sie zweifeln daran, daß er bei der 150. SD ankam und seine Tätigkeit als Kriegskommissar aufnahm. Er kam bei ihr an, und er nahm seine Tätigkeit auf. Wie Ihnen bekannt ist, ging die 6. Armee am 12.5.42 bei Charkow aus der Richtung des Zipfels bei Barenkowo zur Offensive über. Zu dieser Zeit war ich Stellvertreter des Militärstaatsanwalts der 57. Armee und hatte am 14. zum 15. Mai dienstlich bei der 150. SD zu tun, wo ich mit D. J. Jegorow und A. S. Nikolajew zusammentraf. Andrej Semjonowitsch machte auf mich den Eindruck eines klugen und sehr parteilichen Kommissars. Ich kannte damals nicht alle Umstände seiner Ablösung vom Posten als Mitglied des Kriegsrats der Armee. Natürlich habe ich mich darüber gewundert, daß ein Mann seines Ranges Kommissar einer Division war. Wie Sie wissen, bekleideten diese Dienststellungen in der Regel Regimentskommissare…“ Der zweite Brief kam aus Donezk von dem ehemaligen Panzersoldaten G. A. Pawlow.
„… In Ihrem Buch erwähnen Sie, daß in der Kaderakte von Korpskommissar A. S. Nikolajew der Vermerk ,Vermißt’ steht, und zwar als Kriegskommissar der 150. SD in den Kämpfen bei Charkow. Ich absolvierte 1941 die Charkower Stalin-Panzerschule. 1940-1941 war Korpskommissar Nikolajew als Leiter der Politabteilung des Militärbezirks Charkow an der Schule tätig, ich war Hörer seiner Vorlesungen. Im zweiten Halbjahr 1942 war ich als Kriegsgefangener (ich bin im Kessel verwundet worden, hatte eine Kontusion) in einem Lager in Luckenwalde in Deutschland, man brachte uns eine Zeitung – welche es war, weiß ich nicht mehr – für Kriegsgefangene, und ich weiß noch sehr gut, daß es darin hieß, der ehemalige Leiter der Politverwaltung des Charkower Militärbezirks, Korpskommissar Nikolajew, hätte sich erschossen. Später erzählte ich meinen Lebensweg einem Major, der bei Charkow in Gefangenschaft geraten war, und auch er sagte mir, A. S. Nikolajew hätte sich erschossen. Das ist das, was ich hinzufügen kann…“ In den Tagen, da ich in Moskau meine Reportagen aus dem Norden beendete, traten in meinem Leben wichtige Ereignisse ein. Im Stab der Westfront wurde mir der Rotbannerorden überreicht. Für mich bedeutete es sehr viel, einen solchen Orden zu erhalten. Schon als kleiner Knirps hatte ich den Kompanieführer Sinizyn mit aufgerissenen Augen angestarrt. Er war wohl der einzige Rotarmist bei uns in Rjasan an der Infanterieschule, wo mein Stiefvater damals
diente, den ich kannte. Von der Auszeichnung hatte ich schon in Murmansk erfahren, aber davon zu wissen, ist eins, etwas ganz anderes aber ist es, wenn einem als Sechsundzwanzigjährigem nicht im Traum, sondern bei vollem Bewußtsein der erste im Krieg verdiente Orden an die Brust geheftet wird. In diesen Tagen stimmten auf der Parteiversammlung in der „Krasnaja Swesda“ die Genossen für meine Aufnahme in die Partei der KPdSU (B). Nach der Bestätigung dieses Beschlusses durch die Parteikommission der Politischen Hauptverwaltung erhielt ich das Parteidokument. Und wenig später wurde ich zum Oberbataillonskommissar befördert. Diese Veränderung war für mich innerlich sehr wichtig, obwohl ich, ehrlich gesagt, auch früher schon meine Pflichten als Frontkorrespondent als die Pflichten eines Politarbeiters angesehen hatte und nicht als die eines „Intendanten 1. Ranges“, wie es bis Juni 1942 in meinem Soldbuch stand. Mitte Juni erhielt ich vom Redakteur einen etwas ungewöhnlichen Auftrag – ich sollte für zwei bis drei Tage auf einen der Flugplätze bei Moskau fahren, wo schwere Bomber stationiert waren, und mich dort mit einer Besatzung nach ihrer Rückkehr von einem Sonderfernflug unterhalten. Wohl um mich zu ärgern, unterließ Ortenberg einige zusätzliche Erklärungen. „Die wissen Bescheid, daß du kommst, und alles Weitere wirst du von ihnen hören. Fahr los!“ Worin dieser Redaktionsauftrag bestand, erfuhr ich erst auf dem Flugplatz. Es ging um den soeben gut zu Ende gegangenen Flug W. M. Molotows über
Großbritannien, Island und Neufundland nach Washington zu Gesprächen mit Roosevelt. Dieser Flug war mit einem unserer schweren Bomber durchgeführt worden, einer von denen, die zu Kriegsbeginn Berlin angeflogen hatten. Molotow war also nach Amerika geflogen, und Kommandant war Endel Karlowitsch Pussep gewesen, ein Este, geboren in Sibirien. Von ihm und den Besatzungsmitgliedern sollte ich Einzelheiten über diesen für jene Zeit schwierigen Flug erfahren. Ihr von mir aufgezeichneter Bericht sollte in der „Krasnaja Swesda“ erscheinen. Ich machte das recht umfangreiche Material fertig; es umfaßte eine ganze Zeitungsseite; es wurde zur Genehmigung geschickt, erschien dann aber doch nicht. Das „Plazet“ zur Veröffentlichung war nicht zu erlangen. Vielleicht war dabei die militärische Geheimhaltung ausschlaggebend, oder es lagen andere Gründe vor. Das Material erschien nicht, doch ich hatte nicht das Gefühl, meine Zeit vergeudet zu haben. Der überraschende journalistische Auftrag hatte mich mit interessanten Menschen zusammengeführt – mit Pussep, seinem Navigator Alexander Pawlowitsch Schtepenko und mit Sergej Michailowitsch Romanow. Alle drei hatten viele Jahre Dienstzeit bei den Luftstreitkräften und zahlreiche Feindflüge auf dem Buckel – auf Berlin, auf Königsberg, Danzig und andere Fernziele. Offen erzählten sie von dem Flug nach Amerika, ohne die Schwierigkeiten zu verhehlen. Molotow lobten sie wegen seiner Geduld und seiner Ruhe. Von sich sprachen sie wenig, vorwiegend dann, wenn es sich beim Bericht über die nä-
heren Umstände des Fluges nicht umgehen ließ. Und diese Umstände waren schon deshalb recht kompliziert, weil die Besatzung vor diesem Fernflug nur einen einzigen Probeflug auf dem ersten, dem kürzesten Streckenabschnitt absolviert hatte – nach Großbritannien und zurück. Allerdings mußte gerade auf diesem Abschnitt die Frontlinie überquert werden, aber das war für die Bombenflieger nichts Neues. Das weitere bereitete ihnen weit mehr Sorgen – die völlig unbekannte Flugstrecke, die unbekannten Flugplätze, die unbekannten, noch kein einziges Mal persönlich erprobten Start- und Landebahnen. Hinzu kam noch die Verantwortung für den Erfolg der übertragenen Aufgabe, für das Leben der Passagiere und für das Ergebnis der Mission… In meinen Notizbüchern sind die Gespräche mit den Fliegern kurz nach ihrem Flug festgehalten, und ich möchte ein paar Stellen aus diesen Aufzeichnungen zitieren. Sie vermitteln eine gewisse Vorstellung von der Zeit wie auch von der moralischen Haltung der Männer. Alexander Pawlowitsch Schtepenko, Major, Navigator. Vor dem Dienst bei den Luftstreitkräften Dachdecker; Vater und Großvater ebenfalls Dachdecker… „… Auf einmal sahen wir Wjatscheslaw Michailowitsch, dachten, er verabschiedet jemanden, doch da bringt General Golowanow ihn an und sagt: ,Da ist Ihr Passagier.’ Wir kletterten in die Kanzel und dachten, da sind wir aber ganz schön reingefallen. Der Wetterbericht für die Flugstrecke sah mies aus, dafür war er am Lan-
deort günstig, und deshalb blieben wir beim Starttermin. Ein gewöhnliches Militärflugzeug, etwa dreißig Grad minus; in achttausend Meter Höhe begannen die Leutchen zu frieren; wir deckten sie mit allem Greifbaren zu. Wir durchflogen ein Gewitter. Bei Pskow gingen wir auf siebentausendachthundert Meter. Die Flakgranaten krepierten tief unter uns; die Scheinwerferkegel zuckten nur mal durch die Löcher in der Wolkendecke. Wegen dem Gegenwind brauchten wir zwei Stunden länger als vorgesehen. Da uns der Treibstoff auszugehen drohte, flogen wir näher an der Küste, als eigentlich vorgehabt, und folgten dann der Küste. Über vier Stunden flogen wir mit Sauerstoffmasken. Einer Sekretärin war schlecht, sie wollte die Maske runterreißen, aber der Bordschütze hinderte sie daran und drehte nur den Sauerstoff mehr auf. Bei Sonnenaufgang landeten wir in Großbritannien. Eine Ehrenkompanie Hochländer in Schottenröcken war zum Empfang angetreten. Beim Frühstück fragte Molotow uns aus: Was war das? Und was das? Die Sternchen – waren das Detonationen? Die Lichter – waren das Scheinwerfer? In Autos sind wir nach London gefahren. Er zum König, wir zur Botschaft. Während unsere Passagiere ihre Angelegenheiten erledigten, klapperten wir die Dienststellen des Flugwesens ab, um bei englischen und amerikanischen Fliegern etwas über die Bedingungen auf der Route nach Amerika zu erfahren. Der Flug nach Island, ständig über dem Meer, war für
uns etwas Neues. Die Wolken drängten uns auf eine Höhe von sechstausend Meter. Fünf Stunden hielten wir diese Höhe. Erwischten dann an der isländischen Küste ein ,Fenster’ und gingen zum Wasser runter. Das letzte Stück sind wir unter den Wolken geflogen. Hundert Kilometer vor dem Flugplatz nahmen uns amerikanische Jäger in Empfang und gaben uns das Geleit, so nahe, daß man sich die Hand hätte reichen können, wir haben uns mit ihnen in Zeichensprache unterhalten. In Island mußten wir vierundzwanzig Stunden auf günstiges Wetter warten. Noch zweitausend Kilometer Ozean lagen vor uns. Auf halber Strecke waren wir außer Reichweite der britischen Leitstrahlsender, die amerikanischen aber kriegten wir noch nicht rein. Sind in Kanada den Flugplatz vom klaren Himmel her angeflogen und im Nebel ausgerollt. Unterwegs von Kanada nach Washington hat der Bordschütze über Baltimore die Lichtblitze von Schweißarbeiten einen Moment für Flakabschüsse gehalten. Kaum waren wir in Washington gelandet, sahen wir Maxim Maximowitsch Litwinow und noch ein paar andere Leute. Am nächsten Tag wurden wir Roosevelt vorgestellt. Roosevelt dankte uns, daß wir Molotow hergebracht hätten, und sagte: ,Ich hoffe, ich werde Ihnen ein zweites Mal gratulieren können, wenn Sie Mister Molotow noch einmal genauso wohlbehalten herbringen, damit wir, wie ich hoffe, eine Angelegenheit besprechen können, die wir uns beide eben haben einfallen lassen.’ Auf dem Rückflug saßen wir drei Tage in Neufund-
land fest. Das Wetter war scheußlich. Wir hockten in der Flugwetterwarte und waren ganz schön nervös. Die Rückroute nach Island war uns ja nun bekannt, trotzdem war es ein harter Brocken. Vier Stunden Blindflug. Bei dem Flug durch die Wolken war allen etwas mulmig. Das war ein Blindflug, wir konnten also nicht prüfen, ob unser Kurs richtig war. Auf alle Fragen murmelten wir durch die Zähne: ,Alles in Ordnung.’ Bei Sturm näherten wir uns Großbritannien. Durch ein Loch in den Wolken gingen wir runter. Wir wurden ganz schön durchgeschüttelt. In London hielt man den Rückflug auf der gleichen Strecke wie beim Hinflug für riskant und schlug uns sogar vor, über Afrika nach Moskau zu fliegen…“ Sergej Michailowitsch Romanow, Major. Vor der Armee Schlosser. „… Wir mußten uns durch ein Gewitter den Weg bahnen. Rings um uns von Blitzen durchzuckte Haufenwolken. Pussep sagte: ,Umfliegen!’ Wir antworteten: ,Auf deine Verantwortung! Halt Kurs West, dann sehen wir weiter.’ Wir besichtigten London. Ganze Viertel waren dem Erdboden gleichgemacht. Wir fuhren auf den freigelegten Asphaltstraßen an endlosen Trümmerstätten entlang. In Großbritannien gibt der Wetterdienst die Wettervorhersage nur für einen Tag, dafür ist sie außerordentlich exakt; eine für drei Tage kriegt man nicht, man kann noch so sehr darum bitten. Die Meteorologen sind über Jahre immer für die gleichen Routen zuständig. Sie verachten aber auch die Informationen
von durchkommenden Piloten nicht. Bekamen beim Anflug auf London von dort schon auf halbem Wege die Peilwerte und kombinierten sie mit unseren astronomischen Beobachtungen. In Island landeten wir auf einem Flugplatz, der gerade fertig geworden war. Wind und Kälte, und wie man uns sagte, wird es hier nie wärmer. Gletscher, wilde Natur, keine Flora. Amerikanische Offiziere baten uns, für sie Briefe mit nach Amerika zu nehmen. Wir nahmen die Briefe mit und wurden so unerwartet zu Postboten. Als rechts von uns die Gipfel der Grönlandgletscher auftauchten, hielten wir sie zunächst für Wolkenkappen. Der Flugplatz Goose Bay in Kanada ist von schütterem Nadelwald umgeben. Unter den Flugplatzarbeitern waren viele Ukrainer. Sie bestaunten unser Flugzeug. Einer sagte: ,So einen Riesenvogel sehe ich zum erstenmal…’ Sie kamen 1910 hierher nach Kanada. Beim Flug von Kanada nach Washington waren wir zuletzt so geschafft, daß es uns vorkam, als flögen wir nicht, sondern stünden auf der Stelle. Washington – eine grüne Stadt, viel Grün und viele Autos. Was es mehr gibt, kann ich nicht sagen. Bei den vielen Autos dachten wir erst, die wären alle zu unserem Empfang gekommen; merkten später, daß das dort immer so ist! Bei Roosevelt ist alles sehr einfach: Landkarten, alter Bücherschrank, Tisch, Sessel, Telefone. Auf dem Rückflug mußten wir durch eine Wolkenfront – zweieinhalb Stunden flogen wir blind. Unterwegs gingen die Isothermen, über denen die Ver-
eisung einsetzt, immer weiter runter. Wir gingen auch tiefer. Sobald die Tragflächen vereisten, gingen wir noch ein Stück runter. Also mal Eis, mal kein Eis. Erst an der Küste von Grönland stießen wir durch die Wolken und hatten die Küste in ihrer ganzen Schönheit vor uns. Scharfe schwarze Felsspitzen an der Küste und im Landesinnern die weißen Kappen der Gletscher. Und das Meer war grau, vom Sturm aufgewühlt…“ Endel Karlowitsch Pussep, Major. Von der Pädagogischen Fachschule zur Fliegerei gekommen. „… Molotow fragte mich, ob das Flugzeug startklar sei. Wie ich mich fühle und was ich vom heutigen Wetter halte. Ich meldete, alles sei in Ordnung. Der General hatte mir gesagt, überschlagen Sie sich nicht, tun Sie alles gründlich und gewissenhaft. Und das hielt ich mir den Flug über vor Augen. Einer der Motoren verlor Öl, und ich befahl dem Kopiloten, Hauptmann Obuchow, direkt auf die Küste zuzuhalten – bis dahin waren es noch achthundert Kilometer – und dann an der Küste entlangzufliegen. Nach der Landung fragte uns Molotow, warum wir so lange an der Küste langgeflogen seien, ob die Navigation nicht gestimmt hätte. Ich erklärte es ihm. Als wir wieder zurück waren, hat er uns gedankt und gesagt: ,Schönen Dank, daß Sie uns gut hin- und wieder zurückgebracht haben.’ Der riskanteste Augenblick war der Start in Island. Der Flugplatz war noch nicht richtig fertig, das Gelände neben der Betonpiste war sumpfig und voller Steine. Deshalb standen unzählige Flugzeuge dicht an der Startbahn.
Und die Bahn selbst war zu kurz. Schon war ihr Ende in Sicht, und wir hatten immer noch nicht abgehoben! Da tauchten für eine Sekunde rechts vor mir am Ende der Bahn stehende kleine amerikanische Amphibienflugzeuge auf, und mir wurde klar, daß ich im nächsten Moment mit meinem äußersten rechten Propeller Kleinholz aus ihnen machen würde. Die Maschine hatte noch ,nicht abgehoben, aber es war zu spät, das Gas wegzunehmen, ich hätte sie nicht mehr zum Stehen gebracht. Ohne mit der Geschwindigkeit runterzugehen, neigte ich das Flugzeug aufs linke Rad, und die .Amphibien’ huschten unter dem angehobenen rechten Tragflügel hindurch! Als wir auf dem Rückflug wieder in Island zwischenlandeten, sagten amerikanische Flieger, die unseren Start auf dem Weg nach Amerika beobachtet hatten: ,Ihr habt ja einen Start hingelegt, am liebsten hätten wir die Augen zugemacht, nur um alles Weitere nicht mit ansehen zu müssen.’ Jedenfalls hat unser Start einen tiefen Eindruck bei ihnen hinterlassen…“ So bruchstückhaft, vom Hundertsten ins Tausendste kommend, hatten uns die Flieger damals, im Juni 1942, über diesen gerade abgeschlossenen Überflug berichtet. Heute fliegen die Linienflüge Moskau-New York die gleiche Flugstrecke, und vom Start in Moskau bis zur Landung in New York vergehen nur ganze zehn Stunden. Damals, 1942, als ich mit den Fliegern sprach, fragte ich sie nach dem, was uns alle zu Beginn des zweiten Kriegssommers so stark bewegte, nach der zweiten Front. Wie sie nach ihrem
Großbritannien-und Amerikaflug darüber dächten? Sie sagten mir, die Einstellung ihnen gegenüber sei überall – auf allen Flugplätzen, die sie angeflogen hatten, beim Wartungspersonal wie bei den Fliegern, amerikanischen wie britischen – gut und kameradschaftlich gewesen, aber über die zweite Front hätte keiner der Briten noch der Amerikaner auch nur ein Wort verloren, und sie selbst hätten Weisung gehabt, dieses Thema in den Gesprächen nicht anzuschneiden… Der erste Jahrestag des Krieges rückte näher. Im Zusammenhang mit diesem Datum gab ich ein für die britische und amerikanische Presse bestimmtes Interview. In meinen Papieren fand ich eine Kopie dieses Interviews. Die ersten Fragen und Antworten betrafen meine Arbeit als Frontkorrespondent, zu den Ausführungen in meinen Tagebüchern fügen sie nichts Neues hinzu. Die Antwort auf die letzte Frage des Interviews aber möchte ich doch zitieren, weil sie für unsere Stimmung in jener Zeit kennzeichnend ist: Unsere Besorgnis und Unruhe wurden immer stärker, je mehr sich abzeichnete, daß die zweite Front in diesem Jahr, im Jahr 1942, wohl kaum eröffnet würde. „Frage. Was möchten Sie in diesen Tagen unseren Freunden in Amerika und England sagen? Antwort. Vor kurzem war ich im Norden und bin dort amerikanischen Seeleuten begegnet. Wie sie unter den Anflügen deutscher Torpedoflieger und unter den Angriffen deutscher U-Boote die Frachten durch das Eismeer zu uns transportieren, beweist besser als alle Worte, daß sie wirklich großartige und tapfere Bur-
schen sind, und so kann ich dazu nur eines sagen: Ruhm und Ehre den Seeleuten der britischen und amerikanischen Handelsflotte! Im vergangenen Herbst bin ich ebenfalls im Norden mit britischen Fliegern zusammengetroffen. Sie haben sich dort gut geschlagen, sie waren beliebt und geachtet, und was ich selbst dort von ihnen gesehen habe, berechtigt mich, zu sagen, daß sie prächtige Jungs sind. Ich meine, die britischen Infanteristen werden keinen Deut schlechter sein als sie, aber im Krieg lernt man die Menschen erst richtig kennen, wenn sie Schulter an Schulter mit einem kämpfen: Deshalb wünsche ich mir sehnlichst, die britischen Infanteristen, die bestimmt genauso prächtige Jungs sind wie die britischen Flieger, in Aktion kennenzulernen. Mein Wunsch wird sicherlich mit dem Wunsch vieler unserer Kommandeure und Soldaten übereinstimmen. Krieg ist Krieg, und alles, bis hin zu den Lebensmitteln, ist in erster Linie für die Armee da. Deshalb leben unsere Familien, für die alles getan wird, was nur möglich ist, doch viel schlechter, als wir es uns wünschen, und es hätte keinen Sinn, das verhehlen zu wollen. Ganz zu schweigen von den Familien, die in den von den Deutschen okkupierten Gebieten zurückgeblieben sind, wo ihr Leben einfach schrecklich ist. Wenn ich nun in den Zeitungen lese, daß man in Amerika oder in England erst 1943 oder 1944 bereit, versorgt und gerüstet sein wird, ist das für mich, ohne mich in die hohe Politik einmischen zu wollen, doch recht schmerzlich. Wir selbst sind bereit, die Lasten des Krieges so zu tragen, wie dies von uns gefordert
wird, aber der Gedanke, daß sich der Krieg noch lange hinziehen könnte, ist für uns unerträglich, wenn wir an unsere Frauen, Mütter und Kinder denken. Ich will damit niemanden kränken und auch niemandem Vorwürfe machen, sondern möchte bloß, daß sich unsere Freunde jenseits des Ozeans einmal in unsere Lage versetzen. Vielleicht wird ihnen dann ihr Herz sagen, daß man sich beeilen, sehr beeilen, unendlich beeilen muß, denn militärisches Kalkül bleibt zwar militärisches Kalkül, aber die Stimme des Herzens ist mitunter stärker als jedes militärische Kalkül, reißt die Menschen zu Taten mit und veranlaßt sie, alle ihre Kräfte einzusetzen, was ihnen allen Berechnungen nach gestern noch verfrüht und unvernünftig erschienen wäre. Ich wünschte mir, unsere Freunde im Ausland würden auf diese Worte eines Mannes hören, der die Gefühle und Gedanken unserer Soldaten und Offiziere an der Front kennt.“ Aus dieser damaligen Antwort auf die Frage spricht mehr Bitterkeit als der reale Glaube, daß man mit Worten, Artikeln oder Vorwürfen die Eröffnung der zweiten Front beschleunigen könnte. Im Juni hatten wir das schon erkannt, und eingedenk des bitteren Kelches, den unser Land im ersten Kriegsjahr leeren mußte, konnten wir uns innerlich ganz und gar nicht mit dem abfinden, was unser Verstand bereits begriffen hatte: Die zweite Front dort im Westen wird auch jetzt, im zweiten Kriegsjahr, immer noch nicht eröffnet werden. Im Juli fuhr ich zur Brjansker Front und brachte von
dort Korrespondenzen mit, die in der „Krasnaja Swesda“ und der „Prawda“ veröffentlicht wurden. An der Front verfolgten uns neuerliche Mißerfolge, die Deutschen griffen wieder an, und wir Korrespondenten standen wie schon im Sommer 1941 vor der Aufgabe, die Menschen aufzusuchen, die in dieser schwierigen Lage ein Beispiel an soldatischem Können, an Mut und Standhaftigkeit gaben; vor allem an Standhaftigkeit. Solche Beispiele gab es sogar in den schwersten Tagen, und ich hielt es in dieser Zeit für meine Pflicht, gerade über sie zu schreiben. Das eben bestimmte den Charakter meiner drei Korrespondenzen über die Sommerkämpfe im steppenartigen und halbsteppenartigen Raum der Kampfhandlungen nordwestlich Woronesh. Die erste handelte von den Männern der Baschkirischen Freiwilligendivision, von Major Nafikow, der bei einem tollkühnen nächtlichen Überfall auf die Deutschen fiel, und vom Kommandeur dieser Division, Oberst Schajmuratow, einem Mann von unerschütterlicher Autorität, der schon vor dem Krieg, wie ich damals über ihn schrieb, „in Sonderaufträgen der Regierung die halbe Welt bereist hat“. Ich möchte ergänzen, daß es Schajmuratow noch bis zum General brachte, das Kriegsende aber nicht mehr erlebte – er fiel im Kampf wie sein Regimentskommandeur Nafikow. Die zweite Korrespondenz handelte von dem schon etwas älteren Wassili Koslow aus Pskow, der nach zwölf Dienstjahren – begonnen als einfacher Soldat – den Leutnantsrang erhielt. Er zeigte eine außergewöhnliche Geistesgegenwart: Als er eines Tages mit seiner abgesessenen Schwadron hinter die deutschen
Linien geriet, zog er, ohne einen einzigen Schuß abzugeben, längere Zeit im hochstehenden Getreide hinter den angreifenden Schützenketten der Deutschen her, mähte sie im letzten Moment überraschend mit MGs von hinten nieder und gelangte fast ohne Verluste zu den Seinen. Bislang konnte ich über das weitere Schicksal dieses Mannes nichts herausbringen. Die dritte Korrespondenz schilderte Ilja Schuklin, einen zwanzigjährigen Komsomolzen aus dem Altaigebiet, aus Oirot-Tura, Kommandeur einer Batterie von halbautomatischen 76-mm-Kanonen, die in der ebenen Steppe vierzehn deutsche Panzer abschoß. Im Gefecht gab Schuklin hoch zu Roß seine Befehle, wie er mir hinterher sagte, hätte er von oben die Panzer besser sehen können. Er wirkte noch sehr jung, ausgesprochen kindlich, und er bat mich, seinem Vater und seiner Mutter – Sachar Iljitsch und Maria Grigorjewna – und seinem Mädchen Valja Nekrassowa Grüße zu bestellen. Ich tat dies auch in meiner Korrespondenz, die genau zwölf Tage vor seinem Tod im nächsten großen Gefecht erschien. Den Titel Held der Sowjetunion erhielt er erst hinterher, postum…
Von Rohfassungen meiner Korrespondenzen abgesehen, hat der Sommer 1942 in meinem Archiv wenig Spuren hinterlassen. Den Verlust eines meiner Tagebuchhefte habe ich bereits erwähnt. Ich möchte das wenige bringen, was erhalten geblieben ist. … Bei der Brjansker Front hielt ich mich rund drei Wochen auf. Das war, vom Juni und Juli 1941 abgesehen, vielleicht die schlimmste Zeit des ganzen Krieges. Mit Jossif Utkin fuhr ich in Moskau los. Das war meiner Meinung nach seit dem letzten August, als er auch zur Brjansker Front fuhr, wo er im Kampf schwer an der Hand verwundet wurde und vier Finger verlor, seine erste Fahrt an die Front. Mit dem Wagen brauchten wir zwei Tage bis zur Front, unterwegs konnten wir nicht miteinander warm werden. Utkin sprach ständig von sich. Diesem Mann machte eine schlimme innere Kränkung zu schaffen, die aber nicht in der Tiefe seines Herzens verborgen blieb, sondern nach außen drang und sich diagnostizieren ließ wie Gelbsucht. Ich war Utkin schon vor dem Krieg, 1939, begegnet. Wir waren in Jalta Nachbarn gewesen und hatten uns oft miteinander unterhalten. Er hatte auf mich damals den Eindruck eines nicht üblen und recht gescheiten Mannes gemacht, wenn er sich über andere Menschen, über Poesie oder sonst etwas äußerte, nur nicht, wenn er über sich selbst sprach. Sprach er aber über sich, wurde er sofort krankhaft empfindlich. „In Ihren Kreisen hält man mich natürlich für einen Schreiberling, trotzdem muß ich Ihnen sagen…“ Das war seine gewöhnliche Einleitung, worauf er
dann kluge und gute Gedanken äußerte. Und solche Präambeln gingen fast allen Äußerungen voran. Man hatte den Eindruck, er wolle, bevor er zum Kern der Sache kam, einen ganzen Staketenzaun dieser der Selbstverteidigung dienenden Vorbehalte um sich herum aufbauen. Nach seiner schweren Verwundung genesen, die ihn nach allen Gesetzen vom Militärdienst befreite, fuhr er trotzdem wieder an die Front und erzählte den ganzen Weg über mit immer neuen Einzelheiten von seinen Erlebnissen vor seiner Verwundung. Und die Tatsache, daß er, jedes Gefühl für das Maß verlierend, soviel über sich selbst sprach, trat in absoluten Widerspruch zu seinem jetzigen Handeln, daß er als Invalide wieder an die Front ging. Sicherlich hatte er sich im Vorjahr wirklich tapfer geschlagen, ich glaubte ihm aufs Wort. Auch hatte es ihn schwer erwischt, was für ihn möglicherweise ein seelischer Schock war. Aber um diese ganze Wahrheit herum entströmte ihm eine endlose Suada, suchte er derart hartnäckig seine tatsächliche Tapferkeit zu beweisen, als müßte er sie unbedingt beweisen, als wolle ihm niemand ein Wort glauben. Es war schmerzlich, miterleben zu müssen, wie ein so begabter und kluger Mann über sich selbst so sprach, daß ein gutes Verhältnis zu ihm einfach ein Ding der Unmöglichkeit war. Ich saß schweigend im Wagen und hörte zu, und nach und nach gewann ich den Eindruck, daß der Mann neben mir deshalb so unaufhörlich daherredete, weil er selbst nicht an die anhaltende Wirkung des von ihm Gesagten glaubte. Er meinte wohl, man würde
das von ihm Gesagte nur solange behalten, als er darüber sprach, und wiederholte daher immer wieder dasselbe, wobei er, ohne es selbst zu merken, alle möglichen Varianten von sich gab, die man schon gar nicht mehr hören wollte, weil sie das ursprüngliche Vertrauen untergruben. Ich wollte ihn ganz und gar nicht kränken, aber ich war auch nicht mehr imstande, ihm noch länger zuzuhören. Und nach unserem Eintreffen beim Frontstab ging ich entgegen unserer ursprünglichen, noch in Moskau getroffenen Vereinbarung, zusammen zu fahren, am nächsten Morgen allein zu den Truppenteilen der Panzerabwehrartillerie, über die ich etwas schreiben wollte. In jenen Tagen hatte sich an der Brjansker Front eine Operation an ihrer Südflanke, richtiger gesagt nicht an der südlichen, sondern an der linken Flanke entfaltet, denn zu dieser Zeit war die Front unter dem Druck der Deutschen nach Süden geschwenkt. Um die Lage Woroneshs zu erleichtern, hatte man an der linken Flanke der Brjansker Front in aller Eile die Offensive einer damals gerade aufgestellten Panzerarmee eingeleitet. Zu Beginn der Offensive führte General Lisjukow diese Armee, mit dem ich vor einem Jahr, damals war er noch Oberst, von Moskau an die Front gefahren war. An der linken Flanke der Brjansker Front griffen Lisjukows Panzerleute und die Truppen General Tschibissows die Deutschen an. Im Raum dieser Kampfhandlungen, die zwar ihre hinhaltende Rolle spielten, im großen und ganzen aber für uns erfolglos blieben, hielt ich mich zwei Wochen auf. Ein Teil der
Erlebnisse dieser Tage fand seinen Niederschlag in Berichten, die nach meiner Rückkehr nach Moskau erschienen. Eine Begebenheit, die in keinem Bericht erwähnt wurde, ist mir besonders gut im Gedächtnis haftengeblieben. Als ich mich bei Tschibissow im vorgeschobenen Gefechtsstand aufhielt, der in einem Dörfchen in der Nähe der Hauptverteidigungslinie lag und, offensichtlich von den Deutschen ausgemacht, ununterbrochen bombardiert wurde, war ich mir nicht schlüssig, wohin ich von hier zuerst fahren sollte – zur Baschkirischen Kavalleriedivision, wozu ich unter anderem von meiner Redaktion beauftragt war, oder ob ich versuchen sollte, zu Lisjukow durchzukommen, dem ich schon zweimal begegnet war und den ich gern ein drittes Mal wiedergesehen hätte. Zunächst entschloß ich mich, doch zu der Kavalleriedivision zu fahren, doch dann tauchte in dem Dörfchen plötzlich ein Verbindungsoffizier auf, der von Lisjukow kam. Ich traf beim Offizier vom Dienst zufällig mit ihm zusammen, und als ich hörte, er werde in Kürze zu Lisjukow zurückkehren, beschloß ich, mit ihm zu fahren. Wir verabredeten uns für eine Viertelstunde später am Dorfausgang, wo ich mich mit meinem „Emka“ seinem Kleinpanzer anschließen sollte, er wollte vorher nur noch zur Nachrichtenzentrale gehen. Genau fünfzehn Minuten später erwartete ich ihn neben meinem „Emka“ am Ausgang des Dorfes. Ich wartete etwa anderthalb Stunden. Dann erst stellte sich heraus, daß alles umgestoßen worden war und der Panzeroffizier, ohne die Nach-
richtenzentrale aufgesucht zu haben, genau drei Minuten nach dem Gespräch mit mir zum Oberbefehlshaber beordert worden und nachdem er von ihm einen Befehl erhalten hatte, unverzüglich zu Lisjukow zurückgefahren war. Die Panzerleute befanden sich irgendwo auf dem Marsch, und ohne den Verbindungsoffizier wäre ich niemals zu Lisjukow durchgekommen, so fuhr ich für ein paar Tage zur Baschkirischen Kavalleriedivision. Kaum war ich von dort zum Frontstab zurückgekehrt, erfuhr ich, daß Lisjukow ein paar Stunden nach meiner Verabredung mit dem Verbindungsoffizier gefallen war. Und zwar unter überaus schrecklichen Umständen. Eine seiner Brigaden war abgeschnitten gewesen, die Verbindung mit ihr war abgerissen. Durch seine erfolglosen Handlungen an den Vortagen entnervt, wartete Lisjukow nicht erst das Eintreffen der Panzer einer anderen, von hinten vorgezogenen Brigade ab, sondern bestieg seinen KW-Befehlspanzer und machte sich allein auf die Suche nach der verschwundenen Brigade. Nach zwei oder drei Kilometern wurde sein Panzer bei der Annäherung an einen Waldrand von deutschen Geschützen aus dem Hinterhalt zusammengeschossen. Nur der Ladeschütze konnte sich retten – er war noch rechtzeitig herausgesprungen und hatte, im Roggen versteckt, alles weitere beobachten können. Nach seinem Bericht umringten die Faschisten den Panzer, zogen die Toten, darunter auch Lisjukows Leiche, heraus, und als sie den Papieren entnahmen, daß es sich um einen General handelte, schnitten sie zum Beweis der
Leiche den Kopf ab und nahmen ihn mit. Dieses Ereignis, das sehr einfach erzählt wurde, spiegelte in seiner Einmaligkeit und Verzweiflung das wider, was für diese schweren Tage charakteristisch war. Als ich zwanzig Jahre nach Kriegsende in Archiven Unterlagen suchte, die mit dem weiteren Schicksal der Menschen zusammenhingen, denen ich an der Front begegnet war, stieß ich auf die Kopie eines an den Stab der Panzertruppen gerichteten schriftlichen Berichts über Lisjukows Todesursache. Ich zitiere sie zum Vergleich mit meinen Tagebuchaufzeichnungen. „An diesem Tag fuhren General Lisjukow und Regimentskommissar Assorow, da sie keine Meldungen von dem auf den Höhen von Gwosdewo durchgebrochenen 89. Panzerbataillon der 148. Panzerbrigade erhielten, in einem KW-Panzer in Richtung auf ein Waldstück westlich der Höhe 188,5 und kehrten nicht mehr zur Truppe zurück. Aus den Aussagen des damaligen Stellvertreters des Kommandeurs der Panzerbrigade, Gardeoberst Nikita Wassiljewitsch Dawidenko, ist bekannt, daß bei Kampfhandlungen seiner Brigade in diesem Raum ein abgeschossener KW-Panzer entdeckt wurde, auf dem die Leiche des Regimentskommissars Assorow lag, während etwa hundert Meter vom Panzer entfernt die Leiche eines Unbekannten im Kampfanzug aufgefunden wurde. Im Kampfanzug wurde das Effektenbuch von General Lisjukow entdeckt. Auf Befehl von Gardeoberst Dawidenko wurde besagte Leiche zu seinem Gefechtsstand gebracht und in der Nähe des Waldstücks westlich der Höhe 188,5 bestattet. Bald darauf mußte sich die Brigade aus diesem Raum zurückziehen.
Weitere Angaben über den Ort, an dem General Lisjukow fiel und wo er bestattet wurde, liegen nicht vor.“ Vergleiche ich meine Tagebuchaufzeichnungen mit diesem Dokument, dann sehe ich, daß einige der in ihm dargelegten Umstände mit dem ursprünglichen Bericht des Augenzeugen – des Ladeschützen – übereinstimmen. In Lisjukows Kampfanzug fand sich nur das Effektenbuch, also waren die übrigen Dokumente entwendet und die Leiche bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt worden. Einige Ergänzungen zu dem, was damals an der Front als auch später im Archiv über Lisjukow ermittelt wurde, gibt ein Brief, den ich unlängst von dem ehemaligen Artilleristen Pjotr Pawlowitsch Lebedew erhielt: „…Damals, Anfang Juli 1942, führte ich beim 835. Schützen-Regiment, 237. Schützen-Division, einen Zug 76-mm-Kanonen. An einem dieser Tage (das genaue Datum ist mir entfallen) hatte ich eine Begegnung, die auf seltsame Weise mit dem Schicksal des Armeebefehlshabers Lisjukow zusammenhing. Der Zug hatte eine Feuerstellung in der Nähe des Dorfes Lomow bezogen. Seit Tagen tobten schwere Panzerkämpfe, und die Hoffnung auf einen Erfolg wurde mit jedem Tag geringer. Das fühlten sogar die Soldaten fernab von den Stäben. Nebenbei gesagt, spürt vielleicht gerade der Soldat in der Hauptverteidigungslinie als erster die Symptome eines drohenden Mißerfolgs. Weiter vorn brannten unsere Panzer. Ich sehe die wie Trauerfahnen hochaufsteigenden rußschwarzen Qualmwolken noch vor mir.
An jenem Abend wankte ein am Kopf verwundeter Panzersoldat in unsere Feuerstellung. Er setzte sich auf die Brustwehr des Schützengrabens, steckte sich eine an und berichtete, der Befehlshaber der 5. Armee sei vor seinen Augen gefallen, er habe gesehen (oder sei sogar selber dabei gewesen), wie man seine verkohlte Leiche aus dem ausgebrannten Panzer zog. Mehr wage ich heute nicht mehr zu sagen, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Der Name des Armeebefehlshabers ist auch erwähnt worden – General Lisjukow. Dieser Name war mir damals unbekannt, er sagte mir nichts, und sicherlich hätte ich diese Begegnung völlig vergessen, wenn ich in meiner Bedienung nicht den Rotarmisten Iwan Iljitsch Pylajew gehabt hätte. Er erinnerte sich, daß er im Herbst 1941 in Lisjukows Division gekämpft hatte, ja, daß er ihm sogar persönlich begegnet war. Der verwundete Panzersoldat ging weiter, Pylajew aber lobte seinen ehemaligen Divisionskommandeur und beklagte seinen Tod. Aus irgendeinem Grund hab ich mir diesen Zwischenfall gemerkt und mich wieder an ihn erinnert, als Ende der fünfziger Jahre vom tragischen Schicksal dieses Generals die Rede war…“ Im Vorwort zu meinem Buch erwähne ich, daß einen das Gedächtnis schon mal im Stich lassen kann, zumal bei diesem riesigen Zeitabstand zum vergangenen Krieg. Eine dieser Gedächtnislücken konnte ich bei mir feststellen, als ich mich viele Jahre nach dem Krieg an Alexander Iljitsch Lisjukow erinnerte. Das Gedächtnis ließ mich im Stich, und nach all den Jahren war mir, als hätte ich damals an der Brjansker Front in dem Dörfchen, wo der Gefechtsstand lag,
Lisjukow selbst flüchtig gesehen, als wäre er selbst auf einem Kleinpanzer angekommen und hätte mir versprochen, mich mitzunehmen, wäre dann aber doch allein losgefahren. So hatte es sich im Laufe der Zeit in meinem Gedächtnis festgesetzt, daß ich überzeugt war, es könne nicht anders gewesen sein. Und erst unlängst, als ich nach langer Zeit die bei mir noch vorhandenen bruchstückhaften Aufzeichnungen aus dem Jahr 1942 durchblätterte, konnte ich mich davon überzeugen, daß sich mit den Jahren die Ereignisse dieses Tages in meinem Gedächtnis von der Realität entfernt hatten. Dieser Irrtum war für mich bei der weiteren Arbeit an dem Buch ein Alarmsignal, daß aus dem Gedächtnis nicht nur vieles spurlos verlorengeht – das wäre noch nicht das Schlimmste –, sondern manches unbewußt entstellt wird, und das ist schon recht schlimm, dagegen muß man ankämpfen, indem man im Rahmen des Möglichen alles nachprüft. Ich kehre zu meinen Aufzeichnungen aus dem Krieg zurück. Im Stab der Brjansker Front traf ich wieder mit Utkin zusammen, er machte mir zwar Vorwürfe, weil ich mich davongemacht hatte, aber er nahm mir das nicht allzu übel, als hätte er in der Tiefe seines Herzens selbst begriffen, daß mir gar kein anderer Weg geblieben war. Wir wollten das Mitglied des Kriegsrates der Front sprechen und warteten auf ihn vor seiner Hütte, da gab uns der Sekretär des Kriegsrates ein Exemplar von Stalins Juli-Befehl zum Lesen, in dem es hieß, daß wir keinen Schritt zurückweichen dürften und den Feind um jeden Preis
zum Stehen bringen müßten. Nachdem wir den Befehl gelesen hatten, saßen Utkin und ich wie betäubt auf der Einfassung des Dorfbrunnens und schwiegen eine geschlagene Stunde. Erst nach Tagen, in Moskau, kam ich wieder zu mir. An all diesen Tagen war mir, als stünde die Zeit still. Bis dahin war das Kriegsgeschehen eine Art Knäuel gewesen – anfangs ein Knäuel von Mißgeschicken, das sich später, im Dezember 1941, scheinbar wieder entwirrte, doch dann begann es sich wieder zu verwirren zu einem Knäuel neuerlicher Mißerfolge. Nachdem ich nun diesen Befehl gelesen hatte, schien plötzlich alles stillzustehen. Unser Leben schien jetzt vor dem Sprung über einen Abgrund zu stehen – entweder springen oder sterben! Wir saßen da und schwiegen. Dann gingen wir zum Mitglied des Kriegsrats, das inzwischen zurückgekehrt war. Danach trennten wir uns genauso schweigend und suchten unsere Unterkünfte auf. Am nächsten Morgen fuhr ich nach Moskau zurück, Utkin aber blieb dort. Vor zehn Jahren, 1964, erhielt ich einen Brief von einem Leser meines Buches „Man wird nicht als Soldat geboren“, dem ich in meiner Antwort oft widersprach, meistens aber beipflichtete. In diesem Brief war unter anderem die Rede von eben jenem Befehl Nr.-227, der in meinen Aufzeichnungen aus der Kriegszeit erwähnt wird. Aus ihnen geht hervor, welchen Eindruck dieser Befehl auf mich, den Frontkorrespondenten, machte. Aus dem Brief aber wird ersichtlich, was dieser Befehl für einen dama-
ligen Artilleriesergeanten bedeutete. Und um das Bild zu vervollständigen, möchte ich ein paar Auszüge aus diesem interessanten Dokument bringen: „Mein Leben lang werde ich mich an die Bedeutung von Stalins Befehl mit dem energischen .keinen Schritt zurück!’ erinnern, der vor unserer angetretenen Batterie in einer kurzen Atempause zwischen den Kämpfen an einem heißen Sommertag Anfang August 1942 irgendwo zwischen Krasnodar und Armawir verlesen wurde. Wie Sie sich gewiß erinnern werden, war der Befehl Nr. 227 wahrheitsgetreu bis zum Äußersten, offen wurde in ihm die verzweifelte Lage dargelegt, in die im Sommer des schrecklichen Jahres 1942 unser Volk und unser Land geraten waren. Ich finde nicht die Worte, um unsere Stimmungen und Gefühle zu jener Zeit auszudrücken, nachdem uns dieser Befehl verlesen worden war. Er wurde wohl bei allen Einheiten der kämpfenden Armee verlesen, die Politarbeiter brachten ihn jedem Soldaten, auch dem zurückgebliebensten, zur Kenntnis, und am Schluß des Befehls hieß es auch, wenn ich mich recht erinnere: ,In allen Kompanien, Batterien, Schwadronen, Staffeln und Besatzungen zu verlesen.’ Man kann mit Fug und Recht behaupten, daß nicht der Buchstabe, sondern Geist und Inhalt dieses Dokuments sehr stark zu dem moralisch-psychischen inneren Umbruch, wenn man sich so ausdrücken darf, in den Hirnen und Herzen jener beitrugen, denen es damals vorgelesen wurde und die in jenen Tagen die Waffen und damit auch das Schicksal der Heimat, und nicht nur der Heimat, sondern der Menschheit, in
ihren Händen hielten! Es geht auch nicht um jene drastischen Maßnahmen, die in diesem Befehl angekündigt wurden, sondern um seinen Inhalt, der bei der Herbeiführung dieses Umbruchs eine so große Rolle spielte. Meiner Meinung nach war es das wichtigste, daß den Menschen, dem Volk (der Befehl wurde in allen Truppenteilen verlesen) mutig die ganze schreckliche und bittere Wahrheit über jenen Abgrund ins Gesicht gesagt wurde, an dessen Rand wir damals angelangt waren. Schon Lenin hatte betont (ich erinnere mich nicht an den genauen Wortlaut), daß das Volk alles wissen, alles richtig beurteilen, alles bewußt anpacken müsse. Die Armee (das Volk) hat die ihr im Befehl Nr. 227 gesagte Wahrheit begriffen, ist sich ihrer bewußt geworden und hat sie richtig beurteilt und damals mitunter schier Unmögliches vollbracht… Der Befehl Nr. 227 war wahrscheinlich wegen seiner Direktheit und Härte, die damals, wie das Leben zeigte, gerechtfertigt waren, vielleicht aber auch aus anderen Gründen offenbar streng geheim, aber was ist das schon für eine Geheimhaltung, wenn die vielen Hunderttausende von Soldaten und Kommandeure (wenn nicht Millionen), die im Sommer 1942 an der Front standen, seinen Inhalt kannten? Wenn einfache Soldaten auf Grund ihres Gemütszustands nicht richtig kämpfen wollen oder können, werden keine noch so drohenden Befehle und keine noch so harten Maßnahmen sie dazu bringen und von der Flucht zurückhalten. Die fähigsten Heerführer und die erfahrensten Kommandeure werden ohn-
mächtig dastehen. Die einfachen Soldaten sind das Volk selbst. Und der Große Vaterländische Krieg war ein Volkskrieg. Nur jene Völker sind wert zu leben, die sich nicht fürchten und die zu sterben verstehen, das hat wohl die harte Logik der Geschichte mehr als einmal bewiesen…“ Mit Material für mehrere Berichte kehrte ich von der Brjansker Front nach Moskau zurück. Zehn Tage zuvor war mir dort an der Front eine „Prawda“ in die Hände gekommen, in der mein Stück „Russische Menschen“ in Fortsetzungen abgedruckt war. Ich war völlig überrascht und freute mich sehr, doch jetzt, auf dem Rückweg nach Moskau und nachdem ich Stalins Befehl gelesen hatte, war ich irgendwie abgestumpft. Die Gedanken an die zu schreibenden Berichte und auch die Freude darüber, daß die „Prawda“ die „Russischen Menschen“ abgedruckt hatte – alles war in weite Ferne gerückt, ich wollte über das Erlebte keine Berichte schreiben, sondern etwas anderes, was einen Ausweg aus diesem Zustand der Erschütterung bedeutete, in dem ich mich befand. Ich wollte mir selbst und auch den anderen sagen, wie es weiterging. Was zu tun war. In diesem Gefühl murmelte ich im „Emka“ unterwegs nach Moskau die ersten Zeilen des Gedichts „Namenloses Feld“ vor mich hin, die mir einfielen. Es enthielt kein Wort über Stalins Juli-Befehle, für mich selbst aber war es eine direkte und unmittelbare Antwort auf jene Erschütterung, die ich beim Lesen dieses Befehls empfunden hatte. Genauer, nicht eine Antwort, sondern ein Ausweg aus dieser Erschütterung:
Wir weichen, Genossen, wieder zurück, der erfolglose Kampf ist zu Ende, die blutrote Sonne der Schande versinkt hinter uns am Firmamente. Wir schlossen den Toten die Augen nicht. Sollen wir den Witwen erklären: Vergessen haben wir unsere Pflicht, die letzte Ehr zu gewähren? Es deckt sie kein Soldatengrab, sie liegen in Staub gebettet, doch wer sie dort verloren gab, hat sein eigenes Leben gerettet. Nein, etwas ganz anderes werden wir ihren Witwen und Müttern sagen: Wir schaufelten kein Grab für sie hier, weil keine Zeit war, sie zu begraben. So begann dieses dann erst in Moskau beendete bittere Gedicht, das mit der Erinnerung an Borodino endete: Es möge das namenlose Feld, das heute noch keiner kennt, zur Festung werden aus Eisen, die der Deutsche vergeblich berennt. War doch erst nur bei Moshaisk das kleine Dörfchen bekannt, das später dann ganz Rußland
Borodino hat genannt. In die Zeitung kam es damals nicht. „Töte ihn“, ebenfalls ein bitteres Gedicht, das auch die schweren Ereignisse dieses Sommers atmete, wurde noch Mitte Juli in der „Krasnaja Swesda“ und auch in der „Komsomolskaja Prawda“ veröffentlicht, dieses erste Gedicht jedoch nicht. Nach einigem Hin und Her riet man mir begütigend: „Heb es auf für einen Gedichtband!“ Ich wollte mich nicht streiten, und so hob ich es auf für ein Buch, das bald darauf erschien. Es enthielt unter anderem auch dieses Gedicht. Von der Zwangsvorstellung, die ich nicht so sehr für eine Vorstellung, sondern mehr für eine Vorahnung hielt – daß auch dieser Krieg sein Borodino haben müsse, daß es sehr bald kommen werde! –, konnte ich mich nicht trennen, und nach anderthalb Monaten beendete ich gleich meinen ersten aus Stalingrad nach Moskau geschickten Bericht mit einer Abwandlung der letzten Strophe aus „Namenloses Feld“. „Schließlich kannte man auch das Wort ,Borodino’ nur als Ortsnamen im Kreis Moshaisk, doch dann wurde es innerhalb eines Tages zu einem Wort, das das ganze Volk kannte…“ Doch zurück zu den Aufzeichnungen. Im August hielten Alexej Surkow und ich uns etwa eine Woche an der Westfront auf. Zu der Zeit unternahmen unsere Truppen einen Angriff in Richtung der Eisenbahnlinie Rshew-Wjasma, offenbar um einen Teil der deutschen Truppen von den weiter im
Süden gelegenen Fronten abzuziehen, wo es besonders schlecht um unsere Sache stand. In diesen Tagen rückten wir hier an der Westfront an verschiedenen Stellen zwanzig bis dreißig Kilometer vor. Wir nahmen die Städtchen Pogoreloje Gorodistsche und Subzow. Surkow und ich hielten uns bei den in Richtung Pogoreloje Gorodistsche angreifenden Truppenteilen auf. Es regnete, die Wege waren verschlammt. Auf den Straßen bildeten sich unübersehbare Staus. Wir ließen den Wagen stehen und gingen zwanzig Kilometer zu Fuß. In einer von den Deutschen errichteten Erdhütte, in der das Wasser knöcheltief stand, richteten wir uns aus Tannenreisig ein Nachtlager. Völlig durchnäßt wachten wir auf. Mein Käppi war mir vom Kopf gerutscht und schwamm im Wasser. Zum erstenmal sah ich befreite Dörfer nicht im Winter, sondern im Sommer. Der beklemmende Eindruck einer Einöde… Ustinowo… Kermanowo. Die Einwohner waren von den Deutschen verschleppt, die Häuser, in deren Außenwände man Schießscharten für die Kanonen gesägt hatte, waren in Feuernester verwandelt. Auf den Feldern lagen Gefallene von uns, die man noch nicht weggebracht hatte. Auf einem verunkrauteten Feld stießen wir auf einen einsamen, zur Brandstätte zurückschlurfenden alten Mann, der den Verstand verloren hatte. Die entsetzliche Verwahrlosung des Bodens war herzbeklemmend. Im Sommer ist all das viel schlimmer als im Winter. Im Winter deckt es der Schnee zu, und man meint, im Frühjahr werde es zu neuem Leben erwachen. Im Sommer müßte eigentlich alles voller
Leben sein, aber es herrschen Öde und die Stille nach der Katastrophe. Auch die Toten sehen im Sommer schrecklicher aus. Wenn man das von Toten sagen kann, wirken sie lebendiger, noch lange hat man den Anblick der zerfetzten Körper vor Augen, sieht sie aus einem unerfindlichen Grund immer noch als die Menschen, die sie einmal waren. Wir übernachteten in einer halbzerstörten Kate. Nur zwei ihrer Bewohner waren noch da: Maria Semjonowna, eine über die Maßen abgemagerte junge Frau, und ihre Tochter Anka. Anka war ein Jahr alt. Immer wieder wurde sie von einem Krampfhusten geschüttelt wie ein Erwachsener. Die Mutter wiegte sie, wir gaben ihr ein Stückchen Zucker zu lutschen – alles vergebens, der so gar nicht kindliche Husten warf das magere Körperchen buchstäblich herum. Die Mutter erzählte, die Kleine hätte sich im Winter erkältet. In der Kate sei ein Deutscher einquartiert gewesen, das Mädchen habe Bauchschmerzen gehabt, nächtelang geweint und den Deutschen nicht schlafen lassen. „Da steht der Deutsche auf, zerrt sie aus der Wiege, drückt sie mir in die Arme und stößt mich über die Schwelle. Ich bin mit ihr draußen in der Kälte unter den Fenstern auf- und abgegangen, bis ihr kalt wurde und sie aufhörte zu weinen. Ich bringe sie zurück ins Haus und passe nun schon selber auf – sobald sie anfängt zu schreien, geh ich wieder mit ihr raus. Der Deutsche konnte Kindergeschrei nicht ausstehen. Da hat sie sich erkältet, und nun hustet sie, ob das noch mal besser wird, weiß ich nicht.“ Ich wußte es auch nicht. Die Deutschen waren sieben Monate hier. Am Vortag hatten wir sie verjagt. Aber
neben der Freude über die Rückkehr gab es auch Bitterkeit. Neben Wiedergutzumachendem gab es auch Nichtwiedergutzumachendes…
6 Nach Moskau zurückgekehrt, saß ich ungewöhnlich lange an der Reportage über diese Offensive. Sie wollte einfach nicht gelingen. Schon aus psychologischen Gründen und auch der militärischen Geheimhaltung wegen konnte man sie nicht offen als Selbstaufopferung zur Hilfeleistung für die anderen Fronten schildern, und sie anders darzustellen, sah ich gleichfalls als unmöglich an. Nach der Reportage machte ich mich unverzüglich an das Stück „Wart auf mich“. Ich hatte mich schon lange mit dem Gedanken getragen, doch nun nahm der Plan konkrete Formen an. Ich schrieb jeden Tag ein Bild, als ahnte ich, daß meine nächste Fahrt bevorstand. Ich hatte die Arbeit noch nicht abgeschlossen, als mich Ortenberg mitten in der Nacht zu sich rief und sagte, er flöge in allernächster Zeit in den Raum Stalingrad, und ich solle mich bereithalten, mitzufliegen. Ich zuckte innerlich zusammen. Ich glaube, ich hatte Angst vor der Fahrt. Ortenberg, der von mir eine rasche und positive Antworte erwartet hatte, sah mich erstaunt an. Ich aber konnte, obwohl mir klar war, daß ich fahren würde, meine innere Unruhe nicht unterdrücken. Ich weiß nicht, wie es anderen damals ging, mir jeden-
falls erschien Stalingrad als etwas Schreckliches. Die Gedanken an diese Stadt verflochten sich mit den Gedanken an eine tödliche Gefahr; ich wollte mein Stück, das ich zur Hälfte fertig hatte, und das mir sehr gefiel, noch vor der Fahrt nach Stalingrad beenden. Im großen und ganzen war das ein Gefühl, das ich auch schon früher empfunden hatte und auch später noch mehrmals empfand. Eine Fahrt an die Front fiel mir immer leichter, wenn ich eine Arbeit abgeschlossen hatte, während mir eine Fahrt bei unfertiger Arbeit sehr schwer fiel. Ich antwortete Ortenberg, ich käme mit nach Stalingrad, wolle aber zuvor noch mein Stück beenden. Solange könne er nicht warten, sagte er. Dann sei ich auch bereit, sofort zu fahren, sagte ich. „Ich muß jetzt fahren und nicht später“, sagte Ortenberg, nach meinen Einwänden milder gestimmt. „Vier oder fünf Tage Aufschub würden dir ja doch nichts nützen.“ Ich sagte, vier Tage reichten mir schon. „Vier?“ erkundigte er sich mißtrauisch. „Vier“, sagte ich. „Und dann bist du mit dem Stück fertig?“ „Ja, dann bin ich fertig.“ „Na gut“, sagte er. „Also fliegen wir nicht morgen, sondern…“ Er schlug vier Tage drauf und nannte das Datum. „Schaffst du es dann?“ „Ja.“ Damit war das Gespräch beendet. Ich hatte fünf Bilder des Stückes bereits diktiert, vier blieben mir noch. Ich mußte diese vier Bilder also in vier Tagen zu Ende bringen. Ganz sicherlich wirkte sich das nicht gerade positiv auf das Stück aus, aber
ich diktierte es in diesen vier Tagen zu Ende, und am letzten Abend, am Vorabend unseres Fluges nach Stalingrad, lud ich Genossen ein und las es ihnen vor. Wir starteten am frühen Morgen in Moskau, und gegen Abend landeten wir östlich der Wolga in Elton, das mir noch vom Geographieunterricht in der Schule her ein Begriff war: „Elton und Baskuntschak – Salzgewinnung.“ Ein staubiger langer Sommerabend; eine staubige Bahnstation, staubige, weit auseinanderliegende Häuschen, staubige Steppen mit der staubverhangenen Sonne am Horizont und in der Ferne die in der Sonne schimmernden Salzseen. Auf dem Gleis ein einsamer Transportzug mit der Redaktion der Frontzeitung der Südwestfront, die nebenbei bemerkt zu dieser Zeit bereits in Südostfront umbenannt war. Mit den Bezeichnungen der Fronten war es überhaupt seltsam: Stalingrad selbst wurde von Armeen verteidigt, die zur Südostfront gehörten, während die Front, die damals Stalingrader Front hieß, nicht in Stalingrad lag, sondern weiter nördlich. Elton und das Gefühl, in eine Wüstenei geraten zu sein, wie ich es wohl seit der Mongolei nicht mehr verspürt hatte, werde ich niemals vergessen. Das war der letzte Punkt, den man auf dem Weg nach Stalingrad mit dem Flugzeug erreichen konnte. Den Rest des Weges mußte man mit dem Auto durch die Steppe bewältigen. Der ruhige, durch nichts bemerkenswerte Abend, den ich auf dem Weg nach Stalingrad in Elton verbrachte, schien mir der traurigste Abend im ganzen Krieg zu sein. Ich hatte das hoffnungslose Gefühl, ans Ende der Welt verschlagen zu
sein, und die Tatsache, daß die Deutschen in der Lage waren, so riesige Entfernungen zu überwinden, deprimierte mich. Die über dem Land schwebende Last des Krieges ballte sich hier zu einer beispiellosen niederdrükkenden Kraft zusammen, und alles, was danach kam, alles, was ich in Stalingrad sah und erlebte, war bei weitem leichter, einfacher, hoffnungsvoller und lebensfroher als dieser ruhige Abend in Elton. Wir stiegen in den Wagen und fuhren durch die Steppe in Richtung Stalingrad. Je mehr wir uns der Wolga näherten, desto mehr Flüchtlinge kamen uns entgegen. Ich hatte diese Aufzeichnungen schon niedergeschrieben, da stieß ich in einem der wenigen Notizbücher, die Stalingrad überdauert hatten – die meisten hatte ich auf dumme Weise verloren –, auf einige Strophen eines unvollendeten Gedichts über die Flüchtlinge und über diese Straße von Elton nach Stalingrad: Weine nicht! Auch wenn nun schon liegt Abendhauch über den gelben Steppen und noch nicht der Strom ist versiegt derer, die ihre Kinder schleppen… Weine nicht! Solang vor dir geschieht der bittre Stalingradexodus, kein einziger ins Auge dir sieht, kein einziger schenkt dir Blickes Gruß.
Voran! Nicht durch dein Erbarmen kannst du erflehn der Flüchtlinge Blick. Was von dir wollen die Armen ist: Vorwärts und nimmermehr zurück… Ich las jetzt meinen auf der damaligen Fahrt geschriebenen ersten Bericht. Er war unter dem Titel „Soldatenruhm“ erschienen und handelte davon, wie der Soldat Semjon Frolowitsch Schkolenko, dreißig Jahre, aus dem Dorf Sytschewka, Kreis Tazinski, Gebiet Rostow, von Beruf Bergmann, seit dem zweiten Kriegstag bei der Armee, bei Stalingrad losgeschickt wurde, eine „Zunge“ – einen deutschen MG-Schützen – zu holen, und wie er im Laufe von vierundzwanzig Stunden erst eine „Zunge“, dann noch eine – einen Angehörigen der Nachrichtentruppen – beim Regiment anschleppte. Und das, obwohl er selber in Gefangenschaft geraten und wieder geflüchtet war, wobei er mehrere Soldaten seines Regiments – die er kannte – mitgenommen hatte; sie waren den Deutschen am Vortag in die Hände gefallen. Einleitend wurde erläutert, warum der Beitrag die Überschrift „Soldatenruhm“ trug: „Nachts liegt roter Feuerschein rings um Stalingrad. Ruhm und Ruhmlosigkeit nächtigen in den Steppen unter dem gleichen Himmel… Heute halten wir uns. Noch siegen wir nicht. Noch ist der Ruhm der Divisionen und Armeen auf diesen Feldern nicht erstanden. Der Soldatenruhm aber ersteht jeden Tag und jede Nacht bald hier, bald dort…“ So hieß es in dem Bericht. In meinem Frontnotizbuch
aber steht neben dem unvollendet gebliebenen Gedicht folgende wortwörtliche Eintragung: „Warum schlagen uns die Deutschen? Sie schlagen uns dort, wo wir feige sind. Wo wir es nicht sind, siegen wir. Sobald sich zwei, drei tapfere Männer oder mehr finden, geht es vorwärts! Da denken einige, sie brauchten im Kessel ihre Waffe nicht mehr und werfen sie weg. Da nehm ich doch lieber das Brot aus dem Brotbeutel und stopf ihn mit Patronen voll. Der Deutsche, geht man nicht mit Karacho auf ihn los, sondern nimmt ihn geschickt in die Mangel, kriegt’s mit der Angst. Spürt der Deutsche, einer hat keine Angst und geht auf ihn los, so kriegt er selber Angst. Aber rückt man vor ihm aus, so schlägt er zu. Einer muß eben vor dem anderen Angst haben.“ So sahen in jenen Tagen einige von Semjon Frolowitsch Schkolenkos Überlegungen aus, hinter dessen Soldatenrücken Stalingrad lag. Von diesem Gefühl – Stalingrad im Rücken – war dann auch am Schluß der Reportage die Rede: „Schkolenko sieht lange in die abendliche Steppe hinaus, und ein bitterer Ausdruck tritt in sein Gesicht. ,Warum gucken Sie so?’ frage ich. ,Ich gucke, wie weit er uns zurückgedrängt hat. Weit hat er uns zurückgedrängt…“ Ein Photo des Soldaten war mit dem Beitrag auf der dritten Seite der „Krasnaja Swesda“ vom 11. September 1942 abgedruckt. Mein Blick ruhte lange darauf, und ich fragte mich: Ob er noch am Leben ist? Als mein Tagebuch in der Zeitschrift erschien, stellte ich diese Frage nicht nur mir selbst, sondern auch anderen. Und sie wußten es und schickten mir die
traurige Antwort: Nein, er lebt nicht mehr! Ihm wurde der Rotbannerorden verliehen, er überstand alle Kämpfe bei Stalingrad, kam, nun schon als Leutnant, bis in die Ukraine und fiel 1943 dort auf Belgoroder Boden. Meine Tagebücher enthalten eine recht knappe Aufzeichnung darüber, wie wir über die Wolga nach Stalingrad übersetzten, doch hier möchte ich dafür einige Seiten aus meinem Bericht „Tage und Nächte“ bringen, der auch eine Art Tagebuchaufzeichnung war und damals, im September 1942, über die militärische Leitung nach Moskau übermittelt worden war: „… Wir setzten am Abend über die Wolga. Rot hoben sich die Brandstellen vom schwarzen Abendhimmel ab. Die Motorfähre, auf der wir übersetzten, war überladen. Sie beförderte fünf mit Munition beladene Lkws, eine Kompanie Rotarmisten und einige Mädchen vom Sanitätsbataillon. Die Fähre fuhr zwar im Schutz eines Nebelvorhangs, aber das Übersetzen zog sich in die Länge. Neben mir am Rand der Fähre hockte eine Sanitäterin, ein zwanzigjähriges ukrainisches Mädchen. Sie hieß Stschepenja, mit dem ungewöhnlichen Vornamen Viktoria. Schon das vierte oder fünfte Mal setzte sie nach Stalingrad über. In der belagerten Stadt galten nicht mehr die üblichen Regeln für den Abtransport von Verwundeten. Die brennende Stadt konnte nicht mehr alle Sanitätseinrichtungen aufnehmen, die Feldschere und die Sanitäterinnen lasen die Verwundeten auf, transportierten
sie selbst von der Hauptverteidigungslinie durch die ganze Stadt, brachten sie auf Booten oder Fähren ans andere Ufer, und kehrten sogleich zurück, um neue Verwundete zu holen, die auf ihre Hilfe warteten. Viktoria und einer meiner Begleiter waren Landsleute. Den halben Weg sprachen sie über Dnepropetrowsk, seine Straßen und wo sie gewohnt hatten. Sie riefen sich ihre Heimatstadt in allen Einzelheiten in Erinnerung, und es war zu spüren, daß ihr Herz sie nicht den Deutschen überlassen hatte und niemals überlassen würde, daß diese Stadt – was auch immer geschah – ihre Stadt war und blieb. Schon näherte sich die Fähre dem Stalingrader Ufer. ,Und doch ist mir bei jeder Überfahrt ein wenig bange’, sagte Viktoria unvermittelt. ,Zweimal war ich schon verwundet, einmal recht schwer, aber ich habe nie geglaubt, daß ich sterben würde, weil ich ja noch gar nicht richtig gelebt, noch gar nichts vom Leben gesehen habe. Wie könnte ich da plötzlich sterben?’ Ihre Augen waren in diesem Augenblick groß und traurig. Ich konnte sie gut verstehen: Es war schrecklich, mit zwanzig Jahren schon zweimal verwundet gewesen zu sein, schon fünfzehn Monate im Kampf zu stehen und zum fünftenmal hinüberzufahren nach Stalingrad. So vieles lag noch vor ihr – das ganze Leben, die Liebe und, wer weiß, vielleicht sogar noch der erste Kuß! Und da fuhr in dieser Nacht das zwanzigjährige Mädchen nun schon zum fünften Male in das unablässige Bersten und Dröhnen, in die unablässig brennende Stadt. Und sie mußte hinüber, wenn auch die Angst noch so groß war. Schon in einer Viertelstunde würde sie durch brennende Häu-
ser gehen und in einer der Vorstadtstraßen zwischen Ruinen im Pfeifen der Splitter Verwundete auflesen und zurückbringen, und hatte sie sie zurückgebracht, ein sechstes Mal hierherkommen…“ Mein Gespräch mit der jungen Feldscherin war ein langes Gespräch, ich konnte es in seiner ganzen Länge nicht in meinem Bericht unterbringen. Doch ich hatte es gut in Erinnerung, und im Frühjahr 1943, als ich eine Erzählung über Stalingrad schrieb, kam ich – unter der gleichen Überschrift, unter der der Bericht erschienen war, und zwar „Tage und Nächte“ – noch einmal darauf zurück. Viele Jahre waren vergangen. Kurz vor dem 20. Jahrestag der Schlacht von Stalingrad erhielt ich unerwartet einen Brief aus Dnepropetrowsk vom Stellvertreter des Redakteurs der Gebietszeitung „Sorja“, dem alten Journalisten Lew Ossipowitsch Awruzki: „… Ich möchte gern Näheres über eine Heldin Ihrer Reportage ,Tage und Nächte’ erfahren. Es handelt sich um unsere Landsmännin Viktoria Stschepenja. Ich möchte gern wissen, was nach dem Krieg aus ihr geworden ist. Ich habe sie hier in Dnepropetrowsk gesucht, aber nicht gefunden. Haben Sie vielleicht etwas über sie gehört? Vielleicht sollte man sie über das Ministerium für Verteidigung suchen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie als Zeitungsmann mit einem Rat helfen würden…“ Ich war fast überzeugt, daß in diesem Fall schon aus mehreren Gründen eine Suche so gut wie aussichtslos war, und bemühte mich, das in meiner Antwort zu begründen: „… Ihren Brief habe ich erhalten. Auch ich wollte Näheres über das Schicksal Ihrer Landsmännin Vik-
toria Stschepenja in Erfahrung bringen, aber zu meinem Leidwesen muß ich annehmen, daß sie umgekommen ist. In ,Tage und Nächte’ (in der Erzählung) ist ein ganzes Stück unseres Gesprächs in der Szene, in der Saburow zum erstenmal nach Stalingrad übersetzt, so ausführlich und genau wiedergegeben, daß – wäre Ihre Landsmännin noch am Leben – sie sich daraufhin sicherlich gemeldet hätte. Die ,Tage und Nächte’ sind im Laufe der Jahre in zwei Dutzend Auflagen erschienen, und sie wäre sicherlich auf diese kurze Szene gestoßen, in der Anja zu Saburow die gleichen Worte sagt, die sie bei der Überfahrt damals zu mir und meinem Begleiter sagte. So traurig der Gedanke auch ist, befürchte ich doch, daß jenes Mädchen, von dem ich in der Reportage ,Tage und Nächte’ schrieb und deren Worte ich später in der Buchfassung wiedergab, umgekommen ist. Es wäre schön, wenn es nicht so wäre! Übrigens waren in der Reportage Vor- und Familienname und die Stadt ohne jede Änderung exakt angegeben. Ich habe das zu dieser Zeit möglichst immer getan, da ich wußte, daß die ,Krasnaja Swesda’ einen großen Leserkreis hatte und man den Angehörigen des einen und anderen eine Freude machen konnte, wenn sie in der Zeitung auf den Namen ihrer Nächsten stießen und so die Gewißheit hatten, daß sie – jedenfalls noch ein paar Tage zuvor – gesund und munter waren…“ Kurz nach Absendung dieses Briefes fuhr ich zu den Festlichkeiten anläßlich des 20. Jahrestages der Schlacht von Stalingrad, und bei meiner Rückkehr
fand ich ein Telegramm aus Dnepropetrowsk auf meinem Schreibtisch: „Frohe Botschaft. Stschepenja lebt, arbeitet in ihrer Geburtsstadt und läßt Sie grüßen. Awruzki.“ In Ergänzung des Telegramms erfuhr ich von Awruzki am Telefon, daß Viktoria Stschepetja (und nicht Stschepenja, wie in meiner Korrespondenz) nach Stalingrad zwar noch einmal verwundet worden war, den Krieg aber bis zum Ende mitgemacht hatte, heute drei Kinder besaß und im Dnepropetrowsker Waggonreparaturwerk arbeitete. Noch am gleichen Tag sandte ich ein Telegramm und das Buch „Tage und Nächte“ mit einem Brief an sie ab. „… Obwohl wir uns damals bei der Überfahrt nur für wenige Minuten sahen, hat sich mir diese Begegnung doch ungewöhnlich fest eingeprägt. Als ich damals im September 1942 meine Reportage ,Tage und Nächte’ aus Stalingrad an die ,Krasnaja Swesda’ schickte, wurde der Text in der Nachrichtenzentrale direkt in den Fernschreiber diktiert. Erst viel später, als ich wieder in Moskau war, sah ich sie gedruckt. Wahrscheinlich ist dem, der den Fernschreiber bediente, bei einem Buchstaben Ihres Namens ein Fehler unterlaufen. Mein Begleiter, der damals gemeinsam mit uns nach Stalingrad fuhr und wie Sie aus Dnepropetrowsk stammte, lebt und ist gesund. Damals war er Divisionskommissar und Redakteur der ,Krasnaja Swesda’ und schrieb für die Zeitung unter dem Namen Wadimow. Mit seinem wirklichen Namen heißt er David Iossifowitsch Ortenberg. Heute ist er Generalmajor im Ruhestand. Als ich ihn anrief, ihn an unsere Wolgaüberfahrt erinnerte und
sagte, Sie seien am Leben und von den Genossen einer Dnepropetrowsker Zeitung ausfindig gemacht worden, hat er sich genauso gefreut wie ich. Mein Buch ,Tage und Nächte’ habe ich unmittelbar nach Beendigung der Stalingrader Ereignisse, im April und Mai 1943, geschrieben. An der Front war es ruhig, und die Redaktion gewährte mir einen zweimonatigen Urlaub, damit ich ein Buch über Stalingrad schreiben könne. Obwohl das ein Roman war und ich seine Helden frei erfunden hatte, schöpfte ich natürlich aus meinen Erinnerungen. Ich erinnerte mich an die bedrückenden Bilder von Stalingrad und an die Menschen, denen ich dort begegnet war. Auch unser Gespräch während der Überfahrt war mir in lebendiger Erinnerung. Ich hatte es damals nicht festgehalten – danach war mir nicht –, aber ich glaube, es gut behalten zu haben, und als ich die Szene schrieb, in der Saburow und Anja über die Wolga fahren, legte ich Anja Ihre Worte während der Überfahrt in den Mund. Vielleicht ist nicht alles wortwörtlich wiedergegeben, aber ich meine doch, daß das Gespräch im Roman dem Gespräch sehr nahe kommt. Aber es geht nicht nur darum. Die kurze Begegnung mit Ihnen, die Aufrichtigkeit, mit der Sie über Ihre Gefühle sprachen, und die schlichte Tapferkeit, die für Sie so kennzeichnend war und die Sie, wahrscheinlich unbewußt, damals beim Übersetzen über die Wolga offenbarten – das alles war für mich als Schriftsteller der erste Anstoß dazu, die in dem Roman vorkommende Krankenschwester Anja ebenso zu gestalten. Und so möchte ich Ihnen heute, nach so
vielen Jahren, danken…“ Wenig später traf die Antwort ein – knapp, zurückhaltend, erfüllt von tiefer innerer Würde: „… Es ist kaum zu glauben, Konstantin Michailowitsch, wie schnell die Zeit verrinnt und ich nicht mehr das Mädchen bin, dem Sie auf der Fähre begegneten, sondern Mutter dreier Söhne, eine Frau, die bald zweiundvierzig wird. So teuer mir auch die Minuten sind, da ich an das Stalingrad der schweren Kriegstage zurückdenke, so möchte ich es doch gern einmal im Frieden sehen. Möchte den Mamajew-Hügel wiedersehen, die Kellergewölbe, wo ich mich mit den Verwundeten aufhielt, die Anlegestelle unserer Fähre, möchte den Kampfgefährten wiederbegegnen… An besonders schweren Tagen habe ich den Ausschnitt aus der ,Krasnaja Swesda’ mit Ihrer Reportage hervorgeholt. Ich habe Ihnen einige Male einen Brief über mein Leben schreiben wollen, aber dann habe ich mich doch nicht dazu aufgerafft.“ Nein, an dem falschen Buchstaben eines Militärtelegraphisten hat es nicht gelegen. Menschen wie Viktoria Illarionowna Stschepetja sind nicht nur deshalb so schwer aufzufinden, weil ihr Name in der Zeitung einmal nicht richtig wiedergegeben wurde, sondern weil sie ihre Handlungen im Krieg als die natürliche Verhaltensnorm ansehen und keinen Grund sehen, sich selbst und ihre Vergangenheit als Soldat in Erinnerung zu bringen. Und um so weniger Wert legen sie darauf, als Urbilder literarischer Helden zu gelten. Das liegt nicht an einem Buchstaben, sondern am Charakter. Lange Jahre wußte ich auch nichts von
einer anderen handelnden Person in meinen Stalingrader Berichten – von Wadim Jakowlewitsch Tkalenko, dem Haupthelden der Reportage „Kämpfe am Stadtrand“, dem dreiundzwanzigjährigen Bataillonskommandeur in Gorochows Brigade, die im nördlichsten Abschnitt des Stalingrader Verteidigungsrings kämpfte, genau dort, wo heute das Wolga-Wasserkraftwerk steht. Ende November 1942, als sich die 66. Armee unter General Shadow nördlich des Traktorenwerks mit der von den übrigen Truppen der 62. Armee seit längerem abgeschnittenen Gruppe Gorochows vereinigte, tauchte in den Zeitungen der Name des Oberleutnants Tkalenko auf, der sich von der Stalingrader Seite her als erster zu den Truppen der 66. Armee durchschlug. Nach dem Krieg wurde meine Reportage über Tkalenko wiederholt in meinen Büchern und auch in verschiedenen Sammelbänden abgedruckt. Tkalenko aber meldete sich nicht. Erst als ich zwanzig Jahre nach diesen Ereignissen mit Sergej Fjodorowitsch Gorochow und seinem Stalingrader Kommissar Wladimir Alexandrowitsch Grekow zusammentraf, erfuhr ich, daß Wadim Tkalenko – Tschapajew, wie man ihn damals in der Brigade wegen seines weizenfarbenen Tschapajewschnurrbarts nannte – am Leben war und General Gorochow sogar die Adresse seines ehemaligen Bataillonskommandeurs wußte. Ich schrieb an Tkalenko und erhielt binnen weniger Tage Antwort: „… Gestatten Sie, daß ich Sie anläßlich des 20. Jahrestages der Zerschmetterung, jawohl, der Zerschmetterung der deutschen Truppen bei Sta-
lingrad beglückwünsche! Damit wäre die Einleitung beendet, und nun zum Bericht über mein Leben in den Jahren nach der Schlacht von Stalingrad. Ich habe lange Krieg führen müssen. Nach Beendigung der Kämpfe an der Wolga verschlug es mich von ihrem mächtigen Lauf zu ihren Quellen. Ich kämpfte im Raum Kalinin und Smolensk. Wegen einer Verwundung schied ich aus der 124. Brigade aus, die nach den Kämpfen bei Stalingrad mit dem Rotbannerorden ausgezeichnet worden war. Nach meiner Genesung wurde ich zum Kommandeur eines Schützenregiments der 234. Schützendivision ernannt, mit dem ich kämpfte, bis ich zu dem „Wystrel“-Kurs abkommandiert wurde. Wie Sie wissen, hatte mich der Kriegsbeginn an der Westgrenze der Ukraine überrascht. Bei der Befreiung aber kam ich mit meinem Regiment in die Nähe jenes Gebiets ganze zwölf Kilometer nördlich davon, wo unser Rückzug begonnen hatte. Ich suchte diesen Ort auf und fand sogar das Quartier wieder, in dem ich die letzte Nacht vor dem Krieg verbracht hatte. Das Kriegsende erlebte ich zwölf Kilometer von der Stadt Antrazit entfernt, wohin ich, als ich Urlaub bekam, meine Familie aus Mittelasien nachholte. Nach Kriegsende blieb ich noch ein Jahr bei der Armee. Am 7. Mai 1946 wurde ich aus der Armee entlassen. Während des Krieges hatte ich wohl oder übel manches zerstören müssen, weshalb ich unmittelbar nach meiner Entlassung aus der Armee das Donezbecken wieder mitaufbaute: In den ersten beiden Jahren arbeitete ich als Gehilfe des Hauptmechanikers eines Kohlentrusts und von 1948 bis
zum heutigen Tag bei Schachtstroi als Montagespezialist. Wir haben die durch den Krieg zerstörten Gruben und Aufbereitungsfabriken wieder aufgebaut, und seitdem wir mit dem Wiederaufbau fertig sind, bauen wir neue. Soviel zu meinem Leben. Ein paar Worte über meine Familie. Sie ist nur klein – wir sind zu sechst. Zwei Söhne, eine Tochter, meine Frau und meine Mutter. Der älteste Sohn hat seine Dienstzeit bei der Armee schon hinter sich und besucht jetzt eine Fachschule. Die Tochter ist an einer Musikschule, und der Jüngste schließt gerade die achte Klasse ab. Meine Frau und ich arbeiten, und unsere Oma, meine Mutter, versorgt den Haushalt. Bestellen Sie bitte bei Gelegenheit Sergej Fjodorowitsch Gorochow einen Gruß von mir und meiner ganzen Familie. Zu Neujahr 1963 bekam ich eine Glückwunschkarte von Grekow, aber zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich seinen Vor- und Vatersnamen nicht weiß. Bestimmt werden Sie sich an ihn erinnern, er war der Kommissar der Brigade. Ich wünschte sehr, wir könnten uns alle bei mir zu Hause treffen und an das Vergangene zurückdenken. Zwanzig Jahre sind seitdem vergangen, und doch scheint es, als wäre es erst unlängst gewesen…“ Ja, Tkalenko hat recht. Nicht nur damals, 1963, als ich diesen Brief erhielt, sondern auch heute, weitere zehn Jahre später, scheint es noch immer, als wäre Stalingrad erst unlängst gewesen. Es wäre nicht die Wahrheit, wollte ich sagen, daß alles, was mit Stalingrad zusammenhängt, immer noch in meinem
Gedächtnis haftet. Nein, natürlich ist sehr viel aus dem Gedächtnis geschwunden. Aber neben dem Gedächtnis gibt es noch diesen, ich möchte sagen, Klang Stalingrads, dieses Knirschen der total zerstörten deutschen Maschinerie, das wir damals vernahmen. Ob es vielleicht dieser Klang ist, den wir noch heute hören und der der Hand gebietet, das nach dreißig Jahren unnatürlich erscheinende Wörtchen „unlängst“ zu schreiben? Ich wende mich nun wieder den Tagebuchaufzeichnungen zu, die diesmal, wie schon aus dem Text ersichtlich, erst nach Erscheinen des Buches „Tage und Nächte“ entstanden waren. Ich wäre jetzt wahrscheinlich nicht mehr imstande, den ganzen Verlauf dieser Fahrt aufzuzeichnen. Manches ist vergessen, an anderes erinnert man sich nur undeutlich, das Interessanteste meiner Beobachtungen aber fand durchweg Eingang in die Erzählung und ist heute mit den. Menschen verknüpft, über die ich schrieb. Einige Einzelheiten aber möchte ich doch festhalten. Wir setzten wohlbehalten über. Schon am Ufer schlug uns beklemmender Brandgeruch entgegen – der Gestank nach verbranntem Eisen und noch etwas anderem –, an den wir uns später offenbar gewöhnten und den wir nicht mehr wahrnahmen. Im ersten Augenblick aber war das alles unsäglich schwer, es erinnerte mich an den letzten Winter, an die Westfront, an die niedergebrannten Städte und Dörfer, in die ich nach den Deutschen kam, und an den dort ständig in der Luft liegenden Brandgeruch.
Zu viert – Tjomin, Korotejew, Ortenberg und ich – begaben wir uns zunächst in das Kellergewölbe des Stabes, unweit des Operettentheaters, nahe der Zariza, die die Stadt in zwei Hälften teilte. Im Stab wurde mit Hochdruck gearbeitet: in dem Gewölbe hämmerten Schreibmaschinen, rannten Menschen umher, schrillten Fernsprecher. Aber Ortenberg wollte eigentlich zum Gefechtsstand der Front, der vor kurzem in ein anderes unterirdisches Gewölbe unmittelbar am Wolgaufer verlegt worden war. Wir folgten einer zum Ufer führenden Straße und stiegen dann in eine Baugrube hinab. Ein Posten hielt uns an, prüfte unsere Papiere, und nachdem wir ihn passiert hatten, standen wir vor einer in das Gewölbe führenden Tür. Hier standen ein paar Männer in Uniform und rauchten. Es war schummrig, und einer von ihnen erzählte bedächtig mit ruhiger, energischer Stimme eine spaßige Geschichte. Bei näherem Hinsehen erkannten wir in ihm den Oberbefehlshaber der Front, General Jeremenko. Er war herausgekommen, um sich die Beine zu vertreten, und stützte sich, da er nach einer Verwundung noch hinkte, mit seinem ganzen Körper auf einen Stock. Ortenberg grüßte, sprach ein paar Minuten mit Jeremenko, und wir begaben uns ins Gewölbe. Als wäre es heute, so sehe ich einen der Räume dieses unterirdischen Gewölbes vor mir. Ich sage „Räume“, weil alles in diesem Tunnel mit den Querwänden aus Brettern mich irgendwie an ein riesiges U-Boot erinnerte. In einem der mit Pritsche und Tisch ausgestatteten Räume saß Chrustschow und unterschrieb
Papiere. Ich setzte mich etwas abseits, während Ortenberg Chrustschow eine ganze Weile nach der Lage befragte und danach, wie wir seiner Meinung nach darüber in der Zeitung berichten sollten. Die Lage war schwer, Chrustschow machte ein finsteres Gesicht und antwortete einsilbig. Holte dann Zigaretten hervor und riß ein Streichholz nach dem anderen an. Die Streichhölzer aber flammten auf und verloschen gleich wieder, die Tunnelbelüftung war miserabel. Er riß bestimmt an die zwanzig Streichhölzer nacheinander an, dann schleuderte er Streichholzschachtel und Zigarette gereizt beiseite. Wieder wurden ihm Papiere zur Unterschrift gebracht, und er war offensichtlich ganz zufrieden darüber, da er dadurch das Gespräch abbrechen und sich ins Lesen vertiefen konnte. Es war zu merken, daß er keine Lust hatte, sich mit uns zu unterhalten, was sicherlich recht schwer war, denn es gab ja eigentlich nichts, worüber man in diesem Moment mit Korrespondenten hätte sprechen können. Nachts gingen Ortenberg und ich wieder in das Hauptgewölbe an der Zariza, wo wir Korotejew und Tjomin zurückgelassen hatten, und legten uns todmüde schlafen. Als wir am nächsten Morgen aufwachten – es mochte neun, vielleicht auch zehn sein, umgab uns Stille, kein Stab, keine Schreibmaschinen, keine Menschen. Wir lagen auf unseren Mänteln in einem völlig leeren Raum, und als wir in den Tunnel hinaustraten, sahen wir Nachrichtensoldaten die letzten Kabel aufrollen. Nichts war mehr da; der Frontstab war im Laufe der Nacht verlegt worden. Das war schon ein seltsames Gefühl. Als wir uns
hinlegten, herrschte wahrer Trubel, Schreibmaschinen klapperten, und als wir aufwachten – war alles leer. Das war weder unlogisch noch schrecklich, schien normal, machte einem innerlich aber doch zu schaffen. Der gesamte Frontstab war in dieser Nacht, in den ersten Morgenstunden aufs andere Wolgaufer, nach Achtuba, verlegt worden, und hier im Norden Stalingrads war nur der Stab der 62. Armee zurückgeblieben. Ich glaube, sie wurde an diesem Tag noch von General Lagutin geführt und Tschuikow übernahm das Kommando über sie erst am nächsten Tag. Ich kann mich aber auch irren. Was von dem, das später in abgewandelter Form in „Tage und Nächte“ aufgenommen wurde, soll ich erwähnen? Mir fällt der Morgen vor unsrer Abfahrt aus Stalingrad ein. Ort der Handlung das gleiche Gewölbe, in dem wir in der ersten Nacht Jeremenko und Chrustschow begegneten. Sie waren jetzt am anderen Ufer, hier hielt sich nur noch der Vertreter der Front auf, General Golikow. Ortenberg hat die Information bekommen, Teile der Stalingrader Front sollten bald von Norden her durchbrechen, um sich mit der 62. Armee, bei der wir uns gerade befanden, zu vereinigen. Er wollte, daß wir diese Kämpfe nicht von dieser, sondern von der anderen Seite aus beobachten. Dazu müssen wir zweimal über die Wolga. Ich persönlich hätte es vorgezogen, in Stalingrad zu bleiben, nebenbei gesagt auch deshalb, weil mir das bevorstehende zweimalige Übersetzen nicht sonderlich gefiel. Da für Ortenberg meine Wünsche in diesem Fall nicht maßgeblich waren, saß ich da und schwieg, während
er mit dem Stellvertreter des Frontoberbefehlshabers sprach. Golikow hörte Ortenberg zu, und ich hatte das Gefühl, daß er uns verachtete und dies kaum verhehlte. Im stillen hielt er uns sicherlich für Feiglinge, weil wir aus Stalingrad weg wollten. Was wir auch vorhatten, eines stand fest – wir wollten Stalingrad verlassen. Ortenberg scheint das zu spüren, hält es aber für unter seiner Würde, darauf einzugehen. Mich läßt das kalt. Ich habe schon einmal erwähnt, daß Menschen, die in einer kritischen Lage zurückbleiben, meistens die weggehenden Korrespondenten für Feiglinge halten. Vielleicht denkt Golikow nichts dergleichen, sondern ist nur so gallig, weil ihm wieder einmal ein Magengeschwür zu schaffen macht. Er hat eine Wärmflasche auf dem Bauch. Bald setzt er sich an den Tisch, bald kauert er sich auf die Pritsche, und nimmt, während er Befehle erteilt und Papiere unterschreibt, ab und zu einen Schluck Reisschleim zu sich. Wieder wird ihm eine Meldung gebracht, offenbar eine unangenehme, er verzieht das Gesicht und nimmt wieder einen Schluck Reisschleim. In diesen Tagen wäre ich manchmal gern aus Stalingrad weggegangen. Jetzt aber möchte ich am liebsten noch hier im sicheren Keller sitzen bleiben. Das Gefühl der Gefahr beim längeren Aufenthalt in Stalingrad ist nicht verschwunden, aber die Angst vor dem Übersetzen ist stärker, um so mehr, als wir die Wolga bis dahin dreimal überquert hatten und heute nun schon zum viertenmal übersetzen müssen. Und danach stand uns ein fünftes Übersetzen bevor. Schließlich gehen wir. Klettern aus dem Gewölbe
hinauf ans Ufer und erreichen die Übersetzstelle unweit einer Mühle, einem Backsteingebäude. Ein klarer Herbsttag. Das Ufer wird unablässig bombardiert. Die Erde unter den Füßen bebt unter den Einschlägen bald stärker, bald schwächer. Ringsum ein heilloses Durcheinander – Hausruinen, eingestürzte Baracken, verbogene Schienen, zerfetzte Fässer, Bretter, Bruchstücke von Mobiliar und Hausrat. Oben auf dem Steilufer steht ein Bretterhäuschen, nur eine kleine Bude, in der sich eine Kantine befindet, und in dieser Kantine werden die in der Stadt verbliebenen Angehörigen der Gebietsverwaltung verpflegt. Warum gerade hier, weiß kein Mensch. Ortenberg betritt die Bude, ich aber – warum, weiß ich nicht mehr – bleibe draußen. Ich sitze mit Korotejew am Ufer, wir warten auf den Prahm, der eben am anderen Ufer abgelegt hat. Wieder fallen Bomben. Ortenberg kommt aus dem Häuschen und ruft uns zu, wir sollten auch frühstücken kommen. Ich antworte, wir wollten nicht frühstücken. Ortenberg geht wieder hinein. Die hohen Vorgesetzten nehmen dort mitten im Bombenangriff das Frühstück ein und demonstrieren sich so gegenseitig ihre Selbstdisziplin. Korotejew und ich brauchen unsere Selbstdisziplin niemandem zu demonstrieren; und es ist zu weit und zu beschwerlich, um irgendwo hinzulaufen, wo man wirklich Schutz vor den Bomben finden könnte. Am Ufer selbst kann man sich nirgends verstecken. So sitzen wir also da und harren der Dinge, die da kommen. So geht das ungefähr eine Stunde. Endlich legt der
Prahm an und setzt uns nach vierzig Minuten wohlbehalten am anderen Ufer ab. In einem Dorf im Rayon Achtuba übernachten wir. Einen Tag halten wir uns dort auf und schreiben für die Zeitung über ein Meeting von Gardesoldaten, die aus dem Kampf hierher zurückgezogen wurden, um die 33. Gardedivision aufzufüllen. Am nächsten Morgen, nachdem wir uns von Korotejew verabschiedet haben, fahren Ortenberg und ich am linken Wolgaufer entlang stromaufwärts bis zu einem Dörfchen, in dessen Nähe eine Fährverbindung zum anderen Wolgaufer, nach Dubowka besteht. Wir gehen auf die Fähre und kommen bis zur Flußmitte. Über uns taucht ein deutscher Bomber auf und bewirft uns mit Bomben. Von der Fähre aus wird nicht geschossen – nicht mit MGs und nicht mit Kanonen. Der Bomber fliegt uns dreimal hintereinander an, wirft seine Bomben um uns herum ab, verschwindet wieder. Nach weiteren zwanzig Minuten sind wir am anderen Ufer. Sollten Ortenbergs Informationen zutreffen, daß die Offensive von hier, von Norden her eingeleitet wird, daß sie wirklich wieder beginnt und erfolgreich ist, landen wir vielleicht in wenigen Tagen zusammen mit den Truppen wieder in Stalingrad beim Traktorenwerk, wo wir bereits waren. Das sind alle meine bruchstückhaften Aufzeichnungen über Stalingrad, als Gedächtnisstütze festgehalten nach Kriegsende und in den ersten Nachkriegsjahren. Denke ich heute an jene Zeit zurück, füge ich diesen
Aufzeichnungen in Gedanken die Seiten der Reportagen „Soldatenruhm“, „Kampf am Stadtrand“ und „Tage und Nächte“ hinzu, die ich damals 1942 über die militärische Leitung an die Redaktion durchgab. Und auch einige Seiten von „Tage und Nächte“, natürlich nicht alle, sondern nur die, die auf den eigenen Beobachtungen und Erlebnissen dieser Tage fußen. Im Frühjahr 1943, beim Schreiben dieser Erzählung, wollte ich nach dem noch frischen Gedächtnis meine ganze Stalingrader Fahrt aufzeichnen, alles, was ich gesehen hatte. Aber die Ungewißheit – wie lange die Frühjahrsruhe andauern und wieviel Zeit mir das Schicksal für die Arbeit gewähren würde – setzte mir offenbar so zu, daß ich meinen ursprünglichen Plan fallen ließ und mich gleich an die Erzählung machte und nicht erst das Tagebuch schrieb. Und nachdem die Erzählung über diese Ereignisse geschrieben war, hielt ich sie nicht mehr in Tagebuchform fest, sondern beschränkte mich lediglich auf bruchstückhafte Notizen. Die verlorengegangenen Stalingrader Notizbücher habe ich bereits erwähnt, eines ist erhalten geblieben und enthält die Aufzeichnung eines Gesprächs mit Alexander Iwanowitsch Utwenko, dem Kommandeur der 33. Gardedivision, deren Meeting wir beiwohnten und worüber wir Material für die Zeitung zusammenstellten. Das Gespräch mit Utwenko fand statt in Ruhestellung in einem Dorf, in einer Hütte am anderen Wolgaufer, nach unserer Abfahrt aus Stalingrad. Aber sein Bericht darüber, was er von den Sommerkämpfen an im Jahr 1942 bis zum 6. September, als die Reste seiner
Division über die Wolga zurückgebracht wurden, alles erlebt hatte, kann als ein Prolog eigener Art zu Stalingrad dienen. Als ich jetzt wieder las, wie sich im Sommer 1942 eine unserer nach Stalingrad zurückweichenden Divisionen schlug, ging es mir abermals durch den Sinn: Stalingrad hat sich nicht nur gehalten, weil seine unmittelbaren Verteidiger alles nur Menschenmögliche taten, sondern auch, weil schon lange vorher, noch im Sommer, die Männer, die auf den fernen Zugängen zu Stalingrad ihr Leben ließen, mit ihrer Hartnäckigkeit die Kräfte der Deutschen untergruben. Eine gewisse Vorstellung davon vermittelt der Bericht Oberst Utwenkos: „… Ich erlitt an der Westfront eine Kontusion, um Neujahr wurde ich bei Rusa dreimal von Kugeln erwischt. Die Genesung dauerte bis März. Ich war für den Etappendienst vorgesehen, führte eine Reservedivision, von dort wurde ich durch ein dringendes Telegramm abberufen zur Übernahme der 33. Gardedivision. Ich übernahm die Division, als sie bereits in der Verteidigung lag. Am 23. Juli fielen die Deutschen mit mehreren Divisionen über uns her, Breite des von uns gehaltenen Frontabschnitts zweiundzwanzig Kilometer! An der rechten Flanke brachen Panzer durch, an der linken wich der Nachbar zurück. Ich nahm die Flanken Schritt für Schritt zurück, und schließlich gingen wir zur Rundumverteidigung über mit einem Gesamtumfang von sechsundfünfzig Ki-
lometern. Bei der Verteidigung setzte ich eine bewegliche Reserve ein – siebzehn Panzer mit aufgesessenen MPi-Schützen. Vom 24. bis 27. Juli hatten wir keine Verbindung, mit der Armee. Sie wurde noch einmal hergestellt, aber am 6. August war es damit endgültig aus. Die Unseren – links und rechts von uns – wichen hinter den Don zurück. Ich hielt mich, weil mein Befehl so lautete und weil ich mich für einen Stützpunkt hielt, mit dessen Hilfe die Unseren zur Offensive übergehen könnten. Ich fühlte, daß ich eine komplette Division und Teile von zwei weiteren Divisionen der Deutschen band. Bis zum 9. August stand ich in blutigen Kämpfen. Hätten wir uns in dem flachen Gelände nicht bis über den Kopf eingegraben, so wäre von uns nicht viel übriggeblieben. Munition und Lebensmittel wurden immer knapper. Auf Fuhrwerken und Kamelen schafften wir die Verwundeten nachts nach hinten. Gegen Abend des 9. August, als wir per Funk Befehl erhielten, uns nach Osten zurückzuziehen, waren von der Division nicht mehr als dreitausend Mann übrig. Auch die Deutschen hatten schwere Verluste. In diesen Kämpfen schleppten wir allein im Abschnitt des Bataillons von Hauptmann Jermakow fünfhundertdreizehn tote Deutsche in eine Schlucht, weil wir immer wieder Gegenangriffe unternahmen und die Stellungen hielten und in unserer Verteidigungslinie viele tote Deutsche lagen. Vor Gestank konnten wir kaum atmen. Bei Gegenangriffen machten wir bei den Deutschen Beute, schnappten auch neunzehn leichte Maschi-
nengewehre. Unsere Patronen reichten nicht aus, deshalb warfen wir die MG-Schützen mit mehreren tausend deutschen Patronen nach vorn auf eine Höhe, wo sie bis zum letzten Mann kämpften und die Deutschen nicht zu unseren Hauptstellungen durchließen. Von den ersten Tagen an sah es mit der Verpflegung schlecht aus – wir lagen zu weit in der Steppe. Am 6. August war kaum noch Verpflegung da. Wir kochten Brei aus Weizen, den wir in einer selbstgebauten Graupenmühle zerquetscht hatten. Um den 9. herum war es auch damit endgültig aus. Als der Befehl zum Durchbruch nach Osten kam, hatte ich noch etwa dreitausend Mann, siebzehn Geschütze und dreizehn leichte Panzer. In zwei Kolonnen schlugen wir uns durch die Schluchten. Eigenhändig zogen wir die Kanonen. An einem schmalen Frontabschnitt brachen wir durch, dabei verloren wir an die dreihundert Mann. Die Deutschen verlegten in der Nacht bis zum Morgen ein Infanterieregiment und schlossen den Ring wieder. Am 11. ging es um vier Uhr früh wieder los. Wir wurden aus der Luft und mit Panzern angegriffen. Das Gefecht dauerte bis Mittag, dann hatten sie uns in einzelne Gruppen aufgespaltet. Bis zuletzt leisteten wir Widerstand. Ich selbst füllte das Magazin meiner Mauser fünfmal. Wir hielten mit den MPis rein. Einige Kommandeure erschossen sich. Etwa tausend Mann fielen, sie hatten ihr Leben teuer verkauft. Einer holte ein Flugblatt aus der Tasche und wollte zu den Deutschen überlaufen. Galja, Dolmetscherin beim Divisionsstab, schrie: „Guckt
doch nur, der Schweinehund will sich ergeben!“ Und schon schoß sie mit der Pistole auf ihn. Die Panzer nahmen uns unter direkten Beschuß. Ich feuerte mit der letzten Kanone. Die Granaten gingen zur Neige, sechs Geschützbedienungen waren außer Gefecht gesetzt, der Adjutant war gefallen. Die Deutschen waren schon kurz vor dem Geschütz, da sprang ich aus einer Höhe von neun Metern hinunter in ein Moor, das mit hohem Riedgras bewachsen war. Ein Geschoß klatschte vor meinen Füßen auf und überschüttete mich mit Dreck. Oben am Rand der Schlucht hockten Deutsche. Mal war ich ohnmächtig, mal hörte ich sie reden. Überall wurde noch geschossen. Sobald es dunkel war, kletterte ich mit zwei Soldaten den nächsten Steilhang hinauf. Dort trafen wir auf weitere vier Mann von uns, schließlich waren wir zusammen zwanzig. Am Tage hockten wir in einem Sonnenblumenfeld. 1941 bin ich schon einmal aus einem Kessel ausgebrochen. Im Herbst bin ich durch die Ugra geschwommen und habe dabei die dünne Eisdecke aufgebrochen. An den Schläfen stach es wie mit Nadeln, aber ich wollte raus, nichts weiter wie raus… Und ich habe es geschafft! Verglichen mit dem, was wir in diesem Sommer erleben, wo man sich um jedes Gramm Wasser raufen muß, war das ein Kinderspiel. Wollten wir Wasser holen, mußten wir kämpfen. Wir warfen Handgranaten, nur um den Deutschen ein Kochgeschirr voll Wasser abzunehmen, und zu fressen hatten wir überhaupt nichts. Ich habe meine Feldbluse nicht ausgezogen, mit den
Rangabzeichen bin ich aus dem Kessel rausgekommen. Wenn schon sterben, dann in der eigenen Uniform. Die Rangabzeichen eines Obersten tragen und im Zivilanzug sterben – das ist hart, das ist eine Schande! Wieviel mehr für uns. Ohne die Sowjetmacht wäre ich heute Tagelöhner. Hundertzwanzig Mann mit Waffen fanden sich schließlich zusammen, schwammen durch den Don. Acht Mann sind ertrunken. Bei Tage marschierten wir in Gruppen nach Marschrichtungszahl. Nachts sammelten wir uns wieder. Ich hatte vierzig Grad Fieber. Mein neuer Adjutant Wassja Chudobkin war Feldscher, Geburtshelfer, eigentlich hätte er Frauen kurieren sollen, und nun bekam er es mit Männern zu tun. Er hat mehr Deutsche umgelegt, als welche von uns kuriert. Ist durch den Don geschwommen ohne Hosen, aber mit der MPi. Nachdem wir über den Don waren, sammelte ich sechshundert Mann mit Waffen, und wir hielten vom 16. bis 25. August die Verteidigungsstellung bei Alexejewka. Danach kämpften wir vom 2. bis 6. September bei Stalingrad. Zum Schluß waren von der Division noch hundertsechzig Mann übrig. Ich selber hab vom Leben noch nichts gehabt, kannte nur meine Arbeit. Langsam wird man alt und hat noch nicht gelebt. Vor den Kämpfen habe ich mich selber nicht richtig gekannt. Jetzt bleibt mir nur noch der Kampf, jetzt schreibt mir niemand mehr ,Paß auf dich auf. Ich denke nur noch daran, in Kiew zu sterben…“ Ich begegnete Alexander Iwanowitsch Ut-
wenko auch später noch, im Krieg und danach. Niemals mehr kam er auf diesen Bericht zurück, den ich in meinem Notizbuch festgehalten hatte. Nie wieder sah ich ihn so, wie ich ihn in jener Nacht in dem Dorf am jenseitigen Wolgaufer gesehen hatte, nur wenige Tage nach seinem letzten Gefecht. Ein Mann, Soldat vom Scheitel bis zur Sohle, gewohnt, sich zu beherrschen, dachte in jener Nacht an das Erlebte zurück, er ließ dabei seinem Gefühl freien Lauf und schämte sich nicht der Tränen. Mir scheint, daß man diese Tränen an einigen Stellen meiner Aufzeichnung von seinem damaligen Bericht über den Sommer 1942 herausfühlt. Die bitteren Worte Utwenkos, von der Division wären nur einhundertsechzig Mann übriggeblieben, haben sich glücklicherweise als nicht präzise erwiesen. Aus dem Kessel waren nicht nur Utwenko und die Männer um ihn ausgebrochen. Mit der Waffe in der Hand brachen auch andere Teile der Division, die die Deutschen von Utwenko abgeschnitten hatten, unter Führung von Oberst G. P. Barladjan aus dem Kessel aus. Für das Schicksal des Militärfeldschers Wassja Chudobkin, den Utwenko in seinem Bericht erwähnte, interessierte sich der ehemalige Chefchirurg eines Sanitätsbataillons in Stalingrad, Pawel Wladimirowitsch Tscheburkin, nachdem er mein Tagebuch in der Zeitschrift gelesen hatte: „… Wir schlugen unsere Zelte am Rand der Wohnsiedlung des Werkes ,Krasny Oktjabr’ auf, wo wir auch die Politabteilung unserer Division vorfanden, aber buchstäblich binnen weniger Stunden waren alle
Mitarbeiter der Politabteilung durch eine Fliegerbombe gefallen! Hier stieß Utwenko zu uns, den sein Adjutant, ein Feldscher, zehn Kilometer auf dem Buckel geschleppt hatte. Meine Mitarbeiter versorgten ihn, er war an den Beinen verwundet. Ich hatte den Namen des Feldschers vergessen, jetzt haben Sie mich wieder darauf gebracht – Chudobkin. Ob er noch am Leben ist?…“ Ich mußte antworten, daß er nicht mehr lebte. Er war im Alter von sechsundfünfzig Jahren, kurz vor dem 30. Jahrestag des Sieges gestorben. „Er starb an den Wunden des Krieges“, wie er mir selbst einmal über Utwenko schrieb, als er berichtete, daß er das Grab seines mit fünfzig Jahren verstorbenen Generals besucht hatte. Ich bin Chudobkin im Kriege auch später noch, im Jahr 1943, begegnet, aber ich möchte doch gerade an dieser Stelle ein paar Worte über ihn sagen. Der Krieg machte ihn, nachdem er ihn bis zum Ende mitgemacht hatte, schließlich doch zum Invaliden. 1942 und auch 1943 schien er mir ein Recke von Mann zu sein und vor Gesundheit zu strotzten, und ich hätte nie vermutet, daß er auch damals schon hin und wieder epileptische Anfälle hatte, die Folge seiner ersten Kontusion bei Kertsch. Den Charakter dieses Mannes zeigen wohl besser, als ich es vermöchte, Auszüge aus seinen nach dem Krieg geschriebenen Briefen: „… Jetzt ist das alles nur noch Erinnerung, und man fragt sich, wie konnte der Mensch das nur aushalten. Heute springe ich natürlich in keinen Fluß mehr, aber damals war ich vierundzwanzig, wog achtundneunzig Kilo und zog mich, als wir den Don erreichten, ohne viel zu über-
legen, splitternackt aus, band meine Uniform auf einen Ballon von anderthalb Metern Durchmesser, lud mir Utwenko auf den Buckel – und ab durch den Don. Ich schleppte Utwenko am anderen Ufer raus, und da packte mich doch, nackt wie ich war, ein epileptischer Anfall. Ich hörte Utwenko noch sagen: ,Du lieber Gott, wenn dich das im Fluß erwischt hätte!’ Und ich, als ich wieder zu mir kam, antwortete: ,Wenn wir hier nicht umgekommen sind, wird es uns im Krieg nicht mehr erwischen, wir werden ihn überleben.’ Und er lachte schallend…“ „… Zu der Zeit war ich überhaupt ein bärenstarker Kerl und bei bester Gesundheit, aber noch stärker war mein Geist. Alle meine Erlebnisse im Mai 1942 auf der Krim, von Feodossija bis hin zur Kertscher Bucht, waren die Hölle. Als man mich dann, schwerverwundet und mit Kontusionen von der Krim zurückbrachte, verschwendete ich keinen Gedanken mehr an den Tod, weil meine Mutter, nachdem sie die Nachricht von meinem Tod erhalten, für ihren Sohn nach russischorthodoxem Brauch eine Totenmesse hatte lesen lassen. Hat aber die Mutter einmal die Totenmesse lesen lassen, ist demjenigen, für den sie gelesen wurde, ein langes Leben beschieden. Möge Gott nie wieder so was zulassen, was unser Volk zu tragen hatte. Tod, Kälte, Hunger, Erschießungen, Galgen – und doch ist es nicht in die Knie gegangen. Hat alles ertragen…“ „… Sooft ich auch mit Soldaten im Kampf stand – Feiglinge habe ich kaum erlebt. Ich selbst war dreimal verwundet, hatte zwei Kontusionen. Eine Wun-
de, die heilt wieder, aber so eine Kontusion hängt einem das ganze Leben an. Ja, das Leben neigt sich dem Ende zu, ich bin fünfundfünfzig, gehe ins sechsundfünfzigste, doch das ist zu ertragen, aber an Hitler, dieses heimtückische Scheusal, werde ich bis zu meiner letzten Stunde denken. Wenn Sie von mir etwas über den Krieg wissen wollen, schreiben Sie, schließlich bin ich bis Prag gekommen. War bei der Befreiung Rumäniens und Bulgariens dabei und bei der Einnahme von Budapest und Wien. Habe viel erlebt, Gutes und Schlechtes. Damals war ich jung…“ Über unsere Stalingradfahrt ist nur noch wenig hinzuzufügen. Ortenberg und ich besuchten die Wolgaflottille, die in den Nebenarmen und Buchten am linken Ufer lag. Wir waren von Gorochows Brigade aus dorthin gefahren und von der Flottille wieder ans Stalingrader Ufer zu Gorochow zurückgekehrt. Nachdem wir bei Dubowka ein fünftes Mal über die Wolga gesetzt waren, blieben wir ein paar Tage bei den Truppenteilen der Stalingrader Front, die damals noch nicht in Donfront umbenannt war. Der Korrespondent der „Krasnaja Swesda“, Wassili Ignatjewitsch Korotejew, mit dem ich auf der Stalingradfahrt die meiste Zeit zusammen war, kehrte in die Stadt zurück. Er war vor dem Krieg Sekretär des Stalingrader Gebietskomitees des Komsomol gewesen, er kannte dort jedes Haus, und der Anblick der sich über Dutzende von Kilometern an der Wolga entlangziehenden Ruinen machte ihm besonders schwer zu schaffen. Ich besitze noch ein Photo, aufgenommen von Tjo-
min an der Stalingrader Fähre. Im Hintergrund erstreckt sich über das ganze Bild das Panorama der rauchenden Stadt. Dies Photo erinnert mich heute, viele Jahre nach dem Krieg, an den verstorbenen Wassja Korotejew. Auf diesem Photo blickt er über die Wolga hin auf das brennende Stalingrad, und sein leidverzerrtes Gesicht sieht aus, als würden in eben diesem Augenblick sein Vater und seine Mutter vor seinen Augen umgebracht. Schon kurz vor dem Krieg war Korotejew in Moskau Mitglied des Redaktionskollegiums der „Komsomolskaja Prawda“, er war von dort zur „Krasnaja Swesda“ einberufen worden und hatte nach Beginn der Stalingrader Ereignisse alles unternommen, um nach Stalingrad zu kommen. Vor mir liegt der im Herbst des gleichen Jahres 1942 geschriebene Brief eines anderen Stalingraders, ein Brief von Michail Lukonin. „Ich bin nach einem Kriegsjahr ins Hinterland zum Lehrgang geschickt worden. Ich kann hier nicht rumsitzen, ich brauche das nicht. Man soll mich von hier abberufen, ich gehe zu jeder Zeitung, aber nur an die Front. Hilf mir.
Kommst Du an die Wolga, grüße Korotejew. Ich möchte unbedingt dorthin. Schließlich kämpft meine Vaterstadt. Vielleicht schaffe ich es…“ Beim Lesen dieses Briefes denke ich, daß auch in ihm ein Teil der Geisteshaltung jener Zeit enthalten ist, ein Teil dessen, was Stalingrad letztlich nicht nur zu einem militärischen, sondern auch zu einem moralischen Sieg hat werden lassen. Von Dubowka kamen wir zuerst zu den Truppen der 66. Armee, die damals unter dem Kommando von General Malinowski stand. Ich erinnere mich noch, daß gerade an dem Morgen unseres Eintreffens die Armee die Offensive einstellte. Einige Tage schwerer Kämpfe bei äußerst schwacher Artillerieunterstützung und noch dazu bei absoluter Luftüberlegenheit der Deutschen hatten keine spürbaren Ergebnisse gebracht. An manchen Stellen waren wir einen oder anderthalb Kilometer, an anderen aber auch nur ein paar hundert Meter in Richtung Stalingrad vorangekommen. Das alles erzählte mir Rodion Jakowlewitsch Malinowski selbst, und er riet mir, ich solle lieber zu seinem rechten Nachbarn fahren, der in aller Eile Truppen für die kommende Offensive vorzog. Wir hielten uns bei Malinowski in dessen Gefechtsstand auf und saßen neben ihm auf der Bank vor dem Eingang zu seinem Wohnbunker, der in einen mit Strauchwerk bewachsenen Hang eingegraben war. Malinowski war gelassen, mißmutig, wortkarg und verhehlte die bittere Wahrheit nicht. Er hatte offensichtlich keine große Lust zu einem Gespräch mit
uns, aber da wir nun schon mal da waren, sagte er ganz offen, daß es im Abschnitt seiner Armee keinen Erfolg geben würde. Gewiß hatte jeder der Männer, die in diesem Krieg von Anfang bis Ende dabei waren, irgendwann einmal seine härteste Stunde. Wir hatten Malinowski in dieser strauchbewachsenen Schlucht nördlich von Stalingrad an dem Tag, da die Offensive der 66. versandete und die Armee zum Stehen kam, wohl in eben dieser härtesten Stunde des Krieges angetroffen. Hinter ihm lagen die Niederlage der Südfront, der Fall von Rostow und Nowotscherkassk und auch die ihm aufgebürdete Verantwortung für das Geschehene, von der in Stalins Juli-Befehl die Rede war. Und nach all dem – die Ernennung zum Befehlshaber der 66. Armee und trotz nur ungenügender Kräfte und Mittel der Befehl zum Angriff, die Front der Deutschen zu durchbrechen, sich mit der in Stalingrad eingeschlossenen 62. Armee zu vereinigen, und nach einigen Tagen blutiger Kämpfe ein Vordringen nur um ein paar hundert Meter, der Halt, der Mißerfolg. Was mochte in Malinowski vorgehen? Woran mochte er denken, und was mochte er erwarten? Ich kann auch noch hinterher nur staunen über die düstere, gelassene Selbstbeherrschung, die ihn nicht verließ, solange er an diesem für ihn so unseligen Morgen mit uns sprach. Vor ihm lagen die Ernennung zum Befehlshaber der 2. Gardearmee, die Kämpfe bei Kotelnikowo und die Zerschlagung der Armeegruppe von Hooth, wodurch das Schicksal der Armee Paulus besiegelt wurde. Vor ihm lagen der Aufstieg zum Oberbefehlshaber der
Südfront, die Befreiung Rostows, die Kämpfe im Donezbecken und bei Kriwoi Rog, die Zerschlagung der Deutschen in der Operation von Iasi und Kischinjow, lagen Bukarest, Budapest… Aber alles, was noch vor ihm lag, war nicht vorauszusehen und konnte ihm nicht in jener Stunde des Krieges gutgeschrieben werden, da wir Malinowski im Gefechtsstand seiner nach der erfolglosen Offensive zum Stehen gekommenen 66. Armee antrafen. Wir verließen die 66. und verbrachten einige Tage bei der 1. Gardearmee unter General Moskalenko, die sich zum Angriff anschickte. In diesen Tagen waren Ortenberg und ich bei verschiedenen Truppenteilen, hauptsächlich bei den Schützentruppen. Wir waren viele Kilometer unterwegs. Ich entsinne mich vieler im Krieg erlebter Bombenangriffe, aber an so pausenlose, von Morgengrauen bis Sonnenuntergang anhaltende Angriffe wie in jenen Tagen nördlich von Stalingrad kann ich mich wirklich nicht erinnern. Später einmal fragte mich Kirill Semjonowitsch Moskalenko in einem Gespräch über jene Offensive: „Wissen Sie noch, was dort los war? Wissen Sie noch, wie Richthofen uns dort mit seiner Luftarmee eindeckte?“ Diese nach dem Krieg gesprochenen Worte waren keine Übertreibung. Tatsächlich war nördlich von Stalingrad fast die komplette Luftflotte Richthofens über dem Kampffeld am Himmel gewesen. Ich erinnere mich, wie wir an einem dieser Tage – es war im September, und die Tage waren noch recht lang – bereits vor Morgengrauen in Moskalenkos B-Stelle kamen und dort etwa achtzehn Stunden bis zum Ein-
tritt der völligen Dunkelheit festsaßen. Das war in der Steppe, und die B-Stelle befand sich nicht einmal auf einem Hügel, sondern einfach auf einer kaum merklichen Bodenwelle, sie war in diese Bodenwelle eingegraben und gut getarnt. Ich fürchte, mich nicht ganz genau ausgedrückt zu haben, jedenfalls lagen nach meinem Gefühl damals zwischen dieser B-Stelle und der Hauptkampflinie am Morgen vor der Wiederaufnahme der Offensive etwa siebenhundert bis achthundert Meter, mehr nicht. Rechts und links von uns wurde Infanterie zusammengezogen, die dann im Laufe des Tages mehrmals zum Angriff vorging. Am Himmel aber hing vom frühen Morgen bis zum späten Abend die deutsche Luftwaffe und bombardierte einfach alles, darunter auch die kaum wahrnehmbare Erhebung, wo wir saßen. Der Tag war so bedrückend, daß ich nicht die geringste Lust verspürte, etwas zu notieren, und so hockte ich im Graben und hielt in meinem Notizbuch mit Strichen jedes deutsche Flugzeug fest, das in meinem Sichtbereich über der Steppe zum Bombenangriff heranflog. Bis Sonnenuntergang hatte ich dreihundertachtundneunzig Striche in meinem Notizbuch. Durch jeweils zehn Striche machte ich einen Querstrich und schrieb daneben eine Zehn. Bei Anbruch der Dunkelheit hatten sich neununddreißig solche Zehner angesammelt. Und noch acht einzelne Striche, so daß am letzten Zehner nur noch zwei fehlten. Als wir uns von der B-Stelle über dieses Feld, auf dem sich die Infanterie konzentriert hatte und von wo
aus sie zum Angriff vorgegangen war, auf den Rückweg machten, bot sich ringsum der schreckliche Anblick unzähliger Trichter und über die Steppe verstreuter Leichenteile. In jenen Tagen fand im Abschnitt von Moskalenkos Armee der Generalleutnant und Artillerist Kornilow-Drugow den Tod, dem wir seinerzeit vor Moskau bei Goworow begegnet waren. Die Offensive von Moskalenkos Armee erleichterte die Lage der Stalingrad-Verteidiger in dieser Zeitspanne, die wohl eine der schwersten für sie war, wesentlich. Und doch war es trotz hoher Opfer nicht gelungen, die gestellte Aufgabe restlos zu lösen, das heißt, sich mit den Stalingradern zu vereinigen. Da sich der Redakteur der „Krasnaja Swesda“ ebenfalls hier aufhielt, brauchte ich ihm nicht erst lange zu erklären, warum ihm sein Korrespondent, obgleich er persönliche Eindrücke mehr als genug empfangen hatte, kein Material für die Zeitung bieten konnte. Ortenberg hatte das mindestens genausogut, ja vielleicht noch besser erkannt als ich, und gegen Ende unseres Aufenthalts bei der 1. Gardearmee sagte er zu mir, in der Nähe liege ein Regiment „Kukuruzniks“, welche die von den Deutschen besetzten Wohnviertel in Stalingrad mit Bomben belegten, ich solle doch mal zu ihnen rüberfahren, um dort was für die Zeitung zu beschaffen. Ich fuhr zu den „Kukuruzniks“, wie man die U-2 damals nannte. Sie hatten auch andere Namen, das war ganz unterschiedlich, an den Fronten im Süden aber hießen sie meist „Kukuruzniks“. Die danach geschriebene Reportage unter der Überschrift „Russisches Furnier“, in der beschrieben
wird, wie unsere U-2 die Deutschen in Stalingrad, darunter auch das Fliegerstädtchen, wo sie selbst einst gelegen, und die Häuser, in denen sie selbst gewohnt hatten, bombardierten, war mein letzter Bericht auf dieser Fahrt. Übrigens flogen wir eben mit so einer U-2 zurück nach Kamyschin, wo wir dann in eine „Douglas“ umstiegen. Der Beginn des Fluges war nicht sehr verheißungsvoll. Eine „Messerschmitt“ zeigte sich am Himmel. Wir mußten uns in Sicherheit bringen und landeten schnellstens wieder auf der gleichen Waldlichtung, von der wir gestartet waren. Unsere U-2 bekam nichts ab, eine andere aber, die eine halbe Minute nach uns heruntergekommen war, wurde von einem Feuerstoß durchsiebt. Obgleich dem Flieger und auch dem Passagier nichts passiert war, veranlaßte mich dieser Anblick zu zusätzlicher Wachsamkeit. Beim zweiten Start renkte ich mir beinahe den Hals aus, so eifrig hielt ich nach allen Seiten Ausschau, um so mehr, als Ortenberg tat, als ginge ihn das nichts an. Als wir auf dem Flugplatz in Kamyschin in eine „Douglas“ umstiegen, sah ich Marina Raskowa und einige Mädchen von ihrem Bombergeschwader, das auf Sturzkampfbombern flog. Sie hatten den Jagdflieger und Helden der Sowjetunion Klestschow begleitet; er gehörte jenem Geschwader an, das für Marina Raskowas Geschwader bei dessen Bombenflügen Jagdschutz flog. In einem Luftkampf verwundet, wurde er in ein Lazarett nach Moskau gebracht, und Marina Raskowa und ihre Mädchen sorgten rührend für ihn. Sie prüften, ob seine Trage im Flugzeug auch richtig festgemacht war und legten
für ihn einen Beutel mit Äpfeln als Wegzehrung bereit. Marina Raskowa überraschte mich mit ihrer sanften und zarten russischen Schönheit. Ich hatte sie noch nie aus der Nähe gesehen und hätte nie gedacht, daß sie so jung sei und so schön. Mag sein, daß dieser Eindruck sich mir auch deshalb so eingeprägt hat, weil ich bald darauf von ihrem Tod erfuhr. Sie fiel im Kampf, und fast zur gleichen Zeit fiel auch der Jagdflieger Iwan Klestschow, den sie damals ans Flugzeug gebracht hatte. Noch am Abend des gleichen Tages langten wir ohne weitere Übernachtung wieder in Moskau an. Die Stalingradfahrt lag hinter uns.
7 Bald nach meiner Rückkehr wurde ich in die Redaktion gerufen, wo man mir sagte, ich solle zu einer Zusammenkunft mit Wendell Willkie fahren, er hätte um ein Gespräch mit einigen sowjetischen Schriftstellern und Journalisten gebeten, und ich solle unter anderen daran teilnehmen. Die Zusammenkunft fand noch am gleichen Abend statt. Ich kam im letzten Moment, ein oder zwei Minuten vor der angesetzten Zeit, und fand die anderen sowjetischen Teilnehmer an der Zusammenkunft bereits vor – Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg, Generalleutnant Alexej Alexejewitsch Ignatjew, Autor des damals bekannten Buches „Fünfzig Jahre in Reih und Glied“, und den Journalisten Boris Wojtechow.
Kaum hatten wir uns begrüßt, als Willkie mit Joseph Barnes, der ihn durch Rußland begleitete, erschien. Barnes sprach gut Russisch und war damals Redakteur der Auslandsredaktion der „New York Herald Tribüne“. Ich möchte ins Gedächtnis rufen, daß Wendell Willkie zu jener Zeit Führer der Republikanischen Partei und Konkurrent Roosevelts bei den Wahlen war. Er nannte sich Präsidentschaftskandidat, seine Reise nach Rußland nannte sich Mission, sie trug offiziellen Charakter, und ihr wurde hohe Bedeutung beigemessen. Einerseits wollte das damalige Amerika mit Willkies Augen feststellen, inwieweit Rußland nach den Frühjahrs- und Sommerniederlagen den Kampf gegen die Deutschen noch allein fortsetzen konnte, andererseits wurde der Freundschaftscharakter dieser Mission hervorgehoben, und Willkie hatte die für die damalige Zeit nicht einfache Aufgabe, unsere zunehmende Gereiztheit zu besänftigen, die zusammenhing mit der immer weiter hinausgezögerten Eröffnung der zweiten Front. Wahrscheinlich hatte diese Reise auch ihre eigenen inneramerikanischen Aspekte, die mit den Widersprüchen im Lande zusammenhingen, aber das interessierte uns, zumindest mich, damals weniger. Willkie war ein noch jüngerer, kerngesund aussehender vitaler Mann. Er ließ uns wissen, daß er Geschäftsmann sei und ein offenes Gespräch ohne jede Diplomatie vorziehe. Ich weiß nicht, inwieweit mein Eindruck der Wirklichkeit entsprach, jedenfalls war mir Willkie an
diesem Abend nicht unsympathisch. Ehre, wem Ehre gebührt, immerhin hörte er sich mehrere Stunden lang tapfer die bitteren Wahrheiten an, die wir vier vor ihn auf den Tisch legten. Das war nun mal seine Mission. Unsere Mission aber war es, alles vor ihn auf den Tisch zu packen, was wir darüber dachten, daß die Amerikaner und die Briten die zweite Front noch nicht eröffnet hatten und in nächster Zukunft auch nicht daran dachten, sie zu eröffnen. Im Grunde genommen wollten wir über nichts anderes sprechen. Die Auswahl der vier sowjetischen Gesprächsteilnehmer hatte gerade bei diesem Gesprächsthema ihren Sinn. Alexej Alexejewitsch Ignatjew repräsentierte in unserem Viergespann die historischen Traditionen Rußlands und die Erinnerung an die Bündnisbeziehungen des ersten Weltkrieges; Ehrenburg hatte schon seit Frühjahr dieses Jahres in allen seinen für Amerika und Großbritannien geschriebenen Artikeln strikt die Eröffnung der zweiten Front gefordert, während Wojtechow und ich Journalisten waren, die die Schwere des Geschehens an der Front bezeugen konnten. Wojtechow war im belagerten Sewastopol gewesen, seine Berichte waren bereits in Buchform in englischer Sprache erschienen, und ich war gerade aus Stalingrad gekommen. Die Situation duldete kein Drumherumgerede. Die Deutschen standen im Kaukasus, an der Wolga, in den Vororten von Leningrad und zweihundert Kilometer vor der Villa, in der wir mit Mister Willkie saßen. Ich war soeben aus Stalingrad zurückgekehrt und
wollte an jenem Abend diesem Amerikaner und in seiner Person Amerika nicht nur für die amerikanischen Corned-Beef-Büchsen, die amerikanischen Fernsprechapparate, die amerikanischen „Wyllis“ und LKWs und für die amerikanischen Panzer Dankeschön sagen. Jedenfalls fiel es damals schwer, sich für all das zu bedanken. Das Wichtigste, was ich sagen wollte und an diesem Abend auch sagte, war, daß Hilfe mit Lebensmitteln und sogar mit Waffen noch keineswegs das sei, was man als Soldatenkameradschaft von Alliierten in diesem Krieg gegen den gemeinsamen Feind bezeichnen könne. Daß ein amerikanischer Panzer natürlich eine feine Sache sei, aber solange in ihm nicht ein Amerikaner sitze, aus ihm schieße und mit ihm brenne, sondern ein Russe, schnuppere man noch keinen Hauch von Soldatenkameradschaft. Den werde man erst dann so recht verspüren, wenn über europäischem Boden Panzer mit mal russischen, mal amerikanischen Besatzungen rollten und auf die Deutschen schossen. Daran dachten und darauf hofften die an der Front kämpfenden Menschen, unter anderem auch in Stalingrad, woher ich gerade gekommen sei. Was aber die amerikanische Technik angehe, nach der sich Mister Willkie bei mir erkundigt hätte, könne ich bestätigen, daß ich sie wiederholt mit eigenen Augen gesehen hätte und daß die Männer, in deren Hände sie gelegt würde, sie im Kriege mit dem größten Nutzen einzusetzen trachteten. Ich wolle jedoch das Maß ihrer Dankbarkeit für diese Technik nicht übertreiben, in ihren Augen sei sie kein Ersatz
für die noch immer nicht eröffnete zweite Front. Das ungefähr waren meine Worte an jenem Abend, an dem ich noch immer unter dem Eindruck der Stalingradereignisse stand. Ich möchte hinzufügen, daß ich mich in dem Bemühen, unser Gespräch möglichst genau wiederzugeben, auch noch auf einen Brief stütze, in dem ich noch 1942 über die Zusammenkunft mit Willkie berichtete. Nach seiner Heimkehr schrieb Wendell Willkie ein Buch über seine Reise. In einem Kapitel ist auch von unserer Begegnung die Rede. Mir hatte sich von dem Gespräch mit Willkie etwas ganz anderes am stärksten eingeprägt als ihm. Deshalb möchte ich zur Ergänzung des Gesagten eine Stelle aus Willkies Erinnerungen zitieren: „… Tagelang habe ich zu erläutern versucht, daß es seitens der Sowjetunion ein guter Schachzug sei, Dmitri Schostakowitsch, den großen Komponisten, zu einem Besuch in die USA zu schicken. Am Abend zuvor hatte ich im bis auf den letzten Platz gefüllten Tschaikowskisaal gesessen, einem großen Konzertsaal in Moskau, und seine Siebente Sinfonie gehört. Das ist eine strenge Musik und entspricht nicht immer meinem Geschmack, aber die Ouvertüre hat mich doch sehr beeindruckt. ,Wir müssen lernen, einander zu verstehen’, sagte ich. ,Wir müssen lernen, einander zu erkennen. Wir sind Verbündete in diesem Krieg, und das amerikanische Volk wird Sie nicht im Stich lassen, solange Hitler nicht am Boden liegt. Ich möchte aber, daß wir auch im Frieden zusammenarbeiten. Das braucht viel Geduld, viel Toleranz und viel Verständnis auf beiden Seiten. Warum kann man Schostakowitsch nicht
in die USA schicken, wo er bereits eine große Verehrerschar hat und wo er ganz gewiß zum gegenseitigen Verständnis beitragen könnte, das beide Seiten erreichen sollten?’ Diesmal antwortete mir Simonow: ,Mister Willkie, gegenseitiges Verständnis ist ein zweiseitiger Prozeß. Wir waren immer bestrebt, soviel wie möglich über Amerika zu wissen. Wir haben vieles von Ihnen übernommen, haben unsere besten Leute zum Studium nach Amerika geschickt. Wir wissen einiges über Ihr Land, nicht so viel, wie Sie gern möchten, aber doch genug, um zu verstehen, warum Sie Schostakowitsch gern bei sich hätten. Sie sollten ein paar erfahrene Männer zu uns schikken, um uns zu studieren. Dann würden Sie vielleicht verstehen, warum wir jetzt nicht herzlich auf solche Einladungen reagieren. Sehen Sie, wir stehen in einem Kampf auf Leben und Tod. Nicht nur unser eigenes Leben, sondern auch die Idee, die unser Leben geformt hat, liegt heute abend in Stalingrad auf der Waagschale. Uns überzeugen zu wollen, daß wir einen Musiker in die Vereinigten Staaten entsenden müssen, die gleichfalls in diesen Krieg hineingezogen sind und wo gleichfalls Menschenleben auf der Waagschale liegen, um Ihnen durch Musik offenkundige Dinge klarzumachen, ist schon eine recht merkwürdige Art und Weise, uns zu kränken.’ Ich meine, ihn richtig verstanden zu haben…“ Selbstverständlich sprach an diesem Abend nicht nur ich, sondern wir kamen alle zu Wort – Wojteehow, Ignatjew und am häufigsten, schärfer und überzeugender als wir anderen, Ehrenburg, der den Löwe-
nanteil an der Diskussion trug. Im Laufe des Abends errötete Willkie einige Male, er ärgerte sich, gebrauchte zornige Worte und war bisweilen beleidigt; aber gerade weil ihn unsere Vorwürfe trafen, gefiel er mir. Joseph Barnes, der den wesentlichen Teil des Gesprächs dolmetschte, verzog bei besonders scharfen Wendungen gequält das Gesicht und bemühte sich, sie durch einen Scherz zu mildern. Ich fühlte, daß er eine tiefe innere Sympathie für dieses kämpfende Rußland hegte, in das er als Begleiter und Dolmetscher Wendell Willkies gekommen war. Und ich freute mich, als ich ein paar Jahre später einen Brief von ihm erhielt, der meinen ersten Eindruck bestätigte. Er erinnerte an den Abend, den wir mit dem zu dieser Zeit bereits verstorbenen Willkie verbracht hatten, und teilte mir mit, er hätte meine „Tage und Nächte“ übersetzt und bereite sie gerade zum Druck vor. So zog sich unsichtbar ein Faden von dieser Begegnung mit Willkie und Barnes im Herbst 1942, als ich noch ganz unter dem Eindruck Stalingrads stand, zu meiner Amerika-Reise im Jahre 1946, als die von Barnes übersetzten „Tage und Nächte“ in den USA zu einem Bestseller des ersten Nachkriegsjahres geworden waren. Den Oktober verbrachte ich in Moskau und beschäftigte mich mit zwei Dingen gleichzeitig: Ich nahm Verbesserungen an dem vor meiner Abfahrt nach Stalingrad herunterdiktierten Stück „Wart auf mich“ vor. Nach meiner Rückkehr las ich es noch einmal, und es erwies sich als zu lang und zu verwässert, und ich mußte noch viel Wasser
herauspressen, bis es den einem Theaterstück angemessenen Umfang hatte. Meine zweite Arbeit war das Schreiben eines Filmszenariums über das gleiche Thema. Zunächst hatte ich mir für das Szenarium einen anderen, verzwickteren Titel ausgedacht, und zwar „So lang warst du nicht da“, doch er wurde später durch die Worte „Wart auf mich“ unwiderruflich verdrängt, die genau das aussagten, was der Film zeigen sollte. Ich setzte mich an das Drehbuch, noch bevor ich die Arbeit an dem Stück beendet hatte. Überraschend hatte es sich so ergeben. Die Regisseure Alexander Stolper und Boris Iwanow hatten in Alma-Ata den nach meinem Stück entstandenen Film „Ein Bursche aus unserer Stadt“ gedreht und ihn nach Moskau mitgebracht. Heute, nach einigen Jahrzehnten, erscheint mir vieles daran naiv, doch im Herbst 1942 war ich Stolper und Iwanow für diese Arbeit sehr dankbar. Sie hatte mich damals sehr beeindruckt. Und als Stolper, nachdem er „Wart auf mich“ gelesen hatte, nach diesem noch nicht überarbeiteten Stück einen Film machen wollte, machte ich mich sofort an das Szenarium. Das gleichfalls innerhalb kürzester Zeit geschriebene Szenarium geriet doch besser als das Stück. Und Stolpers und Iwanows Film „Wart auf mich“ lief fast zwei Kriegsjahre, und schon allein das rechtfertigte ihn. Im nachhinein denke ich, meine damalige übereilte Arbeit sowohl am Stück als auch am Drehbuch für „Wart auf mich“ war in ihrer Einstellung zum Schriftstellerhandwerk nicht gut genug. Das Thema
an sich – Wart auf mich! –, unabdingbar vom Krieg hervorgebracht, war wirklich notwendig. Das über das gleiche Thema geschriebene Lied „Dunkle Nacht“ aus dem Film „Zwei Soldaten“ wurde im Frühjahr 1943 buchstäblich von jedem Frontsoldaten gesungen. Das war ein Bedürfnis der Zeit. Also was soll’s! Ich selbst hätte mich jedoch lieber nicht mit der Ausbeutung des einmal Gefundenen befassen und mein Gedicht „Wart auf mich“ erst auf die Bühne und dann auch noch auf die Leinwand transponieren seilen. Alles, was ich zu diesem Thema zu sagen hatte, war in dem Gedicht gesagt. Und ich wurde dafür bestraft, daß ich das nicht begriff. Nun war es aber damals gar nicht so einfach, das zu begreifen. Ich hatte das Stück inzwischen abgeschlossen und es an Gortschakows Moskauer Dramentheater gegeben, als mich im November 1942 Wladimir Iwanowitsch Nemirowitsch-Dantschenko überraschend zu sich bat. Er hatte das Stück gelesen und sprach lange mit mir über sein Interesse daran, und er schloß damit, wenn ich es vom Dramentheater zurückholte, so würde er es auf der Bühne des Künstlertheaters selbst inszenieren. Aber ein übereiltes Wort läßt sich nicht zurücknehmen, ich hatte das Stück bereits Gortschakow gegeben und verzichtete auf das mir schmeichelnde Angebot. Lasse ich mir heute all das durch den Kopf gehen, bin ich irgendwie wütend auf mich, weil sich das einzige Gespräch in meinem Leben mit einem Mann wie Nemirowitsch-Dantschenko nur um mein schlechtestes Theaterstück drehte und nicht wenigstens um die
„Russischen Menschen“, deren Inszenierung, an der Nemirowitsch selbst mitarbeitete, zu dieser Zeit im Künstlertheater gerade im Gange war. Damals aber, im Herbst 1942, war er ernstlich an meinem Stück „Wart auf mich“ interessiert, und unser Gespräch drehte sich hauptsächlich darum. Seltsam, aber so war es. Das Theaterstück hatte ich Gortschakow bereits gegeben, hatte aber noch nicht den Punkt hinter das Szenarium setzen können, als mich eine neue Arbeit wieder für einige Zeit an Moskau band. Der 25. Jahrestag der Großen Oktoberrevolution rückte näher, und in der Redaktion war man auf die Idee gekommen, eine Kolumne über Moskau im Krieg zu bringen. Ortenberg rief bei Stscherbakow an und erzählte ihm von dieser Idee. Sofort erkundigte sich Stscherbakow: Wer wird das schreiben? Ortenberg antwortete wie aus der Pistole geschossen: Simonow. Wahrscheinlich spielte auch meine Anwesenheit in dieser Zeit in Moskau eine Rolle. Anderntags befahl mich Stscherbakow zu sich, erkundigte sich, ob ich für diese Arbeit Hilfe benötige und welche im einzelnen. Ich sagte, Hilfe würde ich gewiß brauchen, denn ich sei im letzten Oktober und November bei Murmansk gewesen und hätte die Kämpfe vor Moskau erst ab Dezember mit eigenen Augen gesehen, als wir zur Offensive übergingen. Ich müsse mit Leuten sprechen und aus ihren Berichten das Fehlende hinzufügen. „Die Leute werden wir auftreiben. Falls nötig, rufen wir sie sogar von der Front ab“, sagte Stscherbakow.
„Aber Sie müssen nicht nur über die Tage der Verteidigung Moskaus schreiben, sondern auch über das, was vorausging, über die Aufstellung der Volkswehr. Sie müssen mit Männern von Volkswehrdivisionen zusammentreffen, damit sie Ihnen alles erzählen. Außerdem“, setzte Stscherbakow hinzu, „gibt es viele Menschen in den verschiedensten Berufen, die an der Verteidigung Moskaus, ohne viel Aufhebens zu machen, beteiligt waren – bei den Jagdbataillonen und in den Feuerwehrkommandos, in den Gruppen zum Entschärfen von Blindgängern. Wir werden solche Menschen ausfindig machen lassen. Bevor Sie anfangen zu schreiben, müssen Sie ein umfassendes Bild vom ganzen Geschehen haben.“ Beim Abschied legte Stscherbakow den Tag für unsere nächste Zusammenkunft fest, und ich begann mit der Arbeit an der Kolumne. Bei der zweiten Zusammenkunft erzählte mir Stscherbakow zahlreiche Einzelheiten über die Verteidigung Moskaus und die Arbeit des Moskauer Parteikomitees. „Letztes Mal habe ich es vergessen“, sagte Stscherbakow am Ende des Gesprächs. „Sie müssen in Moskauer Betriebe fahren und sich anschauen, wer jetzt dort arbeitet. In den Tagen der Verteidigung Moskaus wurde in den zum großen Teil bereits ausgelagerten Betrieben die Produktion einer ganzen Liste von Dingen in Gang gebracht, die wir dringend brauchten. Unter anderem von Maschinenpistolen, Granatwerfern und Wurfgranaten. Viele Vierzehnund Fünfzehnjährige stellten sich an die Werkzeugmaschinen. Man baute für sie besondere Tritte vor den Maschinen, damit sie zum Support hinaufreich-
ten. Fahren Sie hin und sprechen Sie mit ihnen. Am besten in den Baumann-Stadtbezirk, dort werden Sie besonders viel Material finden.“ Ich fuhr zum Parteikomitee des Baumann-Stadtbezirks, suchte dann einige Tage hintereinander verschiedene Betriebe in diesem Stadtbezirk auf und sprach mit den Menschen, die nicht nur im Herbst 1941, sondern auch zu dieser Zeit, im Herbst 1942, den größten Teil der Betriebsbelegschaften ausmachten und nach der Auslagerung der wichtigsten Ausrüstung in den leeren Werkhallen eine neue Rüstungsproduktion in Gang brachten. Meine Gesprächspartner waren hauptsächlich Frauen, meist ältere, aber auch Halbwüchsige; viele von ihnen standen noch immer auf den Tritten an den Werkzeugmaschinen. Nach dem Besuch der Fabriken traf ich im Moskauer Stadtkomitee mit Soldaten, Kommandeuren und Politarbeitern einiger Volkswehrdivisionen zusammen und mit Menschen, die bei der Verteidigung Moskaus in verschiedenen Einrichtungen und Kommandos gedient hatten. Die Stenogramme dieser Gespräche dienten gleichfalls als Material für die Kolumne. Die fertige Reportage ging in Satz, und Ortenberg fuhr mit dem Umbruch zu Stscherbakow. Stscherbakow las sie, nahm ein paar Korrekturen vor, am 6. November erschien die Kolumne in der „Krasnaja Swesda“ und wurde am 10. November in der „Wetschernaja Moskwa“ nachgedruckt. Stscherbakow befahl mich abermals zu sich – ein drittes Mal. Er dankte mir für die geleistete Arbeit, drückte mir die Hand und entließ mich wieder. Die Aufzeichnung über die Begegnungen mit
Stscherbakow, die mir als Vorlage dienten, wurde vor langer Zeit angefertigt. Heute bin ich versucht, die Worte „befahl mich zu sich“ durch die Worte „bat mich zu sich“ zu ersetzen. „Bat mich zu sich“ klingt in den letzten Jahren gewohnter. Doch entspricht „befahl mich zu sich“ der Wirklichkeit: So war es eben. Stscherbakow, der Mechlis’ Posten als Leiter der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee eingenommen hatte, bat den Oberbataillonskommissar Simonow vom Stab der „Krasnaja Swesda“ nicht zu sich, sondern befahl ihn zu sich. Im Frühjahr hatte er mich wegen der Gedichte zu sich gebeten, im Herbst aber zu sich befohlen. Über die Verteidigung Moskaus zu schreiben war ein dienstlicher Auftrag. So verhielt es sich mit dem formalen und, wie ich betonen möchte, in Kriegszeiten absolut richtigen Standpunkt. Stscherbakow als Parteiarbeiter besaß jedoch eine Eigenschaft, die einen nicht lange überlegen ließ, ob man befohlen wurde oder gebeten, ob einem ein Vorschlag unterbreitet oder ein Auftrag erteilt wurde. Alles lief auf das Wort „muß“ hinaus. »Es schwebte in der Atmosphäre seines Dienstzimmers, und man begriff sehr gut, daß das Wörtchen „muß“ hier Allgemeingültigkeit besaß, daß es für Stscherbakow genauso verbindlich war wie für einen selbst. Stscherbakow war damals schon sehr krank. Er war noch jung – stand im 42. Lebensjahr –, kräftig, breitschultrig, hatte aber ein krankes Herz, litt an krankhafter Fettleibigkeit, sein Stoffwechsel war nicht in Ordnung, und er sah sich vor der Notwendigkeit, täglich zwanzig Stunden arbeiten zu müssen,
um allen seinen damaligen vier Funktionen – im ZK, im Moskauer Stadtkomitee, im Informationsbüro und in der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee – gerecht zu werden; diesen Mann erhielt nur das Wort „muß“ am Leben. Ein anderes Wort gab es nicht, weder für andere, noch für ihn selber. Als er 1945, nachdem er bis zum letzten Kriegstag gearbeitet hatte, von einem auf den anderen Tag plötzlich starb, war ich traurig, aber ich wunderte mich nicht. Er hatte zwar eine schier unglaubliche Arbeitskraft besessen, aber die Überlastung, die er hatte auf sich nehmen müssen – ich gebrauche, obwohl ich von damals spreche, bewußt die heute übliche Bezeichnung „Überlastung“ –, war noch unglaublicher. Meine Reportage „Moskau“ erschien als Broschüre für die Armee. Das damals zusammengetragene Material war auch für meine künftige Arbeit von Bedeutung. Viele Jahre nach dem Krieg brachten mich die alten Stenogramme, in denen ich die Gespräche mit Angehörigen der Moskauer Volkswehrdivisionen aufgezeichnet hatte, auf die Idee, über das Moskau des Jahres 1941 den Dokumentarfilm „Wenn dir dein Heim teuer ist“ zu machen. Nach Fertigstellung der Reportage „Moskau“ fuhr ich etwa am 10. November mit Chalip an die Karelische Front, in den Abschnitt Murmansk. Wie schon im vergangenen schweren Herbst, konnte für die Zeitung sicherlich auch einmal Material vom Frontabschnitt im Hohen Norden nützlich sein, um so mehr, als Ortenberg von aktiven Offensivhandlungen sprach. Außerdem trug ich mich mit dem Gedanken, noch einmal auf einem U-Boot zu fahren, diesmal nicht im
Süden, sondern im Norden, und nicht zur Küste Rumäniens, sondern zur norwegischen Küste. Diese Idee war mir wohl auch gekommen, weil ich mich im tiefsten Herzen dafür schämte, daß ich, nachdem ich über die erste Periode der Kämpfe um Stalingrad geschrieben hatte, nicht wieder dorthin gegangen war, sondern anderthalb Monate in Moskau gehockt und mich auch nicht einen Schritt weggerührt hatte. Zwar hatte ich vom frühen Morgen bis in die späte Nacht hinein gearbeitet, doch in jenen Zeiten konnte keine wie auch immer geartete Arbeit für einen Menschen, der lange nicht mehr an der Front war, eine volle innere Rechtfertigung sein. Kaum war ich ein paar Tage in Murmansk, hatte gerade Material für meine erste Korrespondenz „Polarnacht“ zusammengetragen, als die uns tief bewegende Nachricht vom Beginn der Offensive bei Stalingrad eintraf und ich gleich darauf ein Telegramm von Ortenberg erhielt mit dem Befehl, die Dienstreise abzubrechen und unverzüglich nach Moskau zurückzukommen. Es war kein Flugwetter, und so brauchten Chalip und ich mehrere Tage für die Rückreise nach Moskau, von wo, so hofften wir, es nach Stalingrad ginge. Als wir jedoch endlich in der Redaktion eintrafen, waren schon andere Korrespondenten in den Raum Stalingrad gefahren, und man benötigte dort niemanden mehr. Als ich mich bei Ortenberg in der Redaktion meldete, versprach er mir, mich ein paar Tage später nach Stalingrad zu schicken, den ersten besten abzulösen, der von dort zurückkäme. Aber schon in der drauf-
folgenden Nacht rief er mich zu Hause an und sagte, an der Westfront seien wichtige Ereignisse im Gange und ich müsse früh um sieben mit dem Wagen dorthin aufbrechen. Der Anruf kam um vier. Ich duselte vor der Fahrt noch ein bißchen und machte mich dann auf zur Westfront, wo unsere Offensive gegen die mit ihren vorgeschobenen Teilen immer noch zweihundert Kilometer vor Moskau stehende deutsche Heeresgruppe Mitte begann. Diese Operation brachte nicht so entscheidende Ergebnisse wie die Offensive unserer Fronten im Süden, aber sie wurde ja auch mit viel schwächeren Kräften vorgetragen. Im Ergebnis hatten wir nach harten Kämpfen und schweren Verlusten zwar nur ein sehr kleines Territorium besetzt, die Deutschen aber immerhin daran gehindert, einigermaßen bedeutende Reserven von der Zentralfront abzuziehen und nach Süden zu werfen. Damals aber war es mehr als schwierig, so offen darüber zu schreiben, wie ich das heute tue, und die Bedeutung unserer Offensive an der Westfront so einzuschätzen. Von dieser Dienstfahrt brachte ich nur zwei Materialien mit – “Brücke unter Wasser“ und „Dezembernotizen“, und in der zweiten, recht umfangreichen Korrespondenz berichtete ich von meinen Erlebnissen und gab einige meiner Empfindungen die Offensive betreffend wieder. Aus durchaus verständlichen Gründen konnte der Bericht nicht in seiner ursprünglichen Form in der Zeitung veröffentlicht werden. Ich bringe nun einige in der Rohfassung vorhandene einzelne Tagebuchaufzeichnungen von
dieser Fahrt, die teilweise in der Zeitung veröffentlicht wurden. Gestern war den ganzen Tag bis zum Abend ein solches Schneetreiben, daß es uns beinahe das Leben gekostet hätte. Wir fuhren mit dem Wagen frontal gegen einen völlig zugewehten deutschen Panzer. Man konnte überhaupt nichts sehen. Erst heute erkennt man, wirft man von der B-Stelle einen Blick zurück, daß zwischen der gestern eingenommenen zweiten und dritten Stellung der Deutschen viel deutsches Kriegsmaterial herumliegt. Kaum waren wir in der B-Stelle angekommen und hatten uns mit dem Divisionskommandeur, General Muchin, bekanntgemacht, als er auch schon nach dem Fernsprecher griff – wichtige Meldung. Ich betrachtete unterdessen seinen dunklen Halbpelz und mußte unwillkürlich an Oberst Polossuchin denken, der letzten Winter eben wegen einem solchen schwarzen Halbpelz, der sich so sehr vom Schnee abhob, umgekommen war. Ich weilte damals bei seiner Division, und passiert war das unweit von dieser Stelle, nur ein paar Dutzend Kilometer weiter. Ich fragte mich, warum unsere Generale oftmals so betonen, daß sie sich für unsterblich halten. Als es schlecht stand, mochte das noch einen Sinn gehabt haben, aber jetzt wohl kaum. Ich machte mir so meine Gedanken darüber, und der dumme Reim „Muchin – Polossuchin“ wollte mir nicht aus dem Sinn. Der General befahl jemandem telephonisch, mit allen verfügbaren Geschützen zu feuern, und wartete die Unterstützung ab, ohne nervös zu werden. Er ver-
langte noch eine andere Verbindung, hielt die Muschel vom Mund weg und informierte mich darüber, daß vierundzwanzig deutsche Panzer einen Gegenangriff auf ein erst gestern befreites Dorf zwei Kilometer von hier unternähmen. Einer sei abgeschossen worden, die anderen aber rollten weiter. Er sagte das in ruhigem Ton, augenscheinlich riet er nicht nur anderen, die Nerven zu behalten, sondern wurde auch selber nicht nervös. Er telephonierte pausenlos und erteilte Befehle, hauptsächlich den Artilleristen. Befahl Sperrfeuer auf mehrere Abschnitte, auf die die Panzer eventuell zurollen konnten. Auf meiner Karte konnte ich mir keine rechte Vorstellung von dem Gelände machen, also beobachtete ich bloß den General. Mit seinem schwarzen Halbpelz gab er ein bißchen an, seine Ruhe aber war keine Angabe, die war echt, und es sprach aus ihr der Glaube, die entstandene Gefahr so oder so zu meistern. Unwillkürlich ging mir durch den Kopf, daß er, vom vergangenen Sommer ganz zu schweigen, noch im letzten Winter die Nachricht vom Beginn eines deutschen Gegenangriffs mit Panzern wohl kaum so ruhig aufgenommen hätte. Und dies nicht, weil er damals weniger tapfer gewesen wäre als heute, sondern weil er seiner Kraft noch nicht so vertraute, nicht seiner eigenen und nicht der seiner Division. Die Artillerie vor uns und links von uns feuerte eine volle halbe Stunde, Dann kam die Meldung, die Deutschen hätten unter Zurücklassung von fünf abgeschossenen Panzern kehrtgemacht und zögen sich zurück. Der Eisnebel am Himmel löste sich auf, und über uns hinweg flogen Jagdbomber unter dem Schutz von
Jägern nach vorn. Und fast gleichzeitig, nur etwas höher als sie, flogen drei Staffeln „Junkers“ auf uns zu und begannen die rückwärtigen Dienste der Division anzugreifen. Als Antwort darauf setzte an verschiedenen Punkten heftiges Flakfeuer ein. Der Artilleriekommandeur sagte, die Flak-Artilleristen hätten allein in ihrem Abschnitt in diesen drei Tagen dreizehn Flugzeuge heruntergeholt. Selbst wenn die Hälfte der Abschüsse auf das Konto der Nachbarn zur Linken und zur Rechten ging, wie das bei solchen Zählungen oft der Fall ist, war das doch schon ein ganz anderes Bild, als wir es von früher her gewohnt waren. In der Nacht – ich war inzwischen beim Bataillon angelangt – wurde im Wohnbunker noch lange über unsere Offensive und ihre verschiedenen Aspekte gesprochen. Einerseits hieß die Losung in der Divisionszeitung „Wir werden kämpfen wie die Stalingrader!“, und die Begeisterung über unsere Erfolge im Süden war im allgemeinen groß. Andererseits wurde auch Selbstkritik laut: „Wollen wir den Deutschen den Garaus machen, so muß es bei uns hauptsächlich mit der Gefechtsführung klappen. Oft werden die Soldaten nicht von den unteren Kommandeuren aus den Gräben zum Angriff geführt, sondern von den mittleren, und in dem Moment, da sich die Soldaten bereits zum Sprung erhoben haben, sind die Kommandeure auch schon ausgefallen und ein Sergeant führt ganz auf sich allein gestellt das weitere Gefecht der Kompanie.“ Und nach dieser Selbstkritik folgte Bitterkeit über das gegenwärtige Tempo der eigenen Offensive, das
langsamer war als erwartet. Und zur eigenen Rechtfertigung kam man wieder auf den Süden zu sprechen: „Die dort haben mechanisierte Korps und wir nur einzelne Panzerbataillone.“ Dem hielt ich das erste entgegen, was mir einfiel, und zwar daß man Panzer – egal wieviel man davon hat – niemals überall gleichmäßig verteilen könne. Der Bataillonskommandeur nickte ein paarmal stumm, als pflichte er mir bei, aber dann zog er unter der auf seinem Kartenbrett befestigten Karte im Maßstab 1:500 eine andere hervor, eine kleine Karte des europäischen Rußlands aus einem Schulatlas, maß auf ihr mit dem Finger etwas ab und sagte: „Aber wir haben es nebenbei bemerkt von hier aus in Luftlinie am nächsten bis zur Grenze.“ Es ärgerte ihn, daß die Hauptoffensive nicht hier bei ihnen stattfand… Das war meine letzte Aufzeichnung über die Ereignisse des Jahres 1942. Fast das ganze Jahr war für mich mit diesen oder jenen Erinnerungen an die Front verknüpft. Rufe ich mir jedoch heute alle meine Fahrten an die Front der Reihe nach ins Gedächtnis zurück, so habe ich doch nur die knappe Hälfte dieses Jahres an der Front verbracht. Die restliche Zeit war ich in Moskau. Hätte ich mich allein auf mein Gedächtnis verlassen, so hätte ich wahrscheinlich das Jahr 1942 vorwiegend als an der Front verbracht angesehen. Eine solche Abweichung des Gedächtnisses ist wohl darauf zurückzuführen, daß mit der Zeit das Tragischste, Beeindruckendste, Verblüffendste jener Zeit und was am meisten zu Herzen ging in den
Vordergrund rückt. Die Arbeit hingegen, der ich in Moskau nachging, bleibt in den entlegenen Winkeln des Bewußtseins. Auch wenn das eine ohne das andere nicht existiert. Was meine literarische Arbeit angeht, so war dieses Jahr infolge der Frontfahrten und allem drumherum für mich doch sehr angespannt. Sicherlich half meine Jugend dabei, denn ich arbeitete fast bis zur Erschöpfung. In eine Zwickmühle brachte mich bisweilen, daß ich unmöglich mit den Ereignissen Schritt halten konnte, Ende 1942, als mir alles über den Kopf wuchs, schrieb ich darüber an meine Eltern: „Es ist einfach unmöglich, auf dem laufenden zu bleiben. Ich schaffe es nicht, nach Rückkehr von einer Fahrt alles darüber aufzuschreiben. Immer muß man über Altes, lange Zurückliegendes schreiben. Da hilft mir nur mein Gedächtnis. Ich habe viel zu tun. Allein in den ersten sechs Kriegsmonaten waren es etwa achthundert Schreibmaschinenseiten. Sollte ich zu Euch kommen, werde ich meine Tagebücher mitbringen. Dann werdet Ihr alle Einzelheiten meines Lebens kennenlernen.“ Ich sah die Notwendigkeit schon ein, jede meiner Frontfahrten auf Grund der noch warmen Spuren aufzuzeichnen, aber ich hatte einfach nicht die Kraft dazu. Es hinderte mich daran auch das innere Wissen darum, daß ein Tagebuch, und mag es für einen selbst auch noch so wichtig sein, immerhin keine solche gesellschaftliche Verpflichtung ist, daß man mehr als seine Freizeit dafür opfern dürfte. Und diese Freizeit eben gab es nicht. Nachdem ich alles über meine Fahrt an die Westfront
niedergeschrieben hatte, gab man mir zehn Tage zur eigenen Verfügung. Fünf, um nach Alma-Ata zu fahren, wo die Arbeit an dem Film „Wart auf mich“ begann, und fünf für den Aufenthalt dort, und dann trat der Dienstreiseauftrag in Kraft, laut welchem ich über Taschkent, Krasnowodsk und Tbilissi zur Kaukasusfront zu fahren hatte. Das neue Jahr 1943 begrüßte ich in Alma-Ata an einem Tisch mit Blinow und Swerdlin, die die Hauptrollen in dem Film „Wart auf mich“ spielen sollten – den Flieger Jermolow und den Photoreporter Mischa Wainstein –, und fuhr dann laut Dienstreiseauftrag in Richtung Kaspisee. Da aber hatte das Jahr 1943 schon begonnen. 1942 war vorüber.
1943
8 Von Alma-Ata nach Krasnowodsk mußte ich mit dem Zug fahren, und zwar über Taschkent und Aschchabad, die Weiterfahrt von Krasnowodsk war noch ungewiß – entweder per Flugzeug oder mit einem Dampfer. In Taschkent eingetroffen, holte mich der Korrespondent der „Krasnaja Swesda“ für den turkestanischen Militärbezirk, Oberst Derman, vom Bahnhof ab und teilte mir den Inhalt eines Anrufs aus der Redaktion mit: in Tbilissi sei ein „Emka“ in Reparatur, der mir zur Verfügung stünde: der Photoreporter Chalip erwarte mich dort, und wir sollten zusammen an die Front fahren. Ich bat die Redaktion um drei Tage Aufenthalt. Ich wollte die Proben zu dem Stück „Wart auf mich“ sehen, das von einer Gruppe von Filmschauspielern auf die Bühne gebracht wurde, und mich mit einem meiner besten Freunde aus der Vorkriegszeit treffen, der gerade in Taschkent weilte; ich machte mir damals große Sorgen um ihn. Der stärkste Eindruck in diesen Taschkenter Tagen aber war eine für mich überraschende Zusammenkunft mit dem Ersten Sekretär des ZK der KP Usbekistans, Usman Jussupow. An das lange Gespräch mit ihm und dem in seinem Dienstzimmer sitzenden Zweiten Sekretär des ZK, Nikolai Andrejewitsch Lomakin, kann ich mich noch gut erinnern.
Ich weiß heute nicht mehr, wieso, vielleicht wegen des Gedichts „Wart auf mich“, dessen erste Zeilen Jussupow plötzlich aus dem Kopf hersagte, oder wegen meiner Stalingrader Korrespondenzen, die er kannte und mit denen er das Gespräch eingeleitet hatte, jedenfalls schien er das innere Bedürfnis zu haben, mir, der ich im Krieg zum erstenmal hierher ins Hinterland, nach Taschkent, gekommen war, mitzuteilen, was sich hier so tat. Er sprach, ohne etwas zu beschönigen und ohne Schwierigkeiten zu verhehlen. Vielleicht war es seine Art, hatte er einmal von einer Sache angefangen, auch alles auszusprechen. Zugleich war aus seinen Worten der Stolz auf das Geleistete herauszuhören; er selbst wie auch seine Mitarbeiter hatten aus eigenem Antrieb und aus Pflichtgefühl soviel wie möglich auf ihre Schultern geladen, mitunter noch zusätzlich zu dem, was ihnen ohnehin schon von oben aufgebürdet wurde. Jussupow war stolz darauf, daß sie in Taschkent so viele evakuierte Betriebe unterbringen konnten, die nun in einem Maße Rüstungsproduktion herstellten, wie es keiner zu hoffen gewagt hatte. Aber mit noch größerem innerem Stolz sprach er über die Adoption von Waisen, und wie viele von ihnen aus den Kinderheimen, den Aufnahmelagern und den sanitären Schleusen aus den Bahnhöfen in usbekische Familien geholt worden waren. Darunter in solche, die so schon zu den kinderreichsten gehörten. Er war gerührt von der hierin zum Ausdruck kommenden inneren Schönheit des Volkes. Ich will durchaus einräumen, daß ein so zupackender und weitsichtiger Mann wie Jussupow, der 1941/42 in Taschkent und in
Usbekistan überhaupt unter großen Anstrengungen bald den einen, bald den anderen ausgelagerten Betrieb zusätzlich zu den vorher festgelegten unterbrachte, dabei nicht nur den Krieg, sondern auch die Zukunft seiner Republik nach dem Krieg im Auge hatte und sich damals schon Gedanken über den industriellen Sprung in ihrer Entwicklung machte, dessen Grundlage diese in der Kriegszeit evakuierten Fabriken und die um sie herum gewachsene Arbeiterklasse werden würden. Ich bin fast sicher, daß auch das in seinen damaligen Überlegungen eine Rolle spielte. Urquell dieser Zukunftsgedanken aber war sein auch in den für uns schlimmsten Zeiten nie erlahmender Glaube an den Sieg. Das eine war vom anderen nicht zu trennen. Ende der fünfziger Jahre, als Jussupow, seiner hohen Ämter enthoben, sich seinen Arbeitsplatz selbst ausgesucht hatte – den rückständigsten Sowchos in der Hungersteppe – und als Direktor dorthin gegangen war, habe ich ihn mehrmals aufgesucht. Er bekleidete nun eine andere Position, aber als Mensch war er innerlich genauso stark wie vorher. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend war er, braungebrannt und verschwitzt, auf den Sowchosländereien unterwegs, er legte in dieser Halbwüste Gärten an, freute sich über jedes sprießende grüne Blättchen und verlor kein Wort über die Vergangenheit. Er sprach nur von der Gegenwart und der Zukunft. Die jähe Veränderung seiner gesellschaftlichen Stellung hatte seine Persönlichkeit nicht deformiert. Er war ungebrochen, war noch der gleiche wie früher. Und das ist wohl der beste Beweis für die innere Festigkeit eines Menschen.
Der Zweite Sekretär des ZK der KP Usbekistans, Nikolai Andrejewitsch Lomakin, versetzte mich damals, im Januar 1943, durch seine Jugend in Erstaunen – er war fast mein Jahrgang – und auch durch seine Kenntnis der Schriftstellerschicksale. Anscheinend hatte er im Gespräch aus meinen Worten einen Anflug jugendlicher Intoleranz und Voreingenommenheit gegenüber einigen meiner Berufskollegen herausgehört, die damals aus diesen oder jenen Gründen nicht an der Front waren, sondern sich in Taschkent aufhielten, und als Antwort darauf erzählte er mir ausführlich und betont höflich, was jeder einzelne Schriftsteller hier mache, womit er sich beschäftige und an welchen gesellschaftlichen Angelegenheiten er sich beteilige. Meine eigene Verfassung zu der Zeit läßt sich am besten durch eine Strophe des noch im Krieg ins unreine hingeworfenen –, und erst viel später gedruckten Gedichts „Winter 41“ ausdrücken: Ruhig Scheuklappen angelegt! Trotzdem ist’s verschiedne Sache, ob Freunde in Taschkent versteckt, oder stehen im Schnee vor Moskau Wache. In diesen Zeilen findet sich sowohl ein Widerhall von Surkows „Erdhütten“ als auch des eigenen Erlebens nach einigen Begegnungen in Taschkent. Ehrlich gesagt, hatte ich dafür meine handfesten Gründe. Lomakin schien mit feinem Gehör erfaßt zu haben, daß ich einen ausführlichen Kommentar über das Leben gewisser Leute vorhatte, und hielt es wohl
für seine Pflicht, dem taktvoll, aber belehrend zu begegnen. Ich muß hinzufügen, daß ich ein halbes Jahr später, im Sommer 1943, in der „Literatura i iskusstwo“ meine Gedanken zu eben diesem Thema äußerte, aber schon etwas vernünftiger an die Sache heranging: „Irgendwie hat es sich bei uns so ergeben, daß viele ins Hinterland gefahren sind und dort nun, anstatt umfangreiches Material über die evakuierten Werke, über das Dorf, über die Familien von Frontsoldaten zusammenzutragen und all die auftretenden aktuellen Probleme aufzugreifen, sich ausgerechnet auf Kriegsthemen versteifen. Klar, daß sie damit kaum Erfolg haben können. Ich möchte nicht so verstanden werden, daß ich die Kunstschaffenden unterteilen will in solche, die die meiste Zeit des Krieges an der Front verbringen, und in solche, die im Hinterland geblieben sind. Nicht das ist das Wesentliche. Das Schlimmste ist, daß viele Schriftsteller nicht auch dort, wo sie sich aufhielten, ihr Milieu gefunden haben. Sei es auf Kamtschatka, in Taschkent oder Nowosibirsk, in jeder Stadt kommt es im Krieg darauf an, die gleiche ergebene Einstellung zur Sache zu haben wie an der Front, und die künstlerische Rechtschaffenheit erlaubt einem, nur das anzupakken, wovon man auch was versteht.“ Von Alma-Ata nach Taschkent fuhr ich ungefähr einen Tag und eine Nacht, und von Taschkent nach Krasnowodsk noch einmal vier Tage. An den Ausweichstellen donnerten uns lange, vollgeladene Züge mit Bakuer Erdöl entgegen. Sie waren so schwer, daß
es schien, als bögen sich unter ihnen nicht nur die Schienen und Schwellen, sondern auch die Erde. Die fünf Tage auf der Eisenbahn hinterließen ihre Spuren in meinem Tagebuch. Einmal in Prosa und dann in Gedichtform. Zunächst ersteres. Die beiden oberen Betten des Erster-Klasse-Wagens im Zug zwischen Alma-Ata und Taschkent teile ich mit einem Fliegermajor, einem Navigator. Den lieben langen Tag umsorgt er mich, veranlaßt sogar, daß die Schaffner Suppe kochen. Er ist überhaupt sehr zuvorkommend. Auf einer Station redet er mir zu, mich rasieren zu lassen, er meint, das würden wir bequem schaffen. Im Laufschritt eilen wir zu einer Friseurstube, und er scheucht jemanden wieder hoch, der schon auf dem Stuhl sitzt. „Nehmen Sie Platz, Genosse Oberbataillonskommissar.“ Wir schaffen es tatsächlich, ich bin rasiert, und wir rennen zum Zug zurück. Ich hatte eigentlich gar keine Lust, mich rasieren zu lassen, aber der Major war so energisch, daß ich mich nicht widersetzen konnte. Wir fahren weiter, und auch jetzt kümmert er sich mit beängstigender Energie um mich. Es ist Nacht. Ich lese lange und kann nicht einschlafen. Auch der Major schläft nicht und wälzt sich herum. Schließlich dreht er sich zu mir um und ruft mich an: „Genosse Oberbataillonskommissar…“ „Ja?“ „Ich habe Sie in der Zeitung erkannt.“ Und im schwachen Licht sehe ich in seinen Händen eine Zeitung mit einem Artikel über mich und ein
Photo von mir. „Sind Sie das?“ Ja, das sei ich. „Sie haben ,Wart auf mich’ geschrieben?“ Ja. „Da hätte ich eine Bitte an Sie.“ „Und die wäre, Genosse Major?“ „Ich möchte Sie bitten, für mich einen Brief an meine Frau zu schreiben. Sie können sich überzeugend ausdrücken, und das ist gerade das, was ich brauche.“ Etwas verwirrt frage ich, was ich denn seiner Frau schreiben solle, und worum es überhaupt ginge. „Ich werde Ihnen erzählen, worum es geht. Mir liegt sehr viel daran“, meint der Major ernst und bekümmert. „Ich will Ihnen alles von Anfang an erzählen: Als ich meine Familie evakuierte, brachte ich sie in den Südlichen Altai“ – er nennt zuerst ein Städtchen, dann irgendein Dorf. „Dort blieb meine Frau mit den beiden Kindern. Ich schickte ihr das Unterhaltsgeld. Wir schrieben uns, und alles schien in bester Ordnung zu sein. Da kriegte ich im Sommer einen Brief von ihr, in dem sie schrieb: .Verzeih mir, Fedja, es ist alles so schlimm. Mich hat ein Unglück getroffen!’ Ich schickte ihr ein Telegramm: .Erklär mir, was los ist!’ Darauf schrieb sie mir noch einen Brief, in dem stand, da wäre ein Lehrer, sie ist schwach geworden und hat was mit ihm. Aber das quält sie und sie weiß nicht weiter. Sie braucht das alles nicht, es ist schlecht von ihr und sie wird mit ihm Schluß machen. Wenn ich ihr verzeihen kann, soll ich ihr verzeihen. Als ich diesen Brief bekam, ging ich zur Finanzabteilung und sagte, sie sollten ihr das Unterhaltsgeld
nicht mehr schicken. Vier Monate ging das so. Ich schrieb ihr nicht, und von ihr kam auch nichts. Da bestellte mich der Kommissar zu sich und fragte: ,Du hast die Unterhaltszahlung an deine Frau eingestellt?’ Ich antwortete, ja, das hätte ich. Warum?’ ,Na ja, zwischen uns stimmt’s nicht.’ Da sagte der Kommissar, wir müßten in Taschkent Flugzeuge abholen, er schicke mich hin und gebe mir inoffiziell zwei Wochen dafür, damit ich unterwegs bei meiner Frau vorbeischauen und wir unseren Ärger aus der Welt schaffen könnten. Ich antwortete, ich wolle nicht zu ihr. Warum nicht?’ .Aus dem gleichen Grund, aus dem ich ihr keinen Unterhalt mehr zahle.’ Da sagte er: ,Deinen hirnverbrannten Antrag wegen des Unterhalts hab ich gestoppt, sie bekommt das Geld weiter wie bisher. Also fahr hin. An Ort und Stelle sieht alles anders aus.’ Ich bin gefahren. In der Kreisstadt stieg ich aus. Bis zum Dorf waren es zehn bis zwölf Kilometer. Es war schon dunkel. Ich fragte mich, wohin jetzt. Ich wollte mich erkundigen, wo man übernachten und wie man am nächsten Morgen weiterkommen könne. Ich ging zum Leiter der Kreismiliz. Ich stellte mich ihm vor. Er sagte: .Guten Tag, freue mich, Sie zu sehen. Ihre Vorgesetzten haben ein Telegramm geschickt, daß Sie kommen, wir sind schon informiert.’ Im großen und ganzen war er sehr freundlich zu mir. ,Wollen Sie etwa im Dunkeln noch die zwölf Kilometer laufen? Morgen früh geben wir Ihnen ein Pferd, und Sie reiten. Übernachten Sie bei mir.’
Wir gingen in seine Wohnung. Seine Frau stellte etwas zu essen auf den Tisch und sogar noch ein Schnäpschen, dann ging sie in ein anderes Zimmer. Wir saßen da und tranken. Er hatte einen guten Zug und ich auch. Ich sagte kein Wort zu ihm, saß ruhig da. Und da fing er an: ,Du bist aber zugeknöpft, erzählst ja gar nichts.’ ,Was soll ich denn erzählen?’ sagte ich. ,Wir haben uns doch heute erst kennengelernt.’ Er sagte: ,Ich weiß auch so alles von dir. Auf deine Gesundheit, auf daß bei dir alles in Ordnung kommt! Ich hab eine Bitte an dich, versprich, daß du sie erfüllst.’ Ich fragte, wie ich das vorher versprechen könne. Doch, sagte er, ,versprich es vorher.’ Wir tranken noch einen. ,Na gut, ich versprech’s’, sagte ich. ,Und was nun?’ ,Ich bitte dich um eines’, sagte er. ,Mach mit dem Luder, was du willst. Verprügele sie, erteil ihr eine Lehre, ich bitte dich nur um eins: Daß es mir in meinem Kreis keine Toten gibt. Dein Wort drauf.’ Ich meinte, das hätte ich ihm doch schon gegeben, aber ich mußte es bekräftigen. ,In Ordnung’, sagte er. ,Nun können wir schlafen gehen.’ In der Früh gab er mir ein Pferdchen, und ich ritt los. Ich kam auch an. Die Geschichte war so: Meine Frau hatte bei denen gewohnt, hatte seiner Mutter ein Zimmer abgemietet. Er, dieser Lehrer, lebte als Evakuierter auch dort. Ein Witwer mit Sohn. Und wir haben zwei Kinder. Der Älteste ist elf, das Jüngste ist ein Mädchen. Als ich auf das Haus zuging, sah mich mein Sohn vom Fen-
ster aus und rannte mir entgegen. Ich fragte: ,Wo ist Mutti?’ – ,Mutti ist auf Arbeit’, antwortete er – sie arbeitete beim Holzeinschlag –, ,kommt erst gegen Abend.’ Nachdem er mich begrüßt hatte, rannte er, wie ich später erfuhr, zum Sohn des Lehrers – die beiden waren Freunde – und sagte zu ihm: ,Mein Pappi ist gekommen, und er hat so einen großen Nagant! Gleich wird er auf deinen Pappi schießen.’ Der sauste zu seinem Vater in die Schule. Der Vater brach den Unterricht ab, verduftete, ohne noch mal nach Hause zu gehen, in die Kreisstadt – und ward nicht mehr gesehen. So bin ich ihm nicht begegnet. Danach ging mein Sohn in die zweite Schicht zur Schule. Meine Tochter lag im Kinderkrankenhaus. Ich saß da und wartete. Gegen Abend kam meine Frau.’ ,Tag.’ ,Du willst also nichts mehr von mir wissen?’ sagte sie. Ich antworte: ,Halt’s Maul!’ Sie sagte: ,Nachdem ich dir den Brief geschrieben habe, war ich nicht mehr mit ihm zusammen. Das alles war ein Irrtum. Kannst fragen, wen du willst, ich hab nicht mehr mit ihm gelebt. Dich hab ich lieb.’ Ich sagte: .Halt’s Maul!’ Sie sagte: ,Los, schlag mich doch, mach mit mir, was du willst.’ Ich sagte zu ihr: ,Halt’s Maul!’ Sie deckte wortlos den Tisch. Wir aßen. Ich bin zu meiner kleinen Tochter ins Krankenhaus gefahren, die ganze übrige Zeit hab ich zu Hause rumgehockt und überhaupt nichts gemacht. Ich hatte ganze fünf Tage Zeit. Hab erst nicht mit ihr ge-
schlafen, aber in der vierten Nacht hab ich’s nicht mehr ausgehalten. Und in der nächsten Nacht auch nicht. In der letzten Nacht fragte sie: ,Hast du mir nun verziehen oder nicht?’ Ich sagte: ,Nein, ich hab dir nicht verziehen.’ Und bin gegangen. Und jetzt bitte ich Sie, Genosse Oberbataillonskommissar, ihr in meinem Namen einen Brief zu schreiben, damit sie Bescheid weiß.“ „Was wollen Sie eigentlich?“ fragte ich den Major. „Wie wollen Sie denn nun weiterleben?“ „Ich weiß nicht, Genosse Oberbataillonskommissar. Ich glaube ihr schon, daß sie nichts mehr mit ihm hatte, daß sie ihm den Laufpaß gegeben hatte. Die Leute haben mir das auch bestätigt. Aber der Gedanke daran ist so schwer.“ „Was soll ich denn nun für Sie schreiben?“ „Weiß nicht. Sie haben doch Gedichte geschrieben, also werden Sie das für mich doch auch schreiben können.“ „Aber was soll ich schreiben? Was denken Sie denn so? Ich schreibe was, und dann gefällt es Ihnen nicht.“ „Es wird mir schon gefallen. Schreiben Sie nur. Da haben Sie Schreibblock und Bleistift.“ „Ich hab meinen eigenen Stift.“ „Aber nein, schreiben Sie mit meinem.“ Ich fing an zu schreiben. Kaum hatte ich angefangen, drehte sich der Major um und sagte: „Genosse Oberbataillonskommissar…“ „Ja?“ „Schreiben Sie ihr so. Schreiben Sie ihr, was sie für
ein Luder ist, damit sie’s begreift. Aber auch, daß ich sie liebe und ihr verzeihe.“ Das schrieb ich dann auch. Nicht wortwörtlich, aber in diesem Sinne. Ich schrieb lange und gab mir größte Mühe. Als der Major den Brief las, kamen ihm die Tränen, und er schüttelte mir die Hand. „Das werde ich Ihnen nie vergessen. Jetzt muß sie es begreifen. Sie haben mir sehr geholfen, Genosse Bataillonskommissar.“ Und ohne noch einmal auf das Gewesene zurückzukommen, sprach er davon, wie sehr er sie liebe und wie gut sie doch sei. Ganz, als liege mit dem von mir geschriebenen Brief ein Abschnitt seines Lebens hinter ihm und ein neuer hätte begonnen. Als ich am Morgen aufwache, sehe ich ihn dasitzen und den Briefsorgfältig abschreiben. Noch eine halbe Stunde bis Taschkent. Oberst Derman holt mich ab, und auf dem morgendlichen kalten Bahnhofsvorplatz verabschiede ich mich von dem Major. Die zweite Aufzeichnung von unterwegs war das Gedicht „Der Blinde“. Begonnen hatte ich es in der Bahn und beendet nachts auf dem Dampfer während der Fahrt von Krasnowodsk nach Baku. Es kommt in unseren Wagen da ein blinder Mann und singt leise zu der heiseren Harmonika die uns altvertraute Weise. Ihn hat der Krieg auf dem Gewissen,
bei Molodetschno, lang ist’s her, denn als sie ihn dort gehen ließen, hatte er kein Augenlicht mehr. Hier gehört ein Gedicht zum Tagebuch. Auf der Fahrt nach Krasnowodsk kam ein alter Mann mit einer Ziehharmonika in unseren Wagen, der vorher wahrscheinlich schon durch die anderen Wagen gegangen war. Er war ein Soldat aus dem ersten Weltkrieg, durch Tränengas erblindet. Er spielte verschiedene Lieder, hauptsächlich so bekannte wie „Weit dehnt sich das Meer“, „Das blaue Kopftuch“, „Kachowka“, „Dort fern hinterm Fluß“. Und darunter auch ein unbekanntes, das wohl mit einem aus der Gefangenschaft Geflüchteten durch die Front zu uns herübergekommen war, ein selbstgemachtes, laienhaftes, das einem aber wie ein Splitter im Herzen steckenblieb, ein Lied über die Sklaverei bei den Deutschen. Der Alte sang mit leiser, heiserer Stimme, er spielte ein Lied so gefühlvoll wie das andere, eines klang fast wie das andere, aber dieses – das über die Sklaverei bei den Deutschen – ging besonders zu Herzen, als wären wir, die wir zuhörten, alle mit daran schuld. Schließlich konnte einer der Offiziere, die vom Lazarett zurück an die Front fuhren, das nicht mehr ertragen, er verlor die Nerven und gebot dem Alten zu schweigen, doch dann teilte er sein Essen mit ihm. Auch andere gaben ihm etwas. Und der Alte ging in den nächsten Wagen. Beim Schreiben dieses Gedichts hatte ich nicht nur diesen Alten vor Augen, sondern auch die letzten Eindrücke vom Dezember
an der Westfront. Vom Pulverruß dunkler Schnee und trübselige befreite Dörfer, wüst und leer, wo man nichts weiter vorfand als Schornsteine und verkohlte Balken, die im Schnee lagen. Das Herz krampfte sich zusammen bei der Vorstellung, es könnten uns, obwohl wir den Frontberichten nach im Nordkaukasus gut vorankamen, auch dort die gleichen bitteren Bilder von Brandstätten erwarten. Meine Fahrt von Krasnowodsk nach Tbilissi habe ich im Tagebuch kurz notiert. Von Krasnowodsk nach Baku flogen wir mit einem Bomber vom Typ SB. Es war sehr kalt, und über dem Kaspisee hing die winterliche Meeresfeuchtigkeit in Schwaden. Lange suchten wir einen Weg durch die Wolken, bald ging es hoch hinauf, bald hinunter bis dicht übers Wasser. Das Wasser war trostlos und kalt. Eisschollen schwammen darauf. Schließlich vereiste die Maschine, und wir kehrten nach etwa zwei Stunden des Herumirrens halberfroren nach Krasnowodsk auf den gleichen Flugplatz zurück, von dem wir gestartet waren. In der Nacht fuhr ich auf dem Seeweg nach Baku, auf einem Transporter, der Truppenteile einer von Mittelasien an die Kaukasusfront verlegten Kavalleriedivision beförderte. Die ganze Nacht lagen einem zwei Geräusche in den Ohren – das Rauschen der Wellen und das unaufhörliche Pferdegetrappel in den Laderäumen. Als ich in Baku auf den Zug nach Tbilissi wartete, traf ich im Hotel Grigori Wassiljewitsch Alexandrow. Er drehte hier einen Film. Er bewirtete mich mit allem, was aufzutreiben war, und kam unvermittelt auf seine Begegnungen mit Charlie Chaplin zu sprechen und
auf seine Reise mit Eisenstein nach Mexiko. Dann holte er unterm Bett eine Gitarre hervor und sang mexikanische Lieder. Ich hörte ihm zu und glaubte mich plötzlich zurückversetzt in die Vorkriegszeit; als Junge hatte ich von Reisen in ferne Länder geträumt. Überhaupt war all das seltsam und traurig. Wahrscheinlich war es der Kontrast zum Krieg. Die zwei oder drei Tage in Tbilissi, vor Abfahrt an die Front, habe ich in den Tagebüchern nicht festgehalten. Das waren die üblichen Tage vor der Abreise, ich empfing Verpflegung auf Grund der Lebensmittelbescheinigung, holte bei der Feldpost Telegramme von der Redaktion ab, beschaffte Treibstoff für die Fahrt. Die Reparatur des Redaktions-“Emka“ war noch nicht abgeschlossen; ich mußte Dampf machen. Länger durfte ich mich nicht aufhalten lassen, und auch das Herz zog mich fort. Außer dem Wiedersehen mit Chalip behielt ich die Tage in Tbilissi noch im Gedächtnis. Chalip war im Vorjahr beim Photographieren von einem Panzer abgerutscht und hatte sich am Bein verletzt, weswegen er jetzt hinkte. Am Ankunftstag in Tbilissi traf ich am Abend – ich war gerade von der Tour nach Treibstoff und Schmiermitteln ins Hotel zurückgekehrt – meinen alten Freund Irakli Abaschidse, der mich mit Vorwürfen überfiel: Was er davon halten solle, ich sei schon ein paar Tage in Tbilissi, er suche mich wie eine Stecknadel, und ich meldete mich nicht mal bei ihm! Ich sagte, wenn ich schon schuldig sei, müsse man
mir wenigstens mildernde Umstände zubilligen: Ich sei erst am Morgen angekommen, habe erst vor einer halben Stunde alle meine Angelegenheiten erledigt und sei noch nicht dazu gekommen, jemanden anzurufen. Irakli wunderte sich – im Büro für Urheberrechte habe man ihm gesagt, ich hätte mir dort vor ein paar Tagen Honorar für das Stück „Ein Bursche aus unserer Stadt“ abgeholt, und am Morgen sei das Gerücht gegangen, ich hätte gestern hier im Hotel Streit gehabt und Prügel bezogen. Er sei eigens hergekommen, um rauszukriegen, wo ich stecke und ob ich nicht Hilfe brauche, wo man doch solche Sachen von mir höre. Ich lachte schallend und wiederholte, ich sei erst denselben Morgen eingetroffen und habe bisher in Tbilissi noch von niemandem Prügel bezogen. Irakli atmete erleichtert auf. „Also gibt sich irgend jemand für dich aus!“ Seine Vermutung bestätigte sich. Der Vorfall in Tbilissi war der Anfang einer langen Geschichte, deren Spuren während des Krieges immer wieder mal sichtbar wurden. Ein Abenteurer, ein Namensvetter von mir, wahrscheinlich ein Krimineller oder ein Deserteur, hatte alle meine bis dahin veröffentlichten Gedichte auswendig gelernt, sich die Uniform eines Kapitänleutnants der Marinefliegerei und einen Rotbannerorden verschafft und sich in diesem Aufzug im Laufe des Krieges an verschiedenen Orten je nach den Umständen mal für mich, mal für meinen nicht existierenden Bruder ausgegeben. Tbilissi, wo er zunächst mein Geld kassiert und von
wo er, nachdem er bei einer Schlägerei Prügel bezogen hatte, verschwand, war nur die erste Station seiner Umtriebe. Nach der Befreiung von Naltschik zog er dorthin und heiratete Hals über Kopf ein Mädchen namens Rosa, von der im Herbst 1943 ein an mich gerichteter Jammerbrief in Moskau eintraf: Warum ich sie nicht wie versprochen zu Schuljahresbeginn zu mir nach Moskau hole. Das Wirken meines Doppelgängers ist nicht von Belang, ist aber immerhin ein charakteristisches Momentchen jener Zeit, da sich nach den schweren Ereignissen des Sommers 1942 alles mögliche kriminelle und halbkriminelle Gesindel auf den Wogen der überstürzten Evakuierung in warme Gegenden tragen ließ, so auch in den Kaukasus und weiter nach Mittelasien. Und ein zweites charakteristisches, nun nicht mehr Momentchen, sondern richtiges Moment der Zeit war die in den Kriegs Jahren immer stärker werdende Neigung zur Poesie, das begierige Verlangen, Gedichte zu hören. Wie mir Leute sagten, die den „Kapitänleutnant“ gehört hatten – und ich traf später solche –, rezitierte er nicht schlecht, er legte viel Gefühl hinein, der Bursche war jung, gutgewachsen, etwa in meinen Jahren und von meiner Statur, und Fernsehen gab es damals noch nicht! Um in der hier wohl angebrachten Gaunersprache zu sprechen, flog er erst ein Jahr nach Kriegsende auf, als er in einem Kreisstädtchen im Gebiet Rostow auftrat und dort zu seinem Pech auf einen demobilisierten Leutnant stieß, dem ich gegen Ende des Krieges bei der 4. Ukrainischen Front begegnet war
und der mein Aussehen noch sehr gut kannte. Der Leutnant erwies sich als energischer Mann, nahm meinen Namensvetter hoch und brachte ihn dorthin, wohin er gehörte, und berichtete mir brieflich alle Einzelheiten vom Finale dieses „Abends der Poesie“. Damals aber, im Januar 1943 in Tbilissi, wurde ich mit den allerersten Anfängen dieser Geschichte konfrontiert, und Irakli, nachdem er mitbekommen, daß ich wirklich erst am gleichen Morgen eingetroffen war, erstickte schier vor Lachen und schlug sich mit den Händen auf die Knie. Den letzten Abend in Tbilissi verbrachte ich im Hause des georgischen Dichters und Dramatikers Ilo Mossaschwili, den ich wie auch Irakli noch aus der Vorkriegszeit kannte. Bei ihm lernte ich einen der heute ältesten Schriftsteller Georgiens kennen, Alexander Kutateli. Außer diesen dreien waren an diesem Abend nur ihre nächsten Angehörigen anwesend, genauer jene von ihnen, die der Krieg nicht von ihren Heimen weggerissen hatte. Und er hatte viele weggerissen. Wie bei den Georgiern Brauch, stand natürlich alles auf dem Tisch, was im Hause war. Der Tisch war ärmlich und gleichzeitig reich gedeckt, einer jener edelmütigen Tische, wo Küche und Kammer am nächsten Tag wie leergefegt sind. Ich las an diesem Abend viele Gedichte vor. Las hintereinander weg alles, was sie hören wollten, und auch alles, was ich selbst lesen wollte. Das Gedicht „Die Gastgeberin“ machte wohl den stärksten Eindruck auf meine Gastgeber: Stell unsre Gläser ruhig neben die der anderen,
der Lebenden. Wir kommen schon noch unverhofft… Im Notizbuch steht darüber nur eine Zeile – Ilo Mossaschwilis Anschrift: Matschabeli 7. Und doch ist mir dieser ganze Abend, der bis in die Nacht ging, gut in Erinnerung. Er wird sich mir auch deshalb so eingeprägt haben, weil man mir, der ich in den Krieg ging, in jener Nacht, ohne es auszusprechen, einen Abschiedsabend gab. Als Frontkorrespondent, dessen Beruf es nun mal verlangt, daß er zwischen Front und Hinterland hin und her fährt, hatte ich mich schon einigermaßen an dieses Leben gewöhnt – an den Wechsel zwischen Heiß und Kalt –, aber an Abschiedsszenen konnte ich mich nicht gewöhnen, ja eine Portion Aberglauben ließ sie mich sogar zuinnerst fürchten. Und auf einmal dieser Abschiedsabend. Und der Wunsch, ich solle Gedichte lesen ohne Ende, als würde man sie, läse ich sie jetzt nicht, später nicht mehr hören können. Wären dieser Abend und diese Nacht in Tbilissi nicht gewesen, hätte ich Jahre später in der Erzählung „Zwanzig Tage ohne Krieg“ bestimmt jenes Kapitel nicht geschrieben, das mir das liebste von allen ist. Im Winter 1943 war ich etwa einen Monat an der Kaukasusfront, von Mitte Januar bis zur Befreiung Krasnodars. Über das Erlebte dort schrieb ich mehrere Artikel für die „Krasnaja Swesda“. Einer davon, betitelt „In Krasnodar“, geschrieben am Tag der Einnahme von Krasnodar, ging über die militärische Leitung nach Moskau. Ein anderer – „Die russische Seele“ – erschien erst später, als Rostow schon befreit war und die langdauernden Kämpfe am Fluß Mius,
westlich von Rostow, begannen. Der Artikel stellte einen Versuch dar, Rückschau zu halten auf alles, was ich im Januar und Februar gesehen hatte. Er begann folgendermaßen: „Blättert man in den zerflederten Notizbüchern aus der Kriegszeit, kann man sich nur schwer erinnern, auf wen sich die zwischen den verwischten Bleistiftzeilen eingetragenen Namen, Dienstgrade und Daten beziehen. Doch wie ein ewiger Begleiter ist das Gefühl gegenwärtig, mit dem wir in diesem Krieg kämpften…“ Ja, das ist wahr. Dieses Gefühl ist „wie ein ewiger Begleiter“ wirklich allzeit gegenwärtig. Aber es ist ärgerlich, das damals in aller Eile in die Frontnotizbücher Eingetragene jetzt vor sich liegen zu haben und mitunter außerstande zu sein, sich zu erinnern, auf wen und auf was sich Daten, Dienstgrade, Namen und überhaupt alle Details beziehen; damals verband sie das Gedächtnis miteinander, jetzt aber sind es nur noch Bruchstücke. Die Notizbücher sind kreuz und quer beschrieben, zuweilen muten sie wie Bilderrätsel an. Die Tagebuchaufzeichnungen über diese Zeit sind nur kurz und schildern hauptsächlich die Fahrt in unserem Redaktions-“Emka“, als wir die vordringende Armee einzuholen trachteten, und die Tage der Befreiung von Krasnodar. Um diese Tagebuchaufzeichnungen wenigstens ein bißchen ausführlicher zu gestalten, möchte ich sie mit einigen Arbeitsnotizen aus den vor mir liegenden Frontnotizbüchern ergänzen. … Von Tbilissi mit dem „Emka“ über den Krestowypaß. Drohen ständig steckenzubleiben. Die Armee ist schon weit vor uns, auf dem Paß Schneeverwe-
hungen. Auf dem höchsten Punkt – ein altes kleines Restaurant. Sämtliche Scheiben zerschlagen, die Tische voller Schnee. Trotzdem brutzeln auf dem Herd in der Ecke magere Schaschlyks. An Wein nicht zu denken, trotzdem hat man in dieser schneeverwehten, halbzerstörten Schaschlykstube auf dem Paß das wohlige Gefühl, in einem Kurort zu sein, manches erinnert einen an Friedenszeiten. Mineralnyje Wody. Der ganze Bahnhof voll von erbeuteten deutschen Transportzügen. Die Armee ist schon weitergezogen. Auf der Suche nach dem Stadtkommandanten gerate ich in eine Sitzung der örtlichen Behörden. Nachdem die Stadt befreit ist, sitzen alle in Mänteln und Halbpelzen in einem Raum mit zerschlagenen Fensterscheiben und legen fest, wer sich worum zu kümmern hat. Neben vielem anderen werden die kirchlichen Belange dem Leiter der Kommunalabteilung übertragen. Er schüttelt den Kopf, flucht, sperrt sich. Der Vorsitzende des Kreisexekutivkomitees redet ihm ins Gewissen: „Du hast den Bischof eine geschlagene Stunde in deinem Vorzimmer schmoren lassen! Gehört sich das etwa?“ „Das war ohne böse Absicht. Ich habe keine Ahnung, worüber ich mit ihm sprechen soll.“ „Heute kommt er noch mal zu dir. Laß ihn vor und stell fest, was er auf dem Herzen hat.“ Der Leiter der Kommunalabteilung: „Ich hab doch von Religion keine Ahnung. Den Namen der Mutter Gottes nehme ich nur beim Fluchen in den Mund. Mein Lebtag war ich in keiner Kirche. Wieso ausgerechnet ich?“ „Diese Theorien behalt schön für dich“, sagt der
Vorsitzende. „Die bleiben innerhalb von diesen vier Wänden. Man hat sie anzuhören und zu unterstützen. Wie alle anderen Bürger auch. Klar? Solltest du nicht die richtige Einstellung dazu finden, kannst du dich auf was gefaßt machen!“ Von Mineralnyje Wody fahre ich nach Pjatigorsk. Unterwegs nehme ich einen Militärstaatsanwalt ein Stück mit, der kein Fahrzeug mehr hat. Er erzählt, nach dem Abzug der Deutschen habe man in einer Kalkgrube unzählige Leichen von Erwachsenen und Kindern entdeckt, wie sie umgebracht worden wären, wisse man nicht. Die Deutschen sollen so eine Art fahrbare Todesmaschine mit Gas haben. Ich frage ihn nach Einzelheiten über dieses Fahrzeug. Er sagt, vorläufig wisse man noch nichts, man habe noch keine erbeutet, vielleicht wär’s nur ein Gerücht. Er sagt, die Deutschen hätten viele Einwohner umgebracht. Zweieinhalbtausend im Armjansker Wald, bei der Glasfabrik und an Lermontows Duellplatz hinter der Ziegelei auch noch unzählige. Plötzlich sagt er: „Ich arbeite jetzt wie in den ersten Tagen der Sowjetmacht. Alle meine Gesetze sind verbrannt und die Gesetzbücher dazu. Und meine ganze Gerichtsabteilung ist durch einen Bombenvolltreffer auf den Wagen ums Leben gekommen.“ Pjatigorsk. Ich stehe in der Menge, die sich zu einer Trauerkundgebung versammelt hat. Die Menschen sind unterernährt, abgerissen. Die Kundgebung dauert lange. Viele Einwohner sind von den Deutschen erschossen oder erhängt worden, der eine oder andere Familienname wird mehrfach genannt. Am Schluß tritt ein etwa dreizehnjähriges Mädchen vor, sie hat einen Solda-
tenmantel mit abgeschnittenen Schößen an. Sie heißt Nina Pak. Die Deutschen haben ihre Eltern gehängt, und sie spricht von ihnen, als lebten sie noch: Papa und Mama. Vielleicht hätte man dieses Kind lieber nicht auf dem Meeting sprechen lassen sollen. Sie berichtet mit monotoner, dünner, gut vernehmbarer Stimme, und es ist schier unerträglich, ihr zuzuhören. Bis dahin haben sich die Menschen um mich herum nicht gerührt, aber nun regt sich die Menge, Schluchzen wird laut. Wir fahren Richtung Kropotkin. Spuren vom Rückzug der Deutschen. Gefrorene, schneelose Steppe, vereiste Fahrrinnen. Erfrorene Pferde. Tote Kamele, die aus der Kalmückensteppe bis hierher geraten sind. Tote Maultiere, von deutschen Gebirgsjägern aus Griechenland hergebracht. Ein umgestürzter deutscher Autobus, daran ein neuer Wegweiser von uns: „Morossowskaja – 2 km“. Mitten auf der Straße ein Pferd in einer Stellung, als wäre es im Laufen erfroren. Umgeworfene Telegraphenmasten. Ein weißer Hund kommt an, dem jemand einen deutschen Stahlhelm aufgestülpt hat; er schüttelt den Kopf. Der Helm ist festgeschnallt, der Hund kann ihn nicht abschütteln. Ein Soldat schiebt einen Granatwerfer so behutsam wie einen Kinderwagen, er sieht aus wie ein Kindermädchen mit Bart. Weiter vorn ein Fuhrwerk, ihm folgen Kriegsgefangene. Sie marschieren still und stumm. Aus einem Graben ragt das Bein eines Toten. „Hätten sie auch tiefer eingraben können“, sagt der Fahrer, „die Hunde werden sich noch drüber hermachen.“ Ein kasachischer Soldat sitzt da und ißt bedächtig
Brei aus einer deutschen Gasmaskenbüchse, als wäre es ein Kochgeschirr. An einer zerstörten Brücke arbeiten Soldaten einer Eisenbahnbaubrigade. Der Kommandeur sagt, angefangen hätten sie in Ljubaschowka, Gebiet Odessa. Dann seien sie über Perwomaisk bis hierher in den Kaukasus gekommen. „Wenn man so zurückdenkt, haben wir immer nur alles in die Luft gejagt.“ Erklärend setzt er hinzu: „Unsere Arbeit verlangt nun einmal, daß wir als letzte zurückgehen.“ Er erzählt, daß im Herbst beim Rückzug aus Darkoch Leutnant Cholodow zurückblieb, um die dortige Brücke zu sprengen. Die Brücke war vermint, und als deutsche MPi-Schützen die Brückenmitte erreicht hatten, jagte er sie in die Luft. „In der letzten Sekunde vor der Sprengung hatten ihn die deutschen MPi-Schützen erschossen. Haben ihn erschossen und sind selber in die Luft geflogen. Cholodow ist von der bei der Sprengung hochgeworfenen Erde begraben worden. Sein Bajonett ragte noch heraus. Als wir nach anderthalb Monaten zurückkehrten, fanden wir Cholodow. Haben ihn in Beslan begraben. Beim Rückzug hatten wir die Schienen mit Gleispflügen auseinandergerissen, Weichen und Signalmasten mit Trinitrotoluol gesprengt. Die Bahnhofswartesäle hatten wir nicht zerstört. Jetzt richten wir die Strecke mit deutschem Material und Gerät wieder her, das wir in Prochladny erbeutet haben.“ In die Hütte, in der wir übernachten, wird ein verwundeter Flieger gebracht. Im Nu strömen Leute zusammen. Der Flieger ist bewußtlos. Es sind auch welche gekommen, um ihn ins Lazarett zu
bringen. Der Dienstgradhöchste, ein Fliegerhauptmann, sagt zu den Frauen, die sich in der Hütte drängeln und den Verwundeten bedauern: „Wir sind Soldaten, das ist unser Handwerk, und mit so etwas müssen wir rechnen.“ Als wolle er ihnen klarmachen, daß nichts weiter passiert sei, daß so etwas bei ihnen jeden Tag vorkäme… Einige Tage vor der Befreiung der Stadt Kropotkin erreichten Chalip und ich die Front. Wir hielten uns hier bei einer der angreifenden Divisionen auf, erlebten aber die Befreiung Kropotkins nicht mit, weil wir etwas seitlich lagen. Über diese Tage habe ich in meinen Notizbüchern nichts festgehalten, weder Namen noch Truppenteilnummern. Eines meiner kaukasischen Notizbücher ist wohl verlorengegangen. Offenbar hatte sich dort nichts Besonderes getan, und wir selber waren auch nie in eine brenzlige Situation gekommen. Anderenfalls wäre bestimmt etwas hängengeblieben, denn ehrlich gesagt, bleibt die Erinnerung an eine erlebte Gefahr gewöhnlich fest im Gedächtnis haften, wenn vieles andere auch in Vergessenheit gerät. An einem dieser Tage zogen wir mit den Truppen in der fast an der Grenze zur Region Stawropol gelegenen großen Kubanstaniza Gulkewitschi ein. Wie ich mich erinnere, nächtigten wir dort zum erstenmal am Tag ihrer Befreiung, aber auch später, während der Kämpfe bei und um Krasnodar fuhren wir noch mehrmals zurück, denn wir hatten in dieser Staniza unser Quartier. Als die Truppen weiterzogen, wurden die Stabsdienststellen der Nordkaukasusfront dort untergebracht, darunter auch die Nachrichtenzentra-
le, an die sich die Korrespondenten wie immer hielten. Wir fuhren von hier aus zur Hauptverteidigungslinie und kehrten wieder hierher zurück, um das Material nach Moskau durchzugeben. In Gulkewitschi quartierten wir uns in der Schkolnaja-Straße bei Maria Iwanowna Nowikowa ein, einer älteren Frau, die viele Angehörige an der Front hatte und zu uns noch verhältnismäßig jungen Männern wie eine Mutter war und uns hingebungsvoll und ohne viele Worte umsorgte. Oft habe ich im Laufe des Krieges dieser prächtigen Frau gedacht. In einem der Notizbücher stieß ich auf Zeilen, die wohl der Anfang eines Gedichts sein sollten: Nein, Maria Iwanowna, nie werd ich Sie vergessen, Soldatenmutter aus dem Dorfe Gulkewitschi… Andere Ereignisse stürmten auf uns ein, das Gedicht wurde nicht vollendet, aber zwei Jahre später, im Winter 1945, als wir schon tief in fremdem Land standen und an den nahen Sieg dachten, schrieb ich acht Zeilen, aus denen der Widerhall dieses Winters 1943, die Erinnerung an diese Frau und ihre mütterliche Fürsorge sprachen: Nicht wie im Märchen, kein Bild aus der Kinderzeit, nicht als der Schulbücher stolzes Vermächtnis, doch so, wie sie flammend aus brennenden Augen schreit, trag ich die Heimat in meinem Gedächtnis. Ich seh sie im Dämmern des Sieges, grau,
kein Standbild, das groß man aus Marmor geschlagen hat, sondern die russische leidvolle Frau, die Unerträgliches standhaft ertragen hat. Beim Schreiben dieses Gedichtes dachte ich an die alte Frau in Gulkewitschi. Ihr Name wird darin nicht genannt, weil er stellvertretend für viele war, aber gerade ihrer gedachte ich. Während meines Aufenthalts in Gulkewitschi ging ich abends mehrmals in verwaiste Häuser, aus denen man sechzehn- und siebzehnjährige Halbwüchsige, Söhne und Töchter, zur Arbeit nach Deutschland verschleppt hatte. In den letzten Tagen der Okkupation, als die eiserne deutsche Ordnung Risse bekam, kehrten einige zurück, sie waren von den fahrenden Zügen abgesprungen, und, zu Hause angekommen, erzählten, was sie erlebt hatten. Die meisten aber kehrten nicht zurück, und niemand wußte, ob und wann sie wiederkehren würden. Nach einigen bedrückenden nächtlichen Gesprächen in verschiedenen Häusern der Staniza schickte ich die Korrespondenz „Gulkewitschi-Berlin“ an die “Krasnaja Swesda“, die in der Redaktion eine andere Überschrift bekam – „Sklavenzüge“. In den Frontnotizbüchern finden sich einige Aufzeichnungen zu diesem traurigen Thema, meist nach den Worten von Augenzeugen festgehalten. … Ein längliches Blatt Papier; am Kopf der schwarze deutsche Adler. Darunter „Deutschland ruft dich!“, ein großes schwarzes Ausrufungszeichen. Wortlaut: „Du lebst in einem Lande, dessen Werke und Fabri-
ken zerstört sind und dessen Bevölkerung bittere Not leidet. Fährst du zur Arbeit nach Deutschland, kannst du das wunderschöne Land der Deutschen, weiträumige Betriebe, saubere Werkstätten und das Wirken der Hausfrau in ihrem behaglichen Heim kennenlernen. Der erste Transport geht bald ab, der genaue Zeitpunkt wird noch rechtzeitig bekanntgegeben. Halte dich zur Abfahrt bereit. Bring Löffel, Messer und Gabel mit. Unterschrift: Oberbefehlshaber der deutschen Truppen im Kaukasus.“ … Ein handgeschriebenes illegales Flugblatt von uns. Auf der einen Seite in Großbuchstaben „GEBET“ und die Bitte: „Bist du ein Gläubiger, schreibe dies ab.“ Und auf der Rückseite in kleiner Handschrift der Stalingrader Frontbericht. … Bei der Anwerbung haben die Deutschen gesagt: „Wenn eure Jugend bei uns in Deutschland arbeitet, werden wir mehr Waren in euer zerstörtes Land schicken.“ … Ein Büroangestellter hat mit den Deutschen sympathisiert. Kistenweise Zahnpasta, Zahnbürsten und Perlmuttknöpfe gehortet. Als die Deutschen abhauten, hat er das ganze Zeug in Koffer gestopft und ist regelrecht draufrumgetanzt, um sie zu- zukriegen, und als es nicht ging, ist er hysterisch geworden. … Kusma Ossipowitsch Pantelejew, Invalide, im Bürgerkrieg Partisan, in diesem Krieg verwundet. Er war bettlägerig, konnte nicht weg. Hat später unter falschem Namen als Sanitäter in einem deutschen Lazarett gearbeitet. Die Deutschen suchten in der
Staniza nach ihm, aber man machte ihnen weis, er wäre in Kropotkin gehenkt worden. Als die Deutschen vor ihrem Abzug das Krankenhaus verminten und sprengen wollten, hat er das Kabel mit einem Beil durchgehauen. … Eine Frau kam zu Fuß aus dem Kalmykischen, sie weinte und sagte: „Die haben jetzt ganz Stalingrad, von unseren Soldaten ist nichts mehr zu sehen, nur ihre Käppis schwimmen in der Wolga.“ „… Eine Kuh gibt mal Milch und mal nicht, aber sogar wenn sie kalbt, mußt du zweiundneunzig Liter bei den Deutschen abliefern, und wenn du keinen Tropfen Milch für deine Kinder hast!“ „… Als sie den Bruder holten, um ihn nach Deutschland zu schleppen, konnten wir ihm nichts für den Weg mitgeben, ohne alles ist er weg. Am Morgen sah ich den Transportzug, er hatte neun Wagen, an jedem standen drei bewaffnete Deutsche. Der Bruder sprang aufs Trittbrett, umarmte mich, ich weinte. Er flüsterte mir zu, in Rostow würde er abhauen, aber er ist wohl nicht abgehauen, bis jetzt ist er nicht wieder da…“ … Von Gulkewitschi sind zwei Züge nach Berlin abgegangen. Güterwagen, Kesselwagen, und daran angekoppelt die Wagen mit den Verschleppten. Einer fuhr am 5. November, der andere am 5. Januar. … Deutsche Agitation – Ziel: Anwerbung zur Arbeit in Deutschland ; durchgeführt von den Deutschen selbst und den Polizisten: „Im Kaukasus kämpfen nicht mehr die Russen, sondern die Engländer. Kommen die erst her, verschleppen sie euch alle nach Afrika oder Indien. Geht ihr nicht freiwillig nach
Deutschland, wird später so oder so eine allgemeine Mobilmachung stattfinden. Geht ihr, wird’s euren Familien gut gehen.“ … Wenn sich ein zur Arbeit in Deutschland Angeworbener nicht einfand, mußte die Familie fünfhundert Rubel Strafe zahlen, und er selbst kam ins Lager von Barlejewo. ….Ich zu diesen Deutschen: ,Ihr verfluchten Teufel.’ Und die nicken: „Ja, ja, ja “ … Auf einer geweißten Mauer haben Kinder – die Deutschen waren noch da – mit einem Stück Ziegel eingeritzt: „Was heißt ,Was ist das’? Die Deutschen geben rückwärts Gas.“ … Eine Mark für zehn Rubel. Die Deutschen haben Frauen, die sich weigerten, Geld zu tauschen, gehenkt. … Lied, das man in der Staniza sang, nachdem die ersten nach Deutschland verschleppt worden waren: Ein Gruß, liebe Mutter, gesandt aus weiter Ferne, von der Tochter dein. Mein junges Leben ist zerstört, elend bin ich und allein. Keiner, der mein Klagen hört in der Fremde hier, ach könnte doch ich Ärmste sein, liebe Mutter, nur bei dir… Weitere Tagebuchaufzeichnungen und viele Eintragungen in den Notizbüchern beziehen sich auf die Befreiung von Krasnodar. Im Morgengrauen erreichen wir Krasnodar. Die Brücken sind gesprengt.
Lange irren wir zwischen den Gleisen herum. Stehengelassene Waggons mit den Aufschriften „France – Rouen“, „France – Lyon“, „Deutschland – Breslau“, „Deutschland – Stettin“. Chalip knipst pausenlos. Wir schlagen uns ins Stadtzentrum durch. Am Stadtrand noch Geschützfeuer. Ein, zwei Häuserblöcke weiter Gewehrschüsse und Feuerstöße. Die Stadt ist durch die vergangenen und neueren Bombenangriffe, durch Artilleriebeschuß, Sprengungen und Brände verwüstet. Dennoch sind die Straßen voller Menschen, die die Armee willkommen heißen. Die letzte Woche haben die Krasnodarer im pausenlosen Beschuß in den Sachen geschlafen, jede Nacht haben sie unser Kommen erwartet. In den Händen Fahnen – rote Fahnen, aufbewahrt unter Todesgefahr. An Straßenecken unter Lichtmasten eben erst abgenommene Gehenkte. Im Schnee neben den Leichen Täfelchen, die sie auf der Brust hatten und die jetzt heruntergerissen sind. Auf einem in der Woroschilow-Straße, Ecke Schaumjan-Straße, lese ich: „Wegen Verbreitung von Gerüchten“. Bei einem anderen, einem sechzehnjährigen Jungen: „Ich habe Eigentum der deutschen Wehrmacht gestohlen“. Bei einem dritten, einem alten Mann an einer Ecke der Krasnaja-Straße, an einer Grünanlage: „Wegen Feindpropaganda“. Eine Frau sagt, sie kenne den Toten, er sei Arzt. Noch eine Leiche. Eine Frau. Auf dem abgerissenen Täfelchen steht: „Ich habe zwei Wehrmachtsangehörige und meine beiden Kinder vergiftet.“ Ich blicke auf diese Tafel und denke, vielleicht stimmt das, möglich ist alles. Hinter der Aufschrift
auf dem Täfelchen verbirgt sich eine Tragödie, über die jetzt niemand mehr etwas sagen kann. Drahtverhau bis auf die Straße um ein Haus, in dem ein deutscher Stab untergebracht war. Rundherum eine Barriere aus Stacheldraht, damit ja niemand hineingelangen konnte. Man erzählt, die Deutschen hätten schon vor vierzehn Tagen damit angefangen, Krasnodar niederzubrennen. An dem Tag also, an dem wir Kropotkin nahmen. Ein Stück weiter, immer noch in der Krasnaja-Straße, in der Nähe der Bank, die Leichen von sechs deutschen Soldaten. Der Schnee im Umkreis ist rot von Blut. Die sich einfindenden Einwohner sagen, diese Deutschen, die sich nicht mehr rechtzeitig mit ihrer Einheit aus dem Stadtzentrum zurückgezogen hätten, seien nicht von unseren Soldaten niedergemacht worden – die waren zu der Zeit noch nicht da, sondern von bewaffneten Krasnodarer Kindern. Das könnte stimmen. Ein Stück weiter sehe ich einen Jungen über die Straße gehen, der ein Gewehr am Bajonett hinter sich herzieht. Wir biegen in eine unversehrte Seitenstraße ein und hören am anderen Ende Schüsse. Wir fahren drauf zu. Aus einem Tor stürzt uns eine Frau entgegen, nur im Kleid, sie packt mich am Ärmel. „Kommen Sie! Auf unserem Hof dort haben die Deutschen einen Kommandeur verwundet.“ Sie deutet mit dem Finger auf ihre Brust. Im Hof liegt ein toter Deutscher. Kopf und Arme eines zweiten, der auch tot ist, hängen aus einem zerschlagenen Fenster im Obergeschoß. “Der da war’s.“ Die Frau weist auf den zum Fenster heraus-
hängenden toten Deutschen. „Der dritte ist durch die Höfe abgehauen. Unsere sind hinter ihm her.“ Sie bittet um unseren Wagen – ihr Sohn könne einen Arzt holen, zum Krankenhaus sei es nicht weit. Der Junge steigt ein, der Wagen fährt los, und wir treten ins Zimmer. Der verwundete Offizier liegt schräg überm Bett, das spitzenbesetzte Kissen ist blutüberströmt, er ist bewußtlos. Die Feldbluse ist aufgerissen. Auf der mit Handtüchern verbundenen Brust ein roter Fleck. Frauen drängen sich ringsum. Zuerst stehen sie schweigend da, doch als sie merken, daß der Verwundete bewußtlos ist und ihr Sprechen ihn nicht stören kann, erzählen sie uns, durcheinanderredend, von verschiedenen Greueln, Ereignissen und vom Leben unter den Deutschen hier in Krasnodar überhaupt. Sie berichten, am Vortag hätten die Deutschen im ehemaligen Entbindungsheim alle verwundeten Kriegsgefangenen, die dort lagen, bei lebendigem Leibe verbrannt. Die deutschen Posten ließen niemanden an das brennende Haus. Trotzdem sind Frauen durch den hinteren Zaun gekrochen, haben mehrere Verwundete aus den Flammen gerettet. Als sie noch mehr holen wollten, haben die Deutschen die Frauen entdeckt und zwei von ihnen erschossen. Als die Deutschen in die Stadt kamen, verteilten sie auf den Straßen Schokolade an die Kinder und filmten das. Und im Januar, als überhaupt nichts mehr zum Verheizen da war, trieben sie die Einwohner zusammen, befahlen ihnen, Holzhäuser und Zäune abzureißen, und die Bretter verteilten sie dann als Brennholzzuteilung an die Bevölkerung. Auch das
wurde gefilmt. Eine Frau erzählt von einer gewissen Maria Iwanowna, und sie sei Kostümbildnerin im Leningrader Radlow-Theater, das hiergeblieben war. Diese Maria Iwanowna habe Verbindung zur Illegalität gehabt, sei dann aber von einem Schauspieler verraten worden, die Gestapo habe sie abgeholt, und zwei Tage zuvor sollte sie bei der Ziegelei erschossen werden. Sie habe aber nur einen Halsdurchschuß gehabt und habe sich aus der Erde herauswühlen können. Leute hätten sie verbunden und versteckt, und man könne zu ihr hingehen. Ein alter Arzt kommt in unserem Wagen und bemüht sich um den Verwundeten. Er ist selber mehr tot als lebendig, und seine Hände zittern, man kann es kaum mit ansehen. Wir gehen hinunter in den Hof. Die Frauen folgen uns und erzählen in wirrem Durcheinander weiter. Jede möchte loswerden, was ihr auf der Seele brennt. Brot ist überhaupt nicht ausgegeben worden. Nur wer arbeitete, bekam zweihundert Gramm pro Tag. Den Rundfunk hatten die Deutschen eingestellt. Es wurde kaum was gesendet. In letzter Zeit haben sie alles angezündet, was sie nicht mehr mitkriegten. Uniformen, Stiefel, Sättel, Leder, Unterwäsche, ganze Warenlager. Den Stadtpark hatten sie schon vor langer Zeit abgeholzt, gleich zu Beginn. Man nennt die Deutschen hier Klempner. Anfangs begriff ich nicht. Man erklärte es mir: die Deutschen hätten von hier Butter in ihre Heimat geschickt und wären sehr schnell darauf gekommen, sie in Blechdosen einzulöten. Zornig wird von einem ehemaligen Hauptmann Ni-
kitin von der Militärhandelsorganisation gesprochen, der, ob nun in Gefangenschaft geraten oder freiwillig zu den Deutschen übergelaufen, unter ihnen im Restaurant „Europa“ den Wirt gemacht hat. Eine Frau äußert sich lobend über die Slowaken, die in ihrer Stadt lagen, und erzählt, ein Slowake hätte sie, als er den Plattenspieler in ihrer Wohnung sah, gebeten: „Legen Sie doch bitte auf ,Wenn’s morgen Krieg gibt’ und ,Das Lied vom Vaterland’. Eine andere berichtet auch von den Slowaken, sie seien einmal angetrunken durch die Krasnaja-Straße gezogen und hätten „In den Kampf für die Heimat, in den Kampf für Stalin“ und „Wenn’s morgen Krieg gibt“ gesungen. Und einer dritten Frau fällt ein, sicherlich hat sie es vom Hörensagen, eine Krasnodarer Hausfrau hätte – ob sie sich nun bei den Deutschen anbiedern wollte oder einfach aus Angst – in ihrer Stube ein Hitlerbild aufgehängt, aber einer der bei ihr einquartierten Deutschen habe das Bild von der Wand gerissen, den anderen Deutschen und auch den Hausleuten Rum eingeschenkt und gesagt: „Trinkt, worauf ihr wollt, bloß nicht auf Hitler.“ Sie meint, das wäre erst kürzlich passiert, als sie die Stadt schon ansteckten und ihren Abzug vorbereiteten. Es fällt schwer, dem allen Glauben zu schenken, aber andererseits: Warum sollten sie mir Lügen auftischen? Wir fahren noch einmal durch die Krasnaja, vorbei an den toten Deutschen. Immer noch umringt sie eine Menschenmenge, wir müssen bremsen. Ein alter Mann fällt über die sich drängenden Frauen her: „Was begafft ihr die so? Habt sie euch in den sechs
Monaten wohl noch nicht übergesehen?“ Als wir anhalten, tritt der Alte zu uns und bietet uns Zigaretten aus einer „Kasbek“-Schachtel an, sie enthält die verschiedensten Zigarettenmarken, immer ein, zwei Stück: „Sargnägel“, aber auch „Puschka“ und „Lux“. Er hat die Zigaretten wohl extra für die Unseren gesammelt, damit er sie bei ihrem Einzug in die Stadt anbieten kann. Wir suchen die Kommandantur auf. Sie arbeitet erst einige Stunden. Ein Mechaniker kommt und erbittet die Genehmigung zum Instandsetzen der zerstörten Wasserleitung. Die Genehmigung bekommt er und einen Händedruck dazu. Ein Flieger meldet sich, nahe Krasnodar war er aus einem brennenden Flugzeug abgesprungen; er stellt sich als Major Bojarski vor. Er berichtet, Einwohner hätten ihn hier versteckt, dann habe er in der Illegalität gearbeitet. Slowaken kommen in Begleitung unserer Soldaten und hiesiger Einwohner – den Inhabern der Wohnungen, wo sie sich vor den Deutschen versteckt hatten. Die Einwohner bezeugen, daß sich die Slowaken wirklich bei ihnen vor den Deutschen versteckt hielten, daß die Deutschen alle mutmaßlichen Überläufer zu den Russen erschossen hätten. Sie sagen, die Slowaken hätten selber verlangt, schnellstens einen russischen Soldaten in die Wohnung zu holen, damit sie sich gefangengeben könnten. Ich bleibe in der Kommandantur, um mich mit den Slowaken zu unterhalten. Bartolome Samendük – Oberleutnant vom 20. Regiment, Jahrgang 1915, Kreis Presov, Slowake. An der Sorbonne Studium der Philosophie und Literatur.
Schlug sich während des Studiums mit Übersetzungen durch. 1937 Rückkehr in die Heimat. Zur Armee eingezogen. Kam an eine Reservistenschule. Frage: „Was haben Sie für eine Einstellung zu den Deutschen?“ Antwort: „Ich bin schließlich in Frankreich erzogen worden! Einundvierzig hat man mich eingelocht, weil ich mehrmals zu den Soldaten gesagt habe: ,Paßt bloß auf, Jungs, daß ihr nicht als erste mit erhobenen Händen durch Moskau latscht.’ Dafür kriegte ich sechs Monate. Zuvor war ich Adjutant von Oberst Markus. Als ich meine Zeit abgesessen hatte, wurde ich ins Ministerium bestellt, wo man von mir verlangte, ich solle mich freiwillig an die Front melden. Ich habe mich geweigert. Im August zweiundvierzig wurde ich zwangsweise geholt, und im September ging ich an die Front. Unser Ministerpräsident Tuka muß was am Kopf haben, wie man bei uns sagt. Ich wollte schon in Gorjatschi Kljutsch zu Ihnen überlaufen, aber das hat nicht geklappt, weil befohlen war, mich im Auge zu behalten und zwei Soldaten nicht von meiner Seite gewichen sind. In Polen sah ich, wie ein SS-Mann ein zweijähriges Kind bei den Beinen packte und ihm durch den Kopf schoß. Als wir in Krasnodar von der Front abgezogen wurden, bin ich, während die Sachen aufs Fuhrwerk verladen wurden, mit meinem Burschen Mihai Milnar in die Paschkowskaja-Straße siebenundsechzig gegangen, wo Leute wohnten, die ich kannte. Das war vor zehn Tagen, und die haben uns diese zehn Tage vor den Deutschen versteckt. Heute früh aber hat mir Alexander Iwanowitsch gesagt, auf dem Hof sei ein roter Soldat. Dem hab ich meine
Waffe übergeben, und er hat mich und meinen Burschen hierhergebracht.“ Er holt ein vierfach zusammengefaltetes Flugblatt von uns aus der Tasche, das gleichzeitig als Passierschein für Überläufer gilt. Unter den Slowaken in der Kommandantur ist auch ein Rumäne, der Unterfeldwebel Ion Ionescu. Er hat vor zwei Tagen die Uniform ausgezogen und sich bei einer Frau in der Wohnung versteckt. Sein Aufzug ist unvorstellbar. Als Oberbekleidung trägt er einen abgetragenen Damenmantel, den ihm seine Wirtin geborgt hat, damit er nicht erfriert. Außer mit den Slowaken und dem Rumänen spreche ich noch mit einem Legionär von der sogenannten Turkestanischen Legion, der auch mit unserem Flugblatt-Passierschein in die Kommandantur gekommen ist. Er stammt aus Fergana, nach Abschluß der Siebenklassenschule ist er eingezogen worden, in einen Kessel und in Gefangenschaft geraten. Er kam dann zu dieser Turkestanischen Legion, die von den Deutschen in einem Ort zwölf Kilometer von Radom entfernt aufgestellt wurde. Dort hatte er eine dreimonatige Ausbildung. Alle trugen dort tschechische Uniformen und Schirmmützen ähnlich wie die Japaner. Bei der Ausbildung wurden russische Waffen verwendet. Die Legionäre trugen Armbinden mit Halbmond und Stern. Der Legionär ist gebildet, spricht leidlich Russisch. Er erzählt, in Berlin lebe ein gewisser Wali Kajum-Chan, der sich Präsident von Turkestan nenne. Auf einen Aufruf eben dieses Präsidenten von Turkestan hin sei die Legion aufgestellt worden. Er sagt, ein Kompanieführer sei als Vertreter der Legion nach Berlin gefahren. Dort solle Hitler vor
den Vertretern verschiedener Legionen gesprochen haben. Wali Kajum-Chan sei zweiunddreißig und habe der Legion in der Nähe von Warschau einen Besuch abgestattet, wobei er Zivil getragen habe. Nach der Ausbildung wurde die Legion an die Front geschickt, erst nach Taganrog, später nach Beloretschensk. Der Legion gehörten achthundertfünfzig Mann an. Ihr Kommandeur war ein deutscher Hauptmann. Die zweite Kompanie wurde probeweise an die Hauptkampflinie vorgeschickt. Vier Mann, die auf Spähtrupp gingen, sind alle zu den Russen übergelaufen. Da nahm man den übrigen Kompanien die Waffen ab und setzte die Männer zu allen möglichen Arbeiten ein, hauptsächlich als Kutscher von Troßfahrzeugen. Während seines Erzählens macht er einen ehrlichen Eindruck, aber zu Beginn und am Ende des Gesprächs erweist er mir eine Ehrenbezeugung nach deutscher Art. Offenbar ist sie ihm in Fleisch und Blut übergegangen. Dreißig Jahre später stieß ich in dem in Alma-Ata erschienenen dokumentarischen Buch „Der Untergang ,Groß-Turkestans’„ von Serik Schakibajew auf den Namen Wali Kajum-Chan, den „Präsidenten von Turkestan“. Der ehemalige Legionär, mit dem ich damals in Krasnodar gesprochen hatte, war also recht gut informiert gewesen. Einen Wali Kajum-Chan – zwar ein paar Jahre älter, als ihn der Legionär geschätzt hatte – hat es wirklich gegeben. 1922 war er aus der Sowjetunion zum Studium nach Deutschland geschickt worden, war dort geblieben, hatte die
deutsche Staatsbürgerschaft angenommen und war in den dreißiger Jahren bezahlter Gestapoagent und im Krieg dann „Präsident“ des auf Veranlassung des Reichsministers für die besetzten Ostgebiete, Alfred Rosenberg, gegründeten „Turkestanischen Nationalkomitees“ geworden. Nach dem Krieg hielt sich Wali Kajum-Chan in der amerikanischen Besatzungszone auf, und es gelang ihm, unterzutauchen. Er hatte das getan, was Wlassow nicht gelungen war. Ich wende mich wieder meinen Aufzeichnungen über Krasnodar zu. Nach dem Gespräch mit dem Legionär treffe ich den slowakischen Oberleutnant noch einmal. Diesmal spricht er nicht mehr nur von sich, sondern von den Beziehungen zwischen den Deutschen und den Slowaken, über die sich häufenden Zusammenstöße mit den Deutschen, davon, wie ihr slowakischer General zu uns überlaufen wollte und einen Offizier als Unterhändler zu uns schickte, der auch wohlbehalten hin und zurück kam, es war bereits abgesprochen, wo und wann ihre Division zu uns übergehen sollte. Es mußte sich aber ein Verräter gefunden haben, denn die Deutschen verlegten die Division am Tag vor dem Abend, der als Termin des Übertritts ausgemacht war, an einen anderen Frontabschnitt. Ich fahre von der Kommandantur zur Druckerei… Mir ist bekannt, daß die Deutschen hier die Zeitung „Kuban“ in russischer Sprache drucken ließen, und ich hoffe, dort sämtliche Nummern dieser Zeitung vorzufinden. Diese Vermutung bestätigt sich aber nicht ganz. Obwohl die Deutschen die Druckerei vor
ihrem Abzug in Brand gesteckt haben, ist sie dank ihrer überstürzten Flucht nicht völlig ausgebrannt. So finde ich wenigstens einzelne Nummern der Zeitung „Kuban“, die ich in meiner Kartentasche verstaue. Ich finde in der Druckerei nicht nur den „Kuban“, das Organ des Bürgermeisters der Stadt Krasnodar, sondern auch noch die Zeitschriften „Wiedererstandener Kuban“, Organ des Amtes des Kreisatamans von Ust-Labinsk und „Maikoper Leben“, ein Organ der Stadtverwaltung. Fragt sich, ob sie alle hier gedruckt wurden oder ob sich nur ihre Redaktionen in Krasnodar befanden. Ich möchte meine Aufzeichnungen über jene Tage wiederum unterbrechen, um einige Zitate anzuführen. Was ich damals in Krasnodar in meiner Kartentasche verstaute, liegt jetzt vor mir auf dem Tisch – die Zeitungen, herausgegeben von den Deutschen unter der Redaktion ihrer russischen Handlanger – eines gewissen Viktor Nordel, S. N. Leparski und N. W. Polibin. Die Überschriften je nachdem in größeren oder kleineren Lettern: „Die Bevölkerung hat freiwillig abzuliefern…“, „Deutschland ruft dich…“, „Laß dich unverzüglich registrieren…“, „Es wird angeraten, sich freiwillig zu melden…“ Im Oktober klingt der Ton pathetisch, triumphierend. Ein Leitartikel bringt den Lebenslauf Adolf Hitlers. Ein anderer appelliert an die Bauern, die Herbstaussaat des Weizens so gut wie möglich durchzuführen, „stets eingedenk der Tatsache, daß dies einer unserer wichtigsten Beiträge zu einem raschen Sieg der deutschen Wehrmacht ist, die für unsere Befreiung ihr Blut vergießt“.
In einem dritten Leitartikel, der sich unter der Überschrift „Das Kunstschaffen ist frei“ mit Literatur befaßt, heißt es: „Schon heute kann man in Krasnodar auf Veranlassung von Vertretern des deutschen Kommandos ohne jede Einschränkung alles schreiben und ungehindert drucken. Für die Kunst gibt es keine Einschränkungen. Die Kunst ist frei! Es lebe Deutschland!“ Ein weiterer Leitartikel: „Unsere Aufgabe ist die Schaffung eines freien Europa.“ Im Text: „Gegenwärtig kämpft das gesamte bewußte Europa gegen die Vorherrschaft der Bolschewisten, Briten und Amerikaner.“ Ein Beitrag unter der Überschrift „Stalin im Banne der Briten und Amerikaner.“ Wehrmachtsbericht: „Der Kampf um Stalingrad tritt in seine letzte Phase. Berichten aus Moskau zufolge, steht die Stadt kurz vor dem Fall.“ Aus einem weiteren Wehrmachtsbericht: „Im Westkaukasus haben die deutschen Truppen den Widerstand des Gegners gebrochen.“ Aus einem dritten Wehrmachtsbericht: „999 sowjetische Flugzeuge wurden zerstört.“ Und so weiter und so fort. In der Ausgabe des „Wiedererstandenen Kuban“ vom 1. Januar, nebenbei bemerkt auf der Rückseite von Postgutbegleitscheinen gedruckt, klingen die Wehrmachtsberichte bereits etwas nebulöser: „Am Terek hat der Gegner seine vergeblichen Angriffe wiederholt. Zwischen Wolga und Don haben deutsche Panzerdivisionen im Zusammenwirken mit rumänischen Truppen im Angriff gegen den sich hartnäckig verteidigenden Gegner einen wichtigen Flußabschnitt
genommen.“ Und obwohl die Dinge immer schlechter stehen, heißt es im Leitartikel „Prosit Neujahr“ doch noch: „Man braucht kein großer Prophet zu sein, um zu wissen, daß eben das anbrechende Jahr 1943 das Jahr der totalen Vernichtung des Bolschewismus sein wird.“ In der letzten Nummer, erschienen am 28. Januar, vierzehn Tage vor dem Fall Krasnodars, gibt es keinen Leitartikel mehr. Statt dessen findet man die Beiträge „Das Musikleben im Deutschland von heute“, „Die junge Generation der deutschen Arbeiter“ und „So lebt der deutsche Bauer“. Ich stoße auf die Meldung, daß „die in Krasnodar wiedereröffnete Fabrik ,Perlmutt’ zweihundert Blechkanister produziert, die Büroklammernproduktion aufgenommen hat und eine Abteilung für die Massenfabrikation von Feuerzeugen einrichten wird“. Im Wehrmachtsbericht heißt es: „Auch bei ungünstigen Witterungsbedingungen konnte unsere schwere Artillerie im Ostkaukasus trotz anhaltenden Drucks des Gegners die Zurücknahme unserer Truppen in neue Stellungen sichern.“ Ein merkwürdiges Gefühl, heute in diesem unter der Schirmherrschaft des deutschen Oberkommandos erschienenen Sklavenblättchen Zu blättern und hier und da auf lyrische Verschen über die Natur und sogar über die Liebe zu stoßen, geschrieben von einem gewissen N. Lei. Die Verschen sind allerdings schlimmster Schund, und auch die Unterschrift – Lei – ist nur ein Pseudonym.
9 Als ich in der Nacht die Korrespondenz über die Einnahme von Krasnodar nach Moskau übermittelte, kam über die militärische Leitung ein Telegramm für mich mit der Weisung, zur Südfront zu fahren. Anscheinend wollte die Redaktion, daß ich rechtzeitig zur Befreiung Rostows da war. Im Laufe des Tages beschaffte ich mir einen „Wyllis“, Chalip und ich hatten unseren „Emka“ endgültig kleingekriegt und waren schon mit einem fremden Wagen nach Krasnodar gekommen. Mit dem Telegramm der „Krasnaja Swesda“ in der Hand bahnte ich mir den Weg zu den hohen Dienststellen und bekam einen „Wyllis“. Nach einigem Hin und Her, veranstaltet von einem unwilligen Fahrer, dem, wie sich nach und nach herausstellte, alles Notwendige für eine so lange Fahrt fehlte, fuhren wir doch in aller Frühe los. Der Fahrer des von einer hohen Stelle geliehenen Wagens, dem eine lange Hin- und Rückfahrt auf schlammigen Straßen bevorstand, haßte mich von Anfang an von ganzem Herzen. Wir fuhren an der Nahtstelle zwischen zwei Fronten nichtausgefahrene, ungebahnte Wege. Während der zweitägigen Fahrt begegneten wir kaum jemandem, wie das an solchen Nähten oft ist. Der Fahrer hatte Angst vor Pannen. Ich übrigens auch. Um auf andere Gedanken zu kommen, dichtete ich unterwegs ein „Korrespondentenlied“, während der ganzen Fahrt arbeitete ich daran – fast zwei volle
Tage. Der „Wyllis“ war offen, es war kalt und feucht. Ich zitterte vor Kälte. In eine Burka gemummelt, saß ich neben dem Fahrer, und da ich die Hände nicht herausnehmen wollte, dichtete ich das Lied im Kopf. Als die erste Strophe fertig war, lernte ich sie laut auswendig. Dann nahm ich mir die nächste vor, und um die vorige nicht zu vergessen, sagte ich alles mehrmals laut auf. So ging es, bis das Lied fertig war. Je weiter ich kam, desto länger wurde der Text, den ich jedesmal in voller Länge aufsagte. So fuhren wir durch den Schlamm, mal war er gefroren, mal aufgetaut. Unweit Bataisk riß es uns in einer tiefen Fahrrinne ein Rad mitsamt der Felge weg, stundenlang saßen wir im Schlamm fest, bis man uns herauszog und der Schaden repariert werden konnte. Schließlich erreichten wir Bataisk, wo der Stab der Südfront lag und sich auch der Frontkorrespondentenstützpunkt der „Krasnaja Swesda“ befand. Rostow war befreit worden, als wir in Krasnodar losfuhren. An diesem Abend wollten wir nirgends mehr hin, und so blieben Chalip und ich bei unseren Korrespondentenkameraden, deren Leiter Wassja Korotejew war. Sie wärmten uns mit Wodka auf und setzten uns einen dicken Speckeierkuchen vor. Bald nach unserer Ankunft bat unser Fahrer, sich entfernen zu dürfen, und kurze Zeit darauf tauchte in der Hütte unseres Korrespondentenstützpunkts ein Militärarzt von der Sanitätsstelle des Stabs auf. Wie sich schließlich unter allgemeinem Gelächter herausstellte, war mein mürrischer Fahrer, der auf der ganzen Fahrt kein Wort verloren und mit finsteren Blicken den Entstehungsprozeß des neuen Liedes
verfolgt hatte, in der Sanitätsstelle vorstellig geworden, wo er meldete, daß er von der Nordkaukasusfront einen Oberstleutnant hergefahren hätte, der nicht ganz richtig im Kopf wäre, die ganze Fahrt über hätte er laut mit sich selber gesprochen. Wir schütteten uns darüber aus vor Lachen und sangen zur Melodie von „Murka“ (die Vertonung von Blanter gab es ja noch nicht) besagtes Korrespondentenlied: Zwischen Brest und Moskau sah uns jede Ortschaft, kennen wir den Staub der Wege gut… Als ich zwanzig Jahre später in einer Rundfunksendung diese lustige Geschichte halb im Scherz zum besten gab, erhielt ich einen Brief von Dr. Nikolai Alexejewitsch Ljostsch aus Jalta: „Ich habe Sie von Ihrer Fahrt zum Stab der Südfront erzählen hören und wie der Fahrer, der die Geburt eines neuen Liedes miterlebt hatte, dies für ein Symptom einer gewissen geistigen Verwirrung hielt. Ich bin dieser Arzt, der damals von der Sanitätsstelle zu Ihnen kam…“ Daß N. A. Ljostsch „dieser Arzt“ war, hatte ich natürlich gewußt, aber da er ein sehr genauer Mann war, wollte er das noch einmal bekräftigen. Zurück zum Tagebuch… Rostow. Finster, in Schutt und Asche, menschenleer. Nur der Außenbezirk Nachitschewan mit seinen kleinen einstöckigen Häusern ist mehr oder weniger verschont geblieben. Alle zentralen Straßen sind verwüstet, vereist, kalt,
schwarz. Ein älterer, abgezehrter Mann zieht einen Schlitten mit einem Sarg darauf, zusammengezimmert aus zwei Sperrholzkisten. Auf den Kistenbrettern die bekannten Worte: „Zigaretten ,Dukat’, Rostow am Don“. Es kommt mir jetzt so vor, daß ich beim Zurückdenken an diese schrecklichen Kriegstage – schrecklich nicht in bezug auf die militärische Lage, da wir inzwischen fast überall angreifen, sondern in bezug auf den Zustand von Land und Leuten – stets diese eisige Rostower Straße, den Mann und den Sarg aus zwei Zigarettenkisten vor Augen haben werde. In den letzten Tagen ist zu spüren, daß wir nach der Einnahme von Rostow und nach dem Vorstoß zum Fluß Mius hier auf eine gut ausgebaute und rechtzeitig vorbereitete Verteidigungsstellung der Deutschen gestoßen sind. Seit dem frühen Morgen sitze ich mit Dudnikow, dem Kommandeur eines Kosakenregiments, in der B-Stelle einer seiner Schwadronen. Seiner Berechnung nach verfügt das ganze Regiment heute nur noch über vierzig aktive Bajonette. Gewohnheitsmäßig sagt er Säbel, obwohl seine Kosaken schon längst wie Infanteristen kämpfen. Wir hocken am Rand eines Dorfes, in einer flachen Senke zwischen kümmerlichen kahlen Gärtchen und stark beschädigten Hütten. Vor uns die Höhe, die in der Nacht genommen werden soll und auf deren anderen Seite des Hanges wir uns eingraben müssen. Zur Zeit manövrieren auf dieser Höhe und rechts davon deutsche und unsere Panzer und beschießen sich mit Vollgeschossen. Die Panzerkanonen schießen mit
einem kurzen heftigen Knall. Die Vollgeschosse der Deutschen fliegen über unsere Panzer hinweg und klatschen bald hinter uns, bald in unserer Senke auf die Erde. Die Panzer verschwinden in Geländefalten, tauchen wieder auf. Ein deutscher Panzer gerät in Brand, dann einer von uns, dann ein deutscher, dann noch einer von uns. Nach neuerlichem Manövrieren kriechen die Panzer langsam auseinander. Im Tor der nächstgelegenen Hütte steht eine Regimentskanone. Beide Torflügel stehen weit offen, und aus der Tormitte heraus feuert die Kanone auf die Höhe. Der Beobachter mit dem Scherenfernrohr sitzt drei Gehöfte weiter vorn auf einer hölzernen Brunneneinfassung. Er hat das Scherenfernrohr an der Brunnenhaspel befestigt und läßt die Beine in den Brunnen hinabhängen… Es wird dunkel. Von oben kommt über Telephon der Bescheid, daß sich an der Aufgabe nichts geändert hat: In der Nacht muß die Höhe genommen werden. Der müde Regimentskommandeur, der nur mit Mühe seine Filzstiefel aus dem tiefen Schnee herausbekommt, stapft durch die Senke zurück zum Regimentsstab. Er geht seine vierzig aktiven Bajonette auf den Angriff vorbereiten. Während der Vorbereitungen zum Angriff sitze ich in der Hütte des Regimentsstabes mit einem Regimentskommissar zusammen, der von der Politabteilung der Armee hierhergekommen ist. Zuerst ist er mürrisch, will sich nicht in ein Gespräch mit mir einlassen, doch dann erzählt er von sich aus verschiedene Einzelheiten der letzten Kampfmonate.
„Die ganze Zeit Frost und Wind. Wir wärmten uns in den Heuschobern in der Steppe. In Kalmykien aber gab es nicht mal die. Bis zum Bauch versanken wir im Schnee. Es war eine Hundekälte. Die rückwärtigen Dienste kamen nicht nach, unsere Mahlzeiten bestanden nur aus Hartbrot, das wir auf dem Marsch kauten. Wir überquerten die Flüsse Zimla, Kuberle, Sal und Manytsch. An den Übergängen verstärkten die Panzerleute die Eisdecke, damit es die Panzer hinüberschafften. Stroh, Bohlen, eine Eisschicht, und dann dasselbe noch einmal. Die Panzerleute waren tagelang nicht aus ihren Panzern herausgekommen. Der Treibstoffnachschub klappte nicht. Und die Infanterie mußte unzählige Werst marschieren. Du gehst so und siehst einen Hund durch die Steppe rennen, der einen Menschenknochen wegschleppt. Und du bist so müde, daß du nicht den Arm heben kannst, um auf ihn zu schießen. Dort, wo sich die Deutschen festgekrallt hatten, hatten wir in der Regel mit Nachtangriffen den besten Erfolg. Bei so was haben Unsere die besseren Nerven. Am Abend essen sie noch was – und dann vor zum Angriff. Früher hieß es immer ,Die Deutschen kämpfen nachts nicht gern’. Das war doch bloß Gefasel. Dabei sind wir selber auch nicht gerade auf Nachtkämpfe versessen gewesen. Aber in diesem Winter hat sich das geändert. Überhaupt kämpfen wir jetzt mit mehr Verstand. Nun hat sich gezeigt, daß die Deutschen auf Umgehungen noch empfindlicher reagieren als wir. Wenn wir auf starken Widerstand stießen, griffen wir nicht stur an, sondern umgingen sie und packten sie von hinten. Jammerschade, daß Jeremenko nicht bis Rostow das
Kommando über die Front behalten konnte, daß er ins Lazarett mußte. Er hat sich sehr dagegen gesträubt. Die letzte Zeit hat er mit wieder aufgebrochenen Wunden dagelegen und vom Bett aus die Front geführt. Unsere mechanisierten Korps aber, das kann man mit Fug und Recht sagen, haben es den Deutschen so gegeben, wie sie es uns mal gegeben haben…“ Aus den Nachbargehöften feuern die Regimentskanonen. Die Flamme der Ölfunzel zittert. Im Fernsprecher kommt die Meldung, daß ein Richtschütze von einem deutschen Vollgeschoß erwischt wurde und gefallen ist. Minuten später kommt der Batterieführer in einem bereiften „Baschlyk“. Der Gefallene ist ein alter Richtschütze, er heißt Daschewez. Alle erinnern sich an ihn: so ein Alter mit Bart… Man bedauert, daß er tot ist, und schickt einen Wagen los, seine Leiche holen. „Nun hat der Ärmste seine Auszeichnung nicht mehr erlebt“, sagt Dudnikow und erwähnt im gleichen Atemzug einen anderen älteren Mann – Beloussow, auch Richtschütze. Trotz dreifacher Verwundung ist er bei der Truppe geblieben, und erst die vierte Verwundung – am Bein – zwang ihn gestern, aus dem Kampf auszuscheiden. „Veranlasse, daß man in den Hütten Brot für uns bäckt!“ sagt Dudnikow, sich anderen Dingen zuwendend, zu seinem Versorgungsleiter. „Wir haben keinen Sauerteig. Und ungesäuertes Brot ist unvorteilhaft. Noch was. Wie du das machst, ist deine Sache, aber schaff Granaten ran, und wenn’s nur fünfzig sind.“ Ich geh ins Nachbarhaus. Verwundete werden he-
reingebracht und nebeneinander auf den Fußboden gelegt. Die Tochter der Hausleute – ein Mädchen von zweieinhalb Jahren – starrt die Verwundeten mit leidvollen Erwachsenenaugen an. Einen Soldaten mit einer Kopfwunde hat man aufs Bett der Hausfrau gelegt. Er hat sich in der äußersten Ecke zusammengekrümmt und ist dort so erstarrt… Nacht. Neuerlicher Angriff auf die gleiche Höhe. Abschiedswort: „Hals und Beinbruch! Kommt bloß ganzbeinig oben an!“ Wir sitzen in einer neuen, noch näher an die Hohe vorgeschobenen B-Stelle in einer zerschossenen eiskalten Arbeiterbaracke. Der Oberst in den Fernsprecher: „Daß du mir nicht bloß Druck machst, sondern die Höhe nimmst!“ Es ist kalt, er ist heiser. Auch in dieser Nacht kann die Höhe nicht genommen werden. Alle diese Aufzeichnungen habe ich gemacht beim Donkosakenkorps unter General Seliwanow. Zuvor war ich bei den Panzerleuten und der Infanterie – bei Utwenkos 33. Gardedivision, die jetzt hier an der Südfront kämpfte. Wie auch ihre Nachbarn zur Rechten und Linken, rannten die Kosaken in diesen Tagen gegen die deutsche Verteidigungslinie am Mius an, die wir erst ein halbes Jahr später, im August, durchbrechen konnten. Damals aber, Ende Februar, wollte sich keiner damit abfinden, daß man uns hier zum Stehen gebracht hatte, und das für lange Zeit. Mal hier, mal dort wurden weitere erfolglose Versuche unternommen, wenigstens noch ein Stück
nach vorn zu kommen. Aber für einen Erfolg reichten weder die Kräfte noch die Mittel. Die damals von mir notierte Zahl – vierzig aktive Bajonette im Regiment – ist beredt genug. Als einer unserer Panzervorstöße erfolgreich war, schrieb ich sogleich einen Bericht und gab ihn nach Moskau durch. Jene Gefechte von örtlicher Bedeutung aber, über deren Charakter und Umfang mein Tagebuch eine Vorstellung vermittelt, brauchte ich nicht zu beschreiben, damit konnte die Redaktion nichts anfangen. In dem Bestreben, wenigstens etwas für die Zeitung zu tun, hielt ich Tag für Tag die Berichte der Kosaken über ihre Erlebnisse von Herbst und Winter fest – erst den Rückzug durch die Don- und Kubansteppen bis zu den Kaukasuspässen, später aber unsere Winteroffensive von Mosdok bis zum Mius. Zum erstenmal in diesem Krieg hielt ich mich bei der Kavallerie auf, noch dazu bei Kosakeneinheiten. Zum großen Teil waren sie, die mitunter das Einberufungsalter schon weit überschritten hatten, aus Freiwilligen aufgestellt und auch aufgefüllt worden. Hier der in meinem Notizbuch festgehaltene Bericht einer dieser Männer – Paramon Samsonowitsch Kurkin, Oberleutnant, Kommandant eines Regimentsstabes, Teilnehmer am Bürgerkrieg und am Weltkrieg, zweimal mit dem Rotbannerorden ausgezeichnet, vierundsechzig, Kosake aus der Staniza Nishne-Tschirskaja, Chutor Logowski: ….Mein ältester Sohn, Michail, ist Kommissar bei einer Batterie. Der zweite, Taras, hat die Smolensker Artillerie-
schule besucht, er schrieb am 23. Juni: ,Bin gesund und munter, wir kämpfen.’ Das war alles. Der dritte Sohn ist nach der Zehnklassenschule an die Stalingrader Fliegerschule gegangen. Wo die drei abgeblieben sind und wo meine Frau steckt, weiß ich nicht. Ich denke mir, sie hat vor den Deutschen fliehen müssen. Vom ersten Kriegstag an hab ich darum gebettelt, zu einer Kavallerieeinheit geschickt zu werden. Sie haben mich nicht genommen. Immerzu ist es mir im Kopf rumgegangen – wenn du gefragt wirst: Bist du im Krieg gewesen, soll ich etwa antworten: Nein, ich war nicht? Kriegte damals gerade einen Brief von meinen alten Genossen Suchow und Chartschenko aus Tula: Du hältst es ja doch nicht aus, es geht dir wie uns, wir kennen dich, und wir kämpfen schon! Ich fuhr nach Stalingrad ins Kriegskommissariat. Die sagten: Was willst du im Krieg, was wärst du schon für ein Soldat? Du bist doch schon ein alter Mann, Jahrgang neunundsiebzig. Aber ich hab ihnen geantwortet: Wißt ihr auch, wer noch mein Jahrgang ist? Wer denn, fragen die. Na Stalin. Wenn wir also der gleiche Jahrgang sind und er ist Oberster Befehlshaber, warum kann ich dann nicht zu den Kosaken? Damit wollte ich sie überzeugen. Aber die haben mich wieder abgewiesen. Da kam so um den Feiertag rum ein Leutnant angeritten und sagte, er wolle Ersatz für die Elfte Kosakendivision holen. Ich die roten Partisanen zusammengeholt, und los ging’s. Dreißig Mann kamen zusammen. Die Kolchose spendeten Geld, kratzten Pferde zusammen – dreißig Reitpferde, sechs Zugpferde –, richteten Sattelzeug
her, besserten die Uniformen aus, und am 8. März zweiundvierzig sind wir losgeritten. Das Pferd hier ist schon mein drittes in diesem Krieg. Eins hat man bei Kustschewskaja unter mir weggeschossen, das zweite habe ich umgetauscht – kleine Pferde sind nichts für mich. Wir sind in den Schluchten rumgekrochen, haben die Pferde einen ganzen Monat mit Blättern gefüttert. Und in den Steppen bei Mosdok, da haben wir, wie man so sagt, Seite an Seite mit der belebten Natur kampiert. Kaum hatten wir einen Graben ausgehoben, wimmelte es schon von diesen verdammten Steppenratten! Wir haben viel durchgemacht! Aber was soll’s, schließlich ist Krieg. Und in den Wäldern war’s schlecht mit Futter. Wir fällten einen Nußbaum mit einem Stamm so dick, daß ihn zwei Mann grade umfassen konnten, aber Grünes gab es nur in der Spitze. Die armen Gäule haben was durchgemacht. Im Bürgerkrieg haben aus meiner Familie drei Brüder gekämpft. Und zehn Neffen sind im Krieg. Fast ein ganzer Zug. Dazu noch mein Schwiegersohn. Meine erste Frau haben die Weißen damals umgebracht, meine vierzehnjährige Tochter hat drüber den Verstand verloren und ist gestorben, als ich bei Zarizyn lag. Die Weißen haben mir den Kosakenstand aberkannt und das Land weggenommen. Den Schwager, der meine Tochter im Keller versteckt hatte, haben sie vergiftet. Bei der Zarenarmee bin ich während meiner Dienstzeit Schuhmacher gewesen. Und deshalb haben mich die Weißen Schuster-Paramoschka gerufen.
Im Bürgerkrieg hatte ich eine Abteilung von hundertvierzig Mann aus unserem Chutor Logowski. Schon damals trug ich einen Bart. Wegen dem Bart hat mir in der ersten Zeit kein Mensch glauben wollen, daß ich ein roter Kosak war. Aber in diesem Krieg, was haben wir für eine Wut auf diese deutschen Kosaken, die auch noch Abzeichen tragen, daß sie Freiwillige sind. Sollten alle in die Steilschlucht getrieben und verbrannt werden. Schwer war’s, dem Don letztes Jahr ,Auf Wiedersehen’ zu sagen, den Rückzug zu überstehen. Schwer war’s, als wir durch die Stanizas zogen und die Kosakenfrauen weinend dastanden und uns Verpflegung mitgaben. War das schwer! Schwerer noch, als wenn auf einem kahlen Feld Panzer hinter einem herjagen. Unser erstes Gefecht war in einer Schlucht bei Sucharewa, dann kam Stepnaja, Kustschewskaja, Beloretschenskaja und schließlich Linejnaja. Wir zogen von Linejnaja durch einen engen Paß in Richtung Tuapse. Bei Gustschewskaja haben wir eine Menge Pferde verloren, und in den Hohlwegen auf der Höhe 101,0 unzählige Männer. Stabschef Butschnew, Portjanski und Mytarjow sind gefallen. Solche Kommandeure, wie wir sie auf der Höhe 101,0 verloren haben, kann man nicht vergessen. Gefallen der erste Regimentskommandeur Oberstleutnant Orjol, gefallen der zweite Kommandeur des Regiments, Major Kusnezow. Bei Budjonnowskaja haben sie uns mit Panzern eingeschlossen. Wir hatten schwere Verluste, die Hälfte der Kanonen ist von den Panzern überrollt worden. Jerochin ist auf der Höhe 101,0 gefallen. Er war siebenundsechzig, der Älteste von
uns, älter noch als ich. Man wollte es ihm leichter machen, aber er ging mit auf Spähtrupp. Als erster sprang er ins freie Gelände, als er die Deutschen sah, setzte sich auf einen Stein, den Rücken zu denen und das Gesicht zu uns, und schrie: ,Was seid ihr so lahmarschig! Dalli, dalli!’ Und da hat’s ihn erwischt. Und die Kuklins, unser Sanitätsinstrukteur, ist gefallen, als sie Verwundete auf dem Kampffeld verband. Als Panzer unseren Gefechtsstand eingeschlossen hatten, zog General Gorschkow, Kosake aus der Staniza Urjupinskaja, in aller Eile seine komplette Generalsuniform an, denn wenn er schon sterben mußte, dann in dieser Uniform. Hinterher, der Angriff war abgeschlagen und der Trubel zu Ende, sagt er zu mir: .Verzieh dich von hier.’ Ich aber sage: ,Was denn, ist mein Leben etwa kostbarer als Ihres?’ Als ich mit dem Ersatz ankam, prüfte Gorschkow, wie ich mich aufs Pferd schwinge. Aber ich schaffe es noch schneller als ein Junger, ich lege hundert Kilometer in einem Ritt zurück, wenn ich das richtige Pferd habe! Es ist nur ein Jammer, daß ich nicht weiß, wo meine bessere Hälfte, meine Frau, jetzt ist! Es gibt so eine alte Redensart: Wie im Kriege, so beim Dreschen. Wie ich ins erste Gefecht gehe, seh ich doch: zehn, fünfzehn, zwanzig Mann hauen ab. Ich frage sie: ,Wo rennt ihr denn hin? Was habt ihr denn da für MPis? Zeig mal her’, sag ich zu einem, ,laß mal sehen.’ Und ich nehme sie. ,Und nun’, sag ich, ,kriegst du die MPi nicht wieder, mit einer MPi haut man nicht ab.’ Ich
hab eine eiserne Natur. Auch das Angreifen war schwer. Winter, weit und breit eine einzige Öde! Du setzt dich auf ein paar Steinchen, einen Ziegelhaufen, willst ein Nickerchen machen und wachst erst auf, wenn der Stapel unter dir wegrutscht. Kämpfend sind wir von Mosdok bis hierher marschiert. Einmal überquerten etwa zwei Kilometer vor uns Panzer den Weg. Ich habe mich freiwillig gemeldet, ich wollte alleine herauskriegen, was das für Panzer waren. So wäre wenigstens nur ich draufgegangen. Aber es waren unsere! Pausenlos waren wir auf dem Marsch. Es war hundekalt. Das Pferd führte ich am Zügel. Wir kommen in ein Dorf – es ist niedergebrannt. Im Schnee zu liegen – das ist auch nichts. Also steht man lieber wieder auf. Im zweiten Monat bin ich zum Stabskommandanten ernannt worden. Vor einem Kampf finde ich keinen Schlaf. Was hab ich mir deswegen schon anhören müssen. Aber ich kann nun mal nicht einschlafen, weil ich das Gefühl habe, ich als alter Soldat müßte die anderen alle beschützen. Den dritten Krieg mache ich nun schon mit. Ich kann die Ballerei und alle Beschwernisse schon vergleichen. Fragst du einen Soldaten: Warum ist dein Pferd schmutzig, der Sattel nicht repariert, die Stiefel, die Waffe dreckig? Na ja, die Jungs tun schon, was sie können! Nachts gehe ich die Posten kontrollieren, daß sie mir ja nicht einschlafen! Ich hab Pferde nun mal für mein Leben gern. Wegen einem Pferd könnte ich töten. Und ob ihnen das nun
schmeckt oder nicht, ich kontrolliere jede Nacht, wie sie sich um ihre Pferde kümmern. Geh ich so durchs Regiment und sehe, das Pferd ist nicht abgesattelt, obwohl Zeit dazu wäre, laß ich das nicht auf sich beruhen. Das ist im Kriege meine Pflicht als Ältester. Unsere Mängel? Unsere Mängel sind bekannt und einfach. Allzuoft haben wir frontal angegriffen und waren nicht umsichtig genug. Auf der Höhe 101,0 war es so und in Peski auch. Wir sind ohne ausreichende Munition ins Gefecht gegangen. Noch was. Warum kommen die Kosaken nach einer Verwundung nicht wieder zu ihren Truppenteilen? Unsere Verbundenheit, unsere Freundschaft, unsere brüderliche Liebe sind hin, wenn ich den Kommandeur nicht kenne und er mich nicht. Ich erinnere mich, wie wir einmal oben auf einem Gebirgspaß einen Leutnant von uns getroffen haben, Saizew, ein Kosake, der verwundet gewesen war. Aber er transportierte Lasten auf Eseln – er war Troßführer – und weinte bitterlich. Es ging über seine Kraft, weiterzuziehen, aber beim eigenmächtigen Verlassen des Trosses galt er als Deserteur. Ihn hatte man zum Troß gesteckt, und uns schickte man dafür welche, die noch nie einen Pferdeschweif gesehen hatten. Wo es doch so ist, daß einer, schickt man ihn nach seiner Verwundung zum alten Truppenteil zurück, vor Begeisterung aus dem Häuschen ist und nun erst richtig kämpft, weil er seine Verwundung heimzahlen will, und alle freuen sich, daß er wieder da ist! Hin und wieder trifft man unterwegs den einen oder anderen. Der ist zur Infanterie gekommen, jener zum Troß. Wer aus dem Lazarett kommt, sollte den
Marschbefehl kriegen – ab zu deinem alten Truppenteil. Wenn mich einer vom Pferd wegreißt, ich würde bei der Infanterie keinen Bissen runterkriegen.“ Beim Lesen dieser Zeilen muß ich daran denken, wie oft ich im Krieg bittere Klagen darüber hörte, daß man die Verwundeten nach dem Lazarettaufenthalt nicht wieder zu ihrem Truppenteil schickte! Bei den Gardetruppen klappte das noch so einigermaßen, bei den anderen mußte man außergewöhnliches Glück haben! Bei unseren riesigen Ausdehnungen und gewaltigen Entfernungen von den Lazaretten im Hinterland zu den verschiedenen Frontabschnitten war dieses Problem sicherlich nur schwer zu lösen; das darf man dabei nicht vergessen. Vergessen aber darf man auch nicht, mit welchem inneren Schmerz die Frontsoldaten von der Tatsache sprachen, nach einer Verwundung nicht zum gleichen Truppenteil zurückzukehren. Vor mir liegt das im Krieg erschienene dritte Büchlein mit meinen Kriegskorrespondenzen: „Vom Schwarzen Meer zur Barentssee“. Auf dem Umschlag hoch zu Roß, auf einem großen Rappen, im Halbpelz, die Papacha auf dem Kopf, eine MPi vor der Brust, ein stämmiger, breitschultriger, bärtiger Kosak, und das ist kein anderer als Paramon Samsonowitsch Kurkin, so, wie er damals am Mius photographiert worden war. Der Kommandeur der II. Gardekavalleriedivision, General Gorschkow – von dem Kurkin in seinem
Bericht erwähnte, daß er ein Kosak aus der Staniza Urjupinskaja sei –, führte von den ersten Kriegstagen an eine Schützendivision und stellte 1942 diese Donkosakendivision auf. Ich kann jetzt nur schwer über Sergej Iljitsch Gorschkow schreiben, weil fast alles, was ich damals im Frühjahr 1943 über ihn erfuhr, bald darauf mit nur winzigen Abweichungen von der Wahrheit in der halb Erzählung, halb Reportage „Axinja Iwanownas Sohn“ seinen Niederschlag fand. Auch die Stanzia Urjupinskaja und der Name des Sohnes, der Name und Vatersname der Mutter blieben unverändert, nur aus dem Familiennamen Gorschkow ist Werschkow geworden und aus dem General ein Oberst… Einen kurzen Auszug aus meinen damaligen ersten Aufzeichnungen möchte ich dennoch bringen in der Hoffnung, daß aus diesen Zeilen die Charakterzüge dieses Soldaten deutlich werden, den ich so ins Herz geschlossen habe. „Als wir zur Küste zurückwichen, waren wir auf einem Paß angelangt, schon vier Tage hatten wir nichts gegessen. Da kommt doch bald der eine, bald der andere alte Kosak an und fragt: ,Sie möchten doch sicherlich was essen, Genosse General?’ ,Hast du denn was?’ ,Na, Hartbrot.’ ,Quatschkopf.’ ,Doch hab ich welches.’ Und er holt aus der Satteltasche ein schmuddliges Stück Hartbrot raus. ,Du hast doch selber nichts gegessen.’ ,Ich hab eben was gegessen.’ ,Und was hast du gegessen? Du lügst doch.’ ,Ich hab wirklich was gegessen.’
,Was hast du denn gegessen?’ ,Na, Hartbrot doch. Das hier hab ich übrig, mehr will ich nicht.’ Und er läßt nicht locker, bis er dem General das Stückchen Hartbrot aufgedrängt hat. Als die Division aufgestellt wurde, holte ich die Bärtigen aus meiner Staniza und den Nachbarstanizas zusammen. Durch die Stanizas ging die Kunde: ,Der Divisionskommandeur ist gekommen, einer von uns, Axinja Iwanownas Sohn, Serjoschka…’ Und sie sammelten sich…“ Der General sitzt da und schweigt, den Kopf hat er in die Hände gestützt, dann sagt er unvermittelt mit tränenschwerer Stimme: „Ich habe Angst, mich in den Stanizas sehen zu lassen. Sie werden fragen: ,Was hast du mit ihnen gemacht, he?’ Nach all den Kämpfen ist doch von denen kaum einer mehr bei der Truppe… … Vor kurzem habe ich nach der Aushändigung der Auszeichnungen die Alten von der ganzen Division zum Abendessen zusammengeholt. Wir tranken etwas und unterhielten uns dann über die Gefechte und über die Fehler, über meine und ihre. Und diese drei Stunden waren für mich wie ein ganzer Lehrgang an der Frunseakademie. Die Alten wissen so vieles, wovon wir keine Ahnung haben… In der Division haben wir ein Mädchen namens Marussja, Militärfeldscher, sie wird von allen bloß Krümelchen gerufen, weil sie so klein ist. Sie hat unzählige Verwundete rausgeholt. Jetzt hat sie den Orden Roter Stern bekommen. Da war mit ihr folgende Geschichte. Wir gingen zurück. Im geschlossenen Wagen transportierte sie sechs Schwerverwundete – zwei mit
Kopfwunden und vier mit Bauchwunden. Die Straßen waren miserabel. Einen Soldaten mit einer Brustwunde hat sie ins Fahrerhaus gesetzt, sie selber aber hat die ganze Strecke auf dem Kotflügel gesessen, mehr als hundert Kilometer von einem Bestimmungsort zum anderen, und dann noch weiter zu einem dritten; die Lazarette waren schon verlegt, und die Verwundeten konnten nirgends abgeliefert werden. Bei der Rumpelei hätten die Verwundeten am liebsten gestöhnt, aber das ließ ihre Kosakenehre nicht zu, um so mehr, als eine Frau da war. Und so einigten sie sich, um nicht zu stöhnen, während der Fahrt ein Lied anzustimmen, eines von unseren alten Kosakenliedern: Ritt einst ein Kosake durch das Tal, durch das schöne Mandschurenland. Er ritt vor sich hin so ganz allein, ein Ringlein blinkt an seiner Hand… Die Verwundeten zu pflegen, das war nicht ihr Fall – das war was für Drückeberger! Aber zu ihnen nach vorn gehen, das war was für sie. In den vordersten Stellungen – da war sie in ihrem Element! Man muß überhaupt sagen, daß die Anwesenheit einer Frau im Krieg, noch dazu bei brenzligen Situationen, die Männer um sie herum beflügelt. Sie sind dann tapferer…“ Ich wiederhole, in den Tagen, die ich bei Seliwanows Kosakenkorps, vorwiegend bei Gorschkows Division und dort meistens bei Dudnikows Regiment verbrachte, geschah nichts, was für die Zeitung von
operativem Interesse gewesen wäre. Aber meine Notizbücher füllten sich tagtäglich mit wichtigen Aufzeichnungen über Begegnungen mit Menschen, angefangen bei Seliwanow und Gorschkow bis zu Kurkin und dem Mädchen Krümelchen, von dem mir Gorschkow als erster erzählt hatte. Und bis zum heutigen Tag gedenke ich voller Dankbarkeit des Stellvertretenden Politleiters des Korps, Nikifor Iwanowitsch Priwalow, mit dem ich des öfteren in seinem „Emka“ und auch in einem Kleinpanzer sowohl im Hinterland als auch in den vorderen Linien unterwegs war. Viele der sich mir einprägenden Begegnungen verdankte ich gerade diesem herzensguten Mann, der sich nicht mit seinem Namensgedächtnis, mit seiner geradezu fabelhaften Menschenkenntnis großtat, wie das manchmal so ist; er war ein echter Kommissar, der die Menschen durch und durch kannte. Später, als die „Krasnaja Swesda“ meine Reportagen und Berichte über die Männer vom Kosakenkorps hintereinander brachte, war der Redakteur recht zufrieden und äußerte sich lobend; als er jedoch in den letzten Februartagen erfuhr, daß die Südfront zum Stehen gekommen war, beorderte er mich schleunigst nach Moskau. Sogar unverzüglich, wie aus meinen Tagebuchaufzeichnungen hervorgeht. In dem Telegramm aus Moskau forderte der Redakteur meine sofortige Rückkehr. Anscheinend hatte er einen anderen Auftrag für mich. Chrustschow sollte anderntags auch nach Moskau fliegen. Angeblich sollte er nach der Südfront gleichfalls als Mitglied des
Kriegsrats an eine andere Front gehen. So verlautete es jedenfalls im Stab. In der ganzen Zeit war ich hier bei der Südfront zweimal mit Chrustschow zu Gesprächen zusammengekommen. Bei der ersten Begegnung hatte ich mir als Korrespondent der „Krasnaja Swesda“ bei ihm als Mitglied des Kriegsrates Informationen über das Geschehen an der Front geholt. Beim zweitenmal hingegen bat ich, er möge mir von seinen eigenen Gefühlen und Beobachtungen in der Periode der Südfrontoffensive von Stalingrad bis Rostow erzählen. Das waren schon keine Korrespondentenfragen mehr, sondern die Fragen des Schriftstellers, hatte ich doch von der Redaktion keinen Auftrag dazu. Aber seinen Antworten nach zu urteilen, hatte er mich auch genauso verstanden. Als ich hörte, er werde anderentags fliegen, hielt ich es für die beste Gelegenheit, nach Moskau zu kommen. Ich fragte also im Stab an, ob für mich in der Maschine noch ein Plätzchen frei sei. Gegen Abend erhielt ich die Zusage, stieg am nächsten Morgen – ich übernachtete nicht in Bataisk, sondern in Nachitschewan, um es nicht so weit zum Flugplatz zu haben – in unserem Redaktions-“Emka“ und brach sehr zeitig, noch mit einer Zeitreserve, zum Flugplatz auf. Dort stellte sich heraus, daß Chalip und ich uns verfahren hatten; in Rostow gab es zwei Flugplätze. Auf dem richtigen Flugplatz kamen wir erst zwanzig Minuten nach der festgesetzten Startzeit an. Ich zweifelte nicht daran, daß die Maschine mit allen Insassen bereits gestartet war. Aber als wir aus dem Wagen sprangen, sahen wir in einiger Entfernung bei
einem Flugzeug eine Gruppe stehen, und unter ihnen Chrustschow. Einer von Chrustschows Begleitern fiel ungehalten über mich her. „Man wartet auf Sie!“ fuhr er mich an. „Hat schon eine U-Zwo zum anderen Flugplatz geschickt, um Sie zu holen. Dreimal ist schon nach Ihnen gefragt worden!“ Wir eilten neben dem General her; er putzte mich runter, und ich fühlte mich schuldig. Als wir im Laufschritt beim Flugzeug ankamen, sagte Chrustschow ruhig: „Na, sind Sie da? Wir haben schon auf Sie gewartet. Dann können wir ja losfliegen.“ Das war alles. Der Flug sollte in Stalingrad unterbrochen werden. Bis Moskau mußten wir ohnehin einmal zwischenlanden, und der Oberbefehlshaber der 64. Armee, General Schumilow, und sein Mitglied des Kriegsrates, der ehemalige Sekretär des Kiewer Stadtkomitees der Partei, Serdjuk, hatten Chrustschow überredet, zu ihnen nach Stalingrad zu fliegen, dort zu frühstücken und sich anzusehen, wie es jetzt dort aussah, genau einen Monat nach Paulus’ Kapitulation. Schumilows 64. Armee lag immer noch in Stalingrad. Das Stabsquartier war noch in Beketowka untergebracht, wohin der von Truppen der 64. Armee gefangengenommene Paulus damals gefahren worden war. Wir landeten auf dem Stalingrader Flugplatz und fuhren an Trümmerstätten und Ruinen vorbei nach Beketowka. Unvermittelt hielt der erste Wagen in einer Straßenbiegung an. Auch unser Wagen hielt. Ich stieg aus und sah etwas, dessen Sinn ich erst nicht verstand. Es war so eine Art Baugrube oder eine tiefe, verschneite Schlucht mit sehr ebenem
Grund. Und auf dieser ebenen weißen Fläche waren riesige Brennholzscheite gestapelt. Der erste Eindruck war – ein gigantisches Brennholzlager. Erst später wurde mir klar: Hier auf dem Boden der Baugrube lagen ein paar tausend Leichen. Sie waren so übereinandergelegt, wie man in einem ordentlichen Brennholzlager die Holzscheite stapelt – mit Längsund Quergassen dazwischen. Ein paar hundert Deutsche stapelten die Leichen sorgfältig übereinander. Ich kann es nicht behaupten, aber mein Eindruck war, daß diese sonderbare Akkuratesse nicht von unseren Leuten befohlen worden war – jedenfalls bekam ich niemanden von ihnen zu Gesicht –, sondern sie war das Ergebnis der Eigeninitiative der Deutschen, die die Leichen hierherbrachten. Wie man uns später sagte, wurden die unter den Trümmern Stalingrads herausgeholten toten Deutschen hierhergeschafft, damit es im Frühjahr beim Einsetzen des Tauwetters, wenn die Leichen unter den Ruinen in Verwesung übergingen, in der Stadt nicht zu einer Epidemie käme. Später wollte man den Hang dieser Baugrube sprengen und so ein großes Massengrab entstehen lassen. Obwohl diese Maßnahme äußerst sinnvoll war, mußten wir, als wir weiterfuhren und das alles sich mit zunehmender Entfernung wieder in Holzstapel verwandelte, immer wieder schaudernd zurückblicken. Während unser Flugzeug aufgetankt wurde, saßen wir bei Schumilow in dem gleichen kleinen Blockhaus, in dem er mit Paulus gesprochen hatte. Ich hatte
so ein Haus aus meiner Kindheit in Rjasan noch in Erinnerung, ein Lokführer hatte es sich zusammengespart – eine große Stube, in der wir frühstückten, und ein paar kleine Nebenräume. Nach dem, was wir soeben gesehen hatten, brachten wir kaum etwas hinunter. Ich rauchte mehr, als daß ich aß, und hörte der Unterhaltung zu. Schumilow kam auf Spanien zu sprechen. Er war unser letzter militärischer Berater in Madrid gewesen und hatte die Stadt mit dem Flugzeug an dem Tag verlassen, da die Faschisten einzogen. Er erzählte, wie er von dort nach Afrika, ich glaube nach Algier, geflogen war, weil es keine andere Möglichkeit mehr gab. Dann kam das Gespräch darauf, wo die 64. nun wohl kämpfen würde. Es war herauszuhören, daß die nach der Kapitulation der Deutschen hiergebliebenen Soldaten immer noch im Banne jenes seltsamen Gefühls standen, das von ihnen Besitz ergriffen hatte, als die letzten Schüsse verhallt waren und es schien, als wäre der Krieg aus. Natürlich war allen klar, daß er nicht aus war, hier aber war er vor einem Monat zu Ende gegangen. Eine Stunde zuvor war er nur dreihundert Meter entfernt gewesen, und auf einmal rückte er dreihundert Kilometer von ihnen weg. Das heißt, irgendwo gab es ihn noch, während er hier nicht mehr existent war. Und dieses seltsame Gefühl schien bis jetzt, einen Monat danach, nicht gewichen zu sein. Den Berichten über die letzten Tage der Kämpfe lauschend, erinnerte ich mich und erinnere ich mich auch jetzt, da ich dies niederschreibe, Stalingrads an jenem Tag, da der Frontstab in dem Gewölbe am Wolgaufer lag, und des dort sitzenden Chrustschows. Ich erinnere
mich genau an dieses Gewölbe. An der Decke grob zusammengezimmerte Balken, Wände, die durch den Erddruck leicht nach innen gewölbt waren. Chrustschow unterschrieb damals Anweisungen, hörte Berichte an, antwortete ruhig und gab Befehle. Gleichzeitig aber war er, den Eindruck hatte ich damals, durch das Leid wie betäubt. Man brauchte diesem Mann nur ins Gesicht zu schauen, um zu spüren, daß in ihm ständig der Gedanke bohrte, daß den Deutschen die ganze Ukraine überlassen worden war, daß es so viel Unglück, so viel Mißerfolge gegeben hatte und daß, wenn dies auch in keiner direkten Beziehung zu den Befehlen stand und zu der Ruhe, die er zeigte, das Gefühl dieser Tragödie in ihm war, ihn bedrückte. Dieses Gefühl wurde wahrscheinlich noch dadurch verstärkt, daß er anderen nichts davon sagen durfte. Er mußte diese Empfindung der stattgefundenen Tragödie in sich verschließen, durfte sie nicht nach außen dringen lassen. Das beschäftigte mich bei diesem Frühstück. Ringsum die zufriedenen Gesichter von Männern, die für eine Stunde alle Sorgen beiseite geschoben hatten. Nach Stalingrad beseelte uns, ungeachtet des uns noch Bevorstehenden, ein Gefühl des Glücks. Jeden auf seine Weise. Nach zwei Stunden flogen wir weiter. Wir gerieten in einen heftigen Schneesturm. Der Pilot kam zu Chrustschow, der in dem Sessel vor mir saß, und fragte ihn, ob er weiterfliegen solle. Oder besser nach Stalingrad zurückkehren, landen, das Unwetter vorbeilassen und am nächsten Tag fliegen? Chrustschow wandte sich ihm zu und sagte ruhig:
„Sie sind der Kommandant des Schiffs, Sie haben zu entscheiden.“ Und wir setzten den Flug fort. Vom Flugplatz fuhr ich auf direktem Weg zur Redaktion. Bei meinem Eintreffen war es schon Nacht. Der Redakteur sagte, die West- und die Kalininer Front hätten eine Offensive auf Rshew und Wjasma eingeleitet, und deshalb habe er mich zurückgerufen. „Morgen früh um sieben fährst du, der Wagen ist bestellt.“ Im anschließenden Gespräch stellte sich heraus, er hatte mich ursprünglich nicht deswegen zurückgerufen. Ich sei lange genug bei der Südfront gewesen, deshalb wollte er, daß ich nach Moskau zurückkäme, innerhalb weniger Tage meine Berichte schrieb und zur Südwestfront fuhr. Jetzt waren diese Pläne über den Haufen geworfen. „Du fährst zuerst zur Westfront, schickst von dort operatives Material und schreibst dann die Berichte über die Südfront, lieferst alles, was du noch schuldig bist.“ Meine Tagebuchaufzeichnungen sagen nichts darüber, aber im Flugzeug, nachdem wir von Stalingrad abgeflogen waren, und auch später, am ersten Abend in Moskau, ging mir Michail Stepanowitsch Schumilow und das, was er von Spanien erzählt hatte, nicht aus dem Sinn. Bis dahin hatte ich über Spanien nur mit Fliegern gesprochen, die dort gekämpft hatten, Schumilow aber war einer von jenen militärischen Beratern in Spanien, die jetzt, in diesem Krieg, Armeen und Fronten führten. Alles, was er erzählt hatte – wie die Faschisten in Madrid einmarschiert waren und er gezwungen gewesen war, nach Algier zu fliegen –, hatte sich im Februar 1939 ereignet.
Genau vier Jahre bevor der gleiche Schumilow als Befehlshaber einer Armee in Stalingrad die Kapitulation von Feldmarschall Paulus entgegennahm. Nur vier Jahre lagen dazwischen! Klingend dreht die Platte sich im Kreise. Eine Frau tanzt auf bewegtem Grund nach der spanischen vertrauten Weise; helles Gleiten über dunklem Grund. Bunkerloch von Rauch und Frost erfüllt. Dach aus Erde, schwere Schneelast drauf. Und ein Mann, in grauen Pelz gehüllt, sitzt und sagt: „Legt sie noch einmal auf!“ Sitzt am Feuer, das Konserven taut, wärmt die Wunden, die der Frost zerschunden. Vor Madrid schon traf’s nicht nur die Haut. Stalingrad – wer zählt hier noch die Wunden? So beginnt das von mir unter dem Eindruck der Begegnung mit Schumilow geschriebene Gedicht über Madrid und Stalingrad, das mit den Zeilen ausklingt: In der wilden Nacht, wie ein Signal, steht das spanische vertraute Lied. Sing und warte, denkt der General. Einmal komm ich doch noch bis Madrid! Damals, bald nach Stalingrad, schien es, dem Faschismus werde in diesem Krieg ein für allemal der
Garaus gemacht und der General könne nach Madrid kommen. Nach Madrid kam der General nicht, kämpfend drang er nur bis zur Mitte Europas vor. 1945 in Prag schenkte mir Schumilow ein kleines Amateurphoto, aufgenommen im Winter dreiundvierzig bei unserer Zwischenlandung in Stalingrad auf dem Rückweg von der Südfront. Schumilow, ein äußerst bescheidener Mann, hatte mir dieses Photo zum Andenken geschenkt, wahrscheinlich ohne bemerkt zu haben, daß er darauf ganz hinten steht und kaum zu sehen ist. Aber die Widmung auf der Rückseite des Photos war vielsagend und zeugte sogar von einer gewissen Strenge: „Am Tag des Sieges gebe ich Dir, Konstantin Simonow, dieses Photo. Das war an der Wolga, und jetzt sind wir in Prag. Sei dessen eingedenk. Schumilow.“
10 Meine Mutter hat einen Brief aufbewahrt, den ich im März 1943 an sie und den Vater schrieb, unmittelbar nach meiner Rückkehr von der Fahrt zur Westfront: „In der Nacht bin ich angekommen. Heute habe ich den ganzen Tag an einem Artikel für die ,Krasnaja Swesda’ geschrieben, den ihr, so hoffe ich, unter der Überschrift ,Auf der alten Smolensker Straße’ lesen werdet. Er scheint nicht schlecht zu sein, was aber nebenbei keine Garantie dafür ist, daß er auch ge-
bracht wird… Ich habe auf dieser Fahrt viel Trauriges gesehen, viele niedergebrannte Dörfer, viel Kummer und Leid. Das unendliche Leid, das man in den von den Deutschen zurückeroberten Orten sieht, wird einem manchmal zuviel, das Herz tut einem weh, und man möchte am liebsten die Augen schließen, um all das nicht zu sehen.“ Meine Besorgnis war unbegründet, der Redakteur brachte den Artikel „Auf der alten Smolensker Straße“. Die Zweifel, ob er ihn in unserer „Krasnaja Swesda“ bringen würde, waren mir damals wahrscheinlich gekommen wegen des von Bitterkeit erfüllten Absatzes, mit dem er begann: „Denke ich an die Heimat, so kommt mir immer die Smolensker Gegend in den Sinn, ihre Straßen, die weißen Birken und die Dörfchen auf den flachen Hügeln… Sicherlich weil für mich der Krieg auf diesen Straßen seinen Anfang nahm und mich der Kummer um den Verlust der Heimaterde eben hier, in der Gegend von Smolensk, überkam. Hier fuhr ich durch Dörfer und wußte, eine Stunde später würden die Deutschen über diese staubigen Straßen marschieren. Hielt ich hier den Wagen an, um an einem Brunnen einen Schluck Wasser zu trinken, fand ich nicht die Kraft, den Bauern in die Augen zu sehen. Seit der Zeit trage ich in meiner Kartentasche unter den benötigten Karten dieses oder jenes Frontabschnitts immer eine Karte bei mir, die ich anscheinend nicht brauche. Es ist eine alte Schulkarte vom Gebiet Smolensk, die ich, da ich keine andere besaß, in der zweiten Kriegswoche in einem damals frontnahen Städtchen kaufte. Im Oktober 1941 benötigte ich sie nicht mehr, wir verließen das Smolensker
Land, aber ich tat diese Karte in meine Kartentasche, und so liegt sie, an den Falzstellen eingerissen, jetzt vor mir. Hätte sich die Karte so verändert, wie sich die Erde verändert hat, man könnte sie jetzt nur mit Mühe lesen. Wir fahren durch eine verwüstete, in Schutt und Asche gelegte Welt, über von Granaten verunstaltetes Land, über Felder, von Trichtern entstellt wie durch Pockennarben, über Straßen, von den Deutschen auf dem Rückzug in Stücke zerhackt wie ein Menschenleib, indem sie alle Brücken sprengten. Das Smolensker Land gleicht einer Wüste. Nur selten begegnet man auf der Straße einem gebeugten alten Weiblein, das einen Schlitten hinter sich herzieht, zwei Bündel darauf gepackt, zwischen denen der Samowardeckel hervorlugt. Wir kommen durch die Dörfer, und im einen wie im anderen stehen diejenigen, die noch am Leben sind, inmitten ihrer verwüsteten Gehöfte, vor den Ruinen ihrer Hütten. Selbst die Haltung dieser Menschen ist irgendwie gleichförmig: stumme Verständnislosigkeit, Blicke, die eine Spur von den Behausungen suchen, wenigstens eine Spur von dem, was einst hier gestanden hat.“ Mit diesen bitteren Worten begann der Artikel über die ersten von uns im Frühjahr 1943 befreiten Kreise im Gebiet Smolensk, wo ich später, nach dem Krieg, Deputierter werden sollte und wo den statistischen Daten zufolge in einem Kreis nach der deutschen Okkupation auf dreitausend verbliebene Einwohner zwei Pferde, siebzehn Kühe und fünfzehn nicht niedergebrannte Häuser kamen. Damals, im Frühjahr
dreiundvierzig, kannte ich die Statistik natürlich nicht, aber meine eigenen Augen gaben sie mir ein, und das schlug sich in dem Artikel nieder. Über diese Offensive der Westfront findet sich nichts in meinen Tagebüchern. Aber die Arbeitsnotizen in zwei Notizbüchern vermitteln eine gewisse Vorstellung von dem, was ich sah und hörte. Wenn wir früher hörten „Panzer!“, nahmen wir die Beine untern Arm. Heißt’s heute „Panzer!“ fragen wir „Wo?“. Hörten wir früher „MPi-Schützen!“, fragten wir „Kann das stimmen?“. Ist heute die Rede von MPi-Schützen im eigenen Hinterland, sagen wir „Laßt sie doch rumspazieren, wir müssen bloß auf die Trosse achten und für eine Sicherung sorgen!“. Die Deutschen wollen uns mürbe machen, indem sie bei den Nachhuten möglichst wenig Männer und möglichst viel Kriegstechnik lassen – Geschütze, Granatwerfer, Panzer – und kleine, aber schlagkräftige bewegliche Gruppen bilden. Und die verstehen zu kämpfen. Ständig muß man sie umgehen, mal von links, mal von rechts, wo es gerade günstiger ist, und das gleichfalls mit kleinen und schlagkräftigen beweglichen Gruppen. Früher ist die Artillerie zurückgeblieben, jetzt aber rollt sie unentwegt hinter der Infanterie her, sogar die Reserve des Oberkommandos ist dabei. Die Artillerieaufklärung stößt mit der Truppenaufklärung nach vorn. Der Batterieführer geht mit dem Kompanieführer und leitet das Feuer. Die Artilleristen beachten den Beschuß und die Flugzeuge kaum noch, sie schuften sich im Schweiße ihres Angesichts ab.
Vorn ist alles vermint, drei Schichten Minen übereinander: die vom vorigen Jahr, die vom Sommer und die von diesem Winter, Mine auf Mine. Die Pioniere sind den Regimentern kompanieweise zugeteilt, und sie haben es am schwersten; sind buchstäblich ohne Rast und Ruh auf den Beinen. Unerwartet hat Tauwetter eingesetzt, ihre Filzstiefel sind pitschnaß. Vor Wjasma kriecht aus dem Keller einer niedergebrannten Hütte ein alter Mann, er humpelt den Pionieren auf Krücken entgegen. „Hier braucht ihr nicht nach Minen zu suchen, Söhnchen! Dort drüben sind sie.“ Und er weist mit der Krücke die Richtung. „Hier, hier und hier. Und dort ist noch ein zweites Minenfeld und dort ein drittes.“ Er ist ein alter Pionier, er hat schon den Japanischen Krieg mitgemacht. Ein Dorf hinter Wjasma. In einer Schlucht von den Deutschen niedergemetzelte Greise und Frauen, nicht einmal vergraben. Eine mit Kind. Ein älterer Pionier blickt in die Schlucht und sagt vor sich hin: „Nicht mal das Kind haben sie verschont.“ Und wiederholt: „Nicht mal das Kind.“ Wjasma ist so zerstört und niedergebrannt, daß ich mich nicht zurechtfinde. Bei unserem Gang durch die Stadt sehen wir bis zum Äußersten Stadtrand nur Ruinen. Ich versuche mir vorzustellen, wo das Haus stand, in dem wir damals die Nacht verbrachten und ich die Jungs von der Armeezeitung zum letztenmal sah, die dann im Oktober einundvierzig im Wjasmaer Kessel umkamen, doch ich kann die Stelle nicht mehr finden. Alles liegt so voller Trümmer, daß man kaum noch den Verlauf der Straßen erkennt.
„Die Deutschen sind das Dorf anstecken gekommen, ein Haus haben sie angesteckt, aber zu mehr haben wir sie nicht kommen lassen!“ Etwas Neues – neben den Partisanen gab es bewaffnete Selbstschutzabteilungen. Vier im Wald versteckte bewaffnete Burschen, die von der Verschleppung der Frauen und Kinder aus ihrem Dorf erfuhren, sie kamen aus dem Wald, um sie den Deutschen aus den Klauen zu reißen, was aber mißlang. Die deutsche Wachmannschaft brachte drei von ihnen um, einer wurde verwundet, und dieser Verwundete wurde ins Dorf gebracht und erschossen. Ich frage nach den Namen dieser Burschen. Langes Nachdenken, dann erfahre ich: einer hieß Sascha Iwanow, ein anderer Wassja. Namen und Vornamen der anderen beiden kennt niemand, sie waren aus einem anderen Dorf. Eine Frau nimmt einem Jungen, der angefahren kommt, die Zügel aus den Händen, setzt sich in den Schlitten und fährt ab. Alles ringsum schweigt. „Dort am Weg liegt ihr Saschka“, sagt ein Mädchen, nachdem die Frau weg ist. „Jetzt fährt sie hin, um ihn zu begraben.“ Vergangenen Winter waren unsere Truppen bis dicht vor Wjasma gekommen, und die Bevölkerung hatte ihnen geholfen. Das ist die Erklärung für die besondere Grausamkeit dort. Ein junger Leutnant hat einer Frau den Brief aus der Hand genommen, den ihre nach Deutschland verschleppte Tochter an sie geschrieben hat. Der Leutnant läßt seine Kompanie antreten und liest den Brief vor. Er liest laut, schreit fast, und ist selbst den Tränen nahe.
Die Soldaten blicken finster, viele Ältere sind unter ihnen, Fünfundvierzig- bis Fünfzigjährige, sie sind doppelt so alt wie der Kompanieführer. Das zum Inhalt des ersten Notizbuches. Das zweite enthält nur die Aufzeichnung des Berichts einer jungen Frau, offenbar einer Krankenschwester. Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, wie und unter welchen Umständen ich das aufschrieb und wie die Frau aussah. Aber ihr Bericht zeugt nicht nur von der Tapferkeit der Menschen, sondern auch davon, wie seelisch erschöpft sie zu jener Zeit waren…. Bei den ersten Bombenangriffen hatten wir Angst, unsere Hände zitterten. Dann haben wir uns an Brot satt gegessen und um die gefallenen Mädchen geweint, um alle Gefallenen überhaupt. Jetzt kommt’s einem dumm vor, daß wir weinten, weinten wie Kinder, als könnte ein Toter plötzlich aufstehen. Wir dachten, vielleicht ist das unser letzter Tag, und wir werden unsere Lieben nicht wiedersehen. Wir hatten solche Angst, in Gefangenschaft zu geraten, daß wir uns nicht schlafen legten. Dann der Schwesternlehrgang – kein Schlaf, keine Pause, Wäsche waschen, Schwielen… Ein Verwundeter sagt: Ich bin zu schwer für dich, laß mich liegen. Aber wie könnte ich ihn liegenlassen? Und ich red mir ein, daß das gar nicht so schlimm ist. Anfangs hat man Angst, aber wenn sich das Gefecht hinzieht, ist das alles vergessen, und man kennt nur eins – verbinden. Verwundete, die viel Blut verloren haben, schlafen beim Zurücktragen mitunter ein und murmeln: „Ich
sterbe, ich sterbe.“ Als der Brief mit der Nachricht von Pawliks Tod kam, bin ich kindisch geworden, ich sah einen Sarg im Grab vor mir: ein paar widerwärtige Bretter, darunter lag Pawlik auf dem Rücken. Ich wollte nicht glauben, daß er nicht mehr lebt. Bei fortwährendem Beschuß denkst du bewußt an schöne Tage, aber dann sagst du dir: Es ist sinnlos, daran zu denken, dich erwischt es so oder so bald. Manchmal aber denkst du das Gegenteil – wenn sie dich nur möglichst schnell umbrächten. Und die ganze Zeit tröstest du den Verwundeten, damit er nicht glaubt, er müsse sterben. Aber nach dem Kampf folgt die Reaktion. Die siehst immer nur das Feld vor dir, das Feld, über das du gekrochen bist, und dir kommen die Tränen. Seitdem ich bei einem Bombenangriff verwundet wurde, fürchte ich mich am meisten vor den Bomben. Ich werfe mich auf die Erde und liege da, dann weiß ich nichts mehr. Ich weiß nur noch, wie verschmutzt ich nach der Verwundung war, schließlich achtet man in Augenblicken der Gefahr nicht auf sein Aussehen. Ich habe mich freiwillig gemeldet. Die Soldaten sind gut zu mir. Manchmal möchte ich schon ein Mann sein. Mein ganzes Hab und Gut ist in der Sanitätstasche. Auch eine Handgranate habe ich in der Tasche. Komme, was da wolle, die Verwundeten laß ich nicht im Stich. Wenn eines von unseren Mädchen fällt, beweinen wir sie immer noch jedesmal. Von der Westfront nach Moskau zurückgekehrt, schrieb ich außer den Beiträgen für die „Krasnaja
Swesda“ das Gedicht „Das Haus in Wjasma“. Anstoß dazu war die vergebliche Suche nach dem Haus gewesen, in dem ich 1941 mit anderen Journalisten zusammengesessen hatte. Oft hab ich an das Haus gedacht in Wjasma, Heim für eine Nacht. Wir aßen, was uns Gott geschenkt, der Fahrer sorgte fürs Getränk. Es war die Nacht vor einer Schlacht, für manchen war’s die letzte Nacht… Naturgemäß war in den Kriegsjahren das Lebensmilieu der Frontkorrespondenten hauptsächlich die Armee, die Männer an der Front, zu denen wir fuhren und die wir wieder verließen und mit denen wir – für längere oder kürzere Zeit – Seite an Seite lebten. Wir hatten aber auch unser eigenes Milieu, das berufliche, journalistische. Gemeinsame Fahrten an die Front führten Leute von verschiedenen Redaktionen zusammen, bildeten das Gefühl eines gemeinsamen Schicksals und gemeinsamer Verluste heraus. Schon gegen Ende 1942 waren allein von uns, den „Krasnaja-Swesda“-Korrespondenten, mehr als zehn gefallen oder vermißt. Die Hälfte von ihnen kannte ich gut – Boris Lapin, Sachar Chazrewin, Jewgeni Petrow, Mischa Bernstein, Lonja Wilkomir… Ich besitze noch die Kopie des Beitrages „Unser Beruf“, der einige Tage nach meiner Rückkehr aus Wjasma nach Amerika ging. Ich bringe daraus den Abschnitt,
der meine damalige Einstellung zum Beruf des Frontkorrespondenten an sich und zu meinen Kollegen zum Ausdruck bringt: „Der junge Mensch, der heute Schriftsteller werden will, muß durch den Krieg gehen. Nur so wird er ein wirklicher Schriftsteller. Ich habe den Beruf des Militär Journalisten lieben gelernt, und irgendwann nach dem Krieg werde ich ein Theaterstück schreiben über meine Freunde, die Frontkorrespondenten. Vielleicht werde ich einmal darüber schreiben, wie ich an ein und demselben Tag mein Gedichtbändchen meinem Freund Dolmatowski zweimal zueignen mußte. Morgens hatte ich es ihm bei Stalingrad geschenkt, er hatte es in die Manteltasche geschoben, und wir waren in verschiedene Richtungen auseinandergegangen. Eine Stunde darauf wurde er verwundet, mehrere Splitter zerfetzten seinen Mantel und einer davon zerschnitt das Büchlein in der Manteltasche förmlich in zwei Hälften. Am Abend saß er mir gegenüber, das verbundene Bein steif vor sich auf einen Stuhl gelegt, und ich schrieb ihm eine Widmung in ein zweites Exemplar. Vielleicht werde ich einmal etwas über eine lustige Begebenheit schreiben – wie einer meiner Freunde nachts in der Steppe bei Stalingrad einen Verkehrsunfall hatte; ein Lkw – unterwegs zu den vorderen Stellungen – war mit einer Ladung Wassermelonen auf seinen Wagen aufgefahren. Durch den Aufprall verlor er das Bewusstsein und kam zu sich, weil er mit etwas Klebrigem begossen wurde. Als er die Augen öffnete, sah er den Lkw-Fahrer eine Melone nach der anderen aufschneiden und sie über seinem
Gesicht auspressen, um ihn wieder zu sich zu bringen. In der wasserlosen Steppe hatte er sich keinen anderen Rat gewußt. Vielleicht schreibe ich auch darüber, wie mein Freund, der Photoreporter Mischa Bernstein, beim Abflug von Leningrad den Wunsch äußerte, die als Begleitschutz fliegenden Jäger möchten sich doch möglichst nahe an die ,Douglas’ halten, weil er in der Luft Aufnahmen machen wolle, und sie sich buchstäblich der ,Douglas’ an den Schwanz hängten, sich auf dem ganzen Flug nicht wegrührten. Und auch darüber, wie dieser fröhliche dicke Mann bei Charkow kämpfte und wie ein einfacher Soldat dort im Kampf fiel. Ich werde auch darüber schreiben, wie der ,Iswestija’-Korrespondent Jewgeni Kriger, ein Mensch, wie man ihn sich friedfertiger nicht vorstellen kann, zu Beginn des Krieges immer wieder sein Gewehr vergaß, weil es ihn behinderte; er hängte es an den ersten besten Ast, und erst wenn der Wagen wieder aus dem Wald heraus war, fiel ihm das Gewehr ein. Ich werde darüber schreiben, wie er in der Folgezeit aus Losowaja, aus Stalingrad, aus dem Kaukasus, von überallher Kriegskorrespondenzen schrieb, die durch die Kenntnis des Soldatenherzens und des Soldatenhandwerks verblüfften.“ Ein Theaterstück über Frontkorrespondenten habe ich nicht geschrieben, aber manchmal bahnt sich ein scheinbar in Vergessenheit geratenes Vorhaben unmerklich einen Weg in die Arbeit. So geschah es auch mir, als in den nach dem Krieg geschriebenen „Er-
zählungen aus dem Süden“ allmählich und für mich selbst überraschend ein Frontkorrespondent zum Haupthelden wurde. Während das Wichtigste in der Kriegszeit – die Fahrten an die Front –, wenn auch unvollständig, im Gedächtnis bewahrt blieb, kann ich mich nur sehr schlecht an die Zeit in Moskau erinnern. Das Leben in Moskau war stets so etwas wie ein Zwischenaufenthalt zwischen den einzelnen Fahrten, und so ist es auch in meinem Bewußtsein haften geblieben. Welcher dieser „Zwischenaufenthalte“ nun früher war und welcher später, das bringe ich zuweilen durcheinander. Dankbar gedenke ich meiner verstorbenen Eltern, die meine Briefe aus dieser Zeit aufbewahrt haben. Manchmal können mir heute nur diese Briefe bei der zeitlichen Reihenfolge helfen. In dem gleichen Brief, aus dem ich bereits einen Abschnitt gebracht habe, beschrieb ich meinen Eltern einen dieser Moskauer „Zwischenaufenthalte“ nach einer Fahrt zur Westfront und vor einer vor mir liegenden neuerlichen Fahrt nach Süden. „In ein paar Tagen fahre ich eventuell für zwei bis drei Wochen in die Charkower Gegend. Meine Abreise zögert sich hinaus, weil ich von meiner Fahrt nach dem Süden noch nicht alles zu Papier gebracht habe. Mit meinen Tagebüchern geht’s einstweilen langsam voran, aber morgen gedenke ich den ersten Band abzuschließen, der die Winteroffensive 1941 umfaßt und mit dem Jahr zweiundvierzig endet… Mit dem, was ich früher schon geschrieben habe, sind das insgesamt über achthundert Schreibmaschinenseiten.
Ich bin des endlosen Reportageschreibens müde. Indessen habe ich von den letzten Fahrten eine Menge Material mitgebracht, das sich absolut nicht für eine Reportage eignet. Ich hätte jetzt vielmehr Lust, ein neues Theaterstück zu schreiben oder noch lieber eine Erzählung, die von der Zeitung in Fortsetzungen gebracht werden könnte. Nach meiner Rückkehr aus der Gegend von Charkow erhoffe ich mir einen zweimonatigen Urlaub, und dann könnte ich diesen Plan verwirklichen. Shenja Dolmatowski hat ein paar Tage bei mir gehaust. Nach dem Kessel hat man ihm seine alten Orden wiedergegeben und noch einen neuen dazu, so daß er ordengeschmückt und mit den Aufnähern für drei Verwundungen umherläuft. Im allgemeinen hat sich sehr viel verändert, vor drei Jahren hätte sich keiner von uns vorstellen können, wie weit es mit uns noch einmal kommt. Ich bin zum Oberstleutnant befördert worden. Heute nacht bekomme ich die im Süden aufgenommenen Photos, ich lege sie dem Brief bei, und ihr werdet mich mit Schnurrbart und in Offiziersuniform erblicken. Ich habe eine schöne warme Wohnung. Zum erstenmal in meinem Leben habe ich endlich ein Eckchen für mich. Gestern ist der Bücherschrank gekommen. Vorläufig ist er noch leer, ein trauriger Anblick. Was hab ich nicht an Büchern zusammengetragen, und nun ist wieder nichts mehr da. Nur die Mappen mit den Papieren und Rohschriften kann ich hineintun, die wohl schon den halben Schrank füllen werden. Immer wieder sehe ich zum Wandregal, wo sie jetzt liegen, und denke: Mein Gott, wieviel hab ich
doch zusammengekliert! Besonders jetzt, da ich diktiere, flutscht alles, womit nicht gesagt sein soll, daß es sehr gut wäre.“ Im Zusammenhang mit diesem Brief ein paar Worte über Alltägliches, über das Alltagsleben. Es hat im Krieg in meinem Leben nicht viel Raum eingenommen. Als ich in meinem damaligen Brief von dem Eckchen für mich las, wollte ich es weglassen, weil es so gar nicht in die Kriegszeit paßte. Nach einigem Zögern entschloß ich mich aber doch, es stehenzulassen, jedoch ein paar erklärende Worte anzufügen. Es verhielt sich so, daß ich von 1931, als ich nach Moskau kam, bis zum Herbst 1942 kein Eckchen für mich hatte. Ich wohnte bei fremden Leuten, hatte Zimmer zur Untermiete, zog von einem ins andere. Während des Krieges wohnte ich in der „Krasnaja Swesda“ und im Hotel „Moskwa“. Als ich im Oktober 1942 nach meiner Rückkehr aus Stalingrad alles über diese Fahrt heruntergeschrieben hatte und, überraschend für mich, von Ortenberg drei Tage freibekam, quartierte ich mich für diese Zeit bei Genossen ein, was damit endete, daß ich eine Wohnung bekam. Als ich mich wieder in der Redaktion einstellte, fuhr mich Ortenberg wütend an: „Wo hast du gesteckt? Warst ja nicht mal mit Hunden aufzuspüren!“ Der Zorn des Redakteurs war gespielt, was ich jedoch nicht gleich mitbekam. Wie sich herausstellte, hatte mich Stscherbakow dringend verlangt, und nach drei Tagen vergeblichen Suchens war er ärgerlich geworden. Wie das denn möglich sei: Militärangehö-
riger, Korrespondent der „Krasnaja Swesda“, und in Kriegszeiten in Moskau nicht auffindbar! Ortenberg erläuterte, er habe mir drei Tage Urlaub gegeben. „Na schön, Urlaub“, sagte Stscherbakow, „aber wenn man ihn braucht, muß er doch aufzufinden sein. Soll man doch jemanden zu ihm in die Wohnung schicken…“ Und da eben hatte Ortenberg erklärt, ich habe keine eigene Wohnung und wohne, wenn ich in Moskau sei, meist in der „Krasnaja Swesda“. Da ich aber beurlaubt sei, kenne er meinen Aufenthaltsort nicht. Verärgert gebot Stscherbakow Ortenberg, mich weiter zu suchen, und ordnete gleichzeitig an, mir eine Wohnungszuweisung zu geben. „Damit sich so was nicht noch mal wiederholt“, beschloß Ortenberg schmunzelnd diese Geschichte. So kam ich mitten im Krieg zu einer Zweizimmerwohnung in der Leningrader Chaussee in einem Neubau mit verzierten Balkons, die eine Ähnlichkeit mit Kasaner Seife hatten. In der ersten Zeit hatte ich nichts in dieser Wohnung, alles, was ich früher besessen – und das waren hauptsächlich Bücher gewesen –, war durch eine Brandbombe bei den Luftangriffen im Juli 1941 in jenem Zimmer im Dachgeschoß, das ich kurz vor dem Krieg gemietet hatte, vernichtet worden. Nur zwei Koffer waren mir geblieben: einer mit Manuskripten, den meine Eltern bei der Evakuierung mitgenommen hatten, und ein zweiter mit den nötigsten Utensilien. Ihn hatte ich zu Kriegsbeginn, als ich zur „Krasnaja Swesda“ überwechselte, sicherheitshalber in der Redaktion untergestellt.
Der Mangel an Mobiliar wurde durch die Zahl der Logiergäste wettgemacht. Wer von meinen Frontkameraden hat nicht alles in jenem Herbst, Winter und Frühjahr 42/43 in meiner Wohnung übernachtet. Wenn ich in Moskau war und auch, wenn ich nicht da war. Zwei Räume, Küche, Gasbadeofen im Badezimmer! Und was das Wichtigste war, unser Haus wurde beheizt. Es war fast das einzige, das während des Krieges fertiggestellt und bezogen wurde. Man konnte sich ordentlich waschen und aufwärmen, was damals als ausgesprochener Luxus galt. Nach und nach kam natürlich etwas Mobiliar zusammen. Im März 1943 tauchte sogar ein Bücherschrank auf. In die Gegend von Charkow, das zu dieser Zeit neuerlich von den Deutschen besetzt war, fuhr ich entgegen der Ankündigung im Brief nicht. Ortenberg hatte sich offenbar auf eine andere Wendung des Geschehens orientiert, doch nun schickte er zusätzlich zu jenen, die sich bereits dort aufhielten, keine neuen Korrespondenten mehr in diesen Abschnitt. Statt dessen wurde ich wieder zur Südfront geschickt. Der Grund dafür ist mir entfallen. Am ehesten wohl, daß irgendwelche Angriffshandlungen unserer Truppen angenommen wurden, zu denen es dann aber nicht kam. Die Tagebücher enthalten über diese Fahrt nur einige Zeilen. Mit Chalip bin ich wieder nach dem Süden geflogen. Auf dieser Reise keine besonderen Ereignisse. Ich war bei meinem alten Bekannten aus Stalingrad, Utwenko, bekam dort eine eitrige Angina
und lag zwei Wochen mit Fieber, erst beim Sanitätsbataillon und später in der Sanitätsstelle des Stabes der Front. Mitte April war ich wieder in Moskau. Was bleibt dem heute hinzuzufügen? Als wir an der Südfront eintrafen und dort alles ruhig war, wollte ich zuerst zu den Panzerleuten, zur Brigade von Major Owtscharow, fahren, bei der ich während der Kämpfe zwischen Rostow und Taganrog schon einmal war und über deren Kampfhandlungen ich auch geschrieben hatte. Der Brigadekommandeur war vor dem Krieg Philologe. Dieses Schicksal interessierte mich: Wie wird aus einem Philologen der Kommandeur einer Panzerbrigade? Beim erstenmal konnte ich mit Owtscharow nicht darüber sprechen, die Lage ließ das nicht zu, weshalb ich das jetzt nachholen wollte. Wie sich jedoch herausstellte, wurde die Brigade gerade verlegt, und so fuhr ich nicht zu den Panzerleuten, sondern noch einmal zu Utwenko, der nach Stalingrad vom Oberst zum General avanciert war. In seinem Abschnitt im Raum des Matwejew-Hügels hatte es keine Ereignisse von Belang gegeben. Beim Blättern in den Berichten des Informationsbüros fand ich diese Tage und diese Gegend einige Male erwähnt: „Westlich Rostow am Don hat ein gegnerischer Infanterietrupp den Versuch gemacht, in unseren Stellungen Kampfaufklärung zu betreiben“, „Westlich Rostow am Don wurden von sowjetischer Artillerie und Granatwerfern acht feindliche Feuernester zerstört“, „Westlich Rostow am Don versuchte der Ge-
gner eine Brücke zu schlagen und den Wasserabschnitt zu überwinden“, „Westlich Rostow am Don versuchen die Deutschen unsere Verbindungswege zu bombardieren“. Das ist alles, was in den Berichten über diese Tage der Ruhe zu finden ist. Um unser Korrespondentengewissen zu beruhigen, suchten Chalip und ich die Hauptverteidigungslinie auf und gingen dort durch die Gräben in der vordersten Linie. In einer ausführlichen Niederschrift habe ich das Gespräch mit einem alten Soldaten festgehalten. Ich erinnere mich des mitunter übertriebenen Interesses, das wir Frontkorrespondenten damals alten Soldaten entgegenbrachten, die sich im Kampf ausgezeichnet hatten, und besonders jenen, die nun schon im zweiten Krieg gegen die Deutschen kämpften. Hinter diesem Interesse verbargen sich komplizierte Gefühle. Obwohl die deutsche Kriegsmaschinerie um diese Zeit bereits die ersten beiden für sie schlimmen Risse – vor Moskau und in Stalingrad – bekommen und der Krieg eine entschiedene Wende zu unseren Gunsten genommen hatte, konnte das doch nicht die Niederlagen des Jahres einundvierzig und die des Sommers zweiundvierzig aus unserem Bewußtsein löschen. Und auch das Wissen um das riesige Ausmaß des Territoriums war gegenwärtig, das immer noch unter dem Stiefel der Deutschen geblieben war. Heute werden in Arbeiten über den Krieg gewisse unwissenschaftliche, aus dem Alltagsleben entlehnte Termini, die bei uns an der Front in den Jahren 1943, 1944 und auch noch 1945 üblich waren, längst nicht mehr verwendet. Ich denke aber doch, keiner von denen, die damals an der Front waren, wird in Abrede
stellen wollen, daß neben der Wendung „Standhalten bis zum Letzten“ unser Vokabular zu jener Zeit mitunter auch selbstkritische Worte wie „abhauen“ enthielt. Gebräuchlich war auch das Wort „Tragödie“. Und nicht nur im Gespräch, sondern auch in der Presse. So hieß es in der Zeitung: „Die Kiewer Tragödie“. Und hinter diesen Worten verbarg sich nicht nur die Erinnerung an das Leid, sondern auch der Glaube an die eigene Kraft, jene innere Festigkeit, die es einem erlaubt, selbst das Schwerste im Leben beim richtigen Namen zu nennen. Ich möchte hier nicht nur von meinen eigenen Gefühlen sprechen, sondern von etwas weitaus Wesentlicherem: von der unseren Armeeangehörigen eigenen gesunden selbstkritischen Einschätzung sehr vieler Ereignisse der Jahre 1941 und 1942, all dessen, was Stalin selbst im Mai 1945, nach dem Sieg, „Augenblicke einer verzweifelten Lage“ nannte. Für die Männer, die die Deutschen immer weiter nach Westen zurücktrieben, war es typisch, daß sie sich selbst die nüchternsten Fragen stellten: Wie war es bloß möglich, daß wir bis Moskau und später bis Stalingrad zurückgewichen sind? Wie viele Kriegsteilnehmer habe auch ich mich als Korrespondent das gefragt. Und ich habe damals durchaus nicht immer die richtigen Antworten darauf gefunden. Vergleiche zwischen dem ersten und dem zweiten Weltkrieg boten sich an. Wie kam es, daß damals, im ersten Weltkrieg, im zweiten Jahr der Kämpfe, Ende 1915, die Deutschen lediglich das Territorium des Königreichs Polen und einen Teil des Baltikums besetzt hatten, während sie in diesem
Krieg im zweiten Jahr bis zur Wolga vorgestoßen waren? Woran lag das? Wo war die Ursache zu suchen? Wie ich mich entsinne, gab es eine sehr einfache und bequeme Erklärung dafür: auf jenen Weltkrieg waren wohl die Soldaten und Unteroffiziere und vielleicht auch die Offiziere besser vorbereitet gewesen. Schließlich waren sie damals in den ersten fünfzehn, sechzehn Kriegsmonaten vor den Deutschen nur bis Riga und Baranowitschi zurückgewichen und nicht bis zur Wolga! Kurz gesagt, ich neigte damals zu einer gewissen Idealisierung der Kampfeigenschaften der russischen Armee im ersten Weltkrieg. Ich weiß nicht, wie es anderen ging, ich jedenfalls ließ, wenn ich unsere Mißerfolge und die deutschen Erfolge an der sowjetisch-deutschen Front in jenem und in diesem Krieg miteinander verglich, mit einer mich heute überraschenden Leichtfertigkeit den riesigen Unterschied im Kräfteverhältnis außer acht sowie das ins Unermeßliche gestiegene Tempo beim Ausnutzen der Zeitvorteile, welche die Kriegstechnik in diesem Krieg verglichen mit der Kriegstechnik zur Zeit jenes Krieges dem Angreifer bot. Ich ließ außer acht, daß in den ersten Tagen des ersten Weltkriegs von den bereitgestellten einhundertzwölf deutschen Divisionen in Ostpreußen nur sechzehn gegen Rußland zum Einsatz kamen. Ließ außer acht, daß im ganzen Verlauf des ersten Weltkriegs gegen die russischen Armeen an der russisch-deutschen Front selbst in den Tagen der größten deutschen Erfolge maximal etwa ein Drittel aller Kräfte und Mittel
der deutschen Armee operierten, während ihre Hauptkräfte immer im Westen blieben. Das heißt, es war genau umgekehrt wie in diesem Krieg. Was Österreich-Ungarn anbelangt, dessen Hauptkräfte in jenem Krieg gegen Rußland kämpften, so standen immerhin auch in diesem Krieg zwei Drittel der Österreicher im Verband der deutschen Truppen an der sowjetisch-deutschen Front, auch die gesamte ungarische Armee war hier eingesetzt, ferner slowakische Divisionen und kroatische Legionen. Kurz, fast alles, was Österreich-Ungarn in jenem Krieg gegen Rußland geworfen hatte, warf Hitler in diesem Krieg zusätzlich zu den eigentlichen deutschen Truppen gegen uns. Der Vollständigkeit des Bildes halber sei hier auch noch die rumänische und die italienische Armee genannt, die in jenem ersten Weltkrieg gegen die Deutschen kämpften, in diesem Krieg aber gegen uns. Kurz gesagt, der zweite Weltkrieg konfrontierte die Sowjetunion mit einem unermeßlich stärkeren Gegner, als es jener war, mit dem es das zaristische Rußland zu tun hatte. Und wenn man nur mal annimmt, es hätte damals anstatt der erbitterten Schlachten an der Marne, vor Verdun und an der Somme ein „drole de guerre“ stattgefunden und die Deutschen hätten alles, was von ihnen damals dort im Westen kämpfte oder schon unter der Erde lag, gegen Rußland werfen können, kann man sich, ohne die Tapferkeit der russischen Soldaten und den Heldenmut eines großen Teils des russischen Frontoffizierskorps in Abrede stellen zu wollen, beim Ver-
gleich dieser beiden Kriege nur schwerlich vorstellen, daß das zaristische Rußland, das bald nach Kriegsbeginn ohne Munition dastand, allein dem Deutschen hätte standhalten können, wenn diese im Westen freie Hand gehabt hätten. So denke ich heute, lange Zeit später darüber, wobei ich mir sehr wohl bewußt bin, wie oberflächlich manche meiner historischen Vergleiche im Frühjahr 1943 waren. Trotzdem war mein damaliges Interesse für die alten Soldaten, die schon den zweiten Krieg mitmachten, verständlich. Und beim Überlesen der Notizbucheintragungen aus jener Zeit merke ich, daß diese alten Soldaten beim Vergleichen der beiden Kriege miteinander der Wahrheit näherkamen als ich. Nach dieser Abschweifung bringe ich nun die wesentlichsten Notizen, die ich von meiner zweiten Fahrt zur Südfront mitbrachte – ein Gespräch mit Sachar Filippowitsch Kanjukow, Gardesergeant, Jahrgang 1896. „Ich stamme aus der Gegend von Tichwin. Wir waren zu Hause viele Kinder. An den Feiertagen gingen die Leute spazieren, sie trugen feine Kleider, aber unsereiner saß hinterm Ofen und flennte. Später ging man unter die Menschen, besorgte sich einen Anzug für fünf Rubel und sah sich sehr vor damit. Ich mache schon den dritten Krieg mit, bloß waren die Kriege damals nicht so schlimm. In dem Krieg gegen die Deutschen habe ich zwischen Dwinsk und Riga gekämpft. Ich bin für Tapferkeit im Kampf ausgezeichnet worden: Hab den Deutschen einen Eisenbahnwagen mit Material geklaut. Zehn Mann
waren wir zurückgeblieben, der Wagen stand auf einer abschüssigen Strecke, wir haben den Bremsschuh weggeschlagen und sind zu den Unseren gerollt, es ging schneller als mit einer Lok. Die haben uns hinterhergeschossen, aber der Wagen ist in einem Tempo bis in die Station gesaust, daß einem die Luft wegblieb. Im Bürgerkrieg hab ich auf der Bäreninsel und in Murmansk gekämpft. Vorm jetzigen Krieg haben wir ein Haus gekauft. Meine Frau ist tot. Die Deutschen haben dann das Haus niedergebrannt. Ich kam zu einem Jagdbataillon. Zweimal habe ich im Kampf gestanden. Später, unsere Jahrgänge wurden noch nicht in den vordersten Linien eingesetzt, kam ich als Sanitäter zum Lazarett. Vom Lazarett zu einem Baubataillon. Von dem Bataillon als Ersatz zu einer Division bei Nowotscherkassk. Dann kam ich zur MG-Kompanie, erst als MG-Schütze, später als Melder. Den Stern da hab ich für folgendes bekommen. Ich machte im Gefecht Melder beim Bataillonskommandeur. Wir hatten ein Dorf genommen und sind gegen Morgen zur Verteidigung übergegangen. Kaum hatten wir uns eingerichtet, kam auch schon der Deutsche wieder an. Na, und da mußte ich mit einer Meldung über siebenhundert Meter durch heftiges Feuer. Meine Stelzen wollen nicht mehr, dabei bin ich noch gar nicht so alt. Also ich zuerst vom Bataillonskommandeur zum Regimentskommandeur, zu Jepantschin, die Meldung überbracht, wie sich’s gehört, und dann mit einem Befehl zurück. Da ging’s richtig los. Da wurden wir mit vierzig Flugzeugen
beharkt. Der verdammte Fritz hat mir übel mitgespielt: Ich hatte den Rucksack auf dem Rücken mit meinem Tabak und einer Garnitur Unterwäsche – die hat er in Brand gesteckt. Hab’s richtig gespürt, wie es auf dem Rücken qualmt. Ich hatte so ein komisches Gefühl und wunderte mich: Bin ich etwa ein Panzer, oder was?! Ich schnitt die Tragriemen durch, aber da baumelte mir das Kochgeschirr auf dem Rücken rum, es war von Kugeln durchlöchert. Die Gasmaskentasche – da hatte ich Brot drin – behinderte mich und rutschte immerzu vor den Bauch. Ich konnte mich kein bißchen aufrichten, die hätten mich abgeknallt. Also hab ich die auch einfach abgeschnitten. Es war Regenwetter, ich war dreckig von oben bis unten, durch und durch naß, hatte einen Halbpelz an und Filzstiefel. Im letzten Krieg, waren das denn Flugzeuge? Ich erinnere mich noch. Da flog damals, wir waren gerade beim Divisionsstab angekommen, ein Flugzeug am Himmel, unheimlich hoch, und es war nicht größer als ein Spatz! Wir sind einfach auseinandergelaufen, das war alles. Heute aber hat Auseinanderlaufen keinen Sinn, die Bomben fallen in weitem Umkreis! Ich kroch ein Stück, aber der Deutsche feuerte, was das Zeug hält, die Kugeln klatschten um mich rum in die Erde. Ich schmiegte mich so an den Boden, wie ich mich nicht mal im ersten Jahr nachts an meine Frau geschmiegt habe. Da lag ich nun, ohne mich zu rühren, und merkte, der hatte sich auf die Stelle schon eingeschossen. Also schnell weiter vor, dorthin, wohin er sich noch nicht eingeschossen hat. An dem Tag bin ich viermal mit Meldungen über
flaches Gelände hin und zurück. Der Deutsche saß auf dem Berg, und das Regiment war eingekesselt. Mit einem mündlichen Befehl kam ich beim Bataillon an, meldete, daß wir an der gleichen Stelle weiter in der Verteidigung bleiben wollten, und kroch dann wieder zurück zum Regimentskommandeur mit der Meldung, daß von rechts irgendwas auf uns zukommt. Der Regimentskommandeur hielt sich im Schützengraben auf. Er klopfte mir auf die Schulter. ,Hier, Papachen, auf deine Tapferkeit, trink! Nimmst einen Happen von dem deutschen Huhn, kriechst mit meinem Befehl zurück und bist im Handumdrehen wieder da.’ Der Befehl ans Bataillon lautete – zur besonderen Verwendung bereithalten. Ich wieder losgekrochen, immerfort auf dem Bauch. Das Gelände wie ein Tisch, kannst nicht den Kopf heben. Beim drittenmal, ich war noch nicht am Hang, erwischte der doch mit einer Granate drei Soldaten, ich kriegte einen Schlag und wurde in ein anderes Loch geschleudert, ich war betäubt. In den Ohren rauschte es, die Augen waren voller Sand und Schnee. So lag ich da und überlegte, in welche Richtung ich jetzt kriechen mußte. Dann orientierte ich mich an den toten Soldaten. Auf dem Hinweg zum Bataillon waren sie vor mir gewesen. Also mußte ich in der Richtung kriechen. Ich brachte den Befehl zum Bataillon. Der Bataillonskommandeur erteilte den Befehl, mit einem schweren MG an der äußersten Hütte in Stellung zu gehen. Ich kroch hin, plötzlich tauchte ein deutscher Panzer auf. Aus fünfzehn Schritt habe ich eine Handgranate auf ihn geworfen. Der Panzer blieb stehen, die Deutschen
sind raus und auf und davon. Ich zurück zum Bataillonskommandeur. Unterwegs bin ich auf einen Verwundeten gestoßen, hab ihn mitgenommen. Ich war hundemüde, und da sagte doch der Batailloner zu mir: ,Ich hab noch einen Auftrag für dich, Papachen. Mußt noch mal zum Regiment kriechen, die Verbindung ist abgerissen, stell du sie wieder her.’ Ich bin wieder los. Es war eine klare Nacht. Ich stieß auf das Fernsprechkabel. Da sah ich einen Mann. Er war allein. Ich bin hin zu ihm – ,gib mal was zu rauchen’, aber der sagte was in einer anderen Sprache. Also ein Deutscher. Ich hab ihn umgelegt. Wie ich zum Regimentskommandeur kam, fand ich ihn nicht, der Graben war leer. Wie sich herausstellte, war er weiter nach vorn gegangen. Schließlich hörte ich seine Stimme. Er befahl, ich solle auf der Stelle zurückkriechen zu meinem Bataillon und dort sagen, daß er sich mit dem Bataillon zurückziehen müsse. Ich überbrachte also den Befehl, und dann krochen wir alle zusammen zurück. Ich also wieder zurück zum Regiment. Wir nahmen den Troß in die Mitte und lösten uns aus der Stellung, um auszubrechen. Wir stießen mal rechts, mal links vor, bildeten eine Schützenkette, als wir auf die Deutschen stießen, wichen die vor uns zurück, und wir sind nach zwei Tagen zu den Unseren gekommen. Im ersten Krieg hab ich beim 239. Konstantinograder Regiment gedient. Der Soldat war damals beladen wie ein Kamel: Gasmaske, Feldflasche, Brennholz. Mit dem Brennholz sollte man Rauch machen gegen das Gas. Eine Drahtschere, um den Stacheldraht durchzuschneiden, und eine Strickleiter, eine Hacke,
einen Spaten und alles, was man heute auch hat. Auf langen Märschen kam man nicht aus dem Schwitzen. Hatte man was ausgefressen, mußte man die Latrinen putzen oder mit achtundvierzig Pfund Ziegelsteinen im Tornister und geschultertem Gewehr stehen. In diesem Winter hat’s schwere Gefechte gegeben. Der Tod hat immerzu die Hand ausgestreckt. Ich war fix und fertig. Schließlich bin ich nicht mehr der Jüngste. Es gab keine Gelegenheit, sich mal auszustrecken und aufzuwärmen, immer nur kriechen. Die Nächte waren kalt, eisiger Frost, bei Tage taute es in der Sonne, und alles war naß. Der Körper erstarrte, man vertrat sich die taubgewordenen Beine ein bißchen. Da detonieren Wurfgranaten im Steppengras. Das ist leichter zu ertragen: wenn’s auch ganz nahe ist, man sieht es wenigstens nicht. Man hört nur die Splitter aufplatschen wie Schafe, die durch den Dreck trappeln. Als mir Jepantschin die Auszeichnung überreichte, hat er mich vor dem angetretenen Regiment geküßt. Es wurde vorgelesen, wer alles eine Auszeichnung bekommt. Das Regiment schrie ,Hurra’, und wir haben uns wieder eingereiht. Hitler soll seinen Soldaten gesagt haben: Wir erobern Rußland, ihr schwingt wie Gendarmen die Knute, und die Russen werden für euch arbeiten! Wollen wir die Deutschen zerschlagen, müssen wir mehr Stolz zeigen, Festigkeit, Eintracht, müssen freundlicher sein. Ich will den Krieg so hinter mich bringen, daß ich auf meine alten Tage geachtet werde. Ich bin nun mal in einem Alter, in dem mir bestenfalls noch zwanzig Jährchen bleiben! Hauptsache, man
kommt nicht einfach so um, wenn man schon sterben muß, dann will man vorher was geleistet haben. Und wenn schon begraben sein, dann in einem Brudergrab! Da stellen die dann ein Denkmal auf, die Menschen werden kommen. Was soll mir ein Grab am Dorfrand, ich hab keine Familie mehr, kein Mensch wird wissen, wer da begraben liegt… Ich will beweisen, daß die Alten nicht schlechter sind als die Jungen. Wir sind tapfer und auch schlau genug, und anpassen können wir uns auch. Der Jammer ist nur, daß die Stelzen manchmal nicht mehr mitmachen wollen. Wenn ich ins Gefecht gehe, bin ich nicht aufgeregt. Ich sage mir: Was einem bestimmt ist, dem entgeht man nicht. Ich sage mir so: Ob du zitterst, ob du singst, ob du flennst, der Kugel entgehst du so und so nicht, wenn sie für dich bestimmt ist. Zwei Leben kann man nicht leben, uns allen ist nur ein Leben gegeben. Da der Feind nun mal über uns hergefallen ist, müssen wir es ihm zeigen…“ Damit reißt die Eintragung im Frontnotizbuch ab, aber die Geschichte des Sachar Filippowitsch Kanjukow ist noch nicht zu Ende. Er war einer von jenen, die wir damals in unseren Reportagen gern als lebenserfahrenen Soldaten bezeichneten, war ein erfahrener, findiger, von der Richtigkeit seiner Urteile über den Krieg und das Leben zutiefst überzeugter Mann. Sein Antlitz, das äußere wie das innere, prägte sich einem ein, aber ich habe keinen Frontbericht über ihn geschrieben, ich hob mir die Eintragung in meinem Notizbuch auf – für die Zukunft. Und sie war nahe. Als ich mich an die Erzählung über
Stalingrad machte, veränderte ich an dem Namen nur einen Buchstaben und nahm den alten Soldaten Konjukow hinein. In diesem Fall konnte man den Menschen nehmen, wie er war, und brauchte sich seinen Charakter nicht auszudenken, sondern nur die Umstände, unter denen er handelte. Kurz nach dem Krieg, als das Moskauer Künstlertheater die Theaterfassung meines Buches „Tage und Nächte“ auf die Bühne brachte und einer der großartigsten russischen Schauspieler jener Jahre, Dmitri Nikolajewitsch Orlow, den Konjukow spielte, traf er mit einer schier unglaublichen schauspielerischen Sehergabe nicht nur das geistige Antlitz Kanjukows, sondern er traf sogar sein Äußeres einmalig. Und diese Rolle machte mir in dieser Aufführung die meiste Freude. 1963, in dem Jahr, das Sachar Filippowitsch Kanjukow „bestenfalls“ noch zu erleben gehofft hatte, erhielt ich einen kurzen Brief aus der Tichwiner Gegend, der nur die Bitte enthielt, das Buch „Tage und Nächte“ zum Andenken zu schicken, und dieser Brief war unterschrieben mit „Kanjukow“. Ich schickte das Buch ab, keineswegs sicher, daß mich eben der Kanjukow darum gebeten hatte. Schon des öfteren hatte ich erlebt, daß Namensvettern meiner ausgedachten Helden mich um das betreffende Buch gebeten hatten. Ein halbes Jahr darauf aber erhielt ich einen weiteren Brief, der diesmal alle Zweifel beseitigte: „… Diesen Brief schreibt Ihnen Sachar Filippowitsch Kanjukow. Ihr Buch, das Sie mir zum Andenken geschickt haben, haben die Leute aus unserer Ort-
schaft gelesen, es ist von Hand zu Hand gewandert und dann verlorengegangen. Nun möchte ich Sie bitten, falls es Ihnen möglich ist, mir noch ein Exemplar zu schicken. Antworten Sie mir bitte, ob Anetschka und Saborow noch am Leben sind und wenn ja, wo sie jetzt stecken. Schreiben Sie mir, ob Jepantschin, der Regimentskommandeur, noch lebt. Ich wohne jetzt im Sowchos Andrejewski, Rayon Tichwin, Gebiet Leningrad. Nach dem Krieg habe ich in der ersten Zeit das Kolchosvieh geweidet, dann hab ich als Nachtwächter gearbeitet, zu was anderem hab ich nicht mehr getaugt. Ich habe einen Arm verloren. Jetzt arbeite ich nicht mehr, lebe von meiner Rente… Ich erledige verschiedene gesellschaftliche Aufträge der Sowchosparteiorganisation…“ Ich schickte ihm ein zweites Buch, diesmal genau wissend, daß es der Kanjukow war. Nicht nur Vorund Vatersname und Familienname stimmten überein, sondern auch der im Notizbuch vermerkte Name des Regimentskommandeurs Jepantschin, von dem mir Kanjukow dreiundvierzig erzählt hatte. Die Erwähnung Anjas und Saburows – erfundene Helden meiner Erzählung – und die Frage, ob sie noch lebten, störten mich nicht weiter. Kanjukow konnte sie nicht gekannt haben, aber mit einer Portion Lesernaivität hielt er alle Ereignisse meines Buches für authentisch und interessierte sich für das weitere Schicksal dieser ihm unbekannten Menschen genauso wie für das Schicksal eines durchaus realen Mannes, des Regimentskommandeurs Alexander Dmitrijewitsch Jepantschin, heute Held der Sowjetunion, Generalleutnant der Reserve, ein Mann, der nicht in der Er-
zählung vorkam, in dessen Regiment er aber gedient und von dem er mir einst erzählt hatte. In jenen Apriltagen hatte ich eine unerwartete Wiederbegegnung mit dem Jahr einundvierzig. In dienstlicher Angelegenheit kam ein Offizier der rückwärtigen Dienste, ein Oberst, zu Utwenko. Das war spät am Abend, fast schon in der Nacht. Utwenko unterbrach das eben begonnene Abendessen, führte ein kurzes dienstliches Gespräch mit dem Oberst, dann lud er ihn ein, am Tisch Platz zu nehmen und zuzulangen, und machte uns miteinander bekannt. Sein Name sagte mir nichts, aber an das Gesicht dieses Mannes erinnerte ich mich sofort. Nicht nur an das Gesicht, sondern auch an alles andere, was in meiner Erinnerung mit diesem Gesicht verknüpft war. Es war eine bedrückende Erinnerung, für diesen Mann verknüpft mit dem wohl für einen jeden von uns schrecklichsten Augenblick, da man sich vor aller Augen feige zeigt und selber weiß, daß es so ist. Augenzeugen solcher Augenblicke im eigenen Leben begegnet man später nicht gern wieder. Aber wie zum Trotz erinnerte sich Alexander Iwanowitsch Utwenko plötzlich unseres Gesprächs vom Vorabend, zuerst hatte er mir erzählt, wie der Krieg für ihn begann, dann wollte er von meinen Erlebnissen in dieser Zeit hören, und an den Oberst gewandt, fragte er unvermittelt: „Simonow hat mir gestern gerade erzählt, er sei im Juli einundvierzig bei Tschaussy gewesen, mittendrin im dicksten Schlamassel. Sie waren doch auch dort. Sind Sie sich da nicht begegnet?“
Ich wußte nicht, was dieser Mann Alexander Iwanowitsch von dem Schlamassel bei Tschaussy erzählt hatte und davon, wie er sich benommen hatte, aber als ich an seinem Gesichtsausdruck merkte, daß er sich meiner genauso erinnerte wie ich mich seiner, sagte ich instinktiv schnell, noch bevor er antworten konnte: „Nein, meiner Meinung nach sind wir uns nicht begegnet“ und enthob ihn damit auf jeden Fall der Notwendigkeit, lügen oder die für ihn nicht leichte Wahrheit sagen zu müssen, falls er sich ihrer erinnerte. Er bestätigte eilig: „Nein, wir haben uns nicht gesehen“ und saß bis zum Ende des Abendessens finster und wortkarg da, offensichtlich wollte er möglichst bald gehen. Erinnerungen sind keine leichte Sache. Und über das Schlechte in ihnen kommt man nicht hinweg, da kann man später noch so viel Gutes getan haben. Am nächsten Tag wurde ich krank, eine eitrige Angina mit vierzig Fieber warf mich aufs Bett. Utwenko behielt mich bei sich in seiner Sanitätsstelle. Er besuchte mich mehrmals abends, wenn er seine Angelegenheiten erledigt hatte. Kampfhandlungen fanden nicht statt, aber er empfing Ersatz, leitete Übungen, hatte viel um die Ohren, und ich wußte es zu schätzen, daß er sich Zeit für mich abknapste. Es ist kein Ding so schlecht, daß es nicht auch ein Gutes hätte. Die Angina hinderte mich zwar am Sprechen, aber zuhören konnte ich. Utwenko erzählte an diesen Abenden viel von sich. Ich konnte nichts notieren – das Fieber hinderte mich daran, aber ich rief mir das Gehörte des öfteren ins Gedächtnis, sowohl als ich
die Erzählung „Reife“ schrieb, deren Hauptheld der Utwenko ähnelnde Oberst Prozenko ist, als auch dann, als der gleiche Mann in dem Buch „Tage und Nächte“ Kommandeur einer in Stalingrad liegenden Division wurde. Nebenbei bemerkt, begann eines unserer Gespräche damit, daß so eine eitrige Angina eine verflixte Sache sei und er, Utwenko, dies schon am eigenen Leib erfahren habe, weil er, als er Nowotscherkassk nehmen mußte, ausgerechnet an Angina erkrankt war. Die Geschichte von einem an Angina erkrankten Divisionskommandeur, der trotzdem – und zwar unverzüglich – eine Stadt nehmen muß, lag später einem meiner von der „Krasnaja Swesda“ gebrachten Berichte zugrunde. Als es mir ein wenig besser ging, machte ich mich mit einem Wagen auf zum Frontstab, ich wollte nach Moskau fliegen, aber unterwegs bekam ich einen Rückschlag und mußte diese verdammte Angina noch eine ganze Woche lang in der Sanitätsstelle des Frontstabs auskurieren. Als ich von Jewgeni Petrow erzählte, erwähnte ich bereits, daß der mich behandelnde Arzt Nikolai Alexejewitsch Ljostsch mir ein von ihm aufbewahrtes Blatt mit dem medizinischen Gutachten über die Ursache von J. P. Petrows Tod aushändigte. Bei gleicher Gelegenheit hatte mir Doktor Ljostsch eine Geschichte erzählt, die mit dem Namen des verstorbenen Sergej Semjonowitsch Birjusow zusammenhängt, in der Folgezeit Marschall, damals aber Stabschef der Südfront. Birjusow war krank und brauchte ein schmerzlinderndes Beruhigungsmittel. Der Arzt, der es ihm
verabreichen sollte, gab dem General das Medikament und stellte hinterher plötzlich fest, daß er ihm durch eine fatale Verwechslung ein anderes Medikament verabreicht hatte, und noch dazu in einer Dosis, die für das schmerzlindernde Mittel schon richtig gewesen wäre, in diesem Falle aber viel zu hoch und sogar lebensgefährlich war. Ohne Zögern leitete der Arzt die erforderlichen Maßnahmen ein und meldete den Vorfall seinen Vorgesetzten. Dem Kranken ging es schlecht, und trotz der sofort eingeleiteten Maßnahmen verschlechterte sich sein Zustand zusehends. Es stand nicht fest, ob diese Maßnahmen helfen würden. Der Arzt wurde verhaftet. Der Irrtum war von solcher Art, daß ihm ein Gerichtsverfahren drohte. Birjusow erholte sich wieder. Die eingeleiteten Maßnahmen in Verbindung mit seiner kräftigen Natur bewahrten ihn vor dem Schlimmsten. Der Arzt aber saß in Untersuchungshaft. Nachdem Birjusow das Bewußtsein wiedererlangt hatte, befahl er, den Arzt freizulassen und zu ihm zu bringen. Er sprach mit ihm und ließ sich den Hergang schildern, schenkte ihm Glauben und befahl, die Sache niederzuschlagen. Der Arzt konnte am gleichen Platz weiterarbeiten. Man versuchte Birjusow davon abzubringen, aber er gehörte nicht zu denen, die sich so leicht unterkriegen ließen; er hatte dem Arzt nun mal Glauben geschenkt und beharrte auf seiner Meinung, ließ nicht zu, daß ein Mensch gebrochen wurde. Bei allen Begegnungen mit Birjusow im Krieg und auch später mußte ich an die Geschichte mit dem Arzt
denken.
11 Nachdem ich lange genug in der Sanitätsstelle der Front gelegen hatte, flog ich nach Moskau. In meinen Tagebüchern fehlen Eintragungen über wesentlichere Tage, aber dieser Ankunftstag in Moskau ist festgehalten…. Es kommt vor, daß auch ein trister, durch nichts bemerkenswerter Tag im Gedächtnis haftenbleibt. So hat sich mir dieser Tag in Moskau eingeprägt. In der Redaktion wußte man von meiner Rückkehr, nur den genauen Termin hatte ich nicht mitteilen können. Vom Flugplatz nahm mich jemand in seinem Wagen mit und setzte mich vor der Redaktion ab. Sie war damals wieder am alten Ort, in der Malaja Dmitrowka, im Hof. Ich ging hinein. Es war Sonntag, und nur ein Wächter war da. Ich ging in eines der leeren Zimmer und rief zu Hause an. In meiner Wohnung hauste gerade einer meiner Freunde aus der Vorkriegszeit, ein Frontkorrespondent, der sich erst vor kurzem wieder verheiratet hatte und deswegen noch kein eigenes Domizil besaß. Ich rief zu Hause an, aber niemand hob ab. Entweder war er nicht da, oder er war an die Front gefahren, und seine Frau war verreist. Nach einer Weile rief ich noch einmal an, wieder meldete sich keiner. Ich rief in der Wohnung eines anderen Genossen an – er war an der Front. Bei einem dritten ging keiner an
den Apparat, sicherlich war auch er an der Front. Bei einem vierten hob die Tante ab und sagte: „An der Front.“ Im Geiste ging ich alle durch, die ich noch anrufen konnte. Doch die einen waren an der Front, andere evakuiert, und von den übrigen wußte ich die privaten Telefonnummern nicht, ich war mit ihnen in den letzten Jahren nur an der Front oder in der Redaktion zusammengetroffen, und da hatte ich nicht daran gedacht, mir ihre Nummern zu notieren. Ich betrat das Büro des Redakteurs, um den Sekretär nach dem Redakteur zu fragen. Der Sekretär war nicht in der „Schleuse“, dafür saß im Dienstzimmer der Redakteur in Person – im Paradeanzug, funkelnagelneue Generalsuniform, sämtliche Orden angelegt und mit auf Hochglanz gewienerten Stiefeln. Er saß da und blickte einfach so vor sich hin. Große Begrüßung und Umarmung. Er freute sich, daß ich zurück war, aber nach allem zu urteilen, hatte er was anderes vor, als den Abend mit mir zu verbringen. „Was wirst du machen?“ fragte er. Ich sagte, bei mir zu Hause melde sich niemand, also bliebe ich erst mal in der Redaktion. Ich schlug vor, daß wir uns zusammen hinsetzten und etwas aßen. Ich hatte einiges bei mir. Er sagte, sehr gern, aber er müsse jetzt ins Theater, in die Filiale des Bolschoi zu einer Oper oder einem Ballett. „Ich bin nur vorbeigekommen, um zu sehen, ob was Dringendes vorliegt. Ich muß gleich los. Aber du bleib nur hier: Du kannst ja hier auf dem Diwan schlafen.“
Er zeigte mir, wo in seinem Zimmer Kissen und Decke verstaut waren, und fuhr los. Und ich saß allein da. Ich ging auf den Hof. Nasser Schnee rieselte herab. Ich ging wieder hinein. Bis elf hockte ich herum, bis mein Telefon zu Hause schließlich doch Antwort gab. Ich fühlte mich wie in einem Vakuum, ich kam mir in Moskau überflüssig vor und hatte das Gefühl, von keinem Menschen gebraucht zu werden. Dabei war während des Fluges schlechtes Wetter gewesen, und der Pilot hatte geschwankt, ob er nicht landen und irgendwo draußen übernachten solle, und ich hatte regelrecht gezittert, weil ich fürchtete, wir würden übernachten und ich käme deshalb nicht noch am gleichen Tage nach Moskau. Als ich jetzt diese Tagebucheintragung las, überkam mich das Verlangen, etwas von der Frau zu erzählen, die, kaum hatte ich im Herbst zweiundvierzig die Wohnung bekommen, zu mir zog und meinen Haushalt führte, zu der Zeit ein Junggesellenhaushalt. Sie hatte sich an dem bewußten Abend um elf an meinem Apparat gemeldet und gesagt, sie sei bei den Nachbarn gewesen, habe mit ihnen Radio gehört, aber der Badeofen sei geheizt. Ich könne mich sofort waschen. Sie habe mich schon vorgestern zurückerwartet und heize den Badeofen nun den dritten Abend. Die verstorbene Maria Akimowna war vierzig, als sie sich bereit erklärte, meinen Haushalt zu führen. Ein nach meinen damaligen Vorstellungen schon recht fortgeschrittenes Alter. Sie stammte aus Cherson und
sagte von sich, sie sei Waise. Vor der Revolution war sie in einem Waisenhaus aufgewachsen. Sie besaß zwar Verwandte, aber damals im Krieg erwähnte sie diese kaum. Sie harmonierten wohl nicht miteinander, vielleicht weil diese sie in ihrer Jugend nicht bei sich aufgenommen hatten, und das späte Mädchen hatte ihr Leben dann, wie sie selbst sagte, „unter fremden Menschen“ verbracht. Finster und unschön, wie sie war – wegen einer Schlüsselbeinverletzung in der Kindheit hing eine Schulter etwas herab –, wirkte sie auf den ersten Blick nicht gerade sympathisch. In Wirklichkeit aber war sie eine Frau mit goldenem Herzen und umsorgte uneigennützig alle, die ihrer Güte und Hilfe bedurften. Dabei bildete sie sich allerdings über jeden dieser Menschen ihr eigenes Urteil, ein ganz bestimmtes, unverrückbares und in den meisten Fällen richtiges. Und sie hatte die Angewohnheit, mir diese Urteile mitzuteilen. Frauen gegenüber war sie streng, musterte sie aber aufmerksam, und, wie mir mehrmals schien, schätzte im stillen ab, welche eventuell zum Heiraten geeignet wäre und welche keinesfalls. Die Männer unterteilte sie in Zivilisten und Militärangehörige. Zivilisten kamen in dieser Kriegszeit selten zu mir in die Wohnung, und kamen jüngere, so sagte Maria Akimowna später: „Weswegen ist der denn schon wieder gekommen? Was hat er in Moskau zu suchen? Der sollte lieber in den Krieg gehen“ – oder etwas Ähnliches. Alle Uniformträger schätzte sie allein deshalb sehr und setzte ihnen etwas vor, ganz gleich wie viele es waren und zu welcher Tages- oder Nachtzeit sie he-
reinschneiten. Sie sah es gern, wenn sie badeten und bei uns übernachteten, obwohl sie mit dem einen wie dem anderen viel Mühe hatte. Von Eile hielt sie nichts, sie sah nie auf die Uhr. Aber wann immer einer meiner Uniform tragenden Genossen auftauchte, deckte sie mit gleichbleibender Bereitschaft flugs den Tisch. Sie liebte uns alle, am meisten aber liebte sie Alexej Alexandrowitsch Surkow, den sie hinter seinem Rücken Aljoscha nannte, und wenn er sich lange nicht sehen ließ, hatte sie Sehnsucht nach ihm und fragte mich: „Wo Aljoscha bloß steckt? Er hat sich lange nicht sehen lassen.“ Wenn ich ihr sagte, Surkow sei an die Front gefahren, war sie trotzdem ungehalten: „Sie sind doch auch hier, aber er ist immerzu draußen, es wird langsam Zeit…“ Während meines Aufenthalts in Moskau arbeitete ich gewöhnlich viel und schnell. Hatte ich das eine fertig, fing ich gleich das nächste an. Davon ausgehend, hatte sich Maria Akimowna eine Vorstellung von der Arbeitsweise in unserem Beruf gebildet. Als während meiner Abwesenheit einer meiner Genossen einmal etwa zwei Monate bei mir hauste, der in dieser Zeit im Auftrag der Politverwaltung das Szenarium für einen Kriegsfilm schrieb, war Maria Akimowna, die mir später über ihn berichtete, über seinen Arbeitsstil sehr erbost: „Wie er ankommt, frag ich ihn: ,Was machen Sie denn, Boris Romanowitsch?’ Er: ,Ich schreibe ein Szenarium.’ Nach einem Monat frage ich ihn wieder. Er wieder: ,Ein Szenarium schreib ich.’ Kurz vor Ihrer Rückkehr frag ich ihn: ,Und was
machen Sie jetzt, Boris Romanowitsch?’ Und er faselt immer nur von seinem Szenarium. Ist denn das was? Die ganze Zeit immer nur dasselbe schreiben. Soll das etwa Arbeit sein…“ Meine Freunde bewirtete sie mit allem, was sie hatte, und sie durften auch während meiner Abwesenheit übernachten. Auch unbekannte Leute ließ sie ein, wenn sie einen Zettel von mir hatten. Gewöhnlich ergab sich so etwas bei meinem Frontaufenthalt, wenn jemand von der Front eine Dienstreise nach Moskau machte oder hinbeordert wurde und keine Bleibe hatte. Dann gab ich ihm für alle Fälle einen Zettel für Maria Akimowna mit. Waren wir mehrere, teilte sie das Essen gerecht auf, jeder bekam das gleiche. Dennoch hatte sie für mich am nächsten Morgen noch einen Teller Suppe und ein Gläschen Wodka aus einer ewigen Flasche übrig, die sie vor allen versteckt hielt, auch vor mir. Am Abend gelang es niemandem, auch mir nicht, diesen Teller Suppe und das Gläschen Wodka aufzustöbern. Das war die eiserne Ration, die sie eisern für mich für den nächsten Morgen aufhob, „zum Aufmuntern“, und sie erläuterte: „Wie wollen Sie denn so früh am Morgen arbeiten, wenn Sie nichts Warmes im Magen haben?“ Alleinstehend und kinderlos, hatte sie in jenen Kriegszeiten mit wahrhaft mütterlicher Selbstlosigkeit ihr Herz und ihre Sorgen gleichermaßen auf alle Uniformträger übertragen, die für kürzere oder längere Zeit in meiner Wohnung auftauchten. Und ich erwähne sie jetzt nicht nur, weil dies ein Teil meiner persönlichen Kriegserinnerungen ist, sondern
auch ein Teil der gemeinsamen Erinnerung vieler, heute nicht mehr junger Menschen, die bis zum heutigen Tag dankbar Maria Akimownas gedenken. Mitte April nach Moskau zurückgekehrt, verbrachte ich hier nicht länger als vierzehn Tage. Der Redakteur hatte nach meiner zweiten ergebnislosen Fahrt zur Südfront, von der ich nur einen einzigen Bericht mitgebracht hatte, beschlossen, mich vor meinem Urlaub doch noch einmal für kurze Zeit auf eine Dienstfahrt an die Front zu schicken. Messe ich diese Absicht am Charakter des Redakteurs, glaube ich, daß ich mit dieser Reise nicht geschulmeistert werden sollte, sondern daß er sie für mich als nützlich ansah. Wahrscheinlich sollte ich vor meinem längeren Urlaub noch operatives Material von der Front mitbringen. Trotz der freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen uns bestanden und die der Redakteur nebenbei bemerkt vor niemandem verhehlte, wahrte er doch sorgsam das Prinzip: „Freundschaft ist Freundschaft, und Dienst ist Dienst“. Daraus war wohl der Gedanke entsprungen, mich auf diese Fahrt zu schicken, die dann aber doch ins Wasser fiel. Nach dreieinhalb Monaten vernichtender Niederlagen im Süden hatten die Deutschen alle ihre Kräfte zusammengerafft und bei Charkow einen Gegenschlag geführt, dann aber waren sie mit ihrer Kraft am Ende, und sie wurden an einer Frontlinie zum Stehen gebracht, die sich bis zu den neuerlichen Schlachten im Sommer nicht veränderte. Die übermenschliche Anspannung dieses Winters ließ allmählich nach. Schließlich trat um den 20. April
überall, mit Ausnahme der Nordkaukasusfront, eine fast drei Monate währende Kampfpause ein, die bisher längste Kampfpause im Krieg überhaupt, teilte ihn sozusagen in zwei Hälften: in die erste und die zweite. Ortenberg gab mir Urlaub, und in meinen Tagebüchern findet sich folgende Eintragung darüber. Ich beabsichtigte eine Erzählung über Stalingrad zu schreiben, und Ortenberg beurlaubte mich nach Alma-Ata. „Für wie lange?“ erkundigte ich mich. „Bis ein Telegramm kommt“, sagte er. „Solange es ruhig bleibt, werde ich dich nicht stören. Halte dich ran. Wenn es wieder losgeht, kommst du schnellstens her, ich schicke ein Telegramm.“ In einem Brief an meine Eltern teilte ich ihnen mit, ich wolle mich in Alma-Ata an ein Poem über Stalingrad machen und einen bis anderthalb Monate dortbleiben. Ich kann diesen Widerspruch nicht erklären: einerseits plante ich eine Erzählung über Stalingrad, andererseits ein Poem, gleichfalls über Stalingrad. Wahrscheinlich hatte ich sowohl das eine wie das andere vor. In dieser für die damalige Zeit so großen Zeitspanne meinte ich, das alles schaffen zu können. Obwohl seit Beendigung der Stalingrader Ereignisse kaum, drei Monate vergangen waren, glaubte ich schon eine Erzählung darüber schreiben zu können, ja daß es höchste Zeit dafür sei! Ein Beweis dafür, wie sehr ich mich damals in dieser meiner Überzeugung bestätigen wollte, ist die noch in meinem Besitz befindliche Niederschrift eines Interviews mit dem Korrespondenten einer amerikanischen Zeitung.
Obwohl sich das Gespräch hauptsächlich um die „Russischen Menschen“ drehte, die damals in New York inszeniert wurden, beschäftigte mich dies doch nicht so sehr wie meine künftige Arbeit. „Frage. Gilt es nicht als unbestritten, daß Werke über geschichtliche Ereignisse erst geschrieben werden können, wenn diese Ereignisse bereits Vergangenheit geworden sind? Antwort. Natürlich ist es möglich, daß ich zehn Jahre später besser darüber schreiben werde, als dies in den .Russischen Menschen’ der Fall war, aber ich mußte es eben jetzt schreiben, da es sich um ein aktuelles Problem handelt, da das Stück die Menschen beeinflussen kann, die es heute sehen und morgen an die Front gehen. Für mich ist das interessanter und wichtiger, als wenn das Stück Menschen beeindruckt, für die der Krieg bereits Vergangenheit ist. Natürlich kann man die Folgen eines Krieges hinterher leichter übersehen, aber wenn man mit beiden Beinen mitten in den Ereignissen steht, begreift man ihren Sinn besser. Ich meine das nicht im allgemeinphilosophischen Sinn, sondern im konkreten Sinn des Geschehens und der Wahrheit darüber. Frage. Erhoffen Sie sich, daß Ihre Freunde in Amerika durch Ihr Stück das Wesen des russischen Menschen besser kennenlernen? Antwort. Ausländische Schriftsteller und Philosophen haben immer schon unendlich viel von der russischen Seele und den Eigenheiten des russischen Menschen gesprochen. Natürlich möchte ich, daß der amerikanische Zuschauer die Eigenheiten des russischen Menschen kennenlernt. Für mich sind alle
diese Eigenheiten jetzt auf eine einzige reduziert, die in diesem Krieg nur den russischen Menschen auszeichnet: Er kämpft auf Leben und Tod. Und ich bin froh, daß diese nachahmenswerte Eigenheit dem amerikanischen Zuschauer vor Augen geführt wird. Frage. Woran arbeiten Sie zur Zeit? Antwort. Ich möchte eine Erzählung schreiben. Das wird meine erste große Prosaarbeit sein, und ich gehe mit einigem Zagen daran. Es soll eine Erzählung über einen Zivilisten werden, der bei Kriegsbeginn zur Armee kommt, im Kriegsverlauf ein Draufgänger wird, sich aber zuinnerst immer noch für einen Zivilisten hält und doch ein Soldat geworden ist, ohne es selbst zu merken.“ Diesem Interview nach stellte ich mir vor Arbeitsbeginn so den Helden der Erzählung „Tage und Nächte“ vor und versuchte damals auch meine Einstellung zum Problem des Abstands zwischen dem zu formulieren, worüber man schreibt und wann man es schreibt. Auch im weiteren Sinne trägt dieses Interview den Stempel der Zeit. Es fand Ende April statt, der dritte Kriegssommer stand bevor, und ich, wie es jeder andere an meiner Stelle wohl auch getan hätte, nahm die Gelegenheit wahr, die amerikanischen Zeitungsleser ein übriges Mal an die Eröffnung der zweiten Front wenigstens in diesem, dem dritten Sommer zu erinnern! In dieser Stimmung und mit diesen Gedanken brach ich nach Alma-Ata auf, wo Stolper immer noch „Wart auf mich“ drehte und Pudowkin dem Hörensagen nach gerade dabei war, die Arbeit an dem Film
„Russische Menschen“ zu beenden. Ich hatte auch persönliche Gründe für eine Fahrt nach Alma-Ata. Hier und auch später möchte ich mich nicht über diese Gründe auslassen. Alles Wesentliche meines persönlichen Lebens in jenen Kriegsjahren ist in meinen Gedichten aus dieser Zeit und aus den ersten Nachkriegsjahren gesagt, die später zu dem Zyklus „Mit dir und ohne dich“ zusammengefaßt wurden und am vollständigsten in meinem Buch „Neunzehnhundertsechsunddreißig – Neunzehnhunderteinundsiebzig“ erschienen sind. Interessenten verweise ich auf diesen Gedichtband, weil es nichts hinzuzufügen gibt und ich schon lange weder Grund noch Lust habe, diesen Gedichtband zu kommentieren. In Alma-Ata eingetroffen, machte ich mich sofort an die Erzählung „Tage und Nächte“. Nur selten, kaum öfter als einmal in der Woche, riß ich mich los und ging in das nach Alma-Ata evakuierte Mosfilm-Studio. Das Frühjahr in Alma-Ata war recht kühl. In den ungeheizten, den Winter über ausgekühlten Studios drehte Sergej Michailowitsch Eisenstein, wie alle im Hinterland ob des ständigen Nahrungsmangels abgemagert, seinen Film „Iwan der Schreckliche“. Damals wurden alle Filme unter schwierigsten Bedingungen gedreht, es fehlte buchstäblich an allem, was man für die Dreharbeiten benötigte. Für „Iwan der Schreckliche“ aber wurden doch die für diese Zeit relativ bestmöglichen Bedingungen geschaffen. Ich kam damals nicht darauf, daß sich Stalin für die Gestalt Iwans des Schrecklichen interessieren und in
ihr historische Parallelen und eine historische Rechtfertigung für gewisse Ereignisse aus den letzten Vorkriegsjahren suchen könne. Ich kam von der Front und fragte mich ehrlich gesagt nur, warum und wozu im Krieg dieser Film gedreht wurde. Alle anderen Filmschaffenden waren gleichfalls sehr produktiv, sie drehten in der Hauptsache Kriegsfilme und suchten in dieser Arbeit, die praktisch natürlich nur hier im Hinterland getan werden konnte, die moralische Rechtfertigung für ihren Aufenthalt im. Hinterland. Die meisten Schriftsteller waren an der Front, und ein Drittel von ihnen – mehr als dreihundert – waren zu der Zeit schon gefallen. Die evakuierten fühlten sich meistens schuldig. Zuweilen schuldlos schuldig. Manche sagten, sie gingen gern an die Front, und manche taten dies auch. Auch darin kam das moralische Klima der Zeit in dem auf Leben und Tod kämpfenden Land zum Ausdruck. Je länger die Ruhe an der Front anhielt, desto mehr wuchs die Sorge wegen des nahenden Sommers. Es wurde zwar kaum darüber gesprochen, aber ich fühlte, daß andere genau wie ich an die Möglichkeit IIJII einer neuerlichen Sommeroffensive der Deutschen dachten und sie im Grunde ihres Herzens fürchteten. Fürchteten, eingedenk der beiden ersten schrecklichen deutschen Sommeroffensiven in den beiden ersten Kriegsjahren. Und zugleich ließ die so ungewohnt lange anhaltende Ruhe entgegen dem gesunden Menschenverstand allmählich den Eindruck aufkommen, sie würde nie enden.
Meine Rückkehr aus Alma-Ata nach Moskau ist im Tagebuch mit einer kurzen Eintragung festgehalten. … Mitte Juni erhielt ich ein Telegramm: „Kommen Sie zurück.“ Ich fuhr nach Moskau zurück in der Erwartung, sogleich an die Front fahren zu müssen. Doch das Telegramm war ohne besonderen Grund aufgegeben. Ortenberg hatte sich einfach gesagt, ich sei schon zu lange von Moskau weg, er war verärgert und hatte das Telegramm abgeschickt. Ich kam an und fragte, was ich machen solle. „Nichts Besonderes. Mach weiter, setz dich hin und schreib.“ „Warum hast du mich dann zurückgeholt?“ „Nur damit niemand sagen kann, du hättest zu lange Urlaub. Du schreibst eben hier weiter…“ Am Vorabend des Tages, da sich der Kriegsanfang zum zweitenmal jährte, traf ich in Moskau ein. Anläßlich dieses Tages wurde im Park für Kultur und Erholung eine Ausstellung mit erbeutetem deutschem Kriegsgut eröffnet. Chalip machte am Eröffnungstag eine seiner besten, von innerer Dramatik erfüllten Aufnahmen: Vor einem riesigen weittragenden Geschütz der Deutschen, dessen Rohr zum Himmel aufragt, stehen auf Krücken aus dem Lazarett gekommene Soldaten in Lazarettkitteln. Auch mich beeindruckte die Ausstellung, ich schrieb ein Gedicht darüber und eine Prosaarbeit und lieferte beides bei der „Krasnaja Swesda“ ab. Das Gedicht „Ein Panzer auf der Ausstellung von Beutegut“ fand mehr Anklang und wurde gedruckt. Die Prosaarbeit gefiel weniger und blieb in der Schublade.
Ich selbst halte diese Prosaarbeit im Gegenteil für besser als das Gedicht und möchte hier zwei Seiten daraus bringen – es sind die Gedanken über den Krieg, die mir vor der Schlacht im Kursker Bogen in den Sinn gekommen waren. ….Wer die Straßen gesehen hat, auf denen die deutsche Wehrmacht von Moskau zurückwich, wer das Schlachtfeld vor Stalingrad sah, der wird sich nicht über die Menge des auf der Ausstellung präsentierten Beuteguts wundern. Diese Ausstellung ist nicht das Lager des zerschlagenen deutschen Kriegsgeräts, sie ist nur eine Auswahl. Aber diese Auswahl ist so umfassend und exakt, daß sie eine Vorstellung vermittelt von der ganzen Wucht des durchdachten Schlages, der auf uns niedersauste, von der ganzen Kraft der deutschen Kriegstechnik, von ihrer Organisation und ihrem Zusammenwirken. Der Besucher der Ausstellung muß bedenken, wie gut (mehr noch – wie ausgezeichnet -) diese Kriegsmaschine eingespielt war. Hier die Sturzkampfbomber, die sich auf unsere Infanterie herabstürzten und sie zu Boden zu drücken trachteten. Hier die Panzer und die Panzerkanonen, die durch unsere niedergehaltene Infanterie brachen. Hier die Transporter und die Kräder, auf denen die deutsche Infanterie blitzschnell in die von den Panzern geschlagene Bresche hineinfloß. Hier die Geschütze, mit deren Unterstützung die Deutschen eingeschlossene und von Panzern umgangene Städte stürmten. Hier der an der Front wegen seines merkwürdigen U-förmigen Schwanzes, ,Rahmen’ ge-
nannte deutsche Doppelrumpfartilleriebeobachter ,Focke-Wulff, der das Feuer ihrer Artillerie korrigierte. Diese ganze leistungsstarke Kriegsmaschinerie zusammengenommen hatte nur einen Zweck – den Vormarsch – und ein Ziel – den Sieg. Über diese Maschinerie kann man nicht nur wie über Vergangenes sprechen, man muß über sie sprechen als eine Einheit von Vergangenem, Gegenwärtigem und Künftigem. Sie stößt in diesen drei Etappen auf unterschiedlichen Widerstand. Zunächst mußte man lernen, sich ihr zu widersetzen, dann lernte (und erlernte) man es, sie zu schlagen, jetzt gilt es, sie zu zerschlagen. Zwischen den Worten schlagen’ und ,zerschlagen’ besteht ein großer Unterschied. Das ist bei weitem nicht ein und dasselbe. Die Deutschen haben uns auch geschlagen, manchmal sehr hart, aber niemals konnten sie uns zerschlagen. Wir haben sie geschlagen, nun gilt es, sie um jeden Preis zu zerschlagen, und wir werden es schaffen. Die Ausstellung zeugt von Vergangenem, ihr Blick jedoch ist vor allem in die Zukunft gerichtet. Diese Panzer, hier zerschossen und ausgebrannt, diese Kanonen, zertrümmert und auch unversehrt erbeutet, diese Flugzeuge, aus der Luft heruntergeholt oder auf Flugplätzen geschnappt, sind noch keineswegs aus dem Waffenarsenal der deutschen Wehrmacht verschwunden. Es ist zwar angenehm, an alles Abgeschossene und Ausgebrannte zu erinnern, weniger angenehm, dafür aber viel wichtiger, ist es jedoch, an das zu denken, was noch nicht abgeschossen und noch nicht ausgebrannt ist. Und daran vor allem gemahnt diese Ausstellung. Denken wir
voller Freude und Stolz an die Schläge, die wir der deutschen Wehrmacht und ihrer Kriegstechnik zugefügt haben, müssen wir uns aber auch um der richtigen Einschätzung willen und um gut für die siegreiche, aber harte Zukunft gewappnet zu sein, einen weiteren Umstand vor Augen halten. Wir müssen uns die Stärke der Schläge vor Augen halten, die die Deutschen uns seinerzeit zufügten, wir müssen daran denken, wie wir sie hinzunehmen verstanden, wie wir uns davon erholten. Direkte Parallelen brauchen nicht gezogen zu werden. Die Deutschen sind das eine, wir aber das andere. Unser Geist ist stärker als ihrer, unser Glaube an den Sieg ist stärker als der ihre, wir sind überhaupt stärker als sie. Es gilt aber auch zu bedenken, daß die deutsche Wehrmacht gleichfalls eine starke Armee ist, daß sie sich gleichfalls von Schlägen erholen, kann, daß auch sie danach trachtet, das Kriegsglück auf ihre Seite zu bringen, und dafür alles nur mögliche unternimmt. Und deshalb sind all die unzähligen Typen von Panzern, Kanonen und Flugzeugen, alles, was heute im Park für Kultur und Erholung zusammengetragen ist, eine Erinnerung nicht nur an das, was uns bedrohte, sondern vor allem eine Warnung vor künftigen Bedrohungen. Auch Kinder drängen sich in der Ausstellung. Sie laufen, um die Flugzeuge, um die Autos herum und bleiben mit Vorliebe nicht bei den unversehrten stehen, sondern bei jenen, die zerstört, von unseren Geschossen durchlöchert sind. ,Der hier ist aber kaputt’ sagen sie begeistert. ,Den hat’s vielleicht erwischt!’ Nach Kinderart denken sie von allem, was sie sehen, es sei bereits bezwungen.
Aber wir sind keine Kinder, wir müssen mehr an das Kommende denken als an das Vergangene, müssen daran denken, daß die Kinder, die heute vor diesen abgeschossenen Panzern stehen, nicht mehr durch andere, ebensolche, noch nicht abgeschossene bedroht werden dürfen. Es war schwer, das in der Ausstellung gezeigte Kriegsgerät zu zerschlagen, und Ruhm jenen, die das fertigbrachten. Die Hauptsache aber – der endgültige Sieg – liegt noch vor uns. Und gerade daran, vor allem daran gemahnt uns die Ausstellung…“ Von meiner damaligen Stimmung zeugt auch ein Brief, den ich zwei Wochen nach meiner Rückkehr nach Moskau an die Eltern schrieb: „In Alma-Ata habe ich ununterbrochen gearbeitet. An die zehn Gedichte geschrieben, aber was die Hauptsache ist, zwei Drittel eines Romans über Stalingrad, an dem ich jetzt auch hier sitze, um ihn zu Ende zu schreiben. Etwa fünfhundert Seiten habe ich schon, es bleiben mir noch ungefähr Zweihundert. Dann muß ich aus dieser absoluten Rohfassung den mehr oder weniger endgültigen Romantext machen. Das ist das Wichtigste. Nach meiner Rückkehr bekam ich in Moskau zwei Medaillen – für Stalingrad und Odessa. Nun aber zu Eurem Kommen. Sicherlich erscheint Euch die Tatsache, daß alles um Euch abfährt, nur Ihr nicht, kränkend und ungerecht und vielleicht sogar unverständlich. Ich bin über diese gegenwärtige Massenwallfahrt nach Moskau jedoch nur zornig, gereizt und voller Staunen. Ein sehr schwerer Krieg
ist in vollem Gange. Er ist noch keineswegs zu Ende. Ein Vertrag darüber, daß die Deutschen Moskau nicht mehr bombardieren werden, gibt es nicht und wird es auch nicht geben. Und überhaupt wird uns der Krieg bis zu unserem unbedingten und endgültigen Sieg noch sehr schwere Prüfungen auferlegen. Mir will einfach nicht in den Kopf, warum die Rückführung von Familien nach Moskau in einem solchen Umfang erfolgt. Für meine Begriffe ist das sehr leichtfertig. Natürlich müßt Ihr selbst entscheiden! Und seid Ihr fest entschlossen und wollt nicht auf mich hören, werde ich es einrichten, daß Ihr nach Moskau kommt und hierbleiben könnt. Aber ich appelliere an Eure Vernunft. Jedenfalls solltet Ihr das vor dem Winter oder zumindest vor dem Spätherbst auf gar keinen Fall tun, das wäre nichts. Ich möchte Euch genausogern wiedersehen wie Ihr mich. Also schiebt die Sache nicht auf die lange Bank, steigt nach Erhalt dieses Briefes und der beigefügten Passierscheine in den Zug und fahrt los. Schreckt vor den Beschwernissen der Reise nicht zurück. Von hier werde ich Euch, so gut ich kann, wieder zurückbefördern. Ihr solltet aber nichts übers Knie brechen und Eure Arbeitsplätze nicht aufgeben, sondern nur das mitnehmen, was man für eine vierzehntägige Reise braucht. Jetzt, da sich uns endlich die Möglichkeit zu einem Wiedersehen bietet, da es in greifbare Nähe rückt, empfinde ich besonders stark, wie sehr ich mich nach Euch sehne. Also kommt möglichst bald. Wahrscheinlich werde ich im Zusammenhang mit meiner Arbeit an dem Roman unter allen Umständen bis zum
20. Juli ständig in Moskau sein…“
12 Ich glaubte, die Ruhe würde noch andauern und ich könnte den Roman beenden und meine Eltern wiedersehen. Aber es kam anders. Die Ruhe war beendet, noch bevor sie nach Moskau aufbrechen konnten; ich mußte ihnen in den Ural telegraphieren dortzubleiben, weil ich an die Front müsse. Darüber, wie das alles an einem Tag umgestoßen wurde, findet sich eine Aufzeichnung im Tagebuch. Am 5. Juli saß ich den ganzen Tag über meiner Arbeit, das Telephon hatte ich mit Kissen zugedeckt. Ich schloß gerade ein Kapitel ab. Spätabends kamen ein paar Freunde zum Abendessen. Um ein Uhr nachts klingelte plötzlich das Telephon. „Ich verbinde mit dem Redakteur!“ Dieser sagte ohne lange Vorrede: „Du fährst zur Zentralfront.“ „Wann?“ „Jetzt gleich. Der Wagen steht bereit, du wirst in zwei Stunden abgeholt. Chalip wird schon im Wagen sein. Der Fahrer hat deinen Marschbefehl.“ „Und wo soll ich mich dort melden?“ „Du brauchst nicht erst zum Stab der Front, fährst direkt zur 13. Armee, zu Puchow. Halte dich nicht lange auf. Du siehst dir das erste Geschehen an und kommst zurück. Lieferst die Berichte ab und fährst wieder los.“
„Was ist denn geschehen?“ „Was heißt ,was ist geschehen’? Heute früh sind die Deutschen im Abschnitt der Zentralfront und der Woronesher Front, im ganzen Kursker Bogen, zur Offensive übergegangen. Fahr los.“ Die Worte des Redakteurs wirkten auf mich, als wäre der Krieg von neuem ausgebrochen. Das war keineswegs logisch, aber ich hatte nun mal dieses Gefühl. Zwei Stunden später fuhren Chalip und ich los, wir legten vierhundertfünfzig Kilometer zurück und waren gegen Abend bereits im Gefechtsstand von General Puchow, dem Befehlshaber der 13. Armee, der in einem Dörfchen im Raum Maloarchangelsk-Ponyri-Olchowatka lag, wo die Deutschen ihren Hauptstoß von Norden her vortrugen. Noch in der Nacht sprach ich mit Puchow, dann fuhren wir noch vor Morgengrauen zur 75. Stalingrader Division unter General Gorischny, die gestern früh den Kampf aufgenommen hatte: Sie war aus der zweiten Staffel eingeführt worden, nachdem die vor ihr liegende Division beim ersten Ansturm der Deutschen zurückgedrängt und zerschlagen worden war… Das ist alles, was ich im Tagebuch über diese Tage festgehalten habe. Offenbar war ich nicht dazu gekommen, mehr aus meinen Notizbüchern umzudiktieren. Die Notizbücher aber besitze ich zum Teil noch: Puchow, Nikolai Pawlowitsch. Siebenundvierzig. Groß, schwer, kahlköpfig, unwahrscheinlich ruhig. Beendete den ersten Weitkrieg als Fähnrich. Im
Bürgerkrieg – Stabschef einer Division. Diesen als Divisionskommandeur begonnen. Dann gleich Armeebefehlshaber geworden. Führt die Armee seit Januar zweiundvierzig. Nach dem Abendessen trafen wir uns mit Aufklärern, die in der Nacht vom 4. zum 5. einen deutschen Pionier gefaßt hatten, der von einer bevorstehenden Offensive redete. Ich hatte mit den Aufklärern nach ihrer Auszeichnung zu Abend gegessen und erfuhr von einem folgendes: „Am 4. um 23.30 nahmen die Aufklärer einen Pionier gefangen, der vor der Offensive die Minenfelder entminen sollte. Sie stießen auf neunzehn Pioniere, sechzehn haben sie mit Messern und Handgranaten getötet, zwei konnten entkommen, einen haben sie gefangengenommen. Angesichts der Lage und des Urnstands, daß die Deutschen ihre Sperren räumten, verhörten sie den Pionier schon unterwegs. In gebrochenem Russisch erzählte er, der Angriff sei für drei Uhr angesetzt, was ich nach ein Uhr an Rokossowski weitergab. Für den Fall, daß die Deutschen angriffen, hatte ich schon seit geraumer Zeit einen Artilleriegegenschlag geplant – tausend Rohre. Kennwort ,Löwe’ – der eine Abschnitt, Kennwort ,Schneeleopard’ – der andere, Kennwort ,Sonne“ – Feuer aus sämtlichen Rohren. Der Frontoberbefehlshaber hatte mir erlaubt, mit dem Artilleriegegenschlag vor dem vermuteten Vorstoß der Deutschen zu beginnen. Bei einer Fehlinformation war es natürlich ein großes Risiko. Aber ein noch größeres Risiko wäre es gewesen, keine Maßnahme zu treffen.
Wir gaben das Kommando und legten das ganze Feuer auf den sich vor der Offensive versammelnden Gegner. Als er nach unserem Artillerieschlag doch das Feuer aufnahm, feuerten unseren Berechnungen nach von seinen Artillerieregimentern nur noch die Hälfte. Und anstatt um drei Uhr, griffen sie erst um fünf Uhr dreißig an.“ Bei der 75. Stalingrader Gardedivision unter General Gorischny. „Bis jetzt haben wir in diesen Tagen einhundertsechsundzwanzig Panzer vernichtet, und zwar, beachten Sie das, allein meine Infanterie und meine Artillerie. Nicht daß ich den Panzerleuten das Brot nehmen wollte, ich habe eigenes genug. Da trifft doch in einem kritischen Augenblick eine Panzerbrigade bei mir ein. Der Kommandeur macht Meldung, sagt: ,Melde mich zu Ihrer Verfügung’, aber er hatte vorwiegend leichte Panzer – T-70, während auf uns mehr als zweihundert deutsche Panzer zurollen. So hab ich auf seine Hilfe verzichtet und zu ihm gesagt: ,Warte einstweilen, warum die Brigade kaputtmachen. Wir werden es auch allein schaffen. Schließlich sind wir bewußte Menschen, eine leichte Brigade ist schon draufgegangen.’… Die deutsche Artillerie nimmt den Rand der Schlucht unter Feuer, in deren Hang unsere B-Stelle eingegraben ist. ,Die hauen mit einer ganzen Abteilung rein. Hole den Artilleriechef ran, der soll mir diese Abteilung mal anschneiden.’ ,Die Mulden dort vorn haben wir schon als Todesschluchten bezeichnet. Gestern sind die Deutschen durch diese Schluchten vorgerückt, dann sind sie in Deckung gegangen und haben auf ihre Panzer gewartet. Aber wir haben ihre Panzer mit unserem
Feuer zurückgehalten, und nun liegt ihre Infanterie da und wartet. Inzwischen haben wir eine Katjuschabrigade herangeführt und die Schluchten ordentlich eingedeckt.’ Man reicht dem General den Hörer, und er sagt zu dem Artilleriechef: ,Hör mal, Dalakaschwili, wie kannst du dulden, daß der Deutsche mich in meinem Gefechtsstand mit 150-mm-Granaten belästigt?’ Dann legt er den Hörer auf und macht über seinen Artilleriechef die Bemerkung: ,Das ist schon ein feiner Kerl, tapfer, diensteifrig. Er hat nur einen Fehler: sein georgisches Taktgefühl gegenüber den Leuten spielt ihm einen Streich. Taktvoll, wie er ist, will er keinen beleidigen; er traut sich nicht, Gesagtes nachzuprüfen. Aber mit Taktgefühl richten wir nichts aus.’ Das Gefecht wird merklich heftiger. Rechts und links feuert die Artillerie. Gorischny zeigt mir etwas auf der Karte. ,Tagsüber werden wir die Senke hier in Ruhe lassen, sollen sie ruhig reinkriechen. Das ist der beste Zugang zu uns. Je mehr am Tage dort reinkriechen, desto besser. Vorläufig rühren wir sie nicht an. Wir behalten sie nur im Auge. Aber am Abend halten wir dann mit den „Katjuschas“ rein. Wissen Sie, gestern abend sind die deutschen Sturzkampfbomber so dicht über uns hergefallen, daß einer versehentlich einen anderen bombardiert hat. Der hat sich buchstäblich in Staub aufgelöst, und ein Begleitjäger hat sich durch die Druckwelle erst in der Luft überschlagen und sich dann in die Erde gebohrt.“
Ihm wird gemeldet, ein Bataillonskommandeur sei gefallen. Er fragt, ob die Leiche zurückgebracht worden ist. ,Nun ja, errichten wir ihm einen Gedenkstein.’ ,Nur einen provisorischen, Genosse General, aus Holz, ein andrer ist nicht drin.’ ,Macht nichts. Sobald es möglich ist, stellen wir einen aus Marmor auf. Vorläufig kennzeichnen wir die Stelle wenigstens mit einem aus Holz, damit man weiß: Hier ist ein guter Mensch im Kampf gegen die Deutschen gefallen.’ Unvermittelt kommt er auf die Verluste am ersten Tag zu sprechen: ,Ich habe etwa zweitausend Mann verloren und achtundvierzig Panzer eingebüßt. Die Leute, ich sage Ihnen das geradeheraus, sind hinter den Kanonen gefallen, aber sie haben selber fünfzig deutsche Panzer erledigt.’ Die Ordonnanz kommt mit einem Kochgeschirr voller Milch. Sie hat eine in einem Gebüsch zurückgelassene Kuh gemolken. Wir trinken Milch. Auf einer Trage wird ein verwundeter Hauptmann am Gefechtsstand vorbeigetragen. Vom Korps wird gemeldet, über unseren Abschnitt kämen zweihundert eigene Flugzeuge, um die Deutschen zu bombardieren. Und wirklich, wenig später sind sie über uns. Der ganze Himmel ist wie besät von den Detonationswölkchen der deutschen Flaks. Die Deutschen nehmen das Feuer schon auf, wenn die Flugzeuge noch unsere Stellungen überfliegen, einmal, um sie rechtzeitig zu erwischen, und zum anderen, um sie im unklaren über den Verlauf der Hauptkampflinie zu lassen, damit unsere Flugzeuge
die Bomben auf die eigenen Leute abwerfen. Unmittelbar nach unserem Anflug folgt ein deutscher. Der erste war gegen Morgen um fünf, der zweite um neun. Das ist nun schon der dritte. Der Panzerangriff beginnt. Die deutsche Artillerie nimmt wieder unsere Schlucht unter Feuer. Wie die Meldungen besagen, rollen – nicht immer in unserem Sichtfeld – zweihundertfünfzig Panzer auf den Abschnitt der Division zu. Gorischny sagt: ,Gestern haben wir uns mit der 31. Panzerdivision geschlagen. Wir haben sie gestern sicherlich so gut wie kampfunfähig gemacht. Ich bin neugierig, mit wem wir es jetzt zu tun bekommen.’ Dann teilt er einem Regimentskommandeur über Fernsprecher mit: ,Borissow, bei dir wird’s gleich lustig hergehen, kriegst die Möglichkeit, dich auszuzeichnen.’ Dann ruft er bei einem anderen Regiment an: ,Sluzki, wie steht’s bei Ihnen? Ausgezeichnet?… Was heißt ausgezeichnet? Warten Sie ab, geben Sie sich nicht zu früh Zensuren, melden Sie die Lage.’ Eine Stunde später meldet der gleiche Sluzki, vor seinem Abschnitt seien achtundzwanzig Panzer abgeschossen worden und ausgebrannt. Wieder kommen Junkers’. Eine wurde getroffen. Eine Rauchfahne hinter sich herziehend, kommt sie herunter. Der Pilot ist abgesprungen, aber der Wind treibt ihn ins dichteste Kampfgetümmel. Unsere .Boston’ ziehen über unsere Köpfe. Die deutsche Flak hat einen abgeschossen, offenbar Volltreffer. Keiner abgesprungen. Die Maschine kam wie ein Stein herunter.
Den Meldungen zufolge wurden an dem Tag achtundfünfzig Panzer getroffen, die ausgebrannt sind, und dabei ist es noch nicht Abend. Der Panzerangriff ist im Sand verlaufen. Eine lange Pause tritt ein. Nur die Artillerie feuert von allen Seiten. Um sechzehn Uhr bombardieren uns die Deutschen wieder. Um sechzehn Uhr dreißig erwidern wir den Luftangriff. Um siebzehn Uhr sind sie wieder dran. Um achtzehn Uhr aber springen zwölf Fallschirmjäger direkt über der Frontlinie ab. Sie werden vom Wind hinter die Frontlinie zurück zu den Deutschen abgetrieben. Was das wohl zu bedeuten hat? Ausgehend von diesem bei Tage unternommenen Versuch der Deutschen, Fallschirmjäger abzusetzen, kann man nachts einen Diversionstrupp erwarten. Es erfolgt der Befehl, sich darauf gefaßt zu machen. Eine neue Meldung, wonach dreißig Panzer unsere rechte Flanke angreifen. Ringsum dröhnt und kracht es. Schon zum zweitenmal kämmen die Deutschen aus der Luft die Frontlinie durch mit dem Ziel, unsere Panzerabwehr niederzuhalten. An der rechten Flanke wird man nervös, bittet um Feuerunterstützung durch schwere ,Katjuschas’. Gorischny aber lehnt ab: ,Damit wollen wir noch warten.’ Zu mir gewendet, sagt er: ,Das ist nicht der erste und bestimmt auch nicht der letzte Kampftag. Wir brauchten eine Buchhaltung, um herauszukriegen, was teuerer und was billiger ist’ Er ruft beim Korps an und bittet um Luftunterstützung. Zwanzig Minuten später fliegen unsere Kampfflugzeuge auf die Deutschen zu. Fast zur
gleichen Zeit greifen die Deutschen unseren Gefechtsstand aus der Luft an. Die Einschläge liegen immer näher, es ist kaum noch etwas zu verstehen. Der Telephonist schreit laut, aber ohne nervös zu werden, silbenweise in die Muschel: ,Ei-nen Mo-ment, kann nichts ver-ste-hen.’ Das Bombardement erwähnt er nicht, das ist sowieso klar. Weitere Meldungen über abgeschossene und in Brand gesteckte Panzer treffen ein. ,Für heute scheint sich die Lage etwas zu entspannen’, meint Gorischny. ,Wieso? Hast du etwa kein Gespür dafür?’ Ich schweige. Offen gesagt, merke ich noch nichts davon. Zumal jetzt nicht, wo mir der Bombenangriff in die Glieder gefahren ist. Von der linken Flanke wird gemeldet, weitere vierzehn deutsche Panzer seien bewegungsunfähig geschossen worden. Wieder fliegen ,Bostons’ über uns hinweg auf die Deutschen zu. Langsam wird es dunkel. Wäre es doch erst Nacht! Faßt man die verschiedenen, im Laufe des Tages eingetroffenen Meldungen zusammen, sind insgesamt einhundertzwanzig deutsche Panzer vernichtet worden. Gorischny wiegt den Kopf: ,Bißchen viel! Das ist ja doppelte Buchführung. Die Zahl kann man ruhig durch zwei teilen. Nach dem Kampfverlauf spüre ich, daß wir sechzig abgeschossen haben, die mit Sicherheit. Möglicherweise siebzig, aber mehr kaum.’ Es wird immer dunkler, und das Gefecht klingt mehr und mehr ab. Gorischny trinkt den Rest der Milch, er schweigt. Dann sagt er unvermittelt: ,Wir waren noch während der Kampfpause hier eingetroffen. Die Deutschen hatten das rausbekommen und warfen
Flugblätter ab. Darin hieß es unter anderem: >Dem deutschen Oberkommando ist bekannt, daß die Stalingrader Banditen an der Zentralfront eingetroffen sind. Bald werden wir uns begegnen!< Nun ja, jetzt sind sie uns begegnet.’ Er sagt das nachdenklich, ohne jede Herausforderung, konstatiert einfach eine Tatsache, die sich so hat ergeben müssen. Dann erinnert er sich auf einmal: ,Übrigens war es unsere Division, die in Stalingrad, in der Nähe der Fabrik >Barrikady<, den letzten Schuß abfeuerte.’ Man übergibt ihm Berichte, aber er hält sie in der Hand, ohne einen Blick darauf zu werfen, und er denkt wohl nicht mehr an den heutigen, sondern schon an den morgigen Tag. Dann sagt er müde zu mir: ,Die Nächte sind so kurz, ich kann nicht gleich einschlafen. Tagsüber bin ich dann manchmal so müde, daß mir nur Koffein hilft…’„ Diese Eintragung im Notizbuch – es ist die zusammenhängendste – vermittelt eine gewisse Vorstellung von jenem ersten Tag bei Gorischnys Division, wo ich mich vom Morgen bis zum Abend in der B-Stelle aufhielt. Die Eintragungen über die nächsten Kampftage im Kursker Bogen sind auf verschiedene Notizbücher verstreut. An einem dieser Tage verließen Chalip und ich in aller Frühe Gorischnys Division und fuhren an einen Ort bei Ponyri, wo an diesem Tage besonders heftige Kämpfe im Gange waren. Dort hielten wir uns in dem Abschnitt der 307. Schützendivision unter General Jenschin und der Panzerbrigade von Oberst Petruschin auf. An Einzelheiten dieses Tages kann ich mich nicht
erinnern. Alles ging an diesem Tag drunter und drüber, und mehrmals hatte es den Anschein, daß wir nicht mit heiler Haut davonkämen. Noch gut kann ich mich an das Bild des umkämpften Ponyri erinnern: zerschossene Bahnhofsgebäude, wie ein Finger aufragend eine unversehrte Wasserpumpe. Nachts kehrten wir wieder zu Gorischnys Division zurück und hielten uns dort noch zwei oder drei Tage auf. In den Notizbüchern geht alles wirr durcheinander: Die tagsüber vorgenommenen Eintragungen in der B-Stelle bei Gorischny und die von der Nacht, wenn ich mir bei den Regimentern und Bataillonen die Eindrücke der Soldaten über das Geschehen dieses Tages notierte. Chalip schlief nachts in der B-Stelle, weil er nicht photographieren konnte. Dafür riskierte er bei Tage viel mehr als ich, denn er wollte möglichst viele in der Hauptverteidigungslinie bewegungsunfähig geschossene und ausgebrannte „Tiger“ und „Ferdinands“ vors Objektiv bekommen. Die von mir nachts bei den Regimentern gemachten Notizen vermitteln bei allem Durcheinander und aller Bruchstückhaftigkeit doch eine gewisse Vorstellung von der Anspannung, in der sich die Männer Tag für Tag befanden: Stas, Pjotr Sergejewitsch, Sibirier; vor der Armee Schlosser, Panzerbüchsenschütze. „Vor dem Gefecht wurde ich in die Partei aufgenommen. Natürlich hab ich geschworen, mich zu bewähren. Die Gräben taugten nichts, sie waren zu flach. Ich habe immer eine große Schaufel bei mir. Die hab ich nie weg-
geworfen. Ein Panzerbüchsenmann braucht so etwas. Gut, daß man uns schon früher mit Panzern überrollt hat, da war ich noch in der Ausbildung. Erst aus zweihundert Metern eröffnete ich das Feuer auf den ersten Panzer. Es war ein mittelschwerer. Mit dem ersten Schuß brachte ich ihn zum Stehen, mit dem zweiten hab ich ihn in Brand gesetzt. Die Deutschen sind rausgesprungen, und unsere MPi-Schützen haben sie niedergemäht. Die Tiger’ unterscheiden sich stark von den übrigen Panzern. Auf die hab ich auch von der Seite und von hinten draufgehalten – da geht nichts durch! Ich habe auch noch einen Kampfwagen abgeschossen. Als er fuhr, hab ich ihn nicht getroffen, aber als er stehenblieb, hab ich ihn in Brand gesetzt…“ Soldatenscherze über die „Katjuschas“. Beim Abnehmen der Schutzhüllen: „Katjuscha hat die Hosen ausgezogen und donnert los!“ Beim Abschuß: „Katjuscha pustet den Deutschen die Ohren durch, die haben einen Pfropfen drin!“ Sulejmanow, Gebiet Ksyl-Orda, Jahrgang vierundzwanzig. Sein erstes Gefecht. „Ich dachte, die Panzer wären schrecklich. Nein, so schrecklich sind sie nun auch wieder nicht. Unsere gingen zurück, die deutschen Panzer hinter ihnen her, so an die zwanzig. Mein Schütze Zwo war ein altes Männlein. Er wurde verwundet, kam ins Lazarett. Ich stand allein mit der Panzerbüchse da, trotzdem habe ich gekämpft.“ Als wir uns eine anstecken, hält er auf einmal eine Ansichtskarte in der Hand, Kasachisch beschrieben. Wie ein Kind sagt er: „Mutti hat geschrieben.“
Fjodor Andrejewitsch Modshonok, aus der Region Primorje, Fernöstler. Neunzehn Jahre. Ausgezeichneter Schütze, Schütze Eins an einer Panzerbüchse. Am 7. eine „Junkers“ runtergeholt. „Nacheinander kamen sie im Sturzflug an. Wir feuerten, erwischten sie aber nicht. Als sie sich wieder hochschwangen, drehte mir einer die Seite zu. Ich hielt drauf – und traf. Genau auf den Punkt – mit der 21. Patrone. Und sie ist aus dreihundert Metern abgestürzt.“ Saidow, Usbeke aus Tschardshou. Sanitätsinstrukteur. Zum erstenmal im Gefecht. „Als wir zurückgingen, hab ich gerade einen Verwundeten verbunden. Dann sah ich eine Kanone, die ein Oberleutnant bediente, allein. Ich bin hin zu ihm. Zusammen haben wir einen Panzer in Brand geschossen. Den Oberleutnant hat es erwischt. Er ist zu einem Erdbunker gekrochen. Ich habe weitergeschossen. Zuvor war ich fünf Monate auf einem Lehrgang. Ich bin Sanitätsinstrukteur geworden, weil ich vor der Armeezeit Feldscher war. Mit dem vierten Schuß habe ich einen Panzer getroffen. Dann hatte ich keine Granaten mehr! Der Oberleutnant hatte es nicht bis zum Erdbunker geschafft. Ich hab ihn reingeschleppt und verbunden. Eine Weile habe ich herumgesessen und gewartet. Dann sind Soldaten gekommen, zusammen haben wir die Kanone weggeschleppt. Die Kanone und der Oberleutnant sind nicht von unserer Einheit gewesen, sondern von einer anderen…“ Pjotr Nikitowitsch Plotnikow. Aus der Altai-Region. Oberleutnant. Kommandeur einer 120-mm-Granatwerferbatterie. „Bei einem heftigen Luftangriff fielen vier Granatwerfer aus, aber wir
mußten doch schießen, und so ließ ich Teile auswechseln, und aus vier kaputten Granatwerfern haben wir an Ort und Stelle zwei zusammenmontiert. Anderthalb Stunden hat’s gedauert. Dann haben wir mit ihnen weitergefeuert…“ Obwohl schon Oberleutnant, ist er noch ein richtiger Junge, erst neunzehn. Ein junger Mann, als neunundzwanzigjähriger wird er sich an all das zurückerinnern. Sergeant Pjotr Michailowitsch Popow. Uraler, aus Slatoust. Jahrgang vierzehn. Geschützführer einer Regimentspanzerabwehrbatterie. „Von links kam ein ,Tiger’ und nahm uns unter Beschuß. Kusnezow, den Ladeschützen, hat ein Volltreffer erwischt und in Stücke gerissen. Und dem Richtschützen Tschebotarew hat es ein Bein weggerissen. Er konnte gerade noch sagen ,Petja, räche mich’, dann war er tot. Einen Holm hat es abgeknickt, aber mich hatte es nur in die Luft geschleudert, ich hatte eine Quetschung an der Hüfte. Es war keiner mehr da, um die Kanone herumzudrehen, weil die andere Bedienung nach Munition unterwegs war. Ich schleppte den Toten vom Holm weg, holte vier Granaten ran und schoß. In dem Augenblick kam der Munitionsträger Koshulin mit Granaten. Ich schickte ihn nach neuer Munition und blieb allein. Da rollten mittelschwere Panzer in einem neuerlichen Angriff ran. Ich hatte keine panzerbrechende Munition mehr. Es war sinnlos, auf den Turm zu schießen. Ich schoß auf die Ketten. MPi-Schützen sprangen von dem bewegungsunfähigen Panzer ab und stürmten vor. Ich lud. In dem Moment bekam ein Rad der Kanone was ab, und damit war sie hin. Ich nahm die Visiereinrichtung ab, griff mir die MPi und
ging zu den Unseren. Später, gegen Ende des Gefechts, feuerten wir noch mit einer 76-mm-Kanone, die ich nicht kannte, sie war stehengelassen worden. In unsrer Batterie sind gleich in den ersten Minuten, gleich am Anfang, zwei Kanonen ausgefallen.“… Soldaten unterhalten sich über den Divisionsbefehl, wonach in dieser Nacht Fallschirmspringer zu erwarten sind. Sie stellen Vermutungen an, ob sie nun kommen werden oder nicht…… Ein Bataillonskommandeur hat erwähnt, er sei Moskauer. Ich mache ihm das Angebot, einen Brief von ihm nach Moskau mitzunehmen, da ich in ein paar Tagen dort sein würde. Er lehnt ab. „Ich könnte auch so nach Moskau schreiben, aber ich will nicht.“ – “Warum denn nicht?“ – „Ich habe dort noch die Angehörigen meiner Frau, und sie ist heute umgekommen.“ Dann schweigt er. Er verliert kein Wort mehr über seine Frau. Was war sie? Funkerin? Krankenschwester? Sanitäterin? Bis dahin hatte er den Tod seiner Frau mit keiner Silbe erwähnt, er hatte nur seine Soldaten aufgezählt, die sich im Gefecht auszeichneten… … Ein Postholer, ein kleiner, intelligent aussehender Mann mit Brille, kommt. „Briefträger, he, Briefträger, ist was für mich dabei?“ – “Hier ist einer für dich!“ – „Danke! Bis morgen abend warten ist verdammt lang.“ Sie machen ihre Witzchen, lassen sich nichts anmerken, dahinter verbirgt sich aber doch der Gedanke: Ob man den noch erlebt? Der Politstellvertreter der Division, Ilja Archipowitsch Wlassenko, der uns zum Regiment begleitet hat, erkundigt sich beim Regimentskommandeur: „Na, wie hältst du dich, Jura?“ – „Gut.“ – „Dann ist’s
ja in Ordnung. Wetzt die Scharte wieder aus.“ – „Was für eine Scharte denn, Genosse Oberst? Die ist doch schon ausgewetzt.“ – “Wie das?“ – „Na soeben. Vom zweiten Bataillon kam die Meldung, der Zigeuner war wieder da.“ – „Flunkerst du auch nicht?“ – „Gott bewahre.“ – „Na, und wo ist er? Wo ist dieser Zigeuner? Hast du ihn selber gesehen?“ – „Nein, noch nicht, ich verlaß mich auf die Meldung.“ – „Überzeug dich lieber mit eigenen Augen, und mach mir dann noch mal Meldung. Erst dann werd ich es auch glauben. Erst dann ist die Scharte ausgewetzt“, sagt Wlassenko und erklärt mir: „Der einzige Deserteur in der letzten Zeit im ganzen Regiment war in seinem zweiten Bataillon. Das ist die Scharte. Und jetzt beteuert er mir, der war wieder da. Kann ja sein, daß es stimmt…“… Der Regimentskommandeur Makowezki ging nachts in die Hauptverteidigungslinie, um anzuweisen, wo zusätzliche Minenfelder zu legen wären. Da kommt ihm ein Mann entgegen. „Halt! Wer da?“ Der andre auf deutsch: „Halt!“ und hebt auch schon die Hände. Ein „Fritz“ also. Dieser vom Regimentskommandeur gemachte Gefangene wurde anstatt zum Stab direkt zur Sanitätsstelle gebracht, er war verwundet. Der Adjutant des Regimentskommandeurs brachte ihn aus eigenem Antrieb hin. Ohne den Gefangenen kam er zum Gefechtsstand zurück. „Wo ist der Gefangene?“ fragt Makowezki. „Ich reiß dir den Kopf ab! Wo ist er?“ Der Leutnant rennt zurück zur Sanitätsstelle. Dort sitzt eine ganze Reihe Verwundeter, sie warten darauf, verbunden zu werden, und mitten unter ihnen der Deutsche. Alle sind nach dem Kampf so erschöpft, die Verwundungen
machen ihnen zu schaffen, daß keiner den Deutschen bemerkt hat… Das wären alle Eintragungen in meinen Notizbüchern, die in jenen kurzen Julinächten bei den Regimentern und Bataillonen von Gorischnys Division gemacht wurden. Nach der Zeitschriftenveröffentlichung meldete sich von allen Soldaten bisher nur der neunzehnjährige Fernöstler, der mir erzählt hatte, wie er mit seiner Panzerbüchse eine „Junkers“ heruntergeholt hatte: „Konstantin Michailowitsch, entschuldigen Sie bitte, daß ich Ihnen diesen kurzen Brief schreibe, aber ich bin dazu gezwungen. Unsere Pioniere und Schüler erforschen das Leben von Kriegsteilnehmern, und dabei bin ich in eine etwas peinliche Situation geraten: Eine Schülerdelegation kam zu mir und wollte etwas über den Krieg hören, ich erzählte ihnen von der Schlacht im Kursker Bogen, und da fragte mich einer der Jungen: Haben Sie auch Simonow gesehen? Ich sagte nein, ich hätte ihn nicht gesehen. Da reichte er mir die Zeitschrift ,Drushba Narodow’ Nr. 5, schlug die Seite 53 auf und las Ihre Zeilen über mich vor, wo es heißt, ich hätte im Raum Ponyri mit einer Panzerbüchse ein deutsches Flugzeug abgeschossen. Ich habe in meiner Erinnerung gekramt, und da fiel mir ein, daß damals ein Offizier mit einer Kartentasche zu uns in den Graben kam und uns nach dem Kampfverlauf an diesem Tage befragte. Die Kinder wollten wissen, was er anhatte, wie groß er war und vieles andere mehr. Ich erzählte ihnen, Sie seien damals Hauptmann oder Oberleutnant gewesen, so genau weiß ich das nicht mehr,
hätten eine Offizierskartentasche dabeigehabt, wären mittelgroß und braungebrannt gewesen. Ein paar Worte über mich: Das Kriegsende erlebte ich hinter Berlin in Rokossowskis Truppen, dreimal wurde ich verwundet, einmal hatte ich eine Gehirnerschütterung, ich habe zwei Orden des Vaterländischen Krieges und viele Medaillen bekommen. 1947 wurde ich demobilisiert und kehrte dann in mein Heimatdorf in der Region Primorje zurück, heute bin ich in der Landwirtschaft tätig, die Kinder sind schon aus dem Haus, meine Frau und ich sind wieder allein, gesundheitlich geht es mir so weit ganz gut, im Dezember 1974 habe ich meinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Mir ist vieles wieder in den Sinn gekommen. So hab ich am nächsten Tag einen Panzer und eine ferngelenkte Sprengladung, einen ,Goliath’, abgeschossen, die der Deutsche damals bei Ponyri zum erstenmal eingesetzt hat. Mein Schütze Zwo Wladimir Sergejewitsch Semjonkow hat den Krieg gleichfalls überlebt, wir stehen in Briefwechsel. Hochachtungsvoll Fjodor Andrejewitsch Modshenok, Bewohner des Fernen Ostens, Region Primorje, Kreis Schkotowo, Dorf Petrowka“ Über diesen Brief habe ich mich gefreut. Wir machten damals unsere Notizen nachts, in aller Eile, sozusagen mit dem Tastsinn. Die Gesuchten wurden nicht gefunden, weil sie gefallen waren, aber weil ich die Namen und Vornamen ungenau notiert oder meine damaligen Eintragungen später nicht richtig
entziffert hatte. Auch in diesem Fall hatte ich nur einen Buchstaben falsch geschrieben, Modshonok statt Modshenok, Er wiederum hat mich vom Oberstleutnant zum Hauptmann degradiert. Das eine wie das andere nimmt nicht wunder – wir standen im Graben, es war Nacht, und unser flüchtiges Gespräch währte nur ein paar Minuten. Die damals bei den Regimentern, hauptsächlich nachts gemachten Aufzeichnungen wechseln mit Eintragungen, die ich tagsüber in der B-Stelle des Divisionskommandeurs notierte. „Wie steht es bei dir, Makowezki?“ – „Ganz gut.“ – „Das erste Wort lassen wir weg. Bleibt also ,gut’. Und jetzt kannst du beweisen, was gerade bei dir gut ist. Wieviel Infanteristen habt ihr erschossen?“ – “So an die zwei Kompanien.“ – „Bißchen wenig. Ich verlange von dir, daß keiner von der ganzen Infanterie, die in die Schlucht gesickert ist, wieder herauskommt. Weder nach vorn noch nach hinten. Bereite Granatwerferfeuer vor auf den hinteren Ausgang aus der Schlucht und warte, bis sie auf dem Rückweg auftauchen.“ Die deutsche Infanterie aber rührt sich vorläufig nicht aus der Schlucht heraus, sie wartet. In der gleichen Schlucht sind etwa dreißig Panzer in Deckung gegangen. Es wird gemeldet, die Flieger hätten um 02.30 Uhr fünf davon in Brand gesetzt. Von der B-Stelle der Flieger wird gemeldet, unsere Flugzeuge flögen in drei Gruppen: die eine feuert auf die Infanterie, die zweite auf die Panzer, und die dritte ist weiter in die Tiefe eingedrungen. Der Adjutant erläutert jemandem per Telephon: „Hier spricht
Papas Söhnchen.“ Der Chef der operativen Abteilung kommt von Makowezkis Regiment zurück. „Na, wie sieht’s bei Makowezki aus?“ fragt Gorischny. „Wie immer, die lassen sich nicht aus der Ruhe bringen.“ „Ein Lob dem 86. Gardegranatwerferregiment“, sagt Gorischny aufgeräumt. „Sechzig Flugzeuge über ihm in der Luft, und die’ beziehen eine offene Feuerstellung und ballern drauflos. Mein Kompliment! Prima Jungs!“ Man kann sehen, wie die Raketengeschosse einschlagen. „So laß ich mir das gefallen, jetzt sind die Geschenkpäckchen abgegangen“, sagt Gorischny, „ein schönes Lied!“ Gorischny hält das Fernglas an die Augen. Dann reicht er es mir. „Sehen Sie die Höhe dort vor ups? Während Sie bei den Panzerleuten waren, hat er mit Flugzeugen dort einen Höllenzauber veranstaltet. Jetzt gehört die Höhe weder uns noch ihnen. Aber was ist von der Höhe noch übrig? Dort steht nicht mal mehr ein Grashalm.“ Es kommt die Meldung, die Deutschen stellten sich an der linken Flanke zu einem Panzerangriff bereit. „Soll angeblich ein harter Brocken sein – an die hundert Panzer. Na, da werden die Beobachter wohl wieder übertrieben haben, nehmen wir also siebzig an…“ Dann erteilt er den Artilleristen Befehle. „Wenn die ankommen, veranstalte ich ihnen einen herzlichen Empfang.“ Zwei Stunden nach Beginn des deutschen Panzerangriffs meldet Major Sluzki von der linken Flanke, der Angriff sei abgeschlagen. „Nun ja“, meint Gori-
schny zufrieden, „heute hat das Zusammenwirken zwischen Infanterie, Panzern und Fliegern geklappt. Und warum? Weil man sich gestern den ganzen Abend auf die Ziele eingeschossen hat. Mich freut besonders, daß sich die Waffengattungen nicht übereinander beschweren.“ Auf dem Höhepunkt des Geschehens ruft Wlassenko bei den rückwärtigen Diensten der Division an und verlangt, daß das Wasser gechlort wird. Das Fazit des heutigen Tages wird gezogen. 63 Panzer wurden zerstört und ungefähr ein deutsches Infanterieregiment aufgerieben. „Staatsanwalt, he, Staatsanwalt“, foppt Gorischny den Staatsanwalt der Division, der in der B-Stelle aufgetaucht ist. „Gestern abend habe ich dich gesehen und gleich gemerkt, daß du deine hundert Gramm intus hattest. Und hab mich gefreut.“ – „Wieso denn gefreut?“ – “Na wenn der Staatsanwalt seine hundert Gramm schon gekippt hat, heißt das, bei uns ist alles in bester Ordnung, keine Verstöße, und die Division hat bis zum letzten Mann die zustehenden hundert Gramm gekriegt. Hab ich recht oder nicht?“ Gorischny wendet sich an den Stellvertreter für die rückwärtigen Dienste, der gegen Abend in die B-Stelle kommt. „Kontrollier in den Regimentern, wie es mit Verpflegung und Wodka aussieht. Halt dir vor Augen, solange du mir nicht meldest, daß die Soldaten trotz der Nachtstunde ihren Wodka gefaßt und was Warmes gefuttert haben, mache ich meinen Koffer nicht auf. Und dabei hab ich heute selber verdammte Lust, hundert Gramm zu kippen.“ Gegen Abend flaut die Spannung ab. Der Tag geht
mit Späßen zu Ende, aus denen vieles spricht – Zufriedenheit und auch die Müdigkeit. In meinen Notizbüchern fand ich es zwar nicht, aber ich erinnere mich sehr gut an jenen Morgen, an dem die Deutschen die Offensive im Abschnitt der 75. Gardedivision einstellten. Wir saßen in der B-Stelle und erwarteten, daß es jeden Moment wieder losginge. Warteten eine Stunde, noch eine… Dann sagte Gorischny auf einmal einen Satz, der mir im ersten Augenblick recht merkwürdig vorkam: „Ich fürchte, bei mir kommen die heute nicht mehr.“ Ich verstand nicht und bat um eine Erklärung. Und da setzte er mir in aller Ruhe auseinander, daß seine Division heute von acht Artillerieregimentern unterstützt werde, und je mehr angreifende Deutsche er niedermache, desto leichter sei es später, wenn er selber angreifen müsse. Diesen Morgen und diesen Satz hab ich mir gemerkt, weil er sich mit dem plötzlich aufkommenden und verstärkenden Gefühl verband, daß die Deutschen gegen uns nichts mehr ausrichten konnten. Ich konnte es ebensowenig fassen wie viele andere auch, die den für uns so schrecklichen Sommer einundvierzig und dann den fast ebenso schrecklichen Sommer zweiundvierzig durchgemacht hatten, daß wir, die ehedem von den Deutschen zurückgedrängt und vor sich hergetrieben wurden, daß wir sie auf einmal besiegen konnten. Jetzt war keine Spur dieses Gefühls mehr vorhanden. Daß die Deutschen gegen uns nichts mehr ausrichten konnten und wir sie schlugen, erschien uns nun völlig in Ordnung. Nachdem wir zu der Überzeugung gelangt waren, daß
die Offensive der Deutschen im Abschnitt der 75. Gardedivision entweder abgeblasen oder unterbrochen war, wollte ich auf Weisung des Redakteurs hin nach Moskau zurückkehren und meine Berichte schreiben. Zuvor aber wollte ich mit Chalip noch einmal in den Raum Ponyri zu Petruschins Panzerbrigade. Ich wollte dort noch weiteres Material für eine Reportage über die Panzerleute sammeln; während der relativen Ruhe schrieb ich den Bericht des T-34-Kommandanten, Alexej Jerochin, über sein erstes Zusammentreffen hier vor Ponyri mit den neuen schweren Panzern und Sturmgeschützen der Deutschen. Jerochin, Alexej, dreiundzwanzig, Vollwaise, aufgewachsen im Kinderheim. Panzerkommandant. Empfindet Genugtuung, da er „Ferdinands“ in Brand schießen konnte, die am ersten Tag der Kämpfe unverwundbar schienen. „Am ersten Tag der deutschen Offensive, es war schon gegen Abend, bezogen wir die Ausgangsstellungen für einen Gegenangriff. Ich war das erste Fahrzeug in der Spitzeneinheit. Die Artillerie feuerte, aber von deutschen Panzern war nichts zu sehen. Ich stellte den Panzer ins Gebüsch und ging in den Graben zur Infanterie, ich wollte fragen, was die beobachtet hätten. Das sollte einem nicht peinlich sein – die Infanterie sieht nun mal besser als wir. Wir haben nur den Schlitz in der Panzerung, und die haben die ganze Welt vor Augen. Wir hatten kaum ein paar Worte gewechselt, als es links, wo mein Panzer stand, heftig knallte, es hörte sich wie ein Abschuß an, und ich sah eine Staubfahne aufsteigen. Und gleich drauf
noch mal. Wie ich zum Panzer rannte, hörte ich einen dritten Schuß, sah wieder den Staub aufwirbeln, und ein Geschoß schlug hinter uns in die Mauer des Bahnhofsgebäudes. Jetzt war mir klar, daß da der Deutsche schoß, und der Staub kam daher, daß er im direkten Beschuß feuerte und die flache Flugbahn den Staub von der Erde aufwirbelte. Ich sprang in den Panzer, und wir entfalteten uns. In dem Moment schlug eine vierte Granate in nächster Nähe im Gebüsch ein. Ich erhob mich im Turm, und da sah ich auch schon von hinten unsere Panzer rankommen und vorn einen deutschen Kampfwagen, der hinter einer Hügelkuppe auftauchte. Ob Panzer oder nicht, jedenfalls ein riesiger Kasten! Das war schon daran zu merken, wie die Geschosse flogen, der hatte entsprechend was drauf! Der Panzerschütze Stepanenko und ich schätzten die Entfernung tausendvierhundert Meter, also drauf! Ich gab den ersten Schuß ab und traf den Deutschen auf Anhieb frontal. Ich merkte aber, das brachte nichts ein. Er qualmte nicht und blieb nicht stehen, er zog sich nur langsam hinter den Hügel zurück. Der zweite Schuß ging daneben, den dritten knallte ich ihm wieder auf die Stirnseite. Und wieder ohne Ergebnis. Da manövrierte ich im Gebüsch, baute mich so auf, daß ich ihn mehr seitlich bekam, und feuerte Granate um Granate ab. Im Rückwärtsfahren drehte er, und meine Granaten trafen ihn unter einem immer günstigeren Winkel. Nach der sechsten Granate loderte er zwar nicht auf, aber eine dünne Qualmsäule stieg hoch. Ich kämpfe nun schon das dritte Jahr, inzwischen
habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, auch wenn ich einen Panzer getroffen habe, solange weiterzuschießen, bis er in Flammen steht. Bevor der Deutsche hinter der Kuppe verschwand, knallte ich ihm noch fünf Granaten drauf. Aber erst nach mehreren Minuten sahen wir hinter der Kuppe eine Qualmsäule aufsteigen… Wir gaben per Funk nach hinten durch, daß der Weg einstweilen frei war…“ Ich überschlage einige Stellen mit weiteren Einzelheiten dieses Gefechts, bei dem „riesigen Kasten“ hatte es sich um ein deutsches Sturmgeschütz „Ferdinand“ gehandelt, das nun im Niemandsland vor unserer vordersten Linie stand. Und nun der Schluß von Jerochins Bericht: „Zur Nacht hin wurde alles still. Wir rauchten hinter der Hand, und dann wollten der Panzerschütze und ich uns dieses deutsche Wunder aus der Nähe besehen. Mich interessierte es doch sehr. Bei einem späteren Gefecht hatte ich das Gefühl, auf kurze Entfernung die Seitenwand durchschossen zu haben. Bei diesem ersten aber war ich mir nicht sicher. Mir war, als hätte ich die Panzerung nicht durchschossen. Aber wieso war er dann in Flammen aufgegangen? Wie kam das? Das wollte ich vor dem Gefecht am nächsten Tag unbedingt rauskriegen. Wir schlichen uns in der Nacht hin, und stellen Sie sich vor, was wir da sahen: Keine einzige meiner Granaten hatte ihn durchlöchert! Trotzdem war er ausgebrannt. Genau in der Mitte, ein Stück über dem Fahrwerk, hatten sich vier meiner Geschosse nebeneinander in die Panzerung gebohrt und eine faustgroße Delle hinterlassen,
hatten sie aber nicht durchschlagen. Woran lag das? Wir stiegen durch die hintere Luke ein, und dann ging uns ein Licht auf: Hinter der Stelle, auf die ich geschossen hatte, waren die Reservekraftstoffbehälter verankert. Und als ich mehrere Male die gleiche Stelle getroffen hatte, war offenbar durch die Gewalt des Aufschlags, durch die Detonation, der Kraftstoff in Brand geraten. Deshalb hat sich zuerst nur schwacher Qualm gezeigt – die Wanne ist dicht, ein Einschußloch gibt es nicht, der Qualm hat sich einen Weg gesucht, und erst dann ist die Fackel aufgelodert! Stepanenko und ich haben die ganze Panzerung abgetastet und uns überzeugt, daß da frontal nichts auszurichten ist, aber von der Seite, aus Nahdistanz, läßt sich schon was machen, und wenn man die Stelle trifft, hinter der die Reservebehälter sind, kann man ihn auch aus größerer Entfernung in Brand schießen… Nebenbei bemerkt hat es den Vorgesetzten am ersten Tag nicht gefallen, daß wir die neuen deutschen Kampfwagen ,Tiger’ und ,Panther’ nannten; sie meinten, wir würden uns damit selber Angst machen! Man hat uns runtergeputzt. Warum denn ,Tiger’ und ,Panther’?! Bezeichnet sie einfach nach den Marken: T-V, T-VI und ,Ferdinand’. Als wir sie aber später in Brand schossen, wurde über die Namen nicht mehr diskutiert. Wenn er schon ,Tiger’ heißt, dann nennen wir ihn eben ,Tiger’! Hört sich sogar besser an, daß man einen ,Panther’ oder einen ,Tiger’ abgeschossen hat – als war man nicht an der Front, sondern in Afrika.“
Lese ich jetzt mit einem größeren zeitlichen Abstand Jerochins Bericht über sein erstes Zusammentreffen mit einem „Ferdinand“ und halte Rückschau auf jene Tage, die die Wende brachten, möchte ich daran erinnern, welch große Hoffnungen die deutsche Führung mit diesem ersten Masseneinsatz der neuen Kampfwagen verknüpfte. „Meine Soldaten! Endlich habt ihr Panzer, die denen der Russen überlegen sind!“ heißt es in einem Aufruf Hitlers an die Soldaten vor der Schlacht im Kursker Bogen. „Der gewaltige Hieb, der den sowjetischen Armeen versetzt wird, muß sie bis auf den Grund erschüttern… Und ihr müßt der Tatsache eingedenk sein, daß vom Erfolg dieser Schlacht alles abhängt.“ In den historischen Arbeiten über den Kursker Bogen wird all das aufgezählt, worin sich Hitler und seine Generale verkalkulierten und was sie unterschätzten, als sie das Unternehmen „Zitadelle“ anlaufen ließen. Vom Standpunkt des Schriftstellers möchte ich anmerken, daß Hitler außerdem noch die Persönlichkeit Jerochins unterschätzte, der nach dem in vieler Hinsicht, darunter auch in psychologischer, schwersten ersten Gefecht unter Lebensgefahr ins Niemandsland schlich, um herauszufinden, wieso der „Ferdinand“, obwohl er ihn mit seinen Geschossen nicht durchlöchert hatte, doch in Flammen aufging und wie man am nächsten Tag an diese „Ferdinands“ herangehen, an welcher Stelle man sie möglichst treffen mußte. Und er kroch nicht allein nach vorn, sondern mit seinem Panzerschützen Stepanenko, dessen Persönlichkeit Hitler ebenfalls unterschätzte. An dem Tag griffen die Deutschen hier nicht mehr an, aber sie
belegten unsere nach Ponyri führenden Verbindungswege mit Störfeuer. Wir kamen wohlbehalten zur Brigade durch. Über den letzten Tag unserer Fahrt findet sich eine Aufzeichnung in meinem Tagebuch. Den ganzen Tag verbrachten wir bei den Panzerleuten und fuhren gegen Mitternacht zurück. Bei Tage war ein Durchkommen unmöglich. Zuerst gingen wir ein Stück zu Fuß, dann stiegen wir in den in Deckung zurückgelassenen „Wyllis“ und machten uns zu unserem Ziel auf. Ich setzte mich neben den Fahrer, Chalip und der Verbindungsoffizier, der uns den Weg weisen sollte, auf die Rücksitze. Nach Verlassen der Deckung fuhren wir zunächst über freies Feld, später verlief die Straße durch einen dichten Wald. Als wir meiner Schätzung nach drei bis vier Kilometer von der Hauptverteidigungslinie weg waren, ließ ich den Fahrer die Scheinwerfer einschalten. Die Straße war hundsmiserabel, dicht am Straßenrand standen Bäume, und ich hatte Angst, wir könnten uns den Hals brechen. Der Fahrer machte die Scheinwerfer an, und wir fuhren mit ordentlichem Tempo durch den Wald. Plötzlich eine schwere Detonation. Zwar hinter uns, aber doch so nahe, daß ich am Rücken die Druckwelle spürte. Und gleich darauf ein zweiter Einschlag, ein ganzes Stück vor uns. Der Fahrer jagte mit Licht weiter, da schlug in nächster Nähe eine dritte schwere Granate ein. Die Splitter pfiffen über uns hinweg. Der Fahrer trat auf die Bremse und machte die Scheinwerfer aus. Noch bevor er den Wagen zum Halten bekam, war der hinter
mir sitzende Chalip durch die Druckwelle aus dem Wagen geschleudert worden. Wir waren ihm beim Einsteigen behilflich, und der Fahrer tastete sich langsam durch das Dunkel, das nach dem Verlöschen der Scheinwerfer noch undurchdringlicher schien. Eine weitere Granate krepierte, ebenfalls recht nahe. Ich befahl dem Fahrer, die Scheinwerfer anzuschalten und Vollgas zu geben, denn wenn sie uns nach dem Lichtschein schon angeschnitten hätten, würden sie uns nun, ob wir mit Licht fuhren oder nicht, ordentlich eindecken. Mit Licht kämen wir schneller weg und würden dabei weniger riskieren. Mit aufgeblendeten Scheinwerfern rasten wir weiter, und offensichtlich hatten wir recht daran getan: noch einige Granaten schlugen hinter uns ein. Vierzig Minuten später trafen wir bei der Redaktion der Armeezeitung ein, wo unser „Emka“ stand. Der Verbindungsoffizier verabschiedete sich von uns. In der Redaktion schlief schon alles, ausgenommen der wegen dienstlicher Unannehmlichkeiten mißgelaunte Redakteur. Er freute sich, daß wir kamen, und stellte verdünnten Sprit sowie eine Bratpfanne mit kalten Kartoffeln auf den Tisch. Jetzt stellte sich heraus, daß Chalip nichts essen konnte: Er hatte eine leichte Gehirnerschütterung, und ihm war speiübel. Der Redakteur erzählte uns von den Mißlichkeiten bei der Journalistenarbeit am Ort und fragte mich aus, wer wo stecke, wer was mache und wen von den Zeitungsleuten ich in letzter Zeit in Moskau getroffen hätte. Diese Befragung zog sich anderthalb Stunden hin, indessen unser Redaktionsfahrer schlaftrunken den Wagen auftankte und die Reservekanister sowie
unsere Korrespondentenhabseligkeiten verstaute. Als wir losfuhren, wurde es schon hell. Ich wollte um jeden Preis noch am gleichen Tag Moskau erreichen. Wir mußten eine Schleife fahren: zuerst nach Osten aus dem Kursker Bogen heraus, dann über Liwny nach Norden, um so auf die Chaussee Orjol-Tula zu gelangen. Die Straßen waren zerfahren, dennoch fuhren wir pausenlos durch. Nur zweimal machten wir für ein paar Minuten Rast – so langten wir gegen Abend in Moskau an. Die ganze Fahrt, beginnend mit unserer Abfahrt bei Petruschins Brigade, schien ein durchgehender Strang zu sein – am Anfang der Wald und die einschlagenden Granaten, am Ende die Leningrader Chaussee und der von Maria Akimowna für alle Fälle geheizte Badeofen, das Abendessen zu Hause, saubere Sachen. Von diesem blitzschnellen Übergang von Heiß zu Kalt und umgekehrt, wie ihn unsere Korrespondententätigkeit nun mal mit sich brachte, habe ich schon gesprochen. Man möchte meinen, wir hätten uns mit der Zeit daran gewöhnt, aber den Tagebucheintragungen nach zu urteilen, verblüffte uns die Heftigkeit dieser Kontraste doch immer wieder. Von der Fahrt in den Kursker Bogen brachte ich Material für vier Berichte mit. Der wichtigste Bericht war der über den Aufenthalt bei der 75. Gardedivision, doch erschien er nicht in der „Krasnaja Swesda“. Das Material war so reichlich, daß er immer länger wurde, und als ich ihn schließlich fertig hatte, war er fast acht „Keller“ lang. Die Ereignisse entwickelten sich in dieser Zeit stürmisch, und die Re-
daktion wollte mitten in unserer Gegenoffensive nicht einen „Keller“ nach dem anderen über die ersten Tage der Kämpfe bringen, womit man auf seine Weise recht hatte. Ich veröffentlichte die Sache später in einer Zeitschrift als Mittelding zwischen Erzählung und Reportage, die wahren Namen wurden durch erfundene ersetzt. Die anderen drei unverzüglich geschriebenen Berichte erschienen genauso unverzüglich in der „Krasnaja Swesda“: zwei berichteten von den bei Ponyri kämpfenden Panzerleuten, dem dritten – „Der Deutsche von dem ,Ferdinand’„ – lag das Gespräch mit einem gefangengenommenen deutschen Panzersoldaten zugrunde. Als ich die Notizen vom Kursker Bogen jetzt überlas, fiel mir auf, daß viele der Soldaten, mit denen ich damals sprach, noch sehr jung waren, erst neunzehn Jahre. Auch der deutsche Panzersoldat, mit dem ich dort im Kursker Bogen gesprochen hätte, war wie die unseren neunzehn Jahre. Adolf Meier, Eystrup bei Hannover. Im April neunzehn geworden, im Oktober 42 zur Wehrmacht eingezogen. Am 28. Juni 43 von Rouen, Frankreich, nach Rußland verlegt. Siebzig Mann in seiner Kompanie sind in seinem Alter, dreißig Prozent des Bestands. Die restlichen siebzig Prozent sind alte Soldaten, größtenteils aus dem Lazarett gekommen. Er war Fahrer eines Sturmgeschützes „Ferdinand“. Vordere Panzerung – 200 mm, seitliche Panzerung 80 mm, neuester Typ eines selbstfahrenden Geschützes; nach zwei Treffern in die Gleisketten ausgefallen. Bei ihm war die Panzerung nicht durchschlagen, er hat aber gesehen, daß sie bei anderen durch war. Vor dem Kampf ist ihnen gesagt
worden, ihre Panzerung wäre nicht zu durchbrechen und es könne keine Verluste geben. „Folglich hat man Sie belogen.“ „Ja, man hat uns belogen.“ Vor dem Krieg war er in der Schlosserlehre, wollte aber Seemann werden. Der Vater ist Handwerker – Korbmacher. Die jüngeren Brüder gehen noch zur Schule. „Ich hoffe, Ihre Brüder werden nicht mehr in den Krieg müssen.“ „Das hab ich auch gehofft. Als ich noch zur Schule ging, hab ich nicht geglaubt, daß ich noch in den Krieg müßte. Dann mußte ich aber doch. Ich habe nur immer gewünscht, der Krieg möge aussein, bevor mein Jahrgang dran ist. Mein Vater und mein Onkel haben mir vom letzten Krieg erzählt, und ich war nicht scharf drauf, den jetzigen mitzumachen.“ „Und als die Wehrmacht in Paris eingezogen ist?“ „Damals hatten wir alle Angst, wir könnten zu spät kommen.“ In der Schule ist er bei der Hitlerjugend gewesen. Er hat das Kartenlesen gelernt, auch den Umgang mit dem Kompaß und die Orientierung im Gelände, er hat mit Kleinkalibergewehren geschossen. Bevor er an die Front kam, hatte er keinerlei Vorstellungen von Rußland. „Bis zum Rückzug vor Moskau war ich vom Sieg überzeugt. Dann fing ich an zu zweifeln. Als ich dann hier unser Kriegsmaterial sah, dachte ich wieder, es könnte noch alles gut ausgehen. Auch als man mir zum erstenmal die Ketten zerschoß, glaubte ich noch, es würde gut gehen.“ „Was haben Sie gedacht, als Sie von Paulus hörten?“ „Ich dachte, das hieße wohl, daß die 6. Armee ver-
nichtet ist.“ „Man hatte Ihnen aber doch eingeredet, Sie wären unbesiegbar. Und auf einmal Paulus?“ „Nichts ist unmöglich. Aber es hieß, daran wären die Italiener schuld, weil sie abgehauen sind.“ „Und an Ihrer Niederlage in Tunesien waren auch die Italiener schuld?“ „Ja, die hätten Tunesien selber verteidigen sollen.“ „Wissen Sie, wie weit Sie in diesem Winter zurückgegangen sind?“-“Zweihundert Kilometer.“ „Nein, von Stalingrad an sind es sechshundert.“ „Ich habe gedacht, zweihundert. Früher haben unsre Zeitungen Karten gebracht, aber das hat man jetzt eingestellt.“ „Was meinen Sie wohl, warum?“ „Na, weil wir zurückgehen.“ Im März war er auf Urlaub bei seinen Angehörigen. „Mutter und Vater haben nur den einen Wunsch, daß ich nicht für lange in den Krieg muß.“ „Haben Sie Russen bei der Arbeit in Deutschland gesehen?“ „Ja. Sie sind in einem Lager, kommen nur raus zur Arbeit bei den Bauern.“ Am meisten beunruhigen ihn die Luftangriffe auf Deutschland. Er fürchtet, seine Eltern könnten bei diesen Angriffen umkommen. „Die von der SS brauchen Rußland, die rechnen damit, hier Land zu bekommen und Bauern zu werden. Ich habe keine Lust, dafür zu sterben, daß die SS-Leute hier Land kriegen. Aus meinem Dorf sind schon vierzig gefallen und mehr als hundert verwundet.“
Und zum Schluß noch eine Tagebucheintragung von unseren Panzerleuten bei Ponyri. Nikolai Wassiljewitsch Petruschin, Brigadekommandeur, neununddreißig. Aus der Smolensker Gegend. Für ihn begann der Krieg am 4. Juli 1941 bei Wladimir-Wolynski. Am 25. Juni verlor seine Frau in der Bahnstation Sarny einen Arm und ein Bein. Der Sohn, fünf Jahre, ist verlorengegangen. Seine Mutter lebt in dem von den Deutschen okkupierten Jarzewo. Der Bruder – Direktor einer Siebenklassenschule, Leutnant – verwundet, seit anderthalb Jahren vermißt. Die Frau des Bruders – gehenkt… Ich will das nicht kommentieren. Ich will nur dreißig Jahre nach dem Krieg noch einmal die von dem Kursker Bogen mitgebrachten Eintragungen einander gegenüberstellen, so wie sie sich damals in meinem Notizbuch und natürlich auch in meinem Bewußtsein einander gegenüberstanden.
13 Ende Juli, im August und Anfang September unternahm ich Fahrten zu den Armeen der Zentralfront und der Brjansker Front. Zuerst zur 13. Armee Puchows, die damals südlich Orjol in Richtung Kromy angriff, dann zu ihrem Nachbarn, der 70. Armee unter General Galanin, und schließlich, als die Offensive bereits im Abklingen war, wieder zur 13. Von der Korrespondententätigkeit her gesehen, waren diese Fahrten nicht sehr ergiebig, zwei oder
drei für die „Krasnaja Swesda“ geschriebene Beiträge und etwa ebenso viele für eine amerikanische Agentur waren der einzige Ertrag. Das erklärte sich daraus, daß ich mich gerade zu der Zeit schier zerreißen mußte, wollte ich meinen Aufgaben als Korrespondent gerecht werden und gleichzeitig die letzten Kapitel der Erzählung „Tage und Nächte“ schreiben. Die Offensive ging weiter, und mein Gewissen erlaubte mir nicht, um einen weiteren Monat Urlaub für die Schlußkapitel zu bitten, nachdem ich bereits im Mai und Juni Urlaub gehabt hatte. Zugleich aber mußte ich mit der Erzählung zu Ende kommen. Die „Krasnaja Swesda“ wollte sie in Fortsetzungen bringen. Aber es ging nicht nur darum. Ich wollte in der Erzählung etwas Wichtigeres und Notwendigeres sagen, als es mir in meinen bisherigen Frontberichten gelungen war. Ich weiß nicht, wie es anderen erging, bei mir jedenfalls war der Gedanke immer da, ich könne einmal nicht zurückkommen, obwohl er vom Bewußtsein möglichst weit verdrängt wurde. Und gerade auf diesen Fahrten drängte er sich immer mehr auf. Wie es so ist, maß ich meiner nichtabgeschlossenen Erzählung mehr Bedeutung bei, als sie besaß. Und die Befürchtung, sie wegen eines dummen Zufalls dort an der Front nicht beenden zu können, erhöhte meinen Selbsterhaltungstrieb. Bei der Erörterung solcher Dinge muß man die Wahrheit sagen, und wenn ich heute Rückschau halte auf diese Zeit, wird mir klar, daß sich dies alles auf meine damaligen Korrespondenzen ausgewirkt hat. Erbärmliche Feigheit habe ich, soviel ich mich erinnere, nicht
gezeigt – davor bewahrten mich der Ehrgeiz und die Schulterstücke, aber ich war vorsichtig und trachtete danach, die Augenblicke eines persönlichen Risikos, die nun einmal bei der Korrespondententätigkeit nicht ausbleiben, auf ein Minimum zu reduzieren, was sich natürlich auf ihre Qualität ausgewirkt hat. Riskiert man nur wenig, bekommt man auch weniger zu sehen und schreibt schlechter. Ich bringe nun alle Notizen von diesen drei Fahrten. Ich war wieder bei Puchow, diesmal vor Kromy. Ich erfuhr eine interessante Einzelheit über ihn: im Mai – es war alles ruhig, und aus dem Hinterland trafen viele Geschenke ein, hatte sich Puchow eine Verteilungsmethode ausgedacht. Er beorderte Mädchen zu sich von den verschiedenen Einheiten – Funkerinnen, Krankenschwestern, Sanitäterinnen – und trug ihnen auf, die Geschenke direkt in den Gräben an die alten Hasen, und zwar vor allem an die älteren Jahrgänge, zu verteilen. Dabei kam es zu rührenden Szenen. Puchow wollte ein Fünkchen fraulicher Wärme zu den kriegsmüden Männern bringen. Ich war eingeladen, mit ihm zu frühstücken. Wir saßen in der Hütte und aßen rasch etwas. Mit seiner kräftigen Gestalt und dem breiten, grobgeschnittenen Gesicht, der hohen Stirn, den klugen, aufmerksam blickenden Augen und seiner Art der Gesprächsführung erinnerte mich Puchow an einen russischen Offizier alter Schule, wie sie im Kaukasus kämpften und zu den turkestanischen Feldzügen auszogen, worüber in der russischen Literatur zur Genüge – sehr gut, manchmal aber auch schlecht – geschrieben worden ist. Ich fragte ihn nach den nächsten Perspektiven und
den Erfolgschancen. Er schmunzelte und stellte eine Gegenfrage: „Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie mir letztes Mal erzählt, sie schrieben an einem Roman über Stalingrad?“ „So ist es.“ „Und wie kommen Sie damit voran? Wird es ein Erfolg? Sie sind immerhin Soldat und nun schon das dritte Jahr im Krieg, und doch stellen Sie Generalen naive Fragen.“ „Ich stelle eben manchmal gern naive Fragen.“ „Aber wir beantworten sie nicht gern. Naive Fragen ~ das sind die schwierigsten.“ Das Gespräch kam nicht so recht in Gang. Puchow hatte dringende Dinge zu erledigen, und ich mußte noch zu der Division, die Kromy nehmen sollte. Puchow sah mich an und sagte auf einmal ärgerlich: „Erklären Sie mir bloß mal, warum ihr Schriftsteller über alles mögliche schreibt, bloß nicht über den Infanteristen. Sie schreiben über die Panzerleute, über die Flieger und auch über die Pioniere, wenn die sich auch beklagen, sie kämen zu kurz weg. Sie tun es doch. Aber über die Infanteristen schreiben Sie aus einem unerfindlichen Grund kein Sterbenswörtchen.“ Ich hielt ihm entgegen, daß ich beispielsweise am meisten gerade über die Kampfhandlungen von Infanterieeinheiten geschrieben hätte. „Über die Kampfhandlungen“, äffte mich Puchow ärgerlich nach. „Ich sprech nicht von den Kampfhandlungen der Einheiten, sondern von der Infanterie. Die kriecht durch den Dreck, latscht durch den Staub, friert, wird naß, muß Beschwernisse erdulden, von denen manch einer nicht mal eine Vorstellung hat. Warum schrei-
ben Sie nicht über den Infanteristen. Da Sie jetzt gerade mal da sind, gehen Sie und suchen Sie sich so einen Mann. Und wenn Sie wieder in Moskau sind, packen Sie es an, schreiben Sie über ihn.“ Bevor ich ging, stellte ich ihm noch ein paar Fragen zur Person. In diesem Krieg hatte er eine Schulter- und eine Handverletzung, vor Iksjulsk eine Gasvergiftung. Seit Kriegsbeginn hatte er seine Familie nicht mehr gesehen. Während des ganzen Krieges hatte er die Front nicht einmal verlassen, sogar den Suworoworden mußte man an die Front schicken und ihm an Ort und Stelle überreichen. Bei der Division vor Kromy. Zwei Tage hintereinander sprach ich mit Soldaten und machte mit viel Mühe solche Soldaten ausfindig, die in diesem Sommer von Anfang an, seit dem 5./6. Juli, dabei sind und schon einen vollen Monat im Kampf stehen. Ich fragte sie lange über alles aus, erkundigte mich nach allen Einzelheiten, sogar nach unwesentlichen. Ich wollte vom Tag eines Infanteristen eine Vorstellung erhalten, die so exakt wie möglich ist. Nach der Einnahme von Kromy fuhren Chalip und ich zurück zum Armeestab. Wir kurvten auf staubigen Landstraßen herum, vorbei an traurig anzusehenden, nichtabgeernteten Feldern. In einer Schlucht zerschossene deutsche Geschütze, Berge von leeren Munitionskörben und Stapel nichtverschossener Munition. Die gefallenen Soldaten waren im dichten Roggen kaum zu sehen. Auf den Wegen und manchmal auch den Weg abkürzend, so gar nicht nach Bauernart quer durch die Felder, zogen die Menschen nach Hause, die von den Deutschen bei
ihrem Rückzug aus den Dörfern mitgeschleppt, aus den frontnahen Gebieten vertrieben worden waren. Wir hielten an. Auf einem Trampelpfad durch den Roggen kam uns eine Frau entgegen, fünf Kinder hatte sie bei sich. Nicht nur sie, auch die Kinder gingen gebeugt unter der Last von Bündeln. Alle waren schwer beladen, kamen kaum vorwärts. Die Frau blieb stehen, nahm zwei zusammengebundene Säcke von den Schultern oder besser kroch unter ihnen hervor, so groß waren sie. Erschöpft fuhr sie sich über die Stirn, setzte sich auf einen der Säcke. Auch die Kinder befreiten sich von ihren Lasten und setzten sich zu ihr. Das sechste Kind hatte ich erst nicht gesehen: ein Säugling, den die Frau im Arm hielt. Ich fragte, ob sie von weit her kämen. „Dreißig Werst haben wir hinter uns.“ „Und wie weit müssen Sie noch?“ „Noch vierzig“, sagte die Frau und brach in Tränen aus. Ihr Gesicht wirkte wie das einer Greisin, auch wenn sie einen Säugling im Arm hatte. Ich fragte sie nach ihrem Mann. „Der ist verschollen. Im Winter haben ihn die Deutschen zum Bau eines Knüppeldamms geholt. Er hat sich bei der Arbeit was weggeholt und ist seither spurlos verschwunden.“ Ich fragte sie, ob das alles ihre Kinder seien. „Alles meine.“ Und sie nannte der Reihe nach ihre Namen. Das älteste zehn Jahre, das jüngste acht Monate. „Dreißig Werst sind wir gegangen. Ich kann schon nicht mehr. Aber ich kann die Sachen doch auch nicht stehenlassen.“ Die Frau wies auf die Säcke und die
ärmlichen, flickenbesetzten Bündel mit Hausrat. „Bestimmt hat der Deutsche bei uns im Dorf alles niedergebrannt, und es wird an allem fehlen. Ich kann es nicht stehenlassen. Und dabei haben wir noch vierzig Werst vor uns.“ Ich schwieg. Wir waren zu viert in unserem „Emka“ und mußten in die andere Richtung, aber selbst bei einem Umweg konnten wir die Frau mit den sechs Kindern und allen Bündeln im „Emka“ nicht unterbringen. Da ich sie nicht mitnehmen konnte, war es besser, nicht erst davon anzufangen. „Na, dann wollen wir uns mal wieder aufmachen“, sagte die Frau und schob die Schulter wieder unter die Säcke, die fast so hoch waren wie sie selbst. Auch die Kinder packten sich stumm, ernst wie Träger oder Docker, ihre Bündel und Bündelchen auf, sogar das Zweitjüngste, das Dreijährige, nahm ein Bündelchen von der Erde auf und warf es sich wie ein Alter über die Schulter. Sie verschwanden auf dem Trampelpfad durch den Roggen, und ich starrte ihnen töricht und hilflos nach. Da glaubte man die Faschisten zu hassen, wie man sie mehr nicht hassen könne, und doch kommt plötzlich noch ein weiterer Tropfen hinzu. Beim Lesen dieser Eintragung blitzte noch etwas in meinem Gedächtnis auf. Ich mußte lange überlegen, und schließlich kam ich darauf -eine Seite aus meinem nach dem Krieg geführten Notizbuch, datiert vom 11. März 1962, und für mich durch unsichtbare Fäden nicht äußerlich, sondern innerlich verknüpft mit dieser Frau, die mit ihren sechs Kindern, ohne
den vermißten Mann, bei Orjol durch die Gegend zog. Hier ist sie, diese Seite: „Heute sprach ich im Soldatenklub. Nach der Veranstaltung saß ich mit Offizieren zusammen. Ein Hauptmann, er ist Batterieführer, sprach von seiner Jugendzeit: Sein Vater ist einundvierzig an der Front gefallen. Er erinnerte sich noch, wie sie unmittelbar vor dem Krieg ein Haus bauten und der Vater, als er in den Krieg ging, sagte: ,Ihr werdet es auch ohne mich fertig bauen.’ Im ersten Kriegssommer stand das Haus. Dann kam die deutsche Okkupation. Als die Deutschen abzogen, brannten sie das Dorf nieder. Und er erzählte, wie er als Elfjähriger mit der Mutter und den Nachbarinnen in einer Schlucht in der Nähe des Dorfes hockte. Von der Schlucht aus war das Dorf zu sehen, war zu sehen, wie die abziehenden Deutschen Haus für Haus ansteckten. Die Frauen beteten und bekreuzigten sich bei diesem Anblick. Aus Dankbarkeit dafür, daß sie selbst überlebt hatten, daß der Tod an ihnen vorbeigegangen war – an die Häuser aber dachten sie nicht mehr. Dann erzählte er, wie sie nach dem Krieg im Jahr sechsundvierzig Hungerödeme bekamen und er als Fünfzehnjähriger von zu Hause wegging, an die Berufsschule, weil er Hunger hatte. Er absolvierte die Schule, arbeitete danach in einer Fabrik als Former, holte abends die achte, die neunte und zehnte Klasse nach. Und als er die zehnte hatte, ging er an die Artillerieschule und wurde Offizier. Vor kurzem, voriges Jahr erst, hat die Mutter wieder geheiratet. Sie ist fünfzig Jahre. Ihr neuer Mann ist Rentner; er ist ein netter Kerl –
zweiundsechzig. Der Hauptmann sagt, wie er sich für seine Mutter gefreut hat, daß sie wieder geheiratet hat. ,Man spricht so nicht von seiner Mutter, aber da wir unter Männern sind, kann ich ja offen sprechen. Schließlich ist sie erst dreißig gewesen, als Vater fiel. Die ganzen Jahre, solange ich noch bei ihr lebte, und auch später, als ich noch zu Besuch kam, hat sie ohne Mann gelebt. Die Arme hat sehr zu leiden gehabt! Aber sie hat anständig gelebt. Sie war krank und hat viel durchgemacht. Sie ist nur krank geworden, weil sie allein war, aber sie hat keinen gehabt, hat sich mit niemandem getroffen. Und das zwanzig Jahre lang. Von Dreißig bis Fünfzig. Natürlich freue ich mich für sie, wenn das auch heute nicht das Glück ist, das sie damals hätte finden können, aber es ist immerhin Glück…’ Auf der Rückfahrt in die Stadt fuhr ein Starschina, ein altgedienter, in unserem Wagen mit. Er war nun schon das siebzehnte Jahr bei der Armee. Unvermittelt verwickelte er mich in ein Gespräch über die Vermißten. ,Was wird denn nun mit den Vermißten? Wann wird das gelöst?’ Der mitfahrende Major fragte ihn: ,Warum ereiferst du dich so?’ ,Wie soll man sich da nicht ereifern? Meine Mutter ist schon, stellen Sie sich das vor, seit über zwanzig Jahren mit einem Vermißten verheiratet. Und sie hat keinen Gerichtsbeschluß in den Händen. Nichts, aus dem hervorgeht, daß er tot ist, daß sie Witwe ist. Vermißt, vermißt. Wann wird das endlich mal gelöst? Damals war ich noch ein Junge, mittlerweile bin ich erwachsen, habe
eigene Kinder, und immer noch ist es so, daß mein Vater weder so noch so ist! Wie ist das nur möglich, daß es nach so vielen Jahren nicht gelöst wird? Was sind denn das zwanzig Jahre später noch für Vermißte? Warum findet man da keine Lösung?’ sagte er erregt und bitter…“ Ich wende mich nun wieder meinen Eintragungen aus dem Jahr 1943 zu. Die freudigen Qualen des Suchens sind die Begleiter einer großen Offensive. Auf dieser Fahrt fanden wir nichts auf Anhieb, alles nur sehr mühsam und mit reichlicher Verspätung, nicht etwa wegen falscher Auskünfte, sondern weil, während wir unterwegs waren, die Auskunft schon wieder überholt war, da die Stäbe und Truppen ununterbrochen nach vorn verlegt wurden. Es gibt nichts Mühsameres, als in einer auf dem Marsch befindlichen Armee eine bestimmte Einheit zu suchen und zu finden. Der Korpsstab hatte in den letzten beiden Tagen dreimal seinen Standort verlegt, und als ich ihn endlich in einem von den Deutschen in der letzten Nacht zur Hälfte niedergebrannten Dörfchen fand, war er schon wieder im Aufbruch. Eine Stunde später hätte ich ihn wieder verfehlt. Ich bat den Leiter der operativen Abteilung des Korpsstabes, mir einen Begleiter zur Division mitzugeben. Das am Morgen beim Armeestab auf meiner Karte eingetragene Kreuzchen flößte mir kein Vertrauen ein. Der Leiter der operativen Abteilung sagte mir einen Begleiter zu, beorderte ihn telephonisch zu sich und
fragte mich dann unvermittelt: „Sagt Ihnen mein Name nichts – Chorunshi?“ Krampfhaft versuchte ich, mich zu erinnern. Der Name Chorunshi kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich kam nicht auf den Zusammenhang. „Ich glaub ja“, sagte ich unsicher. Ich zermarterte mir den Kopf, wo ich diesem hochgewachsenen, dunkelhaarigen Oberstleutnant schon begegnet war. Der Oberstleutnant aber lächelte, und aus seinem Lächeln wurde deutlich, daß er mir nicht glaubte. „Wir sind uns auf der Rybatschi-Halbinsel begegnet. Sie waren bei mir in meinem Gefechtsstand auf dem Kamm des Musta-Tunturi: zuerst ist mein Gefechtsstand durch Granatwerferfeuer eingedeckt worden, und dann haben wir zusammen Forellen gegessen, die meine Aufklärer in einem Gebirgssee gefangen haben. Erinnern Sie sich jetzt?“ Und wirklich erinnerte ich mich an diesen Gefechtsstand in den Felsen des Musta-Tunturi und auch an diesen Oberstleutnant Chorunshi, der damals Hauptmann war und in einem riesigen Kutscherpelz herumlief, die Pelzmütze schief aufs Ohr gesetzt. Barentssee, Rybatschi-Halbinsel, Kälte, Wind, der Winter einundvierzig, Zähneklappern -heute aber hatten wir dreiundvierzig, Sommerausgang, Hitze, nichtabgeerntete Felder, Offensive an der Zentralfront, und der gleiche Mann, nur daß er eine staubige, ausgeblichene Feldbluse trug und die Schulterstücke eines Oberstleutnants. „Hier ist Ihr Begleiter.“ Chorunshi wies auf einen Sergeanten, der eingetreten war. „Auf Wiedersehen. Wäre übrigens schön, sich wieder mal zu begegnen. Der liebe Gott hat’s ja mit
der Dreifaltigkeit.“ Wieder bei Gorischny. Erst gegen Abend traf ich bei ihm ein. Der Vormarsch ging weiter, und in einer Stunde, am späten Abend, sollte der Gefechtsstand verlegt werden. Ich sagte, ich würde die nächsten Tage bei ihm bleiben, und gab ihm meinen Bericht über seine Division zu lesen, als sie in der Verteidigung lag. Obwohl er wenig Zeit hatte, interessierte er sich dafür, setzte sich auf einen Klappstuhl und begann aufmerksam stirnrunzelnd zu lesen. Dann sagte er: „Na schön, drucken Sie’s.“ Er hatte nur eine einzige Bemerkung: „Sie hätten mich im Kampf nicht von einem Regiment zum anderen sausen lassen sollen, wir haben jetzt nicht mehr einundvierzig. In der damaligen Lage brauchte ich nicht bei den Regimentern herumzukutschieren.“ Ich wandte ein, ich könne mich genau erinnern, wie er herumgefahren sei. Er pflichtete mir nicht bei. „Und selbst wenn es so gewesen ist, warum darüber schreiben? Dieses Herumkutschieren führt zu nichts. Davon sind wir längst abgekommen. Das Meldewesen klappt heute bei uns recht gut.“ Und er ließ sich über das Meldewesen aus: ist das Meldewesen in Ordnung, wird man seltener angerufen und kann sich auch selbst unnötige Anrufe ersparen, um die Kommandeure nicht zu stören und nervös zu machen. „Wie ist es denn? Beim erstenmal sag ich ihm was in aller Ruhe. Beim zweitenmal bin ich schon nervös, beim dritten aber fang ich an zu schimpfen. Ich rate ihnen manchmal im Spaß: Wenn ich unnötig laut werde, sag es – nach meiner Verwundung höre ich
schwer! Die Männer sind beim Vormarsch müde. Sie sind hundemüde… Die Schwerverwundeten werden über Stock und Stein nach hinten gebracht, und sie schlafen trotz ihrer Schmerzen. Manchmal wird einer im Sanitätsbataillon auf den Tisch gelegt, und er schläft immer noch. Einmal ist mir ein Verwundetentransport entgegengekommen, aber auf den Fahrzeugen keine Bewegung. ,Befördert ihr etwa Tote?’ -.Nein, die schlafen nur.’ Der Krieg ist jetzt völlig anders. Wenn ich so zurückdenke, wie anfangs so ein Lulatsch, nur leicht verwundet, eigentlich kerngesund, nach hinten gerannt ist und, hat man ihn gefragt, eine ganze Litanei hergebetet hat: ,Von uns sind alle gefallen, ich bin der einzige, der übrig ist.’ Die man heute trifft, kommen schmutzig, abgerissen, mit zwei Verwundungen aus dem Gefecht, weil sie nach der ersten Verwundung nicht ausscheiden wollten. ,Ich komm vom Fuß der Höhe dort’, sagt so einer, ,die Unseren haben sie jetzt bestimmt schon genommen. Ich hab genau daruntergelegen…’„ … Auf der Fahrt nach Moskau übernachten wir in einem Dorf, in dem vorher der Armeestab gelegen hat; am Ortsrand befindet sich jetzt anstelle des Stabs das Armeefeldlazarett. Vor unserer Abfahrt am nächsten Morgen kommt ein Arzt herein und bittet, ich möchte mich doch wenigstens eine halbe Stunde mit den Verwundeten unterhalten, ihnen Gedichte vorlesen, sie hätten so sehr darum gebeten. Es ist von früh an ein heißer Tag. Die Schwerverwundeten sind aus den Hütten herausgebracht und in
den Schatten der Bäume gelegt worden. Auf den Lazarettmatratzen liegen an die fünfzehn Mann -verwundete Offiziere, vorwiegend Artilleristen, verwundet in den ersten Tagen der Julikämpfe. Ich weiß nicht, warum man sie nicht weiter nach hinten gebracht hat, aber die Armee wird schon ihren Grund dafür haben, sie hält sie hier zurück, damit sie nach der Genesung nicht zu anderen Einheiten kommen. Ich lese Gedichte, dann entwickelt sich ein Gespräch. Zwei Moskauer fragen mich nach Moskau aus. Der eine, ein hübscher und noch junger Bursche, erkundigt sich besonders eingehend nach den Theatern. Dabei zeigt er sich direkt informiert. Ich frage ihn, was er vor dem Krieg gewesen ist. Er lächelt. „Sie haben es erraten. Ich war Schauspieler. Vor dem Krieg habe ich die Schauspielschule am Wachtangow-Theater absolviert. Jetzt bin ich Oberleutnant, Artillerist.“ Er streckt seinem Nachbarn die Blechbüchse mit Tabak hin und bittet, ihm eine Zigarette zu drehen. Den anderen Arm zieht er nicht unter der Decke hervor, anscheinend ist er verstümmelt. Er sagt, er sei auf dem Weg zur B-Stelle verwundet worden; er wollte dort das Feuer seiner Batterie korrigieren, ein Zugführer habe ihm das Ganze eingehandelt. Er habe sich zur Unzeit aufgerichtet, die Deutschen hätten das bemerkt und sie mit Wurfgranaten eingedeckt. „Mich hat es am Arm erwischt, ihn aber am Bauch. Weit und breit kein Mensch, ich habe ihn weit mit zurückgeschleppt, nur mit einer Hand, bis er tot war. Dann bin ich aufgestanden und losgegangen. Ich konnte noch gehen, nur den zerschmetterten Arm habe ich hinters
Koppel geschoben, damit er mich nicht hindert. So hab ich es geschafft. Heute kann ich selber nur staunen, aber damals habe ich in der Rage kaum Schmerz verspürt.“ Er erkundigt sich, wie es an der Front steht. Dann lacht er. „Wir hier sind alle Artilleristen, phantasieren immer noch von unseren Geschützen. Manchmal kann man nachts in unserem Zimmer Artilleriekommandos hören.“ Er weist mit dem Kinn auf seinen Nachbarn. „Letzte Nacht erst hat mich der Hauptmann aufgeweckt. Im Schlaf hat er einen gewissen Wolkow beschimpft, er solle doch das Feuer weiter nach links verlegen.“ „Aber in meiner Abteilung hat es keinen Wolkow gegeben“, sagt der Hauptmann. „In der Abteilung hat es in Wirklichkeit keinen gegeben, im Traum aber doch! Fahren Sie zurück nach Moskau?“ „Ja.“ „Wenn Sie jemanden von unserem Theater treffen, bestellen Sie einen Gruß von mir.“ Der ehemalige Schauspieler steckt sich die ihm von dem Hauptmann gedrehte Zigarette an und schweigt. Die Gedanken an das Theater stimmen ihn offenbar traurig. Dann fragt er mich: „Wie fahren Sie von hier aus? Kommen Sie über die Station Ponyri?“ „Ich glaube schon…“ „Dort stehen hinterm Bahnhof auf einem Hügel ausgebrannte ,Tiger’ und ,Ferdinands’. Die beiden am weitesten links, direkt an der Straße, das ist das Werk meiner Batterie. Fahren Sie mal vorbei und gucken Sie sich die an.“
Ich fühle, er legt viel Wert darauf, daß ich mir seine Arbeit anschaue. Ich verspreche es. Wir nähern uns Ponyri. Schon von weitem sind an einem Hang ausgebrannte deutsche Panzer zu erkennen. Links von der Straße steht ein Panzergeschütz „Ferdinand“. Ein riesiger Kampfwagen, schwergewichtig und ungelenk, aus riesigen massiven Platten zusammengenietet. In der Seite ein Loch, von einem panzerbrechenden Geschoß geschlagen. Ob das der „Ferdinand“ ist, von dem der Artillerist sprach? Die letzte Fahrt ist in der Erinnerung verknüpft mit der bereits abebbenden Offensive. Mit allen Kräften eingeleitet, hat sie jene äußersten Ziele erreicht, die mit eben diesen Kräften möglich waren. Die Einführung neuer Kräfte, neuer Divisionen, ja Armeen ist für einen späteren Zeitpunkt vorgesehen. Vor allem sollen sie erst eingreifen, wenn wir die Linie erreicht haben, die von den schon müden und erschöpften Einheiten nur noch mit letzter Willensanspannung zu erreichen ist. Und erst ab hier, von dieser Linie aus, werden die frischen Truppen operieren. Und diese letzten Tage eben erlebte ich mit. Die Regimenter sind nur noch einhundert bis einhundertfünfzig aktive Bajonette stark. Die täglichen Verluste der Division von dreißig bis vierzig Mann wirken sich auf ihre Kampfkraft aus, auf ihr Vermögen, weiterhin anzugreifen. Sogar die Verluste, die zu anderen Zeiten im Divisionsmaßstab als gering anzusehen sind, stellen jetzt einen spürbaren Prozentsatz der bei der Truppe Verbleibenden dar. Schon
holt man für alle Fälle Männer aus den zweiten Staffeln nach vorn, aus allen möglichen Einrichtungen, Kommandos, Wirtschaftseinheiten, von den Trossen, und doch scheint die zweite Staffel, verglichen mit der Zahl jener, die nach dem einmonatigen Kampf noch bei den Regimentern, Bataillonen, kurz gesagt in der vordersten Linie sind, unverhältnismäßig aufgebläht. Jeder neue Tag schien den Männern Aufgaben zu stellen, die über ihre Kräfte gingen. Bei meinem Eintreffen konnte ich mich zunächst dieses Gefühls nicht erwehren. Der Divisionskommandeur jedoch rückte gewohnheitsmäßig jeden Tag vor. Er verlegte seine B-Stelle und seinen Gefechtsstand weiter nach vorn, als wolle er durch seine Anwesenheit den Einheiten physischen Rückhalt geben, die in der Anzahl ihrer Bajonette nach auf ein Drittel zusammengeschmolzen waren. Und sie rückten trotz allem vor, rangen dem Feind immer wieder ein paar Kilometer ab bis zu der Stelle, von wo aus man nach einer Pause zu einem neuen Sprung ansetzen wollte. Erst wenn man tief in das Wesen des Krieges und in alle seine Einzelheiten eingedrungen ist, wenn man sich unter den verschiedensten Umständen und bei den verschiedensten Männern vor dem Angriff, auf seinem Höhepunkt und an seinem Ende aufgehalten hat, vermag man dieses bedrückende Gefühl abzuschütteln. Ein Krieg hat Unordnung, Schluderei im Gefolge. Immer wieder stellt sich heraus, nicht alles kann durchgeführt werden wie vorgesehen, ständig werden am Gefechtsplan Korrekturen notwendig, bedingt durch Tod und Todesangst. Und obwohl der
Plan im großen und ganzen erfüllt wird, steht man doch ständig unter dem Eindruck, er würde nicht erfüllt, denn nimmt man den Krieg in seinem riesigen Ausmaß, kann man nicht die Augen davor verschließen, daß Millionen Ungenauigkeiten, Ungereimtheiten, unvorhergesehene Umstände sogar mit der exaktesten Ausführung des Plans einhergehen. Und wer nur das sieht, was bei einem selbst nicht klappt, und nichts davon weiß, was beim Gegner vorgeht, hält den Gegner für stärker und klüger, als er in Wirklichkeit ist. Er hat mehr Respekt vor dessen Aktionen, als diese es eigentlich verdienen. Nur ein Mensch, der in jenem ständigen Kontakt zu dem Gegner steht, den der Krieg schafft, gewöhnt sich allmählich daran, daß der Gegner oftmals die simpelsten Dinge nicht weiß, daß es bei ihm mehr Ungenauigkeiten, Fehlkalkulationen und nicht ausgeführte Befehle gibt als im eigenen Lager. Daß er Befehl hat, einen Gegenangriff zu unternehmen und er die Soldaten nicht hochkriegt. Daß er denkt, du wärst stärker und hättest mehr Männer, als du wirklich hast, und er zurückweicht und du vorgehst, obwohl du jeden Tag meinst, du tätest das mit allerletzter Kraft. Dieses unterschiedliche Empfinden war für mich jetzt, da ich die gegenwärtige abebbende Offensive mit der Offensive vor Moskau im Winter 1942, im Februar und im März verglich, besonders augenscheinlich. Damals war sie auch zum Stehen gekommen. Aber auf ganz andere Weise. Viele hatten damals geglaubt, die Deutschen zogen sich dort zurück, wo sie den Rückzug selbst beschlossen hatten.
Dort hingegen, wo sie entschlossen waren, sich um jeden Preis zu halten, sei ihnen nur schwer beizukommen. Für viele war damals eine Offensive noch Neuland. Unbewußt bedrückte viele noch die im Gedächtnis haftende Erinnerung an den bisherigen Rückzug. Diese Erinnerungen hatten sich im Gehirn festgesetzt und waren hinderlich. Manchmal sogar sehr hinderlich. Aber sie hinderten nicht daran, entschlossen zur Attacke vorzustürmen oder in den Tod zu gehen. Bei etwas anderem waren sie hinderlich, und zwar jene Entscheidungsfreudigkeit an den Tag zu legen, über die unsere Offiziere heute, im Jahr 1943, bei der gegenwärtigen Offensive, so reichlich verfügen, jene sich auf dem Selbstbewußtsein gründende Tapferkeit von Män-1-nern, die es gewohnt sind zu siegen… Im Krieg las ich die Werke von Clausewitz nicht. Ich tat es erst nach dem Krieg. Und ich fand bei ihm eine erstaunlich bildhafte Definition aller Schwierigkeiten und Komplikationen, die im Krieg jeder Schritt mit sich bringt. Die Begriffe der Mechanik entlehnend, bezeichnet Clausewitz diese Verkettung von Schwierigkeiten als Friktion und äußert darüber Gedanken, die oftmals denen Leo Tolstois in „Krieg und Frieden“ nahekommen. „Es ist alles im Kriege sehr einfach, aber das Einfachste ist schwierig. Diese Schwierigkeiten häufen sich und bringen eine Friktion hervor, die sich niemand richtig vorstellt, der den Krieg nicht gesehen hat… Friktion ist der einzige Begriff, welcher dem ziemlich
allgemein entspricht, was den wirklichen Krieg von dem auf dem Papier unterscheidet. Die militärische Maschine, die Armee und alles, was dazu gehört, ist im Grunde sehr einfach und scheint deswegen leicht zu handhaben. Aber man bedenke, daß kein Teil davon aus einem Stück ist, daß alles aus Individuen zusammengesetzt ist, deren jedes seine eigene Friktion nach allen Seiten hin behält. Theoretisch klingt es ganz gut: Der Chef des Bataillons ist verantwortlich für die Ausführung des gegebenen Befehls, und da das Bataillon durch die Disziplin zu einem Stück zusammengeleimt ist, der Chef aber ein Mann von anerkanntem Eifer sein muß, so dreht sich der Balken um einen eisernen Zapfen mit wenig Friktion. So aber ist es in der Wirklichkeit nicht, und alles, was die Vorstellung Übertriebenes und Unwahres hat, zeigt sich im Kriege auf der Stelle.“ So definierte Clausewitz vor hundertfünfzig Jahren den Unterschied zwischen dem „wirklichen“ Krieg, und dem Krieg „auf dem Papier“. Zwischen den beiden Fahrten an die Front, auf die sich die vorangegangenen Aufzeichnungen beziehen, wurde bei der „Krasnaja Swesda“ überraschend, zumindest für uns Frontkorrespondenten, der Redakteur ausgewechselt. Ich war an diesem Tag in Moskau, und obwohl seitdem viele Jahre vergangen sind, kann ich mich noch gut erinnern. Ich saß am Schreibtisch und schrieb die letzten Kapitel von „Tage und Nächte“, als Ortenberg eines Vormittags bei mir anrief und mich zu sich in die Redaktion bestellte. Ich ging zu ihm und sah, daß er seltsamerweise nichts zu tun hatte. Er ging in seinem
Dienstzimmer auf und ab in Generalsuniform und nicht in dem blauen Redaktionskittel, den er sonst während der Arbeit über der Uniform trug. „Ich hab dich hergerufen, um mich von dir zu verabschieden“, sagte er. „Ich gehe an die Front. Ich übergebe heute an den neuen Redakteur, und dann geht es los.“ „Was ist passiert?“ fragte ich. „Nichts Besonderes“, antwortete Ortenberg und erklärte, Stscherbakow habe ihn zu sich befohlen, ihn daran erinnert, daß er bei früheren Auseinandersetzungen mit ihm mehrmals erklärt habe, er sei bereit, zu jedem beliebigen Zeitpunkt jede beliebige Dienststellung bei der kämpfenden Truppe zu übernehmen, und gesagt, seinem Wunsch könne jetzt entsprochen werden. Zum Redakteur der „Krasnaja Swesda“ sei General Talenski berufen worden, und er, Ortenberg, könne zur kämpfenden Truppe gehen. Danach stellte ihm Stscherbakow die Frage, in welcher Dienststellung er eingesetzt zu werden wünsche. Ortenberg erwiderte, als Politstellvertreter einer Division. Stscherbakow wandte ein, dies sei keine Dienststellung für Generale. Worauf Ortenberg nicht ohne Humor einwandte, es sei schließlich nicht seine Schuld, wenn er es bei seiner Tätigkeit in der „Krasnaja Swesda“ bis zum General gebracht hätte. Schließlich wurde Ortenberg als Chef der Politabteilung einer Armee an die Front abkommandiert. Das alles erzählte er mir in recht munterem Ton. Ich verstand natürlich, daß er sich nur sehr schwer von der „Krasnaja Swesda“ trennte, doch ich verstand auch noch etwas anderes: er gehörte nicht zu denen, die mit Worten um sich werfen. Er hatte seinerzeit
seine Bereitschaft geäußert, zur kämpfenden Truppe zu gehen, und damit betont, daß er sich nicht an den Redakteursessel in der „Krasnaja Swesda“ klammere, und hielt es nun für unter seiner Würde, dem Geschehenen nachzutrauern. Ich wollte gerade fragen, wie das gehen solle – die Zeitung ohne ihn und er ohne die Zeitung, aber er ließ mich nicht erst zu Wort kommen: „Reden wir nicht von mir. Ich bin nicht mehr hier, nicht mehr bei der Zeitung. Aber über dich. Du wirst es nun wahrscheinlich leichter haben als bei mir, das, was ich verlangt habe, wird man dir wohl nicht mehr abfordern. Aber ich möchte nicht, daß du verdorben wirst, daß du schlechter arbeitest.“ Er sagte das mit jener freundschaftlichen Schroffheit, die nichts Kränkendes hat, dann trat er an den Schreibtisch, zog ein Schubfach auf, dann ein zweites und schob sie wieder zu. Da erst bemerkte ich, daß der Schreibtisch bis auf ein paar in der Mitte übereinanderliegende Mappen leer war, desgleichen das Redakteurspult. Wie ausgefegt. Wir umarmten uns, nahmen voneinander Abschied und sahen uns erst im Frühjahr 1944 wieder. Nach meiner Rückkehr von einer weiteren Fahrt zur Zentralfront schrieb ich endlich die Erzählung zu Ende. Ihr Titel war zunächst „Sechzig Tage“, aber nachdem ich den Schlußpunkt gesetzt hatte, nannte ich sie „Tage und Nächte“, genauso, wie ich vor fast einem Jahr auf Ortenbergs Rat hin eine meiner Stalingrader Korrespondenzen überschrieben hatte. Mir war natürlich klar, daß den Schlußpunkt setzen noch nicht bedeutet, fertig zu sein, aber jeder
Schreibende kennt dieses Gefühl: Wenn auch noch eine Unmenge Arbeit bevorsteht, ist es, hat man den Schlußpunkt unter die Rohschrift gesetzt, als werde einem ein Berg von den Schultern genommen. Besonders in den ersten Tagen hat man dieses Gefühl. Und in diesen ersten Tagen, kaum daß ich die Erzählung abgeschlossen hatte, fuhr ich zur Brjansker Front, und zwar zur 3. Armee unter General Gorbatow. Sonst fuhr ich mit einem Photoreporter an die Front. Die Korrespondenten der „Krasnaja Swesda“ sollten in der Regel nur zu Einheiten in der Verteidigung oder in der Offensive fahren. Ausnahmen von dieser Regel – Fahrten zu Einheiten, die neu aufgestellt wurden, sich in Ruhe oder in Gefechtsausbildung befanden – gab es natürlich auch, doch nur selten. Auch war es nicht üblich, daß jemand einen Korrespondenten einlud, dort und dorthin zu kommen. Die Redaktion entschied selbst, wer wohin geschickt wurde. Mitunter wurde dabei einem persönlichen Wunsch Rechnung getragen, meistens aber nicht. Diesmal war alles umgekehrt. Der neue Redakteur der „Krasnaja Swesda“, Nikolai Alexandrowitsch Talenski, wußte, daß ich meine Erzählung – sie sollte in der Zeitung in Fortsetzung erscheinen – beendet hatte, und bat mich zu sich und fragte, ob ich nicht für zwei Wochen zur Brjansker Front, zur Armee Gorbatows fahren wolle; sie wurde nach der Befreiung Orjols in der zweiten Staffel der Front zusammengezogen. Diese Fahrt solle auf Vorschlag der Politabteilung der Armee stattfinden, und ihr Ziel sei, Erinnerungen von Teilnehmern an der Schlacht um
Orjol zu sammeln. Der Brigade, die fahren solle, gehörten Schriftsteller der älteren Generation an, und ein Mitarbeiter der Armeezeitung, Genosse Tregub, sei von der Armee mit zwei Fahrzeugen – einem Pkw und einem Autobus – hergeschickt worden, um sie abzuholen. Ob ich als Vertreter der „Krasnaja Swesda“ mitfahren wolle? Ich erinnere mich gut an den ersten Befehl, den ich von dem neuen Redakteur der „Krasnaja Swesda“ zu hören bekam und der in eben dieser Form erteilt wurde. Generalmajor Nikolai Alexandrowitsch Talenski war Generalstäbler und Militärhistoriker, ein hervorragend gebildeter und belesener Mann. Unsereinen – die Literaten, die als Frontkorrespondenten bei der „Krasnaja Swesda“ tätig waren – behandelte er in erster Linie als Schriftsteller, und er war immer liebenswürdig zu uns, in Anbetracht des Krieges manchmal sogar zu liebenswürdig. Bei allen seinen nicht geringen Vorzügen als Zeitungsredakteur hatte er aber auch einen kapitalen Mangel – als Berufssoldat war er kein Berufs Journalist, war nicht Redakteur aus Berufung wie Ortenberg. Und hätte die Redaktion nicht über ein so starkes Kollektiv verfügt und wäre der Stellvertreter des Redakteurs, Alexander Jakowlewitsch Karpow, nicht mit Leib und Seele Zeitungsmann gewesen, so hätte sich der Wechsel sicherlich bald auf das Niveau der Zeitung ausgewirkt. Glücklicherweise ist das nicht eingetreten, obwohl nach und nach immer deutlicher zu merken war, daß die Zeitung nicht mehr ganz so straff und operativ geleitet wurde wie früher.
Allerdings wurde die Arbeit bei ihr nun leichter, namentlich für die Schriftsteller. Ich zeigte nicht immer Charakter und nutzte manchmal jene Schriftstellerprivilegien weidlich aus, die mir unter Talenski häufiger zufielen als früher. Ein oder zwei Tage später fuhren wir in Richtung Orjol und Karatschew los. Im „Emka“ saß der Älteste der Schriftstellerbrigade, Alexander Serafimowitsch Serafimowitsch, während alle anderen im Autobus fuhren, unter ihnen Konstantin Fedin, Wsewolod Iwanow und Boris Pasternak. Man muß dem Initiator dieser Fahrt, Semjon Tregub, vor dem Krieg in der Literaturabteilung der „Komsomolskaja Prawda“, später in der „Prawda“ tätig und im Krieg Armeejournalist, Gerechtigkeit widerfahren lassen. Nach dem Krieg focht ich mit ihm als Literaturkritiker einen schweren Strauß aus, als ich die Nachkriegsgedichte von Margarita Aliger vor seinen meiner Meinung nach unberechtigten Anschuldigungen in Schutz nahm. Um so mehr will ich es hier betonen, daß er damals im Krieg für unsere Literatur ein gutes Werk tat, als er sich diese Schriftstellerfahrt an die Front ausdachte und sie organisierte. Ihre literarische Wirkung übertraf sogar die ursprünglich in sie gesetzten Erwartungen – in Zeitungen und Zeitschriften erschienen mehrere Reportagen unserer Prosaiker der älteren Generation über das, was sie bei den Truppen der 3. Armee gesehen, gehört und empfunden hatten. Boris Pasternak brachte neben seinen Reportagen von dieser Fahrt einige seiner
besten Gedichte aus der Kriegszeit mit. In meinen Tagebüchern fand diese Fahrt keinen Niederschlag. Ich erinnere mich auch nicht mehr an Einzelheiten, was ich nicht nur bedauere, weil sie mich zum erstenmal mit einem so urwüchsigen, rauhen und offenen Menschen zusammenführte wie General Gorbatow, sondern auch, weil meine Begleiter außergewöhnliche Männer waren, die zu dieser für die meisten von ihnen ersten Fahrt zur kämpfenden Truppe große Begeisterung und innere Bewegung mitbrachten. Ich wußte das damals leider nicht recht zu schätzen, fühlte mich im Kreis dieser miteinander bekannten und einander geistig nahestehenden Männer einer ganz anderen Generation nicht sonderlich wohl in meiner Flaut Es gab aber auch noch einen anderen Grund. So albern das jetzt auch klingen mag, damals war ich angesichts meiner Jugend gegenüber diesen schon älteren Männern, die bei der Armee vieles, was für mich schon Gewohnheit war, zum erstenmal sahen, doch etwas überheblich. Ich kam mir auf dieser Fahrt ein wenig deplaziert vor und meinte, ich hätte besser allein oder mit einem Photoreporter auf eine Dienstfahrt gehen sollen, wie ich sie gewohnt war. Dennoch sind mir bis zum heutigen Tag zwei meiner damaligen Empfindungen in Erinnerung, die mit zwei grundverschiedenen Menschen zusammenhingen – mit Serafimowitsch und Pasternak. Serafimowitsch war im Bürgerkrieg unbestritten einer der besten Frontkorrespondenten. Schon damals war er weit über fünfzig und älter als Gorki. Und doch war er jetzt, 1943, nun schon über achtzig, bereit gewesen, die Fahrt mitzumachen. Mich verblüffte
an ihm nicht nur diese Bereitschaft an sich, sondern auch sein ganzes Auftreten während der Fahrt – seine Bescheidenheit, seine Unermüdlichkeit, sein beharrlicher Wunsch, man möge bloß nicht auf sein Alter Rücksicht nehmen oder es auch nur erwähnen. Auf alle Fragen, wie er sich befinde, ob er auch alle Bequemlichkeiten habe, antwortete er stets mit dem knappen Wörtchen „großartig“, und er sagte das sogar irgendwie triumphierend, mit einer edlen greisenhaften Herausforderung an seine Jahre und an seinen Gesundheitszustand. Fragte man ihn, ob nicht angehalten werden solle, damit er sich ausruhen könne, gab er, immer mit dem gleichen inneren Triumph zur Antwort: „Kommt nicht in Frage!“ Und wirklich duldete er nicht, daß mit Rücksicht auf sein Alter und seinen Gesundheitszustand, der nicht der beste war, der Plan umgestoßen würde. In diesem schon sehr alten Mann steckte ein erstaunlicher Kameradschaftsgeist. Die Fahrt war anstrengend für ihn, aber hartnäckig versuchte er, sich das nicht anmerken zu lassen, und letzten Endes schaffte er es auch. Pasternak verblüffte mich damals durch ein gewisses kindliches Staunen angesichts alles Neuen und Unbekannten, dem er sich gegenübersah. Er freute sich so hochherzig über alles Kühne und Saubere an den Menschen, wie sich ein Mensch nur über die langherbeigesehnte Erfüllung seiner schönsten Hoffnungen freuen kann. Von dieser Fahrt zurückgekehrt, schrieb ich endlich den Bericht über den einfachen Infanteristen zu Ende, zu dem mich Nikolai Pawlowitsch Puchow animiert hatte. Ich hatte an ihm länger geschrieben als an allen anderen meiner Berichte,
immer wieder schien er mir unvollständig zu sein, obwohl ich doch Material in Hülle und Fülle zusammengetragen hatte. Auf dieser Fahrt jedoch rückte ein erbostes, nicht eben feines Gespräch unter Soldaten über den Mangel an Tabak unvermittelt alles an den rechten Platz, und ich brachte den Bericht noch am Tag meiner Rückkehr nach Moskau zu Ende. Außer Notizen für den Bericht „Infanteristen“ brachte ich von dieser Fahrt noch einen mich stark berührenden Brief mit, von dem noch die Rede sein wird, und eine ausführliche Aufzeichnung im Notizbuch – ein Gespräch mit Afanassi Matwejewitsch Swirin, Politstellvertreter der 308. Schützendivision unter General Gurtjew, einem der Helden von Stalingrad, der bei der Einnahme Orjols fiel. Jahre später, als ich an dem Roman über den Krieg arbeitete, las ich diese Aufzeichnung mehrmals. Das, was mir der Politstellvertreter der Division über seinen gefallenen Kommandeur erzählte, erscheint mir charakteristisch für die Beziehungen zwischen den Menschen in diesen beiden Dienststellungen, wenn der eine ein echter Kommandeur, der andere hingegen ein echter Kommissar war; nicht auf den Dienstrang bezogen, sondern in der eigentlichen Bedeutung dieses Wortes. „… Leonti Nikolajewitsch Gurtjew, zweiundfünfzig Jahre. Zurückhaltend, hager, äußerst anspruchslos, wortkarg. Er sprach nicht gern öffentlich und sprach auch nicht gut, obwohl er ein gebildeter Mann war, besonders in militärischer Hinsicht. Ruhig und diszipliniert, war er persönlich wie auch in seinen Ent-
schlüssen kühn. Auf sein Wort war Verlaß! Im September 1942 kam er aus Sibirien an die Front. Egal, wie die Lage war, einen Rückzug konnte er sich nicht vorstellen. Als ihn beim Werk ,Barrikady’ ein Bataillonskommandeur um die Erlaubnis zum Rückzug bat, sagte er zu ihm: ,Das kann ich weder dir noch mir erlauben.’ Er war bescheiden und ehrlich. Wissen Sie, wie es manchmal an der Front zugeht? Unser Nachbar meldet dem Oberbefehlshaber: ,Bitte, meine Leute gehen vor, die Nachbarn bleiben zurück.’ Dabei stimmt das gar nicht! Ich sag zu ihm: ,Leonti Nikolajewitsch, gehen Sie doch zum Oberbefehlshaber und stellen Sie das richtig.’ –,Warum? Wenn ich das Recht auf meiner Seite habe, was soll ich da noch melden? Das ändert doch nichts an den Tatsachen?’ Wenn er an einer bestimmten Stelle seinen Gefechtsstand aufbauen sollte, konnte man sich unter allen Umständen darauf verlassen, ihn auch genau dort zu finden und keinen Schritt weiter. Die Männer achteten ihn wegen seiner Bescheidenheit, seiner Ehrlichkeit und seiner Freundlichkeit. Mit dem Oberbefehlshaber war er gut bekannt, aber er erinnerte ihn nicht daran, wenn dem das nicht von allein einfiel. Beim Übersetzen nach Stalingrad war er der erste. Die Männer redete er mit ,Sie’ an. Er schimpfte selten. Er trank auch nicht. Vor Orjol fand sich eine Flasche Portwein an. Trinken wir einen, Genosse General.’ – Jetzt trinken, du bist mir einer! Wenn wir Orjol genommen haben, werden wir einen trinken.’ Nun ist es nicht mehr dazu gekommen. Er kümmerte sich um den tagtäglichen Kleinkram. Er hatte eine Vorliebe dafür. Auf dem Schießplatz besah
er sich immer alles aus der Nähe, kontrollierte die Gewehre, die Läufe… Neunundzwanzig Jahre war er bei der Armee. Journalisten, Gespräche, Abendessen waren nicht sein Fall. Er liebte das Soldatenhandwerk und war jeder Zoll ein Soldat. Er hielt auf stramme Haltung und Ordnung. Er lief gern und schnell, man konnte kaum mit ihm Schritt halten. Das Koppel immer so fest geschnallt, daß man nicht einen Finger dazwischen bekam. Schlafen… Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, wann er schlief. Stets hatte er die Dienstvorschriften in der Tasche. Er schlief direkt am Arbeitstisch im Unterstand. Immer hatte er den Hörer am Ohr. Nie gab er etwas nach oben weiter, bevor er es nicht selber zehnmal überprüft hatte. Er kroch viel in den vordersten Linien herum. Die B-Stelle der Division lag stets vor den B-Stellen der Regimenter. Kam er von dort nach hinten, scheuchte er die Regimentskommandeure vor. Im Kessel hat er die B-Stelle nicht einen Schritt zurückgenommen. ,Wenn wir zurückgehen, gehen auch die Regimenter zurück.’ Im Gefecht trug er stets volle Generalsuniform. Ein Regimentskommandeur meldete: ,Ich bringe das Regiment nicht zum Übersetzen auf die Beine.’ Er hörte ihn an und sagte zu mir: ,Na, dann wollen wir zwei mal das Regiment auf die Beine bringen.’ Er brachte es hoch und setzte mit ihm über. Ein Regimentskommandeur meldete, auf ihn rollten einhundertzwei Panzer zu. Gurtjew wendete sich an mich: ,Was meinst du, stimmt das oder flunkert er?’ – ,Ich glaube, er flunkert.’ – ,Das denke ich auch.’ Wie sich herausstellte, waren es vierzehn Panzer.
Sicher. Ruhig. Bedächtig. Er setzte seinen Willen durch, war aber nicht grausam. Er rüffelte die Männer nicht gern. Gab es Ärger, beschämte er. Und das machte den Leuten mehr zu schaffen, als wenn er sie gerüffelt hätte. Er war ein einfacher Mann, aber kein Einfaltspinsel. Er achtete auch im Unterstellten den Menschen. Fand er an einem einen guten Zug, hielt er damit nicht hinterm Berg. An einem regnerischen Tag spricht er bei der Neuaufstellung mit den Regimentskommandeuren. Da kommt ein Leutnant, meldet sich nach seiner ausgeheilten Verwundung zurück. Gurtjew mustert ihn von oben bis unten und sagt: ,Genossen Kommandeure, Sie haben ja selbst gemerkt, wie’s heute regnet! Drei Werst sind’s bis zum Bahnhof! Und wie meldet er sich? Geschniegelt und gebügelt, die Stiefel auf Hochglanz gewienert. Solche Offiziere müssen Sie ausbilden.’ Nie hob er die Stimme. Wenn er eine Auszeichnung besonders hervorheben wollte, heftete er sie selbst an und gab zu verstehen, er erinnere sich gut, wofür es diese Auszeichnung gab. Er förderte Soldaten, die sich ausgezeichnet hatten, und hielt sie den anderen als Beispiel vor. Er wertete die Rolle des Gefreiten auf und machte klar, was ein Gefreiter in Wahrheit ist, welche Rolle er im Krieg spielt. Aus eigenem Antrieb suchte er seine Vorgesetzten nicht auf, und er mochte es auch nicht, wenn sie ewig lange bei ihm herumsaßen. Könnte man doch das ganze Leben mit so einem Kommandeur zusammen sein! In Stalingrad, als wir Kohldampf hatten, sagte er zu
mir: ,Ach, Swirin, nach dem Krieg mach ich Sowchosdirektor und du bei mir den Leiter der Politabteilung.’ Am dritten August, drei Stunden vor seinem Tod, gingen wir mittags um zwölf auseinander. Und um drei war er tot. In einem ,Wyllis’ brachte man seine Leiche. Die Beine hingen heraus. Wir wollten ihn erst in Orjol begraben. Ich selbst wusch ihn, zog ihm eine saubere Feldbluse an und trug den Sarg zusammen mit seinen nächsten Kampfgefährten. Ich wollte bis zum Schluß an seiner Seite sein. Über dem Grab in der Sadowaja-Straße feuerten wir eine Gewehr- und Geschützsalve ab. Sanitäterinnen brachten Blumen.“ So habe ich in meinem Notizbuch den traurigen Bericht festgehalten, und dieser Bericht über Leben und Tod eines anderen guten Menschen offenbart das moralische Antlitz des Erzählers selbst. Der bereits erwähnte Brief, den ich von der 3. Armee mitbrachte, hing auch mit dem Tod eines Menschen zusammen, den alle liebten. Ich erinnere mich heute nicht mehr, wann der Empfänger dieses Briefes fiel. Auch wenn die Armee in der zweiten Staffel liegt, fallen Soldaten, wahrscheinlich ist es jedoch im Kampf. Jedenfalls war die Erinnerung an den Tod des Bataillonskommandeurs, eines Oberleutnants, wenn ich mich richtig erinnere, bei seinen Kameraden noch frisch. Und der Brief seiner Frau, der am Tag meiner Ankunft für den Toten eintraf, in dem stand, sie wolle ihn verlassen, diese Mitteilung an einen Toten löste bei allen eine solche Empörung aus, daß sie mir das beiderseitig beschriebene Heftblatt übergaben, damit
ich es in ihrer aller Namen beantworte. Ich versprach es, aber ich fuhr wieder weg und war nicht dazu gekommen, und erst zwei Monate später erfüllte ich mein Versprechen, als ich unter dem Eindruck dieser Geschichte das Gedicht „Offener Brief an eine Frau in Witschuga“ schrieb, das an der Front weite Verbreitung fand, wohl weil es in gewissem Sinne eine Antwort gab auf die schwierigen Fragen der Zeit, die, je länger der Krieg andauerte und je quälender die Trennung wurde, immer schwieriger wurden.
14 Zu dritt, Ilja Grigorjewitsch Ehrenburg, der Photoreporter der „Krasnaja Swesda“ Sascha Kapustjanski und ich, traten wir im Oktober die nächste Frontfahrt an. Ursprünglich sollten wir zur linken Flanke der Zentralfront fahren, die in Richtung Kiew vorrückte. Ich erinnere mich nicht mehr, ob wir von der Redaktion umgeleitet wurden oder eigenmächtig die Marschroute änderten, jedenfalls ist in meinen Tagebuchaufzeichnungen die Rede von einer Fahrt zu den Truppen der Zentralfront, die nicht im Abschnitt Kiew, sondern im Abschnitt Gomel operierten. Nacht. Ich bin mit Ehrenburg auf der Suche nach dem Stab von General Batow, den Ehrenburg schon von Spanien her kennt, als Batow militärischer Berater bei Mate Zalka, General Lukacs, war. Als Lukacs
fiel, saßen sie im gleichen Wagen. Lukacs kam ums Leben, sein Kommissar und Batow wurden verwundet. In Spanien hatte Batow den Decknamen Fritz. Dieser Name hat einen recht seltsamen Beiklang, seitdem Ehrenburg diesen Namen zum Synonym für die Deutschen schlechthin machte und sie an allen Fronten so genannt werden. Vorn bei Gomel wird gekämpft. Die Nacht ist so dunkel, daß man die Hand vor Augen nicht sieht. Sämtliche Dörfer und Siedlungen weit und breit sind niedergebrannt. Wir haben uns mit unserem „Wyllis“ verirrt. Kriechen durch den Morast in der menschenleeren Zone, die sich bei einer Offensive zwischen den Front- und Armeestäben bildet: die einen sind noch irgendwo hinten, die anderen aber schon ein ganzes Stück weiter vorn. Eine Einöde. Nur selten trifft man ein fast unversehrtes Dörfchen an, das die Deutschen wegen unseres überraschenden Vorstoßes nicht restlos haben niederbrennen können. Wir kommen in eines dieser Dörfer. Schlamm und Regen. Ehrenburg sitzt auf dem Vordersitz unseres offenen „Wyllis“ in zivilem Pelzmantel und Pelzmütze, mit Stock und Pfeife. Kapustjanski und ich sitzen hinten, eingezwängt zwischen Wäschebeuteln und Waffen. Kurz hinter dem Dorfeingang tritt der Fahrer heftig auf die Bremse, weil von oben plötzlich etwas gegen die Windschutzscheibe schlägt und dann über unseren Köpfen hin und her schaukelt. Wir fahren ein Stück zurück und richten die Scheinwerfer auf dieses Etwas. Es ist ein Deutscher in Uniform-
jacke, Unterhosen und Schuhen, der da an einem niedrigen, quer über die Straße auf zwei Stützen liegenden Balken hängt. Diese Nacht und die über unseren Köpfen baumelnde Leiche werde ich wohl nie vergessen. Zuerst denken wir an Lynchjustiz. Beim Armeestab angekommen, erfahren wir jedoch, daß der Deutsche auf ein Kriegsgerichtsurteil hin gehenkt worden ist. Als unsere Truppen eine Woche zuvor in diese „Zone der verbrannten Erde“ einrückten, war der Befehl ergangen, daß jeder Angehörige des von den Deutschen speziell gebildeten Brandkommandos zum Niederbrennen der Dörfer, dessen man habhaft werde und den man mit Hilfe der Bevölkerung identifizieren könne, in Anwesenheit der Einwohner in jenem Dorf abzuurteilen sei, an dessen Niederbrennung er beteiligt war. Der Deutsche hier war einer der ersten Verurteilten und Gehenkten. Nachdem wir uns ausgeschlafen hatten, frühstückten wir mit Batow. Der General war klein, aber stattlich, muskulös, kräftig, mit markantem, noch jugendlichem Gesicht und vollem, lockigem Haar. Trotz der schon längere Zeit andauernden Offensive machte er auf mich nicht den Eindruck eines müden oder unausgeschlafenen Mannes. Er war höflich und reserviert-wortkarg. Erst als Ehrenburg auf das heute seltsam anmutende ehemalige spanische Pseudonym des Generals zu sprechen kam, lachte Batow und fing an, Einzelheiten aus seinem Soldatenleben in Spanien zu erzählen. Ich war im Laufe des Krieges schon vielen Spanienkämpfern begegnet. An Spanien hatten sie recht
unterschiedliche Erinnerungen, die einen mehr romantische, wie an etwas Unvergeßliches und Unvergleichliches, das immer noch wie eine offene Wunde in ihrem Herzen schwärte, andere, wie Batow, sprachen knapper, zurückhaltender darüber, nannten es eine bittere militärische Erfahrung, und in ihren Worten schwang das Bedauern des Soldaten darüber mit, daß sie damals nicht über das verfügten, was ihnen heute zur Verfügung stand, und daß sie selber auch nicht die waren, die sie heute sind. Aus den nach außen hin zurückhaltenden Äußerungen Batows war der leidenschaftliche innere Wunsch herauszuspüren, alles, was dort geschehen war, heute anders zu machen, fühlte man die nicht ausgesprochenen Worte heraus: Hätte ich damals vor Madrid oder vor Huesca eine solche Armee gehabt wie heute, dann wäre nicht geschehen, was geschah, und die Faschisten hätten Madrid nie aus der Nähe gesehen. Mehr habe ich über die Begegnung mit Batow nicht festgehalten. Als wir auf Spanien zu sprechen kamen, erzählte Batow, wie Zalka den Tod fand. Vielleicht erzählte er, weil ich ihn danach fragte. Ich hatte damals keine Notizen darüber gemacht, aber viele Jahre später, als Roman Karmen und ich den Film „Granada, Granada, du mein Granada“ drehten und Filminterviews mit unseren Spanienfreiwilligen machten, erzählte Batow abermals von Mate Zalkas Tod, diesmal vor dem Objektiv der Kamera. Der Streifen gibt seinen Bericht vollständig wieder. Ich will mein Versäumnis aus der Kriegszeit wiedergutmachen und diesen Bericht hier bringen. „Drei Fahrzeuge fuhren auf Aufklärung. Neben dem
Fahrer unseres ersten Wagens, Emilio, einem guten Genossen, spanischer Kommunist, saß der Politkommissar der 12. Interbrigade, auf den Rücksitzen saßen Mate Zalka und ich. Wir fuhren um einen Felsvorsprung, und auf der sich anschließenden geraden Straße hatten wir eine Geschwindigkeit von vierzig bis fünfzig Stundenkilometern. Die Straße war zwar ausgezeichnet, konnte aber von Huesca aus eingesehen werden. Plötzlich eine heftige Detonation am rechten Vorderrad: Der Wagen neigte sich stark zur Seite. Mate Zalka sagte zu mir in einem Ton, den ich noch heute in den Ohren habe: ,Fritzinko!’, hob die linke Hand vom Knie und ließ sie wieder sinken. Der Wagen wurde nach links gegen die Mauer über einen Steilhang geschleudert. Der Fahrer, an Arm und Kopf verwundet, riß den Wagen, bevor er das Bewußtsein verlor, nach rechts, und wir prallten gegen einen Begrenzungsstein. Durch den Aufprall flog Mate Zalka mit dem ganzen Körper auf mich. Ich berührte seine Schläfe, hatte die Hand voll Blut. Und gleichzeitig fühlte ich, wie ich, die Beine voran, aus dem Wagen flog. Ich krachte auf die Betondecke und muß wohl für einige Zeit das Bewußtsein verloren haben. Dann sprang ich auf und sah im Straßengraben einen Sanitäter auf mich zukommen. ,Primero General Lukacs! Zuerst Lukacs!’ rief ich ihm zu und drehte mich zu Mate Zalka um. Mate lag auf der linken Seite und hing halb aus dem Wagen. Sein Kopf berührte schon die Straße, und alles war voller Blut. Ich weiß noch, wie mir durch den Kopf ging: Hat ein Mensch denn so viel Blut? Ich stand immerhin zehn Schritte
weiter, und das Blut floß über den Beton bis zu mir. Der Sanitäter lief zum Wagen, ich besah mich genauer und merkte, daß auch ich stark blutete. Es war also mein Blut, und die Blutspur war mir gefolgt, als ich aus dem Wagen flog. An mehr kann ich mich nicht erinnern. Ich brach zusammen und verlor das Bewußtsein. Im Lazarett kam ich wieder zu mir. Auf dem Operationstisch der mit Binden und Watte dick umwickelte Kopf Mate Zalkas. Ich sehe, er lebt noch, denn sein Adamsapfel bewegt sich. Dann sehe ich, daß der Leiter des Sanitätsdienstes unserer Brigade Heilbrunn bereits hier im Lazarett ist. Ich sage zu ihm: Ein Konsilium für General Lukacs! Immer noch glaubte ich, man könne noch was tun. Heilbrunn trat zu mir und sagte: ,Colonel Fritz, sehen Sie doch mal Ihre Bluse, Ihre Haare an. Das Gehirn und das Blut Mate Zalkas haben Ihre Bluse durchtränkt. Ein Konsilium nützt hier nichts mehr.’ Dann verlor ich wegen des Blutverlusts erneut das Bewußtsein. Nachdem man mir zwei Splitter entfernt und mich verbunden hatte, kam eine Krankenschwester, eine Spanierin von vielleicht dreißig Jahren, sie hatte einen kleinen Jungen bei sich. Später erst erfuhr ich, daß sie die Frau eines Hauptmanns der Republikanischen Armee war. Sie sprach mit dem Arzt, aber ich verlor wieder das Bewußtsein. Als ich zu mir kam, sah ich neben mir eine andere Trage, und auf ihr lag diese Krankenschwester. Ich habe so etwas nie wieder gesehen. Wissen Sie, es gibt so eine Bluttransfusion über ein T-Stück. Die eine Glaskanüle steckte in ihrer Vene, die andere in meiner und dazwischen ein
Gummischlauch mit einem Ballon. Mit Hilfe des Ballons wurde ihr Blut angesaugt und mir eingepumpt. So lebe ich also bis zum heutigen Tag – und ich werde mit diesem spanischen Blut bald siebzig.“ So berichtete mir dreißig Jahre später vom Tod Mate Zalkas sein ehemaliger militärischer Berater Pawel Iwanowitsch Batow, und – möchte ich hinzusetzen – einer der Ritter des spanischen Bürgerkriegs. Da ich die vom Band auf das Papier übertragene Aufzeichnung lese und sie in Gedanken mit dem wenigen vergleiche, was ich noch von 1943 im Gedächtnis habe, als ich Batows Bericht zum erstenmal hörte, muß ich zum wiederholten Male betrübt denken: Wieviel haben ich und meinesgleichen in diesen Jahren doch versäumt, nicht behalten, nicht aufgeschrieben. Ich kehre zu den Tagebuchaufzeichnungen zurück. Ein bei Tagesanbruch befreites Dorf. Von früh ist der Tag trübe, irgendwie grau in grau. Auch das Dorf ist grau. Zwei Drittel der Häuser sind niedergebrannt. Inmitten der Brandstätten ragen die Öfen aus der Erde, auch sie sind irgendwie grau durch den regennassen Lehm, mit dem sie verschmiert sind. Die Menschen sind erbärmlich gekleidet. Hinter dem Flüßchen auf der schmutziggrauen Wiese bunte Flecken, rotbraun, schwarz-weiß – eine von den Deutschen mit dem MG niedergemähte Herde. Es sind kaum Menschen zu sehen. Viele sind noch nicht aus dem Wald zurückgekommen. Die Deutschen haben vor ihrem Abzug mit der Herde auf der Wiese drei Hütejungen erschossen. Die Mutter des einen
berichtet allen Umstehenden grauenhaft ausführlich, was sich hier abgespielt hat. Der Sohn, den sie von der Wiese geholt hat, liegt neben dem Ofen. Sein Kopf wird entstellt sein, denn er ist mit einer schmutzigen schwarzen Jacke bedeckt. Die Frau wirkt so alt, daß man sie für die Großmutter des getöteten Jungen halten könnte. Sie schildert den Hergang sehr ausführlich, spricht überhastet und sieht uns dabei an, als müßten wir etwas tun, etwas wiedergutmachen. Aber als sie geendet hat, sieht sie uns erstaunt an, als nähme sie uns jetzt erst wahr. Dann dreht sie sich wortlos um und geht zum Ofen inmitten der Trümmerstätte. Im Ofen ist Feuer. In einem Kochgeschirr ist etwas am Kochen. Und davor liegt der Sohn mit der schwarzen Jacke über dem Kopf… … Ut, ein anderes Dorf, auch niedergebrannt. Eine andere Frau, die von ihrem Nachbarn erzählt, dem fünfundneunzigjährigen Kirill Matwejewitsch Kriwenko: „Ich sag zu ihm ,Komm mit in den Wald, die werden deine Hütte anstecken.’ – ,Mit der Mistgabel geh ich auf die los, wenn sie kommen. Sollen sie’s nur versuchen.’ Schon früher hatte er sich mit den Deutschen angelegt. Besoffene Polizisten waren zu ihm gekommen, hatten Jagd auf kleine Kinder gemacht. Da hat er einen Knüppel genommen und zweien ein paar über den Schädel gezogen und dem dritten über den Rücken. Da sind sie abgehauen. Hinterher haben sie nichts gegen ihn unternommen, es war ihnen sicherlich peinlich, einzugestehen, daß sie von einem so alten Mann Prügel bezogen haben. Bloß seine Kuh haben sie ihm abgenommen. Doch
dann steckten die Deutschen das Dorf an, und die Leute sind ins Moor geflüchtet. Als die Deutschen zu seiner Hütte kamen, ist er mit der Mistgabel aus dem Hof gestürzt. Einen hat er in den Bauch gestochen. Andere Deutsche haben ihn gepackt. Eine Viertelstunde hat er geschrien: ,Helft mir!’ Sie haben ihm die Arme verdreht, ihm die Knochen gebrochen und ihn dann mit einer Pistole ins Ohr geschossen. Und das Haus angesteckt.“ Bei meiner nächsten Tagebucheintragung handelt es sich ungeachtet ihres humorvollen Tons im Grunde genommen nicht so sehr um eine komische Liebesgeschichte als um etwas Ernsteres – um das Gläschen zuviel, dessentwegen im Krieg manch einer auf dumme Art sein Leben lassen mußte. Ich widmete diesem Thema später ein hartes und meiner Meinung nach kompromißloses Kapitel in dem Roman „Man wird nicht als Soldat geboren“, in dem davon die Rede ist, auf welche Art und Weise Menschen ums Leben kommen. Die Tagebucheintragung weist diese Kompromißlosigkeit nicht auf, vielleicht weil wir nun mal dazu neigen, über Vorfälle zu lachen, die man gottlob mit heiler Haut überstanden hat. Wäre es damals anders gekommen, wäre der Ton meiner Eintragung wahrscheinlich auch ein anderer gewesen. Ehrenburg und ich trennten uns, jeder suchte andere Einheiten auf. Er blieb an dem Tag bei Batows Truppen, während ich zu den in der Nähe liegenden Nachbarn fuhr, zu den Männern einer Division, die einen Brückenkopf gebildet hatten und bereits auf
dem gegenüberliegenden westlichen Ufer des Sosh kämpften. Kapustjanski und ich trafen gegen elf Uhr vormittags bei dem Divisionskommandeur, einem Oberst, ein. Der Divisionsstab lag etwa vier Kilometer vor dem Fluß, von wo recht heftiges Artilleriefeuer herüberklang. Als wir ankamen, hörten wir, daß der Oberst kurz vorher von der Übersetzstelle zurückgekommen war und sich schlafen gelegt hatte. Er schlief jedoch nicht im Haus, sondern in einem gleich draußen im Hof unter einem Baum aufgeschlagenen Zelt. Obwohl es Oktober war und kalt. Diese Angewohnheit des Obersts, bei solchem Wetter im Zelt zu schlafen, ließ auf spartanische Gewohnheiten schließen. Nach fünf Minuten kam er aus dem Zelt, schloß mit einer Hand den Haken am Kragen der Feldbluse, mit der anderen fuhr er sich über das verschlafene Gesicht. Er war ein stämmiger, untersetzter Mann mit rundem, fröhlichem Gesicht. Nach der Begrüßung erkundigte er sich nach dem Zweck unseres Kommens, sagte, er habe schon gehört, daß Ehrenburg und andere hier bei der Zentralfront seien, und lud uns zum Frühstück ein. Wir lehnten ab, da wir schon gefrühstückt hatten und außerdem keine Zeit verlieren wollten, aber es half uns nichts, wir mußten mithalten. Auf dem Tisch tauchten Wodka und ein Imbiß auf. Der Oberst erwies sich mir gegenüber als sehr gastfreundlich, noch gastfreundlicher aber war er zu Kapustjanski. Er hatte Kapustjanski anfangs für Ehrenburg gehalten. Dabei hatten ihn weder Kapustjanskis relative Jugend noch dessen Photoapparat gestört, mit dem dieser mehrere
Aufnahmen von uns machte. Anscheinend sagte sich der Oberst, das werde schon seine Ordnung haben, und wollte sich nicht von dem schmeichelhaften Gedanken trennen, Ehrenburg zu Gast zu haben. Als wir das erste Gläschen geleert hatten, kam eine Frau in der Uniform eines Militärfeldschers herein, genauso untersetzt und stämmig wie der Oberst. Sie sah aus wie dreißig und hatte nichts Anziehendes an sich. Sie war plump gebaut, die Uniform hing an ihr wie ein Sack, sie hatte ein großes, häßliches Gesicht und eine heisere Stimme. Bei ihrem Erscheinen erhob sich der Oberst halb von seinem Platz, wies mit der Hand auf sie und sagte: „Erlauben Sie, daß ich bekanntmache. Nina, meine Nichte.“ Diese Vorstellung war so ungewöhnlich, daß mir gleich in der ersten Sekunde durch den Kopf ging: Ob das wirklich seine Nichte ist? Die „Nichte“ setzte sich zu uns, trank ein Gläschen Wodka, saß still und bescheiden da, sagte keinen Ton. Ich aber dachte: Ob er sie wohl allen als seine Nichte vorstellt, oder hat er sich das gerade einfallen lassen? Nach allem, was ich vor meiner Fahrt zur Division gehört hatte, war er ein kämpferischer, tollkühner, kräftiger und noch nicht alter Mann. Was mochte ihn zu ihr ziehen? Aber ich fand keine Antwort darauf. Mit der Zeit kam der Oberst in Fahrt, er trank noch ein Gläschen und war – für uns überraschend – auf einmal beschwipst, was man möglicherweise auf die schlaflose Nacht an der Übersetzstelle zurückführen konnte. Jedenfalls hatte er nicht soviel getrunken, um davon angeheitert sein zu können. Ich selbst befand mich lediglich in einem beschwingten Zustand, in
dem mir drohende Gefahren weniger gefährlich erscheinen als sonst, in dem ich aber immer noch nüchtern denken kann, so daß es nicht weiter gefährlich ist. Unser Gastgeber aber war äußerst aufgeräumt. „Ich werd Ihnen alles sagen“, sagte er, „und alles zeigen. Gestern bin ich über den Sosh. Ich werde Ihnen zeigen, wo ich rüber bin und wie ich ihn überschritten habe – auf einer Sturmbrücke. Und dann gehen wir zu den Kompanien oder zu den Artilleristen. Meine Paks hab ich schon auf dem anderen Ufer. Wir werden sie uns ansehen. Gestern erst habe ich den Sosh überschritten, und schon habe ich mich auf der anderen Seite festgekrallt. Rüber und festgekrallt. Die Bataillonsgefechtsstände sind auch schon drüben. Auch den Regimentskommandeuren werde ich Beine machen. Sie werden alle dort sein. Ich zeige Ihnen alles…“ Er redete wie jemand, der auf dem eben zugewiesenen Datschengrundstück Besuch bekommt. Hier kommt der Blumengarten hin und dort der Gemüsegarten. Und hier pflanzen wir Tannen an. Und hier werden die Erdbeeren sein! Der Oberst wollte uns alles zeigen, was ihm nur einfiel, und gleichzeitig wollte er uns wohl auch seine Tapferkeit demonstrieren. Mir war nicht sehr wohl. In derartigen Fällen bleibt einem gar nichts weiter übrig, man muß hinterher, muß immer weiter, muß kriechen, muß rennen; und hat man sich von all dem erholt, muß man auch noch so tun, als sei alles hochinteressant, wohin man auch geführt wird.
Vor dem nächsten Gläschen zupfte die „Nichte“ den Oberst am Ärmel, bemüht, das möglichst unauffällig zu tun. Er aber musterte sie mit seinen lustigen schwarzen Augen, zwinkerte, klatschte ihr mit der kräftigen Hand auf den mächtigen Rücken und sagte: „Noch einen Schluck auf den Weg!“ Wir tranken noch einen als Wegzehrung und gingen hinaus. Der Oberst wies auf einen „Wyllis“: „Das ist meiner.“ „Wir nehmen unseren Wagen“, sagte ich. „Nein, Ihren lassen Sie hier stehen. Mit dem sind Sie doch von Moskau gekommen?“ „Allerdings.“ „Man wird ihn Ihnen dort an der Übersetzstelle in Klump schießen, und Sie müssen doch wieder zurück. Schonen Sie ihn lieber. Da ist’s schon besser, wenn meiner zu Klump geht.“ Der Oberst sprach so fürsorglich von unserem Wagen, als sorge er sich nur um ihn und keineswegs um uns. Wir stiegen in einen „Wyllis“. Vorn saßen der Fahrer und der Oberst. Hinten ich, Kapustjanski und ein Soldat mit einer MPi. Als der Fahrer startete, kam die „Nichte“ aus dem Haus gerannt, den sie umschlotternden Mantel bloß übergeworfen, das Käppi auf dem Kopf und die Sanitätstasche über der Schulter. Sie stürzte auf uns zu. „Wo willst du hin?“ fuhr der Oberst sie an. Er hielt diese momentane Strenge aber nicht durch und zwinkerte gleich wieder fröhlich. „Allein lasse ich Sie nicht dorthin, Genosse Oberst“, sagte die „Nichte“ energisch. „Was soll das heißen – du läßt mich nicht hin?“
Wieder zwinkerte der Oberst, diesmal jedoch in meine Richtung und nicht zu ihr, als wolle er sagen: Nun guck dir doch die an, will mich nicht hinlassen! „Ich komme unbedingt mit, Genosse Oberst. Es ist meine Pflicht, bei Ihnen zu sein.“ „Fahr los“, sagte der Oberst zum Fahrer. Der Fahrer aber startete immer wieder erfolglos, vielleicht ohne jeden Hintergedanken. „Wenn du nicht fahren kannst, fahr ich mit Nikolai! Steig aus“, fuhr der Oberst den Fahrer an. „Er wird gleich anspringen, Genosse Oberst“, sagte der Fahrer. „Rücken Sie zusammen“, sagte die „Nichte“, schob ein Bein in den „Wyllis“ und drängelte Kapustjanski mit ihrer Hüfte recht energisch beiseite. „Ich setz mich neben Sie.“ „Wo willst du denn sitzen? Das wird zu eng.“ „Dann setz ich mich eben auf den Kotflügel“, sagte die „Nichte“. „Na schön, dann steig schon ein“, sagte der Oberst. Wir fuhren los und waren bald darauf am Ufer des Sosh angelangt. Heute, da ich dies niederschreibe, muß ich lachen. Damals aber war mir nicht zum Lachen. Der Sosh ist an der Stelle nicht sehr breit, vielleicht hundert Schritte von einem Ufer zum anderen, aber er ist ein tiefer Fluß mit starker Strömung. Ein Stück flußabwärts rammten Pioniere Pfeiler für eine Brücke ein. Einstweilen hatte man nur eine schmale Sturmbrücke über den Fluß geschlagen – zwei Seile an den Seiten ersetzten das Geländer. Wenn jemand über diese Sturmbrücke ging, tauchte sie in der Mitte ins Wasser, und er wurde naß bis an die Knöchel, ja sogar bis an die Knie. Wie uns der Oberst schon unterwegs gesagt hatte,
war der Brückenkopf am anderen Ufer noch klein, hatte eine Breite von rund drei Kilometern und eine Tiefe von achthundert bis tausend Metern. Als wir nach unserer Ankunft ans Ufer traten, brachte man gerade vom anderen Ufer, vom Brückenkopf her, Schwerverwundete herüber. Soldaten schleppten sie auf Mänteln, und in der Flußmitte tauchten diese Mäntel manchmal ins Wasser, weil sich die Brücke unter der Last so durchbog, daß das Wasser bis über die Knie ging. Kaum waren wir ausgestiegen, wies der Oberst, der sich sehr um das Gerät kümmerte, den Fahrer unverzüglich an: „Jetzt mach, daß du wegkommst, stell ihn ein bißchen weiter hinten ab, sonst hauen die dich kurz und klein. Gleich wird er losballern.“ „Er“ zögerte nicht, die Prophezeiung zu erfüllen, und nahm tatsächlich das Feuer auf. Wurfgranaten detonierten am Ufer, erst links von uns, dann weiter rechts. Das Übersetzen der Verwundeten wurde eingestellt, der Oberst aber blieb mit uns stehen und rührte sich nicht. Mich ergriff ein dummes Gefühl von Scham und Angst gleichzeitig. Die Männer ringsum hatten ganz vernünftig Deckungen aufgesucht, ausgenommen die Pioniere, die flußabwärts weiter Pfähle einrammten. Der Verkehr auf der Brücke kam zum Erliegen. Die Wurfgranaten rissen Wasserfontänen empor. Ich war drauf und dran, mich hinzuwerfen, aber der Oberst blieb stehen. Ich weiß nicht, wie lange wir noch so dagestanden hätten, wäre die „Nichte“ nicht gewesen. „Genosse Oberst“, sagte sie. „Lassen Sie uns zum Gefechtsstand gehen. Sie dürfen hier nicht bleiben.“
„Und warum darf ich nicht hierbleiben?“ sagte der Oberst. Wieder zwinkerte er uns zu. „Ich überwache das Übersetzen. Warum soll ich dann nicht hierbleiben dürfen?“ „Sie haben hier nichts verloren, Genosse Oberst“, sagte die „Nichte“. „Davon verstehst ausgerechnet du was“, sagte der Oberst. „Wenn du Angst hast, ab nach Hause. Geh zum ,Wyllis’, kannst ihn haben. Fahr damit nach Hause. Sag bloß dem Fahrer, er soll wieder zurückkommen.“ „Ich werde nirgendshin fahren“, sagte die „Nichte“. „Sie haben hier nichts verloren, Genosse Oberst. Gehen Sie zum Gefechtsstand.“ „Na gut, dann gehen wir eben“, sagte der Oberst auf einmal friedlich, aber er ging nicht zurück zum Gefechtsstand, sondern nach vorn zur Sturmbrücke. Wir folgten ihm. Die „Nichte“ aber rannte vorneweg. „Sie waren doch schon die ganze Nacht dort, Genosse Oberst. Warum gehen Sie wieder hin? Sie haben dort nichts zu suchen“, wiederholte sie hartnäckig. Der Oberst aber ging weiter, ohne im geringsten ungehalten zu sein, schien bester Laune. So überschritten wir die Sturmbrücke: der Oberst, die „Nichte“, ich, Kapustjanski und der Soldat mit der MPi. Der Erdbunker des Bataillonskommandeurs am anderen Ufer war nicht sonderlich stabil, er war nicht einmal mit Bohlen überdeckt, sondern nur mit Brettern, auf die Erdreich geschüttet war. Aber es war immerhin ein Loch in der Erde, noch dazu in einem vom Gegner abgewandten Hang. Hier setzten wir uns ein Weilchen mit dem Oberst hin, der mir ein paar
Einzelheiten vom gestrigen Gefecht mitteilte, während Kapustjanski indessen zwei MPi-Schützen knipste, die sich ausgezeichnet hatten, ein Stück des Ufers und ein Geschütz, das auf einem Floß übergesetzt wurde. Der Bataillonskommandeur war nicht in seinem Erdbunker. Er war zu einer seiner Kompanien gegangen. Der Oberst erzählte mir alles Notwendige, und als er sich ein bißchen aufgewärmt hatte, ließ ihm seine Untätigkeit keine Ruhe. „Jetzt wollen wir mal den Bataillonskommandeur suchen“, sagte er zu mir und zwinkerte. „Vielleicht hat er bloß so gesagt, er ginge zu der Kompanie. Dabei ist er rüber aufs andre Ufer zur zweiten Staffel.“ Der im Erdbunker anwesende Politleiter protestierte gegen diese für den Bataillonskommandeur beleidigende Unterstellung. „Auf alle Fälle wollen wir uns mal ein bißchen umsehen“, meinte der Oberst. „In Ordnung, gehen wir“, sagte ich. Ich verließ den Erdbunker zwar nicht allzu gern, aber angesichts der unverwüstlichen Energie dieses Mannes kam ich mir wehrlos vor, und er würde uns an einem Tag wie dem heutigen so oder so überall hinschleppen. Kaum hatten wir den Bunker verlassen, als die „Nichte“, die im Beisein des Politleiters den Mund gehalten hatte, wieder anfing: „Genosse Oberst, das dürfen Sie nicht. Bleiben Sie hier, gehen Sie nicht…“ Ich musterte diese Frau: Ob nicht bei ihren Überredungsversuchen auch die eigene Angst, die Unlust mitspielte, in Ausübung ihrer Pflicht als Militärfeldscher dorthin zu gehen, wohin er ging? Doch sogleich
verwarf ich diesen Gedanken wieder… Sie hatte etwas an sich, das diesen Gedanken ausschloß. Der Gedanke, er könne fallen, machte ihr so zu schaffen, daß sie wahrscheinlich nicht an sich selbst dachte. Nach einer halben Stunde langten wir wohlbehalten bei der Kompanie an. Dort gab es eine kurze Verschnaufpause in dem am Waldrand gelegenen Erdbunker des Kompanieführers. Weiter nach vorn konnte man im Grunde nicht mehr, und wahrscheinlich wäre hier auch Endstation gewesen, hätte der Bataillonskommandeur, der nicht am anderen Ufer war, sondern wirklich bei dieser Kompanie, sich nicht entschlossen, die an der Front übliche Gastfreundschaft zu bekunden, uns Bratkartoffeln vorgesetzt und den Verschluß seiner Feldflasche aufgeschraubt. „Die verputzen wir“, meinte der Oberst und zwinkerte mir zu. Von den Kartoffeln aßen wir nicht, da wir satt waren, aber um einen Schluck aus der Flasche kamen wir nicht herum. Ich unterhielt mich eine halbe Stunde mit dem Bataillonskommandeur und bemerkte, daß der Oberst wegen dieser Verzögerung ungehalten war. Seine rastlose Natur verlangte nach weiteren Aktionen. „Was haben Sie in der Nähe noch vorzuweisen?“ fragte er den Bataillonskommandeur unvermittelt. Der Bataillonskommandeur erklärte den Standort der Kompanien. „Nein, das brauchst du mir nicht zu erzählen“, sagte der Oberst. „Hast du was, was man Schriftstellern vorweisen könnte? Genosse Simonow und ein anderer Genosse sind zu uns gekommen“ – er musterte Kapustjanski argwöhnisch, als wolle der
ihm bloß nicht den Gefallen tun und sich als Ehrenburg ausgeben, dann fragte er mich: „Meine Artillerie haben Sie noch nicht gesehen?“ Ich schwieg, harrte des Kommenden. „Haben Sie schon mal Paks gesehen?“ Ich bejahte. „Haben Sie sie aber auch schon in der Feuerstellung gesehen?“ fragte er und fügte, ohne erst meine Antwort abzuwarten, hinzu: „Ich werde sie Ihnen in der Feuerstellung zeigen.“ Der Bataillonskommandeur versuchte einzuwenden, bis zu den Kanonen sei es von hier einen halben Kilometer, der Wald auf dem Weg dorthin sei abgeholzt, das Gelände sei offen, die Deutschen nähmen es unter Beschuß. Wir sollten lieber zurück zum Ufer und auf dem anderen Weg, durch eine Senke, zu den Artilleristen gehen. „Wir gehen gleich hier lang“, sagte der Oberst, zwinkerte mir zu und meinte dann zum Bataillonskommandeur: „Wenn du Angst hast, brauchst du ja nicht mitzukommen. Ich brauche dich dort nicht. Du hast schließlich deine eigenen Aufgaben, bleib ruhig hier!“ Darauf schloß sich uns der Bataillonskommandeur schweigend an. Zuerst war alles ruhig, dann aber eröffneten die Deutschen genau am Kahlschlag das Feuer, wie der Bataillonskommandeur vorausgesagt hatte. Ein paarmal mußten wir uns hinwerfen. Unterwegs ging die „Nichte“ ein paarmal vor. Sie wollte den Oberst wohl mit ihrem Körper schützen. Und obgleich bei Granatwerfer- oder Artilleriebeschuß niemand vorhersagen kann, von welcher Seite man jemandem Schutz bieten muß, haben sogar versierte Männer immer wieder das instinktive Gefühl, man könnte einem anderen mit dem eigenen Körper
Schutz bieten, wenn man vor ihm geht. Und das war ihre Absicht. Nachdem wir ein paarmal in Deckung gegangen waren und fast in der Mitte des offenen Geländeabschnitts angelangt waren, schlugen vor uns in dichter Folge Wurfgranaten ein. Der Oberst, der wohl nüchtern geworden war, ging weiter, beschleunigte seinen Schritt. Die „Nichte“ aber packte ihn am Mantelschoß und schrie: „Genosse Oberst! Gehen Sie nicht weiter! Das dürfen Sie nicht!“ Zuvor hatte uns der Oberst geboten, Abstand zu halten, wie er sich ausdrückte, und wir hielten uns zehn Schritt zurück, aber als sie ihn plötzlich am Mantelschoß packte und festhielt, prallte ich unwillkürlich gegen sie. Sie bemerkte mich nicht oder dachte nicht daran, daß ich so nahe war, und plötzlich hörte ich sie sagen: „Geh nicht weiter, Lieber, geh nicht, die bringen dich um!“ Als sie mich dann bemerkte, schrie sie wieder laut: „Genosse Oberst! Gehen Sie nicht weiter!“ Der Oberst entriß ihr mit einer heftigen Bewegung den Mantelschoß und ging schnell vorwärts. Nach ein paar Minuten langten wir wohlbehalten bei den Artilleristen an, saßen eine Weile bei ihnen, kehrten auf dem anderen Weg zum Ufer zurück, sahen den Pionieren bei der Arbeit zu, setzten wieder über den Sosh und hielten uns dann noch ein paar Stunden an der Übersetzstelle auf, nun schon am diesseitigen Ufer. Der Oberst, nun wieder völlig nüchtern, demonstrierte jetzt nicht mehr sinnloses Draufgängertum, sondern zeigte sich recht geschäftig, spornte die Artillerie beim Übersetzen an, kontrollierte, wie die Pioniere die Erdbunker bauten und
womit sie sie überdeckten, verfolgte das Übersetzen eines Regimentsstabes aufs andere Ufer. Im großen und ganzen kam schließlich doch alles ins rechte Gleis. Es waren die üblichen abendlichen Arbeitsstunden eines gewöhnlichen Fronttages. Als wir wieder beim Divisionsstab anlangten, war es schon dunkel, wir verabschiedeten uns in aller Eile und stiegen, ohne erst bei dem Oberst einzutreten, in unseren „Wyllis“ um und fuhren ab. Auf der Rückfahrt fragte ich mich, was wohl im Herzen der „Nichte“ vorgehen mochte, die offenbar schon des öfteren ihr Leben aufs Spiel gesetzt hatte, wenn sie ihren ungestümen Oberst begleitete. Sie war keine Schönheit, und er hatte eine Familie, hatte Frau und Kinder, woraus er kein Hehl machte, denn zu Beginn des Frühstücks hatte er es in ihrer Gegenwart erwähnt. Sie rechnete wohl kaum damit, daß ihr Verhältnis von Dauer sein würde. Mit Kriegsende würde für sie sicherlich auch ihr persönliches Glück zu Ende sein. Sie liebte diesen Mann ganz einfach, ohne sich Gedanken um die Zukunft zu machen, sie wußte, daß sie nicht schön war und auch nicht mehr jung und daß er ihretwegen seine Familie nicht verlassen würde. Während sein Gefühl für sie wohl eher eine Art Verwunderung über sie war, über ihre Bereitschaft, sich für ihn zu opfern und gleichzeitig wohl auch von der Macht der Gewohnheit hervorgebracht, weil immer nur sie um ihn war und sonst niemand. So ist mir dieser Tag in Erinnerung geblieben, an dem sich mehr Dramatisches als Komisches ereignete.
An diesem Tag am Sosh, von dem die Rede war, konnte ich als Schriftsteller natürlich nicht vorübergehen. So etwas erlebt man an der Front nicht allzu oft – daher auch diese ausführliche Tagebucheintragung. Als Korrespondent der „Krasnaja Swesda“ bot mir dieser Tag jedoch verständlicherweise keinen brauchbaren Stoff. Kapustjanski und ich setzten darauf am folgenden Tag noch einmal über den Sosh, diesmal in einem anderen Abschnitt, an einem anderen Brückenkopf. Im Ergebnis brachte die „Krasnaja Swesda“ meinen Bericht „Am Sosh“, in aller Eile niedergeschrieben und über die militärische Leitung durchgegeben. Die Reportage zeichnete sich durch nichts aus, höchstens durch Operativität. Ich fand unter den Tagebucheintragungen ein paar Seiten, die mit jenem Herbsttag auf diesem zweiten Brückenkopf am Sosh verbunden sind. Der Brückenkopf wurde gehalten und sollte während der Nacht erweitert werden. Dichter Wald – die Sicht stellenweise nur zwanzig Schritt –, vom Herbstregen aufgeweicht. Morast. Die Stiefel sinken ein bis ans Knie. Es regnet so, daß die Soldaten beim Essen die Hand über die Kochgeschirre mit der Suppe halten. Wird im Herbst, bei Matschwetter, eine große Viehherde über ein Feld getrieben, so ist die Erde von den Hufen aufgewühlt. Vergrößert man in Gedanken diese Spuren auf das Zehnfache, so erhält man das von Wurfminen aufgewühlte Westufer des Sosh. Wäre das alles nicht im Laufe von zwei Tagen, sondern auf einmal heruntergekommen, keine Maus wäre mehr am Leben.
Auch der Wald ist übersät von Trichtern. Und dazwischen Gräben und Schützenlöcher, schmutzig und naß, in denen zwar das Wasser knöcheltief steht, da sie jedoch Schutz vor dem Tod bieten, dennoch einen Schimmer von Behaglichkeit ausstrahlen. Es geht auf Mittag zu. Wir sitzen zu dritt im Unterstand des Regimentskommandeurs: der Regimentskommandeur, ein Oberst, Kommandeur des ihn unterstützenden Artillerieregiments, und ich. Der Unterstand ist in einem Sandhügel am Fuße von Kiefern ausgehoben und mit zwei Lagen Balken überdeckt. Eine schwere Granate kann die Decke durchschlagen, eine Wurfgranate wohl kaum. Der feuchte Sandboden ist mit nassem Reisig ausgelegt. Das Mittagessen, das in Thermosbehältern vom anderen Ufer geholt wird, verspätet sich. Granaten schlagen an der Übersetzstelle ein. Die Einschläge sind bis hierher zu hören. Der vorsorgliche Artillerist füllt Becher mit Wodka aus einer erbeuteten Feldflasche. „Zum Appetitanregen!“ sagt er und fügt hinzu, er hätte Artilleristenaugenmaß. „Genau hundert Gramm eingeschenkt.“ Ich habe keinen Appetit, aber es tut gut, sich in dieser Feuchtigkeit, bei der einem die Zähne klappern, von innen aufwärmen zu können. Die beiden Regimentskommandeure sind seit Beginn zusammen. Ihrem Gespräch nach zu urteilen, sind sie befreundet. Die Kanonen des Artilleristen stehen einstweilen noch am anderen Ufer, nehmen die Deutschen von dort unter Feuer, er selbst aber ist seit den ersten Stunden des Übersetzens hier bei der Infanterie.
„Wald ist sehr gut“, meint der Infanterist. „Die Deutschen haben Wälder gar nicht gern, meine Infanterie dagegen hat sie um so lieber. Im Wald kann man mit zahlenmäßig schwachen Kräften und ein bißchen Wagemut viel ausrichten, besonders nachts.“ Der Artillerist widerspricht, sagt, das sei das einzige, worin er mit den Deutschen völlig übereinstimme – auch er könne Wälder nicht ausstehen. „Im Wald sieht man doch so gut wie nichts, sieht nicht, wohin man schießt, sieht nicht, wo die Einschläge liegen. Man feuert nach Planquadraten – das macht doch keinen Spaß! Möglicherweise liegt das Feuer im Ziel, aber man sieht es nicht!“ Zwei Soldaten bringen einen Thermosbehälter. „Entschuldigen Sie, Genosse Oberst, wir sind seinetwegen aufgehalten worden.“ Der eine Soldat weist auf den anderen. „Und weshalb!“ „Ich habe einen Kratzer am Bein abbekommen. Mitten auf der Brücke, an der Übersetzstelle.“ „Geh dich verbinden lassen,“ „Hab mich schon selbst verbunden.“ „Egal, geh nur, geh“, wiederholt der Oberst. Der Soldat verschwindet. „Beinahe wäre er ins Wasser gefallen“, sagt die im Erdbunker verbliebene Ordonnanz, nachdem der andere weg ist. „Ich dachte schon, wir würden heute Ihre Suppe absaufen lassen, Genosse Oberst.“ „Was ist es denn für welche?“ „Stschi.“ „Stschi – na prima.“ Nach dem Essen versammeln sich die Bataillons-
kommandeure beim Regimentskommandeur zur Beratung. Es hat aufgehört zu regnen, und wir gehen hinaus, legen uns auf ausgebreitete Zeltbahnen. Der Regimentskommandeur stellt die Aufgabe für die Nacht – möglichst nahe an das morgen zu nehmende Dorf, an den Waldrand vorrücken. Er legt mit dem Artilleristen die Ziele fest, die das Artillerieregiment in der Nacht unter Beschuß nehmen soll. Während der Beratung ziehen ein paar deutsche Wurfgranaten hoch über uns hinweg. Sie schlagen in großer Entfernung ein, aber außer mir reagiert keiner darauf. Es fängt wieder an zu regnen. Die Kommandeure gehen zu ihren Bataillonen. Der Oberst und ich machen uns gleichfalls auf den Weg, wir wollen mit den Männern sprechen. Es regnet ununterbrochen. Selbst wenn es mal aufhört, tropft es einem in den Kragen, weil der Wind die Tropfen von den Blättern und Zweigen schüttelt. In den Schützengräben gibt es zwei Hauptthemen – daß es schon lange keinen Tabak mehr gegeben hat und daß man sich trocknen lassen könnte, wenn nur die Sonne mal durchkäme. Beim Rauchen muß ich feststellen, daß mein Tabak feucht geworden ist; eine gedrehte Zigarette zieht gerade noch! In meiner Pfeife zieht er so gut wie gar nicht. „Das war alles nicht so schlimm“, sagt ein Soldat, „wenn nur nicht der Tabak naß wäre. Wo du ihn auch verstaust, er wird naß. Ich hab mal einen Tabaksbeutel aus Gummi gehabt, aber der ist in der Desna abgesoffen. Ich habe mir dann selber einen genäht, aber der ist nicht wasserdicht.“ Wieder und wieder denke ich über eine der Haupt-
fragen des Krieges nach. Schon das dritte Jahr leben die Menschen bis an die Grenze der Belastbarkeit. So seltsam es auch klingen mag, der tägliche Kleinkram hilft einem beim Überleben. Würde man die ganze Zeit nur an den Krieg denken, der Mensch könnte nicht einmal ein Jahr, ja nicht einmal zwei Wochen durchstehen. Über den Krieg schreiben und aus ihm nur die Gefahr und nur das Heldentum herausgreifen hieße ihn falsch darstellen. Es gibt im Alltag des Soldaten viel Heldentum, aber in diesem Heldentum auch viel Alltägliches. Kurz vor dem Dunkelwerden, es regnet wieder, kommen wir zurück an die Übersetzstelle. Die Pause zwischen zwei Artillerieüberfällen der Deutschen wird genutzt, und die Verwundeten dieses Tages werden auf die andere Seite des Flusses gebracht. Sie werden auf Zeltbahnen getragen, die Träger haben die Zipfel um die Hände geschlungen. Am Rand der Brücke wird in großen Abständen ein Fernsprechkabel über Ständer verlegt. Es fällt schwer, sich hier, zwischen diesen beiden, gleicherweise von Wurfgranaten aufgewühlten Ufern, in diesem nichtendenwollenden Regen vorzustellen, daß einmal Frieden sein wird und alle diese durchnäßten, fröstelnden Männer in einem ebensolchen Herbst bei Lampenschimmer in ihren warmen Stuben sitzen werden. Die Überlebenden. Aber es führt nun mal kein anderer Weg dorthin, in diese Stuben als der über die nasse Sturmbrücke, und führte ein anderer hin, so wäre der genauso schwer. Unlängst erhielt ich einen Brief aus dem Gebiet Sumy. „Ich habe Sie im Fernsehen gesehen. Die Zeit
vergeht, die Kinder wachsen heran, und wir werden älter. Im Oktober 1943 waren Sie bei uns auf dem Brückenkopf am Sosh, beim 1203. Schützenregiment. IIja Ehrenburg war zur gleichen Zeit bei der 44. Gardeschützendivision. Es wurde erbittert gekämpft; die Deutschen hatten sich mit Panzern im Wald verschanzt und hartnäckigen Widerstand geleistet. Der Kampf war sehr blutig, ununterbrochen haben die Deutschen die Übersetzstelle bombardiert. Wir haben gebangt, ob Sie auch wieder wohlbehalten wegkämen, besser, daß Sie das linke Soshufer erreichten. Wir haben uns mit Ihnen photographieren lassen. Richtiger gesagt, Ihr Photoreporter hat uns zusammen aufgenommen und uns ein Photo versprochen. Der Regimentskommandeur, Oberstleutnant Stscherbakow, ist bald darauf im Kampf gefallen, er ist in meinen Armen gestorben… Auf welchem Wege könnte ich dieses Photo eventuell bekommen. Damit ich’s mal gesehen habe? Ich bin Kriegsinvalide zweiter Stufe, mit fünf Kampforden ausgezeichnet. Ich gratuliere Ihnen zum Tag des Sieges. S. P. Golub.“ Wie andere Photoreporter auch, hat Kapustjanski viele Negative aus der Kriegszeit bis heute, dreißig Jahre danach, noch nicht sortiert. Er hat die Aufnahme von den Offizieren und mir gesucht, aber er fand sie nicht. Dafür fand er eine andere: Die Sturmbrücke über den Sosh, mehrere Offiziere auf dem Brückenkopf am jenseitigen Ufer. Und unter ihnen meiner Meinung nach die beiden Regimentskommandeure. Ich habe in meinen Frontnotizbüchern gewühlt. Auf einem der Blätter fand ich zwischen anderen Ein-
tragungen folgende Namen: „Oberstleutnant Stscherbakow, Grigori Fjodorowitsch, 1203. Schützenregiment. Kommandeur des Artillerieregiments, Oberstleutnant Grochowski.“ Ich weiß nicht, was aus dem Artilleristen geworden ist, Oberstleutnant Stscherbakow aber ist nach unserer Begegnung am Sosh „im Kampf gefallen“, wie es in diesem Brief heißt, einem von vielen Briefen, die immer noch, Granatsplittern gleich, aus dem Krieg angeflogen kommen, jene tötend, die in meinem Gedächtnis noch am Leben waren.
15 Ende Oktober kam ich von einer Fahrt zur Zentralfront zurück, die währenddessen in Belorussische Front umbenannt worden war. Über einen Monat, bis ich Moskau zur nächsten Fahrt verlassen mußte, arbeiteten Wsewolod Illarionowitsch Pudowkin und ich gemeinsam am Szenarium eines Films, der dann doch nicht von ihm gedreht wurde; ursprünglich war der Titel „Moskau“ vorgesehen und danach „An der alten Smolensker Straße“. Letztes Frühjahr hatte Pudowkin in Alma-Ata die Dreharbeiten zu den „Russischen Menschen“ beendet. Obwohl dem Film mein Theaterstück zugrunde lag, hatte ich mit der Entstehung des Films nichts weiter zu tun. Pudowkin hatte das Szenarium selbst geschrieben, und als ich in Alma-Ata war, sah ich den fertigen Film nur bei der Abnahme.
Der Film beeindruckte mich damals sehr, besonders das, was in der Bühnenfassung nicht enthalten war und was der Regisseur und Schauspieler Pudowkin zu dem Film beigetragen hatte. Pudowkin spielte in dem Film eine der Hauptrollen, einen deutschen General. Eine neue, von ihm für sich selbst geschriebene Rolle, die nur zum Teil an eine handelnde Person des Stückes erinnert, von dem Pudowkin ausgegangen war. Bis zum heutigen Tag bin ich der Meinung, daß bei uns keiner sonst im Film die Rolle eines Generals der faschistischen Wehrmacht – eines Menschen von ausgeprägter Individualität, eines großen, grausamen und gefährlichen Feindes – so gut gespielt hat, als objektive und subjektive Gründe auch ernstzunehmende Kunstschaffende zur Darstellung des Feindes wenn nicht gerade in einer Karikatur, so doch in einem primitiven Feindbild veranlaßten. Gewiß wußte ich damals besser als Pudowkin, was dieser Krieg, was sein Alltag war, wie sich seine unwiederholbaren Einzelheiten auswirkten. Mit seiner ganzen menschlichen Erfahrung fühlte Pudowkin jedoch tiefer als ich das innere Wesen des Feindes und das Maß der in ihm konzentrierten Gefahr. Und darum traf er in dem Film wohl auch den deutschen General so sicher und genau. Was mich an dem Film des weiteren verblüffte, war das von Pudowkin gestaltete Gefecht, das in ein Handgemenge zwischen den Unseren und den Deutschen überging, in ein so wütendes und angespanntes Handgemenge, daß es bei all seinen irdischen realistischen Einzelheiten gleichzeitig die unmenschliche Anspannung des
Kampfes als solchen symbolisierte. Pudowkin hatte es nicht für nötig erachtet, sich wegen der von ihm geschriebenen und gestalteten Figur des deutschen Generals mit mir zu beraten. Hier war er sich ganz sicher. Er schien sich jedoch besorgt zu fragen, wie ich als jemand, der von der Front kam, die Kampfszene sähe. Jedenfalls fiel er mir, gerade als ich etwas sagen wollte, ins Wort: „Warten Sie, ich möchte Ihnen erst etwas erklären.“ Er zog mich aus dem kleinen Vorführraum in das Studio, das gleichfalls klein und kärglich war. „Hier haben wir das Gefecht gedreht“, sagte Pudowkin und begann mir des langen und breiten zu erklären, daß im Studio keinerlei Requisiten für die Kampfszene vorhanden gewesen seien, weder Uniformen noch Waffen noch Gerät, ja nicht einmal Menschen, nicht einmal ein paar hundert Menschen. „Hier haben wir gedreht“, sagte Pudowkin. „In diesem Winkel. Die andere Hälfte des Studios ist von einer anderen Dekoration besetzt gewesen, und die Ecke dort von einer dritten. Und nun können Sie mir sagen, was sie von diesem Teil halten.“ Er fragte sich voller Erregung, ob mich die Begrenztheit der Mittel und des Raums nicht daran hindern würden, die ganze der Szene innewohnende Dimension zu fühlen, die er erreicht hatte. Ob sich mir hinter diesen winzigen Auszügen die große Wahrheit seiner Kunst genauso offenbarte wie ihm selbst. Deshalb wahrscheinlich hatte er mich, gleichsam zu seiner Rechtfertigung, in dieses jämmerliche Studio geschleppt.
Ich sagte, was ich dachte: daß ich mir vor der Abnahme diesen Teil ganz anders vorgestellt hatte, daß mich aber die Kraft, mit der er es gestaltet, überzeugt hätte. Er freute sich, daß ich ihn verstand. Und er machte auch kein Hehl aus seiner Freude. Im Herbst 1943 sah ich in Moskau Filmplakate mit einem mir unbekannten Titel: „Im Namen der Heimat.“ Auf den Photos erblickte ich die mir bekannten Gesichter von Sharow, Krjutschkow, Pastuchowa, Shisnewa und Gribkow, den Darstellern in Pudowskins „Russischen Menschen“, aber der Film lief aus einem unerklärlichen Grund unter einem völlig anderen Titel. Kurze Zeit später wurde ich als vorgesehener Autor eines Szenariums über die Verteidigung Moskaus im Jahr 1941 ins Moskauer Stadtkomitee zu Stscherbakow beordert. Wer den Film drehen sollte, stand, soweit ich verstand, noch nicht fest. Ich übernahm diese Arbeit sehr gern und sagte, daß ich mich sehr freuen würde, wenn Pudowkin diesen Film drehe. Doch zu meiner Verwunderung schwieg Stscherbakow. Da erzählte ich von dem Eindruck, den die „Russischen Menschen“ unter Pudowkins Regie auf mich gemacht hatten, und gleichzeitig sprach ich von meiner Verstimmung, weil der Film einen anderen Titel erhalten hatte, „Da brauchen Sie nicht verstimmt zu sein“, sagte Stscherbakow. „Daß der Film einen anderen Titel bekommen hat, liegt doch in Ihrem Interesse. Ein mißlungener Film. Wir haben ihn zwar herausgebracht, aber den Titel geändert, um das gute Stück
,Russische Menschen’ nicht in Mißkredit zu bringen.“ Ich war wie vor den Kopf geschlagen, sagte aber doch, meiner Meinung nach hätte Pudowkin in seinem Film vieles besser gemacht, als es in meinem Theaterstück wäre. „Sie sehen das nicht richtig“, sagte Stscherbakow. „Pudowkins Talent bestreitet niemand, aber dieser Film ist ihm nicht gelungen. Kein Elan, keine Breite, keine Massenszenen, nichts von der russischen Natur – die Dimensionen sind nicht zu spüren. Ich wundere mich, daß Ihnen das gefallen konnte. Aber mehr noch muß ich mich wundern, warum er das so gedreht hat: alles ist irgendwie eng, eins türmt sich aufs andere, eins aufs andere…“ Ich klärte Stscherbakow darüber auf, unter welchen Bedingungen der Film gedreht worden war und warum er weder die Massenszenen noch die Breite aufweisen konnte, von der er sprach. Ich verteidigte Pudowkin, so gut ich es vermochte, und Stscherbakow hörte mich aufmerksam und, wie mir schien, wohlmeinend an. Als ich jedoch geendet hatte, wiederholte er, womit er begonnen hatte: „Ein mißlungener Film…“ Und er fügte hinzu, man könne sich immer noch Gedanken über den Regisseur des geplanten Moskau-Films machen. Ich erklärte ihm, daß ich von Anfang an wissen müsse, für welchen Regisseur ich das Szenarium schriebe, und daß ich überzeugt sei, Pudowkin werde diesen Film besser machen als sonst jemand. „Passen Sie nur auf“, sagte Stscherbakow, „daß Sie sich hin-
terher keine Vorwürfe machen. Ich kann Ihnen hier nichts befehlen, aber ich muß Sie warnen.“ Er verabschiedete sich von mir nicht so verärgert wie verbittert, und ich ging. Von meinen Kollegen hatte ich gehört, Stscherbakow sei für gewöhnlich schroff, ja sogar sehr schroff, doch ich selbst hatte das nicht ein einziges Mal zu spüren bekommen, weshalb es mich um so mehr beunruhigte, daß er auf kein einziges meiner Argumente, Pudowkin betreffend, eingegangen war. Und weshalb nur hatte er das Gespräch mit der Warnung abgeschlossen: „Daß Sie sich hinterher nicht Vorwürfe machen!“? Erst viel später, schon nach Stscherbakows Tod, begriff ich, daß er damals, 1943, als er mir zugestand, den Film über Moskau mit Pudowkin zu machen, eine für die damalige Zeit nicht geringe Verantwortung auf sich geladen hatte. Nach dem Krieg brachte M. N. Kedrow meine „Tage und Nächte“ im Moskauer Künstlertheater auf die Bühne. Die Inszenierung war schon einige Monate mit Erfolg gelaufen, als das Stück plötzlich abgesetzt wurde. Wie sich herausstellte, hatte J. W. Stalin es sich angesehen, und es hatte ihm nicht gefallen: auf der Bühne fehlten der Elan, die Breite und die Dimensionen der Schlacht von Stalingrad…
Man braucht wohl nicht erst zu sagen, wie ernst wir damals Stalins kritische Bemerkungen nahmen. In dem Bemühen, das Stück zu retten, saßen wir tagelang an der Inszenierung, überlegten, wie man die verlangten Dimensionen hineinbringen könne. Aber solchen Forderungen widersetzte sich der Stoff von „Tage und Nächte“ an sich, die Geschichte eines Fußbreit Bodens, dreier Häuser, einer Handvoll Menschen, in der sich wie in einem Wassertropfen das Ganze, die ganze Schlacht spiegeln sollte. So sehr wir uns auch abplagten, es fiel uns nichts ein. Das Stück kam nicht wieder auf den Spielplan. Damals eben entsann ich mich auch meines Gesprächs mit Stscherbakow über den Film „Russische Menschen“. Die gleichen Forderungen, und sogar mit den gleichen Worten vorgebracht – Breite, Elan, Dimensionen… Anscheinend war die Sache damals auch unmittelbar von Stalin ausgegangen, und Stscherbakow hatte es nicht für nötig oder für möglich gehalten, mir das zu sagen. Der Objektivität halber möchte ich hinzufügen: Soviel ich weiß, wurden sowohl dem Stück „Russische Menschen“ als auch der Erzählung „Tage und Nächte“ die Preise auf Initiative Stalins hin zuerkannt, der das eine wie das andere gelesen hatte. Offenbar hatte er sich beim Lesen ein bestimmtes Bild gemacht, und als er die Stücke dann auf der Leinwand und auf der Bühne vergegenständlicht sah, hatte er die Forderung nach mehr Breite, nach riesigen allgemeinen Dimensionen geltend gemacht, die das Stück im Moskauer Künstlertheater ins Verderben gestürzt und das Schicksal von Pudowkins Film
besiegelt hatte. Und offenbar hatte Stscherbakow damals, 1943, als er mir die Zusammenarbeit mit Pudowkin an dem Film über Moskau nicht verbot, das Höchstmaß dessen getan, was er tun konnte. Als Pudowkin aus Alma-Ata nach Moskau kam, trafen wir uns. Er wußte schon, daß sein Film keinen Anklang gefunden hatte, und das verbitterte ihn. Ich wollte kein Salz in die offene Wunde streuen und erzählte ihm nichts von dem Gespräch mit Stscherbakow, sondern schlug Pudowkin vor, gemeinsam mit mir einen Film über Moskau zu machen, und nachdem er im Prinzip einverstanden war, übergab ich ihm vor meiner Abreise an die Front meine Tagebuchaufzeichnungen aus dem Jahre 1941. Einige der dort geschilderten Episoden konnten uns bei der Arbeit an dem Szenarium sicherlich zupasse kommen. Ich stellte mir den Streifen als Spielfilm mit mehreren Helden und einer Liebesgeschichte vor. Das Gespräch mit Pudowkin aber, der meine Tagebuchaufzeichnungen während meines Aufenthalts bei der Zentralfront gelesen hatte, nahm einen völlig unerwarteten Verlauf. „Ich werde Ihre Tagebücher inszenieren“, sagte er vom Fleck weg. „Wie denn das?“ „So, wie ich es sage… Keine Handlung, Ihre Tagebücher werden das Sujet sein. Wo was fehlt, lassen wir uns was einfallen, fügen wir etwas hinzu, aber in der gleichen Machart. Und zwar so, daß gerade ein Frontkorrespondent die anderen Personen miteinander verbindet.“ Nach so vielen Jahren will ich mein damaliges Gespräch mit Pudowkin nicht wortwört-
lich wiedergeben. Den Inhalt des Gesprächs habe ich gut behalten. Ich war überrascht. Und etwas Überraschendes merkt man sich am besten. Pudowkin sagte, er wolle keinen konventionellen Film machen, er wolle sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie man im Szenarium die Menschen miteinander verbinden könne, die der Krieg nicht miteinander verbunden habe und die man nur zusammenbekäme, wenn man sich unter den Kriegsbedingungen künstlich herbeigeführte Begegnungen ausdenke. Ihn interessiere nicht der Handlungsablauf, sondern der Ablauf des Krieges, nicht die persönliche Dramatik, sondern die Dramatik des Krieges. Ihn interessiere nicht irgendeine Liebesgeschichte, sondern die Geschichte der Schlacht um Moskau. Und da in dem Film sowohl die Menschen in den vordersten Linien vorkommen sollten, als auch jene, die die Schlacht lenkten, da er Schützengräben brauche und die Stadt Moskau selbst, sei es doch die natürlichste Sache der Welt, das alles durch einen Menschen zu verbinden, der heute mit den einen, morgen mit den anderen zusammentrifft, der heute hier sein kann und morgen dort, also mit einem Frontkorrespondenten. Außerdem sei er der Meinung, die Schlacht um Moskau habe bereits bei Anfang des Krieges begonnen, fern von Moskau, und um das zu zeigen, finde er in meinen Tagebüchern ebenfalls Material mehr als genug. Der von Pudowkin ausgeübte geistige Druck war so stark, daß ich zustimmte. Und noch am gleichen Tag machten wir uns an das Szenarium. Wir arbeiteten bei mir zu Hause tagtäglich von
morgens bis zur Erschöpfung. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, wer von uns beiden die Rohfassung des Szenariums schrieb. Ich glaube, es war Pudowkin, doch kann es auch durchaus sein, daß wir uns abwechselten. Endlich war das Szenarium fertig. Ich mußte weg aus Moskau, und alle, die es von Amts wegen zu lesen hatten, bekamen es vorgelegt. Vorausgreifend möchte ich sagen, daß das Ende nicht sehr erfreulich war. Pudowkins Idee, das Szenarium nach den Tagebüchern eines Frontkorrespondenten zu schreiben, die mich zunächst selbst überrascht hatte, überraschte diejenigen, die das Szenarium lasen, noch mehr. Wir wurden nicht gerade in Grund und Boden verdammt, sondern wir hätten einfach nicht das gebracht, was man von uns erwartet hatte. Man hielt das Szenarium für einen Bericht über einen Frontkorrespondenten und nicht über die Schlacht um Moskau, und ein solcher Film sei nicht angebracht; Pudowkin aber erhielt das Angebot, an einem historischen Film über Admiral Nachimow zu arbeiten. Das alles ereignete sich später, nachdem ich wieder in Moskau war, ich aber fuhr sehr zufrieden über das fertige Szenarium von Moskau nach Charkow. Die Dienstfahrt führte mich diesmal nicht an die Front, sondern zu einem Prozeß nach Charkow, und zwar gegen drei Deutsche und einen Russen, die mit Hilfe eines speziell ausgerüsteten Kraftfahrzeugs Menschen getötet hatten. Auf deutsch hieß dieses Fahrzeug „Vergasungswagen“ oder kürzer, umgangssprachlich, „Gaswagen“. Die russische Bezeichnung Duschegubka, abgeleitet von
„du-schegub“ – Mörder –, brachten wir erst vom Charkower Prozeß mit. Als ich im Januar 1943 im Nordkaukasus zum erstenmal von einem deutschen Todeswagen hörte, kannte ich die vom Volksmund hervorgebrachte, so schrecklich treffende Bezeichnung „Duschegubka“ noch nicht. Es stand ein Prozeß bevor gegen kleine Leute aus Hitlers Vernichtungsmaschinerie. Der Hauptangeklagte, Offizier der Spionageabwehr der deutschen Wehrmacht, war nur Hauptmann, die beiden anderen Deutschen bekleideten noch niedrigere Dienstgrade. Auch der Russe war weder Bürgermeister noch Polizeichef, sondern eben nur der Fahrer des Duschegubka gewesen. Der Prozeß war jedoch der erste seiner Art im Krieg. Hinter diesen kleinen Leuten stand die für Massentötung geschaffene staatliche Todesmaschinerie, deren Aktionsradius uns damals noch nicht bekannt war. Als Prozeßberichterstatter reisten aus dem ganzen Land so berühmte Leute an wie Ilja Ehrenburg und Alexej Tolstoi, der gleichzeitig Stellvertreter des Vorsitzenden der Staatlichen Kommission zur Feststellung und Untersuchung faschistischer Greueltaten war. Auch die meisten der in Moskau akkreditierten ausländischen Korrespondenten fuhren zum Prozeß. An den – verglichen mit unseren heutigen Vorstellungen – unvorstellbar langsam nach Charkow kriechenden Zug war ein Erster-Klasse-Wagen für alle Prozeßteilnehmer angehängt.
Gleich hinter Tula kamen wir durch die Gegend, wo die Deutschen gehaust hatten, und sie zog sich hin bis Charkow – in Schutt und Asche liegende Städte, völlig zerstörte Bahnhöfe, gesprengte Wasserpumpen, aus den Gleisen gekippte und ausgebrannte Eisenbahnwagen, umgestürzte Signalmaste, verbogene Schienen, in die Luft gejagte Fabriken mit ihren Schloten, Schornsteine von ausgebrannten Häusern. Das alles hatte ich früher schon zur Genüge gesehen, nun aber hatte ich es pausenlos vor Augen, während der Fahrt und auch während der häufigen langen Aufenthalte auf Bahnhöfen und Haltepunkten. Man hatte das Gefühl, an der langen Strecke bis Charkow wäre zu beiden Seiten des Bahndamms dies alles wie zu einer endlosen düsteren Parade des unübersehbaren Leids und der Zerstörung aufmarschiert. Ich fuhr an all dem vorbei, und in meinem Herzensgrunde staute sich bitterer Haß auf die Deutschen. Staute sich, wie ich damals meinte, für alle Zeiten, bis zur Stunde meines Todes. Am ersten Morgen in Charkow sagte Tolstoi, der im gleichen Hotel untergebracht war wie ich, wobei er an diese Fahrt zurückdachte, er fühle sich wie nach einem Spießrutenlauf nicht nur bis aufs Blut, sondern bis auf Fleisch und Knochen geschlagen, und er stieß finsterste Flüche aus. Da merkte ich, daß auch alle anderen Teilnehmer an der Fahrt diese Empfindung teilten. Vom Charkower Prozeß übermittelte ich einige Korrespondenzen an die „Krasnaja Swesda“. Ich hatte das Gefühl, wir hätten das äußerste Zipfelchen von etwas maßlos Furchtbarem gepackt, das sich hinter einer für uns vorläufig noch verschlosse-
nen Tür befand. Wir zerren an diesem Zipfelchen, bekommen aber einstweilen nicht mehr heraus! Schon hiernach prägte sich mir ein, was ich später mit eigenen Augen sah – Majdanek und Auschwitz –, wovon ich hörte und worüber ich las – die Bände des Nürnberger Prozesses, Dutzende Bücher, Tausende und aber Tausende Meter Filmstreifen, gedreht von Kameraleuten fast an allen Hauptorten, an denen Massenmorde stattgefunden hatten – in Rußland, in der Ukraine, in Belorußland, in den Ostseerepubliken, in Polen. Öfen, Gräben, Schädel, Knochen, Trauerfeiern, Exhumierungen… Das damals in Charkow aber war nur ein winziges Teilchen des später aufgedeckten Ganzen: nicht Hitler, nicht Himmler und auch nicht Kaltenbrunner, sondern ein Hauptmann Wilhelm Langheld, der nicht Millionen, sondern nur ein paar tausend Menschenleben auf dem Gewissen hatte, und ein SS-Untersturmführer Hans Rietz, der sich nicht mehr genau erinnern konnte, wie viele Menschen auf seinen Befehl hin in Taganrog ermordet wurden – vielleicht zweihundert, vielleicht dreihundert. Er bemühte sich gewissenhaft, die ihm gestellten Fragen zu beantworten, und konnte sich doch nicht erinnern, ob es nun zweihundert oder dreihundert waren. Die witzige Bemerkung eines noch nicht geschnappten Kumpans zu einem der Angeklagten über die Leichen in einer Schlucht: „Hier liegen die Passagiere des gestrigen Gaswagens.“ Die in Falten gezogene Stirn und die verständnislos gespreizten Finger des Kerls, der ehrlich bemüht war, sich zu erinnern, wen er da umgebracht hatte: „Nein, all die russischen Namen
habe ich mir nicht gemerkt.“ Und die Hochachtung vor der in ihren Händen befindlichen Vergasungstechnik: „Ich war der Meinung, das wäre eine humane Hinrichtungsart.“ Die Erschießung von vierhundertfünfzig Geisteskranken und der Schrei aus der Menge der zu Erschießenden: „Wir sind Verrückte, was macht ihr da!“ Von all dem hörte und las ich später so oft, das alles wiederholte sich in meiner Erinnerung so viele Male, daß mir auf einmal scheint, ich hätte diesen Satz „Wir sind Verrückte, was macht ihr da!“ irgendwo entlehnt, obwohl ich ihn doch eigenhändig in mein jetzt vor mir liegendes Notizbuch schrieb. Später, in den Jahren 1944 und 1945, machten wir noch so viele entsetzliche Entdeckungen, daß wir durch die erschütternde Gewöhnung an das Unglaubliche abstumpften. Der Charkower Prozeß aber war der erste, und das, was ich dort hörte, hörte ich zum erstenmal. Obwohl ich natürlich auch schon vor dem Charkower Prozeß oft von jenen, die einem Massaker entgangen waren, gehört hatte, wer und wie vor ihren Augen gemordet wurde. Aber auf dem Charkower Prozeß hörte ich erstmals davon, wie das gemacht wurde, und zwar von jenen, die es getan hatten, aus dem Mund von drei Deutschen und einem Russen. Dem Russen schlug aus dem Gerichtssaal in dem vor kurzem aus der Okkupation befreiten Charkow noch tieferer Haß entgegen als den drei Deutschen, weil man sehr wohl wußte, daß ohne solche wie diesen vierten solche Deutschen wie diese drei in einem fremden Land daständen, als hätten sie keine Arme!
Trotzdem war das Neue, was ich damals auf diesem Prozeß fühlte, nicht Haß – ihn hatte ich auch schon früher verspürt, sondern die Erschütterung darüber, zum erstenmal nicht von irgend jemandem zu hören: „Sie haben gemordet, sie haben niedergebrannt, sie haben zu Tode gefoltert“, sondern in der ersten Person, über sich selbst, und zwar laut: „Ich habe gemordet“, „ich habe erschossen“, „ich habe sie reingestoßen und den Wagenkasten geschlossen“, „ich habe aufs Gaspedal getreten“. Und in diesem „ich“, „ich“, „ich“, das sich Tag für Tag im Gerichtssaal wiederholte, lag trotz des Realen, was ich im Krieg gesehen hatte, etwas Unwahrscheinliches. Die Prozeßberichte flossen mir nur schwer aus der Feder, ich vermochte meine Gefühle nicht auszudrücken, ich fand keine Worte, und ich wollte überhaupt nichts sagen, keine Berichte, keine Tagebücher schreiben – nichts. Schließlich riß ich mich zusammen, schaltete gewaltsam von allem ab und schrieb in den Nächten Strophe für Strophe ein Gedicht, den „Offenen Brief“, der in keiner Beziehung zu den Geschehnissen jener Tage in Charkow stand. Als der Prozeß zu Ende war und alle vier Angeklagten zum Tode durch den Strang verurteilt waren, ging ich mit Alexej Nikolajewitsch Tolstoi auf den Platz, wo die öffentliche Hinrichtung stattfand. Es gab für mich kein Schwanken, hinzugehen oder nicht. Tag für Tag waren wir zum Prozeß gegangen, und so gingen wir auch an diesem Tage hin, um bis zum Ende dabei zu sein. Der Älteste der Deutschen, der Hauptmann, der auf
dem Prozeß, einmal entschlossen, nichts zu verheimlichen, mit seltsam hölzerner, lebloser, aber fester Stimme alles ausgepackt hatte, ging auch hier fest, hölzern, schon wie leblos in den Tod, stieg auf den unter dem Galgen vorfahrenden offenen Lkw, der dann anfahren sollte. Den anderen Deutschen war schrecklich zumute, aber sie bemühten sich bis zur letzten Sekunde um Haltung. Der Fahrer des Duschegubka, Bulanow, ließ sich vor Angst zu Boden fallen, wollte sich den ihn festhaltenden Leuten entwinden und wurde gehenkt wie ein formloser Sack voll Scheiße. Während der Hinrichtung schwieg die Menge auf dem Platz gesammelt. Weder damals noch später bereute ich, auf den Platz gegangen zu sein. Nach allem, was ich beim Prozeß gehört hatte, mußte ich auch das sehen. Ehrlich gesagt, schien mir damals sogar, daß es so etwas wie innere Feigheit gewesen wäre, wenn ich nicht hingegangen wäre und nicht alles bis zum Ende mit angesehen hätte. Ich rede nur von mir und meinen Gefühlen, denn das sind Dinge, die jeder mit sich selbst ausmachen muß. Niemals, auch nicht von meiner schwersten Fahrt an die Front, war ich mit so einem Stein auf der Seele nach Moskau zurückgekehrt wie damals aus Charkow. Und, was mir noch nie widerfahren war, ich konnte tagelang nicht arbeiten, obwohl meine Erzählung über Stalingrad damals gerade in der Redaktion der „Krasnaja Swesda“ gelesen wurde und ich die ersten Teile schnellstens satzreif machen mußte.
1944
16 Die Fahrt zum Charkower Prozeß war für 1943 die letzte Reise. Etwa bis Mitte Februar arbeitete ich in Moskau fieberhaft an meiner Stalingrader Novelle, damit sie als Fortsetzungsabdruck in der Zeitung „Krasnaja Swesda“ und vollständig in der Zeitschrift „Snamja“ erscheinen konnte. Gleichzeitig mußte ich innerhalb von zwei Wochen mit Stolper das Drehbuch des Films „Tage und Nächte“ schreiben. Als Vorlage diente die Novelle, die gerade erst an die Presse geliefert wurde. Höchste Eile war geboten. Es fehlte an Drehbüchern, die wenigstens mit einem Minimum von Sachkenntnis geschrieben waren, aber der Krieg ging weiter, Kriegsfilme wurden dringend gebraucht und mußten möglichst schnell produziert werden. Deshalb hielt ich mich nicht für berechtigt, die Arbeit abzulehnen oder die unwahrscheinlich frühen Termine zu überschreiten. Sämtliche Außenaufnahmen sollten an Ort und Stelle, in den Ruinen Stalingrads, entstehen, und um die letzten, die Novemberperioden des Films, zu drehen, brauchten Regisseur und Kameramann wenigstens das Ende des Winters. Bei der Zeitschrift „Snamja“ war meine Redakteurin zum Glück Vera Wassiljewna Smirnowa, eine strenge Frau, die sich durchzusetzen verstand. Einige ihrer Ratschläge ließ ich – teil aus Eigensinn, teils aus Zeitmangel – in der Zeitschriftenvariante der Novelle unberücksichtigt, aber bei der Vorbereitung der Buchausgabe von
„Tage und Nächte“ griff ich wiederholt und dankbar darauf zurück. Wie stets, so ging ich auch seinerzeit in meinem Tagebuch kaum auf meine Schreibtischarbeit ein. Um hiervon ebenfalls einen Eindruck zu vermitteln und um meine Stimmungen jener Zeit zu zeigen, greife ich auf einige Briefabschriften zurück. Meine Novelle habe ich darin noch als Roman bezeichnet. „Ich bin in wahnsinnigem Druck. Sei also nicht böse, wenn ich nur kurz schreibe. Ich gebe den Roman ratenweise in Satz. Wenn ich den Roman bewältigt habe, das heißt Anfang Februar, fahre ich voraussichtlich für einen Monat an die Front…“ Das war ein Auszug aus einem Brief an meine Mutter. Fast gleichzeitig schrieb ich meinen Freunden an die Front, Ortenberg und Korotejew, mit denen ich zusammen in Stalingrad war. „Ich schlage mich noch immer mit meinem Roman herum. Eigentlich müßte er längst fertig sein, aber als ich das maschinengeschriebene und bereits korrigierte Manuskript zur Hand nahm, merkte ich, dass vieles noch unausgegoren war, und ich fing noch einmal zu feilen an. Trotzdem glaube ich die Überarbeitung in drei, vier Tagen endgültig abgeschlossen zu haben. Parallel hierzu habe ich mit Pudowkin ein Szenarium über Moskau fertiggestellt. Meiner Meinung nach ist es ein interessantes Szenarium geworden, aufgezogen weniger als Kriegsgeschichte, denn als Kriegstagebuch. Die Grundlage lieferten hauptsächlich meine eigenen Tagebücher dieses Halbjahrs. Im Komitee für Filmwesen weigert man sich allerdings bislang, die Sache in Produktion zu geben. Zur Begründung
führt man an, es sei neuartig und anders als alle Szenarien, die bisher dort eingereicht wurden… Stolper, der die Filme ,Ein Bursche aus unserer Stadt’ und ,Wart auf mich’ gemacht hat, wird den Film über Stalingrad drehen. Wie im Roman, so ist auch im Film eine der beiden Hauptpersonen ein Mädchen, das literarisch zu gestalten mir schon damals vorschwebte, als Du und ich die Wolga überquerten und wir mit Deiner Landsmännin Viktoria sprachen… Das Schreiben des Romans hat mich bis zu einem Grade erschöpft, daß, wie man so sagt, der Kessel einfach nicht mehr kochen will. Ich werde die Redaktion besorgen, wofür ich nochmals zwei, drei Wochen benötige, und danach an die Front fahren. Dann also werde ich Dich wahrscheinlich wiedersehen, was ich mir von ganzem Herzen wünsche.“ Das aus einem Brief an Ortenberg. „Was Du da in der ,Krasnaja Swesda’ gelesen hast, sind nur Teile des Romans über Stalingrad. Insgesamt werden es wohl zehn sein, aber sie geben nur eine ungefähre Vorstellung vom Roman… Ich zweifle nicht, daß jeder, der in Stalingrad war und alles mit eigenen Augen gesehen hat, mich wie üblich verdonnern wird, der eine hierfür, der andere dafür, der dritte, weil ich die Straßen verwechselt habe, der vierte, weil seine Division nicht so übergesetzt wurde, wie ich es beschrieben habe, und weil es nicht die 13. sondern die 15. war oder umgekehrt. Kurzum, ich kann mir das Kommende lebhaft vorstellen. Im allgemeinen aber habe ich die Sache wahrheitsgetreu geschrieben, jedenfalls soweit das im Krieg überhaupt möglich ist, solange der Kampf nicht beendet
und der Künstler verpflichtet ist, mit jedem seiner Werke vor allem zu agitieren und erst in zweiter Linie zu analysieren. Es interessiert mich, was Du zu dem Roman sagst, wenn Du ihn durchgelesen hast. Übrigens wirst Du ihn schon deshalb weiterlesen wollen, weil Du mit den gequälten Blicken eines Menschen, der die Stadt von früher her nur zu gut kannte, mich während unserer Fahrt auf den Gedanken brachtest, den ehemaligen Sekretär des Stalingrader Komsomol-Stadtkomitees zum Kommissar jenes Bataillons zu machen, in dem die ganze Handlung spielt. Wie in einem geordneten Haushalt, wo nichts verloren geht, wie im .Revisor’: ,Gib nur die Schnur her, auch eine Schnur erfüllt ihren Zweck.’ Daß der Roman fertig ist, freut einen natürlich. Im übrigen geht es mittelmäßig… Ich fühle mich ganz abscheulich. Der Arzt hat angeordnet, daß ich mich für zwei Wochen ins Sanatorium lege, ehe ich irgend etwas anderes anpacke. Augenblicklich sind meine Reisepläne noch völlig unklar, ich weiß nur, daß ich in zwei, drei Wochen unbedingt irgendwohin fahren werde…“ Aus einem Brief an W. I. Korotejew, der seinerzeit an einer der ukrainischen Fronten als unser Berichterstatter arbeitete. Ähnlich schrieb ich auch an Alexander Iwanowitsch Utwenko, der mir in einem kurzen Brief seine Veränderung mitgeteilt hatte: „Ich arbeite an anderer Stelle, in gleicher Funktion wie Missan.“ Zu dieser Umschreibung war er wegen der Militärzensur gezwungen. Das hieß, daß er in einer anderen Armee ein Korps befehligte. „Ich bezweifle nicht, daß wir beide noch den Tag erleben, an dem Du die gleiche Funktion wie Kreiser ausübst“, schrieb
ich, um ihm zu verstehen zu geben, daß ich ihn schon als späteren Armeebefehlshaber sah. „In letzter Zeit habe ich an einem Kriegsroman über Stalingrad gearbeitet. Obwohl es in diesem Roman keine Photos gibt, muß ich Dir sagen, daß Du darin eine bedeutende Rolle spielst, weil Du und einige andere aus Deinem Truppenteil die Prototypen für die Figuren abgeben. Ich denke mir, nach und nach wird die Lektüre Dein Interesse finden. An die Front fahre ich nach Beendigung des Romans, etwa in einem Monat. Ich möchte Dich aufsuchen. Daher bitte ich Dich, mir in einer Form, wie sie auf dem Postweg vertretbar ist, mitzuteilen, ob Du jetzt weiter nördlich oder weiter südlich als zuvor arbeitest. Kurzum, Du wirst schon einen Weg finden, es mich wissen zu lassen, ohne ein Kriegsgeheimnis zu verletzen…“ Ich führe nun einige Zeilen aus dem Antwortbrief an. Die Terminologie, die Utwenko verwendet, atmet den Geist der Zeit. „In der größten Hitze des Gefechts erhielt ich Deinen Brief. Ich arbeite unter der Leitung des Genossen, der in der Stadt wohnte, in die Dich mein Wassja gefahren hat. Ich bin nicht gewohnt, von mir zu reden, aber Dir, meinem Freund, sage ich: Die Gardisten kämpfen gut. Zu mir gelangst Du, indem Du zu dem oben erwähnten Genossen fährst, er wird Dir meine Kate zeigen…“ Ich brauchte Utwenkos Kate nicht zu suchen. Wir trafen uns im Militärsanatorium „Archangelskoje“ bei Moskau. Da sein Korps gerade in Ruhe lag, war er zu einer kurzen Kur geschickt worden. Die bisherigen sechs Verwundungen waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen.
Bevor ich die letzten Kapitel des Romans in Druck gab, führte ich folgendes nicht alltägliches Gespräch über Literatur. An jenem Abend speiste Alexander Wassiljewitsch Gorbatow, Befehlshaber der I. Armee, der für einige Tage dienstlich in Moskau weilte, bei mir zu Hause. Es war schon spät, wir hatten unser Abendessen beendet und saßen beim Tee, als es energisch klopfte. Ich öffnete die Tür. Vor mir stand ein älterer Mann, der eine baumwollene gelbe Hausjoppe mit blauen Aufschlägen trug und eine Aktentasche unter den Arm geklemmt hatte. Sein Gesicht kam mir bekannt vor, aber durch die häusliche Kleidung erkannte ich ihn nicht gleich. „Wie steht’s, empfängst du Gäste?“ fragte er, indem er mir seine schwere Pranke reichte. Seine feine, hohe Stimme wollte nicht zu der großen, massigen Gestalt passen. Auch beim Händedruck erkannte ich ihn noch nicht. Erst als mein Blick tiefer glitt und ich die Generalsbiesen bemerkte, ging mir ein Licht auf. Das war Andrej Iwanowitsch Jeremenko, der ehemalige Oberbefehlshaber der Stalingrader Front, von dem ich gehört hatte, daß er sich gegenwärtig in Moskau aufhalte und im selben Haus wie ich wohne. „Ich komme zu dir als einem Spezialisten deines Faches, ich möchte dich um Rat fragen“, sagte Jeremenko und schielte auf die angelehnte Zimmertür. „Wer ist dort bei dir?“ Ich sagte es ihm. „Na, das macht nichts“, erklärte Jeremenko und trat ein. Die Aktentasche behielt er unterm Arm, und er hinkte merklich trotz seiner Filzhausschuhe. Die
Wunde am Bein machte ihm offensichtlich noch zu schaffen. Er begrüßte Gorbatow, der aufgestanden war, und ich lud Jeremenko zum Tee ein. Er ließ sich am Tisch schwer auf einem Stuhl nieder. Einen zweiten freien zog er näher heran. Dann trennte er sich endlich von der mitgebrachten Aktentasche und legte sie darauf. Eine Viertelstunde verstrich beim Teetrinken und bei der Erörterung von Frontangelegenheiten. Die Generale unterhielten sich, während ich Tee einschenkte und ihnen weniger zuhörte, als über Jeremenkos rätselhafte Bemerkung nachdachte. In welchem Sinne und auf welchem Gebiet war ich für ihn ein Fachmann, und wie sollte ich ihn beraten? Eine vernünftige Erklärung wollte mir nicht einfallen. Als Jeremenko zweimal sein Teeglas ausgetrunken hatte, zog er ohne Eile ein Brillenetui aus der Tasche, setzte die Brille auf, griff nach der Mappe und legte sie sich auf die Knie. „Ich habe über Stalingrad ein Poem geschrieben“, sagte er. „Ich möchte, daß du es dir mal anhörst und mir rätst, wie ich am besten vorgehe, wem ich es zum Drucken gebe.“ Er hatte eine Art, mich in Verlegenheit zu bringen! Auf alles war ich gefaßt gewesen, nur darauf nicht, daß dieser Mann, der Oberbefehlshaber der Stalingrader Front, den ich in Stalingrad am Eingang seines unterirdischen Gefechtsstandes kennengelernt hatte, über ein Jahr später zu mir nach Hause kam, um mir über das von seinen Truppen verteidigte Stalingrad ein Poem vorzulesen. Ich bin von Natur aus ein bißchen wundergläubig und neige dazu, ein beglückendes „da plötzlich!“ auszu-
stoßen, was zwar selten genug passiert, aber doch gelegentlich vorkommt. Wenn das da plötzlich ein echtes Poem ist? dachte ich und sah zu, wie Jeremenko eine Papphülle aus der Aktentasche zog und gemächlich, ja mit leicht feierlichem Ernst aufschlug. Doch als er die Mappe geöffnet hatte und nacheinander mehrere Bogen umlegte, wahrscheinlich noch unschlüssig, womit er die Lesung beginnen sollte, da bemerkte ich aus den Augenwinkeln, daß die Blätter weder handschriftlich noch mit Maschine beschrieben, sondern mit kunstvoll in schwarzer Tusche ausgezogenen, schönen Buchstaben bedeckt waren, offensichtlich von einem bewanderten Schreiber, einem großen Künstler seines Faches. In seiner äußeren Form erinnerte das Poem an alte handschriftliche Bücher. Ich empfinde immer etwas wie Scheu vor allzu schön, allzu sauber geschriebenen Werken. So erging es mir auch diesmal. Jeremenko aber wählte die passende Seite aus. Er las bedächtig und ausdrucksvoll, mit einer inneren Beteiligung, die den erfahrenen und der Sache leidenschaftlich ergebenen Rezitator verriet. Als er die erste Seite gelesen hatte, machte er vor dem Umblättern eine längere Pause und blickte mich aufmerksam an. Er wollte sehen, welchen Eindruck die Probe auf mich machte. Das wiederholte sich mehrmals, mal beim Umblättern, mal auch mitten auf der Seite, am Ende einer Strophe, die ihm besonders gut gefiel. Ich befand mich in einer schwierigen Lage und war bestrebt, so lange wie möglich keine Miene zu verziehen, um ihn ja nicht zu hindern, alles zu lesen, was
er nur wollte. Mich fesselte die Hochachtung vor diesem Mann, und je länger, mit je größerer innerer Befriedigung er las, desto mehr fürchtete ich die verflixte Frage, wie es mir gefallen habe. In den Passagen, die er vortrug, gab es keine eindeutigen Verstöße gegen Rhythmus und Reim, wie sie in völlig talentlos geschriebenen Gedichten zu finden sind. Sowohl die Gesetze des Versmaßes wie die der Reime wie die des strophischen Aufbaus waren sorgfältig beachtet. Jedoch das ganze Poem war eine offenkundige und eine bewußte Nachahmung des Puschkinschen „Poltawa“ oder richtiger jener Stelle der Schlacht von Poltawa. Die Imitation war einwandfrei gelungen. Es gab da keine noch so schwache Andeutung eigener Gestaltung, nicht den geringsten Versuch, die Schranken der Vorlage zu durchbrechen. Das mußte ich schließlich dem Manne sagen, der die Deutschen bei Stalingrad aufgehalten hatte, aber unfähig war, in Verse zu kleiden, was er im Leben getan hatte. Selten war es mir so schwergefallen, jemandem ungeschminkt die Wahrheit zu sagen, wie an jenem Abend. „Na, wie ist es, was meinst du?“ fragte Jeremenko, als er das Kapitel gelesen hatte, in dem vom Stalingrader Brand und von den ersten Kämpfen um die Stadt die Rede war. Er legte das Brillenfutteral zwischen die Seiten, anscheinend, weil er weiterlesen wollte, jedoch nicht ohne sich vorher davon überzeugt zu haben, wie mich das bereits Gehörte beeindruckte. Ich versuchte weitschweifend zu beginnen, ihm um-
ständlich den Unterschied zwischen eigentlicher Dichtung und epigonenhafter – wenn auch in schönsten Bildern gestalteter – Darstellung zu erklären, doch meine einleitenden Manöver führten zu keinem Erfolg. Jeremenko fiel mir mit soldatischem Schneid ins Wort. „Das kannst du dir alles sparen. Das habe ich schon von anderen gehört, daß ich ähnlich wie Puschkin schreibe. Na, und Gott sei Dank, wenn es ähnlich ist. Du sollst mir nur deine Meinung sagen, Ist es deiner Ansicht nach gut oder schlecht?“ „Schlecht, Andrej Iwanowitsch“, preßte ich hervor. „Und eine Veröffentlichung kommt deiner Meinung nach nicht in Frage?“ „Nach meiner Meinung kommt sie nicht in Frage, schon gar nicht in Ihrem Fall.“ Jeremenko erwiderte nichts. Schweigend zog er das ins Manuskript gelegte Futteral heraus, setzte die Brille ab, packte sie weg, steckte das Futteral ein, ordnete sorgfältig die beim Lesen durcheinandergeratenen Blätter, schloß den Pappdeckel, schob den Stapel in die Aktentasche, schloß auch die Aktentasche und legte sie neben sich auf den freien Stuhl, wo sie vorher gelegen hatte. Nach langem Schweigen sagte er endlich: „Gieß mir noch ein Glas Tee ein.“ Seiner finsteren Miene nach zu urteilen, hätte er sich wahrscheinlich ohne Umschweife erhoben und entfernt, aber er blieb noch, um dieses Glas zu leeren, weil eine dritte Person zugegen war – Gorbatow; vor ihm wollte er sich nicht die Blöße geben, sang- und klanglos zu verschwinden und zu zeigen, wie verdrossen und betroffen er war. Er trank seinen Tee und
ertrug das Gehörte, und ich saß da und ertrug das Gesagte. Als er das Glas ausgetrunken hatte, stand er auf, verabschiedete sich von Gorbatow, streckte mir mürrisch die Hand hin, ging hinkend hinaus, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen, als ob ich ihn gar nicht an die Tür begleitete. „Ja, auf Ihrem Sektor geht es auch hart zu“, sagte Gorbatow, nachdem ich Jeremenko hinausgebracht hatte und ins Zimmer zurückgekehrt war. Aus seinen Worten klang kein Vorwurf. Er bewertete nur militärisch knapp einen beobachteten Vorgang aus einem fremden Tätigkeitsbereich, der fern vom Krieg lag. Erstmals seit Kriegsbeginn entspannte ich in Archangelskoje, wohin ich im Februar kam. Ich diktierte nichts, schrieb nichts, korrigierte nichts, ich kurierte mich nur, befolgte gehorsam die Anweisungen der Ärzte, die bei mir eine starke nervliche Erschöpfung oder ähnliches feststellten. Es ist sonderbar, so etwas heute von sich zu schreiben, aber ich war in meinem ganzen, heute nun schon langen Leben nicht noch einmal derart müde wie damals als Achtundzwanzigjähriger. Die Erfüllung meiner Pflichten als Frontberichterstatter plus eine Novelle und zwei Szenarien plus Gedichte plus die Versuche, wenigstens in gewissem Umfang weiterhin Tagebuch zu führen, das alles hatte meine Gesundheit untergraben, ja zerrüttet. „Durchgedreht“ ist wohl der landläufige Ausdruck meines damaligen Zustands. Wie bereits erwähnt, sollte ich in Archangelskoje
Utwenko treffen. Mir gefiel er sehr, seine großartige Gabe, mit den Soldaten zu sprechen, seine behagliche ukrainische Redeweise und verschmitzte äußere Einfältigkeit, hinter der sich – unerwartet für alle, die ihn nicht kannten – ein scharfer Verstand verbarg, ein starker Wille und ein empfindliches Ehrgefühl. Er hatte in der „Krasnaja Swesda“ meine Erzählung „Reife“ gelesen, und mit der ihm eigenen gutmütigen Überheblichkeit warf er mir vor, in der Erzählung seinen Namen geändert zu haben. Lachend fügte er hinzu: „Schwamm drüber, in meinem Korps haben mich sowieso alle erkannt, und auf die andern kommt es nicht an.“ Sein rundliches, rotwangiges Gesicht, das kurzgeschnittene Haar, die widerspenstige weißblonde Stirnlocke ließen ihn auch heute noch jünger erscheinen, dazu war er noch ohne Generalsuniform, und obwohl ich seine militärische Laufbahn kannte, seinen Weg vom Major zum Generalleutnant, vom Regiments- zum Korpskommandeur, und wußte, daß er mehrmals aus einer Einkreisung ausgebrochen und schwer verwundet und in den Befehlen des Hauptquartiers häufig erwähnt worden war, konnte ich hier im Sanatorium nur schwer glauben, daß der hochgewachsene Mann ein Draufgänger und Haudegen und der Kommandeur eines Garderegiments war. Morgens holte ich ihn gewöhnlich zu einem gemeinsamen Gang zur Heilbehandlung ab. Er fühlte sich schlecht, den einen Arm konnte er kaum bewegen, aber er war von Natur aus lebhaft und energiegeladen, und das hielt ihn auch jetzt aufrecht. Es freute ihn diebisch, daß ihn in seinem Schianzug und seinen Turnschuhen niemand für einen General hielt,
und wenn wir auf dem oberen Absatz der Haupttreppe standen, sah er sich fast jedesmal verstohlen um. Dann setzte er sich auf das hohe Treppengeländer und rutschte pfeifend hinunter. Bald war es ihm so zur Gewohnheit geworden, daß er einmal, vor einer Fahrt nach Moskau, wozu er seine volle Generalsuniform angelegt hatte, sich aufs Geländer schwang und wie üblich pfeifend die Treppe hinabsauste, zur nicht gelinden Verwunderung dreier Obersten, die ausgerechnet in diesem Augenblick nach oben stiegen. Das kommt aber auch nicht oft vor, daß ein Mann drei solche Kriegsjahre durchsteht und sich trotzdem einen Rest unverfälschter Lausbubenhaftigkeit bewahrt. In Archangelskoje führte mich das Schicksal ebenfalls erneut mit Iwan Jefimowitsch Petrow zusammen, mit dem ich befreundet war. Petrow war Held von Odessa und Sewastopol, später Befehlshaber einer Küstengruppe, Oberbefehlshaber der Nordkaukasusfront und einer Selbständigen Küstenarmee; als ich ihm in Archangelskoje begegnete, war er sämtlicher Funktionen enthoben, degradiert und zur Verfügung des Hauptquartiers nach Moskau beordert worden. „Die Gründe für seine Ablösung blieben unbekannt“, schrieb später S. M. Schtemenko in seinen Memoiren über diese schwierige Periode in Petrows Leben. „Er wurde unmittelbar vor der großen Operation abgelöst, als die Selbständige Küstenarmee praktisch auf deren Durchführung vorbereitet war. So kam Iwan Jefimowitsch Petrow um den Genuß der Früchte seiner Arbeit, denn die Operation verlief erfolgreich.“
Iwan Jefimowitsch selbst streifte dieses Thema mit keinem Wort, weder 1944 in Archangelskoje noch in all den späteren Jahren unserer Freundschaft. Bei unserem Abschied – ich verließ Archangelskoje, und Iwan Jefimowitsch blieb noch – sagte er mit jener altmodischen Verbindlichkeit, die seinem Gesprächsstil wesenseigen war und sich wunderbar zu einer beiläufigen und wohlmeinenden soldatischen Redeweise fügte: „Wenn meine weiteren Aufgaben festgelegt sind und ich eine neue Funktion antrete, werde ich es als meine Pflicht erachten, Ihnen meinen Aufenthaltsort mitzuteilen, und ich hoffe, daß wir uns nochmals begegnen.“ Das hoffte ich auch, aber erst im folgenden Jahr, 1945, trafen wir uns an der Front. Im Frühjahr 1944 war der Süden Schauplatz großangelegter Angriffshandlungen, die später als die Operationen von Proskurow-Tschernowzy und Uman-Botoani in die Annalen des Krieges eingingen, und die Redaktion der „Krasnaja Swesda“ schickte mich nach Süden, von wo ich erst Anfang Mai zurückkehrte. Während der Frühjahrsoffensive rückten die 1. und die 2. Ukrainische Front nach harten Kämpfen in einer unerhofften Tiefe von achtzig bis vierhundert Kilometern vor, befreiten beträchtliche Teile der rechtsufrigen Ukraine, die nördlichen Gebiete Moldawiens, fast die gesamte Bukowina, erreichten das Vorgebirge der Karpaten, überschritten erstmals seit Beginn dieses Krieges die Staatsgrenze und drangen nach Bezwingen des Prut in das nördliche Rumänien
ein. Meine Frühjahrsreise an die Front setzte sich aus drei einzelnen Fahrten zusammen, von denen jede in eine andere Richtung führte. Zunächst fuhr ich an die linke Flanke der 1. Ukrainischen Front und besuchte Orte wie Wolotschisk, Proskurow, Kamenez-Podolski, aber hierüber besitze ich leider keinerlei Aufzeichnungen mehr. Zu den Frontnotizbüchern, die mir verlorengingen, gehören auch jene aus der Anfangsetappe dieser Reise, und in diesem Fall ist mir sogar gut erinnerlich, wie sie abhanden kamen. Es war Mai, und ich wollte nach Moskau zurückfliegen, das Flugzeug mußte wegen eines Motorschadens bereits in Kaluga landen. Ich hatte weder die Zeit noch die Geduld zu warten, bis der Schaden behoben war. Vom Flugplatz begab ich mich zum Bahnhof und erreichte, daß ich mit einer Lokomotive fahren durfte, die einen Güterzug in die Moskauer Gegend brachte. Während der Laufereien, die hierfür erforderlich waren, ließ ich meinen halbleeren Kleidersack bei jemandem auf dem Bahnhof stehen. Besondere Kostbarkeiten hatte ich aus heutiger Sicht nicht darin verstaut, etwas Verpflegung, eine alte wattierte Jacke und abgelaufene Stiefel, für die ich auf Befehl eines menschenfreundlichen Kommandeurs kurz zuvor ein Paar neue, regenfeste erhalten hatte, aber die alten sollte ich in Moskau abliefern. Auf die Lokomotive kletterte ich nur mit Feldbeutel und Kartentasche. Als ich den Kleidersack vermißte, war der Zug schon angefahren, und ich konnte nur noch schicksalsergeben abwinken. Erst zu Hause fiel mir ein, daß ich einige Notizblöcke nicht aus dem Kleidersack in den Feldbeutel umgepackt hatte, und
das waren zufällig die von den ersten Tagen. Die späteren Notizen befanden sich im Beutel. Ich möchte meinen Kummer nicht übertreiben. Natürlich war das ärgerlich, aber ich erinnerte mich an alles, es war reproduzierbar! Doch es noch einmal aufzuschreiben, dazu hatte ich weder Zeit noch Lust. Ich habe lange in meinem Archiv nach einigem Material von dieser Fahrt gesucht. Zu guter Letzt stieß ich auf ein interessantes Dokument, das ich von dort mitgebracht hatte, einen Auszug aus dem Protokoll eines kriegsgefangenen F. O. Fuhrparkleiter des deutschen Ostministeriums, der nach seiner Erklärung zurückgeblieben war, „um auf die Seite der Russen überzulaufen“. Hier dieses Dokument: „Ich bin seit einem halben Jahr in der Ukraine, ich habe das ukrainische Volk kennen- und liebengelernt. Geboren wurde ich unter dem Sternbild der Zwillinge, und schon auf Grund meiner Geburt könnte ich kein schlechter Mensch sein. Zwei Brüder sind an der Front gefallen. In bezug auf die Ukraine und die Russen wurden wir stets beschwindelt. In Deutschland habe ich alles verloren. In der Ukraine habe ich angefangen zu reparieren, was durch den Krieg zerstört wurde. Meine beiden Söhne sind im Krieg gefallen. Von meiner Tochter erhalte ich keine Post mehr. In Deutschland habe ich nichts. Ich bin ein ehrlicher, einfacher Mensch. Ich kann und will Ihnen nützlich sein – ich und meine zweite junge Frau, die schon fast fließend russisch spricht. Wohlgemerkt, sie ist ebenfalls unter dem Sternbild der Zwillinge geboren. Geben Sie uns zwei, drei Monate Zeit, damit wir Ihnen unsere Ergebenheit beweisen. Vor dem
Krieg war ich Vertreter einer Berliner Tapetenfabrik. Meiner Natur nach bin ich Ästhet, ein Freund des Schönen. Meiner Bestimmung nach sorge ich für Gemütlichkeit, für Komfort, mache ich das Leben der Menschen angenehm und schön. Auf Grund dessen bin ich nur imstande, für das Gute zu wirken und Schönheit zu fördern, und ich bin zu nichts Unehrenhaftem und Unschönem fähig. Mit Hitler war ich nie einverstanden, schon wegen der Juden. Ich bin Christ, bin Katholik. Jeder Jude kann zum Christentum bekehrt werden. Er ist genauso ein Mensch wie ich auch. Kürzlich erhielt ich die Mitteilung, daß meine Wohnung in Berlin ausgebombt ist. Zwecks Regelung finanzieller Entschädigung wurde mir Urlaub angeboten, aber ich bin nicht gefahren, ich habe dort nichts zu suchen. Unlängst wurden mein Bruder und vier seiner Kinder bei einem Luftangriff getötet, seine Frau und zwei Kinder blieben am Leben. Wären sie lieber alle mit dem Vater umgekommen. Schlag auf Schlag trifft Deutschland. Der Führer ist wahnsinnig, anders kann man sich sein Verhalten nicht erklären. Und Göring, das Großmaul – was hat er denn den Deutschen versprochen? Das deutsche Volk wäre vom Unglück verfolgt, verhetzt, betrogen, ein armes Volk. Ich hätte vorher sehr gut wegfahren können, aber das habe ich nicht getan. Ich war fest entschlossen, mit meiner Frau hierzubleiben. Ich bin doch kein Idiot. Was haben sie uns über Rußland gesagt? Daß es hier kein persönliches Eigentum gibt, kein Geld, keine Bezahlung für die Arbeit. Alles Lüge. Noch schlimmer als im Weltkrieg haben wir
hier das Land verwüstet. Aber alles rächt sich auf Erden…“ Beim Verhör brach F. O. einige Male in Tränen aus, und immer wieder beteuerte er mit bebender Stimme seine Liebe zur Ukraine und zu Rußland. Nach der Überprüfung seiner Papiere stellte sich heraus, daß seine Beteuerungen von A bis Z erlogen waren. Er war unbeabsichtigt dageblieben, hatte sich bei der Räumung seines Lagers zu lange aufgehalten und nicht mit der Nähe der Russen gerechnet. Seine festgenommene „zweite Frau“ war nicht verheiratet, sondern ein russisches Mädchen aus Saporoshje. Sie hatte bei den Deutschen gearbeitet und nach Deutschland zu entkommen versucht. Beim Verhör gab sie sich als Deutsche aus, die russisch radebrechte. Nach der Überführung sprach sie einwandfrei russisch. Ich will den Monolog nicht kommentieren. Der Mann war zu Tode erschrocken, von Natur aus vielleicht nicht schlecht und hatte persönlich keinerlei Freveltaten begangen. Aus diesem Grund beschränke ich mich hier darauf, nur die Anfangsbuchstaben seines Namens anzugeben. Doch unwillkürlich frage ich mich – wen schickte der faschistische Staat nicht alles in unser leidgeprüftes Land, das er an sich gerissen hatte, hochmütig meinend, jede x-beliebige Null könne hier die Herrenrasse repräsentieren und in ihrem Namen über die slawischen Untermenschen regieren. Abgesehen von diesem Protokoll, das jemand auf einer holprigen Maschine schrieb, ist mir von der ganzen Reise kein einziges Schriftstück geblieben.
Ich habe nur noch das eigene Gedächtnis, um mich darauf zu stützen, was sich am dauerhaftesten eingeprägt hat – Wolotschisk und Proskurow, kleine, verwüstete, vom Frühjahrsschlamm überflutete Städte mit zweifachen Gefechtsspuren, denen aus dem Jahre 1941 und den letzten, die der Krieg unlängst hinterlassen hatte. Eine schmale Straße bei Kamenez-Podolski, bis zum Ort hin mit gesprengter, zerstörter, verlassener deutscher Kampftechnik verstopft, und andere Straßen der Ukraine, auf denen wir uns – ganz gleich womit und wie – durch die unerhörte Schlammflut dieses Frühjahrs vorwärtsbewegen mußten. In Erinnerung geblieben sind mir weniger die Gefechte als die anderen Höllenqualen des Krieges: die Schinderei, der Schweiß, das Schuften bis zum Umfallen – weniger die brüllenden Geschütze als die im Dreck versinkenden Soldaten, die die schweren Granaten aus den rückwärtigen Gebieten kilometerweit zu den Artilleriestellungen schleppten, weil alles, absolut alles im Schlamm versackt war! Wie gesagt, die Notizblöcke aus jenen Wochen sind mir abhanden gekommen, und ich habe auch keine Tagebuchaufzeichnungen über die Zeit, doch vor mir liegt die Kopie eines Zeitungsartikels für Amerika, den ich erst später auf den Weg brachte, im April, als ich wieder ans Nachrichtenmaterial herankam. Dieser Bericht war für den amerikanischen Leser gedacht, und einiges darin war besonders ausführlich dargestellt, weil die Leser keine Ahnung vom Krieg an der sowjetisch-deutschen Front hatten. Nun ist vielleicht
gerade diese Ausführlichkeit, das Bestreben, die einfachsten Dinge zu erklären, gut geeignet, heute, dreißig Jahre später, zum besseren Verständnis der Situation von damals beizutragen, und ich will den Artikel hier vollständig anführen. „Diesmal ist Ihr Korrespondent gezwungen, sein Telegramm mit einer Erklärung einzuleiten. Die Ereignisse dieses und folgender Berichte liegen teils einige Tage, teils einen Monat zurück, da ich Ihnen von meinem letzten Aufenthaltsort nicht telegraphieren konnte. Der einzige Grund hierfür waren die Straßen. Mit ihnen werde ich beginnen. Wer die Straßen im Süden in diesem Frühjahr nicht gesehen hat, kann auch nicht ermessen, welche Strapazen sie den Leuten aufbürdeten. Stellen Sie sich eine alte Landstraße bei einer Reparatur vor. Die Arbeiter haben das Kopfsteinpflaster aus dem Boden geholt, die großen Steine aber an Ort und Stelle liegenlassen, weil bislang keine Möglichkeit bestand, sie abzufahren oder neu zu verlegen. Das erstens. Zweitens. Stellen Sie sich vor, über diese herausgerissenen Steine hätte sich eine einen halben Meter hohe Schlammflut ergossen, die nicht abfließen kann, weil zu beiden Seiten der Straße der Morast noch tiefer ist. Drittens. Stellen Sie sich vor, Sie würden in einem Geländewagen über diese Straße kriechen, zornbebend wegen des unkontrollierbaren Schlitterns und Stoßens, und schließlich hätten Sie es satt, in einem fort Baumstämme und Stroh und was Sie sonst zu fassen kriegen unter die Räder zu legen, Sie würden darauf spucken, unter diesen Umständen auf der
Straße weiterzufahren, würden aussteigen und Ihren Weg seitlich über die Felder fortsetzen. Ein unerwarteter Anblick hält Sie von Ihrem Vorhaben ab. Fünfzehn Meter hinter der Straße ragt ein Panzerturm aus dem Schlamm, kein Panzer, sondern eben nur ein Turm, und bei der näheren Betrachtung ergibt sich, daß der Panzer heil und unbeschädigt und einfach im Schlamm versunken ist. Als ich endlich an einen General herantrat, den ich vom Chalchyn gol her kannte, ich wiederhole: herantrat – nicht heranfuhr, da lachte er nur zur Antwort auf mein Geschimpfe wegen der Straßen, der Schlammflut und der Notwendigkeit, zu Fuß zu gehen, und er empfahl mir, einfach seinem Beispiel zu folgen. Um nicht hinter seinen Truppen zurückzubleiben, hatte auch er seinen Wagen stehenlassen und gebrauchte seit zwei Tagen die Beine. Aber schließlich, so merkwürdig es klingen mag, aus einem Grunde war der verheerende Zustand der Straßen sogar erfreulich. Sie alle trugen Zeichen des deutschen Rückzugs. Ich hatte es mir längst abgewöhnt, ähnliche Bilder zu bestaunen, und dennoch, hier wunderte ich mich täglich aufs neue über die große Zahl der von den Deutschen zurückgelassenen Fahrzeuge aller Marken und Systeme, Kampf- und Transportwagen, die die Straßen versperrten. Da waren die berüchtigten ,Tiger’ und ,Panther’, ausgebrannt oder unversehrt, und Panzer älterer Typen und selbstfahrende Kanonen, große SPW und kradähnliche kleine Transportfahrzeuge, (Kettenkrad) mit einem Triebrad, und mächtige, stumpfnasige, aus Frankreich gestohlene Laster der Renaultwerke und
endlos ,Mercedes’ und ,Opel’, Stabswagen, Funkgeräte, Feldküchen, Flakgeschütze, Entlausungsanstalten – kurzum alles, dessen sich die Deutschen bei ihren früheren zügigen Angriffen bedient hatten, steckte jetzt zerschossen, verbrannt, verlassen im Schlamm dieser Straßen fest. Stellenweise gab es kein Durchkommen mehr. So türmten sich an Brücken und Hängen Schrottberge – verbeulte Eisenmassen der einstmaligen Fahrzeuge. Man hatte sie links und rechts an die Straße geschoben, damit ein Durchkommen war, denn hier und da waren sie in Dreier- und Viererreihen im Schlamm versackt. Auf einer der Straßen, in der Nähe der Grenze, überkamen mich Rachegefühle. Dort war 1941 eine unserer leichten Panzerdivisionen zurückgewichen. Die Deutschen hatten sie eingekesselt und ihre Luftwaffe und schweren Panzer gegen sie eingesetzt, und die ganze Division, die wir vor Kriegsbeginn nicht hatten modernisieren können und die nur aus veralteten leichten Tanks bestand, wurde auf dieser Straße vernichtet. Damals, 1941, schleppten die Deutschen ihre eigenen zerstörten und ausgebrannten Fahrzeuge ab. Unsere aber ließen sie zur Besichtigung stehen oder schoben die zerschossenen kleinen grünen Tanks der größeren Wirkung wegen näher aneinander heran oder stellten sie an gut überschaubaren Plätzen, auf Hügeln und an Kurven, reihenweise zur Schau. So hatten sie bis zu diesem Frühjahr dort gestanden. Kommt man jetzt an ihnen vorüber, die im Schnee und Regen dieser Jahre verrostet sind, so sieht man daneben die gewaltige Flut der zerstörten und stehengelassenen deutschen
Technik, und dann fällt es wie gesagt schwer, keine Rachegefühle aufkommen zu lassen. Ich weiß nicht, aber vielleicht war da 1941 niemand, der an den Gräbern unserer toten Panzerfahrer sie zu rächen gelobte. Überhaupt sind unsere Soldaten keine Freunde von Gelübden und lauten Worten. Doch ein stillschweigendes Versprechen, die Rechnung zu begleichen, das haben, davon bin ich überzeugt, damals viele abgegeben. Und jetzt werden diese Versprechen vor meinen Augen erfüllt, und nicht nach dem biblischen Wahlspruch ,Auge um Auge, Zahn um Zahn’, sondern in vernichtenden Ausmaßen. Ein kleines Detail. Zwischen der Landstraße und einem Dorf steht, zur Hälfte im Schlamm versunken, ein riesiger deutscher Transporter zur Beförderung tonnenschwerer Lasten. Auf dem Wagen sitzt ein zehnjähriger Bauernjunge, der gegen das Fahrzeug winzig wirkt. Er hält einen Schraubenschlüssel in den Händen und betrachtet ihn nachdenklich. ,Da ist auch schon ein Kfz-Schlosser am Werk’, bemerkt unser Fahrer, während wir auf Rädern, die im Brei mahlen, langsam an dem Jungen vorüberrutschen. ,Die Instandsetzungsarbeiten sind im Gange.’ Natürlich gibt es an diesem kleinen Detail nichts Besonderes, aber wieviel tausend deutsche Lastwagen sind in diesen drei Jahren an dem Kind aus dem Grenzdorf vorbeigebrummt, wieviel deutsche Panzer vorbeigerasselt, wieviel Flugzeuge kreischend über ihn hinweggeflogen! Da hockt er nun mit dem Schraubenschlüssel auf dem gewaltigen Fahrzeug, das jetzt nutzlos und harmlos ist. Die ganze Beschreibung des Zustands der Straßen
entspringt natürlich sehr sporadischer Beobachtung, und es ist keineswegs das Wesentliche meines Berichts. Die Hauptsache ist der Mensch, der jetzt auf diesen Straßen vorgeht. Der Infanterist, der russische Soldat. Sosehr der Frontkorrespondent auf den Straßen durchgeweicht ist, sosehr er schimpfte und bibberte – alle seine Klagen, daß er den Wagen häufiger schieben mußte, als er in ihm fahren konnte, wirken letzten Endes lächerlich, gemessen daran, was gegenwärtig der gewöhnliche, der einfache Infanterist zu leisten gezwungen ist. Jeder einzelne der Millionen, die gegenwärtig auf diesen Straßen ziehen, legt täglich vierzig Kilometer zurück, und nicht selten unter Bedingungen, wie ich sie geschildert habe, stets zu Fuß, die MPi um den Hals gehängt, auf dem Rücken die vollständige Ausrüstung. Er trägt alles bei sich, was ein Soldat unterwegs braucht; denn der Mensch kommt dort durch, wo das Auto versagt, und zusätzlich zu dem, was er ohnehin zu tragen hat, schleppt er auch das mit sich herum, was eigentlich gefahren werden müßte. Die Bedingungen, denen er unterworfen ist, ähneln denen des Höhlenmenschen. Manchmal weiß er tagelang nicht, was Feuer ist. Sein Mantel ist seit einem Monat nicht mehr ganz getrocknet, ständig spürt er die Feuchtigkeit auf den Schultern. Und nirgends kann er sich während des Marsches hinsetzen – überall nur knietiefer Schlamm, durch den er watet. Manchmal bekommt er tagelang kein warmes Essen, denn nicht nur die Autos, auch die Feldküchen und die Pferde kommen nicht nach. Er hat nichts zu rauchen, denn auch der Tabak ist versackt. Tagtäglich werden ihm Qualen
zugemutet, wie ein Mensch allein sie sonst in seinem ganzen Leben nicht erdulden muß. Und außerdem steht er vor allem im harten, unerbittlichen Kampf auf Leben und Tod. So vollzieht sich der Alltag des Soldaten in dieser Frühjahrsoffensive. Ich glaube, kein anderer Mensch wäre imstande, diese Qualen zu erdulden. Er wollte und er könnte es nicht, weder physisch noch psychisch würde er sie ertragen. Indes vermögen das jetzt Millionen bei uns, und sie sind den Strapazen gewachsen, weil sie Millionen zählen. Das Gefühl, diese ungeheuren Qualen gemeinsam durchstehen zu müssen, entfacht in ihnen eine unbändige, nie dagewesene kollektive Kraft, die sich eines ganzen Volkes nur in einem gewaltigen Krieg wie dem gegenwärtigen bemächtigen kann, in einem Krieg, der schon längst nichts mehr mit den Schlachtenbildern der Maler gemein hat, der auch nicht den Heldenfilmen gleicht und nicht einmal der Darstellung in unseren Schriften entspricht, sosehr wir uns da um die ganze Wahrheit bemühen. Ich kehre zum Ausgangspunkt zurück. Gestatten Sie mir, meine Darlegungen als ausreichende Erklärung dafür zu betrachten, warum es nicht möglich war, diesen Bericht – wie vielleicht auch spätere Berichte – ganz pünktlich zu übermitteln.“ Beim nochmaligen Lesen dieses Berichts, der damals nach Amerika gekabelt wurde, sehe ich wieder den zehnjährigen kleinen Ukrainer vor mir; er hockt mit dem Schraubenschlüssel auf dem tonnenschweren deutschen Laster, und die Erinnerung ruft eine Assoziation hervor. Vom Jahre 1944 schweifen die
Gedanken weiter zurück zum Jahr 1942. Nach der Schilderung seiner Eindrücke von der Fahrt mit Professor Brandt durch die in der Nähe des Führerhauptquartiers gelegenen ukrainische Kolchose sei Reichsleiter Bormann auf die ukrainische Bevölkerung zu sprechen gekommen. Wenn man sich die ukrainischen Kinder ansehe, so habe er betont, könne man sich kaum vorstellen, daß ihre Gesichter einmal flache slawische Züge annehmen würden. Die Kinder seien wie die meisten Menschen des ostbaltischen Typs hellhaarig und blauäugig; außerdem seien sie vollwangig und von rundlichen Körperformen, so daß sie wirklich hübsch ausschauten… Außerdem, habe Reichsleiter Bormann hervorgehoben, wenn man durch diese Orte fahre, begegne man wenig Männern, aber unglaublich vielen Kindern. Der Kinderreichtum, so sei er fortgefahren, könne sich später nachteilig auswirken. Diese Üppigkeit sei nämlich bezeichnend für eine Rasse, die unter weit härteren Gewohnheiten aufgezogen werde als das eigene Volk. Hier sehe man nirgends Brillenträger, die meisten Menschen hätten ein ausgezeichnetes Gebiß, ihre Ernährungsweise sei gut, und anscheinend erfreuten sich alle, klein und groß, bester Gesundheit. Falls sich dieses Volk noch schneller als gegenwärtig vermehre, so beeinträchtige das nicht nur unsere deutschen Interessen, sondern könne selbst dazu führen, daß der ethnische Druck der „Russen oder sogenannten Ukrainer“ nach verhältnismäßig kurzer Zeit gefährlich werde. Es wäre also günstig, einen Zustand zu erreichen, bei dem sich „diese Russen
oder sogenannten Ukrainer“ nicht so schnell vermehrten. Immerhin schicke man sich an, „dieses ganze ehemalige russische Land“ mit Deutschen zu besiedeln. Aus einem Stenogramm, das bei einem von „Hitlers Tischgesprächen“ aufgenommen wurde. Das Datum: der 22. Juli 1942, der Ort der Aufzeichnungen: Winniza, Hauptquartier des deutschen Oberkommandos auf dem Gebiet der vollständig besetzten Ukraine. Die Stimmung aller Anwesenden sei großartig gewesen; an der Front verliefe alles bestens, Nowotscherkassk sei bereits eingenommen, von Stunde zu Stunde erwarte man die Meldung vom Fall Rostows am Don… Den ukrainischen Jungen sah ich irgendwann zwischen dem 20. und 50. März 1944 auf dem deutschen Lastwagen hocken, zufällig in den Tagen, als dieses Winniza befreit wurde, wo im Juli 1942 das „Tischgespräch“ stattgefunden hatte. Als ich den Jungen sah, war er zehn, als sich Bormann seine Gedanken über ihn machte, acht. Nach Zahlen, die Hitler bei einem anderen Tischgespräch nannte, sollten bis 1974, dem Jahr, in dem der Junge, falls er noch am Leben war, die Vierzig erreichte, auf diesem „ganzen ehemaligen russischen Land“ wenigstens vierundsechzig Millionen Vertreter der germanischen Rasse angesiedelt sein. Doch der Junge machte sich, einen Schraubenschlüssel in den Händen, auf einem Lastwagen breit, den die Deutschen bei ihrem Rückzug stehengelassen hatten…
17 Von Kamenez-Podolski fuhr ich nach dem nördlich gelegenen Tarnopol. Tarnopol interessierte mich und andere Korrespondenten schon deshalb, weil sie eine verhältnismäßig große Stadt war, eines der Zentren der Westukraine, über deren Einnahme ich unbedingt für die Zeitung schreiben mußte, aber auch darum, weil die Straßenkämpfe hier besonders hartnäckig tobten und in ihrer äußersten Erbitterung an Stalingrad erinnerten. Wir unternahmen große Anstrengungen, um mit Tarnopol so bald wie möglich fertig zu werden. Die Stadt wurde eingeschlossen, und die Front rückte weiter nach Westen; aber aus erbeuteten Dokumenten und abgefangenen Funksprüchen geht hervor, daß das deutsche Oberkommando dennoch entweder die Hoffnung nicht aufgegeben hatte, nach Tarnopol durchzubrechen und die Besatzung herauszuhauen, oder die eigenen Truppen mit Versprechungen betrog, damit bis zum letzten Mann gekämpft wurde. Jedenfalls waren etliche energische Versuche, den Ring um Tarnopol von außen zu sprengen, bereits fehlgeschlagen. Es konnte nicht ausgeschlossen werden, daß weitere folgen würden. Darum beeilten wir uns mit der Einnahme der Stadt. In Tarnopol und seiner Umgebung brachte ich etwa zwei Wochen zu, und ich schickte der Zeitung „Krasnaja Swesda“ von hier einige Berichte. Darin werden Einzelheiten wiederholt, die auch in meinen Tagebuchaufzeichnungen enthalten sind.
Ich meine vor allem zwei Passagen. Die erste bezieht sich auf den Höhepunkt der Kämpfe um Tarnopol. An einem Pfahl ein Schildchen, das ganz nach Hinterland aussieht: „Tarnopol 3 km“. Aber noch vor der Stadt geraten wir in einen Bombenhagel und suchen den Straßengraben auf. Zwei Drittel der Stadt haben wir erobert, das Zentrum halten die Deutschen besetzt, und sie bombardieren auch die Außenbezirke. Wie alle Städte, von denen man nach näherer Betrachtung sagen kann, daß sie völlig zerstört sind, sieht Tarnopol aus der Ferne noch unversehrt aus. Wir erkennen Häuser, Kirchen, Gebäudekonturen. Kurzum, so lange wir draußen sind, halten wir es für eine Stadt. Dann fahren wir durch die Straßen. Was links und rechts steht, kann man schon nicht mehr als Häuser bezeichnen. Wir haben Tarnopol nicht bombardiert, und doch gibt es hier kein Viertel, in dem nicht schwere Bomben einen Teil der Häuser bis auf die Grundmauern zerstört hätten und wo nicht Berge von Ziegelschutt die Erde bedeckten. Fast jedes Haus ist durchlöchert wie ein Sieb, obwohl dieser Vergleich hinkt. Es gibt kleine und große Löcher, sie stammen von Granaten aller Kaliber zwischen siebenunddreißig und zweihundertdrei Millimeter. Auf den Straßen liegen Autowracks und Tote, und die Trichter sind so zahlreich, daß wir auf der Fahrt mit unserm „Wyllis“ den Eindruck haben, es sei keine Fahrt, sondern ein Billardspiel, bei dem unserem Wagen die Rolle der Kugel zugedacht ist, die bald auf das eine, bald auf das andere Loch zurollt. In der Stadt toben Straßenkämpfe. Die Deutschen bombardieren die Randgebiete, dennoch haben wir
ein Eisenbahngleis am Bahnhof schon wieder repariert. Ringsum liegt alles im Rauch der Einschläge, und durch die Stadt, die wir noch nicht eingenommen haben, rattern die Güterzüge von einem Frontabschnitt zum anderen. Wie eine dicke Wand hängt der Qualm über den Häusern, und plötzlich steigt von einem Dach ein Taubenschwarm auf, und die Vögel flattern aus dem Rauch. Am Ende der Straße stehen zwei Selbstfahrlafetten von uns und nehmen im direkten Beschuß eine Hauswand unter Feuer. Der Divisionsstab verfügt über einen Stadtplan mit numerierten Stadtvierteln. Die Häuser, die wir eingenommen haben, sind mit Rotstift gekennzeichnet, diejenigen, die sich noch in deutscher Hand befinden, mit Blaustift. Einige sind doppelt markiert, rot und blau. Diese haben wir an diesem Morgen erobert. Der Divisionskommandeur, Oberst Kutscherenko, meint, nach seinen Informationen verteidigen sich in der Stadt Reste einer SS-Sicherung und einer Infanteriedivision sowie ein Offiziersstrafbataillon. „Wie kämpfen die Deutschen?“ frage ich ihn. Er sieht mich an, als ob das eine dumme Frage wäre, und antwortet voll grimmiger Anerkennung: „Leisten verbissen Widerstand, die Schufte!“ Ehe die Artillerievorbereitung beginnt – danach wird wieder angegriffen –, gehen wir zur Beobachtungsstelle. Sie ist in einem schmalen, aber hohen, dreistöckigen Haus untergebracht. Der Artilleriemajor, noch ein junger, bartloser Mann mit drei Orden, sitzt vor dem Scherenfernrohr auf einem Korbsessel wie in einer Datsche. Gestickte Kissen schmücken eine Liege. An der Wand ein
Kruzifix. Aus der dritten Etage steigen wir zum Boden hoch. Von hier hat man einen sehr guten Überblick. Er weist auf einige Gebäude, die von den Deutschen gehalten werden. Inzwischen hat die Artillerie angefangen zu feuern, und ununterbrochen werden Trümmerteile über die Häuser geschleudert und stürzen fächerförmig herab. Die Entfernung bis zum nächsten Haus, das von Deutschen besetzt ist, beträgt in der Luftlinie hundertfünfzig, vielleicht zweihundert Meter. Auf einigen Dächern entdecke ich rote Flecke. Ich erkundige mich danach. Es sind Fallschirme: Damit werfen die Deutschen Munition ab, aber viele gehen auch bei uns nieder oder landen auf den Dächern, und wir sorgen dafür, daß sie nicht geborgen werden. Tag und Nacht halten wir diese Dächer unter Feuer. Ich frage, ob Einwohner in der Stadt geblieben sind. Ja, heißt es. Wir gehen auf die Straße, überqueren sie und laufen hundert Meter zurück. In einem halbzerstörten Haus wäscht eine Frau in einer Metallschüssel ihre Wäsche. Auf einer Couch sitzt ein Junge, hält eine Untertasse voll Zucker, vermutlich die Zuteilung eines Soldaten, und knabbert eine Brotrinde, die er zwischendurch eintunkt. Neben ihm hat sich ein gebrechlicher Greis niedergelassen. Die Frau heißt Magdalina Sadoraiko. Ihr Mann wurde vor einer Woche von einer Granate getötet, nebenan in ihrem eigenen Zimmer; dieser Raum, in den sie jetzt übergesiedelt sind, gehört ihnen nicht. Der Mann hieß Dmitri. Gearbeitet hat er bei der Eisenbahn. Der Sohn trägt den Vornamen Ljubomir. Er ist zweieinhalb.
„Ihr Enkel?“ frage ich den Alten. Er verneint. Das sei nicht seine Familie. Er sei ausgebombt, sein Haus zerstört, die Söhne tot. Er sei vierundachtzig. Wo solle er noch hin? So sei er zu den Nachbarn gegangen. Mehrere Bomben detonieren, die Scheiben klirren. Die Frau drückt das Kind an sich und läuft in den Keller. Wir treten hinaus, stehen dicht an der Hauswand und sehen es uns an. Die Flugzeuge drehen ab. Fast im selben Augenblick kommt die Frau aus dem Keller zurück. Unten sei es feucht, das Kind könne sich erkälten. Unsere Artillerie stellt ihr Feuer ein. Jetzt blaffen nur noch unsere Selbstfahrlafetten und beschießen fortgesetzt die Häuser und Ruinen. Das Blaffen dieser Kanonen ist unverwechselbar. Noch müssen die Gebäude genommen werden, die am schwersten zu erstürmen sind, alte Bauwerke mit unterirdischen Gewölben: das Gefängnis, ein Dominikanerkloster, die Offiziersschule, das Schloß. Im Tagesverlauf wurden insgesamt zwei Häuser erobert. Armeebefehlshaber Tschernjachowski ruft an. Dem Gesicht des Divisionskommandeurs entnehme ich, daß er zurechtgewiesen wird. „Jawohl… Zu Befehl… Wird ausgeführt.“ Er schmettert den Hörer hin, nimmt ihn wieder ab, bestellt die Regimentskommandeure zu sich, umreißt Aufgaben. Während er sie erwartet, verwünscht er Tarnopol in alle Ewigkeit, wegen der Stabilität und Dicke der Mauern, wegen der tiefen Keller, aus denen die Deutschen nicht hinauszuwerfen sind, wegen der engen, gewundenen Straßen im Stadtzentrum, wo die
Selbstfahrlafetten nicht wenden können, um im direkten Beschuß viel wirksamer zu werden. Vom Befehlshaber sagt er ohne Groll: „Selbstverständlich flucht er. Mir hängt diese Stadt auch zum Halse raus. Den achten Tag piesacken wir sie und können die letzten drei Viertel nicht einnehmen.“ An diesem Tag wurden wieder nur zwei Häuser erobert, eigentlich anderthalb. Von dem einen hieß es, es sei genommen, doch dann feuerten die Deutschen daraus. Der Divisionskommandeur ruft den Regimentskommandeur fuchsteufelswild an. Was soll der Schwindel? Der Regimentskommandeur beharrt darauf, dieses Haus sei genommen und sein Bataillonskommandeur halte sich darin auf. „Dann verbinde mich mit ihm!“ Schließlich wird der Divisionskommandeur mit dem Bataillonskommandeur verbunden. Dieser sitzt tatsächlich in dem Haus, allerdings im Keller. Ein wenig ist geflunkert worden, aber zunächst unbeabsichtigt. Der Bataillonskommandeur war tatsächlich ins erste Stockwerk des Hauses vorgedrungen und hatte von dort die Verbindung hergestellt. Erst später zeigte es sich, daß in der zweiten und dritten Etage noch Deutsche saßen. Bisher konnten sie nicht ausgeschaltet werden. Zunächst wurde angenommen, daß sie über kurz oder lang weichen müßten, und die ursprüngliche Meldung wurde nicht zurückgenommen. Deswegen starben einige Soldaten, die sich auf der Straße ungedeckt vor dem Haus bewegten. Sie hatten angenommen, das Haus wäre von uns besetzt, und starben
im deutschen Kugelregen. Der Divisionskommandeur läuft zornrot an und schreit ins Telephon. „Ich vertrage keine Schwindeleien. Hast du ein Gewissen? Wenn du die Lage in einer Stunde nicht bereinigt hast, kannst du dich als abgesetzt betrachten!“ Er wirft den Hörer hin, schweigt und schwankt. Offensichtlich verspürt er wenig Neigung, den Lagebericht zu präzisieren. Er hat schon nach oben gemeldet, zwei Häuser seien genommen. Bei näherer Überprüfung stellt sich jedoch heraus, daß es nur eins ist. Schließlich seufzt er, nimmt den Hörer auf, meldet die wirkliche Lage, läßt Vorhaltungen über sich ergehen. Mit müde geschlossenen Augen hört er sich alles an. Übrigens habe ich gerade erst erfahren, daß der Adjutant Kutscherenko, ein junger Leutnant, der uns in diesen Tagen begleitet hat, sein einziger Sohn ist. Hätte ich nicht zufällig ein Gespräch mitangehört, wüßte ich es nicht. Weder der Vater noch der Sohn haben es mir gesagt, und so hatte ich keine Ahnung von ihrem verwandtschaftlichen Verhältnis. Vielleicht ist das nur eine Kleinigkeit, aber es ist eine wichtige. Damit endet die erste Tagebuchaufzeichnung von Tarnopol. In den Tagen, als um die Stadt noch gekämpft wurde, schrieb ich, für mich selbst überraschend, die Erzählung „Vor dem Angriff“, die nach meiner eigenen Meinung recht treffend gestaltet ist. Dazu war es folgendermaßen gekommen. Nach einigen Tagen in Tarnopol fuhr ich zu Einheiten, die westlich der Stadt kämpften, im sogenannten äußeren Ring der Einkreisung.
Später, als die Geschichte einiger kleiner Erzählungen geklärt war, 1945, noch auf heißer Spur, schrieb ich folgendes: „Wie bekannt wurde, stand die Einnahme größerer Ortschaften nicht auf der Tagesordnung. Es vollzog sich ein gewöhnlicher, alltäglicher Vormarsch. Zunächst erschien mir das aus dem Gesichtswinkel eines Journalisten uninteressant, und ich wollte schon nach Tarnopol umkehren, doch als ich am Abend den Stab eines Schützenbataillons aufsuchte, erteilte der Kommandeur gerade den Befehl, in der Nacht die mir unbekannte Ortschaft Sagreblja anzugreifen. Unter den Offizieren, die ihre Aufgabe erhielten, war auch ein Unterleutnant, Kommandeur eines Zuges MPi-Schützen, ein besonders aufmerksamer Zuhörer. Er war mit auffallendem Ernst und Feuereifer bei der Sache und wollte alles ganz genau wissen. Dem Aussehen nach hatte er die Dreißig überschritten, er wirkte finster, um nicht zu sagen griesgrämig, sein Gesicht belebte sich nur dann, wenn er Fragen stellte. Auch die kleinsten Kleinigkeiten schienen ihm wichtig zu sein, so daß ich das Gefühl hatte, er betrachte die Einnahme des Dorfes Sagreblja als Lebensaufgabe. Nach der Befehlsausgabe des Bataillonskommandeurs trat ich mit dem Unterleutnant beiseite, und die verhältnismäßig freien fünfzehn Minuten, die ihm noch verblieben, plauderten wir. Das Gespräch zeigte, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Der Offizier vertrat seine eigene, sehr strenge Lebensauffassung. Von dem bevorstehenden Gefecht sprach er schlicht und sachlich wie von etwas Unvermeidli-
chem. Die Viertelstunde verrann, und wir trennten uns. Am nächsten Tag fuhr ich nach Tarnopol zurück. Diesen Mann sah ich nie wieder, aber er beschäftigte mich. Ich versuchte mir genau vorzustellen, was er tat, als er vom Bataillonskommandeur kam, wie er mit den Soldaten sprach, wie er zum Angriff antrat auf das Dorf Sagreblja, das in keinem Bericht des Informationsbüros je erwähnt wurde. So entstand die Erzählung „Vor dem Angriff“. Die Kämpfe um Tarnopol näherten sich ihrem Ende; an einem der letzten Tage vollzog sich eine Veränderung in der Führung der 60. Armee, die die Stadt einnahm. Der Befehlshaber, General Tschernjachowski wurde zur Entgegennahme einer neuen Aufgabe nach Moskau beordert, und er übergab die Armee General Kurotschkin. Das Abendessen nahm ich im Armeestab ein, wo anwesend waren der neue Befehlshaber, Pawel Alexejewitsch Kurotschkin, und sein Vorgänger, Tschernjachowski, der sich von seinen Kameraden verabschiedete. Erste Eindrücke von Iwan Danilowitsch Tschernjachowski hatte ich bereits gewonnen, mit bestimmten Zügen seines Charakters war ich vertraut, ehe ich ihn persönlich kennenlernte. Ich war in Tarnopol dabei gewesen, wenn mit ihm telephoniert wurde, hatte beobachten können, wie seine Unterstellten auf seine Befehle und Hinweise reagierten und auf seine anerkennenden Bemerkungen, mit denen er sehr sparsam umging und die daher besonders hoch im Kurs standen. Soviel ich den Telephongesprächen entnahm, lobte Tschernjachowski maßvoll, verlangte
viel und tadelte hart und kalt, ohne die Stimme zu heben. Je länger der Krieg andauerte, eine desto größere Exaktheit forderten die Vorgesetzten von der Berichterstattung, und in der Regel ließ man sie auch walten. Das war allgemein so, aber in der Armee Tschernja-chowskis empfand ich das besonders stark. Wenn hier eine Meldung nach oben ging, bemühte man sich sehr um Genauigkeit und hütete sich vor Übertreibungen, denn es war bekannt, daß der General jede Halbheit unnachsichtig ahndete. Das war nicht nur ein Gefühl, dafür gab es Beispiele. Man erzählte mir, wie scharf Tschernjachowski einige Unterstellte wegen Ungenauigkeiten bei der Meldung kritisiert hatte. Man erinnerte sich sogar eines Falls, in dem Tschernjachowski zweimal telephonisch rückgefragt hatte, ob der Betreffende tatsächlich auch mit eigenen Augen gesehen habe, was er da melde, und als es beide Male bestätigt wurde, persönlich aufgetaucht war, den Sünder mitgenommen und sich mit ihm dorthin begeben hatte, wo gewesen zu sein er vorgab, aber nicht gewesen war. Er degradierte ihn auf der Stelle und ließ ihn auf diesem Platz zurück, wobei er ihm höhnisch erklärte, daß er ihm damit die Möglichkeit verschaffe, künftig tatsächlich zu sehen, wovon er bisher nur geredet habe. Ich weiß nicht mehr, wann sich das zugetragen hat und von wem konkret die Rede war, aber daß es mir erzählt wurde, zeigt doch, wie gut man sich die Begebenheit gemerkt hatte. Wenn ein Vorgesetzter von seinen Unterstellten geachtet wird, dann ist diese Wertschätzung ge-
wöhnlich nicht aus der Luft gegriffen, vorausgesetzt natürlich, daß sie aufrichtig gemeint ist. Ich würde nicht sagen, er wurde gefürchtet. Fürchten kann man im eigentlichen Sinne des Wortes höchstens jemanden, der ungerecht ist. Aber daß es gar nicht so einfach war, den Hörer abzunehmen und Tschernjachowski die nicht hundertprozentige Erfüllung einer Aufgabe einzugestehen, davon hatte ich mich überzeugt. Ich sah, wie bei solcher Gelegenheit der Hörer abgenommen wurde, erst nachdem man schwer geseufzt hatte, als wollte man vor dem Tauchen in gefährlichen Gewässern noch einmal recht tief einatmen. Im allgemeinen achtete man ihn wegen seiner Strenge und seiner Kaltblütigkeit und seiner militärischen Fähigkeiten, von denen der Siegeszug seiner Armee Zeugnis ablegte. Wenn die Leute stolz auf ihn waren, so war dies ein Teil ihres eigenen Stolzes, den sie dafür empfanden, was sie unter seinem Kommando geleistet hatten. Doch in der 60. Armee trug dieser Stolz noch eine ganz besondere Note, die mit Tschernjachowskis Jugend zusammenhing. Hier waren die Leute stolz darauf, dem jüngsten aller Armeebefehlshaber zu unterstehen. Ich erinnere mich, wie das aus einigen Gesprächen herausklang, und als ich in Tarnopol dann Tschernjachowski sah, sprangen mir seine hervorstechenden Merkmale in die Augen, seine Jugend, seine Kernigkeit, seine Männlichkeit. Damals fuhr er zu seinen Divisionen, die den Deutschen in Tarnopol den Garaus machen sollten. Er war ungehalten wegen des langsamen Tempos – wie ungehalten, daraus machte er keinen Hehl, als er
seine kalten, beißenden Fragen stellte. Ich sah ihm an, daß die Versprechungen, die Situation zu verbessern, ihn nicht zufriedenstellten. Die Lage war gespannt. Ich erwartete ein Donnerwetter, bekam jedoch etwas anderes zu hören. „Nach Ihren kleinlauten Meldungen und eilfertigen Versprechungen zu urteilen, scheinen Sie zu glauben, daß ich dem Oberbefehlshaber mitteilen werde, ich sei als Armeebefehlshaber nicht in der Lage, Sie Zu veranlassen, diese letzten Widerstandsnester zu beseitigen?“ sagte Tschernjachowski. „Und folglich müßte ich hierbleiben, um Ihnen die Sache abzunehmen und es Ihnen vorzumachen? Das schlagen Sie sich aus dem Kopf. Sie haben alles, was Sie brauchen, um hier aufzuräumen, und Sie sind sehr wohl imstande, das zu tun. Sie auf Ihrem Platz, nicht ich an Ihrer Stelle.“ Nachdem er noch einige kritische Bemerkungen über den Einsatz von Selbstfahrlafetten bei Straßenkämpfen hinzugefügt hatte, wünschte er ihnen trokken recht viel Erfolg und fuhr ab. Wenn ich hier Tschernjachowskis Worte wiedergebe, so kann ich mich natürlich wie auch in allen anderen Fällen, in denen mir keine Mitschrift von damals vorliegt, nicht für jedes einzelne Wort verbürgen, doch erinnere ich mich an den Inhalt und Charakter seiner Äußerungen. Ich weiß auch noch, wie mich Tschernjachowski damals durch seine Fähigkeit beeindruckte, zu beschämen, ohne zu demütigen, einem Menschen nicht nur die Ausführung eines Befehls, sondern auch den hierfür erforderlichen Glauben an sich selbst abzu-
verlangen. An jenem Abschiedsabend mit Tschernjachowski saß ich beim Essen neben ihm. In die leichte Wehmut des Scheidens mischte sich auch Genugtuung. Tschernjachowski schied von Genossen, die in ihrer Mehrheit fast zwei Jahre lang, seit Woronesh, seine Kampfgefährten gewesen waren, aber er übernahm nicht nur eine andere Armee, sondern wurde befördert, und dahinter stand neben der Würdigung seiner persönlichen Verdienste indirekt auch die Anerkennung der Heldentaten seiner Armee. Niemand würde einen Mann zum Oberbefehlshaber einer Front machen, dessen Armee sich lasch und flau geschlagen hatte. Die bevorstehende Ernennung bedeutete für viele der Anwesenden zugleich einen persönlichen Triumph, das spürte ich aus der Atmosphäre, die beim Abschiedsmahl herrschte. Was die Gefühle und die Stimmung anging – an der Tafel saß auch der neue Armeebefehlshaber, ebenfalls ein verdienstvoller Mann, der im Krieg Großes geleistet hatte, und die Hochachtung für ihn hinderte die Gäste, allzu lange in Erinnerungen zu schwelgen. Die Zukunft erschien Tschernjachowski an jenem Abend gewiß nicht einfach, und sicherlich gab es auch in der Vergangenheit einiges, wovon er sich nur schweren Herzens trennte, aber bei aller Zurückhaltung, die er zeigte, konnte man unmöglich übersehen, daß er glücklich war. An jenem Abend unterhielt sich Tschernjachowski lange mit mir. Er erkundigte sich nach dem Leben eines Schriftstellers, wollte etwas über unsere Arbeit erfahren und darüber, wie wir Wirkliches und Erdachtes verknüpfen. In der „Prawda“ hatte er mein
Stück „Russische Menschen“ gelesen, und er erinnerte sich, er fragte besonders eingehend danach. Kannte ich die Menschen, die ich auf die Bühne brachte? Wo, an welchen Fronten, war ich ihnen begegnet? Würde ich es nicht als komisch empfinden, daß ein Mensch, den ich an der Front gesehen hatte, in meinem Stück von unterschiedlichen Schauspielern verkörpert wurde, die ihm nicht ähnlich waren? Neben meinem Beruf interessierte ihn jedoch auch meine Jugend. Dreißig Jahre später berührt mich die Erinnerung daran etwas eigentümlich, aber damals hatte ich wirklich den Eindruck, daß er, unser jüngster Armeebefehlshaber, ein besonderes Interesse dem Schriftsteller entgegenbrachte, der von allen, die er gelesen hatte, der jüngste war. „Dann sind Sie tatsächlich erst neunundzwanzig?“ fragte er am Ende unseres Gesprächs, das mit der Frage, wie alt ich sei, begonnen hatte. Ich lachte über diese Wiederholung und präzisierte: achtundzwanzigeinhalb – neunundzwanzig wäre übertrieben. „Das ist gut“, sagte er, „vielleicht sind Sie, wenn der Krieg zu Ende geht, immer noch unter dreißig. Sehr jung!“ Ich erwiderte, daß auch er den Krieg als junger Mann beenden werde. Bis zum 18. Februar, dem Tag, an dem er bei Königsberg tödlich verwundet wurde, waren es noch zehn Monate. Die letzten Gebäude, in denen die Deutschen Widerstand leisteten, wurden erst eingenommen, als Tschernjachowski schon abgereist war. Hierüber
besitze ich eine Tagebucheintragung. Heute morgen ging alles zu Ende. Die wenigen überlebenden Deutschen haben sich nun doch ergeben. Während der letzten vierundzwanzig Stunden hielten sie nur noch drei Gebäude. Aus Gesprächen mit Gefangenen gewinne ich die Überzeugung, daß sie mit allen Mitteln in einem Zustand hysterischer Rettungserwartung gehalten wurden, nicht schlechthin und irgendwann, sondern fortgesetzt, zum Beispiel „heute abend“. Dann wurde „heute abend“ in „morgen früh“ abgeändert. Es wurde ihnen sogar mitgeteilt, wieviel Panzer dabei wären, zu ihnen durchzubrechen, und wann diese Panzer eintreffen würden. Wenn diese Lüge einige Tage lang einen wahren Kern enthielt und anfangs eine reale Möglichkeit bestand, daß die Deutschen durch erfolgreiche Operationen ihrer Hauptkräfte die Besatzung von Tarnopol retteten, so entbehrten diese Versprechungen in den letzten Tagen jeder Grundlage und waren absolut erlogen. Übrigens sehe ich einen Zusammenhang zwischen der Geschichte dieses Tarnopoler Betrugs und dem System des faschistischen Betrugs an der deutschen Armee überhaupt, ja am ganzen deutschen Volk. Der kleine Tarnopoler Betrug und der am ganzen Volk sind zwei Erscheinungen ein und derselben Ordnung. Wir bewegen uns durch die mächtigen unterirdischen Gänge des Dominikanerklosters. Es ist feucht. Finster. Quälender Leichengeruch, der Gestank verwesender Körper. Wir betreten einen langen Stollen in der Art eines U-Bahn-Schachtes. In der Mitte ein schmaler
Durchgang. Zu beiden Seiten dreistöckige Pritschen. Darauf die dichten Reihen der Verwundeten, in den anderen Kellerräumen das gleiche Bild, nur sind es hier besonders viele – Hunderte. Vom Gewölbe tropft eine schwarze Flüssigkeit auf die Mäntel. Kerzen sind auf die Pritschen geklebt. Ich gehe durch die Reihen, dabei streife ich mit den Schultern immer wieder menschliche Füße. Die nächste Kerze erlischt infolge des Vorübergehens. Ich taste in der Finsternis umher, bekomme das kalte Bein eines Toten zu fassen. Zwischen den Lebenden liegen Tote. Wie in den übrigen Räumen, in denen ich vorher war, stelle ich den Verwundeten einige Fragen. Sie antworten, sie seien schon drei Tage ohne Essen und medizinische Betreuung. Wasser sei letztmalig am vergangenen Abend verabreicht worden. In den anderen Räumen hat man mir das nicht gesagt. Ich kann es nicht recht glauben und wiederhole meine Frage. Sie antworten dasselbe. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Haben sie diesen Raum etwa vergessen? Oder gehen sie in ihrer Verzweiflung so weit, daß sie auf alles in der Welt spucken – daß ihnen auch das eigene Leben egal ist, auch das der anderen? Ich treffe einen polnischen Geistlichen, der sich während der Belagerung hier versteckt gehalten hat und sich jetzt um die Sterbenden sorgt. Wir laufen mit ihm durch einen der Gänge. Er deutet auf eine Eisentür und sagt, das sei der Raum, in den sie die hoffnungslosen Fälle gebracht hätten. Ich trete ein. Knipse die Taschenlampe an. Der ganze Fußboden ist mit Leichen bedeckt. Ich mache schon kehrt, um
hinauszugehen, da krächzt jemand heiser in einer Ecke: „Wasser… Wasser…“ Aus heutiger Sicht möchte ich hinzufügen, daß die Verteidigung des eingeschlossenen Tarnopol lediglich das erste Glied einer Kette ähnlicher Verzweiflungstaten war, wie sie die Deutschen begangen haben, als sie in Poznan, in Breslau und in Königsberg eingekreist waren. Am sechsundzwanzigsten Jahrestag des Sieges sagte G. K. Shukow in einem Interview zu dem Korrespondenten der „Komsomolskaja Prawda“, Wassili Peskow, wenn die Ansicht vertreten wird, in der deutschen Armee sei das allgemeine Niveau der strategischen Kunst gegen Kriegsende stark gesunken, so müsse er ergänzend bemerken: „Bei einer allgemeinen Einschätzung über unseren Gegner im vergangenen Krieg kann ich mich denen nicht anschließen, die das operativstrategische und taktische Können der deutschen Streitkräfte für unzulänglich halten. Wir hatten es mit einem starken Gegner zu tun.“ Die Berichte des Sowjetischen Informationsbüros von März und April 1944, die mir vorliegen, sind einige der zahlreichen dokumentarischen Belege des Gesagten. Im Verlaufe von fünf Wochen wird Tarnopol zehnmal erwähnt. 9. März. „Unsere Truppen sind in die Stadt Tarnopol eingedrungen, wo sich Straßenkämpfe entwickelt haben.“ 10. März. „In der Stadt Tarnopol trotzen unsere Truppen dem Abwehrfeuer und den Gegenangriffen des Feindes und setzen die Straßenkämpfe fort.“ 23. März. „Die Truppen der 1. Ukrainischen Front haben im Abschnitt Tarnopol – Proskurow ihren
Angriff wieder aufgenommen.“ 24. März. „Nordwestlich der Stadt Tarnopol stießen unsere Truppen kämpfend weiter vor.“ 26. März. „Unsere Truppen haben in der Stadt Tarnopol die Besatzung des Gegners eingeschlossen.“ 4. April. „Unsere Truppen, die die Stadt Tarnopol abgeschnitten haben, führten erfolgreiche Kämpfe zur Vernichtung der eingeschlossenen Besatzung des Gegners und eroberten weitere Teile der Stadt.“ 7. April. „Südwestlich der Stadt Tarnopol wehrten unsere Truppen die Angriffe starker Kräfte gegnerischer Infanterie und Panzer ab und hinderten sie, zu der eingeschlossenen Gruppierung durchzubrechen.“ 15. April. „Nach hartnäckigen Straßenkämpfen beherrschen die Truppen der 1. Ukrainischen Front die ukrainische Gebietshauptstadt Tarnopol vollständig. Die in Tarnopol eingeschlossene deutsche Besatzung, bestehend aus den Resten von vier Infanteriedivisionen und einer Reihe selbständiger Truppenteile mit einer Gesamtstärke von sechzehntausend Mann, wurde restlos vernichtet, bis auf zweitausendvierhundert deutsche Soldaten und Offiziere, die sich in Gefangenschaft begaben.“ Letztmalig wird Tarnopol am 21. April erwähnt, zugleich führt der Bericht eine Aussage an, die es wert ist, zitiert zu werden. „In Tarnopol wurde der deutsche Oberstleutnant Heinrich Keienburg gefangengenommen, der Adjutant des Kommandanten von Tarnopol, Generalmajor Neindorff, war. Der gefangene Oberstleutnant erklärte: ,General Neindorff kam Mitte März nach Tarnopol, um den früheren Kommandanten der Festung, General Kittel, abzulösen.
Neindorff hatte von Hitler den kategorischen Befehl erhalten, die Stadt um jeden Preis zu halten. Aus der von russischen Truppen eingeschlossenen Stadt richteten wir an Hitler mehrmals Funksprüche, in denen entschieden um Verstärkung gebeten wurde. In einem Funkspruch berichtete Neindorff über die schweren Verluste, die uns während der Kämpfe zugefügt wurden, und bezeichnete die Lage der deutschen Besatzung als völlig hoffnungslos. Im Antwortfunkspruch forderte Hitler erneut, Tarnopol ohne Rücksicht auf Verluste zu halten und bis zum letzten Soldaten zu kämpfen. Gleichzeitig versicherte er Neindorff, starke Panzerkräfte kämen zu Hilfe. Einige Tage darauf zeichnete Hitler Neindorff aus… Am 15. April fiel Neindorff. An diesem Tag streckten die Reste der Besatzung die Waffen. In den Kämpfen um Tarnopol sind viele tausend deutsche Soldaten und Offiziere gefallen. Die Schuld an ihrem Tod trifft voll und ganz Hitler. Er hat uns schändlich betrogen.“ Den angeführten Zitaten aus den Berichten des Informationsbüros füge ich hinzu, daß ich dort, in Tarnopol, ungeachtet der Tatsache, daß ich die Deutschen damals nicht liebte, zum ersten Male die menschliche Tragik ihrer Lage spürte. Verbleibt mir noch, auf einen Brief einzugehen, den ich vor verhältnismäßig kurzer Zeit erhalten habe, obwohl er mit Tarnopol zusammenhängt. In meinen Tarnopoler Berichten aus der Kriegszeit wird der Name Nikolai Pantelejmonowitsch Kutscherenko, dessen Division mich aufnahm, nicht erwähnt. Die Zeitung „Krasnaja Swesda“ nannte
lediglich Dienstgrad und Anfangsbuchstaben des Familiennamens: „Oberst K.“. Offenbar hatten seine Kameraden jedoch sofort erraten, von wem in der Zeitung die Rede war. Das bezeugt ein Brief von W. P. Grusenberg, Oberst a. D. „Nach Ihrer Abreise aus Tarnopol wurde ich der Division Oberst Kutscherenkos zugeteilt, in der ich bis zum Tode des Genossen Kutscherenko und seines Sohnes meinen Dienst versah. Oberst Kutsche-renko und sein Sohn wurden auf einer Beobachtungsstelle der Division von einer Granate getötet. Entsprechend seinem Wunsch, den er eine Woche vor seinem Tod geäußert hatte, wurden ihre Gebeine in der Heimat, in der Stadt Poltawa, beigesetzt. In diesem Jahr nun war ich in Poltawa, wo beide Kutscherenkos, Vater und Sohn, auf dem Zentralplatz liegen. Bei dieser Gelegenheit fiel mir Ihr Zeitungsartikel ein, und ich dachte, es würde Sie vielleicht interessieren, etwas über das Schicksal der von Ihnen erwähnten Personen zu erfahren…“ Dem Brief war ein Photo von der letzten Ruhestätte Oberst Kutscherenkos und seines Sohnes beigefügt. Der Grabstein trägt die Inschrift: „Divisionskommandeur, Held der Sowjetunion, Gardeoberst Nikolai. Pantelejmonowitsch Kutscherenko, nebst Sohn, Oberleutnant Nikolai Nikolajewitsch Kutscherenko, gefallen für die Heimat am 30. 3. 1945“. In Tarnopol hatte Oberst Kutscherenko von seinem Kommandeur Tschernjachowski häufiger Tadel als Belobigungen zu hören gekriegt. Dennoch war er es, der mit seiner Division die letzten Gebäudekomplexe der Stadt Tarnopol nahm; ein Jahr später ereilte ihn
und seinen Sohn im Herzen Europas der Tod, neununddreißig Tage vor Kriegsende.
18 Von Tarnopol flog ich mit einer U-2 zum Stab der Front nach Slawuta. Bei Abfassung dieser Notiz fiel mir ein, daß ich zu Beginn dieser Reise, im März, ebenfalls mit einer U-2 nach Slawuta geflogen war, damals freilich nicht von Tarnopol, sondern von Kiew aus. Mit diesem ersten Flug verbindet sich die Erinnerung an eine äußerst komische Geschichte. Der Pilot der Staffel, der mich damals, im März, befördern sollte, hatte außerhalb zu tun, und wir fuhren zusammen zum Flugplatz. Es war schon spät, und so nahmen wir vor dem Abflug hastig einen Imbiß ein. Dazu tranken wir jeder hundertfünfzig Gramm Wodka. Der Pilot war ein strammer Bursche, und da er die Alkoholmenge selbst bestimmte, befürchtete ich anfänglich nicht das geringste. Erste Bedenken kamen mir während des Fluges, als wir der Uhrzeit nach längst in Slawuta hätten sein müssen, aber keine Anstalten trafen zu landen, sondern auffallend häufig und scharf den Kurs wechselten. Dann taten wir etwas, was ich mir zunächst überhaupt nicht erklären konnte. Wir zogen mehrmals eine Schleife hart über der Erde, als ob der Pilot sich die Gegend genau ansehen wolle. Schließlich wendeten wir und flogen weiter. Als sich das Manöver ein drittes oder viertes Mal wiederholte, dämmerte es mir, was mich keineswegs beruhigen
konnte. Wir kurvten stets genau über einer Straßenkreuzung, und so nahm ich an, der Pilot habe die Orientierung verloren oder die Karte vergessen und suchte sich nach den Wegweisern zu richten. Ich möchte ja nicht die Sünde einer falschen Behauptung auf mich laden, aber schuld an allem konnten kaum allein die hundertfünfzig Gramm sein, die ich ja ebenfalls getrunken hatte. Ich war schon oft mit einer U-2 geflogen und hatte die sonderbarsten Dinge erlebt, aber eine Luftorientierung nach Wegweisern, die für die Landstreitkräfte aufgestellt waren, hatte ich noch nicht erlebt. Schließlich landeten wir mit den letzten Tropfen Benzin auf einem Platz bei Slawuta, nicht am vorgesehenen Ort, aber doch in der Nähe. Trotz der kühlen Witterung kroch der Pilot schweißgebadet aus der Maschine. Seine Trunkenheit war bei der Anstrengung verflogen, und das Thema jetzt noch zu erörtern hätte keinen Sinn gehabt. Er lief zum Dienstzimmer und ich zum Flugplatzwartungsdienstbataillon, um einen Wagen aufzutreiben, der mich an Ort und Stelle bringen konnte, ehe es vollends dunkel wurde. Im April gestaltete sich unser Flug von Tarnopol nach Slawuta ohne besondere Zwischenfälle. Ich schrieb noch einen Artikel über Tarnopol, schickte ihn an die „Krasnaja Swesda“ und begab mich zu Konstantin Wassiljewitsch Krainjukow, Mitglied des Kriegsrats der i. Ukrainischen Front. Nach fast sechswöchigem Vormarsch hatten die Truppen auf dem eroberten Geländestreifen Verteidigungsstellung bezogen. Es war Ruhe eingetreten. Lediglich im Karpatenvorland, im Kreis Gorodenka,
wo die Deutschen einen Gegenangriff versuchten, dauerten die Kämpfe noch an. Ich wollte die in dieser Gegend operierende 38. Armee des Generals Moskalenko aufsuchen und von dort durch die Ende März befreite Nordbukowina zum Handlungsstreifen des linken Nachbarn weiterfahren, der 2. Ukrainischen Front, die in jenen Tagen schon einige nördliche Gebiete Rumäniens besetzt hatte. Es zog mich zu den Truppen, die als erste die Staatsgrenze überschritten und feindliches Territorium betreten hatten; und das alles wollte ich hintereinander, in einem Zuge, besorgen, ohne im Zickzackkurs zum Stab der 1. Ukrainischen Front zurückzukehren, zum Stab der 2. weiterzufahren und dort von vorn zu beginnen. Ich erläuterte meine Pläne aufrichtig und bat um einen Wagen. Krainjukow war für seine wohlwollende Einstellung zu den Frontkorrespondenten bekannt, aber in diesem Fall bezweifelte ich meinen Erfolg. Wenn wir ein Fahrzeug bekamen, dann höchstens befristet und natürlich nur für den Gebrauch innerhalb des Operationsgebiets der eigenen Front, nicht für Abstecher zur Nachbarfront. Vielleicht half mir meine Aufrichtigkeit. Krainjukow schritt zum Telephon und befahl, mir einen Wagen zur Verfügung zu stellen. Er war bedrückt und nicht zum Reden aufgelegt. Er trauerte um General Watutin, den ehemaligen Oberbefehlshaber der 1. Ukrainischen Front. Am 29. Februar waren sie beide während einer Inspektionsfahrt auf eine bewaffnete Bande gestoßen. Bei dem nachfolgenden Feuergefecht wurde Watutin schwer verwundet. Die Tragö-
die endete nach anderthalb Monaten Operationen und tatkräftigen Versuchen, Watutin das Leben zu retten. Er war soeben in einem Kiewer Lazarett verstorben. Wohl unter dem Eindruck des Geschehenen setzte Krainjukow beim Abschied eine finstere Miene auf und ermahnte mich, unterwegs vorsichtig zu sein, ebenso Kapustjanski und den Korrespondenten der „Prawda“, Kurganow, die beide mitfuhren. Als wir am Morgen aufbrechen wollten und ein geländegängiger „Dodge 34“ bereitgestellt wurde, zeigte sich, daß uns Krainjukow außer dem Fahrer auch einen MPi-Schützen mitgab. Ich möchte mich nicht lange über unsere Ängste auf dieser Fahrt auslassen. So etwas sieht jeder auf seine Weise. Was mich betrifft, so war es mir nicht geheuer, wenn wir durch abgelegene und menschenleere Gebiete fuhren. Ich will auch nicht verschweigen, daß meine Unruhe begründet war. Im rückwärtigen Raum, außerhalb des Operationsgebietes der Truppenteile, besonders auf Landstraßen und während des Übernachtens starben damals und später nicht wenige Offiziere und Soldaten bei Bandenüberfällen. Kurz vor unserer Fahrt hatten Banditen Hauptmann Pjotr Olender getötet, einen der besten Berichterstatter unserer Zeitung „Krasnaja Swesda“, und einige Wochen darauf fiel bei einem Schußwechsel – ebenfalls mit einer Bande – an der Straße nach Lwow Pawel Troschkin, Berichterstatter der „Iswestija“, mein Begleiter während der ersten Monate des Krieges. Zufällig fügte es sich so, daß der Wagen einer von denen war, in dem am 29. Februar der Begleitschutz Watutins und Krainjukows geses-
sen hatte, und auch unser Fahrer war damals dabei gewesen. Hinterher schien ihm, wie es einem häufig ergeht, daß das Schlimmste hätte vermieden werden können, der Oberkommandierende hätte nicht auszusteigen und zu schießen brauchen, sie hätten feuernd durchbrechen müssen. Überhaupt ging dem Fahrer so manches durch den Kopf, und da er immer wieder davon anfing, veranlaßte er auch uns, darüber und – wohl oder übel – über unser eigenes Los nachzudenken. Allerdings sei von vornherein gesagt, daß wir glimpflich davonkamen. Bis auf einen dummen Zwischenfall, bei dem unser Wagen entführt werden sollte und wir ihn nur unter Androhung von Waffengewalt behalten konnten, verlief die Fahrt ruhig; unseren Fahrer vermochten die Gespräche über frühere Zwischenfälle nicht zu beeinflussen. Er erwies sich als Mann von unerschütterlicher Ruhe, ebenso der MPi-Schütze. Auch Kapustjanski, Kurganow und ich machten äußerlich nicht den Eindruck von Hasenfüßen. Dennoch will ich mein Eingeständnis wiederholen, daß mir die Angst ein wenig im Genick saß, weil die Erinnerung sonst unvollständig wäre, zum mindesten, was meine Person betrifft. Bei der 38. Armee traf ich mit Ortenberg zusammen, erstmalig seit seiner Zeit bei der „Krasnaja Swesda“. In den sieben Monaten seiner Tätigkeit als Leiter der Politabteilung der Armee hatte er sich gut in den neuen Aufgabenbereich eingearbeitet und sich zugleich jene Wesenszüge seiner unruhigen Natur bewahrt, die ich von der Redaktion her kannte. Wo es die Situation erforderte – und sicherlich manchmal
auch dann, wenn es nicht unbedingt nötig war –, bewies er persönlichen Mut, setzte er den Unterstellten zu, tauchte er unerwartet und mitten in der Nacht vorn bei den Regimentern und Bataillonen auf, rief sämtliche Politarbeiter der Divisionen an und beorderte sie zu sich. Einige dieser Eigenschaften bemerkte ich auch bei Mechlis, den sich Ortenberg, wie er selbst offen bekannte, für sein Verhalten an der Front zum Vorbild wählte. Doch selbst wenn sie sich in einigen Gewohnheiten äußerlich ähnelten, waren Ortenberg und Mechlis grundverschiedene Charaktere. Der eine gab sich bissig, ja schroff und war dabei in seinem Wesen durchaus gutartig, der andere dagegen kalt bis auf die Knochen, ein schonungsloser Prinzipienreiter. Natürlich besuchten wir gemeinsam – wie hätte es bei Ortenbergs Charakter anders sein können – einige Truppenteile der Armee. Ich weiß zwar nicht mehr, welche, aber obwohl Gefechte stattfanden, geschah dort, wo wir hinfuhren, nichts von Bedeutung oder, wie es Frontkorrespondenten gern formulierten „gab es bei uns keine Kampfereignisse“. In einem meiner Notizblöcke steht ein Gedicht, das ich damals, während meines Aufenthaltes bei der 38. Armee, geschrieben habe. Die Sense schwingt der Tod aus Gnatz Zum Donnern der Kanonen. Der Bunker bebt, den ich (und Matz In seiner Uhr) bewohnen. Es ruft der Kuckuck Stund um Stund
Bei Sonne, Wind und Beben Und tut uns allen damit kund, Ein Jährchen noch zu leben. Bis Mitternacht stundaus, stundein Sind zwölfe zugemessen. Dann plötzlich fällt der Krieg ihm ein, Er hätt ihn fast vergessen. Da dreizehn gar zu reichlich war, Als daß er’s prophezeite, Verspricht ein Jahr er und nicht mehr. Geb Gott, daß er es halte. Wann und wo der Tod im Krieg die Sense schwingen würde, das vermochte freilich kein Kuckuck zu prophezeien. Einige Monate nach meinem Aufenthalt bei der 38. Armee, von dem ich wohlbehalten zurückkehrte, schickte mir Ortenberg einen Brief. „Lange habe ich nichts von mir hören lassen, und Du hast so viel geschrieben. Nach Deiner Abreise haben deutsche Flugzeuge Gorodenka angegriffen und die Stadt in Asche gelegt. Ich war froh, daß Du vorher gefahren bist. Du weißt ja, wie gern ich Dich begleitet habe und wie schwer es gleichzeitig war. Ich hatte immer Angst: Wenn es Dich erwischte und mich nicht, wie sollte ich ohne Dich zurückkehren! Gott sei Dank lief alles gut ab…“ In diesem Brief offenbarte sich ein weiterer edler Charakterzug meines ehemaligen Redakteurs – im Krieg mehr an die Sicherheit seiner Gefährten als an die der eigenen Person zu denken. Ich habe das nicht nur an mir selbst erfahren, sondern wiederholt auch
von anderen gehört. Während meines Aufenthaltes bei der 38. Armee traf ich ihren Kommandeur, Kirill Semjonowitsch Moskalenko. Unsere vorangegangene Begegnung nördlich von Stalingrad habe ich bereits erwähnt. Moskalenko hatte sich äußerlich nicht verändert. Er war hager, sehnig, flink und wendig wie ehedem, aber ich merkte ihm eine innere Wandlung an. Worin sie bestand, läßt sich nicht so einfach in Worte fassen. Vielleicht war es vor allem das Selbstgefühl, in diesen anderthalb Jahren die gewaltige Strecke von Stalingrad zu den Vorkarpaten zurückgelegt zu haben. Nach dem Krieg verspürte ich dieses Empfinden für Entfernungen nie wieder. Entfernung war damals etwas völlig anderes. Fast jeder Kilometer mußte in harten Kämpfen genommen werden, und das war es, was ihn riesig erscheinen und die Menschen manchmal voll Erstaunen über sich selbst in ihre jüngste Vergangenheit zurückblicken ließ. Die im Krieg gewonnene Lebenserfahrung unterscheidet sich wesentlich von jeder anderen Lebenserfahrung. Den Begriff „erwachsen werden“ wenden wir gewöhnlich auf Kinder und Jugendliche an; wir meinen damit, ein Mensch eben dieser Altersstufe habe sich in einem oder zwei Jahren so entwickelt, daß er als erwachsen gelten kann, wobei wir vor allem die psychische Seite des Reifungsprozesses im Auge haben. Im Krieg jedoch, in dieser unmenschlichen, grausamen Zeit des ständigen Drucks, werden dem Lebensalter nach völlig erwachsene Menschen nicht
in einem Jahr „erwachsen“ sondern in einem Monat oder sogar in einem Gefecht. Ich stelle diese Betrachtungen heute an, weil ich mir größere Klarheit über meine Empfindungen verschaffen möchte, wenn ich einem Bekannten begegnete, den ich länger nicht gesehen hatte, sei es seit dem Sommer 1943, sei es seit dem Herbst 1942, jedenfalls ausschließlich Menschen, die vorher schon erwachsen waren, mir jedoch nach diesem einen oder anderthalb Jahren psychisch gereift erschienen. Von meiner weiteren Reise, die mich nach Tschernowzy und in die rumänischen Nordbezirke führte, besitze ich einige Notizen. Die ersten Aufzeichnungen habe ich in Tschernowzy gemacht, einer Stadt, deren Bevölkerung sich vor dem Krieg zu einem beträchtlichen, wenn nicht zum überwiegenden Teil aus Juden zusammensetzte. Ich sah die niedergebrannte Synagoge und dachte, daß sicherlich niemand kompetenter sei als der Rabbiner, mir über das Schicksal der jüdischen Einwohner zu berichten – sofern er noch lebte. Und er lebte noch. Eine halbe Stunde später brachte mich ein junger Jude, ein Student, der sich nach unserem Einrücken zur Miliz gemeldet hatte, in die Wohnung des Rabbiners. In einem ärmlichen Viertel der Stadt gingen wir eine schmale, finstere Stiege zum dritten Stock hoch und klopften. Uns öffnete der Gemeinediener, ein kraushaariger Mann mittleren Alters, der laut und schnell sprach. Er führte mich in das zweite Zimmer, wo ein graubärtiger Greis am Tisch saß, gebeugt über ein großes, in Leder gebundenes Buch. Sein weißes Haupthaar kringelte sich unter einem schwären
Käppchen hervor. Er hatte ein farbloses, runzliges Gesicht und in merkwürdigem Kontrast dazu – von zahlreichen Falten umgebene himmelblaue Kinderaugen. Er glich einem mittelalterlichen Alchimisten, nur daß Retorten und Tiegel fehlten, ich erklärte den Zweck meines Kommens. Der Alte richtete seine blauen Augen auf mich und sagte: „Sie stehen im Kampf und haben vermutlich wenig Zeit. Ja?“ Das mit der Zeit stimme wohl, erklärte ich ihm, er möge mir doch ausführlich vom Schicksal der jüdischen Einwohner der Stadt berichten. „Von den dreiunddreißigmonatigen Leiden meines Volkes könnte ich ebenfalls dreiunddreißig Monate lang erzählen“, sagte er, „denn jede Minute brachte so viel Leid, daß man darüber wenigstens eine Minute sprechen müßte. Aber das werde ich nicht tun, da Sie es eilig haben.“ Er hatte die sehr leise und sehr müde Stimme eines sehr alten Mannes, als er vom Eintreffen der Deutschen und Rumänen am 25. Juni 1941 erzählte. Danach sei es drei Tage still in der Stadt gewesen. Alle hätten das Weitere abgewartet. Dann habe die Registrierung der Juden eingesetzt, und nach zwei Wochen, an einem Montag, habe man damit begonnen, die Juden nach den Listen zur Gestapo vorzuladen. Ich fragte, wie die listenmäßige Erfassung geschehen sei und wen sie vorgeladen hätten. „Die Vorladungen sind immer montags erfolgt. Seither spricht man in Tschernowzy vom Montag als dem schwarzen Tag. Es wurden jeweils drei- bis fünftausend Leute bestellt. Ein Zehntel wurde erschossen,
der Rest freigelassen.“ „Und wen haben sie erschossen?“ erkundigte ich mich. „Die Jüngsten und die Gesündesten“, erwiderte er. „Die Erschießungen haben die Deutschen vorgenommen?“ „Ja, die Deutschen.“ Ich fragte den Rabbiner, ob es viele solcher Montage gegeben habe. „Viel. Zehn.“ „Und was war danach?“ fragte ich. „Danach wiesen sie uns das Viertel zu, in das Sie gerade gekommen sind. Hier war das Ghetto. Vier Straßen und Gassen, keine allzu großen Häuser, und auch nicht sehr viele. Eines Montags wurde niemand zur Gestapo vorgeladen, aber in der Stadt wurde ein Befehl des rumänischen Gouverneurs angeklebt. Bis zum nächsten Morgen hätten sich alle Juden, falls ihnen das Leben lieb sei, im Ghetto, in diesem Viertel hier, einzufinden. Damals gab es in der Stadt dreimal soviel Juden wie heute, achtzigtausend. Sie sehen meine Wohnung. Wir haben noch so ein Zimmer und einen Vorraum. In dieser Wohnung lebten hundertzwölf Menschen. Alle waren im Ghetto zusammengepfercht. Sie hausten auf den Straßen, auf den Höfen, den Dächern, in den Fluren, in Vorratskammern, auf den Treppen. Achtzigtausend Menschen in einem kleinen Viertel.“ Ich fragte, was dann gewesen sei. Danach, erwiderte er, seien die Juden aus dem Ghetto von Tschernowzy nach Transnistrien umgesiedelt worden. Eine halbe Stunde habe man ihnen zum
Versammeln gegeben und sie mit Güterwagen nach Transnistrien transportiert. Ich fragte, wie viele Menschen abtransportiert wurden. Er sagte, es seien etwa fünfzigtausend gewesen. Und wie viele seien zurückgekehrt? Er antwortete, bisher nur wenige. „Und wo waren Sie selbst?“ „Ich war hier in der Stadt. Sie hatten mich versteckt. Ich lebte in einem Keller.“ „Alle dreiunddreißig Monate?“ „Ja. Zwei Tage nach dem Eintreffen der Deutschen kamen sie von der Gestapo, aber ich war schon untergetaucht.“ Er hob den Kopf, der wie der eines Neunzigjährigen aussah, und fragte mich: „Sie glauben wahrscheinlich, daß ich sehr alt bin? Ja, ich bin hundert Jahre, aber vor dreiunddreißig Monaten war ich noch zweiundfünfzig. Ich kann Ihnen ein Photo zeigen.“ Er zog eine Brieftasche aus dem Tischkasten und entnahm ihr ein kleines Bild. Die Aufnahme zeigte einen korpulenten, noch nicht alten Mann, der lächelnd neben einer Frau und zwei Kindern stand. „Und wo sind sie jetzt?“ Schweigend legte er das Photo in die Brieftasche und die Brieftasche in das Schubfach zurück. Seine Miene gab mir zu verstehen, solche Fragen solle ich lieber unterlassen. Als ich den Rabbiner verließ, begleitete mich der Gemeindediener zum Wagen. Zwei Stunden lang, während meines Gesprächs mit dem Rabbiner, hatte er kein Wort gesagt, aber jetzt hielt er sich für dieses Schweigen schadlos. Er lief neben mir her, schlen-
kerte die Arme und schimpfte. Sein Gesicht, das mir vorher gutmütig und sogar spaßig erschienen war, wirkte furchterregend. Er schrie und weinte zugleich, während er von den verhungerten Kindern erzählte, von Nahrungsmangel und Krankheiten und Tod. Was hatten sie sich alles zugezogen in der Enge dieses aus wenigen Dutzend Häusern bestehenden und von achtzigtausend Menschen bevölkerten Ghettos! Er schrie und weinte, als wir zum Wagen gingen. Auch als wir schon saßen und fuhren, konnte er sich nicht bezwingen und schrie den Menschen, die das Auto umdrängten, das zu, was er vorher mir zugeschrien hatte. Weitere Notizen entstammen der Reise durch die von uns besetzten nördlichen Gebiete Rumäniens, doch die meisten Aufzeichnungen haben ihre Bedeutung verloren. Es gibt da viele Details, die mich damals fesselten, aber heute kaum noch jemand interessieren. Sie befassen sich vor allem mit den Verhältnissen in diesen nordrumänischen Bezirken, nachdem unser Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten erklärt hatte, die Sowjetregierung verfolge nicht das Ziel, irgendeinen Teil des rumänischen Territoriums an sich zu reißen oder die in Rumänien bestehende Gesellschaftsordnung zu ändern. In einem Notizblock habe ich ein langes Gespräch mit Vasileu Luvinescu festgehalten, Dekan der Anwaltskammer und Bürgermeister der rumänischen Stadt Dorohoi. In einem anderen befindet sich das Stenogramm einer Unterhaltung, die ich zum selben Thema mit unserem Militärkommandanten der rumänischen Stadt Siret führte.
Die Aufzeichnungen beider Gespräche bezeugen, daß die Erklärung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten in den besetzten Gebieten peinlich genau befolgt wurde. Mich interessierte diese Frage in allen Einzelheiten. Ich fragte immer wieder, besonders den rumänischen Primarius, und alle Antworten bestätigten, daß sich unsere Truppen nach Betreten des rumänischen Territoriums keinesfalls in die inneren Verhältnisse des Landes einmischten oder gegen das bestehende rumänische Recht verstießen. Offenbar galt schon damals der Grundsatz, alle künftigen Veränderungen der Entscheidung und dem Gutdünken der Rumänen selbst zu überlassen. Dennoch möchte ich nicht die kuriosen Probleme verschweigen, als unsere Truppen die Staatsgrenze überschritten. Wenigstens eine aus der Fülle der Antworten, die mir Herr Vasileu Luvinescu gab, sei hier angeführt. „In puncto Wohnungsfragen ergibt sich eine Reihe von Schwierigkeiten, die ich eigenverantwortlich lösen muß. Als Sie durch den Korridor gingen, sahen Sie wahrscheinlich viele Bittsteller, die hier vorsprechen wollen. Sie kommen alle in derselben Angelegenheit. Es sind ehemalige jüdische Hausbesitzer, die entsprechend den Gesetzen, die Antonescu nach seinem Machtantritt erließ, ihre Eigentumsrechte verloren; denn gemäß der damals angenommenen Verfassung kann ein Jude nicht Eigentümer von Grund und Boden oder Häusern sein. Laut Erklärung des Herrn Molotow bleiben alle auf rumänischem Territorium für rumänische Bürger gültigen Gesetze unangetastet, und obwohl ich in den letzten
Jahren der prodeutschen Politik der einzige Anwalt am Ort war, der sich persönlich für die Sache der Juden einsetzte, kann ich nicht gegen die Gesetze verstoßen, selbst wenn sie mir wie in diesem Fall persönlich zuwider sind. Zudem gelten in den verschiedenen Kreisen die unterschiedlichsten Gesetze, in Dorohoi andere als in Botosani und in Pascani dritte. Das führt zu einem Durcheinander, in dem man sich schwer zurechtfindet. Ich hoffe, daß Rumänien nach Beendigung des Krieges zu demokratischeren Zeiten zurückkehrt und die unter dem Druck der Deutschen eingeführten rassischen Beschränkungen aufhebt. Dies zu tun liegt jedoch gegenwärtig nicht in meiner Macht…“ Das antwortete mir im April 1944 der damals „sechzigjährige, weißhaarige, aber energiegeladene“ – so steht es in meinem Notizblock – Prima der Stadt Dorohoi, Herr Luvinescu, vier Monate vor unserem Durchbruch von Iasi nach Bukarest, dem Sturz des Antonescu-Regimes und dem Austritt Rumäniens aus dem Krieg. Ich war 1941 im belagerten Odessa, und als ich mich im Frühjahr 1944 jener für uns so schweren Zeit erinnerte, interessierte mich die Frage: Was gedenken der rumänische Führer und seine Gesinnungsgenossen mit dem sogenannten Transnistrien, das heißt jenem hübschen Stück unseres Territoriums zwischen Dnestr und Bug, zu tun? Dieses ganze Gebiet hatte Hitler Antonescu als Lohn für die Kriegsbeteiligung versprochen. In meinem Notizblock stehen zu diesem Problem zahlreiche Auszüge aus den Ordonnanzen, die Ale-
xianu, der erste und letzte Gouverneur Transnistriens, in zweieinhalb Jahren erlassen hat. Der Gouverneur war ein Freund von Ordonnanzen und gab wöchentlich eine heraus. Außer den Zitaten aus diesen Erlassen kopierte ich auch einige aufschlußreiche Fibelstellen, die, wie auf ihrer letzten Seite nachzulesen, durchdrungen sind „von den Sorgen des Herrn Professor G. Alexianu, des ersten Gouverneurs Transnistriens in den Tagen der ruhmreichen Regierungszeit Seiner Majestät des Königs Mihai I. und unter dem Führer des rumänischen Staates, Marschall Jon Antonescu“. Auf der Grundlage dieser zweisprachig verfaßten Fibel, die auf der einen Seite jeweils den rumänischen, auf der anderen den russischen Text brachte, wurde in allen transnistrischen Schulen der Unterricht abgehalten. Natürlich gehören sowohl die Fibel als auch meine Auszüge und das Wort „Transnistrien“ selbst der fernen Vergangenheit an, aber einige Passagen, die mich seinerzeit nicht nur erheiterten, sondern, das will ich gestehen, zugleich empörten, führe ich trotzdem an; denn erstens: Geschichte ist Geschichte, und dies hier ist ein Teilchen davon, und zweitens: Obwohl ich zu jenen Menschen zähle, die mit eigenen Augen gesehen haben, wie Keitel in Berlin seine Unterschrift unter die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte setzte, erinnere ich mich auch an vieles andere, das diesem Ereignis vorausgegangen war. Ich möchte versuchen, nachzuempfinden, was die Bewohner Transnistriens seinerzeit, sagen wir im Spätsommer des Jahres 1942, fühlten,
als die Deutschen und mit ihnen, das sei hinzugefügt, die Rumänen an der Wolga und im Kaukasus standen. Was mag in den Köpfen der Menschen vorgegangen sein, deren Kinder die „in den Tagen der ruhmreichen Regierungszeit Seiner Majestät des Königs Mihai I.“ herausgegebene Fibel lasen? Darum also trotz allem einige Zitate aus dieser Fibel. „Transnistrien ist ein rumänisches Land zwischen Dnestr und Bug… Die Schönheit und Reichtümer dieses Landes waren für die Russen verlockend. Ihre Zaren überfielen es und eigneten es sich unrechtmäßig an. Jetzt ist Transnistrien frei…“ Soweit einige Zitate aus dem Vorwort zur Fibel, in deren Schlußteil eine Erzählung für Kinder untergebracht war. Damals scheute ich nicht die Mühe, sie im Wortlaut ihrer Verfasser abzuschreiben. „Liebe zum eigenen Volk. Es geschah zu der Zeit, da die Rumänen gegen die Bolschewiken kämpften. Fedja war ein Hirtenjunge. In der Schule hatte er gelernt, daß er die Heimat und das rumänische Volk lieben mußte. Manchmal landeten feindliche Fallschirmspringer auf unserer Erde. Sie trachteten danach, Angaben über das rumänische Heer zu erlangen und dem Lande Schaden zuzufügen. Eines Tages sprangen drei Russen unweit vom Wald und von Fedja ab. Sie sprachen mit Fedja rumänisch und gaben sich als Rumänen aus. Dabei behaupteten sie, sich verirrt zu haben. Angeblich wußten sie nicht, wo sich das Waffenlager befand, das sie aufsuchen
sollten. Fedja erriet sofort, daß es sich um Spione handelte. Er erklärte sich bereit, ihnen den Weg zum Waffenlager zu zeigen. Statt sie hinzubringen, führte der wackere Hirtenjunge sie jedoch zu einem Gendarmerieposten. Für diese Tat wurde Fedja belobigt und mit einem Orden ausgezeichnet.“ Ja, man kann sich nur schwer vorstellen, daß die gebürtigen Einwohner von Odessa und Winniza, die heute etwa vierzig sind, als unmündige Bewohner Transnistriens dereinst dieses ungereimte Zeug lernen sollten, an Hand einer Fibel, die durchdrungen war „von den Sorgen des Herrn Professor G. Alexianu, des ersten Gouverneurs…“. Übrigens, wie aus anderen Notizen hervorgeht, verloren die zeitweiligen „Transnistrianer“ auch in den für sie so schweren Zeiten nie ihren ukrainischen Humor und verfaßten anläßlich einer „Ordonnanz“, der zufolge mehr Wolle abgeführt werden mußte, als ein Schaf nach den Gesetzen der Natur produzieren kann, folgendes Scherzgedicht: Antonescu, der befahl: Schafe schern ein drittes Mal! Schäfchen bibbern. Welche Qual! Antonescu ist’s egal. Daneben gibt es in diesen Notizblöcken auch andere Aufzeichnungen, kurze Bemerkungen, die unterwegs festgehalten wurden.
Im rumänischen Dorf nimmt das Leben seinen gewohnten, normalen Lauf. Die städtische Bevölkerung ist unter dem Einfluß der Propaganda zu einem Teil mit den zurückweichenden Truppen abgewandert. In den Dörfern aber verfehlte die Propaganda jede Wirkung. Ich erkundige mich mehrmals hintereinander, ob viele Einwohner mit der rumänischen Armee fortgezogen seien, und erhalte überall zur Antwort: niemand. Das scheint den Tatsachen zu entsprechen. In den Dörfern gibt es keine verödeten Häuser, sie sind alle bewohnt. Fährt man eine Hauptstraße entlang, sieht man zu beiden Seiten auf den schmalen Landstreifen Menschen, Ochsen, Pferde. Bärtige alte Männer, einen Bastkorb über die Schulter gehängt, schreiten langsam und gemessen über die gepflügten Felder; sie säen Weizen. In einem kleinen rumänischen Dorf unweit Falticeni hängt im Haus des Bürgermeisters eine Tafel mit Trauerrand. Auf der Tafel eine Liste mit siebenunddreißig Namen. Unter dem letzten Namen ist noch viel Platz, die Aufstellung ist unvollständig. Es ist ein Verzeichnis der an der russischen Front gefallenen rumänischen Soldaten und Unteroffiziere. Bis 1941 waren sie einfache Bauern dieses kleinen Dorfes, in dem es nicht einmal einhundertfünfzig Höfe gibt. Siebenunddreißig Gefallene für diesen Ort – das bedeutet, fast in jeder Hütte wird ein Familienmitglied beweint oder doch unter den ferneren Verwandten ein Toter beklagt; und es gibt auch Verwundete und Invaliden. An mir vorüber humpelt auf Krücken ein Krüppel mit einem Beinstumpf. Sicherlich hat das Dorf auch seine Vermißten und Gefangenen. Dieser unvollständige
Nekrolog erweckt in mir nicht nur ein Gefühl der Trauer, sondern auch des Zorns. Warum mußten sie ins Vorgebirge des Kaukasus ziehen, was hatten sie in den Steppen am Don zu suchen? Diese Bauern, die jetzt an mir vorübergehen, und jene anderen, die, in Soldatenuniform gepreßt, getötet wurden und irgendwo auf den Feldern Rußlands vermodern! So daß von ihnen hier jetzt nur der Name auf der Tafel mit dem Trauerrand geblieben ist. Ich spreche mehrere Einwohner an. Unter ihnen befinden sich vermutlich auch ehemalige Soldaten, die beim Rückzug die Armee verlassen haben und nun wieder in ihren Heimatdörfern wohnen. Ich erkenne sie an ihren Barten, die sie sich einer wie der andere haben stehen lassen, die gleichmäßig lang, aber noch zu kurz sind. Den Gesprächen entnehme ich – und sicherlich ist das die Wahrheit –, daß der Krieg hier wie wahrscheinlich in allen rumänischen Dörfern beim einfachen Volk stets unpopulär war. Natürlich sollte man nicht übertreiben. In der Periode ihrer größten Erfolge, vor der Stalingrader Katastrophe, überließen die Deutschen den Rumänen einen Teil der Beute, und auch die rumänischen Soldaten selbst stahlen in den besetzten Gebieten Rußlands wahllos wie die Raben. Pakete mit dem verschiedenartigsten Diebesgut gingen von der Front nach Rumänien ab. Geschickt wurde alles, von wertvollen Dingen bis zum Plunder. Ich habe wiederholt etwas aufgespürt und verschiedene Gegenstände sowjetischer Herkunft gefunden, am häufigsten Grammophone und Schallplatten. Trotzdem, hätten die Rumänen zwischen Krieg und
Frieden wählen können, so wäre ihre Entscheidung zugunsten des Friedens ausgefallen. Je länger ich hier bin, desto weniger zweifle ich daran. In Gesprächen bestätigen die Menschen immer wieder, daß die Pläne eines sogenannten Großrumänien im Volk niemals allgemeinen Anklang fanden. Nach der Katastrophe bei Stalingrad aber geriet der Krieg vollends in Mißkredit. Ich interviewe einen rumänischen Sergeanten, der nach einem sehr starken Feuerüberfall soeben erst vor einer Stunde in Gefangenschaft geriet. Eigenen Angaben zufolge ist er der einzige Überlebende seines Zuges. Er warf die MPi weg, hob die Hände und schritt auf unsere Gräben zu. Während des Gesprächs steht er völlig unter dem Eindruck der durchlebten Schrecken. Jedenfalls scheint er noch nicht darüber nachgedacht zu haben, was es sich in Gefangenschaft zu sagen empfiehlt und was nicht. Er beantwortet alles direkt und wahrheitsgemäß. Von Beruf ist er Tischler, gebürtig aus Botosani, einer Stadt, die wir schon fast einen Monat besetzt halten. Ich möchte wissen, wie er zu den Deutschen und den eigenen Offizieren steht. Von seinen Offizieren spricht er gleichmütig, aber von den Deutschen mit ungekünstelter Entrüstung, und sein Tonfall besagt, daß die Abneigung gegen die Deutschen alt und in Fleisch und Blut übergegangen ist. Seinen Militärdienst schildert er schicksalsergeben. Er ist zur Armee gekommen, weil er eingezogen wurde, hat gekämpft, weil es befohlen war. Er hat immer das gemacht, was ihm Unterleutnant Jon Mironescu, sein Zugführer, zu tun befahl, und zu uns übergelaufen ist
er, fünf Minuten nachdem dieser Mironescu an seiner Seite fiel. Die Unterhaltung führt mich zu einer unverhofften Einsicht. Ich frage den Gefangenen, ob er wisse, daß im letzten Krieg die Rumänen auf Seiten der Russen gegen die Deutschen gekämpft haben. Nein, das wisse er nicht, lautet die Antwort, in der Schule sei es nicht behandelt worden. Ob er überhaupt wisse, daß 1914 bis 1918 Krieg war, frage ich ihn. Das bejaht er. Sein Vater sei in diesem Krieg gefallen. Diese Antworten lassen den Schluß zu, daß in Rumänien und insbesondere in den rumänischen Schulen schon lange vor dem Machtantritt Antonescus eine prodeutsche Politik propagiert wurde. Wie anders soll ich die Tatsache erklären, daß ein rumänischer Soldat, dessen Vater im letzten Krieg gefallen ist, nicht weiß, auf wessen Seite die Rumänen kämpften und daß sein Vater von den Deutschen getötet wurde. Beim Vergleich einiger meiner Notizblöcke wird mir klar, daß das Gespräch mit dem gefangenen rumänischen Sergeanten nach einem jener kleinen Gefechte stattgefunden hat, die an Tagen allgemeiner Waffenruhe entbrennen und gewöhnlich mit einer winzigen Verbesserung der Lage enden. Eine Höhe wird genommen oder ein wenige hundert Meter tiefer Brückenkopf mit einer Kompanie oder einem Zug des Gegners abgeschnitten. Ähnlich war es auch am ersten Morgen nach unserer Ankunft in der Schützendivision des Generals Kosyr, die zwischen den Städten Falticeni und Pascani in
einem soeben bezogenen Operationsgebiet jenseits der Moldau lag. Bei dieser Division brachte ich zwei oder drei Tage zu. Bedeutende Kampfhandlungen wurden dort nicht durchgeführt, ebensowenig wie in den links und rechts angrenzenden Räumen. Ich interessierte mich jedoch lebhaft für die Person des Divisionskommandeurs, eines Mannes von hohem geistigem Niveau, einem eigentümlichen Charme und, wie mir schien, großem Verstand. Viele Jahre später mußte ich an die Ansichten, und Gewohnheiten dieses Mannes denken, an seine Art, mit Unterstellten zu reden. Das war, als ich meinen Roman „Die Lebenden und die Toten“ schrieb und er mir als Vorbild für die Gestalt des Generals Kusmitsch diente. Im Frühjahr 1944 ahnte ich davon freilich noch nichts, damals widmete ich dem sechsundfünfzigjährigen Generalmajor Maxim Jewsejewitsch Kosyr einfach eine lange Tagebuchaufzeichnung. In gewissem Maße wurde diese Eintragung sein Porträt – besser gesagt, sein Selbstporträt, denn in meiner Kurzschrift hielt ich genau fest, was er von sich erzählte. Im folgenden diese damaligen Notizen. „Geboren wurde ich im Dorf Bogatoje, Gouvernement Jekaterinoslawl. Der Vater war dort Tischler, später fuhr er ins Donezbecken. Mein Schicksal war bewegt, aber ich liebe es querzuschießen. Militärdienst seit 1910. Im Sommer 1914, vor Kriegsausbruch, belegte ich beim internationalen Schützenfest in Kischinjow den vierten Platz im Schießen stehend. Ich fuhr zusammen mit meinem Stabsrittmeister, dem Grafen Srashweski, hin. Vierzehn kämpfte ich nicht weit von hier in den Karpaten. In dem Krieg bekam
ich für vier ,Soldatengeorgs’ ein Goldkreuz mit Band und wurde gleichzeitig zum Unterfähnrich befördert. Der Dienststellung nach war ich Feldwebel eines Maschinengewehrkommandos des 134. Feodossijaer Regiments. Im Bürgerkrieg wurde ich zum Kommandeur des 414. Atkarsker Regiments gewählt. Später befehligte ich die 1. Aufständischenarmee. Während des Bürgerkriegs erhielt ich zwei Rotbannerorden, und ich besitze auch ein wertvolles Dokument: am siebzehnten Mai neunzehn empfing ich auf der Station Wolnowacha ein Telegramm von Wladimir Iljitsch Lenin. Damals bekam ich den ersten Orden, und Satonski brachte mir einen gelben Lederanzug als Geschenk. Am selben Tag wurde ich am rechten Bein verwundet und mußte liegen. In Friedenszeiten dann kommandierte ich größtenteils ein Regiment. Bei Kriegsbeginn lag ich in Brest-Litowsk. Meine Familie ist in Brest-Litowsk umgekommen. Die des Leiters der Politabteilung ebenfalls, und die Familie des Stabschefs. Zwei Bomben – direkt auf das Haus, in dem sie wohnten – nachts… So wie sie waren. Es wurden nur Fetzen geborgen. Beigesetzt wurden sie später in Kobrin. Nun ja. Ich war nicht da, hab es mir nicht angesehen. Blumen wurden auf die Gräber gebracht, wie ich gehört habe. Warum ich dem Begräbnis nicht beigewohnt habe? Ich war fix und fertig. Der Stabschef hat’s getan, und wie er sah, was mit den Seinen war, hat er sich erschossen. Kurz und gut, von meiner Familie ist also nur noch die Schwiegermutter übrig, eine alte Frau. Sie schreibt mir übrigens. Bei Brest-Litowsk kamen wir zusammen, alle General-
majore, und stimmten ab, wie im Bürgerkrieg. Ich wurde zum Befehlshaber der 4. Armee gewählt und ging daran, ihre Überreste aus dem Kessel zu führen. Ich habe sie herausgeführt. Bei Moskau kommandierte ich eine Sondergruppe der Marineinfanterie. Im Winter einundvierzig traf ich in Moskau ein. Die Stadt leer, verschneit. Über Chimki fuhr ich zur Seebrigade und mußte daran denken, wie ich mit meiner Frau dort manchmal getanzt habe. Zum Brigadekommandeur wurde ich unmittelbar vor dem sechsten Dezember ernannt, dann ging’s los. Die Matrosen schlugen sich – eine wahre Pracht! Dann wurde ich bei Staraja Russa verwundet, schwer. Kehrte an die Front zurück. Lag bei Nowgorod. Bei Nowgorod zweite schwere Verwundung. Das war die siebente, einstweilen die letzte. Dreimal im Weltkrieg verwundet, zweimal im Bürgerkrieg, zweimal im gegenwärtigen. Meine jetzige Division ist die Sumy-Kiewer, ausgezeichnet mit dem Bogdan Chmelnizki, dem Rotbanner und dem Suworow Stufe II. Das Kommando über diese Division übernahm ich nach der Einnahme von Kiew auf der Route Wassilkow-Fastow-Belaja Zerkow-Gaissin. Flüsse überquert hab ich auch: den Gorny Tikitsch, den Sob, den Bug, den Dnestr, den Prut, den Siret, die Moldau. Der Prut bereitete mir große Schwierigkeiten, obwohl ich ihn von der alten Armee her kannte. Er war jetzt tiefer, nicht ausgetrocknet, im Gegenteil. Wie wir über das Wasser kamen, fragst du? Auf Flößen, Weidengeflecht, Zaunlatten, jeder nahm, was
er kriegen konnte. Die Hauptsache war die Erfindungsgabe der Offiziere und Soldaten. Ehre, wem Ehre gebührt, mein Pionierbataillon hat großartig gearbeitet. Die Aufklärung auf den Straßen funktionierte ausgezeichnet. Auf dem Wege hierher habt ihr unterwegs wahrscheinlich überall an Häusern, Zäunen und Pfählen eine Aufschrift gesehen: Berinski. A. Berinski ist der Kommandeur meines Pionierbataillons. Er verbürgt sich sozusagen mit seinem Namen dafür, daß eine Straße sicher ist. Major Berinski. Von Ansehen kennen ihn wenige, aber sein Name ist in der ganzen Armee berühmt. Sie haben mir da einen befestigten Raum vor die Nase gesetzt. Beton. Schwindel, es ist nicht alles Beton, was so aussieht, es sind viele Scheinanlagen dabei! Ich bin ein alter Befestigungsfuchs, habe selber in solchen Dingern gesessen, mich führt man nicht hinters Licht. Ich habe befohlen, Selbstfahrlafetten heranzuziehen. Morgen früh machen wir die Probe. Wir rücken ihnen auf den Pelz und feuern überraschend aus kürzester Entfernung. Stellenweise werden sie türmen oder sich mucksen, das heißt also, dort sitzen sie. Wo es ruhig bleibt, das sind die Scheinanlagen. Wir kriegen schon raus, welches die echten Anlagen sind und welches die falschen.“ Telephongespräche beginnen. „Was, sie fordern noch Kanonen an? Sie haben schon mehr gekriegt, als nach Gottes Ratschluß vorgesehen sind!“ Ihm wird gemeldet, die beiden letzten Kanonen, die fast vierhundert Kilometer zurückgeblieben waren, seien nachgekommen. Er freut sich unbändig darüber
und macht auch keinen Hehl daraus. „N-ja, jetzt bin ich reich. Jetzt bin ich König. Jetzt hab ich alles, was ich brauche.“ Dieses „N-ja“ verwendet er ständig. Am Telephon sprechen sie über ein Pferd, das die Artillerieabteilung von einem Lazarett entführt hat. „Ist die Sache mit dem Pferd geregelt? Weg damit, bereinigen. Schön, nicht den Braunen. Nicht den Braunen. Nehmt die Isabelle. Daß es nur seine Ordnung hat!“ Dann dreht sich das Gespräch um die Kämpfe. „Daß zweimal zwei vier ist, das sieht der Mensch leicht ein, aber ihm beibringen, bewußt in den Tod zu laufen, ist schon schwieriger.“ Er äußert seine Meinung über einen der Kommandeure. „Er fing an, seine geistigen Fähigkeiten zu überschätzen. Da habe ich ihn natürlich zur Ordnung gerufen.“ Er telephoniert mit einem Regimentskommandeur. „Ihr seid viele, ich bin allein. Da haben wir die ganze Geschichte unserer Kunst.“ Er rügt einen Hauptmann, der sich vom Sanitätsbataillon vorzeitig aus dem Staub gemacht hat. Der Hauptmann rechtfertigt sich. „Ich habe eben genug von Sanitätsbataillonen. Schon das fünftemal. Sanitätsbataillon bedeutet für mich Gefängnis.“ „Und wo ist der Splitter?“ fragt Kosyr. „Wie wo?“ „Der Splitter, sag ich, wo er ist. Raus oder im Bein?“ „Im Bein.“ „Dann fahr zurück und laß dich operieren. Wenn sie ihn rausgenommen haben, zeigst du ihn mitsamt der Bescheinigung vor. Sonst glaub ich’s nicht.“
Der Hauptmann gibt nicht klein bei. „Wenn sie schneiden, dauert’s fünf Monate. Ich habe einen gesunden Körper, der wird schon damit fertig werden. Wozu erst schneiden?“ Wir kommen auf Adjutanten zu sprechen. „Jeder Mensch hat seine Marotten. Ich halte nun mal nichts von Adjutanten. Ein Adjutant ist für mich kein Offiziersbursche und kein Lakai. Wenn ich einen Adjutanten habe, dann ist er Offizier und mein Stellvertreter. Jeder Mensch hat seine Grillen. Ich bin kein Freund von Lakaien. Ich hatte einen Adjutanten, Chmarski, Oberleutnant. Das war wirklich ein Adjutant!“ Kosyr erzählt mir, wie dieser Chmarski gestorben ist, und obwohl er recht gefaßt vom Tod seiner Familie berichtet hat, treten ihm jetzt Tränen in die Augen. Er wischt sie mit den Händen weg. „Und jetzt habe ich ein Kind als Ordonnanz, Wanjuscha. So ein gebildeter Junge, kann sogar mehrere Sprachen, überhaupt ist er sehr klug.“ Wanjuscha hat schwarze Augen, eine kindliche Nase und sieht aus wie zwölf. Er ist tatsächlich sehr klug und gewandt und mit kindlicher Unbefangenheit in Kosyr, den Krieg und die soldatische Disziplin vernarrt. Kosyr hat trotz seiner sechsundfünfzig Jahre noch kein graues Haar auf dem Kopf, nur die alten Wunden machen ihm zu schaffen, und er spricht empört darüber. „Mir fehlen zwei Rippen. Wenn ich im Wagen sitze, geht’s ja, aber beim Reiten – einfach ein Skandal! Und schlafen muß ich im Sitzen. Das ist grausam. Durch zwei Rückenverletzungen kann ich
mich nicht hinlegen. Zwei Leidenschaften habe ich im Leben: den Krieg und die Landwirtschaft. Als Regimentskommandeur habe ich eine agronomische Abendschule beendet. Nach dem Krieg hält mich nichts mehr in der Armee. Auf meine alten Tage möchte ich mich mit Landwirtschaft befassen. N-ja…“ Hier brechen meine Tagebuchaufzeichnungen über General Kosyr ab. Im Podolsker Archiv versuchte ich hinter sein weiteres Schicksal zu kommen. Als stellvertretender Kommandeur eines Schützenkorps fuhr er eines Nachts – bei Brno, unmittelbar vor Kriegsende – mit einem „Willys“ ins Niemandsland, geriet unter deutschen Beschuß und wurde getötet. Sich auf seine alten Tage mit Landwirtschaft zu beschäftigen war ihm nicht vergönnt, auch nicht, noch zu erfahren, daß die lang beweinte Frau und der vierzehnjährige Sohn nicht umgekommen, sondern zur Zwangsarbeit als Knechte nach Deutschland verschleppt worden waren, von wo sie 1945 in die Heimat zurückkehrten. Als ich meine Aufzeichnungen über Kosyr im Rundfunk las, erhielt ich umgehend Post von Kameraden des Generals. Diese Briefe gestatten mir, das Porträt dieses profilierten Soldaten hier zu vervollständigen. „Maxim Jewsejewitsch Kosyr war Kommandeur unserer 232. Sumsko-Kiewer Schützendivision. Ich diente dort seinerzeit als Batteriekommandeur des Artillerieregiments. Ich kannte Kosyr persönlich. Hatte der General ein Ziel auf dem Schlachtfeld selbst entdeckt, so wollte er, daß es unverzüglich
bekämpft wurde, und er konnte sehr ungehalten werden, wenn sich die Feuereröffnung im geringsten verzögerte. Dieser äußerst bescheidene, selbstlose Mann, der sich nie schonte, machte einen tiefen Eindruck auf mich.“ Das schrieb mir Pawel Petrowitsch Lebedew aus Kasan. „In dieser Division war ich Kommandeur der Aufklärungskompanie und Stabschef des 794. Regiments. Mit Kosyr traf ich häufig zusammen, und ich sah ihn unter den verschiedenartigsten Umständen. Wir haben nicht nur einen Pud Salz gemeinsam verspeist. Alles, was Sie über unseren General schreiben, entspricht der Wahrheit. Was er Ihnen sagte, hat er oft auch uns gesagt. In Ihrem Tagebuch erwähnen Sie Berinski, den Kommandeur des Pionierbataillons. Ich gebe Ihnen zur Kenntnis, er lebt und hält sich bis zum heutigen Tage in Lwow auf, wo er am Institut unterrichtet.“ Das schrieb Jewgeni Dmitrijewitsch Golowin aus Nowosibirsk. Auch Josef Zalewitsch Berinski schickte einen Brief, jener Kommandeur, von dessen Pionierbataillon Kosyr behauptete, es habe „großartig gearbeitet“. „Ich bin der ehemalige Kommandeur des Pionierbataillons, Berinski, der Divisionsingenieur. Im Oktober 1943 kam M. J. Kosyr als Kommandeursstellvertreter zu uns in die 232. Schützendivision. Einige Truppenteile standen zu dieser Zeit bereits im Operationsgebiet Ljutesh nördlich von Kiew. Damals lernte ich M. J. Kosyr kennen, als ich ihn über den Dnepr setzte. Dort, im Operationsgebiet Ljutesh, lieferte er uns ein erstes Beispiel seiner Tapferkeit. Er
begab sich in die vordersten Stellungen, legte sich an ein MG und feuerte auf den Gegner. Auch in der Folgezeit hielt er sich vorwiegend bei den vorderen Regimentern auf. Er war tapfer und sogar verwegen. Stets trug er einen Regenumhang und seine rote Generalsmütze. Für erfolgreiche Gefechtshandlungen und fähige Truppenführung wurde M. J. Kosyr mit dem Titel ,Held der Sowjetunion’ ausgezeichnet.“ Ich kann jetzt nur noch einige Einzelheiten hinzufügen, die mir vorher unbekannt waren und die ich sowohl den Briefen als auch dem Artikel „General Kusmitsch – General Kosyr“ von L. Jaruzki, veröffentlicht in der Zeitung „Sozialistitscheski Donbass“, entnommen habe: Vor seinem Dienst in der zaristischen Armee arbeitete Kosyr in einer Grube als Pferdetreiber. Im ersten Weltkrieg verlor er an der Front drei Brüder, im Bürgerkrieg den vierten. Er war einer der ersten Träger des Rotbannerordens, Nummer 71. Im ersten Weltkrieg kämpf te er als Feldwebel eines Maschinengewehrkommandos in Rumänien, Kreis Pascani, zufällig dort, wo ich dreißig Jahre später dem Divisionskommandeur begegnete. Gefallen ist er nicht im Niemandsland, sondern bei einem Zusammenstoß mit den Deutschen, als er mit seinem Wagen in ein von ihnen noch besetztes Dorf einfuhr. Sein Grab befindet sich auf dem Erlenfriedhof in Prag.
19 In der zweiten Maihälfte kam ich zu meiner eigenen Überraschung noch einmal in diese Gegend, zuerst nach Belzy, dann nach Nordrumänien, in den Kreis Botowani. Ich wurde zur politischen Leitung bestellt und zu den Truppen geschickt, um einige Vorlesungen über gesellschaftliche und literarische Themen zu halten. An der 2. Ukrainischen Front war ungetrübte Waffenruhe. Die Einheiten bereiteten sich auf die Operation von Iasi-Kischinjow vor, das heißt, es war eine Zeit, in der die zuständigen Stellen die Kampfpause dazu benutzten, besonders viele Lektoren, Rezitatoren und Schauspieler zu den Soldaten der kämpfenden Armee zu entsenden, damit sie deren Freizeit gestalteten und vor den neuen Schlachten aufmunterten. Die Überlegung war richtig. Während der Ruhe dachten die Soldaten unweigerlich an die bevorstehenden Kämpfe, und zwischen den Erinnerungen an die Vergangenheit und den Erwartungen für die Zukunft zu leben war nicht leicht. Dem einen geht die Langeweile auf die Nerven, der andere verzehrt sich in quälenden Grübeleien. Sicherlich habe ich keinen bedeutenden Lektor abgegeben. Ich weiß auch nicht mehr, wann ich welche Vorlesung hielt, aber das Gefühl der wachsenden Unlust während der Ruhe – auch das ist wichtig für das Verständnis des Krieges – habe ich von dieser Reise mitgenommen. Es hat sich mir am nachhaltigsten eingeprägt. Da keine Kampfhandlungen stattfanden, blieb der Notizblock leer. Während der ganzen Zeit habe ich einen
einzigen Gedichtentwurf geschrieben. Sich windend kriecht der träge Weg Am Feld entlang mit düstern Launen. Die Pappelblätter stehen schräg, Und in den Kronen müdes Raunen. Fahltrockner Staub wie feinster Sand Bedeckt die heißen weißen Steine. Der Flieder unterm Griff der Hand Streut Blüten mir um meine Beine… Wir mir heute scheint, ist die bedrückende Stimmung der Ruhe vor dem Sturm auch den Zeilen des unvollendeten Gedichts eigen. Während dieser Reise begegnete ich zum erstenmal in diesem Krieg Boris Polewoi, dessen elastische Aktivität sich nicht selten mit der Bereitschaft paarte, ein Risiko einzugehen, was mir nicht nur Achtung abverlangte, sondern manchmal auch meinen Neid hervorrief. Ortenberg, der sich allerlei auf die operativen Fähigkeiten der Korrespondenten der „Krasnaja Swesda“ einbildete, stellte ihnen selten andere Zeitungsleute als Vorbild hin. Mit Polewoi tat er es jedoch, und nicht nur einmal. Es wurde sogar gemunkelt, er wolle ihn zu unserem Blatt herüberziehen. Ein wenig später als Polewoi traf ich bei Belzy auch Roman Karmen, der bereits in Spanien und China Frontkorrespondent gewesen war. Die Ruhe vertrug sich schlecht mit seinem rastlosen Charakter. Er fluchte viel, wäre am liebsten irgendwoanders hingefahren. Was ihn hielt, war seine Stellung als Chef einer Arbeitsgruppe des Frontkinos.
Wir beide waren schon lange befreundet, und da er unsere unverhoffte Begegnung feiern wollte, schleifte er mich mit einigen Mitarbeitern seines Teams auf den Boden des Bauernhauses, wo sie wohnten. Es war heiß dort oben wie in einem Taubenschlag. Das Abendessen ist mir gut in Erinnerung geblieben, weil es einzigartig war. Wir tranken aus großen flachen Tongefäßen trockenen roten Landwein und aßen gebratene Tauben. Mich beeindruckte einfach alles, sowohl der vergessene Geschmack des Landweins wie der gänzlich unbekannte Geschmack der Tauben. Der Krieg war so lang und so wild bewegt, daß manchmal gerade solche kleinen Freuden des Lebens im Gedächtnis haften geblieben sind. Von meinen Begegnungen mit Militärangehörigen hat sich mir nur die mit Sergej Iljitsch Gorschkow eingeprägt. Ihn hatte ich schon im Frühjahr 1943 am Fluß Mius gesehen, und über unser Treffen besitze ich noch einige Aufzeichnungen. Generalleutnant Alexej Gordejewitsch Seliwanow, der frühere Kommandant des Donkosakenkorps am Mius, war auf dem Höhepunkt des Kriegsgeschehens schwer an Tuberkulose erkrankt und von Gorschkow abgelöst worden. Als ich Gorschkow in Rumänien traf, erkundigte ich mich gleich am ersten Abend nach der Krankenschwester Malyschki. „Die ist nicht hier“, sagte er, „ich habe sie zum Studium geschickt. Sie soll Arzt werden. Solche Menschen müssen uns erhalten bleiben. Wenn sie leben soll, muß sie studieren.“ Und nachdenklich fügte er hinzu: „Inzwischen ist immer-
hin ein Jahr vergangen. In einem Jahr passiert mancherlei.“ Er hatte recht. In diesem Jahr hatte sich viel geändert. Die Kosaken standen nicht mehr bei Taganrog, sondern bei Iasi, und er befehligte nicht mehr eine Division, sondern ein Korps; sein Name – nicht ein von mir irgendwann für eine Erzählung erfundener, sondern sein richtiger Name – wurde häufig in den Befehlen genannt, und auf seinem Rock waren einige Orden hinzugekommen. Dafür hatte er seinen früheren leichten Gang und seine besonders anziehende Beweglichkeit verloren. Er war unlängst schwer verwundet worden und stützte sich auf Krücken. Es war ein heißer rumänischer Frühling. Überall sproß es in den Gärten. Fremde, nie gehörte Namen von Städten und Dörfern tauchten in den Stabskarten auf. Weit zurück lagen Taganrog, Matwejew Kurgan, die Kämpfe am Mius. Nach der Begegnung mit „Axinja Iwanownas Sohn“ während der Ruhe bei Iasi führte mich das Schicksal nicht wieder mit ihm zusammen. Später, bei der Operation von Iasi-Kischinjow zeichnete sich die mechanisierte Kavallerie-Gruppe des Generals Gorschkow besonders aus, sie tat sich in den Kämpfen um Westrumänien und Transsilvanien hervor; dafür wurde ihm der Kutusoworden Stufe I verliehen, und er wurde zum Generalleutnant befördert, aber gesehen habe ich ihn nicht noch einmal. Kürzlich erhielt ich überraschend einen Brief von ihm, in dem er Erinnerungen auffrischte – wie ich damals, im rumänischen Frühling 1944, mit ihm
gemeinsam seine hübsche geweißte Stube bewohnte, zweifelnd seine Krücken betrachtete und nicht glauben wollte, daß sich seine Hoffnungen erfüllten und er nach der schweren Verwundung sein 5. Gardekosakenkorps noch einmal in den Kampf führen könnte. Offen gestanden habe ich das damals tatsächlich nicht für möglich gehalten, als er auf seinen Krücken mühsam durch das Zimmer humpelte. Aber dann kam doch alles so, wie er gehofft hatte. Der menschliche Wille ist schon eine erstaunliche Kraft, und nicht nur eine moralische, manchmal auch eine materielle, körperliche. Ende Mai oder Anfang Juni kehrte ich nach Moskau zurück. Am 7. erfuhren wir von der Landung unserer Verbündeten in der Norman-die; diesen Tag verbrachte ich zu Hause. Zwei oder drei Tage vorher hatte mich Redakteur Alexander Jakow-lewitsch Karpow zu sich bestellt und sich nach der Lage der Dinge erkundigt. Ich saß gerade über der Umbruchkorrektur der „Tage und Nächte“, die als Buch herauskommen sollten. In einem Gespräch unter vier Augen drängte er zur Eile und ließ durchblicken, interessante Ereignisse ständen unmittelbar bevor, auf mich warte eine neue Reise. Als ich nun von der Landung in der Normandie erfuhr und mir unser Gespräch ins Gedächtnis rief, glaubte ich einen Zusammenhang zu erkennen. Ob mich die Redaktion zu unseren Verbündeten schicken wollte? Eine derartige Reise war 1942 schon einmal geplant gewesen. Ich suchte die Redaktion auf und fragte
Karpow, warum ihm so daran gelegen sei, daß ich einsatzbereit zur Verfügung stehe. Was er im Auge habe? Karpow erriet meine Gedanken, lachte breit und sagte, die höchste Alarmstufe bleibe bestehen, aber es zeichne sich eine völlig andere Richtung ab. In den letzten drei Tagen in Moskau drehten sich die Gespräche ständig und überall und bei jeder Gelegenheit um die endlich eröffnete zweite Front. Es versteht sich, daß auch die Landung unserer Verbündeten 1942 in Nordafrika und danach auf Sizilien und in Italien nicht zu knapp erörtert worden waren. In den Kreisen der Frontkorrespondenten interessierte man sich für alle Einzelheiten und freute sich über alle Erfolge. Und trotzdem! Trotzdem muß ich ehrlich gestehen, daß wir uns vor der Landung in der Normandie beharrlich – und eigentlich auch zu Recht – weigerten, die Vorgänge als Geschehen an einer echten zweiten Front zu werten. Das, was sich jetzt in der Normandie abspielte, hatten wir in den verzweifelten Tagen des Jahres 1942 erwartet und im stürmischen Frühling 1943, vor Beginn der deutschen Sommeroffensive. Mit keinem anderen Begriff waren in den vorangegangenen Jahren bei uns so viele enttäuschte Hoffnungen verknüpft wie mit dem der zweiten Front. Um so deutlicher erinnere ich mich daran, wie ich die Landung in der Normandie aufnahm. Endlich war ernsthaft in einem Ringen um Leben und Tod – eine zweite Front geschaffen! Zumindest ich persönlich durchlebte damals glückliche Tage. Am 11. Juni, dem fünften Tag nach der Landung der Verbündeten, veröffentlichte der Volkskommissar
für Außenhandel in der „Prawda“ Angaben über Waffenlieferungen der USA, Großbritanniens und Kanadas an die Sowjetunion. Die einen Ziffern sahen in unseren Augen eindrucksvoller aus, die anderen weniger, doch ich will mich hier nicht zu Zahlen äußern, sondern zu der Wirkung, die sie auslösten. Sie vor der Eröffnung der zweiten Front zu veröffentlichen wäre aus psychologischen Gründen unmöglich gewesen. Die Leute hätten es als einen Versuch aufgefaßt, das eine durch das andere ersetzen zu wollen, die zweite Front durch Zahlen. Nachdem unsere Verbündeten in der Normandie gelandet waren, wurden die Lieferungen als etwas Zusätzliches zur Hauptsache – dem Eintritt in den Kampf – angesehen. Die Veröffentlichung in der „Prawda“ las ich bereits in Leningrad. Am 10. Juni begann unsere erste Sommeroperation auf der Karelischen Landenge, und ich fuhr hin. Diese Perspektive hatte Karpow bei seiner Mahnung, auf Abruf bereitzustehen, im Auge gehabt. Bis nach Leningrad brauchte ich mit dem „Willys“ einen Tag, übernachtet wurde in Nowgorod. Es war wohl die tristeste Strecke, die man sich vorstellen kann, auch damals, im Krieg. Auf dieser verhältnismäßig kurzen Reise wurde mir erneut – wie schon ein Jahr zuvor bei der Fahrt nach Charkow – in aller Schärfe bewußt, wie unermeßlich das Leben war, das wir ertragen mußten. Ungefähr zwanzig Kilometer vom Puschkindenkmal entfernt – einem willkürlich gewählten Orientierungsort – passierten wir auf der Leningrader Landstraße die Stelle, zu der
im Dezember 1941 zwei deutsche Panzer vorgestoßen waren, den der Hauptstadt am nächsten gelegenen Punkt, den feindliche Fahrzeuge erreicht hatten. Und unmittelbar am Stadtrand von Leningrad fuhr der „Willys“, der über Schlaglöcher holperte, an Geländestreifen vorbei, auf dem sich die Deutschen für lange Zeit eingegraben hatten, und obwohl ich das Gefühl der Demütigung kannte, das mich beim Anblick der aufgewühlten Erde in ähnlicher Weise schon vorher ergriffen hatte, überkam es mich hier besonders heftig, unerträglich. Auch die Stadt selbst, in die wir endlich einfuhren, vermochte die Depressionen, die sich unterwegs immer mehr verstärkt hatten, nicht zu zerstreuen. Ja, die Deutschen waren nicht in Leningrad eingedrungen, weil wir sie daran gehindert hatten, aber ihre Bomben und Granaten hatten jahrelang alles aufgepflügt. Unablässig und von allen Seiten hatten sie den im Krieg üblichen eisernen Tod kreuz und quer durch die Stadt geschickt – dazu den selbst im Krieg nicht so gewöhnlichen Hungertod. Die Folgen spürte ich noch jetzt. An den Fassaden waren sie weniger sichtbar als auf den Höfen. Nie werde ich die Wehmut vergessen, die ich beim Gang über die menschenleeren, vereinsamten Höfe mit ihren Brunnen empfand. Seit dem Frühjahr 1941 war ich nicht in Leningrad gewesen, und diese Stadt, in der ich geboren wurde, in der vor dem Krieg meine ganze Verwandtschaft lebte, in der ich einst meine ersten Verse schrieb, war mir eben als die Stadt jenes letzten Vorkriegsfrühlings in Erinnerung geblieben und erschien mir jetzt, drei Jahre später, ganz unwirklich.
Die Verteidiger der Stadt, die darin die Blockade überlebt hatten, verglichen das jetzige, das sommerliche Leningrad des Jahres 1944 mit dem von 42 oder auch 43, und sie sahen nach den Gesetzen der Relativität vor allem die positiven Veränderungen. In Gesprächen lenkten sie die Aufmerksamkeit immer wieder auf Fortschritte, die sie inzwischen erzielt hatten, Löcher waren geflickt, Fensterscheiben eingesetzt, die Bombentrichter aufgefüllt und asphaltiert. Sie sprachen von allem, was die Stadt zu normalem Leben zurückführte. Ich verstand sie und freute mich mit ihnen. Und dennoch, diese Freude war schmerzlich getrübt. Sie glich dem Gefühl, von dem man befallen wird, wenn ein Mensch, der in der Erinnerung als völlig gesund lebt, nach schwerer Krankheit, dem Tode entronnen, vor deinen Augen freudig lächelnd seine ersten Gehversuche unternimmt und mit winzigen Schrittchen selbständig vom Bett zum Stuhl trippelt. Die Leute erzählten mir, wie viele Bewohner letzthin in die Stadt zurückgekehrt seien, aber mich bedrückte, wie entvölkert sie war. Soweit meine damaligen Regungen, wie sie sich in meiner heutigen Erinnerung darstellen. In jenen Tagen hätte ich auf keinen Fall etwas zu Papier gebracht, was nicht direkt mit meiner Berichterstattung für die „Krasnaja Swesda“ zusammenhing. Ich kam gegen Ende des zweiten Angriffstages auf der Karelischen Landenge an und blieb dort bis zur Einnahme von Wyborg am elften Tag der Kämpfe. Ein brennendes, von den Finnen verlassenes Wyborg fiel in unsere Hände. 1940, zur Zeit des finnischen Krieges, hatten wir dafür drei Monate gebraucht und
schwere Opfer bringen müssen, während wir unser Ziel diesmal in elf Tagen und mit verhältnismäßig geringen Verlusten erreichten. Man muß den Finnen das eine lassen. Sie hatten sich nicht verändert, sie waren immer noch die ausdauernden Soldaten, die sie vorher waren. Aber wir hatten einiges dazugelernt. Dort, wo wir uns früher die Stirn an einer eisernen Verteidigungslinie einrannten, durchbrachen wir sie jetzt in einem einzigen Ansturm, und nach dem einen verheerenden Stoß rollten wir die Linie rasch nach links und nach rechts auf. Da nach brachen wir mit geballter Kraft in die nächste Linie ein und roll ten auch sie auf. So stellen sich die elf Kampftage auf der Karelischen Landenge aus heutiger Sicht dar. Damals freilich gab es nur fragmentarische Eindrücke, unendlich viele, für den Tag oder die Stunde gültige Beobachtungen, hastig im Notizblock festgehalten. Ich wollte sie so bald wie möglich zu Artikeln verarbeiten und dann in aller Eile, per Telephon oder Funk, durchgeben. Diese Berichte habe ich jetzt vor mir liegen, auch einen großen Teil der Notizblöcke. Ich möchte die Atmosphäre spürbar machen, indem ich einige Notizen ohne ihre Folgerichtigkeit anführe. Die Blöcke sind restlos vollgekritzelt, Daten fehlen, und nach so vielen Jahren vermag ich nicht immer zu entscheiden, welchem Kampftag die eine oder die andere Eintragung zugeordnet werden könnte. Die Straße schneidet den ersten, bereits genommenen Streifen des finnischen Verteidigungssystems. Die Befestigungen wurden vor langer Zeit angelegt, das
erschwert ihre Besichtigung. In drei Jahren sind die Bunker mit Strauchwerk überwachsen, die Zweige verdecken den Beton, so daß er kaum noch zu sehen ist. Die Pflöcke mit dem Stacheldraht gleichen einer abgeholzten Schonung. Links der Straße, die am Meer verläuft, verschmelzen die Schützengräben mit den bräunlichen Dünen. Der Stacheldraht ist in zweierlei Form angebracht: zwischen Pfähle gespannt und nach deutscher Art auf spanische Reiter gewickelt. Alles ist vermint. In den tiefen Schützengräben kann man aufrecht stehen. Seitengänge führen zu Wohnbunkern, die mit Stämmen, zwei oder drei Lagen stark, überdeckt sind. Artillerie mittleren Kalibers mußte für den direkten Beschuß so nahe wie möglich vor den vordersten Stellungen der Finnen in Position gebracht werden, und sie wurden auf eine Entfernung von einhundertzwanzig, einhundert oder sogar nur siebzig Meter herangeschafft. Über das sumpfige Gelände wurden Knüppeldämme gelegt und die Geschütze darauf anderthalb Kilometer weit mit den Händen befördert. Die weißen Nächte störten dabei, aber es half der Nebel, der fast jede Nacht bis zum Morgengrauen über den Sümpfen hing. Außer den Kanonen mußten – ebenfalls mit den Händen und ebenfalls nachts – einhundertfünfzig Kampfsätze transportiert werden. Die Kanonen wurden vor der Nase der Finnen in vorher ausgehobene Unterstände geschoben. Neben diesen Schutzanlagen entstanden überdeckte Schützenlöcher und Deckungsgruben für die Granaten. Diese Arbeiten nahmen sieben Tage in Anspruch, und es spielte sich alles so dicht vor den gegnerischen
Stellungen ab, daß die Finnen bei dem geringsten Geräusch losschössen. Nachdem die schwere Artillerie das Feuer eröffnet und vorn alles aufgewühlt hatte, wurden die Geschütze kleineren Kalibers aus den Unterständen geschoben und führten aus kurzer Entfernung ihre Schläge gegen Drahtsperren und Minenfelder, wobei sie eine Gasse freischossen. Die Tätigkeit der Artillerie hat ihre Spuren hinterlassen. Der Wald ist kein Wald mehr, die Bäume anderthalb bis zwei Meter über dem Erdboden abrasiert, wie eine riesige gemähte Wiese. Vom ersten bis zum zweiten Streifen sind es teils zwanzig, teils fünfundzwanzig Kilo-I meter. Seen, schmale Hohlwege… Der zweite Streifen. Das unlängst genommene Dorf Kiwennappa. Sehr wahrscheinlich dasselbe Dorf mit der lutherischen Kirche, über das Dolmatowski (ich glaube, er war es) zur Zeit des finnischen Krieges ein kleines Scherzgedicht verfaßte: Leb wohl, Mama, Leb wohl, Papa! Kirchlein, sieh da, Kiwennappa! Damals konnten wir diese Orte lange nicht einnehmen. Diesmal haben wir sie beinah aus der Bewegung genommen. Die Beobachtungsstelle des Regiments liegt neben einer zerstörten Feuerstellung. Eine beherrschende Höhe. Von hier kann man drei weitere sehen und darauf außer Feldbefestigungsanlagen sieben große Bunker. Es heißt, diese Linie sei in den allerletzten Tagen fertiggestellt worden. Man hat
einen guten Überblick. Die grauen, noch nicht vom Unkraut überwucherten Kuppeln der kürzlich gebauten Bunker, das verzweigte, weit reichende Grabensystem. Unsere Artillerie beschießt es gerade. Im Fernglas sehe ich die Einschläge und hin und her laufende Menschen. Das Manövrieren mit viel Artillerie, die Konzentration von Artillerieregimentern mit schweren Geschützen bald an diesem, bald an jenem Frontabschnitt verdoppeln und verdreifachen die Wucht der Schläge. Unsere Panzerjägerartillerie spielt in diesen Gefechten gewöhnlich die Rolle von Sturmgruppen. Ein Divisionskommandeur sagt: „Zuerst habe ich hier mit einem Bataillon einen Durchbruch durch die Linie erzielt, dann mit einem Regiment die Durchbruchstelle erweitert. Dann habe ich noch ein Regiment in die Bresche geworfen, dann die ganze Division. In sechzehn stündigen pausenlosen Kämpfen habe ich diesen Teil besetzt. Jetzt wird die Linie aufgerollt, wir drücken nach rechts, unsere Nachbarn nach links. Was wir erbeutet haben, wissen wir selbst noch nicht. Fest steht zunächst, etwa hundertfünfzig Geschütze und zahlreiche Maschinengewehre, einige sogar noch in Verschlagen, nicht mal ausgepackt.“ Die Ortschaft Murilo. Links von uns die Bucht von Björkö, rechts der See Kipinojen-Jarwi. Vor uns Koivisto und Wyborg. Auf diesem Abschnitt ist die Mannerheimlinie durchbrochen, wir haben sie schon etwa drei Kilometer hinter uns gelassen. Nach dem Sturm sehen die finnischen Stellungen schrecklich aus. Nicht alle Bunker liegen in Schutt und Trümmern, aber alle haben Volltreffer erhalten.
Das Gelände ist mit Trichtern übersät. Stacheldraht und Telephonkabel haben sich verheddert und zu Knäueln verfilzt. Sämtliche Telephonleitungen sind zerstört, auch die tief im Boden verlegten. Dort, wo einmal Unterstände waren, bilden Baumstämme, Erde und Bretter ein wüstes Durcheinander. Wir besichtigen die Befestigungen. Granithöcker. Dahinter eine tiefe, kunstvoll angelegte Schlucht. Dann auf Hügeln mit niedergemähten Bäumen die kleinen und großen Betonbunker der alten Mannerheimlinie. Einige wurden nach dem Winterkrieg wiederhergestellt, andere nicht, aber auch die versprengt herumliegenden riesigen Betonbrocken wurden in das Verteidigungssystem einbezogen, mit Stacheldraht umwickelt und vermint. Es gibt sehr viele Minen. Vor unseren Augen geht eine Zugmaschine hoch. Einige kleinere Feuerstellungen sind völlig dem Erdboden gleichgemacht. Auf Lafetten montierte MGs mit festgelegten Feuersektoren sicherten alle diese Bunker und gewährleisteten ein vielschichtiges Feuersystem. Wir haben 210-mm-Geschütze erbeutet; sie fielen uns auf dem Weg zur Front in die Hände. Die Finnen hatten sie wahrscheinlich für eine zusätzliche Bestückung der großen Feuerstellungen heranziehen wollen. In einigen Bunkern ist alles neu. An den Türen greift man in Firnis. Eine finnische Kavalleriebrigade ist zerschlagen. Mit Kavalleristen hatte sie allerdings nur den Namen gemein. In Wirklichkeit handelte es sich um Radfahrereinheiten. Die Räder liegen zu Hunderten herum, und
unsere Soldaten bedienen sich ihrer natürlich. Ein Artillerieregiment zieht an uns vorüber, um der Infanterie beim weiteren Vordringen Feuerschutz zu geben. Die Luftlinie nach Wyborg beträgt siebenundzwanzig Kilometer. Von Koiwisto beschießt uns eine schwere Batterie. „Ausschalten!“ befiehlt der Chef der Artillerie. „Systematisch eindecken, kein Schuft soll dort noch unter dem Beton vorkricchen!“ Telephongespräche. „Hör zu, hier Bor, hör zu, hier Bor! Verstehst du mich jetzt besser oder schlechter? Wir sollten die Sache nicht länger aufschieben. Ich gebe Ihnen zwei Stunden. Bis dahin haben sämtliche Artilleristen neue Beobachtungsstellen bezogen und dort vorne alles vom Erdboden gefegt, damit die Infanterie angreifen kann.“ Der Divisionskommandeur gemahnt den Aufklärungsoffizier, genau festzustellen, wo sich unsere Infanterie hingelegt hat, ihre vordersten Linien und die Entfernung zum Gegner zu bestimmen. „Denken Sie daran, daß von Ihnen nicht nur die Genauigkeit des Beschusses, sondern auch das Leben der Soldaten abhängt“, schärft er ihm ein. Auf der Landstraße bewegt sich ein Artillerieregiment auf Selbstfahrlafetten. Ein Stabsoffizier beugt sich über eine Karte und markiert die Positionen der finnischen Batterien auf der Insel Björkö für einen Luftangriff. Er begibt sich zu den Fliegern. „Aber nicht die Attrappen, sondern die richtigen wegfegen, die richtigen!“ sagt ein Artillerist. Oberst Gerassimow, der Chef Artillerie, erklärt, daß
er schon das zweitemal dabei ist, diese Linie zu nehmen. „Die Finnen sind andere geworden, und unsere Leute auch, aber so ein Bunker ist nach wie vor eine harte Nuß. Nicht jede schwere Granate knackt ihn. Die Distanz muß stimmen, die Schußentfernung, der Auftreffwinkel, die Krümmung der Kuppe muß bekannt sein…“ Das Gefecht dauert nun schon den dritten Tag an, und während dieser drei Tage haben die Leute in den Regimentern heute erstmalig schlafen können. Vom Fenster des kleinen Holzhauses, in dem wir sitzen, ist das dunkle felsige Ufer gut zu erkennen. Immer wieder blitzen dort die Abschüsse der schweren finnischen Artillerie auf. Dann detonieren unsere Granaten, und abermals folgen ihre Abschüsse. Ihre Geschütze werden zum Schweigen gebracht, aber noch schweigen sie nicht. Ein Offizier sagt, die Finnen seien nicht gewohnt, im Sommer Krieg führen. Eine Meinungsverschiedenheit über die Finnen entbrennt. Ob sie noch die alten seien oder nicht. Die einen behaupten: Ganz und gar nicht, die anderen – ebenfalls Teilnehmer des finnischen Krieges – beharren: Sie seien kein bißchen schlechter als damals. Die Unterschiede lägen nicht bei ihnen, sondern bei uns. Wahrscheinlich haben sie recht. Neben der Straße werden Gräben ausgehoben. Eine riesige Rolle starkes finnisches Papier – vermutlich Packpapier – ist uns in die Hände gefallen. Die toten Soldaten werden darin eingehüllt und in ein Massengrab gelegt. General Nikolai Grigorjewitsch Ljastschenko erin-
nert sich der Kämpfe bei Gattschina. Von den Finnen sagt er, sie seien Draufgänger wie eh und je, tapfere Soldaten, aber in diesen Gefechten habe sich gezeigt, daß sie äußerst empfindlich auf Umgehungsmanöver reagieren. Wenn ihm ein Vorstoß gelingt und er hinter ihren Linien operiert, verlieren sie den Kopf. Auch für ihn ist es der dritte Tag ohne Schlaf. Ein Stündchen müßte er sich schon hinlegen, meint er und witzelt über seine enorme Körperlänge. „Ist das für mich etwa ein Bett?“ Er zeigt auf das schmale finnische Gestell, das in dem Häuschen steht. „Besorgen Sie mir ein besseres, ich bin jetzt Bürgermeister dieses Ortes. Oder beschaffen Sie mir wenigstens einen Schemel, damit ich meine Beine drauflegen kann.“ Er unterschreibt eine Meldung, und so schwer lastet seine müde Hand auf dem Bleistift, daß die Spitze ein kratzendes Geräusch verursacht. Ein Matrose kommt, Verbindungsoffizier, berichtet über ihr Zusammenwirken. Die Boote räumen Minen, sie nähern sich Koiwisto, jede Minute kann der Beschuß des Küstenstreifens im Rücken der Finnen beginnen. Ein weiterer Notizblock enthält Aussagen finnischer Gefangener, Offiziere und Soldaten, mit denen ich im Verlaufe dieser Tage wiederholt gesprochen habe. Jede Antwort hat ihre besondere Note, allen Befragten gemeinsam ist eine spürbare Verwirrung. Daß sie auf der Karelischen Landenge einmal eine Niederlage erleiden würden, hatten sie gewußt, und in gespannter Erwartung gelebt, aber sie hätten nie geahnt, daß es so schnell passieren würde. Etwas Ähnliches wie im
Jahre 1940 hatten sie auf sich zukommen sehen, mit alten Maßstäben gemessen und sich beruhigt. Daher diese allgemeine Zerknirschung, die ständig größer werdende Bestürzung über die Ereignisse. Während der ersten vier oder fünf Tage meiner journalistischen Tätigkeit auf der Karelischen Landenge teilte ich den „Willys“ mit Alexander Borissowitsch Stolper, der durch meine Vermittlung von der Redaktion der „Krasnaja Swesda“ hergeschickt worden war und sich als ausgezeichneter Frontreisebegleiter erwies. Er war mit seinem Kamerateam schon nach Stalingrad gefahren, um in den Ruinen die Außenaufnahmen zu „Tage und Nächte“ zu drehen, hatte dann jedoch alle anderen zur Fortsetzung der Arbeit dortgelassen und war nach Moskau zurückgekehrt. Er forderte von mir, ich solle ihm behilflich sein, damit er an die Front fahren könne. Er hatte mir erklärt, er »ci außerstande und fühle sich nicht befugt, einen Kriegsfilm zu drehen, wenn er vorher nicht wenigstens für einige Tage Frontluft geatmet hätte, denn sonst könne er sich beim besten Willen nicht vorstellen, was ein Mensch im Feuer der Schlacht empfinde. Ich wollte seine Einwände mit der Bemerkung abtun, ich hätte schon Reisen hinter mir – auch lange –, bei denen ich nicht ein einziges Mal ins Feuer geraten war. Die letzte zum Beispiel, zur 2. Ukrainischen Front. Vierzehn Tage war ich herumgefahren und kein einziges Mal beschossen worden. Stolper hatte jedoch unnachgiebig auf seinem Standpunkt beharrt: „Ohne Fronterfahrung kann ich den Film nicht machen!“ Bei Beginn der Ereignisse auf der Karelischen Landenge zwickten ihn bereits Terminprobleme, und
er konnte nur mit Schwierigkeiten einen Dienstreiseauftrag erwirken. Jedoch durfte er, wie schon gesagt, nur für vier oder fünf Tage auf der Karelischen Landenge bleiben. Allerdings ging sein Wunsch in Erfüllung, und trotz der Kürze der Zeit geriet er nicht nur einmal ins Feuer, wie es auf der Karelischen Landenge überhaupt eine Menge zu sehen gab, insbesondere für einen Frontunerfahrenen. Der zweite Verteidigungsstreifen der Finnen, den Stolper besichtigte, bot nach dem vernichtenden Feuer unserer Artillerie stellenweise einen Anblick apokalyptischer Zerstörungen. Stolper fuhr nach Leningrad, um den Film zu drehen. Ich begleitete ihn dorthin und gab unter dem Titel „Der zweite Streifen“ einen Bericht telephonisch durch. Dann kehrte ich auf die Karelische Landenge zurück. Nach Stolpers Abreise machten sich meine Kollegen Frontkorrespondenten über mich lustig. Stolper war Zivilist, er trug keine Dienstgradabzeichen, hatte eine stattliche Figur. Zudem begleitete ihn ein junger Oberstleutnant, das war ich. Kurz, während unserer gemeinsamen Fahrt hielten sie Stolper wiederholt sowohl für einen Volkskommissar, der sich in aller Eile persönlich von der Wirksamkeit unserer überschweren Kaliber überzeugen wollte, als auch für ein Akademiemitglied und einen Betonspezialisten, und ich, der begleitende Offizier, stand ihm nach ihrer Meinung zur Verfügung. Dementsprechend hatten sie sich uns beiden gegenüber verhalten. Nebenbei bemerkt denke ich, daß diese damalige Fahrt an die Front Stolper geholfen hat, den Film „Die Lebenden und die Toten“ zu schaffen – nach meiner Auffassung
den besten Streifen, den je jemand nach einer meiner Arbeiten gedreht hat. An dem Tag, als Wyborg genommen wurde, traf ich unweit der Stadt – im Gebüsch am Wegrand bei einer Feldfunkstelle kauernd – Wsewolod Wischnewski. Ich erinnere mich nicht mehr, ob es die Funkstelle eines Bataillons oder eines Regiments war und warum man sie unmittelbar neben der Straße entfaltet hatte. Auch hätte ich ihr wahrscheinlich keine Beachtung geschenkt, wenn ich Wischnewski nicht bemerkt hätte; inmitten der Nachrichtenleute und Offiziere sah ich seine blaue Marinejacke und Matrosenmütze. Er streckte mir kurz die Hand hin, ohne sich aus der Hockstellung zu erheben, und fuhr fort, das Funkgespräch in den auf seinen Knien liegenden dicken Notizblock zu kritzeln. Die linke Hand hielt er hinters Ohr, um besser zu verstehen. Seine schwere Blutdruckkrankheit, die diesen wie das blühende Leben aussehenden Mann bald nach dem Krieg ins Grab brachte, machte ihm vermutlich schon zu schaffen. Während einer Pause im Funkverkehr zog unser gemeinsamer Kollege Jascha Rjumkin, Bildberichterstatter der „Prawda“, Wischnewski beiseite und sagte: „Wann und wo kann ich euch noch mal zusammen aufnehmen! Habt ein Einsehen!“ Und er knipste Wischnewski und mich auf einer Kurve der gerade leeren Landstraße. Entgegen dieser Voraussage wurden Wischnewski und ich danach noch öfter zusammen aufgenommen, auch von Rjumkin; aber das geschah auf Schriftstellertagungen, wo wir gelegentlich hinter- oder nebeneinander saßen. Der Schnappschuß von der Wyborger Landstraße war da
freilich interessanter. Wischnewski lief zur Funkstelle zurück, denn sie arbeitete wieder, und ich fuhr weiter zu den Pionieren, die dabei waren, eine neue, solide Umleitung zu bauen. Sie sollte an die Stelle einer provisorischen treten. In diesen zehn Tagen war ich oft auf Pionierarbeiten gestoßen, aber ich hatte nie Gelegenheit gehabt, mit Pionieren ein vernünftiges Wort zu wechseln. Ich bat den Hauptmann um Erlaubnis, mit zwei seiner Soldaten sprechen zu dürfen, und interviewte sie gleich an Ort und Stelle, stehend, den Notizblock auf die Kartentasche gelegt. Wir mochten zwei oder drei Minuten gesprochen haben, als die Finnen die Vertiefung, über die hinweg die Pioniere die verbesserte Umleitung legen wollten, mit Artillerie beschossen. Es war ein kurzer Feuerüberfall, nur ein paar Granaten, aber er kam wie ein Blitz aus heiterm Himmel und hatte eine verheerende Wirkung. Ich hatte mich hingeworfen, und als ich aufstand, lagen Tote und Verwundete in der Vertiefung. Ein Volltreffer hatte den mit Pioniergeräten beladenen Lastwagen, der direkt im Loch stand, völlig zerfetzt. Einer meiner beiden Gesprächspartner lag einige Schritte entfernt da, tot und so zugerichtet, daß man besser nicht hinsah. Der zweite hatte sich neben mir hingeworfen und sich gleichzeitig mit mir erhoben. Er stand bleich vor mir und verharrte so, als erwarte er weitere Fragen. Zum Fragen war mir jedoch nicht mehr zumute, und ich ging zu meinem „Willys“, der an der ersten Umleitung parkte. Eine oder anderthalb Stunden später war ich schon im
eroberten Wyborg. Die Stadt brannte. Gleich bei der Einfahrt loderte an der Ecke einer breiten Straße ein Schreibwarengeschäft. Ich weiß nicht, ob es von einer Granate getroffen war oder ob es die Finnen in die Luft gejagt hatten, aber ich erinnere mich deutlich an die verstreut herumliegenden Papierpacken und Aktendeckel, die bei der Explosion auf die Straße geschleudert worden waren. Bis zum heutigen Tag kann ich es mir nicht verzeihen, daß ich nach meiner Rückkehr von der Karelischen Landenge nicht unverzüglich wieder an die Front gefahren bin, als unsere Offensive in Belorußland einsetzte. Wenn ich heute den Krieg rückschauend betrachte und alle vier Jahre überblicke, begreife ich nur zu gut, wie viele Gelegenheiten ich ungenutzt verstreichen ließ, aber besonders unzufrieden mit mir bin ich immer noch wegen meines Versäumnisses bei der belorussischen Operation, vielleicht auch darum, weil diese Operation bei Orscha, Mogiljow, Bobruisk, Borissow eröffnet wurde, jenen denkwürdigen Orten, wo für mich der Krieg begann.
20 Bis zum heutigen Tag verstehe ich mich nicht. Wie konnte ich ausgerechnet damals, als die Ereignisse einem Höhepunkt zustrebten, einen ganzen Monat in Moskau über einem Theaterstück versitzen? Nach außen hin war alles zu rechtfertigen. Einige Fahrten an die Front, ein Dutzend Berichte für die Zeitung, damals arbeitete ich an einem weiteren Kriegsstück,
das, wie damals angenommen wurde, die Theater dringend brauchten. Trotzdem finde ich es immer noch bedauerlich, diese Zeit in Moskau verbracht zu haben. Als ich Jahre später in einem Roman unseren Angriff auf Mogiljow schilderte, ohne selbst dabei gewesen zu sein, dachte ich immer und immer wieder: Soll doch der Kuckuck dieses Drama holen! An dem Stück „Tak i budet“ arbeitete ich täglich von morgens bis abends und setzte alles daran, die Arbeit so schnell wie möglich abzuschließen. Ende Juli reichte ich es beim Theater ein. Den nächsten Tag brach ich zur i. Belorussischen Front auf, und am dritten Tag nach der Einnahme von Lublin kam ich an. Ich fuhr zu den Truppen der 69. Armee des Generals Kolpaktschi, die südlich von Warschau zur Wisla vorstieß und eines der ersten Operationsgebiete am Westufer des Flusses bezog. Ich hielt mich nicht lange auf, zwei oder drei Tage. Dann hatte ich jenseits der Wisla genügend Material gesammelt und kehrte damit nach Lublin zurück, um einen Bericht zu schreiben. Sobald er fertig war, wollte ich ihn nach Moskau weiterleiten und danach wieder an die Wisla fahren. Es kam jedoch anders. Als ich mit einigen Korrespondenten zusammen beim Kommandanten war, hörte ich, wenige Kilometer von der Stadt entfernt befände sich ein geheimes Todeslager, und die ersten Informationen von dort seien nahezu unglaublich. Ich möchte bei dieser Gelegenheit etwas richtigstellen. In einem meiner Nachkriegsbüchlein schrieb ich, daß ich einen Tag nach der Befreiung Lublins in diesem Lager gewesen wäre. Tatsächlich war es aber einen
Tag nach meiner Rückkehr aus dem Operationsraum der 69. Armee. Vom Kommandanten fuhren wir direkt hin. Bei dem „geheimen Todeslager“ handelt es sich um Majdanek, in dem die SS nach höchsten Schätzungen mehr als zwei, nach Mindestberechnungen mehr als eine Million Menschen umbrachte und über dessen Greuel inzwischen Tausende von Artikeln und Hunderte von Büchern geschrieben wurden. Mein Bericht über dieses Lager war der erste. Was ich dort in wenigen Stunden meines Aufenthaltes hörte und sah, löschte zunächst einmal alles vordem Gesehene aus dem Gedächtnis. So blieb das Material, das ich bei meiner Fahrt an die Wisla gesammelt hatte, für die Berichterstattung ungenutzt. Ich hatte es vergessen. Ich verfolgte noch nicht erkaltete Spuren, erfuhr in Gesprächen mit überlebenden ehemaligen Häftlingen und den gefangenen Wächtern die schrecklichen Einzelheiten des Lageralltags und schrieb gewissenhaft wie ein Protokollant alles auf, was ich hörte und erblickte, so daß mir abends die Hand nicht mehr gehorchte. Ich habe mit eigenen Augen die Gaskammern gesehen, die Öfen des Krematoriums, die Überreste nicht ganz verbrannter Leichen, einen Schuppen voll Schuhwerk der Getöteten, die Galgen, die Dosen, in denen der Giftstoff „Zyklon“ enthalten war, die Schreibstuben, die mit den Ausweisen der in den Öfen verbrannten Menschen vollgestopft waren. Ich arbeitete zwanzig Stunden täglich, und allmählich gewöhnte ich mich daran, nach einer Woche war ich abgestumpft, aber am ersten Tag glaubte ich wahn-
sinnig zu werden. Wie gesagt, über Majdanek ist schon viel geschrieben worden, so daß ich weder andere noch mich selbst zitieren möchte. Meine Artikelserie „Ein Vernichtungslager“ war eine lange und ausführliche Darlegung alles Gesehenen und erschien an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen. Ich will nicht wiederholen, was heute allgemein bekannt ist. Nur einige Seiten meines Notizblocks, ursprüngliche Aufzeichnungen, führe ich an, damit mir der Leser nachfühlen kann, daß man bei einer ersten Konfrontation mit so massiven Tatsachen wirklich den Verstand verlieren kann. Mein Bleistift glitt übers Papier, während sich mein Kopf noch sträubte, zu glauben, was ich schrieb. Ein Vernichtungslager… Offiziell nannte es sich Lubliner Konzentrationslager der Waffen-SS… Auf dem ursprünglichen Bauplan stand „Lager Dachau Nr. 2“. Später verschwand diese Bezeichnung… Die ersten zweitausend Juden wurden im Herbst 1941 aus dem Lubliner Ghetto zum Bau des Lagers hergetrieben… Dezember 1941 Ankunft von siebenhundert Polen aus dem Lubliner Schloß und vierhundert polnischen Bauern, die an die Deutschen keine Steuern abgeführt hatten… April 1942. Transport von 12 000 Menschen aus der Slowakei: Juden und politische Häftlinge… Sommer 1942. Weitere 18 000 aus der Slowakei und aus Böhmen. Juli 1942. 1500 der Partisanentätigkeit beschuldigte Polen… August 1942. Eine große Gruppe politischer Häft-
linge aus Deutschland… Dezember 1942. Aus Oswiecim bei Krakow einige tausend Juden. Griechen. 17. Januar 1943. 1900 Polen, darunter 400 Frauen, aus Warschau. 2. Februar 1943. 950 Polen aus Lwow. 4. Februar 1943. 4000 Polen und Ukrainer aus Tarnopol. Mai 1943. Ankunft von 60000 aus dem Warschauer Ghetto. Sommer und Herbst 1943. Transporte, keiner unter 1000 Mann stark, in Abständen von zwei bis drei Tagen, aus deutschen Lagern: Sachsenhausen, Dachau, Flossenbürg, Buchenwald… Die Langerkanzlei. Auf dem Fußboden stapelweise Dokumente der Ermordeten aller Nationalitäten. Ich registriere Dokumente, die mir in zehn Minuten unter die Finger geraten; stoppe die Zeit nach der Uhr. Ein Ausweis. Sophia Jakowlewna Dussewitsch, geb. 1917 im Dorf Konstantinowka, Gebiet Kiew. Ein Dokument mit dem Stempel „Republique Francaise“. Eugene Duramee, ein Franzose, Metallarbeiter, geb. 22. IX. 1888 in Le Havre. Ralo Zunie, Mohammedaner, Zeugnis ausgestellt 1937 von einer Volksschule in Banja Luka. Ein chinesisches Dokument mit Photo und Hieroglyphen, die ich nicht entziffern kann. Ein kroatischer Paß. Jeteranovic, geboren in Zagreb, ausgestellt am 2. Januar 41. Jakob Borchardt, geboren am 10. November in Rotterdam. Eduardo Alfredo Sacca, geboren 1914 in Milano, Via Plimo 29; 1,75 groß, untersetzt, keine
besonderen Kennzeichen. Sawaranti, Grieche von der Insel Kreta, Ausweis Nr. 8544. Ferdinand Lotmann aus Berlin, Ingenieur, geboren am 19. August 1872. Arbeitsbuch mit dem Stempel „Generalgouvernement“, ausgestellt auf Zygmunt Remak, Pole, Arbeiter, geboren am 20. März, Krakow. Das alles in zehn Minuten, auf dem Fußboden eines Zimmers – ein papierner Grabhügel aus ganz Europa. Die Baracken der Wache. Saubere Vorgärten, Birkenholzsessel und -bänke. Das Soldatenheim – eine kleine Baracke. Bordell für die Wachen. Frauen nur aus dem Kreis der Häftlinge. Bei Anzeichen einer Schwangerschaft wurden die Frauen beseitigt. Die Entlausungsanstalt, in der mit „Zyklon“ vergast wurde. Fußboden, Decke, Wände: Beton. Quadratischer Raum, sechs mal sechs, zwei Meter hoch. Eine hermetisch schließende Stahltür, die einzige. Außerdem drei Öffnungen zwei für Rohre, ein Guckloch. Guckloch dick verglast, mit Stahlstäben vergittert. Ein kleiner betonierter Nebenraum, von dort ist durch das Fenster das Innere des Hauptraums zu sehen. Auf dem Fußboden runde, hermetisch verschlossene Büchsen mit der Aufschrift „Zyklon“, zur besonderen Verwendung in den „Ostgebieten“. Die nackten Menschen mußten dichtgedrängt in der großen Kammer stehen, durchschnittlich zweihundertfünfzig Personen. Hinter ihnen wurde die Stahltür verriegelt und an den Rändern mit Ton verkittet, um den Raum luftdicht abzuschließen. Ein Kommando mit Gasmasken leitete durch die Rohre „Zyklon“ in die Kammer. Nach dem Einströmen des Blausäure-
gases und dem Verschließen der Rohre beobachtete der diensthabende SS-Mann durch das Guckloch die Wirkung. Die Erstickungszeit betrug nach verschiedenen Zeugenaussagen zwei bis zehn Minuten. Das Guckloch war in Kopfhöhe der in der Kammer stehenden Menschen angebracht. Die Kammer wurde so vollgepfercht, daß die Toten nicht umfielen, sondern stehen blieben. Das Krematorium. In der Mitte eines öden Platzes ein viereckiger hoher Steinkamin. Daran anschließend ein langes, niedriges Rechteck aus Ziegeln. Daneben die Überreste eines zweiten Ziegelbaus. Ihn haben die Deutschen in Brand gesteckt. Leichengeruch, und der Geruch nach verbranntem Fleisch. Versengte Kleidungsstücke der letzten Gruppe, die sie umgebracht haben. In eine Wand des Nachbargebäudes sind einige Rohre eingemauert. Wenn die eigentliche Gaskammer nicht ausreichte, wurde ein Teil der Opfer hier, direkt neben dem Krematorium, vergast. Ein dritter Raum. Der ganze Fußboden ist mit halbverwesten Skeletten, Schädeln, Knochen bedeckt. Ein Haufen Knochen mit halbverkohlten Fleischresten. Das Krematorium besteht aus hochfeuerfesten Silikatsteinen. Fünf große Öfen. Fest schließende gußeiserne Türen. In den Öfen verkohlte Wirbel und Asche. Davor halbverbrannte Skelette. Vor drei Öfen Gerippe von Männern und Frauen, vor zweien die Gerippe von Kindern, zehn bis zwölf Jahre. In jeden Ofen wurden sechs Leichen gelegt. Wenn die sechste nicht mehr Platz hatte, hackte das Krematoriums-
kommando den störenden Körperteil ab. Berechnete Verbrennungsdauer: fünfundvierzig Minuten je Leichengruppe, bei Erhöhung der Temperatur fünfundzwanzig Minuten. Das Krematorium arbeitete wie ein Hochofen, pausenlos, es verbrannte durchschnittlich eintausendvierhundert Leichen am Tag. Die Baracke mit dem Schuhwerk. Siebzig Schritte lang, vierzig breit, bis an die Decke mit den Schuhen der Getöteten vollgestopft. Die Last hat ein Stück Wand eingedrückt. Wie viele es sind, weiß ich nicht, vielleicht eine Million, vielleicht mehr. Das Schrecklichste: Zehntausend Paar Kinderschuhe. Sandalen, Pantoffeln, Schnürschuhe von Zehnjährigen, von Einjährigen… Die Lagerordnung. Man quälte, indem man nicht schlafen ließ, nach der Arbeit durfte vor zehn Uhr abends niemand in die Baracken. Wenn jemand bei der Arbeit gestorben war und nicht gleich gefunden wurde, mußten alle übrigen in der Kälte stehen, solange er gesucht wurde, manchmal bis ein Uhr nachts. Morgens um vier wurden wieder alle in die Kälte gejagt, und sie mußten warten, bis es um sieben zur Arbeit ging. Während des Stehens starb ein Dutzend. Seit Herbst 1942 waren Kriegsgefangene zu den Arbeiten nicht mehr zugelassen. Sie erhielten gekürzte Rationen und starben noch schneller als die Häftlinge. Zum Morgenappell wurden die Toten aus den Baracken getragen. Viele brachte man durchs Lager direkt ins Krematorium… Auf dem Weg zum Krematorium wurden die Goldzähne gezogen… Von den Lastwagen floß Blut… Auf den Äckern waren Kohl und Kartoffeln mit Blut
bespritzt. Nichts geht verloren… In der Baracke ist ein transportabler Galgen mit Block… Er schlug die Häftlinge und riß ihnen die Goldzähne aus. Das haben bei einer Gegenüberstellung Polen ausgesagt. Auf der Suche nach Brillanten zog er auch Zähne mit Löchern – Theodor Scholen… Sie war von einer Manie besessen. Schlug Frauen mit der Reitpeitsche auf Brustwarzen und Geschlechtsorgane, nach fünf Minuten eine Blutlache auf dem Fußboden. Sie erhielt das Eiserne Kreuz – Lager… Die beiden letzten Eintragungen betreffen zwei SS-Leute, die wir fangen konnten und mit denen ich dort im Lager gesprochen habe. Den Namen des Mannes habe ich notiert, den der Aufseherin offenbar nicht – falls das einzelne Wort „Lager“, das ich damals hastig hinkritzelte, nicht ihr Name war. Auch das ist möglich… Selbst heute bringe ich es nicht fertig, diese Aufzeichnungen kaltblütig zu lesen. Ich führe nur einen Teil an, um eine Vorstellung von der ganzen Ungeheuerlichkeit zu geben, die sich Majdanek nannte. Als ich 1944 darüber für die Zeitung „Krasnaja Swesda“ schrieb, meinte ich, Fakten seien stärker als Emotionen. Daher war ich bestrebt, in einen Bericht so präzise wie möglich abzufassen. In einem Fall ließ ich mich jedoch durch die Aussage eines Augenzeugen täuschen. Ich glaubte der Behauptung, Leon Blum, der ehemalige Ministerpräsident Frankreichs, wäre in Majdanek umgekommen. Später stellte es sich als Versehen heraus. Leon Blum ist nie in Majdanek gewesen und in keinem Lager umgekommen, sondern war nach dem Krieg noch
einmal französischer Ministerpräsident. 1964 erwähnte ich in der Presse den Irrtum, der mir zwanzig Jahre vorher unterlaufen war, und fand ein unerwartetes Echo. Aus Berlin erhielt ich einen Brief mit der beigefügten Photokopie eines Schriftstücks. Ich möchte beides sinngemäß wiedergeben, Anmerkungen erübrigen sich in diesem Fall. Der Brief stammt von Professor Heymann und ist datiert: „Berlin, den 19. März 1964.“ Die Anrede lautet: „Sehr geehrter Genosse Simonow…“ In der Nummer 10 der „Neuen Zeit“ habe Professor Heymann meine Richtigstellung gelesen, Leon Blum wäre nicht in Majdanek gewesen. Er wisse aber nicht, ob mir bekannt sei, daß Leon Blum von den Nazis vorübergehend tatsächlich in einem Konzentrationslager inhaftiert war, und zwar in Buchenwald. Dort gab es außerhalb des eigentlichen Konzentrationslagers einige Steinbaracken für sogenannte Prominente. Unter diesen Häftlingen befanden sich Rudolf Breitscheid mit Frau (er wurde während eines Bombenangriffs im August 1944 leicht verwundet, danach von SS-Angehörigen im Splittergraben erschossen), die italienische Prinzessin Mafalda von Hessen (sie wurde ebenfalls umgebracht) und Leon Blum. Er wurde Ende 1944 oder Anfang 1945 entlassen. Das genaue Datum zu ermitteln sei noch nicht gelungen. Unter den Dokumenten der SS (auch der Professor sei Strafgefangener in Buchenwald gewesen und habe einer illegalen Parteigruppe angehört) hätten sie einen Brief gefunden, von dem er mir eine Photokopie schicke. Der Brief sei bezeichnend für die Lebensart der Leute vom Schlage Blum und für mich sicherlich
interessant. „Mit sozialistischem Gruß Professor Stefan Heymann.“ Der zweite Brief stammt von Leon Blum, trägt das Datum 10. 7. 1944 und beginnt mit der Anrede „Hochverehrter Herr Obersturmführer…“ Leon Blum sei gezwungen, seinen Besuch beim Zahnarzt um einige Tage zu verschieben, da er erneut unter Furunkeln und Exzemen zu leiden habe, die ihm sehr zu schaffen machten. Jetzt sei es jedoch absolut notwendig. Er wäre dem Obersturmführer sehr dankbar, wenn er geruhen könne, den Zahnarzt zu verständigen, und er erlaube sich, daran zu erinnern, wie nützlich es wäre, wenn Joachim sie als Dolmetscher begleiten könne. Er bitte den Herrn Obersturmführer, die Versicherung seiner aufrichtigen Grüße entgegenzunehmen. Das Datum dieses Briefes deckt sich fast mit der Zeit, als ich schrieb, daß Leon Blum in Majdanek gewesen sei. Bis heute bin ich nicht dahintergekommen, warum es damals in Majdanek einem alten Mann einfiel, sich als Leon Blum auszugeben. Vielleicht wollte er auf sich aufmerksam machen und sein Leben verlängern. Vielleicht war er auch einfach wahnsinnig geworden. In Majdanek wurden viele verrückt, jedenfalls ist die Episode bezeichnend für die Atmosphäre im Lager, und ich möchte hier im unverfälschten Wortlaut wiedergeben, was ich damals vom Gespräch mit Leuten notierte, die – nicht Leon Blum, sondern irgendeinen anderen, zutiefst unglücklichen alten Mann gesehen hatten.
Es war auf dem Baumateriallager. Ein Jude, den ich kannte, sagte: „Wissen Sie, wer dort kommt? Das ist Leon Blum.“ Ich sehe ihn mir an. Er war alt, gekrümmt, schleppte Bretter, seine Fingernägel waren herausgerissen. „Sie sind Blum?“ „Ja.“ „Wie sind Sie hergekommen?“ „Mit den anderen zusammen.“ „Warum haben Sie sich nicht in Sicherheit gebracht?“ „Ich beschloß, das Schicksal meines Volkes zu teilen.“ Er war schon sehr schwach, kam in einer Gruppe Franzosen an, trug einen gelbroten Stern mit dem Buchstaben „F“ in der Mitte und eine Nummer unter dem Stern. Er war zum Umfallen erschöpft, ging krumm. Die schweren Bretter drohten den Händen zu entgleiten, die Finger bluteten. Ich gab ihm mein Essen und sagte, er solle es verstecken, damit es mir nicht an den Kragen ginge, aber er trat hinter die Bretter und verschlang es gierig, zitternd. Gekleidet war er in einen Sträflingsanzug. Alles schlotterte um seinen Körper. Das war im April 1943. Er hatte schlohweißes Haar und eine Glatze, die sogar unter seiner Sträflingsmütze hervorschaute. Er weinte. Dem Aussehen nach war er siebzig. Sein rechter Arm hing wie gelähmt herab. Er nahm die Bretter und beugte sich nach einer Seite. Während er die Bretter vorbeitrug, stürzte er zweimal, aber er wurde aufgehoben. Einige Tage sah ich ihn nicht, und nach einer Woche erkundigte ich mich bei dem bekannten Juden nach ihm und erhielt zur Antwort: „Er ist dort, wo auch ich bald sein werde.“ Wo? Er zeigte
zum Himmel. Die hier angeführten Aufzeichnungen belegen noch eine weitere schreckliche Seite des Aufenthalts in Majdanek. Grausig waren nicht nur die Galgen, der Tod in dem unter Starkstrom stehenden Draht, waren nicht nur die Gaskammern und Krematorien, sondern das völlig ausweglose Dasein der Menschen, die es hierher verschlagen hatte. Da sie in einer Welt des Hungers und der Greuel dem unvermeidlichen Untergang geweiht waren, wurden viele so grenzenlos verzweifelt, daß ihnen der Tod als Erlösung erschien. Von diesem Schreckensregime berichtete mir Ende Juli, Anfang August 1944 der sowjetische Militärarzt Suren Baruttschew in der Baracke, die als Lagerlazarett gedient hatte. Seine Frau erhielt 1945 die Mitteilung, er wäre gefallen. „Ihr Mann, Major des medizinischen Dienstes, Suren Konstantinowitsch Baruttschew, starb den Heldentod und wurde im Dorf Morowoska beigesetzt…“ Tatsächlich aber war Baruttschew nicht gefallen und begraben, sondern in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten. Er wurde zuerst nach Orscha geschickt, dann nach Majdanek. Unter den dortigen unmenschlichen Bedingungen versuchte er immer noch, den ins Lagerlazarett eingewiesenen Häftlingen zu helfen, und rettete einigen von ihnen das Leben. Dieser nicht mehr junge Mann, der mit seinen fünfundvierzig Jahren aussah, als stehe er selbst am Rande des Grabes, beeindruckte mich durch seine Darstellung des furchtbaren Lageralltags so, daß ich
ihm riet, bei der ersten Gelegenheit alles zu Papier zu bringen. Und das hat er getan. Nach der Befreiung aus dem Lager erhielt er krankheitshalber Urlaub. Er kam nach Moskau und nutzte die Zeit, um seine Erinnerungen zu diktieren. Hierbei half ihm, mitfühlend und selbstlos, wie sie war, die erfahrenste Stenographin unserer Zeitung „Krasnaja Swesda“, die inzwischen verstorbene Musa Nikolajewna Kusko. Baruttschew bewältigte diese Arbeit, die er für seine Pflicht hielt. Dann fuhr er an die Front, um den Krieg in der Eigenschaft als Militärarzt fortzusetzen. Vor drei Jahren las ich mit dem Gefühl der Hochachtung für diesen Mann Auszüge seiner Erinnerungen, die im achten Band des Almanachs „Prometheus“ veröffentlicht wurden. Auch nach so langer Zeit war es noch eine schreckliche Lektüre. Nur schwer kann man sich vorstellen, daß dies alles einmal wirklich geschehen ist und daß es sich an einem Punkt zugetragen hat, der Majdanek heißt und in der Nähe von Lublin liegt und auf der Landkarte eingezeichnet ist. Ich füge hinzu, auch damals, während des Krieges, konnte man es sich schwer vorstellen. Als Zeuge möchte ich folgendes anführen. Bald nach der Befreiung des Lagers nahmen wir in den Kämpfen bei Lublin ein paar tausend deutsche Frontsoldaten gefangen. Auf Befehl unseres Kommandos wurden sie durch Majdanek, durch alle Objekte des Lagers, geführt. Damit verfolgten wir das Ziel, daß sie sich davon überzeugten, was die SS hier getan hatte. Ich war anwesend, und als ich die Gesichter der Soldaten sah, wurde mir klar, daß auch sie sich bislang keine
Vorstellung gemacht hatten. Jedenfalls kann ich das von der Mehrheit der Soldaten behaupten. Und dennoch hat es das alles gegeben… Am 12. August brachte die „Krasnaja Swesda“ den dritten, meinen letzten Beitrag über Majdanek. In derselben Woche organisierte die Gesellschaft für kulturelle Verbindung mit dem Ausland ein Treffen zwischen einigen Frontschriftstellern und den in Moskau akkreditierten ausländischen Korrespondenten. Ich sollte an diesem Abend die Eröffnungsrede halten. Mich erwartete keineswegs ein einfaches Publikum. Unter meinen Zuhörern gab es Leute, die uns durchaus wohlgesinnt waren, aber es gab auch andere, die uns äußerst kritisch gegenüberstanden. Außerdem fuhren sie weitaus seltener an die Front, als es die Redaktionen von ihnen forderten und als sie selbst wollten, wenigstens die meisten von ihnen. Wir, ihre Berufskollegen, befanden uns in einer viel glücklicheren Lage, was sie natürlich verärgerte und zu ironischen Bemerkungen veranlaßte. Das alles zusammen machte ein Gespräch mit ihnen recht heikel und schwierig. Ich bekam Lampenfieber und fixierte meine Rede im voraus schriftlich. Wie ich dem mir heute vorliegenden Wortlaut entnehme, sollte ich vor allem auf diejenigen Prosaschriftsteller eingehen, die zur Zeit des Krieges als Frontberichterstatter zentraler Blätter tätig waren, und ich hatte die Aufgabe, ihre Arbeit für die Zeitungen zu würdigen. Trotzdem war ich aber auch Dichter, und zum Schluß meiner Ausführungen brach es durch. Ich erwähnte die Verse von Olga Bergholz,
Leonid Perwomaiski, Arkadi Kuleschow und nannte sie Lyriker, „die alle Last des Krieges auf ihren Schultern getragen haben und sich darum nie zu einer Lüge erniedrigen werden“. Ich beendete meine Ansprache mit Twardowski: „Ich möchte gern das nach meiner persönlichen Meinung ernsthafteste und interessanteste Werk nennen, das im Kriege geschrieben wurde – das große Poem ,Wassili Tjorkin’ von Alexander Twardowski. Es ist ein Poem vom Soldaten, von seinem Leben, seinem militärischen Alltag, seinen Freuden und Nöten. Menschen, die diesen Krieg durchkämpft haben, die in den Schützengräben bei den Soldaten waren, wissen genausogut wie kommende Generationen, was die Wahrheit und die Unwahrheit über den Krieg ist. Twardowskis Poem, abgesehen davon, daß es aus guten, sauberen, vortrefflichen Versen besteht, ist vor allem die große und ungeschminkte menschliche Wahrheit über den Krieg. Es ist ein Werk, das lange Bestand haben wird. Hiervon bin ich darum überzeugt, weil es die Wahrheit über den Krieg ist. Die über den Krieg geschriebene Wahrheit lebt weiter, wann immer sie geschrieben wird, heute oder in fünfzehn Jahren, während die über den Krieg geschriebene Lüge sterben wird, und das ebenfalls unabhängig davon, ob sie heute oder in einem Jahrhundert entsteht…“ Am 20. August flog ich an die 2. Ukrainische Front, wo die Operation von Iasi-Kischinjow begann. Zu unserem Verdruß waren wir zwei Tage unterwegs. Ließ nun das Wetter zu wünschen übrig oder durften wir nicht weiterfliegen, weil sich die helle Zeit ihrem Ende näherte, jedenfalls saßen wir irgendwo fest und
mußten übernachten. Ehe wir mit dem endlich aufgetriebenen Wagen die vorrückenden Truppen erreicht hatten; war uns ein ganzer Tag verlorengegangen. Die erhalten gebliebenen Tagebuchaufzeichnungen beginnen bei Focani, wo wir die Truppen einholten. Die Straße von lasi über Tirgu-Frumos nach Focsani ist staubig, beschädigt, und obwohl breit, kommen wir stellenweise nur schwer weiter. Bald hier, bald dort schlängeln wir uns mit unserem „Willys“ zwischen zertrümmerten deutschen Wagen, Fuhrwerken, zerquetschten Pferden, Leichen herum. Man gewinnt den Eindruck, unsere Panzer hätten die deutschen Kolonnen nicht nur beschossen, sondern niedergewalzt. Besonders schlimm ist es vor Focsani. Es gibt dort die sogenannten Focani-Tore. Hier haben sich die Deutschen zu halten versucht. Rechts von der Straße steht ein hohes graues Granitdenkmal für die rumänischen Gefallenen des ersten Weltkrieges. Ein Postament aus Granit, darauf alte Feldgeschütze. Wir öffnen die mit Eisen beschlagene quietschende Tür, treten ein. Es ist kalt. An den Wänden Tausende von Namen, in den Nischen Helme und veraltete Gewehre. Wir nehmen die Mützen ab. Die da sind nicht schuld daran, was ihr Land im jetzigen Krieg gemacht hat. Wir fahren nach Focsani weiter und holen endlich die Panzer ein. Sie sind durchgebrochen, fast pausenlos vorwärtsgerollt. Focjani wurde vor wenigen Stunden genommen. Die Randbezirke stehen in Flammen, auf den Straßen brennende Autos, und von unserer Angriffsspitze heißt es, sie sei schon bei Rimnicul vorgestoßen, vierzig bis fünfzig
Kilometer von hier. Mehrspurig fahren unsere Wagen und Panzer, Lkws und MPi-Schützen, Flakgeschütze, Artillerie, Tankwagen, Lazarettwagen, Panzer und nochmals Panzer. So ein Dröhnen habe ich in meinem Leben noch nicht gehört, so eine Staubwolke nie gesehen. Der Staub steht als kompakte Wand vor uns. Um nicht aufzufahren, schalten wir die Scheinwerfer ein… Im Dorf Golenasci bleiben wir über Nacht. Ein alter Rumäne bewirtet uns in seinem Häuschen mit Schafkäse, Maisbrei und Wein. In der Dämmerung fahren wir weiter. Vor Rimnicul steht links von der Straße ein langer Transportzug auf den Gleisen: Waggons, Kesselwagen, Flachwagen mit neuen Panzern. Die Kesselwagen kommen wie gerufen für die Fahrer, die Panzer für die Bildberichterstatter. Als wir uns auf fünfzig Meter genähert haben, sehen wir, daß die Panzer aus Brettern und Furnierholz bestehen und gut getarnt sind. Vermutlich haben die Deutschen diese Attrappen an die Front geschickt, um sie unseren Flugzeugen als Scheinziele für ihre Luftangriffe anzubieten. In den Kesseln jedoch ist Benzin. Ein Fahrzeug nach dem anderen biegt von der Straße ab. Ein Starschina von uns steht auf einem Waggon; zwei rumänische Soldaten helfen ihm, mit einem Eimer an einem langen Strick Treibstoff aus dem Behälter zu schöpfen. Durch die Eimer ähnelt es einer Szene an einer Tränke. Wieder lavieren wir auf der Landstraße zwischen deutschen Autowracks und zerstörten Fuhrwerken und fahren schließlich in Rimnicul ein. Das ist ein so
sauberes und weißes Städtchen, daß ihm nicht einmal der Staub dieses Tages etwas anhaben kann. Blitzschnell haben die Panzer davon Besitz ergriffen; die Deutschen sind Hals über Kopf geflohen. Wir haben gehofft, den Kommandeur des Panzerkorps hier anzutreffen, aber wieder sehen wir uns getäuscht. Er ist schon weiter, hören wir, in Richtung Buzau. Bei der Stadt dort wird gekämpft. Wir verlassen Rimnicul, und plötzlich ist mir, als hätte ich eins mit einem Knüppel über den Schädel bekommen. Beinah fühle ich mich nach Majdanek zurückversetzt. Neben der Straße stehen, von Stacheldraht eingezäunt, solche graugrünen Baracken wie dort, nicht so viele, aber genau dieselbe Art, deutsche Standardausführung. Hier hatten die Deutschen ein Kriegsgefangenenlager eingerichtet, erfahren wir. Je weiter wir kommen, desto lauter ist das Grollen des Geschützdonners zu hören. Wieder versperren Hunderte von deutschen Fahrzeugen die Straße. Einige sind ausgebrannt, andere zerstört, die meisten jedoch intakt. Zahlreiche Personenwagen und Stabsbusse sind darunter. Sicherlich wurde hier der Stab einer deutschen Division, wenn nicht eines Armeekorps, überrumpelt. Vor nicht mal einer Stunde. Einige Wagen brennen noch lichterloh, aber ein deutscher Benzinwagen ist noch unversehrt, und die Fahrer verschaffen sich eine Reserve – für alle Fälle; ihre Fahrzeugtanks hatten sie schon bei dem Güterzug bis an den Verschluß gefüllt. Seltsames, törichtes, im ersten Augenblick unbegreifliches Gänsegeschnatter unter dem Verdeck eines verlassenen deutschen Lkws. Wir öffnen die Plane.
Ein absurder und erschreckender Anblick bietet sich. Im Wagen liegt ein toter Deutscher, wahrscheinlich ein Koch oder Soldat vom Troß, getötet durch einen Splitter, der die Plane durchschlagen hat. Aufgescheuchte Gänse umflattern die Leiche, und Ferkel rennen hin und her. Wir holen einige Panzer ein und nähern uns dem Fluß. Über der Straße lagert Staub, so daß wir wieder mit auf geblendeten Scheinwerfern fahren müssen. Eine dicke schwarze Schicht bedeckt alle Gesichter. Man könnte mit dem Zeigefinger darauf schreiben wie auf einem stark verstaubten Klavier. Die Deutschen, die ausbrechen wollen, schlagen sich verzweifelt, aber auch wir feuern erbarmungslos. Vor dem Fluß Buzaul gibt es wieder ein Gemetzel. Unsere Panzer haben vor der Brücke eine deutsche Kolonne überrollt, die Brücke bezwungen und verhindert, daß sie gesprengt wurde. Gerade wird auf der anderen Seite ein verlassener deutscher Munitionstransport in die Luft gejagt, irgendein deutsches Flakgeschütz ist herangeprescht und nimmt die Fahrzeugkolonne unter direkten Beschuß. Mit wenigen Granaten sind die Wagen in Brand geschossen, dann eine Explosionskette, eine geschlossene feuerspeiende Wand flammt drüben auf. Einige Panzer fahren am Ufer entlang und suchen eine Stelle zum Übersetzen, denn die Brücke ist vorerst nicht mehr passierbar. Wir folgen ihnen, hoffen dort irgendwo den Korpskommandeur zu finden. Jemand hat uns gesagt, er sei noch auf dieser Seite des Flusses. Doch wir suchen ihn umsonst in dem Gedränge an der Furt. In der Stadt toben noch
Kämpfe, der General soll jedoch schon übergesetzt und drüben in Buzau sein. Wir überqueren drei Rinnsale des stark ausgetrockneten Flusses. Es ist so heiß, daß man am liebsten aussteigen und sich ins Wasser werfen möchte. Leider fehlt dazu die Zeit. Am besten bewähren sich die „Studebaker“, sie gleiten wie Amphibienfahrzeuge durchs Wasser, aber auch unser „SIS“, ein Dreitonner, kriecht auf die andere Seite. Wir sind etwas schlechter dran, doch zu guter Letzt schaffen wir es ebenfalls. Drüben halten wir in einem Wäldchen am Ufer, unmittelbar vor Buzau. Das Gefecht um die Stadt dauert schon Stunden. Von Buzau ist es ein Katzensprung nach Ploiesti und nach Bukarest. Kein Wunder, daß die Deutschen verzweifelten Widerstand leisten. Buzau. Das Städtchen bietet einen merkwürdigen Anblick, als wäre auf einigen Straßen Krieg, auf anderen nicht. Hier sehen die Einwohner zu den Türen und Toren heraus, einer hat sogar die Jalousie vor dem Schaufenster seines Ladens aufgezogen. Dort knattern MPis, färbt sich das Pflaster rot, liegen Tote neben verlassenen Geschützen. Wir durchqueren die Stadt zum Südrand, wohin sich der Kommandeur des Panzerkorps bereits begeben hat. Stellenweise gibt es in den Häusern und Kellern noch Widerstandsnester der Deutschen, aber der größte Teil der Panzer hat die Stadt hinter sich gelassen und befindet sich auf dem Wege nach Ploiesti und Bukarest. Den General Saweljew, Korpskommandeur, treffen wir auf dem Hof des vorletzten Hauses, bei der Ausfahrt. Für den Fall
aller Fälle stehen einige Panzerwagen und Panzer bereit. Hinter uns knattern bald schwächer, bald stärker, aber pausenlos automatische Waffen. Wir fragen den General, wie es um Buzau steht und was das Geknatter zu bedeuten hat, aber er mag darüber nicht sprechen. Buzau ist ihm uninteressant, er hält das alles für Vergangenheit. Ihn beschäftigen der weitere Vormarsch auf Ploiesti, die bevorstehende Besetzung des großen Flugplatzes in der Nähe von Buzau. Die Hauptsache aber ist die Versorgung der Panzer mit Treibstoff. Ein Ansturm auf Ploiesti steht bevor. Bis zu seinem Beginn, für die Vorbereitung, stehen nur Stunden zur Verfügung, aber die Panzer kommen gerade aus dem Kampf und nehmen Treibstoff auf. Übrigens, ungeachtet der Eile vollzieht sich im Stab der Panzertruppen alles ruhig, ohne Hast. Dennoch verspüre ich gerade hier bei diesem Halt das ganze Ungestüm unseres Vormarsches mehr noch als unterwegs. Darin, daß der Korpsstab so hart an den. Panzern bleibt und ihnen durch die noch nicht gesäuberte Stadt gefolgt ist, sehe ich weniger einen Ausdruck von Mut – das natürlich auch –, in der Hauptsache aber eine militärische Notwendigkeit: Bei der Truppe sein, die Verbindung nicht abreißen lassen. Die Wagen stehen fahrbereit, in zehn Minuten kann der Stab wieder aufbrechen. Aus dem Haus werden einige Tische auf den Hof gebracht; dort wird über Karten gearbeitet. Ich habe das Gefühl, alle vermeiden es instinktiv, ein Gebäude aufzusuchen. Hat man erst ein Dach überm Kopf,
dauert’s länger. Sie aber wollen auf dem Sprung bleiben. Einen kurzen Halt, und weiter. Es vermittelt einen Eindruck, wie zügig wir uns bewegen. Zwanzig Schritte weiter liegen tote deutsche MPi-Schützen am Zaun; sie sind auf diesem Hof gefallen. Oberst Ossadtschi, Kommandeur eines motorisierten Schützenregiments, meldet dem General, welche Maßnahmen er ergreift, um Buzau endgültig von den Deutschen zu säubern. Immer wieder kommt jemand auf den Hof gegangen oder gefahren, um dem General zu melden. Ein Oberstleutnant mit fesch gezwirbeltem Schnurrbart tritt heran. Seine Panzer haben unweit der Stadt sechsunddreißig deutsche Flugzeuge unschädlich gemacht, einen Teil bei der Erstürmung des Flugplatzes am Boden zerstört, der Rest ist ihnen unversehrt in die Hände gefallen. „Die bewußten.“ Der Oberstleutnant blinzelt bedeutungsvoll. „Welche bewußten?“ „Die uns gestern und vorgestern auf der Straße so zugesetzt haben. Die Gefangenen sagen, sie seien es gewesen.“ Der Oberstleutnant hat dort etwa dreihundert Gefangene gemacht, ist dann über den Flugplatz zur Bahnlinie vorgestoßen und hat zweitausend Leute aus einem Zug befreit. Die Deutschen hatten sie aus Bessarabien zum Stellungsbau zwangsverpflichtet und wollten sie wohl gerade nach Siebenbürgen weitertreiben. Die Berichte liefern ein allgemeines Bild von den Kämpfen um Buzau. Die Deutschen wollten diesen Knotenpunkt unbedingt halten, um ihre nach Westen
drängenden Kolonnen hier durchzuschleusen. Doch unsere Panzer haben die Artillerie- und Panzerkräfte der deutschen Nachhut vernichtet und sind zu zurückweichenden Kolonnen vorgestoßen, die sie stellenweise auf dem Marsch überraschten. Nach ersten Berechnungen sind in und um Buzau drei- bis viertausend Deutsche gefallen. Was sich heute hier zeigt, ist ein Teil des Gesamtbildes. Nach dem Durchbruch bei Iasi bewegen sich unsere Truppen die rumänische Landkarte abwärts. Sie benutzen die wichtigsten Straßen, die aus nördlicher Richtung nach Süd und Südwest führen. Die Deutschen, von diesen Verbindungswegen verdrängt und zwischen ihnen eingekeilt, suchen ihr Heil darin, die Ausläufer der Karpaten zu erreichen, das Gebirge zu überqueren und durch Siebenbürgen nach Ungarn auszuweichen. Und je weiter wir vordringen, desto häufiger finden solche Kreuzgefechte statt. Wir stoßen nach Süden vor, den nach Westen flutenden Deutschen in die Flanke. Das ist der Anfang zahlreicher Tragödien, wie sich eine gerade bei Buzau abgespielt hat. Dort, wo sich die Deutschen bei diesen Zusammenstößen als überlegen erweisen, fegen sie mit eisernem Besen. Besonders schlecht ergeht es den Trossen. Dort, wo wir die Stärkeren sind, beginnen wir eine erbarmungslose Vernichtungsaktion. Die deutschen Kolonnen sind nicht immer schwach; manchmal haben sie fünf oder zehn oder fünfzehn Panzer bei sich, auch „Tiger“ und „Panther“. Außerdem schleppen sie die Reste ihrer Artillerie mit. Am häufigsten sind ihre Flakgeschütze unversehrt, damit schießen sie auf unsere Panzer.
Heute waren gegen unsere Panzer bei Buzau zwei Flakregimenter eingesetzt und haben uns beträchtlichen Schaden zugefügt. Während wir hierüber sprechen, wird der Kommandeur dieser deutschen Flakdivision in den Stab geführt. Seine Regimenter haben gerade noch gekämpft. Vor fünfzehn Minuten ist er auf dem Flugplatz bei Buzau in Gefangenschaft geraten, als er mit seinem Fieseler „Storch“ landete. Er ist nicht mehr jung, und ihm wird die Luft knapp nach dem schnellen Lauf. Seine Dienstgradabzeichen sitzen auf dem Hemd, das er in die Reithosen gesteckt hat. Der Oberst wirkt verstört, bewahrt jedoch soldatische Würde. Hans Simon heißt er, seit 1914 in der Armee, Kommandeur einer selbständigen Flakdivision. Er wollte mit dem Flug die Lage erkunden, erklärt er. Die Verbindung zu seinen beiden Regimentern sei unterbrochen gewesen. Er wäre nie auf die Idee gekommen, daß wir schon über den Fluß gesetzt haben könnten. Er ist verstimmt wie jemand, der zu Unrecht geprügelt wird. Was man verstehen kann. Aus eigenem Antrieb in Gefangenschaft fliegen – das ist wahrhaftig eine dumme Geschichte. Und doch ist es nur eine persönliche Variante von vielen in dieser ausweglosen Lage, in die wir die Deutschen hier versetzt haben. Als Kontrast fallen mir die ersten Tage des Krieges ein und der erste gefangene deutsche Pilot. Er wurde bei Mogiljow abgeschossen, lief durch die Wälder nach Osten in Richtung Smolensk, weil nach dem ihm bekannten Plan die deutsche Armee in Smolensk sein mußte. Die Zeiten ändern sich…
Viele Jahre nach dem Sieg schickte mir ein Leser, der auch an der Front war, einen Brief. In erstaunlich treffender Kürze schätzte er die Veränderungen zwischen dem Beginn und dem Ende des Krieges ein: „Der Geist einer Armee auf dem Rückzug unterscheidet sich stark vom Geist einer Armee auf dem Vormarsch, Ich habe beides aus eigener Erfahrung kennengelernt.“ Auch die Deutschen mußten das eine wie das andere an sich selbst erfahren. Allerdings in umgekehrter Reihenfolge. Ehe wir uns nach Ploiesti in Bewegung setzen, nehmen alle Stabsmitglieder ihr Essen ein. Alle hocken sich hin, wo gerade Platz ist, einige auch auf die platten Motorhauben der „Willys“. In der Stadt knattern erneut automatische Waffen. Nicht weit von hier, im Zentrum der Stadt, schießt eine Kanone. Der General beachtet es nicht. Er ißt. Ich aber kann mich nicht beherrschen und frage. Da unterbricht er widerstrebend seine Tätigkeit und erklärt mir, in einem alten Turm hätten sich die Deutschen festgesetzt, und als es ihm – kürzlich erst – gemeldet wurde, habe er befohlen, Menschenleben zu schonen, ein Geschütz heranzufahren und den Turm zu beschießen: Das geschehe jetzt. Nach fünfzehn Minuten endet der Beschuß. Der Himmel hat sich verfinstert, und dort, -wo die Kanone gefeuert hat, brennt es. Eine schmale gelbliche Flamme reckt sich wie ein Finger empor. Die Panzer sind schon nach Ploiesti weitergefahren. Die „Willys“ und die gepanzerten Schützenwagen rollen einer nach dem anderen vom Hof. Der Stab ist
im Aufbruch begriffen. Wir schlagen den Weg nach Bukarest ein. Ich möchte das 5. mechanisierte Korps des Generals Wolkow einholen. Gestern habe ich erfahren, er sei der Wolkow, dem ich bei Kertsch begegnet bin. Wir erreichen das Korps in einem kleinen rumänischen Dorf. Von hier sind es nur noch dreißig Kilometer zum Knotenpunkt Urziceni, der letzten größeren Ortschaft vor Bukarest. Die Panzersoldaten haben es eilig. Sie stellen ihre „Willys“ am Straßenrand ab und erteilen ihre Befehle vom Wagen. Fünf Minuten später, und ich hätte sie nicht mehr angetroffen. Ich nähere mich dem Auto des Generals. Es ist tatsächlich Michail Wassiljewitsch Wolkow, den ich auf der Halbinsel Kertsch mehrmals gesehen habe, als er dort Kommandeur einer Gebirgsschützen-division war. Ich entsinne mich nicht zuletzt darum so gut, weil er beim Ausbruch einer Panik alle Leute, die er zu fassen kriegte – darunter auch mich – zu einer Kette aufstellte, damit wir die Flüchtlinge aufhielten. Ich erinnere ihn daran. Er lacht breit, nimmt die Mütze ab, zaust sich müde das Haar auf dem staubigen Kopf, und als er lange geschwiegen hat, so daß ich schon glaube, er werde nichts erwidern, antwortet er mit einem groben, aber entwaffnend treffenden Wort und definiert damit alles, was in unserer gemeinsamen Erinnerung mit dem Frühling 1942 auf der Halbinsel Kertsch zusammenhängt. Dem fügt er nichts hinzu, die Sache ist erschöpfend behandelt und abgetan. Für ihn ist es wahrhaftig keine Kleinigkeit, sich mit Erinnerungen abzugeben. Morgen, wenn nicht schon
heute, muß sein Korps in Bukarest einrücken. Eine Viertelstunde später werde ich Zeuge eines Gesprächs zwischen Wolkow und dem ersten Vertreter des rumänischen Generalstabs, der auf dieser Straße bei unseren Truppen aufgetaucht ist. In Bukarest wurde schon vor einigen Tagen erklärt, daß die Rumänen nicht mehr gegen uns kämpften, sondern im Gegenteil dazu übergingen, die Waffen gegen die Deutschen zu richten. Wie dem auch sei, zunächst ist dieser rumänische Oberleutnant der einzige, der sich bei den Panzersoldaten eingefunden hat. Sein grünes Barett weist ihn als Angehörigen eines Gebirgsjägerregiments aus; er ist noch jung und spricht gut russisch. Mit Wolkow unterhält er sich schon zum zweitenmal. Er ist von zwei rumänischen Generalen – Vertretern des Generalstabs – hergeschickt worden. Die beiden warten in irgendeinem Dorf bei Urziceni. Unsere haben einen eigenen Vertreter, einen Stabsoffizier, entsandt, der den Rumänen in einem Schützenpanzerwagen begleitete. Auf dem Weg zu den Generalen gerieten sie unterwegs jedoch unter Beschuß. Von Osten nach Westen hat eine deutsche Kolonne die Chaussee überquert. Das ist auch der Grund, weshalb Wolkow auf der Straße hier stehengeblieben ist. Er gab Befehl, diese Kolonne vor uns zu zerschlagen, und erwartet die Vollzugsmeldung. Der rumänische Oberleutnant ist zu ihm gekommen, weil er um seine Generale bangt. Dann kommt die Meldung, die deutsche Kolonne – vier Panzer und einige hundert MPi-Schützen, die einen großen Troß begleiteten, seien entweder vernichtet oder zersprengt, am wahrscheinlichsten aber
beides. Wolkow fährt weiter, und wir fahren mit. Bald stoßen wir auf ein in diesen Tagen gewohntes Bild, die Spuren einer zerschlagenen deutschen Kolonne. Auf der Straße Leichen, zerstörte Fuhrwerke. Zu beiden Seiten der Straße stehen je zwei deutsche Panzer auf dem Feld. Vermutlich waren sie Kopf und Schwanz der Kolonne. Im Vorüberfahren kann ich es durch den Staub nicht genau erkennen, aber mir scheint, daß sie nicht ausgebrannt, sondern einfach manövrierunfähig geschossen und verlassen wurden. Wir erreichen den Bahnhof von Urziceni. Wolkow fährt gleich in die Stadt, während wir aussteigen und über die Gleise laufen, zusammen mit Oberst Schalunow, der auf der Bahnstation für Ordnung sorgen soll. Einige Züge sind zusammengestellt; die Lokomotiven stehen unter Dampf; Tausende von rumänischen Soldaten belagern sämtliche Schienen und Rampen. Fast alle haben Waffen. Es handelt sich um Truppenteile der 3. rumänischen Armee, deren Stab in der Stadt Urziceni untergebracht war. Ein korpulenter Eisenbahner mit zweireihigem Uniformrock und Schirmmütze tritt an Oberst Schalunow heran und erstattet Meldung. Nach seiner Mitteilung sind die Gleise in Ordnung und die Züge zur Abfahrt bereit. Die Kesselwagen sind allerdings nicht mit Erdöl gefüllt, sondern mit Pökelfleisch, so daß wir nicht wie bei Rimnicul tanken können. Vier Züge sind aus Braila eingetroffen. Sie befördern rumänische Soldaten, der eine Zug Kriegsgefangene von uns, die zu Kriegsbeginn hergetrieben wurden, um Erdarbeiten zu verrichten, und Bessarabier.
Der Kommandant des Zuges, ein rumänischer Oberst, kommt zu Schalunow und fragt verwirrt, was er tun solle. Schalunow sagt, sämtliche Kriegsgefangenen seien sofort zu übergeben. Dann treten die Bessarabier heran. Sie tragen rumänische Uniform, aber keine Waffen und haben offenbar Arbeitsbataillonen angehört. Nun erkundigen sie sich auf russisch nach ihren Aufgaben. Am liebsten möchten sie in die Armee aufgenommen werden. Schalunow schwankt zunächst, weiß nicht so recht, wie er entscheiden soll, aber dann sagt er ihnen, sie hätten sich nach Buzau zu begeben, dort befänden sich die rückwärtigen Dienste unseres Korps, dort würde man sich ihrer annehmen. Auf Schalunows Befehl wird ein Leutnant, Kommandeur eines MPi-Zuges, Bahnhofskommandant und handelt sofort, indem er die Wachposten ernennt. Ein Telegraphist kommt angerannt und meldet über den Dolmetscher: Eine Station, zwanzig Kilometer von hier, gebe durch, eine zweitausend Mann starke Kolonne der Deutschen bewege sich auf Urziceni zu. Der Telegraphist und der Dolmetscher sind kopflos, Schalunow aber bleibt die Ruhe in Person. Er schreibt die Meldung schnell auf einen Zettel, läßt ihn mit einem „Willys“ an den General überbringen und geht weiter seinen Aufgaben nach. Wir fahren in die Stadt. In einem Gebäude auf dem Bahnhofsvorplatz treffen wir Wolkow. Er verhandelt mit den Vertretern der rumänischen Seite, Divisionsgeneral Stojanescu und Brigadegeneral Dima. Es sind die beiden Generale, von denen ich schon gehört habe. Sie haben das Warten in dem vereinbarten Dorf aufgegeben und sind hierher in die Stadt gekommen.
Der Anblick, der sich mir in dem kleinen Zimmer bietet, wäre für einen Maler wahrscheinlich interessanter als für einen Schriftsteller. Die beiden rumänischen Generale sind mit lack- und nickelblitzenden „Buicks“ vorgefahren, während Wolkow seinem verstaubten „Willys“ entsteigt; die rumänischen Generale, fesch, wie aus dem Ei gepellt, gepflegt, ihre Gesichter von der Sonne kaum angehaucht – Wolkow bis zum Hals in seine staubbedeckte Panzerkleidung geschnürt, ohne Rangabzeichen, ohne Orden, braungebrannt. Er war sicher schon vorher gebräunt, aber nach der Vierhundert-Kilometer-Strecke, die er hinter sich gebracht hat, erinnert sein Teint an einen Ziegel. Das Gespräch mit den rumänischen Generalen führt Wolkow höflich, aber bestimmt. Er gibt ihnen einige Gefechtsfahrzeuge zum Geleit mit und schickt sie zu weiteren Verhandlungen in den Stab, der Armee. Sein Befehl lautet, gegen die Deutschen zu kämpfen, er erklärt ihnen, zu politischen Verhandlungen mit den Rumänen sei er nicht ermächtigt. Nur eine praktische Forderung erhebt er. Die Generale sollen die Ordnung auf der Straße wiederherstellen helfen, sie von rumänischen Militärtranpsorten, Fuhrwerken und Soldaten räumen, damit es bis Bukarest keine Stauung mehr gebe – und kein Hindernis, abgesehen von den Deutschen, falls wir ihnen noch einmal begegnen sollten. Die Rumänen entfernen sich mit unserer Eskorte. Wolkow gibt dem Kommandeur eines Panzerregiments den Befehl, eine von Osten heranziehende Kolonne der Deutschen zu zerschmettern, ehe sie die Bahnstation erreicht. Er leert fünf Glas eiskaltes Wasser und fährt weiter in
Richtung Bukarest. Die letzte Nacht vor dem Einmarsch in Bukarest. Der Stab des Korps hat in einem Dorf haltgemacht, unmittelbar neben der Landstraße. Die Nacht ist warm, die Leute gehen nicht in die Häuser, sie schlafen bei ihren Fahrzeugen in einem Wäldchen. Im Laufe des Tages sollen alle umherstreifenden Gruppen der Deutschen zerschlagen oder gefangengenommen worden sein. Für alle Fälle aber bilden die Panzer einen Kreis und schirmen den Stab ab. Der Mais steht so hoch, daß die Türme kaum zu sehen sind. Ein Uhr nachts. Wolkow hat mich zu sich ins Zelt gebeten. Wir sitzen dort mit dem Stabschef an einem provisorisch zusammengezimmerten Tisch und trinken Tee, gemächlich, auf Moskauer Art. Wolkow fallen fast die Augen zu, aber er überwindet sich. In einer halben Stunde muß er zum Armeebefehlshaber fahren und vor Einrücken in Bukarest letzte Informationen entgegennehmen. Als er von mir hört, daß die Korrespondenten nach Moskau zurückkehren, sobald wir in Bukarest sind, schreibt er eine kurze Mitteilung für seine Frau. Dann begibt sich Wolkow zum Befehlshaber, und wir suchen das Aufklärungsbataillon auf. Es liegt nur drei Kilometer vor der Stadtgrenze. Ein wenig haben wir geschlafen, als wir um halb sechs aufstehen. Es ist warm und diesig, die Straße grau, Staub bedeckt die Bäume. Die Soldaten reiben die Panzerwagen mit Lappen und Maisstengel ab, sie wollen sie möglichst sauber putzen. Ein Fahrer wäscht sich nach dieser Reinigung. Ein alter Bauer
gießt ihm Wasser auf die Hände und über den Kopf. Das Gefäß, das er benutzt, sieht aus wie ein Gletschik bei uns in der Ukraine. Die Bäuerin steht dabei und hält die Panzerkappe so behutsam, als wäre es ein gußeiserner Topf, der zu Bruch gehen könnte. Die Fahrzeuge sind schon zur Straße vorgezogen worden. Auch die Bauern stehen in einer Reihe dort und sehen den Panzerfahrern zu. Hauptmann Plotnikow, der Kommandeur des Aufklärungsbataillons, ist vier Jahre jünger als ich. Bei Beginn der Offensive war er vierundzwanzig. Fünfundzwanzig wurde er während des Vormarsches. Er kommt aus dem Ural, ein ruhiger Vertreter. In zwölf Tagen hat das Bataillon nach seinen Ermittlungen zweitausend Deutsche außer Gefecht gesetzt und über dreitausend gefangengenommen. Hierüber und über die nächtlichen Kämpfe hat er gelassen gesprochen, jetzt aber schreitet er auf der Straße aufgeregt die Kolonne ab. Was immer er sonst erlebt hat – in die Hauptstadt eines fremden Landes rückt er das erstemal ein, gewiß nicht das letztemal. Endlich ein Pfiff und ein Kommando – aufgesessen! Wir fahren mit den anderen ab. Die letzten ländlichen Flechtzäune, der letzte Mais, über zwei Meter hohe Sonnenblumen. Und schon sind wir in der Vorstadt. Kanarienfarbene Tankstellen, Aushängeschilder von Kaufläden und Frisörgeschäften. Eine Schlosserwerkstatt. Der Meister hört den Motorenlärm und eilt auf die Straße, einen Petroleumkocher in den Händen. Die erste Bukarester Straßenbahn, gelb. Eine Biegung. Der Wagen verlangsamt das Tempo. Und da
hat sich eine Menschenmenge gebildet. Blumensträuße werden auf die Wagen geworfen. Im ersten Schützenpanzerwagen fängt ein Soldat einen Strauß auf und befestigt ihn am vorderen Schild. Rufe: „Hurra! Kamerad! Towaristschi! Sdrawstwuite…“ Noch eine Kurve. Vor uns eine lange und breite Straße. Da wären wir in Bukarest… Hiermit enden meine Notizen von dieser Fahrt. Zu einem großen Teil sind sie in meine Berichte eingeflossen. Beinah wörtlich hat auch meine Beschreibung Hauptmann Plotnikows vom Aufklärungsbataillon Eingang gefunden. Über sein weiteres Schicksal konnte ich lange nichts erfahren, doch plötzlich erhielt ich einen Brief. „… Vor fast zwanzig Jahren, im September 1944, waren Sie am Stadtrand von Bukarest beim 14. Gardeaufklärungsbataillon, das ich befehligte, D. P. Plotnikow, damals Hauptmann. Ich bitte um Entschuldigung, wenn ich Ihre Zeit in Anspruch nehme, aber ich möchte Ihnen kurz etwas mitteilen oder zu Ihren Worten Stellung nehmen: ,Was immer er sonst erlebt hat – in die Hauptstadt eines fremden Landes rückt er das erstemal ein, gewiß nicht das letztemal.’ Ja, es ist alles eingetroffen. Für die Beteiligung an der Befreiung Rumäniens erhielten wir den Titel ,Gardebataillon’, und ich wurde zum Major befördert. Das Bataillon war in den Kämpfen nördlich Budapest beteiligt, womit es zur Einnahme der Stadt beitrug. Das Bataillon überschritt als erste Truppe der 3. Ukrainischen Front die österreichisch-ungarische Grenze, im Kreis Köszeg, und wurde im Befehl des Obersten Befehlshabers Nr. 316
vom 28. März 1945 hervorgehoben. Das Bataillon war an Straßenkämpfen in Wien, der österreichischen Hauptstadt, beteiligt. Für seine Gefechte auf dem Territorium Ungarns und Österreichs wurde das Bataillon mit dem Kutusoworden Stufe I ausgezeichnet, und am 10. Mai rückte das Bataillon um vier Uhr morgens aus südlicher Richtung in die Hauptstadt der Tschechoslowakei, Prag, ein, und am 11. Mai fand bei der Ortschaft Breznice, östlich von Plzen, die Begegnung mit den damals verbündeten amerikanischen Truppen statt. Dann ging es nach Osten. Das Bataillon überschritt den Großen Chingan und rückte nach den Luftlandetruppen als erste Einheit der Bodentruppen in Mukden ein, Hauptstadt der Mandschurei. Es erhielt den Titel ,Mukdener’. Über sechshundert Orden und Ehrenzeichen schmückten die Brust der Angehörigen des Aufklärungsbataillons. Mir als ehemaligen Bataillonskommandeur ist es angenehm, an meine Kampfgefährten und an den gemeinsam zurückgelegten Weg zu denken…“ Michail Wassiljewitsch Wolkow, Kommandeur des Korps, habe ich nicht wiedergesehen, und es ist mir auch nicht gelungen, in Briefverbindung mit ihm zu treten. Den weiteren Weg des Korps kann ich jedoch dem Brief des Bataillonskommandeurs Plotnikow entnehmen; denn es war derselbe Weg. Zuerst Prag, dann Mukden. Und wenn ich die Etappen vor Bukarest betrachte, so waren es die Einkesselung der Deutschen bei Kor-
sun-Schewtschenkowski, die Kämpfe um die Befreiung des Smolensker Raums, die Stalingrader Schlacht… Und schließlich gibt es in der Kaderakte des Generalleutnants der Panzertruppen Wolkow eine aufschlußreiche Notiz, die beweist, daß es seine 77. Gebirgsschützendivision war, die bei Kertsch zuerst den Abzug unter den Schlägen der 47. Armee deckte und dann sicherstellte, daß alle Truppenteile sowie die nichtorganisierten Gruppen von der Halbinsel Kertsch nach der Halbinsel Taman übergesetzt wurden. Eben wegen dieser Handlungen wurde Oberst Wolkow zum Generalmajor befördert. Die Tatsache ist bemerkenswert, besonders wenn man sie gegen den Hintergrund der harten Direktive des Hauptquartiers sieht, der zufolge wegen des Mißerfolgs der Kertscher Operation Mechlis, Koslow und einige andere in diesen selben Tagen ihrer Funktionen enthoben und degradiert wurden. Wieder mal ein Beweis dafür, daß auch unter den ungünstigsten und dramatischsten Umständen die verschiedenen Menschen unterschiedlich kämpfen.
22 An dem Tage, als unsere Truppen in Bukarest einzogen, bewiesen die Redaktionen der Moskauer Zeitungen eine beneidenswerte Regsamkeit. Wir fuhren in unserem „Willys“ mit den Panzersoldaten durch die Straßen der Stadt, da erblickten wir plötzlich auf einem Platz einen Menschenauflauf um einen
Lkw. Einige Männer warfen Zeitungsstapel in die Menge, die ihnen förmlich aus den Händen gerissen wurden. Wir fuhren näher heran und erkannten sie. Unter ihnen befand sich Alexander Kriwizki, einer meiner engsten Mitarbeiter bei der „Krasnaja Swesda“. Alles, was an diesem Tage in Bukarest geschah, war Ereignis von großer politischer Tragweite. Daher hatten sich die Moskauer Redaktionen entschlossen, zusätzlich zu ihren Korrespondenten, die bei den vorgehenden Truppen der 2. und 3. Ukrainischen Front arbeiteten, einige Kollegen von Moskau direkt nach Bukarest zu fliegen. Für den Transport war ihnen ein Bomber vom Typ „Boston“ zur Verfügung gestellt worden, der am frühen Morgen eine Ladung frischer Moskauer Blätter vom 31. August an Bord genommen und sie mit den Korrespondenten befördert hatte. Diese Zeitungen wurden jetzt auf dem Bukarester Platz dort verteilt. Die Ankömmlinge sollten in Bukarest so schnell wie möglich erstes, brennend heißes Material sammeln und mit demselben Flugzeug am Abend nach Moskau zurückfliegen, damit die entsprechenden Berichte in der nächsten Nummer der Zeitung erscheinen konnten. Ich – und nicht nur ich – wollte diese unverhoffte Gelegenheit ergreifen, nach Moskau zurückzukehren. Natürlich war der Bomber unzweckmäßig beladen, nicht durch Übergewicht – Bomben sind schwerer als Korrespondenten –, sondern hinsichtlich des Fassungsvermögens. Der Flugzeugrumpf war für so viele Passagiere nicht geräumig genug, und wir hockten während des Rückflugs buchstäblich aufei-
nander. Nach der Landung begab ich mich noch am selben Abend in die Redaktion, um meinen ersten Bericht über diese zwölf Tage in die Maschine zu diktieren, wobei ich nicht mit dem Anfang, sondern mit dem Ende begann. Ich fing damit an, wie Hauptmann Plotnikow und sein Aufklärungsbataillon auf Bukarest vorrückten. Schon am Morgen des 1. September erschien ein Bericht in der Zeitung, danach – am 3. und 5. September – wurden die übrigen gedruckt, und eine Woche später flog ich wieder nach Bukarest. Meine weiteren Pläne hingen davon ab, wie sich die Umstände entwickelten, und das ließ sich nicht von Moskau aus, sondern nur an Ort und Stelle erkunden. Die Sache war die, daß ich mir nach meinem Eintreffen in Moskau in den Kopf gesetzt hatte, unbedingt die jugoslawischen Partisanen aufzusuchen, um mit eigenen Augen die Menschen zu sehen, deren Mut bei uns in der Armee bewundert wurde. Anfangs hoffte ich, in der Moskauer Redaktion sofort eine Fluggenehmigung zu erhalten und zu erfahren, wie ich nach Jugoslawien gelangen konnte. Jedoch war das alles nicht so einfach. Der Gedanke wurde in der Redaktion gutgeheißen, und inoffiziell gab man seine Zustimmung, aber auf welchem Wege und über wen ich mit den Jugoslawen in Verbindung treten konnte, blieb meiner eigenen Findigkeit überlassen. Klar war nur, daß ich mich an eine der beiden in Richtung auf die jugoslawische Grenze vorrückenden Fronten begeben mußte, der i. oder der 3. Ukrainischen. Nachdem ich in der Redaktion die übliche Abkom-
mandierung zur kämpfenden Truppe erhalten hatte, startete ich am 13. August und kehrte erst zwei Monate später nach Moskau zurück. Die Zwischenzeit verbrachte ich in Rumänien, Bulgarien, Jugoslawien und Italien. Diese Reise fand ihren Niederschlag in Zeitungsberichten und Erzählungen, die später als Sammelband unter dem Titel „Jugoslawisches Tagebuch“ erschienen, ferner in meinen Tagebuchaufzeichnungen und Notizen. Vieles hielt ich jedoch nicht fest. In diesen Fällen muß ich mich bei der Rekonstruktion der Ereignisse ausschließlich auf mein Gedächtnis verlassen. Beim Abflug aus Moskau wußte ich bereits, daß unsere Truppen vier Tage zuvor in Bulgarien einmarschiert waren, daß es zu keinerlei Kampfhandlungen zwischen unseren und den bulgarischen Streitkräften gekommen war, daß die alte Regierung gestürzt war, die neue Deutschland den Krieg erklärt hatte und unsere Truppen von der Bevölkerung freudig begrüßt wurden. Ich brauche wohl nicht zu beteuern, wie gern ich Bulgarien besuchen wollte, obwohl die Korrespondenten der „Krasnaja Swesda“, die an der 3. Ukrainischen Front arbeiteten, schon dort waren. Nachdem ich mir unterwegs alles noch einmal hatte durch den Kopf gehen lassen – und Zeit dazu war reichlich vorhanden, denn der Flug bis Bukarest dauerte wieder zwei volle Tage –, faßte ich den Vorsatz, zunächst nach Bulgarien zu fahren, sofern sich in Bukarest keine Möglichkeit für einen Jugoslawienaufenthalt abzeichnen sollte. Dann würde ich klarer sehen und sicherlich eine Gelegenheit finden, mich den jugos-
lawischen Partisanen anzuschließen. Das verhieß mir ein Blick auf die Landkarte. Bei meiner Landung in Bukarest konnte ich nichts erfahren, aber am folgenden Tag, dem 16. September, wurde bekanntgegeben, daß unsere Truppen tags zuvor in Sofia eingerückt seien, und ich entschloß mich, unverzüglich hinzufahren. An dieser Stelle setzen meine ersten Tagebuchaufzeichnungen ein. Es gelang mir, über die Offiziere unseres Fuhrparks einen „Mercedes“ samt Fahrer zu ergattern. Wir fuhren mit zwei Wagen nach Sofia, in dem einen Jewgeni Kriger und ich, in dem anderen, der unserem haargenau glich, ein Oberst und ein Leutnant von der Kfz-Verwaltung. Am 17. brachen wir um sechzehn Uhr nach Giurgju auf, um dort über die Donau nach Ruse überzusetzen. Die Straße zwischen Bukarest und Giufgiu war vorzüglich, eine glatte, zu beiden Seiten von uralten Pappeln gesäumte Allee. Unterwegs begegneten wir dem Kameramann Kritschewski, der mit erstem Material zurückkehrte. Er schilderte uns die Situation in Sofia und warnte uns vor dem Treibstoffmangel in Bulgarien. So hielten wir es für zweckmäßig, uns reichlich mit Benzin einzudecken, bevor wir die Grenze des an Erdöl so reichen Rumänien überquerten. Das war jedoch leichter gesagt als getan, und wir mußten viel Zeit vertrödeln, ehe alle Tanks und Gefäße gefüllt waren. Abendbrot aßen wir auf einem Schiffchen, das in einer Bucht der Donau lag. Dieses Fahrzeug war der Stützpunkt des ersten Flottenchefs (so gewichtig
bezeichnete sich der Unterleutnant, der uns zu sich schleppte). Nach dem Essen machte er uns mit einem bulgarischen Oberleutnant bekannt. Dieser Offizier hatte vor dem Krieg in einem Zivilberuf gearbeitet, war schwer verwundet worden und verbrachte nun in Ruse eine Art Urlaub. Als wir Rumänien besetzt und an der Donau haltgemacht hatten, ohne nach Bulgarien vorzudringen, war der Oberleutnant über die Donau gekommen. Seinen Worten nach war er antifaschistisch eingestellt und hatte offenbar seine Gründe gehabt, sich zu uns abzusetzen, doch jetzt befand er sich in einer zwielichtigen Lage; er lebte weder als Gast noch als Gefangener auf diesem Schiffchen des Flottenchefs. Sein weiteres Schicksal bereitete ihm Sorgen, und er bat unseren Kfz-Oberst, dem Kriegsminister in Sofia einen Brief zu übergeben, in dem er die Motive seines Grenzübertritts darlegte und darum ersuchte, wieder in die „nunmehr revolutionäre Armee Bulgariens“, wie er schrieb, aufgenommen zu werden. Ein kleiner, intelligent aussehender Mann mit einem schmalen schwarzen Schnurrbart. Ganz genesen war er noch nicht nach seiner Verwundung. Er wirkte erregt, preßte fortgesetzt die Finger zusammen, sprach nur bulgarisch, doch ich konnte mich davon überzeugen, daß ich bei angespannter Aufmerksamkeit einen erheblichen Teil dessen verstand, was dieser Bulgare – der erste, dem ich begegnete – sagte. Nach dem Abendessen wollte uns der Flottenchef überreden, bei ihm auf dem Schiff zu übernachten und am nächsten Morgen nach Ruse überzusetzen.
Wir hatten jedoch unsere Gründe, nicht auf seinen Vorschlag einzugehen, und kehrten zur Fähre zurück. Sie setzte gerade ans andere Ufer über, mit dem keine Telephonverbindung bestand, und so lange wir auch warteten, sie kehrte nicht zurück. Wir mußten in den Autos schlafen. Als am Morgen von der bulgarischen Seite die erste Fähre kam, dauerte das Übersetzen vierzig Minuten. Ruse erstreckt sich malerisch bis direkt zum Donauufer. Am Rand der Stadt befinden sich Ruinen einer alten türkischen Festung. Nach dem Übersetzen frühstückten wir im städtischen Restaurant. Hohe Zimmerdecken, große Fenster, Holzstühle. Am Büfett Büchsen, Flaschen, an den Wänden selbstgefertigte Bildchen mit Sprüchen vom Nutz und Frommen des Trinkens. Wie unter Korrespondenten üblich, stritten wir uns vor Antritt der Fahrt, welche Straße die kürzeste und beste sei, und wählten natürlich die längste und schlechteste. Da wir uns unterwegs entschieden, einen Abstecher nach Pleven zu machen, folgten wir Dutzende von Kilometern ausgefahrenen Wagenspuren. Ich war an „Willys“ gewöhnt und fürchtete um unsere Fahrzeuge. Sie brachen zwar nicht zusammen, aber eine Panne hatten wir trotzdem, wir fuhren uns Nägel ein, mußten aussteigen und Luft aufpumpen. Während des Halts umringte uns eine lärmende Schar Dorfkinder. Zwei der Schreihälse verschwanden, und zehn Minuten später kam ein alter Mann, der in jeder Hand eine große Melone hielt. Er trat heran, legte die Melonen schweigend auf die Erde, verneigte sich,
bedeutete uns mit einer Geste, von den Früchten zu kosten, und entfernte sich bescheiden, um unser Mahl nicht zu stören. Pleven erreichten wir um die Mittagszeit, eine Stadt etwa von der Größe Rjasans oder Kalugas, recht hübsch und über und über mit bulgarischen und sowjetischen Fahnen geschmückt. Auf den Straßen wimmelte es von Menschen. Sie sahen aus, als ob sie etwas Besonderes, etwas äußerst Wichtiges tun wollten, sich vorerst jedoch zurückhielten. Es war kaum ein Wort zu verstehen. Eine Menschenmenge stand um den Wagen herum. Auf jede Frage antworteten zehn Leute gleichzeitig. Sie sprachen im Chor und durcheinander, so daß wir nur mit Mühe folgen konnten. Schließlich näherte sich ein Auto mit zwei riesigen Buchstaben auf der Windschutzscheibe: OF – Vaterländische Front. Drei bewaffnete bulgarische Partisanen stiegen aus und sagten, sie wollten uns den Weg weisen und alles Wichtige zeigen. Der Ranghöchste von ihnen war der Kommandeur der Plevener Partisanenabteilung. Wir passierten den Stadtpark mit einem Denkmal Alexanders II. und einem Skobelewdenkmal und hielten vor der Gedächtniskirche für die gefallenen Helden der Schlacht von Pleven. Nachdem wir den gepflegten Kirchgarten durchquert hatten, betraten wir das Gebäude. Noch wußten wir nicht, was uns erwartete. Auf den ersten Blick war es eine Kirche wie jede andere, doch in den Nebenaltären standen merkwürdige Behälter, Glassärge, die zu drei Vierteln mit Schädeln und Knochen gefüllt waren – den Gebeinen der bei der Belagerung von
Pleven gefallenen Soldaten. An den Wänden hingen alte Fahnen, russische, bulgarische und rumänische. Schweigend standen wir da, bis wir aufgefordert wurden, uns ins Gästebuch einzutragen. Bevor ich dem Vorschlag folgte, blätterte ich darin. Wer hatte dort nicht alles eingeschrieben. Von unserem Bevollmächtigten Vertreter Lawristschew bis zu Pjotr Struwe. Dann unternahmen wir einen Gang um die Kirche. In die Wände waren große Marmortafeln eingelassen, darauf wurden die russischen Regimenter aufgezählt, die an der Belagerung von Pleven beteiligt waren, auch die Namen der hierbei gefallenen Offiziere, während die getöteten Soldaten nicht namentlich genannt wurden, es war nur angeführt, wieviel tote Soldaten jedes Regiment zu beklagen hatte. In eine Wand war die gleiche marmorne Gedächtnistafel mit den rumänischen Truppenteilen eingesetzt, die bei der Belagerung Plevens beteiligt waren. In den Kriegsjahren hatte sich unter uns eine Einstellung herausgebildet, mit der man bei der Betrachtung dieser Gedächtnistafel nur schwer glauben konnte, daß die Rumänen damals mit uns gemeinsam gegen die Türken für die Befreiung der Bulgaren zu Felde gezogen waren. Als wir Pleven verließen, beschlossen der Vertreter des Komitees der Vaterländischen Front und seine Partisanen, uns zu begleiten. Brüllend überholten sie uns in Richtung Sofia und schlugen ein wahnwitziges Tempo an, wie es Leute gern tun, die erstmals einen Wagen zur Verfügung haben und den Prozeß der Fahrt selbst freudig genießen. Nach zwanzig Kilo-
metern stoppten sie, warteten auf uns, drückten uns die Hände, und wir fuhren allein weiter… Die Straße von Pleven nach Sofia ist gut, aber ob das in Giurgiu getankte Benzin schuld ist oder ob die Motoren streiken – jedenfalls rasen wir an den abschüssigen Stellen verwegen vorwärts, während wir die Steigungen kaum nehmen können. Wir fahren mit vollen Scheinwerfern. Zu beiden Seiten der Straße blinken anheimelnd Lichter. Bei einer Steigung nicke ich ein und erwache erst wieder, als der Wagen hält. Wir stehen in einem kleinen Gebirgsort. Meine Reisegefährten haben sich durch hell erleuchtete Fenster unmittelbar an der Straße blenden lassen und in der Hoffnung gestoppt, eine Dorfschenke vorzufinden. Ich bin völlig durchgefroren und steige aus, ohne den Filzumhang abzulegen. Ich habe ihn vor anderthalb Jahren ganz prosaisch und schon recht zerschlissen in Tbilissi gekauft, und er hat mir gute Dienste geleistet, als Decke, als Kopfkissen, als Pelerine, als Übermantel. Ich habe mich längst an ihn gewöhnt, aber hier, in dem bulgarischen Dorf, macht er einen geradezu faszinierenden Eindruck auf die Jungen, die ungeachtet der vorgerückten Stunde um mich herumspazieren. Die vermeintliche Kneipe erweist sich als kleiner Dorfladen. Ein Tisch, zwei Bänke, ein grober hölzerner Ladentisch; darauf und dahinter – in Regalen – die ganze verfügbare Ware: Gürtel, Hosenträger, zwei Dutzend Rollen Garn, einige Taschentücher, eine Suppenschüssel und verschiedene Kleinigkeiten – Gebrauchsgegenstände aus dem bäuerlichen Alltag.
Als ich aufwachte, war unser flinker Kfz-Oberst schon im Laden. Dann beteuert er, wir würden auf unsere Kosten kommen. Skeptisch betrachte ich das Warenangebot und kann mir nicht vorstellen, was hier aufgetafelt werden könnte. Dann fällt mir ein, daß es sich um ein – wenn auch kleines – Privatunternehmen handelt, und ich wundere mich nicht mehr. Vom Hof werden zwei Tische hereingeräumt und aneinandergerückt, die Bänke darangestellt. Alle fassen zu, es sind eine Menge Leute. Der Laden dient wohl als Dorfklub, wo man abends zu einem Schwätzchen zusammenkommt. Der Oberst bestellt Rührei für uns. Er kennt das bulgarische Wort dafür zwar nicht, und die Bulgaren verstehen das russische Wort nicht. Jedoch nach einigen anschaulichen Körperverrenkungen nicken die Leute, und wir glauben, wir werden unser Rührei erhalten. Zwanzig Minuten später bringen sie zwei Flaschen bulgarischen Sliwowitz und gebratene Wurst, die in der Pfanne brutzelt, und sie stellen es vor uns hin. Rührei aber wird nicht aufgetragen. Der Oberst, der sich Rührei in den Kopf gesetzt hat, versucht zu ergründen, warum sie vielversprechend nickten und uns nun keins bringen. Da stellt sich heraus, daß wir nicht die ersten Gäste sind, die dieses Kopfnicken mißverstanden haben. Wenn die Bulgaren nicken – eine Geste, die bei anderen Völkern Zustimmung bedeutet und soviel wie „ja“ heißt –, meinen Sie „nein“. Und umgekehrt. Niemand will uns übers Ohr hauen. Rührei haben sie nicht, und demzufolge haben sie es auch nicht versprochen.
Also machen wir uns über die Wurst her. Sie ist hausgemacht und schmeckt ähnlich wie die ukrainische, nur daß sie etwa dreimal so scharf ist. Die Ladenbesitzer verhalten sich unaufdringlich und fürsorglich. Es geht ihnen ausschließlich um unser leibliches Wohl. Nach wenigen Minuten jedoch tritt ein mittelgroßer alter Mann mit schwarzen Haaren und großem, schneeweißem Schnurrbart ein. Er setzt sich zu uns und hält eine lange Rede nach der anderen, stellt dabei immer wieder das Schnapsglas hin. Wir haben schon Mühe, die Bulgaren überhaupt zu verstehen, wenn sie langsam und deutlich und nicht in einem Atemzug sprechen. Dieser alte Mann aber spricht sehr schnell und so leidenschaftlich, daß uns beinahe jedes Wort entgeht, aber um ihn nicht zu kränken, nicken wir eifrig. Später erst kommt mir der Gedanke, daß sich dieser alte Bulgare wahrscheinlich darum so ereifert, weil er unser zustimmendes Nicken für Widerspruch hält und meint, daß wir mit seinen Worten nicht einverstanden wären. Die Gedanken des Mannes beschreiben offenbar einen großen Bogen. Hin und wieder können wir ein vertrautes Wort erhaschen: Stalin, Roosevelt, Churchill und verschiedene geographische Eigennamen, die von Stalingrad und Tobruk bis Pleven und Zargard reichen. Allmählich begreife ich, daß er eine ganze Serie von politischen Referaten hält, deren Tendenz offenbar zu unseren Gunsten verläuft. Je länger der Alte spricht, desto mehr beunruhigt und ärgert seine Beredsamkeit die Ladenbesitzer. Ihre Hauptsorge ist, daß wir in Ruhe essen und trinken,
aber gerade das verhindert der Alte. Um seinen Worten mehr Nachdruck zu verleihen, packt er bald den einen, bald den anderen am Schulterriemen und schüttelt ihn, wobei er ihm etwas besonders Wichtiges erläutern will. Nach etwa einer Stunde wollen wir bezahlen, aber unsere Wirtsleute weigern sich kategorisch, das Geld anzunehmen. Zuerst reden sie beide durcheinander, dann schreien sie uns an und gebärden sich so stürmisch wie der Alte. Da begreifen wir, daß wir das Geld schleunigst einstecken müssen, wenn wir sie nicht beleidigen wollen. Wir bedanken uns, steigen ins Auto und entfernen uns von diesem Haus mit den beiden hübschen, gelb schimmernden Fensterchen. Ich schlafe wieder ein und erwache bei der Einfahrt in die Stadt. Als ich die Augen aufmache, erblicke ich vor mir das gestreifte Häuschen des Kontrollpostens und dahinter im Glanz der runden Lampen eine nicht verdunkelte Straße. Es ist schon eine denkwürdige Minute. Eine seltsamerweise nicht verdunkelte Straße zu sehen, brennende Laternen und Fahrzeuge, die uns mit grell aufgeblendeten Scheinwerfern entgegenkommen… Zwei Uhr nachts. Der zweite Wagen ist zurückgeblieben. Wir stehen am Sofioter Schlagbaum und warten auf ihn. Die Einfahrt zur Stadt und die Straße, soweit wir sie von hier überschauen können, sind nicht zerstört. Die ungewohnte Beleuchtung verleiht allem einen festlichen Glanz, und ich vermag mir noch nicht vorzustellen, wie Sofia morgen früh, bei Tageslicht, aussehen wird. Eine halbe Stunde harren wir dort aus; dann hinterlassen wir beim Wachposten
eine Notiz. Wir seien zum Hotel „Bolgarija“ weitergefahren. Das hatte uns Kritschewski bei unserer Begegnung genannt. Richtig wird sich mir die Stadt erst morgen zeigen, aber schon jetzt, in der Nacht, springen die zerstörten, eingestürzten Häuser ins Auge, und die Ruinen häufen sich, je näher wir dem Zentrum kommen. Endlich gelangen wir durch die erleuchtete, aber verödete Stadt zum Hotel „Bolgarija“. Es bietet einen sonderbaren Anblick. Die Fassade steht unversehrt, doch in dem Gebäude ist es kalt und ungemütlich. Kein Pförtner, niemand in der Rezeption, keine Menschenseele. Doch auf einem Sofa hinter dem Schreibpult schläft ein bulgarischer Unteroffizier. Wir rütteln ihn wach, und er sagt uns auf bulgarisch, daß er allein ist. Das Hotel sei zerstört, weder Wasser noch eine Scheibe in den Fenstern noch ein bewohnbares Zimmer. Kriger und der Fahrer bleiben im Hotel. Ich gehe hinaus, biege um die Ecke in eine Seitengasse, die nach einem Luftangriff voller Mauerschutt liegt, gelange zum Gebäude der ehemaligen russischen Botschaft. Dort treffe ich einige Offiziere, die anfangs sehr geheimnisvoll tun und meine Fragen nach ihrer Person nur widerstrebend beantworten. Aus alldem schließe ich, daß ich gefunden habe, was ich suchte, und meine Vermutung bestätigt sich. In diesem Haus ist jetzt der Stab Generaloberst Birjusows untergebracht, Chef des Stabes der 3. Ukrainischen Front, der in Sofia gegenwärtig unsere Armee und unsere Regierung vertritt. Ich werde zu seinem Adjutanten geführt, aber Birjusow ist soeben erst, zur nächtlichen Stunde, von einer
ausgedehnten Fahrt zurückgekehrt. Man erklärt mir, wo ich General Anoschin finden kann, Chef der Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front, und rät mir, ihn aufzusuchen. Ich gehe ins Hotel zurück, hole den Wagen und fahre mit Kriger zu Anoschin. Nach einigen Irrfahrten durch die unbekannte Stadt bin ich in der richtigen Straße und vor dem gewünschten Einfamilienhaus. Ich erkläre Anoschin den Zweck meines Besuches und sage ihm, mich interessiere alles in bezug auf Sofia, außerdem aber, und das sei die Hauptsache, wolle ich eine Möglichkeit erkunden, von bulgarischem Territorium aus die im serbischen Grenzgebiet operierenden jugoslawischen Partisaneneinheiten zu erreichen. Eingedenk der Ermahnungen Kritschewskis frage ich, mit wem ich jetzt hier in Bulgarien rechnen könne und mit wem nicht, insbesondere, ob es sinnvoll sei, sich an den Propagandaminister zu wenden, den unsere Korrespondenten vor zwei Tagen interviewt haben. Es ist vier Uhr morgens. Anoschin hört mir müde zu. Die Frage nach den Jugoslawen läßt er unbeantwortet. Zu der zweiten Angelegenheit meint er: Wenn der Propagandaminister andere Korrespondenten empfangen habe, müßte es doch möglich sein, bei ihm vorzusprechen. Er läßt seinen Adjutanten kommen und legt ihm ans Herz, was er für das Wichtigste hält: Uns im Hotel unterzubringen. Zu mir sagt er abgespannt und formelhaft: „Ja, das war’s dann wohl.“ Ich begleite den Adjutanten. Fünfzehn Minuten später hat er alle für die Einquartierung erforderlichen Formalitäten erledigt, und um fünf Uhr ziehen wir wieder ins „Bolgarija“ ein. Diesmal
wird uns ein Zimmer im dritten Stock zugewiesen. Im Vestibül sitzt immer noch der bulgarische Unteroffizier. Auf dem Treppenabsatz der zweiten Etage steht ein Posten, der uns eine Ehrenbezeigung erweist und forsch die Hacken zusammenknallt. Im dritten Stock liegt die Lifttür, die durch die Druckwelle herausgeschleudert wurde, dahinter gähnt der eingestürzte Fahrstuhlschacht. Irgendwo am Ende mündet der Gang ins Leere. In der Wand klafft ein Loch. Bei Bedarf kann man vom dritten Stock auf die Erde springen. In dem Zimmer, das wir betreten, brennt Licht. Die Toilette ist außer Betrieb. Über dem Waschbecken funktioniert die Warmwasserleitung. Bis auf eine fehlen sämtliche Fensterscheiben. Die blauen Vorhänge, die der Wind bauscht, flattern wie Fahnen. Wir sind beunruhigt wegen unserer zurückgebliebenen Gefährten, aber nach zehn Minuten erscheinen der Major und der Leutnant im Zimmer, und hundemüde kriechen wir auf Diwan und Bett, wo wir ungeachtet des Windes, der durch den Raum streicht, in einen totenähnlichen Schlaf sinken. Nach drei Stunden wachen wir auf. Ein freundlicher Morgen. Der Oberst und der Leutnant entfernen sich und gehen ihren Kfz-Angelegenheiten nach. Kriger und ich suchen das untengelegene Cafe auf, um etwas Eßbares zu finden oder jemand von unseren Kollegen Korrespondenten zu treffen. In dem halbleeren Cafe ruft mich Anatoli Grigorjew an, Korrespondent der „Frontowaja Illjustrazija“, Er macht mich mit Major Suchow bekannt, Frontkorrespondent der TASS, einem hageren, sorgsam frisierten jungen Mann etwa
meines Alters. Beim Frühstück erfahre ich, daß Konstantin Nikolajewitsch Suchow meine Gedichte kennt und – was weitaus wichtiger ist – die bulgarische Sprache gut beherrscht. Er hat als Presseattache in unserer Botschaft gearbeitet und erklärt sich scherzhaft bereit, während meines Aufenthaltes in Bulgarien fortan mein Schutzengel zu sein, was zu meinem Vergnügen dann auch geschieht. Nicht nur einen Tag verbringe ich in der Gesellschaft dieses taktvollen und klugen Menschen, der das Bulgarische so gut beherrscht. Der erste Tag vergeht bei angestrengter Arbeit wie im Fluge. Wir lernen einige bulgarische Journalisten kennen, Redakteure linker Blätter, dann fahren wir zum Stab einer bulgarischen Partisanenabteilung. Die Partisanenabteilung liegt in einem großen Schulhof, etwa zweihundert Männer und Mädchen, fast alle sind sie noch jung, zwanzig bis zweiundzwanzig Jahre, sehr einheitlich gekleidet, aber einer wie der andere ist bis an die Zähne bewaffnet. Was haben sie nicht alles aufzuweisen! Die unterschiedlichsten Gewehre, deutsche MPis, Pistolen – der eine hat von jeder Waffe eine, der andere hat je zwei – und MG-Gurte und Handgranaten sämtlicher Systeme. Ich habe die ersten bewaffneten Arbeiterabteilungen zu Beginn des Bürgerkrieges in Spanien nicht gesehen, doch diese Einheit junger Bulgaren scheint ihnen zu ähneln. Der Kommandeur wendet sich mit knappen Worten an die Partisanen, und die Abteilung, die schnell angetreten ist, marschiert im Gleichschritt auf die Straße. Heute ist eine Parade der Partisanenbrigade
geplant, der sie angehört. Nach unserem Besuch bei der Abteilung fahren wir weiter, um uns Sofia anzusehen. Am Tage wirkt die Stadt weitaus bedrückender als in der Nacht. Kaum hatte die zaristische bulgarische Regierung den Engländern und Amerikanern einen sogenannten „prinzipiellen“ Krieg erklärt, um damit der unzufriedenen Bevölkerung einzureden, daß diese Kriegserklärung lediglich eine unter deutschem Druck zustande gekommene ideologische Geste sei, da hatten die Engländer und Amerikaner nichts Eiligeres zu tun, als Sofia wiederholt zu bombardieren, und dreimal so schwer, daß sie das Leben in der Stadt lahmlegten und ganze Straßenzüge in Ruinenfelder verwandelten. Andere Straßen, besonders die engen Gassen. sind so verschüttet, daß kein Wagen durchkommt. Dort gibt es nur ausgetretene Fußgängerpfade, die durch die Trümmer führen. Auf ihnen gelangt über Schutthaufen hinweg der eine zum anderen. Trotzdem vermitteln die allgemeinen Konturen der Stadt, die breiten Hauptstraßen, die frischen Grünanlagen ungeachtet aller Zerstörungen eine Vorstellung davon, wie schön sie vor den Bombardierungen war. Wen könnte da die Feststellung überraschen, daß die Bulgaren jetzt die Engländer und Amerikaner, die seit unserem Einmarsch scharenweise in die Stadt strömen, ohne besondere Sympathie betrachten! Unsere Militärbehörden wollen offenbar keinen Präzedenzfall schaffen und lassen nur wenige von unseren Journalisten einreisen; gegenwärtig halten sich viel-
leicht fünf oder sechs in der Stadt auf. Ihnen stehen jedoch mindestens dreißig britische und amerikanische gegenüber. Einige sind mit dem Flugzeug aus Italien gekommen, andere aus Rumänien, der Rest vor allem aus der Türkei. Auch ist nahezu das gesamte britische und amerikanische diplomatische Korps, das sich in der Türkei befand, kurzfristig hierher übergesiedelt. Wieviel der Korrespondenten tatsächlich Korrespondenten sind und wie viele ganz andere Berufe ausüben, vermag ich nicht zu beurteilen, aber ich glaube, daß die zweite Gruppe überwiegt… Als ich gegen Mittag höre, daß auf den Flugplätzen unsere Flieger der Luftarmee des Generals Sudez stationiert sind, fällt mir ein, daß eine Jagdfliegerdivision dieser Armee von meinem alten Freund Boris Smirnow befehligt wird, und ich fahre zum Sofioter Zentralflugplatz, der den in unseren Ohren so schrecklich klingenden Namen „Wrashdebna“ trägt. Bei einer unserer Begegnungen hat mir Boris eröffnet, daß seine Jagdfliegerdivision Flugplätze oder Fluggelände in unmittelbarer Frontnähe bevorzuge, so daß er sich angesichts der Lage durchaus bei Sofia befinden kann. Ich erreiche den Flugplatz, der direkt am Stadtrand liegt. Ich muß jedoch erfahren, daß sich Smirnow gegenwärtig auf einem Flugplatz westlich der Stadt aufhält, auf dem sogenannten Letischte Boshurisohte an der Straße nach Pirot. Letischte bedeutet „Flugplatz, und „letak“ ist das bulgarische Wort für Flieger. Ich lasse mich mit Smirnow verbinden, aber als ich beim Divisionsstab ankomme, befindet sich
Smirnow auf dem Flugfeld. Ich gehe zu ihm. Freudige Umarmung. Boris hat sich kaum verändert, doch zu den sechs früheren Orden, die er für seinen Einsatz in Spanien, in der Mongolei und im jetzigen Krieg erhalten hat, sind seit unserem letzten Wiedersehen zwei weitere gekommen. Sonst ist er der Alte geblieben. Trotz seiner Tuberkulose sieht er gut aus, er hat nur etwas abgenommen. Ich frage ihn aus, was sie hier so machen. Auf diesem Flugplatz, sagt er, liege er mit einer bulgarischen Fliegergruppe, die zu ihm als dem Divisionskommandeur operative Verbindung unterhalte und mit seinen Leuten gemeinsam operiere. Ich erkundige mich nach den bulgarischen Piloten. Boris lobt sie. Sie seien gut, sagt er, und gelassen, mit gewohnter Weitschweifigkeit erklärt er, daß das keineswegs verwunderlich sei. Fast jeder bulgarische Flieger habe sieben bis acht Dienstjahre und Tausende von Flugstunden hinter sich. Die bulgarischen Luftstreitkräfte hätten in diesem Krieg keinerlei Verluste erlitten und beständen somit ausschließlich aus erfahrenen Kadern. Und was die Maschinen betreffe, so sei die bulgarische Luftwaffe wie die bulgarische Armee mit deutscher Technik ausgerüstet. Als Bomber hätten sie Ju 88 und Ju 87 und als Jagdflugzeuge Me 109. „Natürlich nicht die neuesten aus der Messerschmittproduktion.“ Boris lacht auf. „Trotzdem keine schlechten Maschinen.“ „Und wohin fliegt ihr jetzt von Sofia?“ fragte ich ihn. „Wir… Was heißt, wohin? Nach Griechenland fliegen wir, nach Jugoslawien…“ Seine und die bulgarischen Jäger unternehmen seit einigen Tagen Tiefflüge nach Norden und Nordwe-
sten – von Griechenland über Jugoslawien – gegen deutsche Kolonnen… Nach meinen ersten Eindrücken und meinen ersten Gesprächen in Sofia scheint die Lage an der Front kompliziert und verworren zu sein. Bis unmittelbar zu dem Zeitpunkt, als Bulgarien aus dem Krieg austrat, gab es in Makedonien und Thrakien ein bulgarisches Expeditionskorps, das nicht nur mit deutschen Einheiten vermischt war, sondern auch gemeinsam mit ihnen operierte. Jetzt, nachdem Bulgarien Deutschland den Krieg erklärt hat, kommt es in diesen Gebieten zu harten Zusammenstößen zwischen Bulgaren und Deutschen. Die bulgarischen Zeitungen bringen Meldungen des militärischen Kommandos über verschiedene Kampfhandlungen, aber die Lage hat sich in den ersten Tagen nicht günstig entwickelt und entwickelt sich weiter zuungunsten der Bulgaren, die ihre mit den Deutschen alliierten Einheiten abziehen wollen. Zum Augenblick der Kriegserklärung befanden sich diese bulgarischen Einheiten auf den Gebieten Makedoniens und Thrakiens in einer sehr mißlichen operativen Lage. Übrigens ist die Situation nicht nur militärisch, sondern auch politisch kompliziert. Man kann sich nicht so leicht zurechtfinden. Erstens wurde trotz des äußerst freundschaftlichen Verhältnisses der bulgarischen Bevölkerung zu uns und der Bildung einer Linksregierung in Sofia bislang kein Waffenstillstand abgeschlossen, weder mit de^n Amerikanern und Briten noch mit uns, so daß sich Bulgarien formell noch im Kriegszustand mit uns befindet, obwohl zwischen den Bulgaren und uns
keine Gefechtshandlungen stattfinden und auch keine vorauszusehen sind. Zweitens. Zur Zeit des Bündnisses mit Bulgarien entrissen die Deutschen Jugoslawien das Gebiet um Zaribrod, das dem Land im Ver-sailler Vertrag zuerkannt worden war und als ewiger Zankapfel zwischen Bulgarien und Serbien diente. Ebenfalls übergaben sie dem bulgarischen Zaren das jugoslawische Makedonien und das griechische Nordthrakien. So befinden sich also die Truppen des bulgarischen Expeditionskorps, das sich gegenwärtig unter Kämpfen mit den Deutschen zurückzieht, erstens auf jugoslawischem Territorium, zweitens auf dem Territorium, das die Bulgaren als ihr eigenes ansehen, während es die Jugoslawen als das ihre betrachten, und drittens auf dem Gebiet des griechischen Makedonien, das in Bulgarien als makedonisch und in Griechenland als griechisch gilt. So ist alles sehr verzwickt und im Augenblick noch weit von einer Lösung entfernt… Boris Smirnow macht uns mit seinem Stabschef bekannt, der wie er Oberst ist. Nachdem wir uns flüchtig unterhalten, und Smirnow das Versprechen abgenommen haben, daß er Kriger und mich am späten Abend im „Bolgarija“ besuchen wird, fahren wir nach Sofia zurück. Wir speisen mit dem Propagandaminister Dimo Kasassow, der Kriger und mich am Morgen zu einem gemeinsamen Mittagessen in unserem Hotel eingeladen hat. Das Restaurant in der zweiten Etage wurde bei einem Bombenangriff zerstört, und wir essen im Keller, in einem Raum im
nationalen Stil. Ein Tisch mit buntem Tuch, Holzbänke, drauf gewebte Decken, an den Wänden Bauernkeramik und getrocknete Kürbisse. Dimo Kasassow erinnert mich im Aussehen und in seinem Gebaren an jemanden. Erst nach einigen Minuten weiß ich, woher ich sein Ebenbild kenne. Aus meiner Kindheit. Er gleicht wie ein Wassertropfen dem anderen einem alten Moskauer Freund meiner Eltern, Wladimir Pawlowitsch Alexejew. Das gleiche Professorengesicht, das leicht erkahlende Haupt, der Schnurrbart, das Bärtchen am Kinn, die sanfte Stimme, die weichen Bewegungen. Der erste Gang ist ein traditionelles bulgarisches Gericht: Tomaten, Gurken, Kohl, roter und grüner Pfeffer, jede Menge Gemüse. Dann Suppe, die unserem kasachischen Chaschi gleicht: viel Hammelfleisch und beinah ebensoviel Knoblauch. Dazu ein eigenartiges Getränk, das aus Flaschen mit dem Etikett „Russischer Wodka“ kredenzt wird, aber mit russischem Wodka nichts gemein hat. Der Minister ist sehr höflich. Er gibt sich einfach und freundlich, und da er so gewählt spricht, scheint mir, daß er ein leidenschaftlicher Redner sein müsse. Auch wenn er nur einige Worte hinwirft, sitzen sie und ergeben eine kurze, geschliffene Rede. Das Essen dauert etwa eine Stunde. Suchow, der mit uns tafelt, meint, bei längerem Aufenthalt würde sich eine Fahrt in den Süden des Landes und die Besichtigung des berühmten Rilaklosters lohnen. Der Minister heißt diesen Vorschlag gut. Er macht einige Bemerkungen zur geschichtlichen Bedeutung des Rilaklosters und sagt, daß es überhaupt besser sei,
wenn ich länger in Bulgarien bliebe. Alles gut und schön, aber ich möchte endlich wissen, ob man von Sofia sofort oder später zu den jugoslawischen Partisanen gelangen kann. Wenn ja, möchte ich bleiben. Wenn nein, wäre es richtig, morgen früh nach Bukarest zurückzufahren und dann zum Stab der 2. Ukrainischen Front, um dort die Möglichkeiten zu sondieren. Vom Hotel begebe ich mich zum Sitz des Generaloberst Birjusow. Ich will ihn bitten, mich zu empfangen. Da erfahre ich, im selben Hause befinde sich das Mitglied des Kriegsrates der Front, Generalmajor Lajok, den ich aus der Stalingrader Zeit kenne. Für einen Korrespondenten ist es einfacher, mit seinen Fragen zu einem Bekannten als zu einem Unbekannten zu gehen, und ich gehe zu Lajok. Als ich mein Anliegen vorgetragen habe, schlägt er verdrossen mit der Faust auf den Tisch. Zu schade, daß ich nicht früher gekommen sei. Gestern abend sei der Kommissar des 13. jugoslawischen Partisanenkorps hier- gewesen und ist erst vor wenigen Stunden in Begleitung unseres Verbindungsoffiziers, Oberstleutnant Saizew, wieder nach Jugoslawien abgereist. „Wären Sie am Morgen gekommen, hätten Sie ihn noch angetroffen“, sagt Lajok. „Er hätte Sie direkt hingebracht.“ Da er sieht, wie zerknirscht ich bin, tröstet er mich freundlich, Saizew müsse ja in zwei Tagen zurückkehren und mir sagen können, wie die Perspektiven einer direkten Verbindung zu den Partisanen seien. Dann wolle er, Lajok, mir in dieser Angelegenheit behilflich sein. Suchow, dem ich nach meiner Rückkehr zum Hotel davon erzähle, gibt mir
den Rat, die beiden freien Tage für eine Reise nach dem Süden Bulgariens zu nutzen. Zwei Tage würden uns für eine Fahrt zum Rilakloster genügen, und unterwegs könnten wir viel Interessantes sehen. Wir sitzen bei einer Tasse Kaffee, in unserer Runde einige bulgarische Journalisten und ein bejahrter Professor, der jetzt Vorsitzender der Gesellschaft für Bulgarisch-Sowjetische Freundschaft wurde. In früheren, schwierigen Zeiten leitete der Kommunist und Philosoph Todor Pawlow die Arbeit der Gesellschaft, einer der drei Regenten unter dem Nachfolger des Zaren. Die Bulgaren sagen, einige meiner Kriegsgedichte seien hier gut bekannt, und. sie schlagen vor, in einem großen, nicht ausgebombten Kino eine literarische Matinee zu veranstalten. Da ich an dem Vorschlag nichts Verwerfliches finde, stimme ich prinzipiell zu. Wir kommen überein, die Matinee in einer Woche, am folgenden Sonntag, durchzuführen. Etwa zwei Tage wird die Reise nach Südbulgarien in Anspruch nehmen, dann werde ich drei bis vier Tage brauchen, um erstmalig mit den Partisanen Verbindung aufzunehmen, nach Sofia zurückkehren, um das erste Material telegraphisch zu übermitteln. Wenn alles gut geht, werde ich bis zum nächsten Sonntag zurück sein. So verbleiben wir. Ich muß mein Gedichtsbüchlein dalassen. Einige Verse sollen bis zum Sonntag ins Bulgarische übertragen werden. Während wir Mittag essen und Kaffee trinken, tritt mehrmals Bartew an mich heran. Er ist so etwas wie Oberkellner oder Leiter des Restaurants, russischer Emigrant, klein von Gestalt, brünett, ziemlich ge-
drungen, mit dem vollen, schlaffen Gesicht eines Schauspielers und schwarzen Haaren, die gefärbt zu sein scheinen. Auf den ersten Blick halte ich ihn für fünfzig, bei genauerem Hinsehen aber für sechzig. Er spricht von sich als von einem Künstler. In besseren Zeiten habe er manchmal ein Kabarett unterhalten, sei der Hauptakteur und Liedersänger gewesen. In schlechteren Zeiten habe er sich in die Rolle eines Oberkellners geschickt. Wenn ich seinen Worten glauben kann, hat er ganz Europa bereist, in Filmen kleinere Emigrantenrollen gespielt, in Paris ein Institut für Maskenbildner absolviert. Kurzum, er hat ein bewegtes Leben hinter sich und erzählt bereitwillig von jeder Episode, mit einer Ausnahme – den Gründen, die ihn bewogen haben, Rußland zu verlassen. Uns gegenüber ist er zuvorkommend. Er spricht viel und schnell, erkundigt sich nach Moskau und besonders eingehend nach dem Schauspieler Pol vom satirischen Theater, mit dem er vor der Revolution irgendwo gemeinsam gearbeitet hat. Pol geistert unentwegt in seinem Kopf herum. „Was macht Pol?“ Ich erkläre ihm, mit Pol sei alles in Ordnung, ihm gehe es gut, er spiele im Theater. „Grüßen Sie ihn. Er kennt mich noch.“ Zehn Minuten später ist es, als hätte er meine Auskunft vergessen. Er klatscht in die Hände und ruft aus: „Ach ja! Wie geht’s Pol? Würde mich interessieren, was Pol so macht?“ Diese Erinnerung, die in seinem Bewußtsein das damalige Rußland mit dem jetzigen verbindet, scheint ihm sehr teuer zu sein.
Nach dem Kaffee gehen wir in unser Zimmer, wo Boris Smirnow schon mit seinem Stabschef Boris Kaloschin und noch einem Angehörigen der Luftstreitkräfte wartet. Ein kleiner Raum, dürftig möbliert: Ottomane, Bett, ein Sessel – aber wir sind unser sieben. Ich breite meinen Filzumhang auf dem Fußboden aus, stelle das einzige vorhandene Glas hin, dazu einige Flaschen Weißwein, die ich im Restaurant ergattert habe. Wir schütten Äpfel und Weintrauben auf Zeitungen und sitzen dort die ganze Nacht, lesen Gedichte und tauschen alle möglichen Erinnerungen aus, angefangen beim Chalchyn gol. In den Lesepausen treibt Shenja Kriger seine Possen und erzürnt mit seinen flegelhaften Einwürfen Boris, der meine Gedichte mag: „Na ja, im großen und ganzen nicht schlecht gemacht. Könnte ein bißchen zündender sein, aber für einen Dilettanten nicht übel. Und ihr, euch gefällt es wirklich?“ Um Mitternacht kommt mir ein Gedanke. Boris hat in seiner Division U-2-Verbinduiigsflugzeuge. Ob er mich nicht mit einer an einem für eine Landung geeigneten Punkt im Operationsgebiet der jugoslawischen Partisanen absetzen könnte? Nach seinen eigenen Worten soll es so nahe sein, daß man den Partisanen von hier die Hand schütteln kann. Doch Boris zeigt mir die kalte Schulter. Wein ist Wein, Verse sind Verse, aber Dienst ist Dienst. Er lehnt entschieden ab. Um fünf Uhr morgens fährt Smirnow mit seinen Leuten ab, und um neun – nachdem wir anderen ein wenig geschlafen und jeder eine Tasse Kaffee getrunken haben – muß ich mich schweren Herzens von Shenja Kriger verabschieden.
Trotz meiner Überredungskünste möchte er nach Bukarest zurückkehren wo der Wagen der „Iswestija“ und sein Reisegefährte, der Bildberichterstatter Gurari, auf ihn warten. Der Kfz-Oberst und der Leutnant begleiten Kriger. Ich komme kaum dazu, ihnen ein Lebewohl zuzuwinken, denn schon sind zwei Wagen des bulgarischen Kriegsministeriums vorgefahren, Steyr mit geringem Spritverbrauch, der Grundtyp der militärischen Stabswagen in Bulgarien. In dem einen nehmen Suchow und ich Platz, in dem anderen der Bildberichterstatter Anatoli Grigorjew und ein Redakteur einer neuen bulgarischen Soldatenzeitung. Unser Fahrer, ein bulgarischer Unteroffizier, ist ein hagerer Bursche, der sich betont forsch und stramm gibt und wie ein Junker aussieht. Diese Ähnlichkeit wird noch durch die Mütze von der Art einer alten russischen Offiziersmütze mit Kokarde und kleinem Schirm unterstrichen, die er keck aufs Ohr gesetzt hat. Bei unserem Erscheinen wirft er den Mantel ab, setzt sich in seiner ausgeblichenen Feldbluse startbereit ans Steuer, und gibt, kaum daß wir eingestiegen sind, Vollgas. Ich habe schon viele Fahrer kennengelernt, aber solche verwegenen Burschen wie in Bulgarien sind mir sonst nirgends begegnet. Hinter Sofia beginnt das Bergland, die Straße besteht aus einer einzigen Kette von Windungen, doch unser Fahrer verlangsamt das Tempo nicht, und in jeder Kurve befürchte ich, daß wir, ohne umzusteigen, in die Hölle jagen. Trotz meines allgemein ruhigen Charakters hätte mich diese Reise wahrscheinlich sehr aufgeregt, aber wir haben in den letzten Nächten so wenig geschla-
fen, daß mich das Geschaukel nach einigen steilen Kurven einschläfert. Ich ermuntere mich mühsam, als mich Kostja Suchow, der wie viele andere der irrigen Meinung ist, ein Dichter müsse zwangsläufig eine Schwäche für Naturschönheiten haben, in die Seite knufft und sagt: „Konstantin Michalytsch, sehen Sie, wie schön!“ Ich reibe mir die Augen und höre das Kreischen der Bremsen, da wir wieder einmal direkt vor einem Abgrund wenden. Tatsächlich erblicke ich bald links, bald rechts irgendeinen besonders hübschen Berg oder eine Schlucht. „Ja, ja“, murmele ich, „sehr, sehr schön“, und schlafe wieder ein. Wir fahren zu der im Gebirge gelegenen Sommerresidenz der bulgarischen Zaren. Nach den anglo-amerikanischen Bombardements haben sich die Regierung und das diplomatische Korps hierher zurückgezogen. Die Diplomaten leben auch jetzt noch hier. Schweden, Schweizer, Japaner, Spanier und die Angehörigen einiger südamerikanischen Botschaften – das sind, glaube ich, alle ausländischen Vertreter, die sich zur Zeit in Bulgarien aufhalten. Ein schmales, aufsteigendes Tal, das zu beiden Seiten von Bergen umgeben und trotz des schon beginnenden Herbstes von dunkelgrünen Anlagen umsäumt ist. Mitten in die Parks gekuschelt Häuser, halb aus Holz, halb aus Stein gebaut und mit hölzernem Schnitzwerk versehen. Sie erinnern mich an unsere alten, schnörkelverzierten Datschen in der Umgebung von Moskau. An uns vorbei gehen zwei kleine, adrette Japaner. Sie halten sich bei den Händen, und plötzlich kommt es
mir seltsam vor, daß es hier eine japanische Botschaft gibt, und überhaupt befremdet mich dieser stille Ort, obwohl ich nicht genau sagen kann, wodurch. Nach einem Imbiß in einem kleinen Restaurant fahren wir zurück bis zur Abzweigung der Straße nach Kocerinovo. Dahinter liegt irgendwo das Rilakloster. Kocerinovo erinnert an ein großes Kubankosakendorf. Lehmhütten in buntem Durcheinander mit Häuschen städtischen und kleinstädtischen Charakters. Hier und da fällt ein zweistöckiges Gebäude ins Auge. Auf dem zentralen Platz steigen wir aus, und uns umringt sofort eine neugierige Menge. Wie wir erfahren, sind wir seit dem Einmarsch unserer Armee die ersten Russen in Kocerinovo. Wir gehen zum Chef der Garnison, um uns den Weg zum Rilakloster genau beschreiben zu lassen. Uns empfängt ein nicht mehr junger, dunkelhaariger Mann mit schwarzer Jacke im Marineschnitt und Revolver am Riemen. Er stellt sich als örtlicher Vertreter der Vaterländischen Front vor und bringt uns zum Garnisonschef, dem Kommandeur eines hier liegenden Infanterieregiments. Einige Minuten sitzen wir da und warten, und ich bemerke einige kurze, stabile Messer auf dem Schreibtisch. Sie haben breite Klingen und lange schwarze Griffe mit eingesetzten Metallplättchen, auf denen „Glaube und Treue“ steht. Ich habe eine knabenhafte Schwäche für Messer und rufe entzückt aus: „Was für wunderschöne Messer!“ Insgeheim hoffe ich, der Vertreter der Vaterländischen Front möge meinen unausgesprochenen Herzenswunsch erraten. Das tut er jedoch nicht, im Ge-
genteil, er erklärt mir mit staatsbürgerlichem Pathos, das seien durchaus keine wunderschönen, sondern ganz abscheuliche Messer der faschistischen Jugendorganisation, die von der faschistischen bulgarischen Regierung ins Leben gerufen und mit diesen – jetzt requirierten – Messern ausgerüstet war; und die Inschrift „Glaube und Treue“, die mir so gefalle, sei die höchst verderbliche Losung der faschistischen, nunmehr natürlich aufgelösten Jugendorganisation. Nach einigen Minuten werden wir ins Arbeitszimmer des Regimentskommandeurs geleitet, eines dicken, betagten Oberst mit feisten, über den Kragen quellenden Wangen. Er empfängt uns freundlich, aber anfangs kann ich nicht verstehen, warum er vor Anstrengung schnauft, obwohl er bei unserem Eintritt in diesem Zimmer gesessen hat. Dann errate ich jedoch, daß er sich während unseres Wartens erst in seine Uniform zwängte. Sein Hals paßt kaum in den engen Kragen, aber auf der Brust prangt ein großes Kreuz, wohl die höchste militärische Auszeichnung aus dem ersten Weltkrieg. Außer ihm befindet sich ein zweiter Offizier im Arbeitszimmer, auch kein junger Mann mehr, ein schon kahlköpfiger vierzigjähriger Hauptmann, Regimentsadjutant. Der Oberst heißt uns zu unserer Ankunft in Kocerinovo willkommen und beglückwünscht uns zu unserem Entschluß, das Rilakloster zu besuchen. Er sagt, er sei selbst schon länger nicht dort gewesen und würde uns mit Vergnügen hinführen. Inzwischen könnten wir ja ein bißchen bummeln und uns den Ort ansehen. Dieses „Inzwischen“ erweist sich als folgenschwer. Während wir durch das
einladende Kocerinovo gehen, stehenbleiben, mit den Menschen sprechen, die uns bald an der einen, bald an der anderen Ecke umdrängen, wird für uns das Essen zubereitet, und wir beenden die Stadtbesichtigung mit einem Besuch der Schule, setzen uns dort im Speiseraum an eine lange Tafel, um die sich etwa dreißig Leute versammeln. Einige ehrenwerte alte Herren, mehrere Vertreter der Vaterländischen Front, der Schuldirektor, der Oberst, der Hauptmann und junge Partisanen, die selbst hier, beim Essen, ihre Waffen nicht ablegen. Wir trinken trockenen hiesigen Rotwein, essen Salat, Suppe, den nächsten Gang, und alles so reichlich, daß wir unsere Riemen ein Loch weiterschnallen müssen. Er ist: unmöglich, zur Eile zu drängen oder aufzustehen oder darauf zu verweisen, daß wir kürzlich erst gegessen hätten. Nach mehreren Toasts, einen davon – auf Rußland, auf Bulgarien und auf ihre ewige. Freundschaft – hat mit bewegendem Ernst der älteste Einwohner der Stadt ausgebracht, entgegnen Suchow und ich mit herzlichen Worten, er auf bulgarisch, ich auf russisch; dann erheben wir uns und brechen zum Rilakloster auf. In Kocerinovo wollen wir nicht übernachten, weil es schon so spät ist. Also müssen wir im Rilakloster schlafen, denn sonst schaffen wir es morgen nicht nach Sofia zurück, und wir müssen beizeiten dort sein, vor unserem Offizier, der zu den Jugoslawen gefahren ist. Sich eine zweite derartige Gelegenheit entgehen zu lassen wäre ganz unverzeihlich. Es ist nicht mehr weit zu fahren, etwa fünfundzwan-
zig Kilometer, durch zwei Dörfer und die sogenannte Rilaschlucht bis zum Kloster. Alle steigen in die Wagen, wir in unseren, der Oberst in seinen. Weder der Oberst noch der Hauptmann sehen wie schneidige Offiziere aus. Beide sind nicht mehr jung, haben sicherlich ein langes, freudloses Garnisonsdasein hinter sich. Berufssoldaten, nicht eben reiche Leute. Ihre Uniformen fadenscheinig, sogar leicht abgetragen. Re-gimentsadjutant, und trotz seiner vierzig Jahre immer noch Hauptmann. Der Anblick dieser Männer ruft unwillkürlich eine Assoziation hervor: „Das Duell“ von Kuprin, alter russischer Kasernenhofdrill. Es hatte mir schon jemand erzählt, das Regiment sei erst vor wenigen Tagen nach Kocerinovo gekommen, es habe sich unter Nachhutgefechten aus Thrakien hierher durchgeschlagen. Dort sei sein Standort gewesen, und dort hätten nach all den verwirrenden Vorfällen mit den Bulgaren die Deutschen die Garnison angegriffen. Aber als ich den Oberst und den Hauptmann ansehe, denke ich nicht an diese letzten Tage, sondern an ihr langes Leben in der Garnison. Hiermit enden meine Tagebuchaufzeichnungen, die ich nach meiner Rückkehr vom Balkan und aus Italien in Moskau zu Papier brachte. Um alles festzuhalten, fehlte die Zeit. Zunächst nahm mich die Arbeit am „Jugoslawischen Heft“ gefangen, dann folgten neue Fahrten an die Front. So muß ich meine weiteren Reiseeindrücke aus dem Gedächtnis und an Hand meiner – teilweise allerdings recht ausführlichen – Notizen rekonstruieren.
Die Tagebuchaufzeichnungen, die ich hier angeführt habe, rufen in mir heute zwiespältige Gefühle hervor. Natürlich können sie keinen Anspruch darauf erheben, eine ernsthafte Analyse der Ereigni.se im damaligen Bulgarien zu sein. Dennoch sind sie mir als lebendige Erinnerungen ans Herz gewachsen, denn hätte ich die Einzelheiten damals nicht festgehalten, wären sie vergessen, und in ihnen spiegelt sich die unmittelbare Freude wider, die wir bei unserer ersten Begegnung mit Bulgarien empfanden. Trotz der naiven Akzente meiner Bemerkungen – die mir heute bewußt sind –, kann ich mein damaliges Ich gut verstehen. Mehr als drei Kriegsjahre lagen hinter mir, und sie waren so blutig und schwer gewesen, daß das unverhoffte Gefühl, von einem Land und einem Volk mit offenen Armen empfangen zu werden – ich wähle bewußt diese Formulierung und will keine anderen Worte suchen, weil sie der Wahrheit entspricht –, eine große innere Erleichterung hervorrief und alles andere verdrängte. Einige Tage lang beherrschte uns mitten im Krieg, der ja weiterging, das Gefühl, den Krieg bewältigt zu haben. Die Endstation unserer Fahrt nach Süden war das Rilakloster. In der Geschichte Bulgariens ist es nicht nur ein religiöser Wallfahrtsort, sondern auch eine Hochburg nationaler Gesinnung. Das Rilakloster mit seiner tausendjährigen Geschichte bildete ein geistiges Bollwerk gegen die türkische Fremdherrschaft, und darum wohl bewegte mich bei all meinem Atheismus so sehr die Freude, mit der die Mönche uns, die ersten sowjetischen Offiziere, innerhalb der Klostermauern empfingen.
Hinzu kam eine rührende kleine Begebenheit. Ein Mönch, der mir seines langen Bartes wegen uralt erschien, forschte mich aus, ob ich nicht wüßte, welche Ausbildung Marschall Fjodor Iwanowitsch Tolbuchin ursprünglich genossen habe. Hatte er vor dem Besuch der Militärschule nicht das Kasaner Priesterseminar absolviert? Ich konnte mir anfangs überhaupt nicht erklären, warum diese Frage meinen Gesprächspartner so beschäftigte. Darum erzählte er mir, als junger Mann sei er in Rußland gewesen und habe in Kasan das Priesterseminar besucht, und in diesem geistlichen Seminar habe auch ein Fjodor Tolbuchin studiert, dessen Geburtsjahr mit dem des Marschalls zusammenfiel. Der Marschall und er seien ebenfalls gleichaltrig, ebenso Fjodor Tolbuchin, an dessen Vatersnamen er sich nach so vielen Jahren leider nicht erinnere. Darum sei also die große Frage die: Ist der Marschall der Tolbuchin von damals? „Er war ein strammer Seminarist, ein redlicher Mensch, aber nach Beendigung des Seminars wollte er keine geistliche Laufbahn einschlagen.“ Um den Mönch nicht zu betrüben, erwiderte ich, daß natürlich alles möglich sei. Welche ungewöhnlichen Fälle kämen nicht vor im Leben. Was sei aus ehemaligen Seminaristen nicht schon alles geworden! Der Mönch gab sich mit meiner ausweichenden Antwort jedoch nicht zufrieden. Während des Essens, bei dem er neben mir saß, stand er unvermittelt auf und verschwand. Als er aus einer Klosterzelle zurückkam, zeigte er mir eine altmodische, auf harte Pappe geklebte, mit dem silbernen verschnörkelten Monogramm des Photohauses versehene Aufnahme
von zwanzig Absolventen des Kasaner Priesterseminars. „Der da bin ich, und das ist Fjodor Tolbuchin.“ Er zeigte mir einen Seminaristen, in dem ich beim besten Willen nicht ihn erkennen konnte, dann einen schmächtigen Jüngling neben sich, und fragte, ob er Marschall Tolbuchin nicht ähnlich sehe. Ich kannte Fjodor Iwanowitsch Tolbuchin, den ich an der Südfront gesehen hatte, und als ich mir seine breitschultrige, stämmige, vierschrötige Gestalt und sein volles, gutmütiges und kluges, aber ganz und gar nicht mehr junges Gesicht vorstellte, konnte ich mich eines Lächelns kaum erwehren. Mit diesem mageren Seminaristen auf dem altmodischen Kasaner Photo hatte er wirklich nichts gemein; doch das behielt ich für mich. Um den Mönch nicht zu betrüben, machte ich Ausflüchte. Es sei schwierig, nach so vielen Jahren von Ähnlichkeiten zu sprechen. „Ja, wie viele Jahre vergangen sind“, erscholl es als Echo aus dem Munde des Mönchs. „Wirklich und wahrhaftig, wie viele Jahre…“ Ich sah es seinem Gesicht an, trotz meiner Antworten würde er es herausbekommen, ob der Marschall mit dem Kasaner Fjodor Tolbuchin identisch sei oder nicht. Das Mittagsmahl im Kloster war fleischlos und wurde fast ohne Spirituosen gereicht, lediglich am Anfang gab es ein Gläschen eines speziellen Nußschnapses auf die Gesundheit der sowjetischen Streitkräfte; aber das Essen zog sich lange hin und war so sättigend, besonders nach den beiden anderen Mahlzeiten, die an diesem Tage schon vorangegangen waren, daß ich mich kaum zu der mir zugewie-
senen Zelle im Gästeheim des Klosters schleppen konnte. Das Bett hatte hohe Kanten, und als ich mich draufsetzte und in dem doppelten Daunenbett versank, vermochte ich die Beine nicht mehr über den Rand zu schwingen. So schlief ich mit den Stiefeln an den Füßen im Sitzen ein, nachdem ich mir zwei Klosterkissen unter den Rücken gestopft hatte. Ich war durchaus nicht beschwipst, nach dem abschließenden Essen nur völlig von Schwäche übermannt. Am Morgen besichtigten wir das Kloster und unternahmen einen Spaziergang durch die umliegenden, erstaunlich schönen Plätze. Dann traten wir die Rückreise an. Auf dem Weg nach Sofia hielten wir in einem großen Dorf. Der Vertreter der neuen Macht war ein langer Bulgare in mittleren Jahren, dem Äußeren nach Arbeiter. Mit seiner riesigen, kräftigen Pranke quetschte er uns die Hände, daß die Finger knackten, aber sein Gesicht war hager, ausgemergelt, die untere Hälfte und der Hals von rundlichen schwarzen Narben gezeichnet, als hätte er sich Warzen mit Höllenstein weggeätzt. Als wir weiterfuhren, erzählte ich Suchow von diesen sonderbaren Brandmalen. „Das sind doch Spuren von Elektroden“, sagte Suchow. „Während du dich dort mit anderen Dingen befaßt hast, habe ich ihn gefragt. Er hat unterm Zaren bis zum 9. September im Kerker gesessen. Die Geheime Staatspolizei hat ihn mit Elektroden gefoltert und ihm sicherlich nicht nur Gesicht und Hals verbrannt.“
Um die Wahrheit zu sagen, 1944 erschöpften sich meine Vorstellungen von bulgarischen Kommunisten im wesentlichen mit dem heldenhaften Auftreten Dimitroffs auf dem Leipziger Prozeß. Sonst wußte ich fast nichts von ihnen. Kostja Suchow aber war in dieser Hinsicht damals schon beschlagen, und da er mein Erstaunen bemerkte und witterte, welche Unkenntnis sich dahinter verbarg, hielt er mir auf der restlichen Wegstrecke einen wohlgemeinten Vortrag. Die Quintessenz seiner Ausführungen war, daß man nicht wüßte, wie sich die politische Lage in Bulgarien jetzt gestalten würde, wäre da nicht die langjährige Arbeit der bulgarischen Kommunisten. Trotz der historischen Bande mit Rußland wäre es ungewiß, trotz Pleven, Schipkapaß und aller dem Zaren und Befreier errichteten Denkmäler. Kurz, er stimmte mich nachdenklich, und bis Sofia saß ich grübelnd da. Nach allem, was ich in Bulgarien gesehen hatte, war es unmöglich und unvorstellbar, daß es hätte anders kommen können und die Ereignisse nach unserem Grenzübertritt einen anderen Verlauf genommen hätten, daß die Kanonen gesprochen hätten, Blut geflossen wäre, gefallene bulgarische Soldaten auf der Erde gelegen hätten, daß es den Deutschen tatsächlich gelungen wäre, das zu erreichen, was sie so lange angestrebt hatten, die bulgarische Armee – und wenn auch nur für einen Tag – in den Krieg hineinzuziehen und zu Kampfhandlungen gegen uns zu bewegen. Diese Gedanken beschäftigten mich, während wir uns Sofia näherten. Nicht auszumalen, was wäre,
wenn… Völlig unmöglich und schrecklich zugleich. Obwohl ich diese Überlegungen so scharf erst in Bulgarien anstellte, hatten sich derartige Befürchtungen schon vorher eingestellt, sie verfolgten mich wohl bereits seit dem Frühjahr und auf meinen Fahrten in die rumänischen Nordbezirke, insbesondere seit unserer Augustoffensive, die uns von Iasi nach Bukarest führte. Den Rumänen gegenüber war ich seit Kriegsbeginn nicht eindeutig freundlich gesonnen. Zwar hatte ich im August 1941 aus dem belagerten Odessa von zwei feldmäßig eingekleideten rumänischen Bauern geschrieben, die für eine deutsche Batterie Granaten trugen und, nachdem sie in Gefangenschaft geraten waren, um die Erlaubnis baten, die Geschütze gegen die Deutschen richten zu dürfen. Andererseits erinnerte ich mich gut daran, wie Rumänen das von uns verlassene Odessa besetzt hatten. Ich dachte an die Halbinsel Kertsch im Frühjahr 1942, wo wir damals die Besiegten und die Deutschen im Verein mit den Rumänen die Sieger waren. Trotzdem änderte sich auf dem Weg von lasi nach Bukarest meine Einstellung. Ich empfand es als widersinnig, daß die von uns getöteten Söhne der alten Bauern, die uns in ihren armseligen Hütten auf dem Sttohsack ein Nachtlager bereiteten und uns am Morgen ihren Maisbrei vorsetzten, irgendwo in der längst verlassenen Wolgasteppe bei Stalingrad lagen und verwesten. Diese angestauten Gefühle bildeten jetzt offenbar den Nährboden für meine Gedanken, als ich nach Sofia unterwegs war. Zu später nächtlicher Stunde trafen
wir in Sofia ein, und ich schlief noch, als mir am Morgen ein Offizier von Birjusows Stab den Befehl überbrachte, unverzüglich den Generaloberst aufzusuchen. Erfreut folgte ich der Aufforderung, denn ich glaubte, Birjusow sei die Absicht des Korrespondenten der „Krasnaja Swesda“ zu Ohren gekommen, die jugoslawischen Partisanen aufzusuchen. Der Anlaß war jedoch ein anderer und für mich höchst unangenehmer. Als ich die Tür des Dienstzimmers öffnete, drehte sich Birjusow schroff zu mir um. Sein längliches kluges Gesicht drückte Zorn aus. Er war verärgert und hielt es nicht für erforderlich, das zu verbergen. Ich schloß die Tür hinter mir und sagte, was in solchen Fällen angebracht war. Oberstleutnant Simonow, Korrespondent der „Krasnaja Swesda“, meldet sich wie befohlen zur Stelle. Dann harrte ich mit plötzlich einsetzendem Unbehagen der Dinge, die da kommen sollten. Birjusow gab mir nicht die Hand, ließ mich jedoch auch nicht strammstehen. Er setzte sich an den Tisch und bedeutete mir, ihm gegenüber Platz zu nehmen, sagte „Genosse Simonow“ zu mir, ohne meinen Dienstgrad zu nennen, und sprach hitzig. Während meiner Fahrt zum Rilakloster hatten unsere bulgarischen Genossen von der Gesellschaft für Bulgarisch-Sowjetische Freundschaft entweder einen Anschlag mit der Ankündigung meiner literarischen Matinee geklebt oder Eintrittskarten zu dieser Veranstaltung gedruckt – ich weiß schon nicht mehr genau, was geschehen war, jedenfalls hatte Birjusow Wind gekriegt. Wer mir die Erlaubnis erteilt habe, eine öffentliche
Veranstaltung durchzuführen, fragte er barsch. Ich erklärte, wie und warum es zu dem Vorhaben gekommen sei, daß der Vorschlag nicht von mir stamme, ich aber nichts dagegen hätte, weil das ganze Unternehmen sich doch als eine sehr nützliche Sache erweisen könne. Birjusow fiel mir ins Wort und wiederholte scharf seine Frage, wer mir die Erlaubnis erteilt habe. Da mußte ich gestehen, daß es niemand erlaubt hatte. „Ach so, und ich verbiete die Lesung“, sagte Birjusow. „Sie findet nicht statt. Klar?“ Ich erwiderte, daß es klar sei, ich aber nicht wüßte, wie man sie jetzt absetzen könne, und bemerkte ungehalten: „Warum muß sie überhaupt abgesetzt werden?“ „Ihnen ist das noch unbegreiflich?“ fragte Birjusow ironisch. „Ja“, antwortete ich, „es ist mir unbegreiflich.“ „Na gut, wenn es so ist, muß man es Ihnen auseinandersetzen“, sagte Birjusow. Ich kann nicht wörtlich wiederholen, was er sagte, darum versuche ich es gar nicht erst, doch an den Sinn seiner Rede erinnere ich mich. Er erklärte, daß es unangebracht sei, auf Vereinbarungen mit irgendwelchen bulgarischen Genossen zu verweisen, weil wir uns bis zur Stunde im Kriegszustand befänden und durch die Macht der Umstände leider gezwungen seien, im Verkehr mit Bulgaren nicht die Anrede „Genosse“, sondern „Herr“ zu verwenden. In Sofia hielten sich die Vertreter der verbündeten Staaten auf, die sich ebenso wie wir noch im Kriegszustand mit Bulgarien befänden, sie hätten hier
ihre Korrespondenten und Kundschafter. Wenn ich das alles nicht einsähe und bedächte, so gereiche mir das keineswegs zur Ehre. Jedenfalls sei es für einen Oberstleutnant der Sowjetarmee unter diesen Umständen verfehlt, in Sofia eine Freundschaftsveranstaltung durchzuführen, so was könnte höchstens zu unfreundlichen Verleumdungen Anlaß geben, sofern das nicht bereits geschehen sei, was ebenfalls denkbar sei. Zu anderer Stunde und an anderem Ort würde er, wenn es sein Dienst erlaube, vielleicht selbst kommen, um „Wart auf mich“ zu hören, aber nicht jetzt und nicht hier. Jetzt und hier verbiete er eine öffentliche Veranstaltung. „Und was soll ich machen?“ fragte ich. „Welche Argumente kann ich anführen?“ „Das ist schon Ihre Sache. Erklären Sie, daß Sie krank sind.“ Er erhob sich und hielt es offensichtlich nicht für nötig, sich mit mir noch länger über dieses Thema zu unterhalten. Auch ich stand auf, aber statt ihn zu bitten, gehen zu dürfen, sagte ich, daß ich nicht imstande sei, Krankheit vorzutäuschen, und es nicht tun werde. Die Würfel waren gefallen; heucheln konnte ich nicht. Ich wäre mir schäbig vorgekommen, wenn ich vorgegeben hätte, krank zu sein. Meine Antwort empörte Birjusow. Er war vorher schon nicht gut auf mich zu sprechen gewesen, aber bisher hatte er seinen Groll unterdrückt. Wenn es so sei, würde er allein dafür sorgen, daß die Veranstaltung ausfällt, sagte er, und mir befehle er, Bulgarien innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu verlassen, damit von mir hier nichts mehr zu sehen und zu hören
sei. „Gehen Sie“, fügte er kalt hinzu. Ich vollführte eine Kehrtwendung und trat ab. Vierundzwanzig Stunden später traf ich, von Birjusow des Landes verwiesen, mit einem fremden Fahrzeug in Bukarest ein. Der Vorfall erschütterte mich gründlich. Als recht bekannter Schriftsteller war ich offen gestanden nach allen Regeln der Kunst verwöhnt, manchmal verhielten sich die Front- und Armeeoffiziere mir gegenüber allzu großmütig; doch obwohl ich schmollte, begriff ich, daß Birjusow recht und ich unrecht hatte. Im übrigen gefiel mir dieser General, der mir das Fell über die Ohren gezogen hatte. Wäre ich Berufsoffizier, würde ich mir wahrscheinlich stets einen Vorgesetzten vorziehen, bei dem ja ja und nein nein bedeutet. Als sechs Jahre später der Koreakrieg tobte und die „Literaturnaja Gaseta“ den Korrespondenten Alexander Tschakowski auf den Kriegsschauplatz schickte, dachte ich daran, daß Sergej Semjonowitsch Birjusow im Fernen Osten eingesetzt war. Tschakowski war schon unterwegs, aber ich als Redakteur legte Wert darauf, unseren Kriegsberichterstatter recht schnell in Korea und am Brennpunkt der Ereignisse zu wissen. So telephonierte ich mit Birjusow, erinnerte ihn an unsere Begegnung in Sofia und bat ihn, dafür zu sorgen, daß der Korrespondent der „Literaturnaja Gaseta“ innerhalb von vierundzwanzig Stunden nach seinem Eintreffen die Grenze der Sowjetunion überschritten habe. „Gut“, sagte Birjusow, und ich hörte, wie er lachte, „wenn es weiter nichts ist, das erledige ich.“
23 Das Gespräch mit Birjusow hatte die Möglichkeit zunichte gemacht, ihn um eine Beförderung nach Jugoslawien zu bitten. Unterwegs hing ich finsteren Gedanken nach, doch kaum war ich in Bukarest angelangt, traf ich Bekannte, die mir Ratschläge erteilten. Ich sollte mich nach Südwestrumänien begeben, in die Stadt Craiova; dort würde ich sicherlich Leute treffen, die mir helfen konnten, nach Jugoslawien zu gelangen. Als ich in Bukarest Jewgeni Kriger aufspürte und er sich einverstanden erklärte, den Weg mit mir gemeinsam fortzusetzen, war ich einen Tag später in Craiova, einer großen und schönen Provinzstadt, die in der Luftlinie nicht mal einhundert Kilometer von der jugoslawischen Grenze entfernt liegt. Ich weiß nicht mehr, mit wessen Wagen wir hinfuhren, aber wir hatten unsere eigenen Räder, und das war vorteilhaft. Nachdem wir uns beim Militärkommandanten von Craiova ausgewiesen hatten, einem hilfsbereiten Menschen und Versefreund, erfuhren wir, daß sich Vertreter der sowjetischen Militärmission in Jugoslawien hier aufhielten, und wir bekamen eine Adresse, wo wir sie finden konnten. In einem stillen grünen Vorortgäßchen hielten wir vor einem Einfamilienhaus mit einem MPi-Posten am Zaun. Der Posten rief den Diensthabenden heraus, und nach einigem Hin und Her betraten wir das Gebäude, Wir wurden zu einem Oberstleutnant geführt, einem
nicht sehr mitteilsamen Menschen. Ob seine Zurückhaltung charakterbedingt war oder seinem Pflichtbewußtsein entsprang, sei dahingestellt. Als ich ihm den Zweck unseres Kommens erklärt und unumwunden nach den Möglichkeiten einer Fahrt zu den jugoslawischen Partisanen gefragt hatte, antwortete er ausweichend. Der zuständige Mann, der diese“ Frage entscheiden könne, sei im Augenblick nicht da, aber wenn ich in einigen Tagen noch einmal vorbeikommen würde, könne ich ihn antreffen. Inzwischen hätten wir sicherlich keine Langeweile, da wir uns für Jugoslawien interessierten. Nicht weit von hier, im Gebiet Tumu-Severin, setzten unsere Truppen gerade über die Donau und drangen kämpfend weiter vor auf jugoslawisches Gebiet. Wir könnten bedenkenlos hinfahren. Unsere Dienstaufträge genügten, einer Sondergenehmigung bedürfe es nicht. Kriger und ich befolgten seinen Rat und fuhren sofort nach Turnu-Severin. Leider sind über diese Fahrt nur wenige Zeilen aus einem Frontnotizblock vorhanden. Als ich die Donau nach der jugoslawischen Seite hin überquerte, lernte ich Oberst Ljubodrag Djuric kennen, den ersten jugoslawischen Offizier, dem ich begegnet bin und der zu unseren Einheiten kam, um Verbindung mit ihnen aufzunehmen, und Oberst D. N. Paramoschkin, Mitglied unserer Militärkommission in Jugoslawien. Unsere Einheiten drangen kämpfend auf jugoslawisches Territorium vor. Kriger und ich verbrachten anderthalb Tage im Kampfgebiet, übernachteten und fuhren nach Craiova zurück.
Mehr hatte ich nicht notiert. Dem möchte ich jedoch einiges hinzufügen. Im Raum Kladovo waren die Deutschen zum Gegenangriff angetreten, und es wurde erbittert gekämpft. Wir hielten uns zwar bei unseren Einheiten auf, aber die Aussicht, an diesem Abschnitt zu den im Rücken der Deutschen operierenden Jugoslawen vorzudringen, hatte sich zunächst einmal zerschlagen und war, wenigstens in den nächsten Tagen, nicht zu verwirklichen. Offensichtlich konnte ich das Ziel, das ich mir gesetzt hatte, nur an einer anderen Stelle erreichen. Bei der Rückfahrt nach Craiova trug ich ein Souvenir, eine Art Talisman, in der Tasche meiner Lederjacke. Am ersten Tag auf jugoslawischem Boden hatte ich bei Ljubodrag Djuric meinen Tabakbeutel gegen ein kleines selbstgefertigtes Partisanenetui aus Holz mit dem kunstvoll in den Deckel geschnitzten Emblem Volksjugoslawiens eingetauscht. Dieses Zigarettenetui benutzte ich bis Kriegsende für Machorka, mit dem ich seit geraumer Zeit meine Pfeife stopfte. Nebenbei bemerkt konnte ich mich auch später, als Pfeifentabak erhältlich war, nicht gleich wieder damit anfreunden. Nachdem ich so lange Machorka geraucht hatte, erschien er mir zu schwach. Als wir in Craiova eintrafen, stand die Nacht vor der Tür, und mit einem vom Dolmetscher auf rumänisch geschriebenen Einweisungsschein des Kommandanten begaben wir uns zum Schlafen in ein provinzielles Kleinbürgerhaus. Die Wirtsleute waren angenehm schweigsam. Sie sprachen nur rumänisch und wir nur russisch. Am
Morgen servierten sie uns Kaffee, dann gaben sie uns durch Zeichen zu verstehen, daß wir ihnen sagen sollten, was wir uns zum Mittagessen wünschten. Kriger zückte die rumänischen Lei, die er bei sich trug, und versuchte ihnen durch Gesten zu erklären, daß man auf dem Basar für das Geld etwas kaufen könne – die Auswahl bleibe ihnen überlassen; was auf den Tisch komme, werde auch gegessen. Die Wirtsleute verstanden, nahmen das Geld und signalisierten, mit dem Mittagessen würden wir zufrieden sein. Wahrscheinlich wären wir es auch gewesen, hätte ich nicht eine unangebrachte Initiative ergriffen. Auf der Servante im Speisezimmer, bemerkte ich unter anderem Geschirr eine große längliche Fayenceplatte mit dem Bild eines Fisches. Da verspürte ich Appetit auf Hering. In dem irrigen Glauben, meinen Wunsch hinreichend erklären zu können, ergriff ich die Platte, tippte auf den Fisch, und um zu präzisieren, daß ich an Hering dachte, entnahm ich einem Salzfäßchen eine Prise, mit der ich die Abbildung bestreute. Die Leute blickten mich befremdet an, dann schien ihnen zu dämmern, was ich meinte. Sie lächelten verständnisvoll und nickten. Beglückt über meine Findigkeit sagte ich zu Kriger: „Na, siehst du, alles in Ordnung, zu Mittag werden wir Hering essen“, und ging in das bewußte Gäßchen am Rande der Stadt, wo ich das Einfamilienhaus mit dem MPi-Posten aufsuchte. Dort riet man mir, am Abend noch einmal vorzusprechen. Der Mann, der in meiner Angelegenheit vermutlich eine Entscheidung fällen könne, sei noch
nicht eingetroffen. Ich bummelte durch Craiova und kehrte gegen Mittag, vom Vorgefühl des Gaumenkitzels erfüllt, zu unserem Quartier zurück. Meine Freude war jedoch verfrüht. Unsere Wirtsleute hatten Krigers Lei gewissenhaft umgesetzt und die verschiedensten Vorspeisen zubereitet, so ziemlich alles außer Hering, dann wurde Suppe aufgetragen, und zum Schluß brachte die Frau triumphierend die Platte. Auf dem abgebildeten Karpfen lag ein echter, riesiger, gebratener Karpfen, in seiner ganzen Länge, von Kopf bis Schwanz, dick mit Salz bestreut. Die Leute hatten mich allzu wörtlich genommen. Kriger erstickte fast vor Lachen. Die Wirtin stand neben mir und blickte mich neugierig an. Sie wollte sehen, wie ich mir dieses merkwürdige russische Gericht zu Gemüte führte. Erst als ich eine flache Piroggenkelle von der Servante nahm und mit einem Teelöffel den Haufen Salz hineinschaufelte, verstanden unsere Wirtsleute alles und brachen in gemeinsames Gelächter aus. Am Abend versuchte ich in dem Einfamilienhaus nochmals mein Glück, wieder mit demselben Mißerfolg. Der Betreffende sei nicht da, ich solle am nächsten Morgen vorsprechen. Kriger winkte ab. Im Morgengrauen fuhr er zum Stab der 2. Ukrainischen Front, um eine Aufgabe der Redaktion der „Iswestija“ zu erfüllen. Nach seiner Abreise suchte ich das Einfamilienhaus auf, und diesmal traf ich Generalleutnant Kornejew an, Chef der sowjetischen Militärmission beim Hauptstab der Volksbefreiungsarmee Jugoslawiens. Nikolai Wassiljewitsch Kornejew empfing mich und ließ sich meine Bitte vortragen, bei
den Jugoslawen abgesetzt zu werden, nach Möglichkeit recht weit von hier, im Landesinnern, wünschenswert ein Ort, der mir eine Begegnung mit Marschall Tito erlaube, weil ich ihn für meine Zeitung „Krasnaja Swesda“ interviewen wolle. Endlich wurde ich von dem Mann angehört, der in dieser Angelegenheit ein gewichtiges Wort mitzureden hatte, und so unterbreitete ich ihm gleich mein Maximalprogramm, von dem ich gegenüber seinen Unterstellten vorher nichts hatte verlauten lassen. Kornejew hörte mich zu Ende an. Dann sagte er, das sei alles in allem nicht nur eine militärische, sondern zugleich eine politische Angelegenheit; die Verantwortung, mich mit einem Flugzeug zu den Partisanen nach Jugoslawien zu bringen, werde er nicht übernehmen, aber ansonsten wolle er mir unter die Arme greifen. Er unterhalte Verbindung mit Moskau, und wenn er meine Wünsche schriftlich hätte, wolle er sie chiffriert weitergeben. Übrigens wäre es gut, den Charakter meines Antrags zu berücksichtigen. Daher empfehle er, ihn an Molotow zu richten und danach am Ort zu bleiben, um die Antwort abzuwarten. Falls ich mich aber nicht gedulden wolle, könne ich mich erneut zu unseren auf jugoslawischem Territorium operierenden Truppen begeben, allerdings nicht im Kreis Kladovo, sondern weiter südlich, wo sie schon zu den jugoslawischen Verbänden Verbindung hätten und mit ihnen gemeinsam kämpften. Zu diesem Zweck müsse ich von Kladovo nach Calafat fahren, dort über die Donau setzen, vom rumänischen Gebiet auf bulgarisches überwechseln, hinter Vidin die jugoslawische Grenze im Raum Negotin überschreiten,
den unsere Truppen bereits eingenommen hätten. Wenn ich dann einige Tage später zurückkehrte, würde ganz gewiß Antwort aus Moskau vorliegen. Dies etwa war das für mich so wichtige Gespräch. Ich schrieb das Gesuch, verabschiedete mich von Kornejew, der in meiner Anwesenheit noch den Chiffreur bestellte, nahm einen Wagen und durchfuhr an einem Tage Gebiete dreier Staaten, Rumäniens, Bulgariens und Jugoslawiens. Gegen Abend erreichte ich Negotin, den Operationsraum der von Generalleutnant Hagen geführten 57. Armee der 3. Ukrainischen Front. In meinem Frontnotizblock gibt es einige Aufzeichnungen über diese Fahrt. Die Stadt Negotin. Auf einem Platz ein Denkmal für die von 1912 bis 1918 Gefallenen des Balkankrieges und des ersten Weltkriegs. Auf dem Denkmal ein unsterblicher Bronzeadler, daneben auf den über den Gräbern unserer toten Panzerfahrer frisch errichtete Granitpyramiden. Eine Inschrift: „Hauptmann Alexander Iwanowitsch Wergerewski, geb. 1920, Gardestarschina Wassili Wassiljewitsch Schor, geb. 1909 – für die Befreiung Negotins“. Auf deutscher Seite kämpft hier die 1. Gebirgsjägerdivision des Generalleutnants Stettner. Ich erinnere mich ähnlich klingender Namen -Stettner und Schörner. Wo sind deutsche Gebirgsjägereinheiten nicht noch eingesetzt gewesen zwischen Kreta und Murmansk! Bei Murmansk und in Norwegen sind die Unterstellten Scherners längst erledigt. Hier aber bietet uns dieser Stettner noch die Stirn.
Mir kommt zu Ohren, die 113. Nishne-Dneprowsker Division, in der ich mich gegenwärtig aufhalte, sei mit der ehemaligen Volkswehrdivision des Kreises Frunse identisch. Von Moskau bis an die Donau, nach Negotin! Der Divisionskommandeur, Oberst Muchamedjarow, berichtet von der Begegnung mit der Bevölkerung. „Wir haben uns hier in Jugoslawien an neue Ausrüstungsstücke gewöhnt – Kränze an den Autos und Blumen an den Mützen.“ Ich fahre auf einer schmalen Bergstraße nach Salas. Nachtmarsch zweier Divisionen. Dämmerung. Bauern, die den Wagen entgegenkommen, verdecken den Ochsen die Augen. In den Tälern Felder – Mais und Kürbisse. In einer Schlucht niedergemetzelte Pferde. Hier wurden unsere Artilleristen mit deutschen, von Pferden gezogenen Geschützen konfrontiert. Dutzende krepierter Gäule auf der Straße und daneben und unterhalb der Böschung und im Bett eines schmalen Gebirgsflusses. Gespräche mit Jugoslawen. Der Stabschef der 25. Partisanendivision, Major Dragoslav Petrovic, ehemaliger Offizier der alten jugoslawischen Armee, erzählt, in ihrer Division gebe es einen russischen Arzt. Von sich selbst sagt er, daß er vor dem Krieg Kavallerist war, in Belgrad die Militärakademie beendet habe. Sein Vater sitze gegenwärtig in einem Lager, weil der Sohn bei den Partisanen sei. Ursprünglich, zu Beginn des Krieges, diente der Partisanenkommandeur unter Draza Mihailovic in den Abteilungen dieses ehemaligen Stabschefs der
königlichen jugoslawischen Armee. Damals glaubte er, daß Mihailovic gegen die Deutschen kämpfe. Später durchschaute er das Doppelspiel, als er sah, wie Mihailovic von den Deutschen mit Waffen beliefert wurde. Das Dorf Jabukovac. Ich spreche mit den Einwohnern. An Mihailovic und seine Cetniks erinnert man sich voller Haß. Die Cetniks, erfahre ich, habe man „Stecher“ genannt, weil sie die Menschen mit Messern niederstachen. Ich gehe in die Dorfverwaltung. Dort wird gerade über das Begräbnis der kürzlich Gefallenen gesprochen. Sie sollen vorerst dort begraben werden, wo sie liegen; die Stellen sollen gekennzeichnet werden, in der Zwischenzeit will man auf dem Dorfplatz ein ordentliches Massengrab ausheben. Am Sonntag sollen die sterblichen Überreste dann unter Anteilnahme der Bevölkerung in dieses Massengrab übergeführt werden. Alte Männer in Bastschuhen und handgewebtem Bauernrock, der von einer Schulter herabhängt, ziehen vorüber. Miha Subotic, ein betagter Bauer, spielt auf einer Trompete und ruft die Bevölkerung zur ersten Versammlung. Die Dorfkirche, der von den Deutschen geplünderte Altar. Ein Geistlicher im zerschlissenen Meßgewand. Auf einem zweirädrigen Wagen wird ein Sarg zur Kirche gefahren. Über dem Gesicht des Toten ist ein Fensterchen in den Sarg gesägt. Dem Sarg voran schreitet mit Kreuz und Blumen der Bruder des Verstorbenen. Man trägt Lazar Baretic zu Grabe. Ich frage, wie er gestorben sei, und erhalte zur Antwort:
Er habe gesehen, daß sich nur noch ein Deutscher in seinem Haus aufhielt, und wollte ihm die MPi wegnehmen, da hat ihn der Deutsche getötet. Hinter dem ersten Sarg wird ein zweiter getragen. „Und warum hat man ihn umgebracht?“ „Haben bei ihm gewohnt. Als sie weggezogen sind, haben sie ihn getötet.“ „Wofür?“ Als Antwort nur ein ausdrucksvolles Heben der Schultern und ein Wort: „Deutsche!“ Eine armselige Kirche, dünnes, klagendes Glockengeläut… Während jener drei Tage bei den Einheiten der 57. Armee gewann ich viele und starke Eindrücke. Ich wollte nach Craiova zurückkehren, um einen Bericht über die Kämpfe im Raum Negotin und über meine ersten Begegnungen mit Jugoslawen zu schreiben; aber es kam alles anders. Ich fand General Kornejew an seinem Platz vor und erfuhr zu meiner Freude, daß Antwort von Molotow vorlag und meiner Bitte stattgegeben werden sollte. Auf meine Frage, wann ich denn fliegen könne, entgegnete der General unbestimmt, ich möge mich noch einen Tag gedulden. Ich erwog die Möglichkeit, den Artikel über Negotin vor dem Abflug zu schreiben. Um zu ergründen, wie und unter welchen Umständen das geschehen könnte, fragte ich, um welche Zeit ich mich einzufinden hätte. Kornejew wiederholte jedoch rätselhaft, morgen werde man klüger sein. Inzwischen solle ich ihn begleiten. Er werde mich mitnehmen. Ich erkundigte mich, wohin, und bekam zur Antwort: „Du wirst schon sehen.“
Eine Viertelstunde später saßen wir im Auto, aber kaum waren wir eingestiegen, hieß es vor einem anderen stillen Häuschen wieder aussteigen. Dort empfingen uns Männer in jugoslawischer Militäruniform, die ich schon von meinen Begegnungen beim Übersetzen über die Donau und im Gebiet Negotin her kannte; doch ich begriff nicht gleich, daß es sich hier nicht um Majore und Oberste, sondern um Generale handelte. Wahrscheinlich ließ ich mich durch ihr jugendliches Äußere täuschen. Zusammen mit Kornejew und zwei weiteren Offizieren unserer Mission betrat ich ein kleines Zimmer, in dessen Mitte ein bescheiden gedeckter Tisch stand. Ehe ich mich recht orientiert hatte und wußte, wo ich mich befand, trat Marschall Tito ein. Wirft man heute einen Blick in Nachkriegsmemoiren und kriegsgeschichtliche Darstellungen der Belgrader Kampfhandlungen, so stößt man dabei auch auf Stellen, in denen der Aufenthalt Marschall Titos in Craiova und die Verhandlungen im Oktober 1944 mit Generaloberst Birjusow und Vertretern des bulgarischen Kommandos über die Koordinierung der Aktionen bei den bevorstehenden Operationen erwähnt werden. Damals aber war das alles noch Kriegsgeheimnis, und daß nach dem Treffen mit Stalin in Moskau Craiova zu Titos zeitweiligem Aufenthaltsort auserwählt wurde, davon hatte offenbar nur ein enger Personenkreis Kenntnis. Es blieb unter denen, die es unbedingt wissen mußten.
Das Zusammentreffen mit Tito kam für mich absolut unerwartet, und die Möglichkeit, ihn zu interviewen, war nun unverhoffte Wirklichkeit. Wie wir bei Tisch erfuhren, war Tito an diesem Tag im Namen der Sowjetregierung mit dem Suworoworden Stufe I ausgezeichnet worden. Zum Abendessen genehmigten wir uns aus diesem Anlaß jeder ein Gläschen Wodka. An der Tafel wurde ich auch mit dem neben mir sitzenden General Koca Popovic bekanntgemacht, dem späteren General Stabschef und Staatssekretär Jugoslawiens, damals Befehlshaber der jugoslawischen Truppen in Südserbien. Bald erfuhr ich, daß ich ihn in der folgenden Nacht dorthin begleiten sollte. Das eröffnete mir Kornejew, der die Angelegenheit vorher mit den Jugoslawen erörtert hatte. Unter diesen Umständen mußte das Interview – vorausgesetzt, der Marschall gewährte es mir – entweder noch am selben oder spätestens am folgenden Tag stattfinden, da ich den Text vor meinem Abflug fertigstellen und der Zeitung zuleiten wollte. Dieses Anliegen brachte ich bei der ersten günstigen Gelegenheit zur Sprache. Tito war einverstanden, und nachdem er als Termin für die Zusammenkunft den nächsten Morgen genannt hatte, zog er sich bald zur Arbeit zurück. Wir saßen etwa noch zwanzig Minuten bei den jugoslawischen Genossen, dann verabschiedeten wir uns ebenfalls. Am Morgen fuhr ich zum Interview. Es dauerte etwa eine Stunde. Als ich es danach für die Zeitung überarbeitete, beschränkte ich mich nicht auf die erhaltenen Antworten, sondern ließ auch einiges davon einfließen, was ich am Abend zuvor bei Tisch
erfahren hatte. Meine Arbeitsstunden waren gezählt. Ich mußte das Interview zusammenstellen, es abschreiben, dafür sorgen, daß es dem Marschall vorgelegt wurde, nötigenfalls Korrekturen vornehmen, die endgültige Fassung den Funkern zur Übermittlung nach Moskau übergeben und mich vor Anbruch der Dunkelheit auf dem Flugplatz einfinden, um die nach Südserbien abgehende Maschine rechtzeitig zu erreichen. Das Interview erschien wenige Tage später. Ich werde es hier nicht vollständig wiedergeben, da es – vom Marschall selbst dargelegt – einige Lebensdaten enthält, die den Lesern unserer Zeitung „Krasnaja Swesda“ damals neu waren, inzwischen aber allgemein bekannt sind. Zum Schluß unseres Gesprächs mußte ich dem Marschall noch eine delikate und sehr wichtige Frage stellen, die im Interview allerdings nicht erwähnt wird. „Sagen Sie, wo haben Sie mir dieses Interview gewährt?“ Tito lachte. „Sicherlich dort, wo Sie morgen früh sein werden.“ Ich weiß heute nicht mehr, wer mir von den jugoslawischen Genossen behilflich war, die ersten, für mich schwierigsten Absätze des Interviews zu schreiben, indem er mir die südserbische Landschaft schilderte. Am 11. Oktober, als ich mich tatsächlich schon seit einigen Tagen in Südserbien aufhielt und die „Krasnaja Swesda“ das Interwiew druckte, nahm sich die von mir in Abwesenheit beschriebene Landschaft folgendermaßen aus: „Aus begreiflichen Gründen nenne ich nicht den genauen geographischen Punkt, an dem unsere Be-
gegnung stattgefunden hat. Ringsum erstreckte sich die übliche Szenerie: Waldbestandene Berge, auf gerodete Parzellen hingekuschelte Maisfelder und die dunklen Dächer der niedrigen Bauernhäuschen. In einem dieser Häuschen traf ich den Marschall, der hier kurz rastete…“ Das Interview wurde abgetippt, für gut befunden und bei General Kornejew zwecks Übertragung nach Moskau hinterlassen. Danach konnte ich getrost dorthin fliegen, „wo ich es aufgezeichnet hatte“. Eine ungeklärte Frage beschäftigte mich. Wie sollten wir in Südserbien eigentlich landen, mit Flugzeug oder Fallschirm? Dummerweise hatte dieses Thema niemand berührt, und fragen wollte ich nicht. Das verbot mir mein Ehrgefühl. Mit einem Fallschirm war ich noch nie abgesprungen, nicht einmal von einem Fallschirmturm. Als ich im Jahre 1940, nachdem unsere Truppen die Nordbukowina befreit hatten, mit Jewgeni Dolmatowski an Bord einer R-5 Richtung Kiew flog, war das der erste und einzige Fall, bei dem ich mit dem Fallschirmproblem konfrontiert wurde. Die R-5 galt damals als Kampfflugzeug, und nach den Instruktionen der Friedenszeit war eine Landung ohne Fallschirme nicht zulässig. Auf dem Flugplatz in Tschernowizy bekamen Dolmatowski und ich Fallschirme aufgepackt, und uns wurde lang und breit erklärt, wie man damit umzugehen habe, wie und wann im Bedarfsfall der Ring zu ziehen sei und was man weiterhin tun müsse, wenn er sich nicht auf Anhieb herausreißen ließ. Wir hörten aufmerksam zu. Dann wurden wir in die
hintere Kabine verfrachtet, aber als wir in Kiew gelandet waren und mit unseren Fallschirmen aus dieser Kabine herauskriechen wollten, brauchten wir etwa zehn Minuten, um ins Freie zu gelangen, weil wir immer wieder steckenblieben und uns verhaspelten. Dies war mein einziges komisches, wenngleich aufregendes Fallschirmabenteuer. Kurz und gut, mir fiel ein Stein vom Herzen, als ich in der einsetzenden Abenddämmerung auf dem Flugplatz ankam und keine Fallschirme entdeckte, weder draußen noch in der Maschine selbst, die ich mit Koca Popovic und Oberst Paramoschkin bestieg. Den Oberst, der ebenfalls nach Südserbien flog, kannte ich von meiner Donau-überquerung her. Das Flugzeug nahm neben den Passagieren noch Kisten mit Munition auf. Wir starteten, als es schon dunkel war, und gewannen schnell an Höhe. Ehe ich einige ausführliche Stellen des Frontnotizblocks darlege, die einige Lücken aufweisen, möchte ich eine kleine Einführung geben, damit der Leser klarere Vorstellungen von den geographischen Eigenheiten der Landstriche und der Geschehnisse gewinnt, die den Hintergrund meiner Erlebnisse bildeten. Wir landeten auf einem kleinen Partisanenfluggelände bei Prokuplje, einem Städtchen im gebirgigen Teil Südserbiens, fünfundvierzig Kilometer westlich von Nis, der größten Stadt dieser Gegend. Leskovac ist eine Kleinstadt, siebzig Kilometer südlich von Nis entfernt an der südserbischen Fernstraße gelegen, auf der die Deutschen in der ersten Oktoberhälfte von
Süden nach Norden – aus Griechenland nach Belgrad – durchzubrechen trachteten. Dieses Manöver wollten die von Westen vorrückenden Jugoslawen und die ihnen von Osten entgegenziehenden Bulgaren vereiteln, ihnen eilten sowjetische Truppen zu Hilfe. Die erste Vereinigung der bulgarischen und der jugoslawischen Truppen vollzog sich auf dieser Chaussee in Leskovac. Später, schon nach der Vereinigung, versuchten die Deutschen noch einen Durchbruch, aber ihr Vorhaben scheiterte dank der Einnahme von Nis durch jugoslawische, bulgarische und sowjetische Truppen. Als die Stadt gefallen war, verzichteten die Deutschen auf alle weiteren Anstrengungen, über Nis einen Durchbruch nach Belgrad zu erzielen. So stellte sich, knapp skizziert, die Lage an diesem Frontabschnitt dar. Ich kehre zu meinen Notizen zurück. Im Flugzeug schlafe ich ein. Als ich erwache, setzen wir bereits zur Landung an. Es ist eine klare Mondnacht. Bald hier, bald da flakkern in den Bergen unter uns Feuer auf, mit denen uns wohl Deutsche und Cetniks irreführen wollen. Ich verspüre ein Gefühl der Leichtigkeit und diebischer Genugtuung, als die „Douglas“ über kleine Unebenheiten auf der Landebahn holpert. Wir steigen aus. Die Leute, die uns erwartet haben, entladen die Maschine und stapeln die Fracht neben dem Flugzeug. Wie wir erfahren, sind die Feuer, die von oben zu sehen waren, Flugplatzsignale, große, mit Petro-
leum gefüllte Blechkannen, durch deren Tüllen Dochte gefädelt sind. Der einzige Jeep, den die Partisanen hier besitzen, bringt Koca Popovic, Oberst Paramoschkin und mich zum Hauptstab in Serbien. Der Oberst und ich steigen in einem Dorf ab, in dem bereits unsere Mission untergebracht ist; es sind drei Mann, darunter ein Funker und ein Chiffreur. Nun kommen wir beide noch dazu. Eine weiße Kate, ein Schuppen voller Heu. Das Nachtlager in der Hütte ebenfalls aus Heu, das mit Stoffbahnen einiger Lastenfallschirme bedeckt ist. Für die Mission kocht eine Russin, die ein siebenjähriges Kind hat und während des Krieges durch irgendwelche Umstände aus Bobruisk hierher verschlagen wurde. Am Morgen reiten wir zu dem Dorf, in dem Kocas Stab liegt. Uns entgegen kommt Major Henniker, der Chef der britischen Mission, ein hochgewachsener Mann, der eine Schirmmütze trägt, die Hemdsärmel hochgekrempelt hat und einen dürren Gaul reitet. Mit Pferden werden die Engländer hier offensichtlich nicht verwöhnt. Dem Stab stehen zur Verfügung: ein großer Rundfunkempfänger, Akkumulatoren, elektrisches Licht, Telephon, ein schmales Bett. Koca arbeitet und wohnt hier. Er hat zwei Landkarten: Europa und Jugoslawien. Unerwartet trifft die Nachricht ein, die Deutschen hätten die in der Nähe gelegene Stadt Vlasotince erobert. Wir hören Geschützdonner. Während unseres Gesprächs werfen die Deutschen Bomben ab. Trotz der Hitze tragen die meisten Stabsmitarbeiter englische Wollhemden und grüne wollene Jumper. Der Chef der operativen Abteilung des Stabes ist ein
liebenswürdiger grauhaariger Mann von leicht übertriebener, beinahe orientalischer Höflichkeit. Er hat einmal bei Mihailovic im Stab gearbeitet, später brach er mit ihm und ging zu den Partisanen. An der fahnengeschmückten Wand hängen die Porträts von Tito, Stalin und Roosevelt. Daneben an der Wand der getreue Erzengel Michael mit dem Schwert, ein Photo: Nilpferdjagd in Afrika, und ein Vorfahr des ehemaligen Hausherrn, eigentlich nur sein Gesicht, das in einer Sperrholzplatte mit vollständig aufgemalter Husarenuniform steckt. In der Kaderverwaltung sehen wir uns die soeben eingetroffenen, von den Jugoslawen in Auftrag gegebenen und in unserem Münzhof hergestellten Orden an, den Orden des Volkshelden und des Partisanensterns Stufe I und IL Die Orden zeigt uns Oberstleutnant Noma. Er ist sehr krank. Viele Jahre hat er im Gefängnis gesessen. Er bietet uns südafrikanische Zigaretten an. Die Schachtel trägt die spaßige Aufschrift „20 für Sie und 4 für Ihre Freunde“. Neben uns – im selben Zimmer – tippt pausenlos eine Maschinenschreiberin. Sie trägt die grüne britische Uniform, Breeches und Stiefel. Am Abend bekommen wir Besuch. Im Dorf treffen ein: Major Henniker, ein zweiter britischer Major vom Intelligence Service und ein serbischer Amerikaner oder amerikanischer Serbe namens Pribycevic, der sich schon lange bei den Partisanen aufhält und kürzlich mit seinem Artikel „Vierundzwanzig Stunden in faschistischer Gefangenschaft“ in amerikanischen Zeitungen und Zeitschriften Aufsehen erregte. Sein Bericht entspricht den Tatsachen. Bei einem
deutschen Angriff geriet er für einen Tag in Gefangenschaft. Mit den Briten sprechen wir über Greenwood und seinen Roman „Mister Bantin in Tagen des Krieges und des Friedens“. Ich äußere einige wohl nicht sonderlich höfliche Worte, der Roman sei zwar gut geschrieben, aber beim Lesen hätte ich den Eindruck gewonnen, der Autor wolle den Menschen glauben machen, die Bombardierungen von Städten aus der Luft wäre das hauptsächliche und beinah einzige Anliegen der Kriegsteilnehmer. Wir genießen die Nacht und streifen durchs Dorf. Hier und da brennen Lagerfeuer, von den Einwohnern, vor allem Frauen, umringt. Fast jede hat eine Spindel bei sich und zwirnt Wolle oder Hanf. Neben einem Mädchen sitzt ein geblendeter Partisan mit schwarzer Brille. Er ist erst vor kurzem aus der Gefangenschaft befreit worden und in sein Heimatdorf zurückgekehrt. Über uns hinweg fliegen ständig deutsche Transportmaschinen. Ein fortgesetztes Donnern und Dröhnen. Die Deutschen evakuieren auf dem Luftweg ihre Einheiten aus Griechenland. Als sich der Motorenlärm bedrohlich nähert, legt jemand eines der runden Bleche, auf denen Brot gebacken wird, über die Flammen. An den Feuern wird gesungen, in der Mehrzahl sind es getragene, schwermütige Weisen, aber auch einige mit flotterem Tempo sind darunter. Das populärste Partisanenlied ist „Wir sind Titos junge Truppe“. Die erste Strophe dieses Liedes könnte man frei so übersetzen:
Durch die Dörfer, durch die mächtgen Eichenwälder, über Flüsse, über weite, freie Felder stürmt der Partisanen mutige Brigade, jagt die Schwaben, blutge Raben ohne Gnade… Partisanenlieder sind fast durchweg schlicht und naiv, sie gehen leicht ein. In vielen spielen Rußland, Stalin, Molotow eine Rolle. Eins ist ausschließlich Timoschenko gewidmet… Am Morgen. Partisanen ziehen durchs Dorf. Die meisten tragen fuchsrote Bauernröcke. Jeder hat sich einen Stern angesteckt, gewöhnlich an der Mütze. Die Sterne sind aus dem verschiedensten Material angefertigt. Von rotem Wachstuch bis zum angestrichenen Blech ist alles vertreten. Der Oberst sagt, Partisanen hätten eine Schwäche für Sterne, dabei schmunzelt er. Die ersten erbeuteten Lastwagen hätten sie so mit Sternen verziert, daß sie der Staatsflagge der Vereinigten Staaten glichen. Heute werden wir nach der Rückkehr vom Stab dem ehemaligen Militärattache Jugoslawiens in der UdSSR, Lozic, vorgestellt, einem der Verfasser des bekannten Briefes von Simic und Lozic, die darin ihren Übertritt auf die Seite Titos erklären. Bauern, Besitzer der Hütte, in der Lozic sein Quartier aufgeschlagen hat, schleppen einen kleinen Tisch und einige niedrige Schemel mit halbkreisförmiger Sitzfläche auf den Hof. Ein Krug mit köstlichem Traubenwein wird gebracht. Wir trinken nach serbischer Sitte, aus sehr kleinen Gläsern, und essen Weintrau-
ben dazu. Dann tauchen zwei Mädchen auf, die Töchter des Hausherrn. Sie haben sich bisher draußen und im Haushalt zu schaffen gemacht und Alltagskleider getragen. Jetzt sind sie festlich herausgeputzt, tragen lange bestickte Röcke und passende Blusen dazu, sie haben Tücher umgebunden und erscheinen überhaupt in prächtigem Festtagsaufzug. Der Grund der Verwandlung: ein Photoapparat, den der Oberst am Gürtel trägt. Beide sind Mädchen im heiratsfähigen Alter. Da kann der Oberst nicht so sein, der macht mehrere Aufnahmen, bemüht, ihre versteinerten Gesichter gut zu treffen. Koca Popovic erzählt von einem Gefangenenaustausch. Ein bedeutender Angehöriger der Partisanen war den Deutschen in die Hände gefallen. Er mußte um jeden Preis befreit werden und wurde gegen einen deutschen Oberst ausgetauscht, den die Partisanen ergriffen hatten. Als Koca mit einer weißen Flagge bei den Deutschen erschien, glaubten sie, er sei gekommen, um zu kapitulieren. ,,,Aha’, sagten sie, ,da sind Sie also?’ – ,Da bin ich also’, sagte ich und ließ den Blick zufrieden an mir herabgleiten. Ich hatte eine deutsche Parabellum, eine deutsche Feldflasche, eine deutsche Stablampe. Ich betrachtete das alles und wartete, bis sie mich gemustert hatten, dann reichte ich ihnen mit besonderer Genugtuung die Note über den Gefangenenaustausch.“ Plötzlich wechseln wir das Thema. Das Gespräch dreht sich um Majakowski, dem Koca in Paris begegnet ist, und um Elsa Triolet…
Am Morgen, als noch alle schlafen, nehme ich das Pferd und reite durchs Dorf. Hinter dem Dorf liegt ein Friedhof mit einfachen Steinkreuzen. Viele Kreuze tragen keine Inschrift, auf anderen lese ich Daten wie diese: „Mihailo Petrovic, starb mit siebenundzwanzig Jahren als Soldat im Dezember 1913“. Das war noch während des Balkankrieges. Auf einem anderen Kreuz steht: „Petr Zivkovic, starb mit einunddreißig Jahren als Soldat 1914“. Das war bereits im ersten Weltkrieg. Etwas abseits befinden sich fünf gleichaltrige Grabmäler, jedes ist mit Bild und Inschrift versehen. Alle, die hier liegen, verstarben an einem Tag, und zwar dem 17. VI. 1942: Boguslav Konstaninovic, Borislav Andrejevic, Velimir Ivanovic, Vladimir Cekic, Alexander Cekic. Auf dem letzten Grabmal befindet sich ein Zusatz: „War Hufschmied, starb mit zweiunddreißig Jahren“. An den Kreuzen hängen Blumenkränze, Weintrauben, getrocknete Aprikosen. Ein Bild des Friedens, aber ein und derselbe Todestag. Was für ein tragisches Datum war das für sie, dieser 17. VI. 1942. Außerhalb des Dorfes steht eine Kapelle mit länglichen, schmalen Fenstern, die wie Schießscharten aussehen. Auf dem Feld klingen die Glöckchen der Schafe, und die hütenden Kinder singen eine endlose Weise. Ein etwas älteres Mädchen hindert einen Jungen daran, ein Stück Rinde von einem Baum abzuschneiden. Die Entfernung zu mir ist so groß, daß ich ihre Worte nicht verstehe, aber ich sehe, wie sie ihm durch Gesten das Verwerfliche seiner Absicht erklärt. Nach dem Spaziergang nähere ich mich dem
Dorf von einer anderen „eite und begegne Partisanen beim Exerzieren. Es sind MPi-Schützen. Die Trommeln haben sie von den Waffen abgenommen und sie unter einen Birnbaum gelegt. Dort liegen sie einträchtig auf einem Haufen wie Kartoffeln oder wie sperrige Minen. Die Partisanen marschieren angestrengt. Als mich der kommandoführende Unteroffizier erblickt, kommandiert er noch energischer. Ein wenig abseits exerziert ein anderer Unteroffizier mit zwei Soldaten, die zurückgeblieben sind… Mit Koca Popovic fahre ich nach Prokuplje. Wir unterhalten uns über den Film. Er lobt den Streifen „Peter der Erste“ und ganz besonders „Deputierter des Baltikums“. Ich frage, wie ihm unsere Kriegsfilme gefallen. „Limonade“, antwortet er. „Wie würde man das Ihrer Meinung nach auf russisch sagen – Limonade, in dem Sinne, wie ich das Wort gebraucht habe?“ Ich verstehe nicht ganz, was er meint, und suche nach einem passenden Ausdruck, „Rosenwasser – oder“? „Ja, Rosenwasser, genau das. Anderen sage ich es nicht, aber Ihnen kann ich es verraten. Das ist schlecht, ganz schlecht.“ Auf dem Bahnhof von Prokuplje stehen drei ausgebrannte deutsche Güterzüge und drei angekohlte Panzer. Einige Waggons sind ganz geblieben. Darauf steht: „Es lebe die Rote Armee!“ Durch Prokuplje marschieren Rekruten. Wir verweilen bei einer rastenden Partisaneneinheit. Die ersten begrüßen uns für alle. In der Nähe spielt eine Harmonika. Viele haben Sterne an den Mützen – keine angeklebten oder angesteckten, sondern Sterne
aus mühsam aufgenähten weißen und roten Glasperlen. Wir verlassen den Ort und wählen die Straße Richtung Nis. Dort holen wir eine Partisaneneinheit auf dem Marsch ein. Die Lastpferde scheinen völlig überladen zu sein, aber es ist alles so klug verstaut, daß sich Maulesel und Pferde frei bewegen. Einige Tiere tragen oben auf der Last noch einen Kochbottich. Der Stab der n. Brigade. Koca erteilt den Befehl, in Richtung Nis entschlossener vorzugehen. Unerwartet entdecke ich unter den Partisanen einen Zivilisten. Wie ich höre, handelt es sich um einen Hauptmann der alten jugoslawischen Armee, der erst vor einem Monat zu den Partisanen gekommen ist. Vorher hatte er an keinerlei Aktionen teilgenommen, weder an guten noch an schlechten, hatte weder für noch gegen die Deutschen gekämpft. Nun hat er sich den Partisanen angeschlossen. Doch die Partisanen verhalten sich äußerst abwartend gegenüber einem, der zu ihnen übergelaufen ist, als schon feststand, welcher Seite der Sieg gehören wird. Sie sind zurückhaltend zu ihm, sogar mißtrauisch. Er ist ein hochgewachsener, dicker Mann und gibt eine traurige Figur ab in seinem allzu zivilen Anzug. Ein anderer ehemaliger Offizier, der gleichfalls erst vor verhältnismäßig kurzer Zeit zu den Partisanen gestoßen ist, wurde bereits zum Major befördert und unterrichtet in der Divisionsschule. Er trägt einen grauen Mantel und seinen alten, gut erhaltenen Waffenrock. Gesprächsweise beklagt er sich halb scherzhaft, halb im Ernst darüber, daß es pausenlos vorwärts geht. „Bewegung, immerzu Bewegung,
keine Zeit, den Kopf sinken zu lassen, schlimmer noch – keine Zeit, den Leuten etwas beizubringen!“ Die nächste Stellung vor Nis hat der Stab der 24. Partisanendivision bezogen. Er wartet auf den Befehl zum Angriff. Von diesem Randbezirk aus sieht man ein Stück der nach Nis führenden Straße und im Talkessel die weiß leuchtende, von Hügeln halb umschlossene Ortschaft selbst. Der Divisionskommandeur, Major Mile Culovic, meldet Koca den Stand der Angriffsvorbereitungen. In der Division arbeiten zwei Leute von uns, die Krankenschwester Lisa Kirjanowa und der Chirurg Sinodow. Schon bald kommen sie zu mir. Sie erkundigen sich nach Moskau. Ich frage, wie es hier so geht. Sie klagen über den weitläufigen Frontverlauf und den Fahrzeugmangel. Die Verwundeten müssen zwei, drei Tage lang mit Pferdefuhrwerken transportiert und manchmal sogar getragen werden. Wenn sie zur Operation kommen, ist ihr Zustand schon ernst. Kürzlich wurde hier die erste Blutübertragung vorgenommen, als ein Bombensplitter einem zwölfjährigen Jungen aus dem Nachbardorf ein Bein abriß. Auf dem Rückweg begegnen wir einer Kämpferin der 1. Proletarischen Brigade, die einmal Kocas Kommando unterstand. Er begrüßt das Mädchen sehr erfreut, küßt sie, aber als ich ihn eine Viertelstunde später nach ihrem Namen frage, grübelt er lange und kann sich nicht entsinnen. Zu seiner Rechtfertigung führt er an, er hieß damals Pierre. In der Illegalität sei das sein Deckname gewesen. Außerdem habe er Bauerntracht getragen und einen riesigen Schnurrbart gehabt. Lachend zeigt er mir die Länge seines
Schnurrbartes. Koca wurde in Belgrad geboren. Die Schule besuchte er in Frankreich. 1932 beendete er die Sorbonne. Danach kehrte er nach Serbien zurück. Von 1937 bis 1939 war er in Spanien. Nach dem nationalrevolutionären Krieg Lager in Frankreich. Dann illegaler Aufenthalt in Paris. Von Paris unter dem Deckmantel eines zum Arbeitsplatz fahrenden ausländischen Arbeiters zunächst nach Deutschland, von dort durch Untergrundkanäle zurück in die Heimat, nach Jugoslawien. In Prokuplje ist die Nachricht eingegangen, die Deutschen hätten die Bulgaren umgangen und näherten sich der Stadt. Wir kehren zum Stab zurück. Am späten Abend kommt Lozic. Er bringt die Nachricht mit, die Deutschen seien in unserer Richtung durchgebrochen und hätten eine Ortschaft eingenommen – ihren Namen habe ich nicht notiert. Es folgt eine ausgedehnte nächtliche Lagebesprechung. Funksprüche werden losgejagt Der folgende Tag vergeht unter Geschützdonner, der tatsächlich näher kommt. Der Funkverkehr dauert an. Hinter den Bergen wetterleuchtet am Himmel der Widerschein des Artilleriefeuers. Dennoch schlafen wir gut. Der Heuduft durchdringt die Seide, als Kopfkissen dienen weiche Hanfbündel. Die Fallschirme ersetzen hier alles: Bezüge und besonderes Laken. Heute sprachen wir darüber, und jemand meinte scherzhaft, es wäre gut, an den für Flugangelegenheiten zuständigen Oberst Sokolow einen Funkspruch durchzugeben: „Erbitten umgehend den Abwurf weiterer acht Fallschirme, gleich-
gültig, mit welcher Last, da wir andernfalls schon die zweite Woche unsere Bettwäsche nicht wechseln können.“ In Anbetracht der veränderten Lage wird wohl erwogen, den Stab zu verlegen. Vielleicht soll er sich auf den berühmten Partisanenberg Velika Planica Radan absetzen, vielleicht auch dahinter Quartier beziehen. Heute hat uns Major Henniker einen seiner beiden „Willys“ vermacht, vermutlich in der Voraussicht eines Rückzugs. Die Annahme verweigern können wir nicht, aber womit wir diese plötzliche Freigebigkeit verdient haben, bleibt zunächst ein Rätsel. Der Oberst meint – ob im Scherz oder Ernst, sei dahingestellt –, Henniker habe gehört, daß ein Überschreiten des Gebirges ins Auge gefaßt sei. Falls die Berge kurzfristig zu überwinden seien, würden die Partisanen den Russen sicherlich helfen, ihren „Willys“ auf den unbefahrbaren Pfaden zu transportieren, und dann wäre es peinlich, nicht auch den zweiten, den englischen Wagen zu befördern. So trennte man sich lieber von einem Wagen, als zu riskieren, beide zu verlieren. Die Motorhaube des geschenkten Fahrzeugs ist mit Kreisen markiert, den gleichen Erkennungszeichen wie auf den englischen Flugzeugen. Sie sollen verhindern, daß der Wagen von der eigenen – der britischen – Luftwaffe bombardiert wird. Der Aufstieg ins Gebirge ist verschoben worden. Sehr wahrscheinlich findet er überhaupt nicht statt. Die Lage ändert sich zu unseren Gunsten.
Am Abend. Der Funker Kostja starrt unverwandt auf ein Mädchenbild, das er aus einer amerikanischen Zeitschrift ausgeschnitten hat. Zugleich bedient er sein Gerät. Der Oberst erzählt einen Witz, den er aus Craiova mitgebracht hat. Zwei Kämpfer brechen mit Kamelen von der Wolga auf. Sie folgen einer Division, die inzwischen das Baltikum erreicht hat. „Schon lange unterwegs?“ werden sie gefragt. „Seit 1942.“ „Und wie seid ihr nach Craiova gekommen?“ „Immer der Nase nach.“ „Na, und wovon lebt ihr?“ „Ach, wir schlagen uns durch. Die Groschen gehen nie aus, und an Wodka fehlt’s auch nicht. In Rumänien hat noch niemand ein Kamel gesehen. Wir verstecken unsere Kamele hinter vier zusammengenähten Zeltbahnen. Für zwanzig Lei führen wir sie vor.“ Eine wirkliche Schelmengeschichte, Folklore des Krieges. Am Abend bummle ich um unser Dorf Zlata. Von der anderen Seite, vom Fluß her, ähnelt es einem kaukasischen Aul. Mauern aus flachen Steinen, geschlossene, fensterlose Häuserwände. Auf dem Rückweg zu meinem Häuschen gehe ich durch die Dorfstraße, als es hinter mir so aufheult, daß ich unwillkürlich zusammenfahre. In dem „Willys“ sitzt Koca. Er sagt, hinten sei noch ein Platz für mich frei. „Weiter!“ Es sei eine Meldung eingegangen, erklärt er. Seine Brigade habe sich bei Leskovac mit den Bulgaren vereinigt und die Deutschen an zwei Stellen von der Landstraße abgeschnitten…
Das Dorf Lebane. Der Stab der 47. Partisanendivision. In Richtung Leskovac soll die Straße vermint sein. Da die Partisanenabteilung, die die Minen verlegt hat, inzwischen abgerückt ist, weiß niemand genau, wo die Minen liegen. Wir fahren bei völliger Dunkelheit. In jedem Dorf fragen wir, wo Minen liegen könnten. Zweimal biegen wir von einer verminten Brücke ab und durchqueren eine Furt. Die Stellen sind seicht, es ist bequem hinüberzukommen. Es wird öde. Keine Gebäude mehr; niemand, den man fragen könnte. Der uns begleitende Partisan ist beunruhigt. Wie, wenn ausgerechnet diese Strecke vermint ist? Aufopferungsbereit bietet er sich an, dreißig Schritte vor dem Wagen her zu laufen. Die anderen sollen im Auto folgen. Koca lehnt das Angebot ab. Er befiehlt ihm, sich auf den Kühler zu setzen und die Straße aufmerksam zu beobachten. Dann steigen wir aus und legen zwei Kilometer zu Fuß zurück. Wir halten uns seitlich und sehen jetzt mit eigenen Augen: An einigen Stellen wimmelt die Straße von Minen, die recht und schlecht verbuddelt sind. Der „Willys“ folgt uns, überholt uns schließlich mit Schlagseite. Wir steigen wieder ein. Die letzten drei Kilometer überwinden wir schnell. Unmittelbar vor der Stadt sehen wir eine Kanone, die Mündung ist auf uns gerichtet. Durchgefrorene bulgarische Soldaten stehen neben einem verdeckten Lkw. Unter der Plane klingt träges Schnarchen hervor. Fünf Schritte weiter ein verlassener deutscher Panzer. Wir finden den Stab der 15. Partisanenbrigade, die sich in Leskovac mit den Bulgaren vereint
hat. Divisionskommissar Savo Kesar und Brigadekommandeur Stanimir Dicic. Koca erkundigt sich eifersüchtig, wer zuerst in Leskovac war, seine Kämpfer oder die Bulgaren. Der Divisionskommissar antwortet ihm ehrlich, die Bulgaren seien anderthalb Stunden früher in die Stadt eingedrungen. „Und wie haben sich die Bulgaren geschlagen?“ fragte Koca. „Gut, sehr gut“, antwortet der Divisionskommandeur. Koca erteilt die ersten Anweisungen. Gleichzeitig nimmt er die Meldungen zur Kenntnis. Die Deutschen ziehen sich entlang der Straße auf Nis zurück. Einheiten der 12. bulgarischen Division sind in Leskovac eingedrungen. Etwa zweitausend Deutsche und eintausend Cetniks und Nedic-Leute hielten die Stadt besetzt. In der Nacht. Ich gehe auf die Straße. Patrouillen. Jugoslawen mit Sternen am Käppi. Bulgaren in rötlichen Tuchmänteln. Schirmmützen, mit denen sie unseren Soldaten ähnlich sehen, obwohl wir es nicht mehr gewohnt sind, Soldaten mit Schirmmützen zu sehen, wir sind an Käppis gewöhnt. Die Nacht ist hell. Koca erwartet einen bulgarischen Oberst, Divisionskommandeur. Er ist in Rage, denn sie konnten sich nicht gleich einigen, wer zu wem kommt. Schließlich hat er seinen Adjutanten geschickt, den Bulgaren zu empfangen. Er legt Schulterriemen und Jacke ab, geht ein paar Schritte, reckt und streckt sich. Dann setzt er sich an den Tisch. Ohne Jacke sieht er hager und knabenhaft schlank aus. Nachdem er den Leibgurt geprüft hat, schnallt er ihn ein Loch enger. Ich lächle. Als er es bemerkt, feixt er ebenfalls.
„Da kannst du nichts machen, ein Partisanenbauch. Du hast natürlich einen anderen.“ Er weiß schon, daß ich gern reichlich esse, wenn ich Gelegenheit dazu habe. Schließlich trifft der Divisionskommandeur ein – der Divisionär, wie hier ein Oberst genannt wird, der die Dienststellung eines Generals bekleidet und eine Division führt. Mit ihm kommt sein Stellvertreter, ein ehemaliger Partisan. Ein unerwartet derber Händedruck. Der bulgarische Oberst, ein ergrauter, stämmiger Mann in Felduniform und entsprechenden Dienstgradabzeichen, ist Berufsoffizier, Soldat vom Scheitel bis zur Sohle, aber als er Koca begrüßt, regt er sich auf. Ihm zittern sogar leicht die Hände. Sie breiten ein Meßtischblatt aus und stellen fest, wer sich wo befindet. Der Karte nach ist Nis, das sie beide angreifen sollen, eine große Stadt. Plötzlich kommt mir der Gedanke, daß es wahrscheinlich die erste gemeinsame Operation jugoslawischer und bulgarischer Verbände ist, zumindest in dieser Gegend. Und ich bin zufällig der erste sowjetische Offizier, der bei einem Koordinierungsgespräch zugegen ist. Das wird mir bewußt, als die beiden eine Kontroverse haben und der bulgarische Oberst – Zustimmung oder Beistand suchend – sich zu mir umdreht. Ich trete zurück, um nicht im Licht zu stehen. Am Morgen gehen wir durch Leskovac. Es ist ein einziges Trümmerfeld. Die Amerikaner haben die Landstraße bombardiert, zugleich auch die Stadt. Eine alte Frau sieht uns an und sagt: „Meine Lieben.“ Eine andere deutet auf die Ruinen. „Warum seid ihr nicht früher gekommen?“ Es klingt beinahe vor-
wurfsvoll. Wir fahren nach Vlasotince weiter. Gefangene werden gebracht, darunter zwei Volksdeutsche. Einer ersucht Koca ohne Hemmungen, zu seiner Begleitung überwechseln zu dürfen. Ein sowjetischer Soldat kommt aus einem Lazarett in Moldawien und will sich zu seiner Einheit in Bulgarien durchschlagen, aber er sitzt hier fest. Bulgaren haben ihn mit einem Wagen mitgenommen. Doch hier liegen keine sowjetischen Truppen. Als die Jugoslawen den Russen sahen, händigten sie ihm ohne weiteres eine MPi aus. Er bittet um die Erlaubnis, kämpfen zu dürfen. Weiter geht es in Richtung Nis. Koca möchte sich im Operationsgebiet der bulgarischen Truppen persönlich vom Verlauf der Kampfhandlungen überzeugen. Wir meiden die verminte Straße und beschreiben einen weiten Bogen durch Siedlungen. An einer Übersetzstelle über die Modova sehen wir bulgarische Truppen, einige Autos und vor allem ein riesiges Lager von Fuhrwerken, Planwagen, Menschen, so daß ich mich in den Krieg des Jahres 1877 zurückversetzt fühle. Äußerlich gibt es da kaum einen Unterschied. Bulgarische Artillerie. Die Geschütze werden von Pferden gezogen. Die Artilleristen grüßen uns auffallend eifrig. Vor der Feldküche eine Schlange, die Leute stehen unabhängig von ihrem Dienstgrad an. Zwischen den Soldaten sehe ich Offiziere und sogar einen General, alle mit ihrem Kochgeschirr. Ein Beispiel dafür, wie sich die bulgarische Armee nach der Machtübernahme durch die Vaterländische Front über Nacht gewandelt hat. Ob
die Veränderungen alle zweckmäßig sind, ist eine andere Frage, aber sie sind für jedermann sichtbar. Wir überholen eine Kolonne bulgarischer Transportwagen (einige mit angeketteten Geschützen) und Panzer. Koca betrachtet sie aufmerksam. Dieses Massenaufgebot bulgarischer Kampftechnik scheint ihn nachdenklich zu stimmen. Wahrscheinlich geht ihm durch den Kopf, worauf er in den Jahren des Partisanenkriegs doch alles hat verzichten müssen. Die Stadt Pirot. Ein Schild: „Stefan Djuric – Cafe Stalingrad“. Eine Frau mit zwei zitronenförmigen Gewichten am Gürtel über dem bestickten Bauernrock geht vorüber. Koca trifft den bulgarischen General Blagoi Iwanow, einen frischgebackenen Partisanengeneral. Bei der Begrüßung umarmen sie sich kräftig. Sie kennen sich von Spanien her, wo Blagoi Iwanow wie Koca gekämpft hat. Einige Bulgaren legen die Hand an die Mütze, andere grüßen nach Art der Volksfront mit erhobener Faust. Wir biegen wieder auf die Straße nach Nis ein. Eine gewöhnliche deutsche Rückzugsstraße. Ausgebrannte Fahrzeuge, zerstörte Panzer, Leichen. Uns entgegen kommen bulgarische Lkws, die Munition holen. Bulgarische Soldaten haben eine Rast eingelegt, sich übers Feld verstreut und plündern die Reben. Auf einem Hügel bei der Straße steht ein bulgarischer Oberleutnant und nascht von einer Weintraube. „Herr Offizier!“ schreit Koca, und sein Gesichtsausdruck verändert sich. „Das ist nicht gut! Das sind Privatfelder!“
Der Oberleutnant ist so verwirrt, daß er, ohne die Traube aus der Hand zu legen, seine Soldaten anschnauzt. In der Partisanenarmee, sagt Koca, habe es nur drei Strafen gegeben: 1)1 Verweis, Ermahnung, Erschießen. Erschossen wurde jemand zum Beispiel für geringfügiges Marodieren. Strafwache gab es nicht, denn der Wachdienst galt bei den Partisanen als Sache hoher Ehre. Auf Posten geschickt zu werden war ein Vertrauensbeweis. Dann sprechen wir über Frauen. Koca ist verheiratet. Auch seine Frau ist bei den Partisanen, aber an einem anderen Ort. „Ich habe sie so gut wie nie gesehen. Zuerst der Spanienkrieg, danach dieser…“ Ob sie Kinder haben, erkundige ich mich. „Wir sind Widerstandskämpfer. Bei uns gibt es keine Kinder.“ Überall in den bulgarischen und serbischen Dörfern heben sich feuerrote Paprikaschoten gegen die weißen Hauswände ab. Wir überqueren den Fluß. Drüben das bekannte Bild: eilends ausgehobene Splittergräben, Granattrichter; Verwundete schleppen sich zurück; am Hang liegen Tote, ihre Gesichter sind mit rötlichen Soldatenmänteln bedeckt. Der Regimentsstab einer bulgarischen Panzerdivision. In den Berg ist ein kleiner Steinbruch getrieben. Der Regimentskommandeur erklärt, die Panzer wollten in unmittelbarer Nähe die Moldova überqueren, aber es sei ihnen nicht gelungen. Gegenwärtig bewegten sie sich nach Norden, um den Versuch westlich von Nis zu wiederholen und die Deutschen abzuschneiden. Über die Weinberge kraxeln wir zu
einer Artilleriebeobachtungsstelle. Von hier sieht man das Dorf, in dem sich die Deutschen festgesetzt haben und von dem aus sie die Straße nach Nis beherrschen. Dorthin feuern die bulgarischen Geschütze. Die Einschläge liegen dicht. Auch die deutsche Artillerie schießt. Durchs Glas sehe ich die Schützenketten, die auf einem fernen Hügel im deutschen Feuer vorgehen. „Nach meiner Meinung ist das meine Brigade“, sagt Koca, beugt sich über die Karte und bestätigt es: „Meine… Sie rückt aus westlicher Richtung auf Nis vor.“ In der Nacht kehren wir nach Leskovac zurück. Zwei Majore vom Stab treffen ein. Sie bringen die Nachricht mit, ein Teil der Deutschen versuche, von Nis nach Prokuplje durchzubrechen. Das Dorf, in dem ich mich mit Koca beim Stab der 24. Division aufhielt, hätten die Deutschen besetzt, aber dorthin seien nach einem Umgehungsmanöver schon bulgarische Panzer unterwegs. Die Kämpfe dauern an. Ein Major vom Stab meldet, der 24. Division ginge die englische Munition aus. Koca tobt. Eine unangenehme Geschichte. Die Briten knausern mit Nachschub für ihre Geschütze, um die Partisanen in Abhängigkeit zu halten. Seit einiger Zeit liefern sie überhaupt nichts mehr. Ein ausgezeichnetes Beispiel dafür, sagt Koca zornig, daß ein weiterer Verbleib Major Hennikers im Hauptstab Serbiens nicht mehr erforderlich ist. Einer der Ankömmlinge erklärt lachend, in der Nacht, als wir nach Leskovac fuhren, hätten wir um eine Streichholzlänge eine Mine verfehlt. Sie hatten das beim Herritt feststellen können, weil unsere Au-
tospur die einzige auf dieser Straße war. Es ist schon Nacht, als wir im Keller eines halbzerstörten Hauses endlich Eintopf löffeln. Die Suppeneinlage besteht zu gleichen Teilen aus Schweinefleisch und rotem Paprika – ganze Schoten. Iwan, unser russischer MPi-Schütze von der Bewachung, erzählt mir die Geschichte eines Schullehrers mit Namen Viktor. Gemeinsam seien sie aus deutscher Kriegsgefangenschaft geflohen und zu den Partisanen gegangen, aber im ersten Gefecht sei Viktor gefallen, als er beim Angriff, aus einem leichten MG feuernd, einen Herzschuß erhielt. Mit seiner neuen britischen Uniform hätten sie ihn in eine Zeltbahn gewickelt und begraben, aber dann seien Cetniks gekommen, hätten die Leiche exhumiert, splitternackt ausgezogen und unter Steinen und Erdbatzen verscharrt. Koca empfängt den stellvertretenden Korpskommandeur, einen Oberstleutnant mit so ungewöhnlich buschigem Schnurrbart, daß er nicht bei seinem allgemein bekannten Vor- oder Familiennamen genannt wird, sondern „Pyrka“, das heißt „Schnauzer“. Er hat nicht nur einen gewaltigen Schnurrbart, sondern verfügt auch über gewaltige Energie, er ist das Muster eines talentierten Etappenoffiziers, der alles organisiert und sicherstellt. Übrigens war er vor Antritt seiner jetzigen Dienststellung einer der beliebtesten Divisionskommandeure. Mit ihm zusammen tritt Oberst Smirnow ein, Chef der Pionierabteilung des obersten Stabs, ein alter russischer Emigrant, groß, finster, Träger des Partisanenabzeichens 1941.
Wir übernachten in Leskovac im Gebäude der ehemaligen deutschen Kommandantur, im Flur hängt ein gelber Briefkasten aus Sperrholz, „Deutsche Feldpost“, darauf ist eine Karte des Reichs geklebt mit den Feldpostnummern: 7 A – Krakau, 5 B – Königsberg, 9 A – Kattowitz, 11 B – Köln, 12 A – Wien, 1 – Berlin, 5A – Danzig. An einer Zimmerwand ein Bild: Basar – Muselmanen, Serben, Soldaten. Koca sagt von dem Bild: „Bosnische Motive.“ Ich frage, wie sich Muselmanen in der Befreiungsbewegung hervorgetan hätten. „Anfangs kaum, später gut, im großen und ganzen ordentlich.“ Ich kann nicht einschlafen, muß an die Fahrt zur bulgarischen Division denken. Ja, es war alles so wie stets vor dem ersten Gefecht. Stolz, maßloser Optimismus, die Stimme vor Erregung gespannt. Auf der Karte gelingt immer alles großartig. Hier kam hinzu, daß zahlreiche junge Offiziere überraschend befördert wurden und viele andere, die unter der früheren bulgarischen Regierung als unzuverlässig gegolten und lange Zeit in der Reserve oder in Ruhe verbracht hatten, plötzlich wieder in die Armee zurückkehrten. Sie treten betont militärisch auf, und wenn sie mich ansehen, kann ich mich manchmal des Gefühls nicht erwehren, daß sie mich am liebsten beiseite nehmen und fragen würden: Nun, Genosse, wie geht’s? Zum Einschlafen versuche ich das serbisch geschriebene Buch „Schlacht an der Kolubara“ des pensionierten Generals Pavlovic zu lesen. Am Morgen studiere ich die Karte, die dem Buch beigefügt ist. Koca blickt mir über die Schulter und
zeigt, wo er gewesen ist. „Das da ist das Gebiet, in dem ich mir die ersten Sporen verdient habe. Diese Brücke haben wir damals zu fünft erstmalig in die Luft gejagt. Ach, hier kenne ich alles – alles!“ Er tippt auf einen Belgrader Vorort. Nachdem er sich rasiert hat, verläßt er in Hemdsärmeln das Haus, um frische Luft zu schnappen. Wenige Minuten später kommt er lachend zurück und zieht sich die Jacke über. Immer noch lachend erzählt er, gleich vor der Tür sei unser Hauptmann, der Flieger, über ihn hergefallen. An Askese sei er nicht gewöhnt. Er habe sich über die Verpflegung beschwert und fürchterlich mit den Armen gefuchtelt. „Ich muß mich beeilen, bald General zu werden“, sagt Koca und knöpft sich grinsend den Uniformrock zu. „Sonst bezieh ich noch Dresche.“ Er geht wieder hinaus, und als er zurückkehrt, befindet sich unser Fliegerhauptmann in seiner Begleitung. Er ist zusammen mit einem Funker hergekommen, um den Einsatz der Flugzeuge zu lenken. Der Hauptmann ist ein guter Junge, und Koca ist so von ihm eingenommen, daß er mit ihm entgegen seiner Gewohnheit schon zum Frühstück ein Gläschen auf die Befreiung Rigas trinkt – und nicht zuletzt darauf, daß den Informationen des Fliegers zufolge unsere Truppen in Ostpreußen zum Angriff übergegangen sind. Das ist noch nie dagewesen: Heute greift Koca ein zweites Mal zum Schnaps. Ehe wir von Leskovac abfahren, treffen wir mit einem Mitglied unserer Militärmission zusammen. Der Oberst ist schon lange für eine Auszeichnung vorgesehen, aber Koca hat sie
noch nicht vorgenommen, obwohl der Stab über jugoslawische Orden verfügt. Koca hat noch nie einen Orden übergeben, obwohl er weiß, daß die Verleihung nach Möglichkeit in feierlicher Form zu erfolgen hat. Ein entsprechender Rahmen ließ sich einfach nie finden. Heute nun hat sich Koca dazu entschlossen, dem Oberst den Orden trotzdem an die Brust zu heften. Und in dem feierlichen Augenblick, als das geschieht, fördert Oberstleutnant Moma – niemand weiß, woher – eine Flasche Wodka, „Moskowskaja osobaja“, zutage, und alle trinken, auch Koca. Nicht ohne sich zu schütteln, leert er das Glas bis zur Neige. Das passiert ihm wohl zum erstenmal im Leben, ebenso wie die Ordensverleihung. Nis ist eingenommen. Wir fahren hin. Der Machorka geht mir aus, und ich glaube schon, daß ich trotz aller Vorbehalte auf Zigaretten umsteigen werde; doch da ich das Rauchen von Kippen nicht gewohnt bin, vergesse ich, sie rechtzeitig aus dem Mund zu nehmen. Heute habe ich mir die Lippen verbrannt. Die serbische Landschaft ist ruhig und freundlich. Wenn alte Männer und Frauen durchs Dorf gehen, küssen ihnen die Entgegenkommenden die Hände. Die halbkreisförmigen Dachziegel erinnern mich immer an eine Riesenmenge halbierter Blumentöpfe. Unterwegs nach Nil. Wenn wir halten, wechseln Dorfmädchen die Blumenkränze an unserem Wagen. Die Vielfalt der Blumen ist erstaunlich. Satte Farben, zartes Pastell – Violett, das in Blau übergeht. In den Dörfern werden Tücher verteilt. Die Leute kommen auf die Straße und geben uns zu trinken. In
einem Dorf muß ich mir als Russe drei Gläser hintereinander genehmigen, weil eine russische Redewendung besagt, Gott liebe die Dreieinigkeit. Woher sie diese Weisheit haben, weiß der Himmel. Als wir in Nis einfahren, dämmert es schon. Überall Spuren des Gefechts, im großen und ganzen ist die Stadt jedoch unversehrt geblieben. Wir machen den Stab des 13. jugoslawischen Korps ausfindig. Er sitzt auf dem Hauptplatz in einem Haus, das gestern noch Faschisten beherbergte. Es gab eine Zeit, da Angehörige der Ustascha und sonstige Faschisten die Partisanen als „Dreipatronenjungs“ verhöhnten, weil sie knapp an Munition waren und sehr sparsam damit umgingen. Wir haben uns gerade schlafen gelegt, als im Korridor geschossen wird. „Was ist los“? „Greschka!“ Das Wort hat eine weite Bedeutung, man gebraucht es bei jeder Gelegenheit, mag der Anlaß gewichtig oder nichtig sein. Alles, was nicht wunschgemäß verläuft – im Kleinen wie im Großen – ist greschka. Dann beginnt eine tolle Knallerei in Nis. Zuerst halte ich es für Salut, der die Befreiung der Stadt würdigen soll. Bald jedoch kursiert das Gerücht, Deutschland habe kapituliert. Ausgelöst wurde das Gerücht wahrscheinlich durch die Mitteilung des Fliegerhauptmanns, unsere Truppen seien in Ostpreußen zur Offensive angetreten. Zum Frühstück sitzt bei Koca auch ein alter General der früheren serbischen Armee am Tisch, ein Divisionskommandeur aus dem ersten Weltkrieg. Seit 1929 ist er Pensionär; er hat Belgrad
aus eigenem Antrieb verlassen und ist zu den Partisanen gekommen, und das schon vor langer Zeit. Er hat eine neue Generalsuniform mit drei Ärmelstreifen erhalten, aber noch keine Sterne dazu, und die roten Kragenspiegel mag er selbst nicht tragen. So nomadisiert er im serbischen Stab, wo er von allen sehr zuvorkommend behandelt wird. Um zwei Uhr kommen der Befehlshaber der 2. bulgarischen Armee, General Kiril Stantschew, sein Politstellvertreter – Oberst Bylgaranow – und General Blagoi Iwanow, den ich schon kenne. Gegenwärtig befehligt er sämtliche Partisanenstreitkräfte Bulgariens. Kiril Stantschew war Major der alten bulgarischen Armee, wurde aus politischen Gründen in die Reserve versetzt, jetzt wieder einberufen und zum General befördert. Bylgaranow aber hielt sich nach dem Machtantritt der faschistischen Regierung unter Filow in Jugoslawien auf und kämpfte dort als Mitglied von Partisaneneinheiten. Auf dem Platz findet eine Einwohnerversammlung statt, verbunden mit einem Meeting der Partisanen und bulgarischen Soldaten. Die Reden werden von einem Balkon des zweiten Stockwerks gehalten. Als erster spricht Koca, dann der Kommissar des 13. Korps, dann Stantschew. Nach der Kundgebung unternehme ich einen Stadtbummel. Ich gehe ins leere Theatergebäude. Die Partisanen, die es bewachen, erklären mir allen Ernstes, es fehle an Schauspielern, weil noch nicht alle auf die Seite der Partei übergetreten seien. Ein schäbig gekleideter alter Mann geht durch Nis. Er trägt eine Tasche mit einer Korbflasche, zwei Gläsern und – von einer Serviette bedeckt – mit Brot. Sobald
er einen unserer Soldaten oder Unteroffiziere erblickt, setzt er die Tasche ab, nimmt die beiden Gläser und das Brot heraus, schenkt Rakija ein und trinkt mit dem Betreffenden. Dann geht er weiter und sucht sich den nächsten. Bei meinen Streifzügen durch Nis bin ich ihm schon mehrmals begegnet. Das letztemal hatte ich den Eindruck, daß er sein edles Werk nicht mehr lange fortsetzen kann. In der Hauptstraße drängen sich die Menschen vor einem Schaufenster. Ein Bogen ist mit Briefmarkenpapier auf die Scheibe geklebt, es ist das Photo eines etwa zwölfjährigen Mädchens in Nationaltracht; darunter die Worte: „Am Stefanstag 1942 haben mich die Deutschen als Partisanin erschossen. Rächt mich, Genossen, bis zum endgültigen Sieg, ich bitte euch.“ Es folgt die Unterschrift: „Genossin Jelena“. An dieser Stelle brechen meine Notizen aus Südserbien ab. Sie finden sich – wie vieles andere, was nicht notiert war, aber aus dem Gedächtnis reproduziert wurde – im „Jugoslawischen Heft“ wieder. Eine der darin aufgenommenen Erzählungen – „Cafe Stalingrad“ – ist unter dem Eindruck der Begegnung zwischen Koca Popovic und Blagoi Iwanow entstanden, der beiden Spanienkämpfer. In meinem Notizbuch wird das Wiedersehen nur kurz erwähnt, aber die Tatsache an sich, daß sich zwei Interbrigadisten, ein Jugoslawe und ein Bulgare, die den Krieg gegen den Faschismus in Spanien begannen, einander bei Nis begegneten und gemeinsam an der Befreiung der Stadt beteiligt waren, besitzt eine ungewöhnliche
und grundsätzliche Aussagekraft. So schien es mir damals, und so erscheint es mir auch noch heute. In meinen Aufzeichnungen wird Nis selbst sehr stiefmütterlich behandelt. Es könnte der Eindruck entstehen, ich hätte die Stadt nicht gesehen und nur Augen für die Menschen gehabt. In gewissem Maße trifft das auch zu. Siebenundzwanzig Jahre später, im Herbst 1971, war ich noch einmal in Nis, das sich stark ausgedehnt und zu einer modernen Großstadt entwickelt hat. Da erst sah ich die alten Festungsmauern, den berühmten historischen Weißen Turm, das Denkmal für Stefan Sinelic und seine Mitstreiter, die 1809 im Kampf gegen die Türken fielen. In die Wände des Turms haben die Türken die Köpfe der im Gefecht getöteten und der später hingerichteten Serben eingemauert, und in einem Kasten wird der Schädel Stefan Sinelics aufbewahrt. Als Lamartine hier war, hinterließ er eine Notiz: „Wer könnte beim Anblick dieses Denkmals ruhig bleiben!“ Und ich hatte bei all meiner Schwäche für Geschichte diese Festungswände und diesen Turm übersehen. Es ist interessant, was man im Krieg alles bemerkt und wie vieles einem entgeht. Man nimmt es nicht wahr, als ob es nicht vorhanden wäre. Nach der Einnahme von Nis fuhr ich mit dem Wagen nach Sofia, und flog von dort nach Craiova, wo ich die Mission General Kornejews anzutreffen glaubte. Der Aufenthalt in Südserbien hatte in mir den Wunsch geweckt, auch andere Operationsgebiete der Partisanen kennenzulernen.
Ich landete wie vorgesehen in Craiova, aber unsere Mission war auf jugoslawisches Gebiet übergesiedelt, in die Stadt Vrsac, näher an Belgrad heran. Am nächsten Tag sollte eine Maschine einige noch in Craiova verbliebene Mitarbeiter der Mission nach Vrsac bringen, und ich flog mit. Es wurde ein sehr qualvoller Flug, eine einzige Strapaze. Wir gerieten in ein heftiges Gewitter, genau ins Zentrum des Unwetters. Das Flugzeug zitterte und bebte und wurde von den Wirbeln durchgeschüttelt. Weder vorher noch nachher bin ich je luftkrank gewesen, aber hier fühlte ich mich elend. Ich traf unsere Mission in Vrsac an. In Belgrad hatte den deutschen Truppen das letzte Stündlein geschlagen, und da ich einen Wagen bekam, fuhr ich hin. Vorher sprach ich auf dem Flugplatz von Vrsac noch mit den Genossen, die für den Lufttransport zuständig waren. Ich bat sie, mich nach meiner Rückkehr aus Belgrad zu einem Partisanenstützpunkt im westlichen Jugoslawien zu befördern. Mit dem Vorsatz, diesen Plan zu verwirklichen, fuhr ich nach Belgrad. Als ich ankam, war die Stadt befreit. Lediglich in engen Gäßchen und abgelegenen Winkeln waren die letzten Säuberungsaktionen im Gange. Das eigentliche Gefecht tobte bereits im Vorort Zemun am anderen Ufer des Flusses Sava. Ich traf in Zemun ein, als sich die Straßenkämpfe ihrem Ende näherten. Dann kehrte ich nach Belgrad zurück. Die Notizen über Belgrad und Zemun sind fragmentarisch knapp, nur Gedächtnisstützen.
Belgrad. Morgen. Ein alter jugoslawischer General in alter königlicher Uniform und mit Sommermütze sitzt auf einem vierrädrigen Wagen… Dicht vor der Brücke über die Sava hat jemand auf dem Grab eines unserer Soldaten eine Kerze angezündet… Zemun. General Kosak, Kommandeur der 73. Stalingrader Gardedivision, die nach Zemun vorgestoßen ist, schildert mir den gestrigen Gefechtsverlauf. Die Savabrücke, die Belgrad mit Zemun verbindet, ist ihnen unbeschädigt in die Hände gefallen. Er zeigt mir auf der Karte, wo seine Regimenter angegriffen haben. Dort das 211. Basar-ginsker, dort das 214. Woraponowsker Regiment. Er erzählt, wie fast eintausend Bauern bei Belgrad die Soldaten empfingen. Sie brachten Rakija in Korbflaschen. Doch die Straße war so aufgewühlt, besonders im Dorf selbst, daß sie nicht befahren werden konnte. Die Bauern stellten die Flaschen hin und schleppten unsere Fahrzeuge durchs Dorf, Wagen um Wagen, Fuhrwerk um Fuhrwerk, sechshundert Autos in einer Nacht, und sie ruhten erst, als sie das letzte befördert hatten. Er äußert sich begeistert über die Bauern. Ich habe erfahren, daß ihm der Titel „Volksheld Jugoslawiens“ verliehen wurde. „Ich habe viel von Ihnen gehört“, sage ich. „Ich habe hier selbst mehr von mir gehört, als ich getan habe“, erwidert er ruhig. Nacht. Ein Konzert der Divisionskünstler. Ein nicht gerade hübsches Mädchen in Rotarmistenuniform singt vom Blatt das Lied „Nacht über Belgrad“. Im Saal sitzen Rotarmisten, Partisanen und serbische
Geistliche nebeneinander. Das Lied ist aus dem Film „Nacht über Belgrad“, der bei uns im Winter 1942 in Mittelasien, in Taschkent, gedreht wurde. Heute erscheint es sonderbar, daß damals schon in weiter Ferne an Belgrad gedacht und darüber ein Film gedreht wurde… In Belgrad werden immer noch Tote bestattet. Zuletzt begräbt man die Deutschen. Danach die Pferde… Aus einigen Zeilen dieser Notizen entstanden später Erzählungen: „Die Kerze“, „Nacht über Belgrad“; die einzige ausführliche Aufzeichnung liegt der Erzählung „Starschina Jerestschenko“ zugrunde, die eher ein Tatsachenbericht ist. Ich führe sie hier unverändert an, wie ich sie damals niederschrieb, mit den Worten des Starschina Nikolai Jefimowitsch Jerestschenko, Jahrgang 1924, gebürtig aus Semjonowka. Seine persönlichen Erlebnisse, die er an einem der Tage hatte, an denen die Straßenkämpfe um Belgrad tobten. Als wir den Befehl erhielten, das Haus zu besetzen, rannten Abdulla-jew und ich als erste über die Straße darauf zu. Wir wurden beide am Bein verwundet, er schwer, ich leicht. Er konnte nicht mehr laufen, und ich schleppte ihn in den Keller. Die Wunde war über dem Knie. Ich band ihm mit unseren beiden Gürteln den Oberschenkel ab und sagte: „Schrei nicht, hier sind Deutsche. Die machen dich kalt.“ Ich knipste die Lampe an – es war acht Uhr morgens – und ging ins obere Stockwerk. Da – ein Lichtschimmer. Die Haustür. An der Tür ein MG, die Mündung war auf
das geschlossene Hoftor gerichtet, daneben zwei Deutsche, mit dem Rücken zu mir. Ich erstarrte. Mein Menschenverstand sagte mir, entweder sie oder ich. Ich greife zur Pistole und erschieße beide aus fünf Meter Entfernung. Dann laufe ich in den Keller. Abdullajew bettelt um Wasser. „Wo soll ich das hernehmen? Warte hier, leg dich hin. Ich werde schon einen Ausgang finden. Dann hole ich dir was zu trinken.“ Ich suche einen zweiten Ausgang. Wahrscheinlich ist das ein Betrieb, denn vor dem Keller geht eine Schmalspurbahn ab. Die Treppe führt zu einem Raum. Ich trete ein. Er ist sauber und leer. Der Korridor erstreckt sich nach rechts, links sind zwei weitere Zimmer. Als ich ihn betrete, höre ich jemanden den Korridor entlangkommen. Ich stehe hinter der Wand, die MPi schußbereit. Es ist eine noch nicht sehr alte Frau, eine Reinemachefrau. „Da sind Deutsche“, sagt sie. „Und wo sind sie?“ „Ich führe Sie hin.“ Ich gehe mit ihr den Korridor lang. Sie führt mich ans Ende und zeigt sie mir. „Dort!“ Hinter einem Steinwall liegen unten auf dem Fahrdamm drei Deutsche. Als die Frau sie mir gezeigt hat, zieht sie sich zurück. Ich werfe eine Handgranate durchs Fenster. Das MG und zwei Deutsche habe ich erwischt, der dritte ist entweder weggekrochen, oder sie haben ihn weggezogen. Ich will gerade umkehren, da wird vom zweiten Stock eine Handgranate durchs Treppenhaus auf den Korridor geworfen. Mir tut sie nichts, weil eine Ecke
dazwischenliegt. Nur daß der Korridor voller Qualm und Staub ist. Ich laufe runter und hake das Tor auf. Da sehe ich welche von uns, auch Oberleutnant Kisseljow. „Ich brauche Hilfe!“ rufe ich ihnen über die Straße zu. „Ich bin allein übrig, überall stecken Deutsche.“ Ein MG-Schütze und ein Soldat kommen, aber der Soldat wird verwundet. Er schafft es noch zu mir, dann stürzt er. Die beiden konnten die Straße noch überqueren, danach gelingt es keinem mehr. Über den Korridor gelangen wir in die Zimmer, von denen aus zu sehen ist, wie die Deutschen die Straße beschießen. Im dritten Stock des Hauses gegenüber sind die Vorhänge angehoben, von dort feuert ein leichtes Maschinengewehr. Wir jagen zwei kurze Feuerstöße rüber, und das MG verstummt; aber durch ein anderes Fenster fliegt eine Handgranate, die die Deutschen von der Straße zu uns hochgeworfen haben. In dem Raum stehen Pritschen mit Matratzen. Die Granate detoniert zwischen den Matratzen, und der MG-Schütze wird an der Schulter verwundet. Ich verbinde ihn über den Sachen, ohne sein Hemd auszuziehen, dann gehe ich wieder zu Abdullajew runter. Abdullajew bittet um Wasser. „Gleich. Halte dich an meinen Schultern fest!“ Er legt die Arme um mich, ist aber zu schwach und fällt hin. „Mit mir ist es aus“, sagt er. Ich laufe nach oben, hole eine Matratze und bringe sie Abdullajew. Zu dem MG-Schützen sage ich: „Da liegt einer im Sterben. Komm, wir tragen ihn auf der Matratze hoch“, und Abdullajew verspreche ich: „Gleich kriegst du Wasser!“
Wir durchsuchen die Zimmer. Überall Stille. Wir erreichen das letzte Fenster, da beharkt uns vom Haus gegenüber ein MG. Wir suchen Deckung hinter der Wand. Ich reiße den Ring einer Handgranate raus und schleudere sie über die Straße, aber sie detoniert draußen. Ich werfe eine zweite! Die fliegt drüben durchs Fenster. Danach ist von denen nichts mehr zu hören. Jetzt gehen wir ungehindert an unserm Fenster vorbei in die Küche. Dort kochen Bohnen, Tee steht warm, und da ist auch ein Eimer Wasser. Ich sage zu meinem Begleiter: „Paß auf, während ich mich satt trinke und die Feldflasche fülle.“ Nach mir trinkt er, und wir gehen zu Abdullajew und bringen ihm endlich Wasser. Es dämmert schon. Wir hören Motorengeräusch, sehen nach. Eine deutsche Selbstfahrlafette ist gekommen und steht unter unseren Fenstern. Und keine Panzergranaten! Ich sage dem MG-Schützen: „Ich lauf mal schnell Granaten holen.“ Die Selbstfahrlafette steht jetzt direkt unter unsern Fenstern und schießt die Straße lang. Ich laufe ans Hoftor und rufe über die Straße weg unsern Leuten zu: „Gebt mir eine Granate!“ Sie können aber den Fahrdamm nicht überqueren. Er liegt unter MG-Beschuß. Da rufe ich: „In Ordnung, werft sie her!“ Von drüben rufen sie: „Fang auf!“ Zuerst wickeln sie einen Zünder in Papier und werfen ihn, jedoch drei Meter zu kurz. Ich robbe hin, schnappe ihn und krieche zurück. Dann folgt die Granate. Ich fange sie und renne in das Zimmer, unter dem die deutsche Selbstfahrlafette auf der Straße steht. Ich setze den Zünder ein, reiße den Ring raus,
werfe die Panzergranate vorn unter die Raupe und gehe hinter der Wand in Deckung. Nach drei Sekunden kracht es. Ich richte mich sofort am Fenster auf. Die beiden Deutschen sind von der Lafette abgesprungen. Ich schieße. Den einen erledige ich. Der andere kriecht hinter die Kanone. Die Kanone ist nach hinten gekippt. Ich lasse den Soldaten als Beobachter zurück, laufe nach unten, gebe den beiden Verwundeten Wasser und renne zum Tor. Ein MG bestreicht noch die Straße, aber es ist schon dunkel. Ein letzter Feuerstoß, dann schweigt es. Von der anderen Seite kommen der Sanitäter Truschin und zwei Soldaten angelaufen. Wir holen die Verwundeten aus dem Haus. Abdullajew legen wir auf eine Matratze. An die Matratze wird ein Strick gebunden. Einer überquert die Straße und zieht die Matratze schnell auf die andere Seite. Überhaupt wenden wir diese Schleifmethode häufig an. Mit einem Strick befördern wir Munition und Frühstück. Das ist der Bericht Nikolai Jefimowitsch Jerestschenkos, den ich wörtlich notiert habe. Als ich vor einigen Jahren durch Zufall erfuhr, daß er lebte, sich guter Gesundheit erfreute und vor Kriegsende mit dem Titel Held der Sowjetunion ausgezeichnet worden war, schrieb ich ihm und bekam einen Antwortbrief, dessen Wortlaut ich an dieser Stelle anführen möchte. „Ich habe Ihren Brief erhalten und freue mich sehr darüber. Ja, seit unserer Begegnung ist schon viel Zeit vergangen. Das war für mich ein sehr denkwürdiger Tag, auch weil an diesem Tag die jugoslawische
Hauptstadt von den deutschen Eindringlingen befreit wurde, außerdem vollendete ich damals mein zwanzigstes Lebensjahr. Ich hatte Ihnen kurz eine Episode vom vierten Tag der Straßenkämpfe erzählt. Aber an den vorangegangenen drei Tagen war es in Belgrad nicht weniger heiß hergegangen! Heute kann ich mich nur noch mit Schwierigkeiten an alle Einzelheiten erinnern, doch die Gefechte waren schwer, tagsüber und in der Nacht. Kurz über mich. Ich lebe in der Stadt Kirowgrad, arbeite als Leiter eines Kraftfahrzeugparks. Wir sind eine vierköpfige Familie, meine Frau Antonina und zwei Töchter, Olga und Tatjana. Olga arbeitet und studiert am Polytechnischen Institut. Meine Frau ist ebenfalls berufstätig, als Buchhalterin. Seit Kriegsende haben wir nie gefaulenzt. N. J. Jerestschenko.“ Ich weiß noch, wie ich damals in Belgrad schwankte. Als Korrespondent war ich verpflichtet, mich erst einmal für ein paar Tage hinzusetzen und über alles zu schreiben, das Material der Redaktion zuzustellen und weiterzureisen. Es gab aber auch eine zweite Möglichkeit, sofort nach Moskau zu fliegen, die Schreiberei dort zu besorgen und danach hierher zurückzukehren. Jedoch konnte ich mich weder zu dem einen noch zu dem anderen entschließen. Ich wollte einfach keine Zeit vergeuden und in Belgrad klebenbleiben, im Zimmer hocken und schreiben, aber ich hatte auch keine Lust, nach Moskau zu fliegen. Ich wollte erst noch weitere Eindrücke aufnehmen, zurückkommen und mir alles von der Seele schreiben.
So verfuhr ich nach langem Schwanken. Ich reiste nach Vrsac und begab mich zum Flugplatz. Noch hoffte ich, bei nächster Gelegenheit nach Montenegro zu kommen – die Partisanentätigkeit der Montenegriner reizte mich besonders – oder, sofern diese Möglichkeit ausscheiden sollte, woandershin zu fliegen, nach Kroatien oder Slowenien. Auf dem Flugplatz von Vrsac traf ich diesmal einen Mann, den ich nur vom Hörensagen kannte, Oberst Sokolow, Chef unseres Luftstützpunktes in Süditalien, in Bari. Er war hergekommen, um einen Sonderauftrag des Kommandos auszuführen. Es entzieht sich meiner Kenntnis, ob sich ein Einsatz, wie er mir vorschwebte, nicht voraussehen ließ, oder ob es unseren Fliegern in jenen Tagen unzweckmäßig erschien, meinem Gesuch stattzugeben. Jedenfalls antwortete Stepan Wassiljewitsch Sokolow entschieden und ohne zu überlegen, daß davon in absehbarer Zeit keine Rede sein könnte. Falls General Kornejew jedoch keine Einwände erhob, sollte ich Gelegenheit erhalten, einen anderen, sicherlich nicht weniger interessanten Ort kennenzulernen, und zwar bereits in der kommenden Nacht. Obwohl er mir noch verschwieg, wo der Flug hinging, fragte er mich, welche Dokumente ich bei mir hätte. Ich holte meinen Dienstausweis der „Krasnaja Swesda“ hervor. Dienstgrad und Funktion wurden darin bescheinigt, und es war auch vermerkt: „Begibt sich zur kämpfenden Truppe.“ Sokolow murrte. „Ein bißchen kärglich. Was wir brauchen, ist ein Paß.“ Ich war erstaunt. „Was kann ich als Militärangehöriger denn für einen Paß haben?“
„Na, so einen“, sagte Sokolow und zog seinen Auslandspaß. „Sie wollen doch mit uns nach Italien fliegen.“ Als ich das hörte, „Sie wollen doch mit uns nach Italien fliegen“, hatte ich trotz der vorangegangenen Bemerkung „ein bißchen kärglich“, den Eindruck, er würde mich ganz gerne mitnehmen und wollte nur darauf aufmerksam machen, daß sich gewisse Schwierigkeiten ergeben könnten. Nicht von der Beweiskraft meiner Worte überzeugt, erinnerte ich daran, daß mir Molotow die Erlaubnis für einen Flug zu den Jugoslawen erteilt hatte, und fügte hinzu, daß sich die Genehmigung sicherlich sinngemäß auf einen Besuch unseres Luftstützpunktes in Bari ausdehnen lasse. Sokolow antwortete nicht. Er sah sich noch einmal meine Papiere an, dann betrachtete er mich und lachte wohlwollend auf. „Im großen und ganzen machen Sie einen mehr oder weniger ordentlichen Eindruck, ziemlich schneidig sogar, ein Colonel vom Scheitel bis zur Sohle. Okay!“ Nachdem mir Sokolow zum Trost noch eingeschärft hatte, ich solle mir wegen meiner Dokumente keine grauen Haare wachsen lassen, denn bei einem gemeinsamen Flug war das nicht meine, sondern seine Sorge, und so Gott wolle, würden wir nicht nur nach Bari, sondern auch nach Neapel oder Rom kommen, ging er, um sich mit Kornejew verbinden zu lassen oder um seine Flugvorbereitungen zu treffen. „Ich rate Ihnen, sich bereitzuhalten. Es ist ein Nachtflug!“ Die Verse, die ich einige Jahre später über diesen Flug verfaßte, nannte ich „Nachtflug“, und sie be-
gannen so: Haben wir die Nacht gewonnen, unter uns Slowenien-West und die deutschen Marschkolonnen mit dem Angriffsziel Triest… Das empfand ich in jener Nacht, obwohl ich während des Fluges kaum etwas sah. Über den jugoslawischen Bergen stand eine mächtige Wolkenfront. Wir stiegen und stiegen darin auf und gewannen beständig an Höhe. Ich hatte vorher nicht geglaubt, daß es überhaupt möglich sei, in einer Höhe zu fliegen, wo das Atmen schwerfällt. Wenn mir etwas Kopfzerbrechen bereitete, dann der Gedanke an die deutsche Flak, und darum beruhigte es mich zunächst sogar, als wir immer höher stiegen. Mir war seit langem bekannt, daß wir in der süditalienischen Stadt Bari einen Luftstützpunkt unterhielten, daß wir von dort Einsätze in verschiedene Gebiete Jugoslawiens unternahmen und beim Rückflug schwerverwundete Partisanen nach Italien mitbrachten. Schon der Aufenthalt an sich mußte interessant sein, aber die Aussicht, außerdem Neapel und Rom besuchen zu können, erschien mir als unmöglich; denn es war ja nicht 1945, wir schrieben erst 1944! Zum Beleg einige Notizen, die erhalten geblieben sind. Die letzten Kilometer über dem stillen Wasser des Adriatischen Meeres. Immer näher kommt die Küstenlinie. Links die strahlende Kette des angestrahl-
ten Ufers, direkt unter uns die Lichter des Flugplatzes. Wir landen auf dem beleuchteten Feld. Als wir aussteigen, kommt uns die Luft nach dem Flug in fünfeinhalbtausend Meter Höhe sommerlich warm vor. Sokolow befiehlt mir, sofort in einen „Chevrolet“ umzusteigen, einen Stabswagen, der unmittelbar an das Flugzeug herangefahren ist. Durch die Scheibe sehe ich, wie er mit einem britischen Offizier spricht, der in einem zweiten „Chevrolet“ vorgefahren ist. Sie lachen beide und klopfen sich gegenseitig auf die Schultern. Sokolow klettert in den Wagen. Wir fahren einige Kilometer und erreichen ein Haus hinter einem Gartenzaun. Hier wohnen unsere Leute. Das Gebäude nennt sich „Villa di Vellina“. Ich erfahre, hier habe Marschall Tito Station gemacht, nachdem ihn unsere Piloten aus der Schlucht von Drvar geholt hatten. Jeder trinkt noch eine Tasse Kaffee, dann legen wir uns sofort schlafen. Alle sind müde. Ich glaube, wie ein Murmeltier schlafen zu können, aber nach drei Stunden bin ich wieder wach. Ich habe ein kleines weißes Zimmer, das Fenster ist blau, denn von meinem Bett aus blicke ich in ein Stück Himmel. Ich öffne das Fenster. Auf dem Hof wachsen Palmen und Apfelsinenbäume. Zum erstenmal im Leben sehe ich Orangen noch am Zweig. Dort hängen gelbe und gelblich grüne Früchte. Weit hinter der niedrigen Steinmauer ein ruhiger blauer Streifen: das Meer. Ich ziehe mich an und gehe auf den Hof. Alle anderen schlafen noch. Ein Jugoslawe in Uniform, aber ohne Dienstgradabzeichen, hat mich hinausgehen sehen und folgt mir. Wir machen uns bekannt. Er heißt
Anton. Seit seiner Entlassung aus dem Lazarett kümmert er sich in der Villa um den Haushalt, er ist Koch. Gleich wolle er in die Stadt, sagt er. Nach unserer Ankunft hat ihm Sokolow nahegelegt, Hummern zu besorgen. Er möchte mir einen Lekkerbissen vorsetzen. Wir laufen auf der Landstraße nach Bari. Unser Weg führt ins Hafenviertel, vorbei an einem Neubauviertel. Asphalt bedeckt die Fahrbahn. Leise summen darauf die Reifen. Große, erst vor kurzem entstandene Gebäude mit zahlreichen Fenstern. Trotz ihrer Ausmaße sind sie leicht. Durch solche Straßen würde ich gern fahren, und mit dem entsprechenden Tempo. Dann, in der Nähe des Fischmarkts, ein alter Stadtteil. Gassen, Steinpflaster. Die Häuser sind klein, aber die Enge der Straßen läßt sie hoch erscheinen. Jetzt ist es mir recht, daß wir zu Fuß gehen, alle Augenblicke möchte ich stehenbleiben. Stabile Häuser, dicke Wände, Glastüren, die Tür und Fenster in einem sind, dahinter enge, schummrige Zimmer. Gleich bei der geöffneten Tür, fast auf der Straße, wird etwas gebraten oder in kleinen Eisenkesseln gekocht; am unbedeckten Holztisch wird gefrühstückt, während andere in den weiter hinten stehenden Betten noch schlafen. Zwischen den Häusern eine hohe, aufragende Basilika. Ich steige die ausgetretenen Stufen hoch und gehe hinein. Zwielicht, Leere. Anton spricht auch italienisch. Er erklärt mir, fast alle Dalmatiner beherrschten auch diese Sprache. Ich bitte ihn zu fragen, wann die Kirche gebaut wurde. Im elften Jahrhundert, sagt der Türhüter. Ich empfinde das Alter dieser Straßen. Bei uns gibt es so wenig erhaltene Bauten aus dem elften
Jahrhundert, daß man sie an den Fingern abzählen könnte. Hier aber scheint in jeder Stadt, beinah in jeder Straße eine wenig bekannte Basilika zu stehen. Eine gewöhnliche Kirche also, eine von vielen. Aus dem elften Jahrhundert – darüber staunt hier niemand. Wir kommen an einer Festung vorbei. Sie ist nicht ganz so alt, aber immerhin auch schon aus dem fünfzehnten Jahrhundert, ein Bauwerk aus großen, bemoosten Blöcken, und auf dem Turm die Instrumente einer britischen Militärwetterwarte. Die Maulesel der Straßenhändler. Sättel, deren hohe Holzränder mit Perlmutt- und Messingintarsien verziert sind. Von vorn oder hinten betrachtet, ähneln sie in der Form unserem alten nordrussischen Frauenkopfputz. Der steinerne Fischmarkt, verzinkte Stände. Zwei gewaltige Pferde sind vor einen Wagen gespannt, der über die Platten poltert; die Ladung: Kästen mit lebendem Fisch. Einzelhändler stürzen dem Wagen entgegen, greifen nach den Kästen, bedecken sie mit Brust und Armen, stoßen fremde Hände fort, lärmen, schreien. Ich fürchte, im nächsten Augenblick könnte eine Keilerei losgehen. Doch weit gefehlt, niemand bricht hier einen Streit vom Zaun, niemand verprügelt einen anderen. Der Fisch wird nur verteilt, wandert hierhin und dorthin und liegt bald auf den verzinkten Verkaufsständen. Ruhe und Frieden sind wieder eingekehrt. Anton läuft von Stand zu Stand und sagt mir schließlich, Hummern gebe es auf dem Markt keine. „Gehen wir zum Meer, vielleicht können wir bei den
Fischern welche kaufen.“ Gesagt, getan. Fischer, die Hosenbeine bis zu den Knien hochgerollt, fangen zwischen den Ufersteinen Krabben. Am Strand steht ein Tisch mit Bänken und einem Sonnendach darüber. Hier werden frisch gefangene Austern und Seeigel feilgeboten. Die Austern sind teuer und gehen schlecht, aber die Seeigel sind ein billiges Nahrungsmittel. Ganze Familien kommen her, kaufen Igel, die wie Kastanien aussehen, schneiden sie in zwei Hälften, träufeln den Saft auf ein Stückchen Brot, kratzen den Rest aus den harten Schalen, verspeisen ihn und spülen mit Wein nach, den sie mitgebracht haben. Das Meer ist still. An den Krieg erinnern nur die aus dem Wasser ragenden Masten der beim letzten deutschen Luftangriff versenkten Schiffe. Als wir endlich Hummern erstanden haben, machen wir uns auf den Rückweg. Mit schrecklichem Geheul jagt eine Kolonne „Willys“ an uns vorüber. Im ersten Wagen sitzen ein amerikanischer Pilot und ein einheimisches Mädchen mit Schleier und Brautkleid. Die Autos hupen pausenlos, als wollten sie sich durch ihren Lärm zu einer lückenlosen Kette verbinden… Ich fahre mit Sokolow nach Neapel und Rom. Ich kann es nicht unterlassen, mich wegen der Dokumente noch einmal zu vergewissern. Er winkt ab und sagt: „Nicht doch, meine genügen. Von Ihnen wird man nichts verlangen. Höchstens wenn unsere Uniform bei den Anders-Leuten Anstoß erregt und sie einen Vorwand für einen Skandal suchen. Das war schon schlechter. Aber so was sind wir
hier nicht gewohnt. Warten wir ab, dann werden wir schlauer sein.“ Im weiteren Verlauf unseres Gesprächs erklärte er mir, das polnische Anders-Korps, das bei uns in der Sowjetunion aufgestellt wurde, habe nicht an unserer Front kämpfen wollen; es sei jetzt in Italien, zwischen Neapel und Rom, eingesetzt und habe bei Cassino sehr schwere Verluste erlitten. Die Angehörigen der Anders-Armee zürnen allen zugleich, auch den Engländern, die sie nach Cassino schickten, an die gefährlichste Stelle, wo die Verluste besonders hoch waren. „Warten wir es ab“, sagt Sokolow. Dann fahren wir. In Neapel besichtigen wir die Festung am Meer. Danach haben wir eine kurze Unterhaltung mit dem Begleiter. „Was, ihr seid Russen? Und ich dachte, ihr seid Polen. Nein, wartet mal, wenn ihr Russen seid, wo habt ihr dann Hammer und Sichel?“ Er glaubt, wir müßten unbedingt Hammer und Sichel angesteckt haben. Sokolow und ich übernachten im britischen Militärgästeheim in einem Zweibettzimmer. Sokolow schläft noch, als ich schon aufgewacht und aus dem Bett gesprungen bin, weil jemand eingetreten ist. Ein britischer Soldat bringt uns Tee mit Milch, gießt aus der Kanne die dicke braune Flüssigkeit in zwei große Becher, stellt die gefüllten Gefäße auf den Nachttisch und entfernt sich wortlos. Der Tee ist stark und hat ein angenehmes Aroma. Trotz Kriegszeit sind die italienischen Straßen gut. Fast ohne Umleitung fahren wir von Neapel bis Rom durch. Manchmal glaubt man ein riesiges Schachbrett vor sich zu haben. Dort, wo einmal Trichter waren, heben sich dunkle Flecke vom schwarzgrauen
Asphalt ab. Sokolow sagt, im Krieg hätten die italienischen Straßenbauarbeiter gesamteuropäische Vorkriegsrekorde gebrochen, nicht nur hinsichtlich ihres Geschicks, sondern auch im Hinblick auf die geringe Entlohnung, die sie für ihre Leistung beanspruchen. Obwohl die Deutschen bei ihrem Rückzug fast sämtliche Brücken in die Luft gejagt hätten, seien sie schon wieder befahrbar. Alle Brücken wurden wiederhergestellt. Ein Wolkenbruch. Als wir Capia passiert haben, sind die Straßen überschwemmt. Ein Gebirgsbach ist über die Ufer getreten und ergießt sich über die Straße. Der Motor säuft ab. Wir stehen mitten in der Flut und können den Wagen nach keiner Seite verlassen. Uns entgegen braust ein „Studebaker“ mit Amerikanern durchs Wasser. Sie machen kehrt und schleppen uns ab. Auf dem Trockenen lösen sie die Kette, grüßen, wenden und fahren weiter. Überhaupt muß zur Ehre unserer Verbündeten gesagt werden, dass ihnen die gegenseitige Hilfe auf der Landstraße außerordentlich viel bedeutet. Ringsum Spuren der Gefechte. Links und rechts ist alles zerbombt oder von Artilleriefeuer zerstört. Unzählige Trichter, unzählige Warnschilder dort, wo die Felder entlang der Straße noch nicht entmint wurden. Wir fahren nach Cassino – zu den Überbleibseln der Stadt. Beim Betrachten der Gegend begreift man sofort, warum besonders hier so schwere Kämpfe tobten. Links und rechts der Straße Berge. Eine natürliche Feste, und die Straße führt in die Stadt wie durch ein Schlüsselloch, zu dem man einen Schlüssel haben muß. Als wir in Cassino eingefahren sind und
vor den Ruinen stehen, sehen wir, daß eine Umleitung nach links um die Stadt herum verläuft. Die Trümmerzone beginnt sechs oder sieben Kilometer vor der Stadt. Die Bombentrichter liegen sehr dicht, stellenweise aufeinander. Der Zerstörungsgrad einiger Häuser ist so groß, daß nur weiße Gesteinstrümmer im Gras übriggeblieben sind. Stacheldraht, der schon Rost ansetzt, aus der Erde herausragendes Baumaterial der Unterstände, Schilder mit der Aufschrift „Nicht vom Weg abweichen – Lebensgefahr“. In der Stadt selbst kann man die früheren Straßenzüge nicht mehr erkennen. Zuerst muß enttrümmert werden. Inmitten von Aas und Zerstörung plötzlich an einem Weg ein Holzpfahl mit einer gelben Tafel aus der Vorkriegszeit: „Hotel“. Wir steigen aus und gehen durch die Trümmer. Ja, hier haben Kämpfe, sehr harte Kämpfe getobt. Das war nicht einfach ein Luftangriff. Diese winzigen Gesteinsbröckchen entstehen dann, wenn ein Gebiet wochenlang Tag für Tag unter Artilleriebeschuß liegt. Durch die Trümmer kommen drei polnische Anders-Soldaten auf uns zu. Wir bleiben abwartend stehen. Vielleicht suchen sie Streit? Wie wir sehen, nähern sie sich jedoch in anderer Absicht. Sie wollen etwas über Polen hören. Ich erzähle ihnen, was ich gesehen habe, von den Kämpfen um Wisla, den Bereitstellungsräumen südlich Warschau. Sie schildern uns ihrerseits die Kämpfe um Monte Cassino und sagen – was ich schon von Sokolow weiß –, daß die polnischen Einheiten besonders schwere Verluste hatten. Jetzt liegen sie hier in Ruhe und entspannen.
Zwei gebürtige Lubliner sind unter ihnen. Als der eine hört, daß ich in Lublin war, fragt er mich nach der Stadt, ob sie sehr zu leiden hatte, welche Straßen unversehrt, welche zerstört seien. An die Straßennamen erinnere ich mich nicht, doch ich kann ihn beruhigen, insgesamt sei die Stadt verhältnismäßig glimpflich davongekommen. Er fragt, wo zur Zeit der Regierungssitz sei. In Lublin? Offenbar, antworte ich. Er möchte recht bald nach Polen zurückkehren, sagt er, um dort gegen die Deutschen zu kämpfen. Der zweite nickt zustimmend. Wir steigen in den Wagen, grüßen. Auch die Polen erweisen uns eine Ehrenbezeigung, stehen da und sehen uns nach. Auf dem Weg nach Rom werden wir Zeuge starker weiterer Zerstörungen, wenngleich sie nicht mit denen von Cassino gleichzusetzen sind. Rom selbst glänzt in alter Schönheit. Hier erinnert nichts an den Krieg. Auf den Straßen eine lärmende südliche Menschenmenge und Fahrräder über Fahrräder. Auch Autos, aber wahrscheinlich ist Benzin knapp. Sehr viele Militärpersonen. Wer ist da nicht alles vertreten! Amerikaner, Engländer, Kanadier, Australier, Neuseeländer, Südafrikaner, Franzosen, Polen, Tschechen, bärtige Inder. Die zuletzt genannten erkennt man sofort, alle übrigen unterscheiden sich besonders durch ihre Ärmelstreifen. Im Palazzo di Venezia, von dessen Balkon einst Mussolini seine Reden hielt, wurde eine Kunstausstellung eröffnet: Aus allen Teilen des befreiten Italien wurden die Meisterwerke zusammengetragen. Wenige Bilder, in jedem Saal eins oder zwei, aber die
besten und berühmtesten: Raffael, Botticelli, Rubens, Holbein, van Dyck, Tizian, Caravaggio. Die Ausstellungsräume sind voller Besucher: Amerikaner, Engländer, Kanadier und alle möglichen anderen Soldaten, die auf Fronturlaub gekommen sind. Am Abend sehen wir „Lucia von Lammermoor“. Ich weiß nur, daß Tolstoi seine Anna Karenina und Wronski eine Vorstellung dieser Oper besuchen ließ. Weshalb sie hier aufgeführt wird, entzieht sich meiner Kenntnis. Möglicherweise wegen der Engländer und Amerikaner, denn die Handlung spielt in einem schottischen Milieu. Das Bühnenbild zeigt die Felsen Schottlands, und die männlichen Schauspieler tragen karierte Röcke. Als in der Pause das Licht angeht, bemerke ich, daß zwei Offiziere mit ebensolchen Schottenröcken, wie sie auf der Bühne zu sehen waren, meine Nachbarloge verlassen. Von Rom fahren wir nach Neapel. Zurück geht es auf einem anderen Weg, die Küste entlang. Auch dort haben harte Kämpfe getobt. Die an der Straße gelegenen Ortschaften wurden mehr oder weniger in Mitleidenschaft gezogen. Kurz vor Neapel haben wir Reifenpanne. Und keine Pumpe! Wir stehen am Straßenrand. Einige Italiener frühstücken im Gras bei einem Motorrad, das zu einem Mini-Lkw ausgebaut ist. Alles in allem – Erwachsene und Kinder – sind es zehn Personen, und sie fahren auf diesem Lasterchen, dazu noch mit Körben und Koffern. Es ist mir zwar ein Rätsel wie, aber sie tun es. Die Italiener geben uns nicht nur eine Pumpe, sondern sie gehen uns auch zur
Hand. Es sind ein Arbeiter aus einer Konservenfabrik, seine Familie und ein mit ihnen verwandter Mechaniker, der wie wir nach Neapel zurückfährt; er ist der Besitzer und Konstrukteur dieses Mini-Lkws. Als sie hören, daß wir Sowjetbürger sind, stellen sie Fragen über Stalingrad. Ob es stimme, daß die Stadt bereits völlig neu aufgebaut und die schönste in Rußland sei. Sie glauben an unsere unbegrenzten Möglichkeiten. Sie fragen nach den „Katjuschas“. Ob es wahr sei, daß die Rote Armee diese furchtbare Waffe auf dem eigenen Territorium nicht voll eingesetzt habe und die Katjuscha erst jetzt, beim Vormarsch durch Daitschland, ihre ganze Stärke beweise. Eine Frau, deren Mann Eisenbahner ist, möchte wissen, ob sie nach dem Krieg zum Straßenbau nach Rußland fahren können. Nachdem wir unsere Meinung gesagt haben, fragen sie, was man in Rußland von den Italienern hält, weil sie doch mit den Deutschen gegen uns gekämpft haben. Sie sind gespannt, was wir antworten. Dann beruhigen sie sich. Sie fordern uns auf, den Rest ihres Frühstücks mit ihnen zu teilen. Da wir ablehnen und zur Begründung anführen, daß wir schon gegessen haben, sollen wir wenigstens einen Schluck Wein trinken. Sie haben eine große Korbflasche bei sich. Da wir das nicht ablehnen können, trinken wir. Als wir weiterfahren, winken sie hinter uns her. Unmittelbar bei Neapel läßt uns das Rad noch einmal im Stich. Neben der Straße ist ein Wald und davor ein Schlagbaum, an dem ein amerikanischer Soldat steht. Ja, wir haben Glück. Gerade in diesem Wald liegt eine amerikanische Reparatureinheit. Der Posten
verständigt einen Leutnant. Der Leutnant kommt, ein langer, einsilbiger Mann, dessen große Arbeiterhände weit aus den Ärmeln herausragen. Er sieht sich das Rad an, setzt sich hinter den Lenker und fährt unseren Wagen durch den Wald auf eine Wiese zu seiner Reparaturkolonne. Dem Leutnant stehen einige italienische Arbeiter zur Verfügung. Er weist sie an, was sie tun sollen. Sie nehmen das Rad ab, wechseln die Gummiunterlage aus, es klappt nicht ganz. Der Leutnant hilft ihnen mit geschicktem, geübtem Griff. Nach fünfzehn Minuten ist alles in Ordnung. Der Leutnant sagt: „Okay.“ Etwas anderes hat er die ganze Zeit über nicht gesagt. Wir bedanken uns und starten. Alles ist o.k. Wir fahren nach Bari zurück. Am Abend vor dem Abflug gehen wir ins Kino. Heute läuft erstmalig Charlie Chaplins „Diktator“. Der Andrang ist so gewaltig, daß uns nur unsere sowjetische Militäruniform Eintritt verschafft. Die Zuschauer rasen, wollen sich ausschütten vor Lachen über Hitler und Mussolini, vor allem über Mussolini; aus naheliegenden Gründen wirkt er auf die Menschen hier besonders komisch. Mir gefällt der Streifen auch, aber er reizt mich an keiner Stelle zum Lachen. Ich sehe ihn mir an und empfinde die bedrückende Gewißheit, daß der wirkliche Hitler noch lebt und seine Rolle spielt. Bei uns zu Hause könnte man diesen Film wahrscheinlich nicht zeigen. Zu viel Schreckliches ist zu frisch in Erinnerung. Meinen damaligen Notizen füge ich ergänzend hinzu, daß die Reise nach Rom für Stepan Wassiljewitsch Sokolow keine Spazierfahrt war. Er traf dort unsere
Vertreter beim alliierten Oberkommando in Italien. Kurz gesagt, er hatte seine eigenen dienstlichen Probleme, in die er mich nicht einweihte. Zuerst faßte er ins Auge, von Bari direkt nach Moskau zu fliegen. Einer unserer Piloten, Oberst Stschelkunow, der sich zu dieser Zeit in Bari aufhielt, mußte gerade dorthin fliegen. Es sollte ein Nonstopflug werden, für damalige Verhältnisse eine recht lange Strecke, ohne Zwischenlandung bis Moskau, aber die Maschine war für diese Zwecke mit besonders leichten Segeltuchbehältern ausgestattet, die eine Treibstoffreserve enthielten und direkt im Rumpf standen. Zusätzliche Lasten durften nicht mitgeführt werden. Zugelassen waren nur die Besatzung und zwei Fluggäste. Jedoch hatten wir einige Nächte hintereinander kein Flugwetter, und wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, flogen wir trotzdem, kehrten aber um, da wir eine sehr hohe Gewitterfront nicht durchqueren konnten. Auch danach hatten wir kein Flugwetter, zumindest nicht für weitere Strecken, nur bis Belgrad wurde eine Genehmigung erteilt. Schließlich flogen wir nicht nach Moskau, sondern nach Belgrad. Auf dem Rückflug war das Wetter gut, unsere Flughöhe wesentlich geringer als beim Herflug. Infolgedessen verspürten wir keinen Sauerstoffmangel. Dafür sahen wir das Feuerwerk der detonierenden Flakgranaten unter uns. Ich kannte dieses Schauspiel, das ich während des Krieges schon oft gesehen hatte, bisher jedoch stets über mir. Am 7. November war ich in Belgrad auf dem Empfang zugegen, den Marschall Tito in der kürzlich befreiten Hauptstadt Jugosla-
wiens zu Ehren des 27. Jahrestages der Oktoberrevolution gab, und am Ende der Abendveranstaltung stimmten die jugoslawischen Partisanengenerale an der Tafel ein altes Rotarmistenlied aus den zwanziger Jahren an. Es rief mir so manches in Erinnerung: meine Kindheit, die Rjasaner Infanteristenschule und die damaligen roten Kommandeure, die Kameraden meines Vaters an dieser Schule. Chefs der Kompanien! Maschinengewehr’ her Und mehr Battrien, Daß lustger der Krieg war! In Belgrad sangen sie dieses Lied so, wie es in den zwanziger Jahren in Rjasan gesungen wurde – ausgelassen, keck, mit Pfiffen, und die Brücke, die dieses Lied von Belgrad zu meiner Kindheit schlug, bedeutete mir sehr viel. Am Morgen des Tages, an dem wir aus Belgrad abfliegen sollten – der Start war erst für die zweite Tageshälfte festgesetzt – besuchte ich den Berg Avala, einen hohen und erstaunlich schönen, bewaldeten Hügel, zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, jedem wohlbekannt, der schon einmal in Belgrad war. Auf dem Gipfel stand damals und steht heute noch ein Denkmal des jugoslawischen Bildhauers Mestrovic am Grab des „Unbekannten Soldaten“, zum Gedächtnis derer, die aus dem ersten Weltkrieg nicht heimgekehrt waren. Während der Befreiung Belgrads war ich schon einmal auf diesem Berg und hatte die Spuren des Beschüsses gesehen, Kratzer, die unsere Granatsplitter im schwarzen Marmor des Denkmals hinter-
lassen hatten. Vom Hörensagen kannte ich einige Einzelheiten des Gefechtsverlaufs. Auf dem Avala befand sich eine deutsche Beobachtungsstelle, die wir zunächst mit Kanonen beschossen, dann jedoch erfuhren wir, daß es sich bei dem eigenartigen Bauwerk auf dem Gipfel um das Denkmal des Unbekannten Soldaten handelte; wir stellten den Beschuß ein, erstürmten den Berg und schlugen die Deutschen, die sich oben festgesetzt hatten, mit Handgranaten und Feuer aus automatischen Waffen. Ich wollte eine Erzählung über das Grab des Unbekannten Soldaten schreiben, daher besichtigte ich es vorher noch einmal. Landschaftsschilderungen liegen mir nicht, und gewöhnlich versuche ich mich nicht auf diesem Gebiet. Jedoch hat es bisher – auch während des Krieges – Ausnahmen gegeben. Wenn mich die tiefere Bedeutung eines Gegenstandes stark beeindruckt, prägt sich mir sein Anblick unauslöschlich ein. So war es damals mit dem Berg Avala. Daß sich auf seinem Gipfel, von dem aus man nach allen vier Himmelsrichtungen ins umliegende serbische Land blicken konnte, daß sich gerade hier das Grab des Unbekannten serbischen Soldaten des vergangenen Weltkriegs befand, erweckte in mir nicht nur Gedanken an die Vergangenheit, sondern auch an die Zukunft und war für mich Anlaß, darüber zu grübeln, wie sich dieser gegenwärtige, derzeit noch unbeendete zweite Weltkrieg später in unserem Bewußtsein widerspiegeln werde. Seit jenem Tag waren viele, viele Jahre vergangen, als ich 1971 – wieder im Herbst – den Avala noch einmal bestieg. Natürlich
kannte ich die Tragödie, die sich 1964 hier ereignet hatte. Unsere Veteranen der Schlacht um Belgrad wollten an den Feierlichkeiten zum 20. Jahrestag der Befreiung der Stadt teilnehmen und kamen bei einer Katastrophe ums Leben, als sich ihr Flugzeug – nur wenige hundert Meter unterhalb des Grabes des Unbekannten Soldaten – in den Berghang bohrte. Ich wußte das alles, und trotzdem, beim Anblick der Gedenktafel mit den Namen der Toten – zuoberst Marschall Birjusow, dann General Shdanow, dem Befehlshaber des 4. mechanisierten Gardekorps, dem der Durchbruch nach Belgrad gelungen war –, der Blumen darunter und der Menschen, die mit entblößtem Haupt davorstanden, würgte es mir an diesem Herbsttag in der Kehle. Bei nüchterner Überlegung sagte ich mir, daß es ein unseliger, ein tragischer Unglücksfall war, und dennoch – da er sich auf dem Berg Avala mit seinem Grab des Unbekannten Soldaten ereignete, wurde ich das Gefühl nicht los, der Tod, der die Menschen hier ereilte, wäre der Vergangenheit entstiegen und hätte sie nachträglich überrascht. Damals, im Gefecht, waren sie ihm entronnen, aber als sie zum zwanzigsten Jahrestag des Sieges herflogen, lauerte er ihnen auf und überlistete sie. In Serbien und Kroatien, in Makedonien und Montenegro, wo immer ich während dieser Reise im Herbst 1971 war, auf den Plätzen der Hauptstädte, auf Dorfstraßen, bei den Ein- und Ausfahrten von Städten und Dörfern, an den Kurven der Serpentinen im Gebirge – überall sah ich Denkmäler für die im Krieg gegen den Faschismus gefallenen Soldaten.
Die Denkmäler waren sehr unterschiedlich, hier Tafeln, da Obelisken, dort Skulpturen. Alle hatten sie die Todesjahre: 42, 43, 44… Und fast überall stand das Geburtsdatum, so daß man sich ausrechenen konnte, welches Lebensalter der Betreffende erreicht hatte, als er fiel. Achtzehn, zwanzig, einundzwanzig… Im Kurpark der Stadt Opatija bemerkte ich das Denkmal für einen Mann, der nach den angegebenen Lebensdaten fast achtzig geworden war. Lange betrachtete ich die Messingtafel, ehe ich endlich begriff, daß dieser Mann nicht im Kampf gefallen, sondern eines natürlichen Todes gestorben war, nicht als Partisan, sondern als Gartenarchitekt, der diesen Park, in dem sein Denkmal stand, dereinst angelegt hatte. So ungewöhnlich war es im Nachkriegsjugoslawien, das Denkmal eines Mannes zu sehen, der in seinem Bett aus dem Leben geschieden war… Und dieses Gefühl des Ungewöhnlichen brachte mich den Jugoslawen nahe. Meine Kriegserinnerungen waren wie ihre Denkmäler, meine Vergangenheit glich der ihren. Ich weiß nicht, ob ich dieses Gefühl hinreichend erklärt habe, aber ohne es wenigstens zu erwähnen, kann ich dem herbstlichen Belgrad des Jahres 44 nicht Lebewohl sagen… Die Reise von Belgrad nach Moskau war damals, 1944, sehr schwierig. Zunächst wechselte ich dreimal das Flugzeug und wartete zwischendurch auf besseres Wetter. Die restliche Strecke, ab Brjansk, legte ich mit dem Zug zurück. Ich begab mich unverzüglich zur Zeitung und gab
dem stellvertretenden Redakteur, Alexander Jakowlewitsch Karpow, einen Bericht. Erstaunt vernahm Karpow, daß ich in Italien gewesen war. Dann brüllte er zum erstenmal in seinem Leben los, wozu er auch allen Grund hatte. „Da haben wir ihn zwei Wochen lang gesucht, den Armeedraht strapaziert und nachgeforscht – und er war in Italien! Wer zum Donnerwetter hat dir das erlaubt? Hast du an Ort und Stelle dort eine Genehmigung erhalten?“ „Nein“, antwortete ich der Wahrheit gemäß, „das nicht.“ „Dann kriegst du diesmal dein Fett! Daß dir Hören und Sehen vergeht! Begreifst du denn nicht, was du getan hast?“ Karpow schäumte, er war völlig außer sich. Ich schwieg. Die Ohrfeigen verdiente ich, sicherlich, aber was geschehen war, konnte ich nicht mehr rückgängig machen. Auch Karpow sagte zunächst nichts mehr. Er durchmaß das Zimmer und dachte nach. Dann blieb er vor mir stehen. „Wie lange brauchst du, um über Italien zu schreiben? Werden vier Stunden genügen?“ Ich bejahte. „Nimm dir eine Maschinenschreiberin, schließ dich ein, diktiere und verlaß die Redaktion erst, wenn du fertig bist.“ Ich schloß mich mit der Maschinenschreiberin ein, diktierte in vier Stunden den recht gelungenen Bericht „Auf den Straßen Italiens“ und brachte ihn Karpow. Karpow las ihn, versah ihn mit dem Vermerk „eilt!“ und ließ ihn setzen.
Danach lachte er zum erstenmal. „So, nun habe ich die Sache in Satz gegeben und halte den Kopf dafür hin. Sollen sich alle davon überzeugen, daß dein Italienbericht bei uns schon gesetzt ist, ehe du wegen deines Abenteuers Ärger kriegst und alle möglichen mündlichen und schriftlichen Erklärungen abgeben mußt. Wenn wir es in der Zeitung drucken, kommt niemand auf die Idee, daß die Fahrt ohne Zustimmung deiner Vorgesetzten unternommen wurde.“ Seine Hoffnung erfüllte sich. Der Bericht erschien, obgleich nicht sofort, aber Erklärungen, wie und weshalb ich in Italien war, wurden mir nicht abverlangt, weder mündlich noch schriftlich. Das hatte ich der journalistischen Weisheit und kollegialen Hilfe des verstorbenen Alexander Jakowlewitsch zu verdanken. Hinterher begriff ich recht gut, daß er mehr als ich riskierte, als er diesen Artikel veröffentlichte. Nach dem italienischen Bericht erschienen in Fortsetzungen meine Aufzeichnungen, die ich während des Aufenthalts bei den südserbischen Partisanen festgehalten hatte, und danach druckten die „Krasnaja Swesda“ und die „Prawda“ einige meiner jugoslawischen Erzählungen, die alle zusammen in dem Büchlein „Jugoslawskaja Tetrad“ enthalten sind. Daran arbeitete ich noch, als ich, ohne es zu merken, die Schwelle zum Jahre 1945 überschritt.
1945
24 Nach meiner Jugoslawienreise zog es mich in ein anderes slawisches Land, dessen Befreiung bereits begonnen hatte: die Tschechoslowakei. Oberbefehlshaber der 4. Ukrainischen Front, die auf tschechoslowakischem Territorium kämpfte, war damals Armeegeneral Iwan Jefimo-witsch Petrow, von dem in meinem Tagebuch schon wiederholt die Rede war. Wir korrespondierten gelegentlich miteinander, und im Januar 1945, gerade als ich dabei war, die Arbeit an meinem Jugo-slawienbändchen abzuschließen, schickte er mir einen kurzen Brief. Er fand einige anerkennende Worte über meine jugoslawischen Aufzeichnungen, die zu dieser Zeit bereits in der „Krasnaja Swesda“ erschienen waren, und schlug vor, doch die 4. Ukrainische Front zu besuchen. „Ich denke, für Sie als Schriftsteller wird es bei uns interessant sein“, schrieb er. „Wenn Sie kommen, werden Sie es nicht bereuen!“ Diese Zeilen veranlaßten mich, bei der Redaktion um diese Dienstreise nachzusuchen. Dem Antrag wurde stattgegeben, und ich will gleich sagen, daß ich als Schriftsteller meinen Entschluß tatsächlich nie bereut habe, obwohl ich als Frontkorrespondent wahrscheinlich mehr für meine Zeitung hätte tun können, wenn ich zu den wichtigsten und erfolgreichsten Fronten der damaligen Zeit gefahren wäre, wo ich einen weitaus umfassenderen Überblick über das Ausmaß der Ereignisse erhalten hätte.
Gegen Kriegsende war ich schon mehr Schriftsteller als Journalist. Ich schrieb immer weniger Zeitungsberichte und immer mehr halbe Reportagen und halbe Erzählungen. Immer häufiger blätterte ich meine Notizblöcke durch, um geeignetes Material zu suchen – nicht für den nächsten Zeitungsartikel, sondern für längere belletristische Arbeiten, die später geschrieben werden sollten. In meinem Kopf existierten zwei Aspekte nebeneinander und widersprachen sich immer öfter. Einerseits sah ich den Krieg gewissermaßen mit den Augen des Korrespondenten, und andererseits war da die Sicht des Schriftstellers, und sie gewann gegen Kriegsende die Oberhand, manchmal zum Schaden meiner unmittelbaren korrespondentischen Pflichten. Immer häufiger verlangte ich mehr Zeit, um über das Gesehene nachzudenken. Immer schwieriger wurde es, das Gesehene und Notierte in reguläre Berichterstattung umzusetzen. Sie vertrug keinen Aufschub, mußte kurzfristig geschrieben und der Redaktion unter allen Umständen pünktlich zugeleitet werden. Damals wollte ich mich selbst über die Tatsachen hinwegtäuschen. Heute weiß ich jedoch, daß meine Geisteshaltung in jenen kritischen Tagen, als ich am Scheideweg stand und zwischen dem Beruf eines Journalisten und eines Schriftstellers wählen mußte, so manche Eigenart erklärt, die den Notizen aus dem letzten Kriegsjahr anhaften. Vor mir liegen Notizblöcke mit den Aufschriften „Montenegrinische Aufzeichnungen 1945“, „Partisanen – 1945“, „Auschwitz“ und ein Stapel zusammengehefteter Blätter mit dem Vermerk „45, Transkarpatien“.
Weitere Notizblöcke habe ich nicht aufgehoben, und so ist das alles, was von den ersten anderthalb Monaten meiner Fahrt zur 4.Ukrainischen Front erhalten geblieben ist. Diese Unterlagen umfassen den Zeitraum von Ende Januar bis zum 10. März. Ich betrachte die Notizen, die mir heute in vielen Punkten unklar erscheinen, und ich sage mir, daß ich nicht das Recht habe, den Leser an der Nase herumzuführen. Die Erinnerungen, die mir beim Lesen der Aufzeichnungen kommen, sind allzu verschwommen, und ich kann mich bei der Darstellung meiner damaligen Erlebnisse nur äußerst knapp fassen. Als ich Nowy Targ erreicht hatte, wo der Stab der 4. Ukrainischen Front lag, fuhr ich in Südpolen zur 38. Armee, die damals bei Bielsko-Biala kämpfte. Ich war in mehreren ihrer Einheiten, beobachtete einige Kämpfe, aber nähere Einzelheiten vermag ich nicht anzuführen. Danach fuhr ich ins Dorf Krempachi – dort war damals der Stab der Partisanenbewegung der 4. Ukrainischen Front stationiert – und notierte etwa zwei Wochen lang die Erlebnisberichte von Teilnehmern am slowakischen Aufstand. Sie bildeten die Grundlage für zwei meiner Beiträge in der „Krasnaja Swesda“, die später in dem Buch „Briefe aus der Tschechoslowakei“ erschienen. In einem Notizblock ist die erstaunliche Geschichte des Arztes Julius Bernard aufgezeichnet. Nach dem Scheitern des Aufstands rettete er ein ganzes Partisanenlazarett mit Schwerverwundeten. Auch ein kurzer biographischer Abriß aus seiner Vorpartisanenzeit liegt mir vor. „Geboren in der Familie eines
jüdischen Apothekers. Nach Eintreffen der Deutschen wurde seine Familie in Majdanek verbrannt. Nur ihm und dem Bruder gelang die Flucht. Als im Oktober eine Partisanenabteilung in die Tatra kam, erfuhr der Kommandeur der Brigade von den Einwohnern, daß sich in den Bergen zwei jüdische Ärzte versteckt hielten. Er bestellte sie zu sich, und sie schlossen sich bereitwillig den Partisanen an…“ Die kurze Beschreibung des damaligen Julius Bernard: „Groß, leicht gewelltes schwarzes Haar, hager, körperlich nicht sehr kräftig. Blaue, kluge, aufmerksame, leicht schielende Augen. Kleine Hände mit schlanken Fingern. Zweiundzwanzig Jahre alt, schmalschultrig, die Sachen hängen an ihm herab wie an einem Kleiderständer…“ Kurz nach dem Krieg schrieb ich über seine Heldentat einen Tatsachenbericht in der „Prawda“: „In der Hohen Tatra“. Fünfzehn Jahre später stand ich ihm gegenüber und erkannte ihn nicht. Der hagere Partisanendoktor hatte sich zu einem kernigen Mann mittleren Alters entwickelt. Er leitete den Verlag der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Nur die leicht schielenden blauen Augen blickten unverändert… Außerdem enthalten meine Notizblöcke noch einige sehr kurzgefaßte, stichwortartige Bemerkungen über unsere Fallschirmspringer, die den Slowaken zu Hilfe kamen. Wahrscheinlich wollte ich ursprünglich wohl über sie schreiben. Unter den Aufzeichnungen befindet sich eine, die sehr knapp, aber sehr aussagekräftig ist und treffend die Stimmung der Leute charakterisiert, die vom Einsatz zurückkehrten, nachdem sie bereits zahllose Male ihr Leben gewagt hatten.
„Von mir selbst weiß ich, daß ich viermal zur Auszeichnung vorgeschlagen wurde. Ich hätte die Orden längst gekriegt, aber dort heißt es auch wieder abspringen. Wenn’s soweit ist, auf die Dächer von Berlin. Was bleibt uns anderes übrig? Immer wieder springen. Und was danach kommt? Na, danach reicht in China die Arbeit für ein Jahr. Und dann – keine Ahnung…“ 1945 wußte ich natürlich, wessen Worte ich da notiert hatte. Heute erinnere ich mich nicht, aber der Geist dieser Zeit kommt darin zum Ausdruck, die Bereitschaft der revolutionären Soldaten, ihre internationale Pflicht überall, wo es nötig werden sollte, zu erfüllen. Von Krempachi ging es in die transkarpatische Ukraine. Die Fahrt dorthin hatte mir L. S. Mechlis, Mitglied des Kriegsrats der 4. Ukrainischen Front, besonders warm ans Herz gelegt. Begegnungen mit Bauern, mit Lehrern, mit Geistlichen der orthodoxen Kirche, die während der Besatzungszeit Repressalien ausgesetzt gewesen waren, Gespräche über die künftige Angliederung der Transkarpaten an die Sowjetunion… Ich bereiste die Karpatoukraine, weil ich das alles verarbeiten wollte, aber es sind nur wenige kurze, als „wichtig!“ oder „merkenswert!“ gekennzeichnete Notizen erhalten. Nach meinem Aufenthalt in der Karpatoukraine war ich in Auschwitz. In meinem Notizblock gibt es hierüber wenige Seiten, die auch heute, so viele Jahre danach, immer noch schrecklich zu lesen sind, und ich möchte sie hier nicht anführen, zumal ich die bei weitem ausführlicheren Aufzeichnungen über Majdanek, dem gräßlichen Zwillingsbruder von Aus-
chwitz, bereits herangezogen habe. Wenn ich die Passagen ausklammere, die meinen damaligen Zeitungsartikeln zugrunde lagen, liefern die Notizblöcke nur kärgliches Material. Selbst von einem für mich so wesentlichen Ereignis wie der Fahrt zum tschechoslowakischen Korps existieren im Notizblock dürftige drei Zeilen: „Die Zeit zwischen den beiden Phasen der Offensive benutzte ich, um für einige Tage in die Slowakei zum tschechoslowakischen Korps General Svobodas zu fahren, das im Gebiet Liptovsky Mikulas kämpfte.“ Übrigens hatte mich der Anfang dieses Satzes irritiert, so daß ich bei der Veröffentlichung meines Tagebuchs in einer Zeitschrift meine Reise in die zweite Hälfte des März verlegte, obwohl sie tatsächlich Anfang des Monats stattgefunden hatte. Die Worte „Zeit zwischen den beiden Phasen“ bezog ich fälschlich auf eine siebentägige Kampfpause während des Angriffs auf Moravska Ostrava. In Wirklichkeit war jedoch eine andere Zwischenzeit gemeint und zwar die Spanne, in der die 4. Ukrainische Front nach Abschluß ihrer Angriffsoperationen auf polnischem und tschechoslowakischem Gebiet ihre Kräfte zum Durchbruch nach Moravska Ostrava massierte. Ich war am 5. und 6. bei Svoboda im Korps und kehrte unmittelbar vor Beginn der Ereignisse zum Stab der Front zurück. Auf dieses Schnippchen, das mir mein Gedächtnis schlug, hat mich in einem Brief Alexej Alexejewitsch Schipow hingewiesen, Oberst a.D. seinerzeit ständiger Korrespondent der „Krasnaja Swesda“ bei Svobodas Korps. In seinem Brief erinnert er mich auch daran, wie mein
Artikel „General Svoboda“, dessen Wortlaut unmittelbar nach der Veröffentlichung in der Zeitung vom Rundfunk in tschechischer und in slowakischer Sprache ausgestrahlt wurde, überhaupt zustande gekommen war. Er schreibt: „Weil ich ständiger Korrespondent beim Korps war und die tschechoslowakischen Genossen näher kannte, konnte ich deine Frage richtig beantworten. ,Was meinst du, wovon ich schreiben soll?’ (An der Front fanden in diesen Tagen keine weltbewegenden Ereignisse statt.) ,Schreib über General Svoboda.’ Und ich erklärte dir, warum du über ihn schreiben solltest, und warum gerade du, weil dein Name schon bekannt war…“ Zum Korps General Svobodas, das an der linken Flanke der 4. Ukrainischen Front den Deutschen in den Gebirgsregionen der Slowakei Angriffsgefechte lieferte, mußte ich einen langen Umweg benutzen. Wie schon gesagt, leider verfügte ich nach dieser Fahrt, in der mich das Schicksal mit dem späteren Präsidenten der CSSR zusammenführte, über keinerlei Tagebuchaufzeichnungen. Da diese Begegnung im Buch jedoch einen Niederschlag finden soll, gestatte ich mir eine weitere Ausnahme zur Regel und bringe an dieser Stelle eine Passage – nicht aus dem Tagebuch, sondern aus meinem Zeitungsbericht „General Svoboda“, den ich von der Front telegraphisch übermittelte. Ich hörte nahen Geschützdonner, aber es war schon spät, es dunkelte, und ich sagte mir, wenn der General den ganzen Tag auf der Beobachtungsstelle zugeb-
racht hat, wird er inzwischen vermutlich zurückgekehrt sein. „Der General ist nicht da“, hieß es. „Und wo ist er?“ „Wo schon. Auf der Beobachtungsstelle.“ „Wann kommt er zurück?“ „Spät. Er kommt immer spät zurück.“ Nach der langen Fahrt beschloß ich, in der Unterkunft des Korpsstabs zu übernachten, und nachdem ich wie ein Toter geschlafen hatte, erwachte ich erst am Morgen um neun. Ich kleidete mich schnell an und wollte zum General eilen. „Er ist auf der Beobachtungsstelle.“ „Schon lange?“ „Ja. Um fünf ist er losgefahren. Er fährt immer sehr zeitig los.“ Die Deutschen drückten beide Flanken gegen die mit einer viele Meter hohen Schneeschicht bedeckten Felsen und klammerten sich verbissen an die einzige Straße, die durchs Tal führte. Auf der ebenen Chaussee wütete der Schneesturm so, daß wir den Wagen mehrmals freischaufeln mußten. Wir verließen die Landstraße und bogen auf einen Waldweg ab, aber nicht einmal hier fanden wir Schutz vor dem Schneesturm. Auf einem offenen Abschnitt von etwa fünfhundert Meter Länge fegte er so, daß ich mit meinem Begleiter den „Willys“ verlassen und bis zum nächsten Dorf zu Fuß gehen mußte. Dort wurden zwei Pferde gesattelt, und wir ritten weiter zur Beobachtungsstelle des Generals. Im Schneetreiben konnten wir fast nichts sehen. Wir hielten die Hände vor die Augen, und die Pferde, denen wir die Zügel ließen, suchten tastend den Weg. Endlich erreichten wir ein Dorf, in dem direkt auf der
Straße schwere Granatwerfer des Regiments standen und ihre pfeifenden Geschosse über die Dächer hinweg zu den Deutschen schickten. Wir lenkten die Pferde in eine Seitenstraße, die zu einem Hügel führte, und gelangten zur Beobachtungsstelle des Generals. In einem Häuschen saßen mehrere Offiziere, unter ihnen General Svoboda. Ich wußte, der heutige Tag war ein schwerer Tag, die Deutschen hatten pausenlos Gegenangriffe unternommen, und das Korps konnte nur einen geringen Geländegewinn erringen. Mochte die Strecke auch reichlich mit Blut getränkt sein, für eine Erwähnung in den Berichten des Informationsbüros reichte es nicht aus. „Wir schlagen uns heute nicht besonders gut“, sagte der General. Das waren seine ersten Worte seit der Begrüßung, und er wiederholte: „Wir schlagen uns nicht besonders gut. Die Gegenangriffe wehren sie ab, sie sind aber nur ein paar hundert Meter vorangekommen. Wenn wir unsere Erfolge nach Metern bemessen, ist das schlecht, auch wenn es nur zeitweilig ist.“ Kurz vor unserem Gespräch hatte der General einen seiner Offiziere mit einem bestimmten Auftrag hinausgeschickt. Der Offizier kehrte zurück, über und über mit Schnee bestäubt, schlug laut die Hacken zusammen, wie es in der tschechoslowakischen Armee üblich ist, und meldete seine Ankunft. „Nun, was ist, gute Sicht?“ fragte ihn der General. „Zu Befehl, man kann sie beobachten.“ Der General wandte sich mir zu. „Na also, gehen wir zur Beobachtungsstelle. Sehen Sie es sich selbst an. Ich habe ihn geschickt, um sicher zu sein, daß man
etwas sieht.“ Wir verließen das Häuschen, überquerten den Hof, gingen durch eine große Scheune und erklommen eine hohe Stiege – eine Stehleiter -zum Heuboden. Der General kletterte leichtfüßig – beinah jugendlich trotz seiner fünfzig Jahre – die steile Treppe hoch. Ins Dach des Bodens waren zwei Öffnungen für das aufgestellte Scherenfernrohr eingelassen. Die Landschaft: schneebedeckte Hügel, dazwischen schroff abfallende schmale Täler. Die nächsten Hügel wurden gestern oder heute erobert, die fernen gehören den Deutschen. Von dort, aus dem Wald, der die Hügel bedeckte, aus den Gräben, die ich mit bloßem Auge als schwarze Zickzacklinie erkannte, waren die Deutschen immer wieder zu Gegenangriffen angetreten. Gerade jetzt wurde ihr vorläufig letzter Gegenangriff abgewehrt. Diesmal bezog ein tschechoslowakisches Bataillon die Ausgangsstellung und machte sich zum Angriff bereit. Der Schneesturm legte sich, von der Beobachtungsstelle waren die schwarzen Gestalten der tschechoslowakischen Infanteristen zu erkennen. Sie erklommen den Hügel, von dem herab sie den Angriff vortragen sollten. Hinter uns, im Dorf, schössen die schweren Granatwerfer. Wir sahen, wie bei den deutschen Stellungen die Granaten detonierten und grauweiße Rauch- und Schneewolken in die Luft geschleudert wurden. Die Deutschen blieben uns die Antwort nicht schuldig. Die Einschläge ihrer Granaten lagen unweit des Weges, auf dem das Bataillon vorging. Der General runzelte die Stirn, wenn die deutschen Granaten allzu dicht detonierten. Die Sicht
war ausgezeichnet. Das Häuschen, das als Beobachtungsstelle diente, stand am äußersten Dorfrand, und die Hofgebäude erstreckten sich bis auf den Gipfel des Hügels. Am Abend machten wir uns auf den Rückweg zum Korpsstab. Es schneite mit großen Flocken, und wir fuhren in einem Schlitten. Der General saß vorn, auf einen mit Messinggriff versehenen Wanderstab gestützt, wie sie hierzulande üblich sind. Er trug eine hohe Pelzmütze, unter der seine grauen Haare hervorsahen. Sein Gesicht war von Wind und Wetter gezeichnet, leicht gerötet, aber desto schärfer hoben sich die scharfen blauen Augen ab. Auf dem Waldweg kamen ihm Soldaten entgegen, Fahrzeuge mit Granaten, dann der Troß, und als ich sah, wie ihm alle begegneten, konnte ich mir lebhaft vorstellen, daß er in seinem Korps sehr beliebt war. Auf diese Passagen muß ich mich beschränken. Der Bericht, der in der „Krasnaja Swesda“ abgedruckt wurde, enthält keine weiteren Angaben über meinen Aufenthalt beim Tschechoslowakischen Korps. Alles andere ist die Biographie des Generals oder die Korpsgeschichte. Als ich den Beitrag geschrieben und abgeliefert hatte, kam ich nicht mehr zu meinem Tagebuch. Die 4. Ukrainische Front geriet wieder in Bewegung. Vor mir liegt ein dicker Ordner, dreihundert gelochte und abgeheftete Blätter, von mir seinerzeit bei der 4. Ukrainischen Front sehr breit diktiert, Aufzeichnungen von drei Wochen Offensive zwischen dem 10. März 1945 und Anfang April.
Einige Worte über die Lage, in der sich die 4. Ukrainische Front vor dem Angriff auf Moravska Ostrava befand. Ich möchte diesen Kommentar nicht im Verlaufe meiner Schilderung des Gefechtsverlaufs liefern, sondern ihn voranstellen. Im Norden hatte der Nachbar zur Rechten – die 1. Ukrainische Front – während der vorangegangenen Kämpfe das Schlesische Becken eingenommen und war weit vorgeprellt; ihr linker Flügel – die 60. Armee General Kurotschkins – hatte sich in südlicher Richtung entfaltet und bedrängte die deutschen Einheiten, die der 4. Ukrainischen Front nach Osten hin die Stirn boten. Im Süden operierte an der Naht zum linken Nachbarn – der 2. Ukrainischen Front – die 18. Armee General Gastilowitschs, die zur 4. Ukrainischen Front gehörte und gemeinsam mit dem Tschechoslowakischen Korps General Svobodas den Deutschen in den Gebirgsregionen der Slowakei Kämpfe lieferte. Im Zentrum, vor den Hauptkräften der Front – der 1. Gardearmee General Gretschkos und der 38. Armee General Moskalenkos –, lag ein befestigter Raum, der Moravska Ostrava sicherte – die Stadt selbst und ein ganz bedeutendes Industrie- und Steinkohlengebiet der Tschechoslowakei, eins der letzten, die von den Deutschen noch besetzt waren. Der Fall Moravska Ostravas müßte das Tor ins Innere Mährens und Böhmens öffnen und den kürzesten Weg freigeben. In der ersten Angriffsetappe sollte die 38. Armee den Hauptstoß führen. Mir sagte das damals begreiflicherweise niemand, aber mir wurde es klar, ohne daß darüber gesprochen wurde, als mir Iwan Jefimo-
witsch Petrow bei meinem Besuch den Rat gab, zur 38. zu fahren und die Sache nicht auf die lange Bank zu schieben. In dieser Armee begegnete ich den Männern, die ich aus meiner Tätigkeit als Frontkorrespondent bereits kannte. Beim Armeebefehlshaber Kirill Semjonowitsch Moskalenko war es dann das vierte Zusammentreffen. Stalingrad, das Karpatenvorland und Südpolen waren vorausgegangen. Meine beiden letzten Fahrten zur 38. Armee hatten mich auch mit dem Mitglied des Kriegsrats der Armee, Alexej Alexejewitsch Jepischew zusammengeführt. Leiter der Politabteilung war noch immer David lossifowitsch Ortenberg, ehemaliger Redakteur der „Krasnaja-Swesda“. Ich wende mich meinen Aufzeichnungen vom 10. März 1945 zu. Noch bei völliger Dunkelheit standen wir am Morgen auf. Der Beginn der Artillerievorbereitung war auf sieben Uhr fünfundvierzig festgesetzt. Zwar war das erst in der letzten Nacht bekannt geworden, aber der bevorstehende Angriff hatte in der Luft gelegen, wir hatten ihn gespürt, als wir einen Tag zuvor von Nowy-Targ hierher nach Pszczyna gefahren waren. Die nächtliche Begegnung auf den Straßen, die große Zahl der Kisten mit Granaten, die in den Wäldern zu beiden Seiten der Wegstrecke auf der Erde lagerten. Als ich gestern zu Moskalenko ging, hoffte ich, wenigstens etwas vom allgemeinen Operationsplan zu erfahren. Ich wollte recht bald recht viel darüber wissen, um die Ereignisse später besser verstehen zu können. Zu meinem Leidwesen hatte sich Moska-
lenko mit mir jedoch eine Stunde lang sehr freundlich über Literatur unterhalten, zuerst über Nekrassow und Kolzow, dann über Nowikow-Priboi und über „Port Arthur“ von Stepanow. Das alles hätte ich bei anderer Gelegenheit sehr gern mit ihm erörtert, doch diesmal interessierte mich die bevorstehende Operation, und die erwähnte er mit keinem Wort. Nach unserer einstündigen literarischen Plauderei spähte erst ein Offizier, dann ein zweiter durch die Tür. Da begriff ich endlich, daß ich den Armeebefehlshaber von der Erfüllung seiner Pflichten abhielt. Ich grüßte und zog mich zurück. Zuvor hatte ich seine Erlaubnis für meinen Aufenthalt auf der Beobachtungsstelle erbeten. Als ich am Morgen dort hinfuhr, gewann ich eine ungefähre Vorstellung von dem Schlag, der in Richtung Moravska Ostrava geführt werden sollte und daß vorgesehen war, bei einem erfolgreichen Verlauf des Angriffs ein mechanisiertes Korps in den Durchbruchsabschnitt zu werfen, um recht tief in das gegnerische Stellungssystem vorzudringen. Darüber hinaus wußte ich nichts. Noch war vom Tagesanbruch wenig zu spüren, nächtliche Nebelfelder bedeckten das Land, der ganze Horizont war von einem Schneeschleier verhangen, leise rieselten die kleinen Flocken. Das alles mißfiel mir sehr. So blieb nur die Hoffnung, daß es sich später aufklärte. Ich folgte mit Wassja Korotejew und dem Bildberichterstatter Maxim Alpert von der Nachrichtenagentur TASS einigen Fahrzeugen des Armeebefehlshabers in einem gesonderten „Willys“. Als wir der Zeit nach schon in Frontnähe sein mußten, blieb
der vor uns fahrende Wagen plötzlich stehen. Zuerst dachten wir, die ganze Kolonne hätte gestoppt, und warteten geduldig, aber dann stellte sich heraus, daß dieser Wagen eine gewöhnliche Panne hatte. Wir fuhren vorbei, nachdem wir einige Minuten verloren hatten, und stießen auf eine Panzerkolonne, die sich gerade in Bewegung setzte. Da wir sie überholen mußten, vergrößerte sich der Abstand zu den übrigen Wagen, obwohl es weder eine Stauung noch Gegenverkehr gab. Für diese und für andere Straßen, die zum Angriffsstreifen führten, waren Passierscheine ausgegeben worden, jedoch durften sich die Fahrzeuge nur in eine Richtung bewegen. Rechts standen die langen Kolonnen des mechanisierten Korps und rührten sich noch nicht vom Fleck: Panzer, Schützenpanzerwagen mit Vierlings-MGs, Panzerspähwagen, die Fahrzeuge der motorisierten Infanterie. Zunächst waren wir auf dem richtigen Weg, dann verfuhren wir uns. Bei einer Umleitung hatte uns ein Offizier eine falsche Auskunft erteilt. Wir bogen an einer verkehrten Stelle ab und gerieten auf ein freies, verschneites Feld, wendeten dort, an irgendwelchen rätselhaften Zäunen vorbei, und gelangten schließlich zur Chaussee zurück. Zwei Stunden später, als wir schon auf der Beobachtungsstelle waren, trat Korotejew an mich heran, lachte breit und schüttelte mir die Hand. „Gratuliere!“ Ich fragte nach dem Anlaß und erfuhr, daß die Zäune, deren Bedeutung wir nicht hatten erraten können, ein Minenfeld absteckten, das wir ahnungslosen Toren und Glückspilze wohlbehalten überquert hatten.
Die Armeebeobachtungsstelle war in einem Vorwerk eingerichtet, einem großen viereckigen Steinkomplex aneinandergebauter Häuser und Schuppen, und fünfzig Meter vor diesem Viereck stand ein weiteres zweistöckiges Haus mit großem Boden, der wahrscheinlich zum Heutrocknen diente. Hier gab es viele versteckte Winkel und Dachfenster, und überall standen Scherenfernrohre und saßen Beobachtungsposten, besonders der Artillerie. Der Schneesturm wurde immer stärker. Ein dichter grauweißer Schleier verdeckte den Horizont. Die Artillerievorbereitung begann genau sieben Uhr fünfundvierzig. Die Salven der „Katjuschas“ unweit des Vorwerks übertönten alles andere, doch auch so wäre das Brüllen der Artillerie ohrenbetäubend gewesen. Ringsum donnerte und bebte die Welt, aber durch den Schnee sahen wir nur das Mündungsfeuer der nächsten Batterien. Bei diesem Schneesturm konnte von einer Beobachtung der Ziele keine Rede sein. Das Feuer erfolgte aufs Geratewohl, nach vorher ermittelten Koordinaten. Auch die Salven der anderen „Katjuschas“, die nicht unmittelbar beim Vorwerk standen, waren zu hören; den Flug ihrer Geschosse aber sah man nicht in dem Schnee, der ihnen beinah horizontal entgegenfegte. Petrow, der mit Mechlis zur Beobachtungsstelle gefahren war, kam auf den Boden. Er ließ aus dem Dach ein Stück herausbrechen, steckte den Kopf durchs Loch und versuchte etwas zu erkennen. Das gelang ihm trotz aller Anstrengungen nicht. Schließlich winkte er ab und sagte: „Gehen wir ins Freie!“
Alpert und ich verließen ebenfalls den Boden. Einige Minuten standen wir unten, ohne etwas zu sehen. Dann begab sich Petrow zu Moskalenko, und Mechlis und ich wanderten eine halbe Stunde bei einem langgestreckten Steinschuppen auf und ab. Die Artillerievorbereitung ging zu Ende. Aus immer größerer Ferne kam das Grollen der Abschüsse, und vereinzelt detonierten deutsche Granaten, die vor dem Vorwerk einschlugen. Daß die Deutschen solche Sperenzien machten, war eine unangenehme Überraschung. Folglich hatte die Artillerievorbereitung nicht alle ihre Geschütze ausgeschaltet. Da wir froren, zogen wir uns ins Innere des Vorwerks zu Moskalenko zurück. In dem großen, ausgeräumten Saal drängten sich Adjutanten und Fahrer. Mehrere Türen gingen von hier ab. In einem Zimmer saßen Aufklärer, in einem anderen Offiziere der operativen Abteilung, in einem dritten, das besonders stark geheizt war, Moskalenko, Jepischew und Petrow. Als wir dort eintraten, sprachen Petrow und Moskalenko übers Wetter. Petrow meinte, für den Anfang wäre es kein schlechtes Wetter. Wenn die Infanterie angriff und ins feindliche Verteidigungssystem einbrach, wäre dieses Wetter sogar günstig, da gebe es geringere Verluste. Sollte sich das Schneetreiben jedoch lange fortsetzen, würde es sich schließlich gegen uns kehren. Moskalenko telephonierte pausenlos, bald mit diesem, bald mit jenem seiner Unterstellten. Über die Erfolge der Infanterie auf dem Gefechtsfeld konnten natürlich noch keine Nachrichten vorliegen. Da es
hierfür zu früh war, galt das Hauptinteresse der Artillerie. Moskalenko verlangte von seinem Artilleriechef: „Drängen Sie Ihre Leute vorwärts, mit welchen Mitteln Sie wollen, nur treiben Sie sie an. Jagen Sie sie hinter der Infanterie her, damit es für die Infanterie dann keine böse Überraschung gibt, damit sie sich jederzeit auf ihre Artillerie verlassen kann. Terrorisieren Sie den Gegner hinter der Front, immer weiter und weiter, treffen Sie ihn in der Tiefe! Zerschlagen Sie seine Verbindungen, nehmen Sie sich die Wegkreuzungen Vor. Terrorisieren Sie ihn, wie er einundvierzig uns terrorisiert hat. Er selbst ist noch weit, aber seine Granaten krepieren in unseren Stellungen, und wir wissen so schon nicht mehr, was gehauen und gestochen ist!“ In dieser Phase der Schlacht fürchtete der Armeebefehlshaber vor allem, seine Artilleristen könnten sich nach der Feuervorbereitung auf ihren Lorbeeren ausruhen. Er war besorgt, daß der Teil, der für die Bewegung vorgesehen war, auch zügig nachkam. Gegenwärtig verließen sie ihre Stellungen und folgten der angreifenden Infanterie. Obwohl im Zimmer gut eingeheizt war, fröstelte Moskalenko. Er hatte einen taillierten Pelzüberrock umgehängt und die Beine der wattierten, abgesteppten Hose in die Filzstiefel gestopft, während er am Apparat hockte und telephonierte. Ich fragte Mechlis, wo sich gegenwärtig die Tschchoslowakische Panzerbrigade befinde. In Gretschkos Armee, sagte er und fügte ein interessantes Detail hinzu: Als Gretschko dem Kommandeur der Tschechoslowakischen Brigade auf der
Karte seinen Angriffsabschnitt zeigte, hätte der mit blitzenden Augen erklärt, die Gegend in- und auswendig zu kennen. Hier sei er geboren und habe jeden Fußbreit Boden durchwandert. Ich trat ans Fenster, um besser sehen zu können, machte es mir auf der Bank bequem, legte den Notizblock auf die Knie und bemühte mich, von den Telephongesprächen, die Moskalenko führte, das Wesentliche mitzuschreiben. „Ich frage Sie nicht nach dem Gegner. Bei zweihundert Geschützen pro Frontkilometer gibt es keine Anfragen oder Meldungen über den Gegner. Melden Sie, wie weit, bis zu welchem Geländestreifen Ihre Einheiten vorgedrungen sind.“ Später, leicht gereizt: „Sie sind zurückgeblieben. Bondarew hat die erste Linie bereits überrannt!“ Dann: „Stehen Sie mit Ihren Einheiten in Verbindung? Nein, sagen Sie mir offen, haben Sie Verbindung oder nicht? Ach so, ich entnehme Ihrer Meldung, daß Sie demnach zu Ihren Einheiten keine Verbindung unterhalten. Soso. Sie jagen alle nach vorn? Das ist richtig. Alle müssen nach vorn gejagt werden, aber verlieren Sie dabei nicht die Verbindung. Schicken Sie alle Offiziere vor, schicken Sie Ihren Adjutanten, aber behalten Sie einen Mann oder zwei bei sich. Die übrigen schicken Sie alle nach vorn. Nur daß die Verbindung gesichert ist.“ „Was? Sie warten, bis Ihre Bataillonskommandeure den Bedarf melden? Bedarfsmeldungen – das ist was für Friedenszeiten, für die Ausbildung. Jetzt greift Ihre Infanterie an, und die Artilleristen haben zu schießen aufgehört? Sie trinken und essen? Veran-
lassen Sie sie zu arbeiten, und zwar sofort.“ „Melden Sie, welche Informationen Sie von der vordersten Linie haben. Was? Über Verwundete? Wollen Sie uns blamieren – Informationen über Verwundete erhalten! Melden Sie mir genau, wo Ihre Einheiten gegenwärtig stehen.“ „Aber was soll das – in Bewegung… Seit Stalingrad ist die Rote Armee überhaupt in Bewegung! Stellen Sie gefälligst fest, wo Ihre Einheiten operieren, und melden Sie in zwanzig Minuten.“ „Aber was soll da Flak, wozu geben Sie sich mit Kinkerlitzchen ab! Setzen Sie schwere Artillerie ein. Nehmen Sie sie kräftig unter Feuer!“ Petrow, der fast die ganze Zeit geschwiegen hat, tippt mit dem Finger auf die Karte. Das ist die Stelle, die seiner Meinung nach unter Artilleriebeschuß genommen werden muß. „Wo sich die Straße gabelt“, wirft er ein, „hier stauen sie sich wahrscheinlich, Troßfahrzeuge und alles übrige. Diese Gabelung – woanders können sie nicht mehr hin.“ Moskalenko erteilt telephonisch einen Befehl: „Fahren Sie zum Kommandeur des 127. Regiments. Er hat einen unmodernen Stil, vorsintflutlich. Helfen Sie ihm, Verbindung zu halten und das Feuer von oben zu organisieren, ohne auf eine Anforderung der Bataillone zu warten.“ Immer wieder neue Anrufe. Schließlich das erste Gespräch mit dem Stabschef der Armee. „Schicken Sie zwei fähige Offiziere, die dem 52. Korps einen Schubs geben, und man soll sich dort nicht auf die Überredungsversuche des Kommandeurs und des Stabschefs einlassen. Man soll taktisch
geschickt, aber unnachgiebig auf entschiedene Bewegung drängen. Man soll sich nicht in Kommandeursangelegenheiten einmischen, aber klarmachen, daß bei jeder Abweichung und Stockung unverzüglich Meldung zu erstatten ist. Schicken Sie Offiziere mit Rückgrat, die nicht weich werden und sich nicht einwickeln lassen.“ Der Chef des Stabes kommt ins Zimmer, ein langer Major mit gedunsenem Gesicht. Moskalenko fährt ihn an. „Was haben Sie denn für eine Fahne?“ „Habe hundert Gramm getrunken.“ „Und warum?“ „Die Zuteilung, das ist gestattet.“ „Den Soldaten ist es gestattet, nicht Ihnen! Was erdreisten Sie sich! Sie haben Ihr Brot noch nicht verdient, Sie müssen noch bis zum Abend schuften und fangen am Morgen an, Wodka zu trinken!“ Der Stabschef ist herbestellt worden, weil er den vorgehenden Truppen nachfahren und einen geeigneten Ort für eine neue Beobachtungsstelle ausfindig machen soll. Er geht, um den Befehl auszuführen, und nach seinem Abtritt erklärt mir Mechlis beiläufig, den Artilleristen sei es überhaupt untersagt, ihre Tagesration vor dem Abend zu trinken. Wie man am Weihnachtsheiligabend vor Aufgang des Abendsterns nichts ißt, so sei es bei ihnen mit dem Trinken. Am Morgen werden die hundert Gramm nur an die Infanteristen ausgegeben. „Na ja, wenn die Zeichen nicht trügen, läuft bei uns alles großartig“, sagt Moskalenko nach einigen weiteren Telephonaten. Soeben ist ihm gemeldet worden, die Pioniere hätten
damit begonnen, Panzergassen von Minen und sonstigen Hindernissen zu befreien. Seine gute Stimmung verraucht jedoch, als sich der Korpskommandeur am Apparat meldet. „Was soll das heißen, Shukow, dieses kindische, mein rechter Flügel ist nicht zur Ruhe gekommen’? Wie soll er zur Ruhe kommen? Er hat heute noch vierundzwanzig Kilometer zurückzulegen.“ „Und der halbe Tag ist schon um“, wirft Petrow zornig ein. Er sieht auf die Uhr. Moskalenko telephoniert weiter und meint – wahrscheinlich als Antwort auf die Erklärungen des Kommandeurs – schulmeisterlich, aber schon sanfter: „Dann lernen Sie, Ihre Gedanken richtig darzulegen. In keinem Fall darf die Infanterie einen längeren Aufenthalt erfahren. Wo sie das feindliche Feuer frontal nicht sofort zum Schweigen bringt, muß sie zur Seite ausweichen. Und Sie führen neue Kräfte heran. Vergessen Sie nicht, der Erfolg des Kampfes hängt davon ab, ob die Reserven im richtigen Augenblick eingesetzt werden.“ Schon vor zehn Minuten hat Petrow einen Hörer abgenommen. Seitdem hält er ihn ans Ohr, lauscht schweigend, mit angespannter Miene, Dann legt er endlich auf und sagt zornig: „Na, so eine…“ Petrow gebraucht eine ziemlich kräftige Vokabel. „Chef der Kaderverwaltung. Jetzt, mitten im Gefecht mit dem Stabschef des mechanisierten Korps zehn Minuten lang zu quasseln und sechs ,Studebaker’ anzufordern, um aus Ushgorod irgendwelches bewegliche Gut seiner Abteilung herzuschaffen. Mitten im Gefecht! Seine Vorgesetzten sind alle vorn. Da hat er sich an den HF-Apparat
gehängt…“ Petrow schnauft wütend, ruft den Chef der operativen Abteilung des Stabes der Front an den Apparat und befiehlt: „Bestellen Sie ihn sofort zu sich und stecken Sie ihn drei Tage in Arrest, abzusitzen unter Kontrolle des Kommandanten, weil er im Gefecht mit wichtigen Aufgaben betraute Menschen davon abhält, ihre Pflicht zu tun. Soll er drei Tage im Bau über alles nachdenken, und die Wagen, die er anfordert, sind ihm nicht zur Verfügung zu stellen. Ich verbiete es…“ Durch ein Fenster sieht Moskalenko plötzlich einige Geschütze, die auf dem Hof des Vorwerks stehen. Er läßt den Kommandanten zu sich kommen. Eine Minute später stürmt der Kommandeur der Batterie ins Zimmer, meldet präzise, aber übertrieben laut. „Warum sind Sie hier?“ fragt Moskalenko. „Wir hatten hier unsere Feuerstellungen…“ „Wo?“ „Zweihundertfünfzig Meter…“ „Warum sind Sie nicht dort?“ „Wir beziehen gerade neue Positionen.“ „Und ich frage noch einmal: Warum sind Sie hier?“ „Wir jetzt, wir… wir gehen schon, haben uns nur für drei Minuten aufgehalten…“ Moskalenko spricht ruhig, ohne die Stimme zu heben. „Sie haben jetzt nicht nur keine drei, Sie haben keine Minute Bedenkzeit. Die Infanterie erwartet Sie! Gehen Sie!“ Er wendet sich wieder dem Telephon zu, nimmt eine Meldung entgegen, hält den Hörer ab und sagt: „Hier wird gebeten, das Feuer auf Hlohovec einzustellen. Soll schon genommen sein.“ Nach einer Weile fügt er schmunzelnd hinzu: „Das ist doch mal eine genaue
Meldung, und wie eilig sie es mit dem Melden haben, wenn sie wissen, daß sie ins Feuer geraten können.“ Dann telephoniert er weiter. „Präzisieren Sie die Bewegung Ihrer Einheiten, informieren Sie sich alle zehn Minuten über Lageveränderungen, und verlegen Sie Ihren Gefechtsstand, fahren Sie nach Hlohovec, wenn die Stadt schon genommen ist.“ Ich betrete das Zimmer, in dem die Aufklärer sitzen. Die erste Schwalbe ist eingetroffen – der erste Deutsche. Er steht mitten im Raum, trägt Tarnkleidung über der Uniform: weiße Hosen, weißen Mantel, weiße Jacke, außerdem Galoschen. Seine Angst hat eine Stufe erreicht, wo der Mensch völlig ruhig erscheint. Vor zwei Wochen wurde er aus einer Bäckerei zur kämpfenden Truppe versetzt. Unter den Soldaten seien Gerüchte im Umlauf gewesen, sagt er, russischerseits habe es einen Überläufer gegeben, ihre Offiziere hätten damit gerechnet, daß die Russen angreifen würden, darum seien von seiner Kompanie nur zwei Gruppen in den Stellungen gelassen worden, alle übrigen hätten sich zurückgezogen. Er habe zu einer dieser beiden Gruppen gehört. Während der Artillerievorbereitung sei der Gefangene in einen Keller gekrochen, russische Soldaten hätten ihn dort herausgeholt. Der ehemalige Bäcker selbst ist uninteressant, aber seine Informationen sind wichtig und unerfreulich. Ich ziehe mich von den Aufklärern zurück. Vor Moskalenko steht ein Verbindungsoffizier, der vorn gewesen ist. Die Gegenwart so vieler Vorgesetzter macht ihn nervös. Er ist verlegen und ver-
haspelt sich. „Seien Sie nicht zappelig und regen Sie sich nicht auf“, sagt Moskalenko ruhig zu ihm. „Bringen Sie Westen und Osten nicht durcheinander. Berichten Sie ganz normal.“ Als der Offizier seine Meldung beendet hat, wendet sich Petrow an ihn. „Wie sind Sie hergekommen, Major, mit einem ,Willys’?“ „Jawohl.“ „Also dann steigen Sie in Ihren ,Willys’ und fahren Sie immer geradeaus, die Straße lang, bis Sie die Angriffsspitze der Infanterie erreichen. Kurz gesagt, fahren Sie so weit, wie Sie können. Kümmern Sie sich unterwegs um keinen Stab, sondern holen Sie die Infanterie ein. Stellen Sie fest, wo sie sich jetzt befindet und kehren Sie sofort zurück. Alles hängt davon ab, wie rasch wir Ihre Meldung erhalten.“ Der Major geht hinaus. Telephonisch trifft der Bescheid ein, die Panzer seien in einen Sumpf geraten und müßten zur Straße umkehren. Auf der Straße müßte eine Gasse entmint werden. Dann wird gemeldet, die Deutschen hätten eine Eisenbahnbrücke gesprengt. Es gebe eine große Stauung. Artillerie und Panzer säßen fest. Moskalenko sagt lachend in den Apparat: „Melden Sie doch genauer. Wird der Wald durchquert, oder nähern Sie sich ihm erst? Wir wollten Ihnen nämlich gerade Hilfe schicken und das Feuer von zwei Artillerieregimentern auf den Wald lenken. Sie nähern sich dem Wald also nicht nur, sondern durchqueren ihn schon? Dann ist es gut.“ Ein Pionier meldet, das Material zur Wiederherstellung der gesprengten
Brücke sei bereitgestellt und werde gerade zur Bahnlinie geschafft. Petrow wendet sich an den Pionier. „Wolodin, seien Sie nicht so umständlich wie letztens. Das letztemal war ich mit Ihnen äußerst unzufrieden. Heute werde ich erneut überprüfen, ob Sie für Ordnung auf den Straßen sorgen können.“ Moskalenko erteilt telephonisch den Befehl, eine Abteilung 122-mm-Geschütze solle Frystat beschießen. „Nehmen Sie die Stadtmitte unter Feuer. Orientierungspunkt: Glockenturm oder ein anderer Turm genau im Zentrum. Nehmen Sie hundert – hundertfünfzig Granaten.“ Er legt den Hörer auf und spricht mit Petrow über den Einsatz eines mechanisierten Korps. Dieses Thema berührt er nicht zum erstenmal. Ich merke, wie gern er das Korps einsetzen möchte. Petrow ist jedoch anderer Meinung und sagt: „Hier ist alles mehr oder weniger klar, aber die Lage im Wald müssen wir erst noch klären. Dann können wir das Korps einsetzen.“ Abermals ein Anruf. „Das ist schon alt“, sagt Moskalenko. „Bei Ihnen kann doch nicht alles geblieben sein, wie es war. Ich glaube nicht, daß die Infanterie am Boden klebt. Sie haben einfach keine Verbindung zu ihr…“ „Melden Sie, melden Sie schnellstens, wer sich wo befindet. Wenn man hinter den Ereignissen zurückbleibt, muß man ebenso mit Menschenleben zahlen wie für eine übereilte Freudenbotschaft. Sie müssen exakt wissen, wo Widerstand geleistet wird, damit er rechtzeitig gebrochen werden kann.“ Ein Telephongespräch mit Divisionskommandeur Parchomenko. „Warum haben Sie zwei Regimenter
entfaltet, wenn Ihnen befohlen wurde, nur ein Regiment zu entfalten, während das zweite ohne vorherige Entfaltung durch den Durchbruchsabschnitt stoßen sollte? Warum zweimal an zwei verschiedenen Stellen durchbrechen? Sehen Sie sich an, welche Kräfte Ihnen zur Verfügung stehen und wie unzweckmäßig Sie sie einsetzen!“ In allen Telephongesprächen hat Moskalenko kein einziges Mal geflucht. Er wird fast nie laut, und wenn er schimpft, dann macht er in der Hauptsache Vorwürfe oder ruft zur Ordnung. „Sie sind einfach ein liederlicher Mensch“, entrüstet er sich. „Sie lügen mich einfach an!“ Petrow sitzt fast die ganze Zeit schweigend dabei. Ab und zu verbindet er sich mit Gretschkos Armee. Dort scheint das Angriffsbild ähnlich zu sein wie bei uns. In die Vorgänge hier mischt er sich selten ein. Nur hin und wieder macht er einen kurzen Einwurf und unterbricht die Telephongespräche, die der Armeebefehlshaber mit seinen Unterstellten führt. Petrow praktiziert einen Arbeitsstil, der den Kommandeuren möglichst viel eigene Initiative läßt. Korrekturen bringt er taktvoll an. Auf keinen Fall möchte er Moskalenko in seiner Handlungsfreiheit behindern. „Wir müssen das mechanisierte Korps einsetzen, sonst kommen wir zu spät“, sagt Moskalenko. Diesmal schweigt Petrow, als hätte er die Bemerkung überhört. Offenbar billigt er den Vorschlag nicht. Moskalenko berührt das Thema nicht noch einmal. Alpert, der zur Angriffsgruppierung gefahren war, um Panzer aufzunehmen, schildert eine psycholo-
gisch interessante Szene. Ein Schützenbataillon lief im Gänsemarsch einen schmalen verschneiten Pfad entlang. Es bezog vor dem Angriff seine Ausgangsstellungen. Ein Soldat blieb in einer Wegeinbuchtung zurück und machte sich an seinem Kleidersack zu schaffen. Er war ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren. Lange hantierte er dort an seinem Kleidersack und sah sich dabei immer zu den Vorübergehenden um. Auf einen Stock gestützt, schritt der Bataillonskommandeur vorbei, ohne ihn zu bemerken oder ohne ihn zu beachten. Dann kamen noch zehn, zwanzig, hundert Leute, und er stand an seiner Stelle und konnte sich nicht entscheiden. Sollte er zurückbleiben oder weiterziehen? Schließlich, nachdem er auch den letzten durchgelassen und der sich schon fünfzig Schritte von ihm entfernt hatte, warf er entschlossen den Kleidersack auf die Schultern und eilte im Laufschritt den anderen nach. Inzwischen ist die Nachricht eingetroffen, die Angreifer seien auf unbestimmte deutsche Abwehr gestoßen und in Dekkung gegangen. Bisher hatte wenigstens ich den Eindruck gehabt, daß alles mehr oder weniger planmäßig ablief. Jetzt ist ein Augenblick eingetreten, in dem unter dem Druck der Umstände die ersten Planänderungen vorgenommen werden müssen. Moskalenko spricht wieder mit Divisionskommandeur Parchomenko. „Warum greifen Sie frontal an? Sie sollten doch Matussewitsch folgen und dann scharf nach Süden abschwenken. Für Sie arbeiten jetzt seit zehn Minuten pausenlos dreihundert Rohre! Sagen Sie, von wo haben Sie das letztemal mit mir gesprochen? Aha. Und jetzt? So. Gut! Warum regen
Sie sich dann auf? Ach so, Sie sehen nichts. Dann sieht der Gegner auch nichts. Das Schneegestöber ist hüben wie drüben das gleiche.“ Später spricht er noch einmal mit Parchomenko. „Warum greifen Sie denn frontal an? Wir haben auf diesem Abschnitt doch keinen Durchbruch erzielt. Wir haben Sie mit einem starken Feuerüberfall unterstützt. Es wäre ja möglich gewesen, daß wir sie ausgeschaltet hätten. Wenn wir sie nicht zum Schweigen gebracht haben, muß man doch manövrieren, diesen Abschnitt umgehen. Sie können nichts sehen? Was sehen Sie nicht? Die Infanterie sehen Sie nicht? Die ist überhaupt selten sichtbar.“ Unmittelbar hierauf folgt ein zorniges Gespräch mit dem Stabschef eines Korps. „Wer ist zurückgeblieben? Wo? Sie, Stabschef, sind zurückgeblieben und tun nicht das, was man von Ihnen verlangt. Es will Ihnen nicht in den Kopf, daß Leute wegen solcher Narren wie Sie und ich sterben können, wenn wir so weitermachen. Sie sind gekommen, um für die Heimat zu kämpfen, und sie sterben solcher Narren wegen. Potapow, Sie überschätzen immer die Kräfte des Gegners. Die Panzerfahrer des vordersten Bataillons melden, daß die Infanterie an ihnen vorbeizieht. Und Sie wollen mir weismachen, dort wäre noch keine Infanterie?“ Ein neuer Verbindungsoffizier tritt ein. Er meldet gedämpft, beherrscht, genau. Moskalenko hört ihn an, greift erneut zum Hörer. „Dann sagen Sie doch, daß Sie es nicht wissen. Erbitten Sie eine Frist, um alles festzustellen, und flunkern Sie nicht! Niemand reißt Ihnen den Kopf ab,
wenn- Sie es nicht wissen. Denken Sie daran, daß uns eine Lüge stets teuer zu stehen kommt.“ Petrow bringt einen Einwurf an. „Offenbar geht die Infanterie unentwegt weiter vor, nur die Stäbe haben wie üblich keinen Überblick und führen uns an der Nase herum.“ Von einer Stelle kommt die Meldung, die Wege seien so stark verschneit, daß Räderfahrzeuge nicht vorwärts kämen. Wieder schickt Petrow einen Verbindungsoffizier aus. Er soll sich weder um Kommandeure noch um Stäbe kümmern, sondern so weit wie möglich nach vorn fahren und sich ein reales Bild von der Lage machen. Offenbar hält er sehr viel davon, daß sich die Offiziere an Ort und Stelle begeben und sich mit eigenen Augen überzeugen. Moskalenko setzt seinen Unterstellten weiterhin gehörig zu und verlangt in jedem Telephongespräch eine wahrheitsgemäße Berichterstattung. Wieder geht es um die Infanterie. „Man kann nicht über Leichen vorgehen. Der Vormarsch ist eine Sache des Verstandes und des Feuers. Lassen Sie ein Bataillon Feuerschutz geben, und mit den übrigen Kräften organisieren Sie eine Umgehung.“ Diese wenigen Gespräche, die Moskalenko nacheinander mit einem Divisionskommandeur führt, scheinen mir für die gegenwärtige Etappe des Krieges charakteristisch zu sein. Als ich 1942 bei Stalingrad war und mich zur Zeit der Septemberoffensive bei Moskalenko und in den Gefechtsständen anderer Kommandeure aufhielt, gab es keine Gespräche mit soviel Nachdruck auf Feuerschläge und
Technik. Heute glaubt man, die Infanterie könne sich erst dann richtig und erfolgreich durch einen befestigten Geländestreifen bewegen, wenn das Feuer der Artillerie den Gegner entscheidend zermürbt hat. Damals war meistens nichts vorhanden, womit man ihn hätte niederhalten können. Die Infanterie gab einige Schüsse ab und griff ohne Rücksicht auf Hindernisse an. Jetzt ist die Sorge um die Infanterie charakteristisch für derlei Gespräche. Alles dreht sich darum, das gegnerische Feuerpotential mit allen Mitteln zu schwächen. Während der Telephongespräche an diesem Morgen hat es Moskalenko mehrmals wiederholt: Niemand könne von der Infanterie verlangen, daß sie angreift, wenn nicht vorher alle Möglichkeiten zum Aufweichen des Gegners restlos ausgeschöpft wurden. Ein neuer Verbindungsoffizier. Sein Mantel ist völlig durchnäßt. Offenbar geht der Schnee allmählich in Regen über. Moskalenko kehrt immer wieder zum selben Thema zurück, schärft seinen Gesprächspartnern ein, nicht links oder rechts vom Durchbruchsabschnitt anzugreifen, sondern die Einbruchsstelle als Tor zu benutzen und erst nach dem Vorstoß auszuschwärmen, um sein Verteidigungssystem aufzurollen. „Links können Sie keinen Erfolg erwarten“, sagt er in den Apparat, „weil Sie dort keinen Einbruch erzielen werden. Sie müssen ihn umgehen, um in seinen Rücken zu gelangen…“
Immer weiter entfernt sich der Gefechtslärm. Nur selten detonieren deutsche Granaten. Telephonisch wird gemeldet, in Mali-Hlohovec seien vier unserer Panzer auf Minen gefahren. Die lästigen Niederschläge, ein Mischmasch von Schnee und Regen, werden immer stärker. Petrow, der bisher die Ruhe in Person zu sein schien, macht zum erstenmal seinem Unwillen Luft. „Solche Schurken, die Wetterpropheten!“ Ein Anruf von Gretschko. Gretschko meldet Petrow, seine Truppen hätten die Wisla erreicht. Moskalenko erfährt, am linken Flügel behinderten die Deutschen das Vorwärtskommen. „Wo haben sie sich festgesetzt?“ „Entlang der Landstraße.“ „Dann muß die Artillerie sie an der Straße dort ausheben, in drei Teufels Namen, damit sie uns nicht noch mehr Unannehmlichkeiten bereiten!“ Petrow will zum Korps fahren und befiehlt, dort anzurufen. „An den Straßenkreuzungen sollen Einweisungsposten aufgestellt werden.“ Eine halbe Stunde später, nach einem hastig genossenen Imbiß, verlassen wir Moskalenko. Im ersten „Willys“ sitzt Petrow, im zweiten Mechlis. Petrow nimmt mich in seinem Fahrzeug mit. Es ist ein offener Wagen, der nicht einmal ein zurückklappbares Dach hat. Ich nehme hinten Platz, zwischen einem MPi-Schützen und dem beleibten vierzigjährigen Leutnant Kutscherenko, dem ständigen Begleiter Petrows. Nach einigen Kilometern gibt es die erste Stockung. Kutscherenko und der MPi-Schütze springen ab und
versuchen die Stauung zu beseitigen. Verursacht wurde sie, als die in Doppelreihe fahrenden Wagen des mechanisierten Korps stoppten. Den ganzen übrigen Raum versperrt ein Pionierbataillon, das sich mit seinen Pontonwagen seitlich vorbeizuschieben trachtet. Petrow ist wütend und befiehlt, den Kommandeur des Bataillons zu ihm zu schicken. Vor ihm trifft jedoch der Chef der Pioniertruppen der Armee ein und erklärt, der Chef des Pionierdienstes der Front habe veranlaßt, die Fahrzeuge vorzuziehen. Petrow befiehlt, ihm im Namen des Oberbefehlshabers der Front eine Rüge zu erteilen, aber als der Kommandeur des Pionierbataillons auftaucht und sich damit zu rechtfertigen sucht, der und der habe ihm das und das befohlen, hält sich Petrow zurück. Sein Zorn entlädt sich nicht auf den Major; er befiehlt ihm nur schneidend, die Wagen in drei Teufels Namen unverzüglich von der Straße zu nehmen und ins nächste Dorf zu fahren. Petrow ist trotz aller Empörung bemüht, sachlich zu bleiben und nicht einen Menschen anzuschreien, der im gegebenen Fall unschuldig ist. Ein positives Gegenbeispiel zu jenen hohen Offizieren, die gern herumbrüllen und den ersten besten, der ihnen unter die Finger gerät, bedenkenlos abkanzeln. Der Schnee kommt von vorn, er peitscht die Augen, schwere, nasse Flocken, fast Regentropfen. Die Straßen verwandeln sich in schlammige Bäche. Wir geraten an eine weitere Stauung, versuchen vorbeizukommen und bleiben schließlich doch stecken. In vier Reihen stehen hier Panzer, Wagen, Fuhrwerke
nebeneinander. Es gibt keinen Gegenverkehr, alles bewegt sich in einer Richtung, nach Westen, dennoch ist die Strecke restlos blockiert. Petrow steigt aus, nimmt einen derben Stock mit gebogenem Griff und geht, darauf gestützt, die Chaussee entlang. Die Straße ist so verstopft, daß man den Eindruck hat, dieses Verkehrsknäuel lasse sich nicht wieder entwirren. Alle haben nasse Gesichter, die Mäntel triefen, die Kleidung ist bis auf die Haut durchtränkt. Ein Soldat aber steht inmitten des Durcheinanders auf der Straße, den Rücken gegen einen Lastwagen gelehnt, und schläft. Seine Müdigkeit hat einen Grad erreicht, wo ihn nichts mehr stört. Fahrzeuge hupen und lärmen, Vorübergehende rempeln ihn mit den Schultern an – er aber schläft im Stehen! Etwa einen Kilometer legen wir zu Fuß zurück, auf der Suche nach dem Korpskommandeur. Unter dem Donner der deutschen Geschütze nähern wir uns der Bahnlinie. Die Einschläge liegen zwei bis zweieinhalb Kilometer vor uns, so daß die Unseren hier seit dem Morgen offenbar nur wenig vorangekommen sind. Die deutschen Stellungen verliefen entlang dem Bahndamm. An diesem Abschnitt führt die zweigleisige Eisenbahnlinie durch eine große Schlucht, die an einigen Stellen zwölf oder sogar fünfzehn Meter tief ist. Hier war die Brücke, die von den Deutschen gesprengt wurde. Rechts der Straße steht ein Panzer, der auf eine deutsche Mine gefahren ist, daneben ein Leutnant in schwarzer Kombination, mit müden Augen. Petrow
tritt heran. „Genosse Befehlshaber“, sagt der Leutnant, „das ist mein Panzer.“ „Ja und?“ „Ich bin Kommandeur einer Aufklärungsgruppe, und nun bin ich hier liegengeblieben.“ „Und über wen beschweren Sie sich?“ „Über die Pioniere beschwere ich mich.“ „Warum?“ „Weil sie nicht ordentlich entmint haben. Der Panzer ist hin. Sie haben nur an einigen Stellen ein bißchen gekratzt, aber hier hat eine Mine gelegen. Nun ist der Panzer geknackt und mein Fahrer tot. Ihm hat es beide Beine weggerissen.“ „Und wozu stehen Sie hier? Da Sie Kommandeur einer Aufklärungsgruppe sind, fahren Sie mit Ihrer Gruppe außen vorbei. Welche anderen Fahrzeuge haben Sie?“ „Ich habe noch Schützenpanzerwagen.“ „Na also, dann bewegen Sie sich. Biegen Sie von der Straße ab. Schützenpanzer müssen hier doch durchkommen.“ Jemand mischt sich ins Gespräch. „Panzer sind hier auch durchgekommen, schon zwölf Panzer sind vorbeigekommen.“ „Fahren Sie, fahren Sie weiter“, wiederholt Petrow. „Genosse Befehlshaber, wir müssen ein Protokoll aufnehmen.“ „Was denn noch – ein Protokoll?“ „Ein Protokoll darüber, daß der Panzer auf eine Mine gerollt ist.“ „Aber nein, fähren Sie los“, sagt Petrow. „Das Protokoll kann warten.“
Neben der Straße verläuft eine Allee, mächtige Bäume. Sie werden jetzt gefällt und zu Holzverstrebungen für die Schlucht verarbeitet. „Bis wann schaffen Sie den Übergang?“ fragt Petrow. „In der Nacht.“ „Wann genau?“ „Bis morgen früh um fünf.“ „Sicher?“ „Sicher.“ Direkt an der Bahnlinie bleiben wir stehen. Ich betrachte die gewaltige Schlucht, die fünfzehn Meter tief und dreißig bis fünfunddreißig Meter breit ist, und denke verwundert: Wie können die Leute ihr Versprechen einlösen, das alles in einer einzigen Nacht schaffen? Zwei Oberste des mechanisierten Armeekorps treten an Petrow heran. „Nun, und wie wollen Sie sich nützlich machen?“ fragt Petrow. „Ihre Panzer stehen still. Setzen Sie Ihre Leute hier ein, damit sie helfen, die Brücke recht bald wiederherzustellen. Wer ist hier von den Pionieren?“ „Der Leiter des Pionierdienstes ist da.“ „Den brauche ich gerade“, sagt Petrow. Ein schnurrbärtiger Oberst tritt vor. „Haben Sie befohlen, daß die Wagen mit den Pontons passieren sollen?“ „Jawohl, das habe ich.“ „Sehr merkwürdig“, sagt Petrow. „Ein alter Soldat und erteilen solche törichten Anweisungen. Sie sollten zuerst nachdenken und dann etwas befehlen. Haben Sie sich das überlegt oder nicht? Die Panzer sind nicht vorbei, die Artillerie ist noch nicht vorbei, aber Sie schicken die Pontons nach vorn und ver-
sperren die Straße. Nun?“ Der Oberst steht mit feuerrotem Gesicht da und schweigt. „Man muß sich bei allem etwas denken“, sagt Petrow. „Bauen Sie die Brücke so schnell wie möglich.“ Nachdem er den Oberst zurechtgewiesen hat, gibt er ihm zum Abschied die Hand. Es stellt sich heraus, daß wir am Stab des Korps vorbeigefahren sind. Er liegt vier Kilometer weiter hinten in einem Dorf. Der Korpskommandeur hat seinen Wagen stehenlassen und ist zu Fuß weitergegangen, durch die Schlucht, zu seinen angreifenden Einheiten. „Na, dort ist er überhaupt nicht mehr zu finden“, sagt Petrow. „Gehen wir zum Korpsstab zurück.“ Er befiehlt, daß uns zwei Rotarmisten mitgegeben werden. Sie sollen uns begleiten. „Dann wäre ja alles klar“, sagt Petrow. „Die Panzer sitzen fest, die Artillerie sitzt ebenfalls fest. Alles wegen dieser Brücke.“ Er ruft jemand zu sich und erteilt ihm den Befehl, nicht zu warten, bis die Brücke hergestellt ist, sondern einen Teil der Artillerie auf die andere Seite zu bringen. Die Panzer kämen nicht durch, sagt er, sie seien zu schwer, aber „Studebaker“ könnten einige Geschütze schleppen. „Ja, dann wäre alles klar“, wiederholt Petrow, indem er auf der Chaussee umkehrt. „Die Panzer bleiben, die Masse der Artillerie bleibt auch, solange die Brücke nicht instandgesetzt ist. Vor morgen früh kommen sie nicht weiter, und das ist eine der Hauptursachen für die Verzögerung des Angriffs. Die Stäbe aber machen uns am Telephon blauen Dunst vor. Sie erzielen Geländegewinne über Geländegewinne.“ Wir erreichen unseren „Willys“, wenden und fahren
durch die Stauung, die noch nicht ganz beseitigt ist. Uns entgegen kommt die Artillerie und versperrt die Straße. An der ersten Kreuzung fragt Petrow: „Wo ist hier der Offizier, der den Verkehr regelt?“ Ein kleiner Oberst läuft herbei und erstattet Meldung. „Warum schicken Sie die Artillerie über diese Straße, wenn die Straße sowieso schon übermäßig verstopft ist?“ fragt Petrow den Oberst. Der Oberst meldet, es handle sich um ein Artillerieregiment, das direkt zu den Feuerstellungen unterwegs sei. „Wenn es so ist, dann wechseln Sie rasch von dieser Straße auf eine andere über, damit sie nicht bis zum Morgen hier stehen und warten. Diese Straße ist von Räderfahrzeugen, Troßfuhrwerken, bespannter Artillerie freizuhalten. Alles, was auf anderen Wegen fahren kann und keine Brücke braucht, hat hier nichts verloren! Leiten Sie den Verkehr unverzüglich auf andere Wege um. Hier haben die da nichts zu suchen.“ Ich erinnere mich, wie es zu Beginn des Krieges war. Wenn irgendeine Angriffshandlung geplant wurde, begaben sich alle Vorgesetzten von oben nach unten zu ihren Einheiten. Als ich heute morgen mit Petrow losfuhr, dachte ich zunächst: Ist das etwa ein Rückfall in frühere, während der ersten Kriegsjahre übliche Praktiken, die häufig genug den Verlust der Truppenführung zur Folge hatten? Doch nach unserem Aufenthalt bei der Eisenbahnschlucht mußte ich zugeben, daß Petrow wahrscheinlich recht hatte. Man kann sich nicht aus-
schließlich auf eine Einschätzung der Stäbe stützen. Sie allein vermag keine genaue und umfassende Vorstellung vom Verlauf einer Operation zu geben. Bei den Meldungen von unten, die einen längeren Instanzenweg durchlaufen, erlangt alles Geschehene einen Anstrich der Gesetzmäßigkeit, der Erklärbarkeit und Glätte. Die eigentlichen Ursachen dieses oder jenes Mißerfolges oder einer Verzögerung werden durch verschiedene, mehr und mehr ins einzelne gehende Begründungen verdeckt. Tatsächlich gab es in diesem Angriffsstreifen nur eine Ursache für die Verzögerung. Die einzige Straße des Operationsgebietes war durch die Sprengung der Brücke unterbrochen worden. Infolgedessen kam es zu Stauungen, gelangten Geschütze und Panzer nicht auf die andere Seite, blieb die vorgehende Infanterie nach dem ersten oder zweiten Kilometer ohne Unterstützung durch die direkte Begleitartillerie, während das Feuer aus den gedeckten Stellungen infolge der extrem schlechten Sichtverhältnisse nicht die erforderliche Wirkung erzielte und ein weiteres Vorrücken der Truppen nicht ermöglichte. So hatte das Angriffstempo immer mehr nachgelassen, und die Bewegung war schließlich zum Erliegen gekommen. Die letzte Ursache aber war – ich wiederhole es – ganz real gegeben. Die alte Brücke existierte nicht mehr, und es war versäumt worden, rechtzeitig die Vorkehrungen für den Bau einer neuen zu treffen. Offensichtlich waren die Ausmaße des Hindernisses unterschätzt worden, und verbessern konnte man die Lage jetzt nur, wenn das Versäumnis so schnell wie möglich wettgemacht wurde. Unter diesen Umstän-
den war es wichtig, daß der Oberbefehlshaber der Front das alles mit eigenen Augen sah, nicht nur, damit er die Tatsachen, die Wirklichkeit aus eigener Anschauung kannte, sondern auch darum, weil er sich an der Eisenbahnlinie eine genaue und klare Vorstellung von den Ereignissen machen konnte. Das ist ebenfalls wichtig, denn je deutlicher Koordinierungsschwächen zutage treten und je größer Mißerfolge sind, desto verschwommener werden die Berichte darüber, während die eigene Anschauung zu hieb- und stichfesten Wertungen und Schlußfolgerungen führt. Vom militärischen Gesichtspunkt aus mag meine Überlegung naiv sein – ich halte sie jedoch im wesentlichen für richtig. Eine Verbindung gut geplanter Stabsarbeit, gut funktionierender Information und gelegentlichen – auch unangekündigten – Fahrten an die Front und persönlicher Überprüfung der Vorgänge an Ort und Stelle ist selbst für die Funktionäre der höchsten Dienststellungen unerläßlich. Sie müssen die Gefechtsatmosphäre kennen, um die Lage beurteilen und richtige Entschlüsse fassen zu können. An der Front heißt es: Ich sehe den Erfolg, der Erfolg wird mir gemeldet, aber man sagt auch: Ich spüre, ich habe den Erfolg gespürt. Er hat sich nicht abgezeichnet, sondern ich habe ihn gespürt. Zu guter Letzt erreichen wir den Korpsstab. Der Stabschef, ein Oberst, meldet Petrow die Lage. Petrow läßt sich mit Moskalenko verbinden, spricht von der Stauung, von dem Bild, das sich ihm an der Eisenbahnlinie geboten hat, und fügt hinzu: „Um die Infanterie wirklich zu unterstützen, kommen wir nicht daran vorbei, einen
Teil der Artillerie sofort von der Straße abzuziehen und auf die früheren, einstweilen noch diesseits der Eisenbahnlinie liegenden Feuerstellungen zurückzuführen. Nachdem Petrow mit Moskalenko gesprochen hat, ruft er das Nachbarkorps an, zu dem er jetzt fahren will, und befiehlt, einen Einweiser zu schicken. Wir erreichen eine kleine, stark zerstörte Ortschaft und treffen dort den Einweiser, einen Major. Er setzte sich als vierter Mann hinten in den „Willys“, und wir fahren weiter. Diesmal führt der Weg über die noch vor kurzem vorderste Linie hinaus. In diesen letzten sechs bis sieben Stunden sind die Trichter zugeschneit und die Leichen und alle Bodenunebenheiten unter einer dicken Decke verschwunden. Verwundete kommen uns entgegen, durchnäßte, gequälte Gestalten, die den Mantel lose übergeworfen haben und kaum noch wie Soldaten aussehen. Übrigens neigen Verwundete meiner Meinung nach zur Einseitigkeit. Der eine prahlt: Wir haben das und das genommen, den Deutschen Zunder gegeben. Der andere zeichnet alles in düstersten Farben, obwohl sie beide dasselbe Gefecht beschreiben. Die Darstellung hängt natürlich vom Verletzungsgrad des Betreffenden ab, mehr jedoch noch von seinem Temperament, das sich in schwierigen Lebenslagen ganz besonders zeigt. Unterwegs erfahren wir, daß sich der Major hier nur bis zu einer bestimmten Stelle auskennt. Bei irgendwelchen Häusern soll ein zweiter Einweisungsposten stehen und uns zum Korpskommandeur
geleiten. Wir sehen zwar Häuser, aber niemanden, der dort wartet. Der Major steigt aus, um sich zu erkundigen. Das bedeutet einen zehnminütigen Aufenthalt. Unentwegt rauscht es herab, halb Regen, halb Schnee. Ein Pferdefuhrwerk ist mit Verwundeten beladen. Vorn hockt finster der Kutscher. Er und die Verwundeten sind so stark durchnäßt, daß ihre Zeltbahnen nicht mehr grün, sondern schwarz aussehen und die Leute mir wie Kumpel aus einem Kohlenschacht vorkommen. An unserem Wagen kommt ein Soldat vorbei, fröstelnd, gebeugt, zusammengekrümmt. Auf der Schulter trägt er ein leichtes Maschinengewehr, in der Hand eine Trommel, Als er den General erblickt, strafft er sich, nimmt die Augen rechts und marschiert im Exerzierschritt vorüber. Petrow ruft ihn an. „Jahrgang?“ „Sechsundzwanzig.“ „Noch so jung, aber deine Sache verstehst du“, sagt Petrow. „Tüchtig!“ „Gestatten Sie zu gehen?“ „Geh nur.“ Dann kommt unser Major, und wir fahren weiter, biegen ab, noch einmal. Wieder halten wir vor einigen Häusern. Wieder steigt der Major aus, um sich zu erkundigen. Er ist gerade verschwunden, als ein junger Oberleutnant in schicker Uniform auf uns zuläuft. Er hat eine Kartentasche mit kreuzweise geschnürtem rotem Gummiband umgehängt, das Zeichen eines Verbindungsoffiziers. Der General schicke ihn uns entgegen, sagt er, an Petrow gewandt.
„Und wo ist der General?“ fragt Petrow, ohne ihn ausreden zu lassen. „Nicht weit von hier, zwei Kilometer“, antwortet der Oberleutnant. „Kann man bis dorthin fahren?“ „Fahren ist unmöglich, Genosse Oberkommandierender, dort haben wir Verluste. Das Gelände liegt unter Beschuß.“ „Na und – wenn es unter Beschuß liegt?“ fragt Petrow. „Es gibt zahlreiche Tote“, erklärt der Oberleutnant. „Wenn ich falle, ist es bedeutungslos, aber Sie können nicht hinfahren, Genosse Oberbefehlshaber!“ „Schon gut, das ist nicht Ihre Sache“, sagt Petrow friedfertig und bedeutet dem Fahrer durch eine Handbewegung zu starten. In diesem Augenblick taucht, begleitet von einem zweiten Offizier, unser Major beim Wagen auf, und ein Mißverständnis wird aufgeklärt. General Schmygo, der Korpskommandeur, zu dem wir unterwegs sind, hält sich im nächsten Haus auf, und den Oberleutnant, der uns auf der Straße entgegengegangen ist, schickt General Shukow, Kommandeur eines anderen, eines Gebirgsschützenkorps. Wir betreten das Häuschen. Im Fenster fehlen zwei Scheiben, aber das Öfchen heizt gut. Wir legen ab und wärmen uns die Hände. Schmygo, ein kleiner, aber stämmiger Mann mit hoher Generalspelzmütze und rötlicher, aus einer amerikanischen Decke geschneiderten Jacke – die Fellseite nach außen – kommt mir irgendwie bekannt vor. Ruhig und sachlich schildert er die Lage im Abschnitt seines Korps. Petrow sitzt am Tisch und verfolgt,
über die Karte gebeugt, die Meldung. In den ersten acht Stunden des Angriffs habe das Korps nur mäßige Geländegewinne erzielt, zweieinhalb bis drei Kilometer. In der letzten jedoch zeichnen sich an der linken Flanke wachsende Erfolge ab, bemerkt Schmygo, und er erwäge, einen Teil seiner Reserve in den Kampf zu werfen, um den Vormarsch zu forcieren. „Wo halten sich die Deutschen am hartnäckigsten?“ fragt Petrow. Schmygo zeigt es auf der Karte. „Hier haben sie ein voll ausgebautes Grabensystem. Gräben, Gräben und nochmals Gräben. Und da sind die Feuerstellungen der Artillerie.“ Petrow nimmt einen Bleistift und zeichnet eine Linie, die von dem angegebenen Punkt nach Norden an den Rand jenes Waldes reicht, um den sich auf der Beobachtungsstelle bei Moskalenko sämtliche Gespräche gedreht haben. „Na also“, sagt Petrow überzeugt, „jetzt ist es klar, daß ihre wichtigsten Stellungen hier verlaufen, dann hierher führen und von hier zum Waldrand. Genau!“ Nach einer Pause fragt er Schmygo: „Wieviel Gefangene haben Sie gemacht?“ „Bislang eine Handvoll…“ „Und was meinen Sie – diese Stellungen, die Ihnen zu schaffen machen, sind hier ihre Reserven konzentriert, oder ist das einfach ihre zweite Linie?“ Schmygo schwankt. „Ich denke, Reserven“, sagt er, aber es klingt nicht überzeugt. Es widerstrebt ihm offensichtlich, weiterzusprechen und diese für ihn und für den Oberbefehlshaber der Front unangenehme Feststellung zu treffen, daß wir endgültig nur die erste Linie überwunden haben, die von einem geringen Teil der deutschen Truppen besetzt war,
während die zweite Linie, auf die sie vor Beginn des Angriffs ihre Hauptkräfte zurückziehen konnten, bei der Feuervorbereitung von unserer Artillerie zwar angeschlagen, aber nicht ausgeschaltet wurde. Petrow hört Schmygo zu, dann nimmt er ihm die unangenehme Schlußfolgerung ab und spricht selbst aus, was der Korpskommandeur nicht über die Lippen bekommt. Petrow will mit Shukow, dem Kommandeur des Gebirgsschützenkorps, verbunden werden. Da das Kabel einen Riß hat, müssen wir warten, bis es geflickt ist. Unterdessen versuchen wir auf Umwegen, über andere Leitungen, eine Verbindung herzustellen. „Wenn keine Verbindung zustande kommt, gehen wir zu Fuß hin“, sagt Petrow. Nach der Warnung des Leutnants, man könne unmöglich den Wagen nehmen, es gebe viele Tote, verspüre ich kein besonderes Verlangen, einen Fußmarsch anzutreten. Ich wünsche mir sehr, daß Petrow recht bald mit Shukow verbunden wird. Auch Petrow würde lieber mit dem Kommandeur des Gebirgsschützenkorps telephonisch sprechen, obgleich wahrscheinlich aus anderen Gründen als ich. Er scheut sich nicht vor dem Marsch durch den Schlamm. Ihm geht es um die Zeit, denn nach seinem Plan muß er vor dem Dunkelwerden noch die Panzer erreichen und danach Gretschko. Nach zehn Minuten wird die Verbindung hergestellt, und Petrow erteilt dem Stabschef des Gebirgsschützenkorps telephonisch mehrere Befehle. Wir ziehen die noch immer feuchten Sachen an,
steigen in den „Willys“ und fahren durch Strumen; am Rand des Städtchens soll uns ein Einweisungsposten der Panzer erwarten. Lange kurven wir dort herum, finden aber keinen Posten, und Petrow spuckt schließlich aus. Wir fahren an einer Panzerkolonne vorbei, die auf der Straße steht. Vielleicht treffen wir deren Chef im nächsten Dorf. Aus einer halbzerstörten Hütte kriecht ein Major, der Kommandeur eines motorisierten Schützenbataillons, seinem Namen und seinem Aussehen nach Aserbaidshaner. Petrow möchte sich per Funk so schnell wie möglich an den Stabschef der Brigade wenden. „Sofort“, sagt der Major bereitwillig, „zu Befehl“, und er läuft vor dem Wagen her an der endlosen Kette der Panzer vorbei. Lange fahren wir Schritt. Als er endlich abbiegt, fragt Petrow an der Ecke: „Also, wo ist nun Ihre Funkstelle?“ „Dort.“ Er zeigt nach hinten. „In dem Panzer dort ist meine Funkstelle.“ „Wohin führen Sie uns denn?“ „Ich habe Sie zum Stabschef des Regiments gebracht.“ Vor Aufregung hat er alles durcheinandergebracht. Wir wenden, was sehr mühsam ist, und fahren zurück. Erst als wir schon fast wieder in Strumen sind, unmittelbar vor dem Ort, erblicken wir bei einer halbzerstörten Scheune einige „Willys“. Wie wir hören, befindet sich hier der Brigadekommandeur, der Chef dieser Kolonne. In der Scheune stehen ein Tisch und drei Stühle; darum herum drängen sich zwanzig Leute, wenn nicht mehr. Der Chef der Kolonne – seiner Dienststellung nach müßte er Oberst sein – ist noch sehr
jung. Er hat die Kappe aufgesetzt und trägt eine Pelzjacke ohne Dienstgradabzeichen. Er habe am Ortsrand auf uns gewartet, erklärt er, bei der Kirche, doch wir seien vorbeigefahren. „Ich habe gewinkt“, sagt er, „aber Sie haben es nicht bemerkt.“ „Kein Wunder, daß wir es nicht bemerkt haben“, entgegnet Mechlis und deutet auf seine Pelzjacke ohne Schulterklappen. „Die habe ich erst vor einer Stunde angezogen, mein Mantel ist pitschnaß.“ Petrow befiehlt dem Obersten, er solle dem Chef des Korpsstabs mitteilen, der Oberbefehlshaber der Front habe angeordnet, alle Panzer der linken Kolonne seien von der Straße zu nehmen und für die Nacht in der Nähe – im Dreieck dreier Dörfer – abzustellen. „Lassen Sie die Leute ausspannen und in den Häusern ihre Sachen trocknen.“ Zur Begründung seines Befehls führt Petrow an, das Korps werde heute höchstwahrscheinlich nicht mehr eingesetzt. Warum sollten sich die Leute für nichts und wieder nichts nasse Füße holen. Als der Oberst das erfährt, bittet er um die Erlaubnis, daß die Feldküchen nachrücken dürfen, damit warmes Essen ausgegeben werden könne. Gestern sei verboten worden, etwas Entbehrliches – darunter auch die Küchen – mitzunehmen. „Selbstverständlich war es verboten“, sagt Petrow, „aber da jetzt die Möglichkeit besteht, Warmverpflegung zu verabreichen, muß es geschehen.“ Von den Panzersoldaten fahren wir zu Gretschko. An einer Kurve gibt es abermals eine Stauung, das bedeutet erneuten Aufenthalt. Einige Minuten lang
stehen wir direkt hinter einem Lkw, auf dem die Soldaten das Essen löffeln, das sie mit ihren Kochgeschirren gefaßt haben. „Immer wieder Kascha und Kascha?“ fragt Pettow lächelnd. „Jawohl, immer wieder Kascha und Kascha“, antwortet einer der Soldaten. Als wir zwei oder drei Kilometer hinter Strumien auf eine Dorfstraße abbiegen, holpern wir über große Erdhaufen. Wir rumpeln über einen schlechterdings unpassierbaren Graben und fahren uns schließlich fest. Ein zweiter „Willys“ holpert herbei, um uns an einem Tau herauszuschleppen. Ich unterstütze die allgemeinen Anstrengungen der MPi-Schützen und Adjutanten und schiebe mit, um den „Willys“ flottzumachen. Der Wagen springt aus einer Grube, und ich bin – wie üblich der Schwarze Peter – von oben bis unten mit Schlamm bespritzt. Um mich wenigstens notdürftig zu säubern, gehe ich ein paar Schritte zur Seite, lege mich in den Schnee und rutsche ein Stück auf dem Bauch, ein Stück auf dem Rücken. Dabei hinterlasse ich eine so kräftige Schmutzspur, daß der dicke Kutscherenko, der mir diese Methode empfohlen hat, vor Vergnügen Tränen lacht. Wir befreien uns endgültig aus den Wagenspuren und gelangen auf einen halbwegs glatten Rain. Wir fahren am Bahndamm entlang. Dort stehen Panzerabwehrkanonen, die so in die Erde eingegraben sind, daß ihre Mündungen fast auf einer Höhe mit dem Wall liegen. Niemand ist zu sehen. Neben einem der Geschütze sieht ein Stück Zeltbahn aus dem Schnee. Offenbar sitzen die Soldaten unter Zeltbahnen in Schützenlö-
chern und wärmen sich. Dann sehen wir unmittelbar neben dem Weg zwei blutbeschmierte tote Deutsche. Endlich erreichen wir eine zerstörte Siedlung mit einer zerschossenen Kirche und den Überresten eines Bahnwärterhäuschens. Dort stehen an einer genau vereinbarten Stelle Panzerspähwagen und ein „Willys“, Gretschkos Einweiser. „Du bist wohl schon erfroren, wie?“ fragt Petrow den Major, der uns hier erwartet hat, und nennt ihn beim Familiennamen. Ich kann mich immer wieder aufs neue von dem guten Namensgedächtnis des Oberbefehlshabers überzeugen. „Überhaupt nicht“, sagt der Major, „wir frieren kein bißchen.“ Wir fahren hinter dem „Willys“ her, die Straße an der Bahnlinie entlang. Auf den Gleisen steht ein blauer Schlafwagen mit zertrümmerten Scheiben. Er nimmt sich einsam und deplaciert aus inmitten der kriegerischen Szene. Linkerhand ist Wald, rechts tarnt eine Blende von frisch gefällten und in die Erde gesteckten Fichten die Straße. Wir fahren in den Wald, biegen zweimal rechts ein, wobei ich das Gefühl habe, wir wären ins dickste Waldesdickicht eingedrungen. Endlich halten wir. Vor uns stehen einige Wagen, dahinter zwei Maschinengewehre. Neben einem lodert ein Lagerfeuer. Dort wärmen sich Soldaten, es riecht angenehm würzig nach harzigem Rauch. Wir stellen unsere Wagen bei den anderen ab, gehen noch etwa hundert Schritte zu Fuß, und dabei überlege ich, warum Gretschko seine Beobachtungsstelle in diesem abgeschiedenen Winkel eingerichtet hat.
Nach weiteren zwanzig Metern erblicke ich zwischen den Baumstämmen einige eilig errichtete Holzhäuschen mit flachen Dächern, wie ich sie ähnlich im Raum Murmansk gesehen habe. Hinter den Häuschen schimmert eine lichte Stelle. Demnach hat alles seine Richtigkeit. Wir befinden uns nicht im Innern des Waldes, sondern an seinem Saum, nahe den gegnerischen Stellungen. Bei unserer mehrmaligen Richtungsänderung habe ich also nur die Orientierung verloren. Etwa fünfzig Schritte von den Häuschen entfernt bemerke ich einen hohen, erst kürzlich errichteten Beobachtungsturm. Gretschko kommt Petrow und Mechlis entgegen. Er ist groß, schlank, jung oder hat sich zumindest Jugendlichkeit bewahrt. Er spricht ruhig und begleitet seine Worte mit gemessenen Bewegungen. Bei Moskalenko nahmen wir kurz vor der Abfahrt noch einen schnellen Imbiß. Dabei bot Mechlis dem Oberbefehlshaber Äpfel an, die sein Adjutant in einem Köfferchen mitführte. Daran denkt Petrow während unserer Fahrt zu Gretschko. Er dreht sich vom vorderen Sitz zu Kutscherenko um und sagt: „Wenn uns Lew Sacharowitsch mit Wodka statt mit Äpfeln versorgt hätte! Bei dieser Nässe war ein Gläschen recht…“ Kutscherenko grunzt mitfühlend. Jetzt, als wir das Häuschen betreten und die zum Auswringen nasse Oberbekleidung abgelegt haben, sagt Petrow: „Was mich interessiert – ob wir beim Genossen Gretschko bewirtet werden?“ „In fünfzehn Minuten – was das Herz begehrt“, entgegnet Gretschko und telephoniert: „Bringen Sie uns
was zu essen.“ Diesen Worten entnehme ich, daß er genauere Anweisungen bereits vorher erteilt hat. Gretschko macht den Oberbefehlshaber mit der Lage bekannt. Gretschko hat heute zwar geringere Kräfte eingesetzt, die Angriffsoperationen im Raum seiner Armee sind jedoch erfolgreicher verlaufen als bei Moskalenko. Seine Truppen haben die Wisla erreicht und anscheinend schon überquert. Gestern abend hat Gretschko eine gewaltsame Aufklärung durchgeführt. Im Verlaufe des Gefechts wurde eine deutsche Kompanie aufgerieben, ein Offizier gefangengenommen, und die Deutschen warfen danach stärkere Kräfte in die erste Linie ihres Verteidigungssystems, als sie dort vorher zusammengezogen hatten. Folglich gestaltete sich die Feuervorbereitung der Artillerie effektiver, und die Angreifer begegneten geringerem Widerstand. Bei seiner Darstellung betont Gretschko besonders, daß er mit schwächeren Kräften angegriffen und bislang an keiner Stelle Reserven eingesetzt habe. Petrow erkundigt sich nach den Verlusten. „In einer Division dreihundert Tote und Verwundete, in der anderen vierhundertfünfzig“, sagt Gretschko. „Ja, wir hätten auch an der rechten Flanke eine gewaltsame Aufklärung durchführen sollen“, meint Petrow. „Das war unser Fehler. Unser Fehler!“ wiederholt er. Es gefällt mir, daß er als Oberbefehlshaber der Front im Gespräch mit einem Unterstellten nicht aus Prestigegründen die Tatsachen verdreht. Er macht keinen Hehl daraus, daß nicht alles so nach Wunsch abgelaufen ist und daß die Ergebnisse dieses Tages
unbefriedigend waren. Zweimal erwähnt Gretschko unaufdringlich, daß er noch einige Divisionen in Reserve hat, und bei einer Bemerkung, die Petrow macht, gewinne ich den Eindruck, er unterstreiche diese Tatsache ganz bewußt. Vielleicht irre ich mich, aber er möchte wohl andeuten, daß ein weiterer Ausbau des Erfolgs im Angriffsstreifen seiner Armee zu erwägen sei. Und mir wird deutlich, wie wenig sich die beiden Armeeführer gleichen, zwei grundverschiedene Charaktere. Moskalenko ist energisch, leidenschaftlich, entflammbar – Gretschko ruhig, besonnen, haushälterisch, sparsam; er scheint mir zu knausern und zu geizen, natürlich nicht im negativen, sondern im rein militärischen Sinne. Später, beim Abschied am Abend, kommt Petrow von sich aus auf diese Unterschiede zu sprechen. „Gretschko denkt wirtschaftlich, er vergeudet ungern, handelt vorsichtig, schont die Leute. Moskalenko ist immer Feuer und Flamme, ihn drängt es stets vorwärts, aber ich mag seine Direktheit, er ist sehr geradlinig.“ Zunächst sitzen wir jedoch bei Gretschko. Als Issajew eintritt, Mitglied des Kriegsrats der Armee, macht uns Mechlis bekannt. Erst nach einer Weile erinnern wir uns, daß wir uns schon zweimal begegnet sind, zunächst in der Politabteilung der 14. Armee in Murmansk und danach in der 60. Armee bei Tarnopol. Genau nach fünfzehn Minuten kommt ein ganzes Menü auf den Tisch, mit Vorspeise und als Hauptgericht wilde Ziege, die in diesem Wald erlegt wurde. Mechlis ergreift die Flasche Wodka, klopft den Sie-
gellack an der Wand ab und treibt durch einen Schlag mit der flachen Hand unter den Boden den Korken heraus. Solche Geschicklichkeit hätte ich Mechlis gar nicht zugetraut. „Nach Ihrer Methode“, sagt er zu Petrow. „Unter Anwendung einer Neuerung“, entgegnet Petrow. „Den Siegellack an der Wand – das ist Ihre eigene Erfindung.“ Als das Essen aufgetragen ist, sagt Mechlis, für eine Improvisation sei es hervorragend. „Gretschko kennt keine Improvisationen“, sagt Petrow lachend. Das Tischgespräch dreht sich um alle möglichen Belanglosigkeiten. Einer der Kommandeure hat ein Eichhörnchen mit verbundener Pfote in die Hütte gebracht. Sie plaudern über dieses Eichhörnchen, dann über einen Fasan, den der Armeebefehlshaber geschossen hat, und von einem Rudel Ziegen, das sich nahe an die Hütte herangewagt hatte. Petrow sitzt in einer Ecke, und obgleich er an der allgemeinen Unterhaltung teilnimmt, wirkt er die ganze Zeit geistesabwesend. Wahrscheinlich hängt er tatsächlich seinen eigenen Gedanken nach, jedenfalls läßt er sich gleich nach dem Essen mit dem Chef des Stabes der Front verbinden und macht seine frühere Entscheidung rückgängig. Die Panzer sollen nicht auseinandergezogen werden, sondern an ihrem Standort stehen bleiben. „Wenn sich bei Ihnen ein deutlicherer Erfolg abzeichnet“, sagt er zu Gretschko, „werden wir sie vielleicht hier einsetzen.“ Wir verlassen die Hütte. Noch immer regnet und schneit es durcheinander, aber der Wind weht stärker als zuvor.
Gretschko will den Oberbefehlshaber zum Wagen begleiten. Petrow wehrt ab. „Nein, nein, Andrej Antonowitsch, das schaffen wir allein. Sie haben alle Hände voll zu tun. Bitte bleiben Sie. Ich wünsche Ihnen alles Gute.“ Wir steigen ein, fahren aus dem Wald heraus und gelangen auf eine merkwürdige Straße. Sie hat eine gute, glatte Fahrbahn und zu beiden Seiten eine kaum wahrnehmbare Kante. Neben der Straße – in gleicher Höhe – verläuft ein Schienenstrang. „Wissen Sie auch, was das für eine Straße ist?“ fragt Petrow. „Nein.“ „Wir fahren auf dem Bahndamm. Dieser Streckenabschnitt war früher dreispurig. Zwei Gleispaare haben wir uns genommen, die mittleren Schienen entfernt, die äußeren liegenlassen, die Fläche dazwischen mit Schotter aufgeschüttet. So haben wir eine ausgezeichnete Straße erhalten! Eine andere Möglichkeit gab es nicht. Ich glaube, Gretschko hat einen brauchbaren Ausweg gefunden.“ Während mir Petrow die Geschichte dieser Straße erzählt, passieren wir ein stehengebliebenes Signal. Für einige Minuten fahren wir zu Petrow und trinken dort Tee. Dann klettere ich zum letztenmal an diesem Tag in einen „Willys“, und die Fahrt geht nach Pszczyna, wo ich bei der Politabteilung der 38. Armee übernachten soll. Barhäuptig steige ich ein, aber will die Mütze mit den Ohrenklappen aufsetzen. Doch sie ist naß wie ein Frosch, es läßt sich sogar Wasser herausdrücken. So fahre ich lieber ohne Kopfbedeckung.
Erst Jahre nach dem Krieg, beim Sammeln von Material für das Buch „Der letzte Sommer“, in dem unter anderem die Vorbereitungen einer Armee zur Offensive beschrieben werden, wurden mir die Ausmaße solcher Vorbereitungen bewußt. Die Arbeit, die dem Beginn einer großangelegten Operation vorausgeht, ist gewaltig. Ich war als Frontkorrespondent während des ganzen Krieges nie beauftragt, die Vorbereitung einer Offensive zu beschreiben; unter den damaligen Bedingungen wäre das auch nicht möglich gewesen. Ich hatte nur rechtzeitig, also bei Beginn der Angriffshandlungen, in der Armee zu sein und einen Bericht darüber abzuliefern. Kurzum, mir war es nie vergönnt (und die Fahrt zur 4. Ukrainischen Front bildet in dieser Hinsicht keine Ausnahme), aus eigener Anschauung jene anstrengenden Tage und Wochen zu erleben, die der Offensive vorausgehen, wenn sämtliche Organe der Front und der Armeen – Kriegsräte, Politabteilungen, Stäbe, rückwärtige Dienste – alles in ihren Kräften Stehende tun, um die objektiven Voraussetzungen für ein erfolgreiches Anlaufen der Offensive zu schaffen. Übrigens beinhalteten die so trocken klingenden Worte „objektive Voraussetzungen“ damals ungemein viel, nicht nur die Konzentration II von Kampftechnik, Munition, Lebensmitteln, Treibstoff, Transportmitteln – sie bedeuteten nicht nur, daß die künftige Operation auf den Stabskarten vorgenommen wurde, bedeuteten nicht nur Übungs-I schießen, probeweises Übersetzen, die Gewährung der Infanterie, zum Sturm hinter der Feuerwalze herzulaufen, sondern sie schlossen auch das ein, was in unseren offiziellen Dokumenten
als politisch-erzieherische Arbeit bezeichnet wird: die moralische Vorbereitung der Menschen, die ins Feuer gehen sollten. In den letzten Monaten des Krieges, als sein Ausgang jedem Soldaten klar war, wollten alle, die den Sieg leidenschaftlich herbeisehnten, ihn auch selbst erleben, unbedingt das Feuer der letzten Schlachten überstehen. Wie gern wollten sie jetzt leben! Das ist leicht begreiflich, und wir brauchen es nicht zu verschweigen, aber unter diesen Umständen war es besonders schwierig und zugleich besonders nötig, die Menschen moralisch auf die bevorstehende Offensive vorzubereiten, sie einmal mehr – wie so oft nun schon im Krieg – bereit zu machen, die zur Sicherung des Erfolges unvermeidlichen Opfer zu bringen. Vieles, was ich hier angeführt habe, lag außerhalb meines Gesichtskreises als Frontkorrespondent, und ich kann meinen Tagebüchern von 1945 nicht nachträglich hinzufügen, was mir damals nicht zugänglich war, was zu erleben ich keine Gelegenheit hatte oder was ich nicht zu sehen vermochte. Jedoch möchte ich den Leser am Rande darauf aufmerksam machen, daß sich die harten Forderungen der Männer, die die Geschicke einer Schlacht von den Beobachtungsstellen und Gefechtsständen der Armee aus lenkten, auf das Bewußtsein gründete, daß wenn nicht alles, so zum mindesten aber ein großer Teil der für die Erringung des Sieges erforderlichen objektiven Bedingungen bei der Vorbereitung der Operation geschaffen wurden. Alles weitere hing dann von den subjektiven Anstrengungen aller ihnen unterstellten Generale und Offiziere ab, die vor dem Beginn der Operation ihre
Gefechtsbereitschaft und ihre Zuversicht meldeten und anschließend, während des Kampfes, verpflichtet waren, dafür zu sorgen, daß Wort und Tat übereinstimmten. Die Sprache des Krieges ist hart. Als ich jetzt die Mitschriften der Telephongespräche las, die ich seinerzeit auf Beobachtungsstellen und in Gefechtsständen angefertigt hatte, konnte ich mich nicht entschließen, ihren Ton nachträglich zu mildern, ihnen etwas von ihrer Schärfe und harten Unduldsamkeit zu nehmen. Diese Abschwächung wäre eine Verletzung der Wahrheit und eine Verfälschung jener unvergleichlichen Atmosphäre nervöser Spannung, in der die verantwortlichen Leute während der Kampfhandlungen an den Fronten arbeiteten. Solange die Kämpfe andauern, solange für jeden Irrtum, für jede verpaßte Gelegenheit am Ende immer – versteckt oder offen – die Rechnung präsentiert und der Preis in Menschenleben gezahlt wird, loben die militärischen Leiter selten ihre Unterstellten. Viel häufiger kontrollieren sie, verlangen sie, drängen sie. Kurzangebunden bei der Billigung, sparsam mit Dank, sind sie schrankenlos in der Forderung. Gelobt und belohnt wird später, wenn das Befohlene ausgeführt, wenn alles erledigt ist.
25 Tagebuch vom 12. März 1945 Seitdem ich am Morgen bei Petrow war, schien sich das Blättchen gewendet zu haben. Petrow sagte das zwar nicht, aber es lag in der Luft, ich merkte es an der allgemeinen Stimmung, hörte es aus dem Tonfall seiner Telephonate, in denen er sich forsch und mit gehobener Stimme nach verschiedenen Punkten erkundigte. Nach einer kurzen Unterhaltung mit Petrow steigen Alpert und ich in unseren Wagen und fahren in Richtung Front. Wir wollen zuerst Mos-kalenko aufsuchen und uns dann an seine rechte Flanke begeben, zum 101. Schützenkorps General Bondarews. Wie wir den Telephonaten entnahmen, zeigen sich dort Erfolge. In dein Vorwerk, in dem am 10. März die Beobachtungsstelle der 38. Armee eingerichtet war und wo es von Menschen nur so wimmelte, sitzen jetzt nur zwei oder drei Leute aus der operativen Abteilung. Alle Offiziere sind nach Pavlovicy gefahren, ein Dorf aus dem Gebiet, das wir den Deutschen in diesen beiden Tagen entrissen haben. Dort befindet sich jetzt die Beobachtungsstelle des 101. Schützenkorps. Nach Pavlovicy gelangen wir verhältnismäßig schnell. Nur einmal bleiben wir in einer Stauung stecken. Der Boden ist nicht hart genug gefroren, aber das Wetter meint es gut, wir haben etwa zwei Grad Frost. An der Stelle, bis zu der ich mit Petrow zu Fuß gegangen bin, erstreckt sich jetzt eine Brücke, und
dahinter führen sanft abfallende Hänge von den Rändern der Schlucht auf ihren Grund, schräg angelegte Abfahrten, die sich zu einer mit Holzstangen gedeckte Straße vereinen. Diese Verkehrswege – die Brücke und die Straße – haben die Stauung schon fast völlig beseitigt. Pavlovicy ist hart getroffen, wahrscheinlich sowohl von unserem Artilleriefeuer als auch vom deutschen. Überall zertrümmerte Fensterscheiben. Trichter bedecken die Straßen. Die Granatsplitter haben an den Häusern ihre Spuren hinterlassen. Sie erinnern an schwarzgefleckte Leopardenfelle. An einer dieser Wände hat ein Spaßvogel von außen eine schwere Eichenuhr mit Gewichten angebracht. Gleichmäßig schwingt das Pendel ; die Zeit stimmt auf die Sekunde. Ein Soldat zieht im Vorübergehen seine Uhr aus der Tasche und vergleicht die Zeit. In der Dorfmitte gibt es eine Verkehrsstockung. Da wir hineingeraten, lassen wir unseren „Willys“ stehen und gehen zu Fuß weiter. Unmittelbar am Ortsrand ist der Korpsstab untergebracht. Das von Artilleriefeuer stark beschädigte Haus liegt eingebettet in Schutt. In einem unversehrt gebliebenen Eckzimmer der einen Hälfte des Hauses hat Bondarew seinen Gefechtsstand eingerichtet. Bondarew selbst ist nicht anwesend, aber im Raum sitzen sein Artilleriechef sowie Moskalenko, Jepischew, Generalleutnant Kariofilli, Chef Artillerie der Front, und Petrow, der vom Frontstab direkt hergekommen sein muß. „Und was haben die Deutschen so für Unterstände?“
fragt Moskalenko gerade am Telephon, als ich eintrete. „Was, sieh mal an – sogar Teppiche? Gibt es bei den Deutschen viele Tote?“ Petrow setzt inzwischen ein Gespräch mit Jepischew fort und sagt: „Ich versichere Ihnen, daß unsere Funker und Telephonisten den Ernst der Lage mitunter besser begreifen als manche Stabsoffiziere. Vielleicht begreifen sie ihn nicht, zum mindesten entwickeln sie mitunter ein untrügliches Gefühl dafür.“ An der Stimmung der Anwesenden merke ich, daß die Ereignisse weiterhin einen günstigen Verlauf nehmen. Immer und immer wieder greift Moskalenko zum Hörer und telephoniert mit den Kommandeuren der Korps und Divisionen. „Guten Tag! Warum haben Sie in der Nacht so gut gearbeitet und am Tag so schlecht? Weshalb? Scheuen Sie das Tageslicht?“ „Widerstand muß man mit Feuer brechen, nicht mit Blut.“ „Und von wo sprechen Sie jetzt? Aus dem Wald? Immer noch aus demselben? Sehr schlecht! Ich dachte, ich hätte Sie gestern von dort vertrieben, und heute muß ich Sie nochmals vertreiben. Also schnellstens vorwärts nach Horny!“ „Verstärken Sie das Feuer auf die Straßen, die zu den Deutschen aus Ratibor führen! Die Deutschen ziehen dort Truppen ab!“ „So, heute merkt man wenigstens, daß gekämpft wird“, sagt Moskalenko, indem er den Hörer auflegt und sich zu den anderen umdreht. „Als gestern die Artillerievorbereitung vorbei war, trat sofort Grabesstille ein.“
Dann spricht er mit seinem Stabschef. „Und woher kommen die deutschen Panzer? Aha. Und wo waren sie heute morgen? So. Nun, wenn sie jetzt noch dort sind, können sie frühestens morgen früh bei uns sein. Setzen Sie heute noch und morgen gleich beizeiten Bomber ein, damit sie nach Möglichkeit auf der Strecke bleiben.“ Ein Telephonist, der keine Verbindung bekommen hat, muß zu jemandem bemerkt haben, daß Moskalenko hops zu sein scheine. „Ich bin nicht hops!“ brüllt Moskalenko fröhlich ins Telephon, „und ich gehe nicht hops, solange Krieg ist.“ „Miserabel kämpft ihr dort, miserabel kämpft ihr! Bestellen Sie Ihrem Chef, daß er die längste Zeit dort kommandiert hat, wenn dieser Schlendrian von heute weitergeht.“ Moskalenko wendet sich unwillig vom Telephon ab und sagt: „Er redet den Kommandeuren seiner Brigade zu, statt zu befehlen, verstehen Sie. Ich werde ihn ablösen und seine 103. Brigade Bondarew übergeben.“ An einem anderen Apparat telephoniert ein Oberst, der Chef der Korpsartillerie. Er hat sich in den letzten Tagen heiser geredet; außerdem lispelt er, weil ihm mehrere Schneidezähne fehlen. „Ich glaube, heute kommen wir nicht mehr viel weiter“, sagt Petrow. „Das ist meine Meinung. Sie werden alles daransetzen, diese Stellungen zu halten. Heute müssen wir uns hier eingraben, wo wir schon sind, den Erfolg ausbauen. Für morgen müssen wir sowieso noch an einer anderen Stelle einen Stoß vorbereiten.“ Moskalenko scheint mit seinem Chef Artillerie zu sprechen. „Was soll das heißen, Sie können keine Salven
schießen? Richten Sie Ihren Artilleristen aus, daß wir hier anwesend sind, der Oberbefehlshaber der Front und ich, dann werden sie gleich alles finden, Raketengeschosse und alles.“ Als er aufgelegt hat, unterhalten sie sich über die Möglichkeit, Raketenwerfer direkt zu richten. „Was gibt es da zu überlegen“, sagt Moskalenko. „Welche Gründe haben wir, ihnen noch länger eine Sonderrolle einzuräumen. Sie sind zu behandeln wie andere Waffen. Beim direkten Richten können wir auf sie nicht verzichten. Insbesondere in die Feuervorbereitung müssen wir sie einbeziehen. Unauffällig ranfahren, unbemerkt richten und aus kurzer Entfernung einen Feuerschlag führen. Der Eindruck ist ungeheuer.“ Jemand bemerkt, Raketengeschosse ließen sich sogar bei Entfernungen unter einem Kilometer verwenden, „Das geht nicht. Dazu ist die Streuung zu groß.“ „Gut, daß sie dort endlich einsehen, daß man einen Graben nicht mit dem Bauch, sondern mit Feuer nehmen muß“, sagt Petrow, nachdem er den Bericht eines Verbindungsoffiziers entgegengenommen hat. Der Offizier ist zu Fuß vom Handlungsstreifen gekommen, und Petrow nennt ihn bei seinem Namen. „Nun, wie schaut’s aus, in diesen Tagen ordentlich die Absätze schiefgewetzt?“ „Es reicht zu.“ „Und neue Stiefel rückt der Armeebefehlshaber nicht raus?“ „Bisher hat er nicht.“ „In Ordnung, kommen Sie zu mir“, sagt Petrow schmunzelnd. Moskalenko befiehlt dem Komman-
deur einer Artilleriebrigade, die sich auf dem Marsch befindet, das Tempo zu beschleunigen, damit sie den nachfolgenden Panzern nicht den Weg versperrt. „Falls Sie von den Panzern eingeholt werden, lassen Sie sie durch.“ „Mich freut“, sagt Petrow, „daß die Troßfahrer jetzt disziplinierter geworden sind. Sie wurden vor Beginn der Kämpfe gehörig verschaukelt, und jetzt machen sie auf den Straßen von sich aus Platz, ohne daß man schreien und sie ermahnen muß.“ „Weil sie Dampf vor den Panzern haben.“ Moskalenko lacht auf. „Sie könnten übersehen und überrollt werden.“ Das Gespräch wendet sich einem Wald zu. Die Deutschen haben sich dort festgesetzt, und er soll gesäubert werden. Jepischew schlägt vor, für die Säuberungsaktion die ansonsten untätige leichte Flakartillerie einzusetzen. Moskalenko ist einverstanden und läßt entsprechende Befehle ergehen. „Hören Sie, Sokolow“, sagt Jepischew zum Chef Artillerie des Korps, der die Stimme völlig verloren hat, „wenn Sie den Panzern heute freie Durchfahrt verschaffen, schicke ich Ihnen morgen einen Prothesenspezialisten, damit er Ihnen kurzfristig das Gebiß repariert.“ „Daran habe ich auch schon gedacht“, sagt Sokolow, „nur fürchte ich, daß ich nach der Reparatur eine ganze Woche dienstuntauglich bin, ehe ich mich daran gewöhnt habe.“ „Stimmt“, gibt Jepischew zu. „Trotzdem, nach Beendigung der Operation müssen wir was in die Wege leiten. Wie ich gehört habe, können wir Ihnen dem-
nächst zum General gratulieren. Bis dahin muß Ihr Gebiß in Ordnung sein. Damit nicht getuschelt wird und böse Zungen behaupten, sie hätten erfahren, er sei ein zahnloser Greis und altershalber zum General befördert worden.“ Moskalenko erhält die Meldung, der Kommandeur der 42. schweren Panzerbrigade sei am Bein schwer verwundet worden. „Er war ein tapferer Kommandeur“, sagt Moskalenko und ruft beim Stabschef dieser Panzerbrigade an. „Guten Tag, Farberow. Wenn Sie sich als guter Kommandeur erweisen, bleiben Sie nach der Operation in der Brigade. Nur, Farberow, verhalten Sie sich vorsichtiger als der bisherige Kommandeur. Es tut mir in der Seele weh! Der Chef der Politabteilung soll melden, wo er hinkommt. Wie ich höre, gibt es bei Ihnen wieder eine Stauung? Wieso das? Ein Panzer ist auf eine Mine gefahren und steht quer? Dann schaffen sie ihn beiseite. Ja, wenn es anders nicht geht, müssen Sie ihn mit Trotyl sprengen und die Stücke einzeln abschleppen. Die Zeit ist kostbarer.“ Ehe er den Hörer auflegt, fügt er hinzu: „Nun ja, hin und wieder fährt ein Panzer auf eine Mine, aber am Ende zahlt es sich aus, wenn für diesen Preis zweihundert andere durchkommen. Es wird bald dunkel. Wir müssen so schnell wie möglich vorpreschen. Dazu bedarf es viel Wagemuts.“ Die Telephonistinnen nennen die Beobachtungsstellen „Augen“. Von einem Kommandeur, der auf der Beobachtungsstelle ist, heißt es, er sei „auf den Augen“. Das Kodewort wurde ursprünglich wohl nicht von Offizieren geprägt, seine Entstehung geht eher auf eine Initiative der Nachrichtenleute
zurück. Moskalenko abermals am Telephon. „Terrorisieren Sie sie in der Tiefe und, was die Hauptsache ist, bereiten Sie ihren Reserven schon auf den Straßen einen warmen Empfang. Wenn Sie dem anrückenden Gegner ein paar Granaten unter die Füße setzen, demoralisiert ihn das stärker, als wenn er seine Stellungen bezogen hat. Danach erst beginnt der Beschuß des Verteidigungssystems. Von irgendwo vorn gibt Bondarew die Meldung durch, Kyndra sei genommen. „Kyndra genommen?“ fragt Moskalenko zurück. Er lächelt glücklich. Petrow will uns verlassen. Vor seiner Abfahrt gestaltet er noch eine kleine, aber nach psychologischen Erwägungen wichtige Szene. Ein Oberstleutnant erscheint, Stabschef einer Brigade, die heute als Angehörige des Korps frisch in den Kampf geworfen wurde. Dem letzten Gespräch nach zu urteilen, wird dem Kommandeur dieser Brigade ein beachtliches Sündenregister angelastet, im großen und ganzen scheint dort einiges nicht ganz glücklich zu laufen. „So richtig im Gefecht sind Sie eigentlich noch nicht gewesen“, sagt Petrow, nachdem er die Meldung des Oberstleutnants entgegengenommen hat. „Überhaupt nicht“, lautet die Entgegnung, „aber hundertzwanzig Mann Verluste.“ „Da haben wir’s!“ Moskalenko wendet sich an ihn. „In Ihrer Brigade wird geschlampt. Bis zur Stunde haut das nicht hin. Über Ihren Kommandeur liegen mir die merkwürdigsten Meldungen vor. Er hat nicht gespurt, aber Sie wahrscheinlich auch nicht. Der Apfel fällt nicht weit vom Baum. Gehen Sie jetzt ins
Gefecht und handeln Sie so, wie es sich gehört. Das ist für Sie eine Bewährungsprobe. Wenn Sie die Aufgaben des Tages nicht erfüllen, bringe ich Ihre Angelegenheit vor den Oberbefehlshaber der Front, und Ihr Brigadekommandeur – richten Sie ihm das aus – führt dann ein Bataillon, während Sie weiterhin als sein Stabschef fungieren.“ „Gestatten Sie zu gehen?“ fragt der Stabschef der Brigade. Petrow hält ihn zurück. Offenbar erachtet er es für nötig, einem Menschen, der in die Schlacht geht, auch noch andere Worte mit auf den Weg zu geben. Andererseits möchte Petrow nicht den Eindruck erwecken, er wolle Moskalenkos Worte entkräften. „Sie haben gehört, was Ihnen der Armeebefehlshaber mitzuteilen hatte“, erklärt Petrow. „Vergessen Sie also alles, was vorher war, tun Sie, als hätte es nie etwas Schlechtes gegeben, wenn Sie neu anfangen wollen. Seien Sie sich bewußt, daß Ihr positives Auftreten alles Negative tilgen wird. Berichten Sie in diesem Sinne auch Ihrem Brigadekommandeur. Ich wünsche Ihnen Erfolg.“ Er gibt dem Chef des Brigadestabs zum Abschied die Hand. Einige Minuten später fährt Petrow ab. Bei all diesen Gesprächen, in denen direkte Meldungen vom Schlachtfeld eine Rolle spielen, spüre ich Moskalenkos Bestreben, so bald wie möglich die Panzer einzusetzen. Schon den dritten Tag stehen die Panzer auf den Straßen im Handlungsraum der Armee, blockieren sie und helfen der Infanterie nicht nur nicht, sondern behindern sie manchmal sogar, nicht zuletzt dadurch, daß sie der Artillerie die Möglichkeit nehmen, der Infanterie rechtzeitig zu folgen.
Mir scheint, auch heute noch sind sich der Oberbefehlshaber der Front und der Armeebefehlshaber nicht über den Einsatz des mechanisierten Korps einig. Einige Einwürfe, die Moskalenko macht, zeugen davon, daß er es für erforderlich hielt, das Korps bei Tagesanbruch einzusetzen, während Petrow es offenbar noch schonen möchte, und obgleich er gerade erst befohlen hat, daß es auf den Straßen vorrücken soll, und den Panzerfahrern sogar die Sonderaufgabe stellte, gemeinsam mit der Infanterie einige Siedlungen zu besetzen, liegt ein eindeutiger Befehl durchzubrechen bei den Panzern bislang nicht vor. Allem Anschein nach geht es jetzt darum, sich für eine von zwei Möglichkeiten zu entscheiden, entweder mit Hilfe des mechanisierten Korps einen Durchbruch dort zu erzwingen, wo es der Infanterie bisher nicht gelungen ist, oder weiter abzuwarten, bis die Infanterie endgültig einen Frontdurchbruch erzielt hat, und das mechanisierte Korps dann im Durchbruchsabschnitt einzusetzen. Übrigens denke ich oft darüber nach, welche psychologischen Auswirkungen diese Taktik auf die Offiziere der Infanterie haben muß. Es empört sie natürlich, daß die Panzersoldaten hinter ihnen stehen. Wahrscheinlich ist es auch schwer, einzusehen, weshalb man Dutzende von Stahlkolossen im Rücken hat, weil die Panzerfahrer fürchten, auf eine Mine oder ins Artilleriefeuer zu geraten, während die Infanteristen ungeschützt über Minenfelder und durchs Artilleriefeuer vorgehen müssen. Wenn man die Grundkonzeption der Operation nicht kennt, kann
einen das alles menschlich enttäuschen, und es ist in keiner Hinsicht verwunderlich, daß einige Infanterieoffiziere ihrem Ärger Luft machen, indem sie ihre Handlungen mit den allgemeinen Erfordernissen nicht in Einklang bringen oder sich einen Teufel um die weiteren Aufgaben scheren. Dennoch, trotz aller Schwierigkeiten läuft die Kriegsmaschinerie – wenngleich knirschend – auf Hochtouren. In den zweieinhalb Stunden, die ich hier auf dem Gefechtsstand verbringe, festigt sich die Gewißheit des wachsenden Erfolges. „Hab Dank für die gastliche Aufnahme“, sagt Moskalenko, indem er sich vom Stuhl erhebt. „Im Kampf heißt Gastfreundschaft nicht ein Gläschen Wodka oder ein Täßchen Tee, sondern gute Nachricht.“ Nach dieser Verabschiedung bleibt er noch im Korps, nimmt den Hörer ab und sagt: „Gut, daß der Wald besetzt ist. Natürlich flieht der Gegner, wenn ihm Ihre Infanterie jetzt im Nacken sitzt.“ Ich beschließe, zu Bondarew zu fahren. Er muß sich bei einer seiner Divisionen aufhalten, aber Moskalenko versucht mehrmals, ihn zu erreichen, kann ihn jedoch in keiner Division finden. Entweder ist er gerade von einer zur anderen unterwegs, oder er befindet sich auf dem Rückweg hierher. Da nehme ich mir vor, General D. Kommandeur des mechanisierten Korps, einen Besuch abzustatten. Er liegt im selben Dorf, und mich interessiert, ob er mit dem D. identisch ist, dem ich seinerzeit am Chalchyn gol wiederholt begegnet bin. Damals befehligte er eine motorisierte Schützenbrigade, und wenn ich mich recht erinnere, zeichnete er sich durch Beson-
nenheit und Kühnheit aus und genoß überhaupt einen guten Ruf. Ich ging mit Alpert zu einem Haus der Panzersoldaten. Wir durchquerten den Flur, in dem sich viele Leute drängten. Dahinter führte ein Gang in ein kleines Zimmer. Um die Wärme zu halten, waren die zertrümmerten Fenster mit Brettern vernagelt und mit Lappen zugestopft. Das einzige Licht spendeten ein Kerzenstummel auf dem Tisch und eine winzige Birne, die unmittelbar unter der Decke hing und von einem Akkumulator gespeist wurde. Beim Eintreten erkannte ich D. sofort. Er war es. In seiner rostbraunen amerikanischen Lederkombination mit Pelzkragen und Reißverschluß, mit seiner Hakennase und seinem Habichtsgesicht glich er eher einem Polarforscher als einem General. Neben ihm saß der Leiter der Politabteilung, ein Oberst, der eine gewaltige, bis zur Brustmitte reichende Fellhose trug, darunter seine Feldbluse, die Hosenträger waren über die Schulterklappen gezogen – kurz gesagt, ein Musterbeispiel jenes berüchtigten Uniformmißbrauchs, der von so vielen Panzersoldaten bei jeder Gelegenheit – ob erforderlich oder nicht -gern betrieben wird. Anwesend war auch der stellvertretende Befehlshaber der Panzertruppen der Front, den ich gerade erst bei Moskalenko gesehen hatte. Ich bin nicht sicher, ob D. gleich wußte, mit wem er es zu tun hatte. Zumindest gab er sich den Anschein, mich zu erkennen. Er drückte mir die Hand und sagte: „Sie sind aber alt geworden. Ja, Sie sind gealtert.“ Nach dem üblichen Begrüßungszeremoniell tausch-
ten wir Erinnerungen aus: Chalchyn gol und die Leute dort. D. nannte die Schriftsteller, die sich in seiner Brigade aufgehalten hatten, und fragte, was aus ihnen geworden sei. Ich antwortete, daß sowohl Stawski als auch Lapin und Chazrewin und Rosenfeld – daß alle außer Slawin und mir in diesem Krieg gefallen seien. Er seufzte bekümmert, als er hörte, Stawski sei tot. Von den Schriftstellern wechselte das Gespräch zu den Militärpersonen über, und wir stellten fest, daß alle, die wir nannten, entweder gefallen oder zu hohen Dienststellungen aufgestiegen waren. Als ich die mir bekannten Leute vom Chalchyn gol aufzählte, erinnerte ich mich auch an einen, der ebenfalls befördert worden war, sich dann aber dem Trunk ergeben hatte und deshalb degradiert wurde. „Und was macht er jetzt?“ fragte ich. „Von ihm hört man überhaupt nichts mehr.“ „Jetzt befehligt er die Panzertruppen einer Armee an den baltischen Fronten.“ Das sagte mir einiges, denn im Krieg hatte ich mich von folgendem überzeugt: Wenn die Funktion eines Artilleriebefehlshabers einer Front oder Armee immer sehr wichtig und wesentlich war und stets von einem hervorragenden, tatkräftigen Mann ausgeübt wurde, der bei jeder Operation eine ganz entscheidende Rolle spielte, so galt die Dienststellung eines Befehlshabers der Panzertruppen einer Front oder Armee mit Recht als Abstellgleis, weil sie in der Regel von einem Panzerkommandeur wahrgenommen wurde, dem man aus irgendwelchen Gründen keine Kommandeursstelle in einer Panzerarmee,
Panzerkorps und -brigaden übertragen wollte. Ich habe den Eindruck gewonnen, daß es sich bei der Ernennung eines Panzeroffiziers in diese Stellung um eine Art Ehrenversetzung in den Ruhestand handelt, vielleicht zum Teil deshalb, weil – soweit ich das beurteilen kann – der Pflichtenkreis dieser Menschen nicht genau fixiert und ungenügend abgegrenzt ist. Hinzu kommt, daß beim modernen Einsatz ganzer Panzerkorps und – armeen, die sich häufig weit von den zuständigen Stäben entfernen, die Führung durch den Befehlshaber der Panzertruppen einer Armee oder Front oftmals nomineller Natur ist. Als D. während unserer Unterhaltung diesen Mann erwähnte, der sich einst dem Trunk ergeben hatte, wobei er hart und bellend lachte, abgehackt sprach und überhaupt eine allgemeine gesteigerte Erregbarkeit erkennen ließ, war er in diesen Augenblicken wohl selbst nicht ganz nüchtern. Obwohl der größte Teil der Panzer weithin auf den Straßen stand, hatte der Oberbefehlshaber der Front den Soldaten eine kleine Sonderaufgabe gestellt. Der Korpskommandeur und der Leiter der Politabteilung aber saßen einträchtig in diesem finsteren Häuschen, rührten sich nicht von der Stelle und langweilten sich offenbar fürchterlich. Ich weiß nicht, worauf ihre Untätigkeit zurückzuführen war, vielleicht, darauf, daß die Panzer schon den dritten Tag in der Ausgangsstellung standen, die Straßen blockierten und D. sich in jenem Zustand angespannter Erwartung befand, den der Mensch so schwer ertragen kann? Das konnte ich verstehen. Doch als ich D. ansah, erschien er mir eher wie ein
entrüsteter Star. Er nahm den Hörer ab und rief scharf und abgehackt einige Anweisungen hinein. Nach den Telephongesprächen sagte er zornig: „Da muß man nun im Stab sitzen, im Stab, immer im Stab – ich brauche aber etwas anderes! Was ich brauche, ist Messer raus und vorwärts!“ Womit er offenbar meinte, daß er das Korps zum Durchbruch führen wollte. Dennoch, obwohl er von Durchbruch sprach, verstärkte sich der Eindruck eines Zustandes der Untätigkeit. Sicherlich war dieser Mann fähig, zum Durchbruch anzutreten und etwas zu erreichen, aber es fehlte ihm jegliches Interesse für die tägliche Kleinarbeit, er konnte sich nicht dazu durchringen, das Gefecht zu organisieren, die vorrangig gestellte bescheidene Sonderaufgabe zu erfüllen und dafür zu sorgen, daß sich die Panzer ordnungsgemäß bewegten. Im weiteren Verlauf des Gesprächs lobte D. den Oberbefehlshaber dafür, daß er die Panzer nicht vorzeitig eingesetzt hatte. Er drückte seine Freude aus, Moskalenko nicht unmittelbar unterstellt zu sein. Wenn es nach dem Befehlshaber gegangen wäre, sagte er, wären sie bereits eingesetzt worden. Diese Lobpreisung des Oberbefehlshabers, weil er die Panzer noch zurückhielt, klang mir aus seinem Munde nicht gut. Darin lag so etwas wie eine Note der Selbstverteidigung. Ich hörte den Wunsch heraus, nur für den Fall etwas riskieren zu wollen, daß die Lage ein großes Risiko ausschloß. Wenn der Oberbefehlshaber einer Front sein einziges Panzerkorps schont und sich scheut, es zu früh einzusetzen, so ist das rein menschlich verständlich und
etwas ganz anderes, als wenn der Kommandeur dieses Korps dasselbe sagt, nachdem der Verband in acht Monaten aufgestellt wurde und schon den dritten Tag untätig auf den Straßen liegt. Aus der Panzerbrigade, die eine Sonderaufgabe erhalten hatte, traf ein Verbindungsoffizier ein und meldete D. der Oberbefehlshaber sei bei ihnen vorübergefahren und habe gesagt: „Kämpfen, aber nicht alle Kräfte einschalten.“ „Da hören Sie es sich an, nicht einschalten!“ rief D. triumphierend aus. „Nicht einschalten! Das habe ich doch selbst gesehen, daß es noch nicht nötig ist, alle Kräfte einzuschalten!“ Dabei unterhielt er offenbar keine stabile Verbindung zu seiner bereits kämpfenden Brigade, und wo sich seine Panzer befanden, darüber informierte ihn ein Offizier der operativen Abteilung eines Schützenkorps. Die motorisierte Infanterie lag im Feuer; die Panzer standen in Kolonne vor einem Minenfeld und schössen. D. nahm es gelassen zur Kenntnis, als wäre das alles kein Grund zur Beunruhigung. Er lachte laut, grinste breit, und manchmal schien das Lächeln eines Nervenkranken seinen Mund zu umspielen. Vielleicht war es anders, aber so kam es mir vor. Bald tauchte der Chef des Korpsstabs auf, ein General mit rundlichem Gesicht, ebenfalls in Kombination gekleidet. „Na, wie geht’s?“ fragte ihn ein Oberst der Panzertruppen. „Hab ein Nickerchen gemacht.“ „Ich weiß, ich war da, wollte dich aber nicht wach machen.“ Der Chef des Korpsstabs rieb sich die Augen und schimpfte dabei auf den Armeebefehlshaber, der ihn jetzt durch seinen Anruf geweckt hatte
und ihm vorher schon einmal – bei Stalingrad – durch seine grobe Ausdrucksweise aufgefallen war. „Diesmal hab ich ihm mit gleicher Münze heimgezahlt“, sagte der Stabschef leicht prahlerisch. „Er bläst sich auf, ich mache es genauso. Wenn ich bloß nicht noch ein drittes Mal an ihn gerate, sonst sage ich ihm, was ich von ihm halte.“ Die Art, in der er das sagte, klang wie simple, jungenhafte Anmaßung: Komm mir ja nicht zu nahe, du, komm mir ja nicht zu nahe… Na, versuch’s doch mal! Eine Schüssel wurde gebracht, ein Imbiß, bestehend aus Wurst- und Kochfleischhäppchen; eine Flasche mit einer trüben Flüssigkeit und zwei Gläser. Wir fragten, warum nur uns das aufgetragen wurde. „Wir haben gerade gefrühstückt“, erwiderte D. Na, das sagt alles, dachte ich. Er hat schon getrunken. „Wir haben schon gefrühstückt“, erwiderte D. „das langt uns. Trinken Sie allein.“ Diese Worte freuten mich. Im Grunde seines Herzens war er ein gastfreundlicher Mensch, der es gut mit uns meinte, und es ist mir sogar peinlich, den Zustand zu schildern; aber was hilft das alles. Wir hatten gerade ein halbes Glas der trüben Flüssigkeit geleert, eines abscheulichen Selbstgebrannten Rübenschnapses, und kauten noch an einem Bissen Fleisch, als der Adjutant hereingelaufen kam und „Generaloberst!“ flüsterte. Mit übernatürlicher Geschwindigkeit verschwand die Flasche unterm Tisch. Alle erhoben sich in der Annahme, Moskalenko eintreten zu sehen. Es war jedoch Mechlis.
Er orientierte sich zunächst an Hand der Karte, die zehn Minuten zuvor ein Offizier der operativen Abteilung des Schützenkorps gebracht hatte. Als D. die Lage erläuterte, zeichnete er den roten Bogen an einer falschen Stelle ein. „Warum ist es bei Ihnen so finster?“ fragte Mechlis. „Nun ja, die Fenster sind verschalt.“ „Weshalb versuchen Sie nicht, sich besser einzurichten?“ fragte Mechlis und richtete das Licht seiner Taschenlampe auf die Karte. „Wir ziehen ja doch bald um“, erklärte D. „in ein, zwei Stunden rücken wir ab.“ „Wohin wollen Sie denn?“ fragte Mechlis. „Hier.“ D. zeigte auf der Karte das Dorf Hurny. „Wir haben zur Rekognoszierung bereits einige Leute hingeschickt, damit sie dort die erforderlichen Vorbereitungen treffen.“ Das war erlogen. Tatsächlich hatte er niemanden zur Rekognoszierung ausgeschickt. Jedoch waren eine halbe Stunde zuvor zwischen ihm und dem Stabschef einige Worte gewechselt worden. „In einer Stunde verschwinden wir und begeben uns nach Hurny.“ Das hatte D. gesagt und auf die Karte getippt. „Aber wie wollen Sie denn, wenn dort die Deutschen sitzen?“ „Dort sind doch keine Deutschen mehr.“ „Doch, dort sind noch die Deutschen.“ „Wenn schon. Wir ziehen hin und basta.“ „Und wann ziehen wir – wann ziehen die Brigaden?“ hatte der Stabschef gefragt. „Die Brigaden in der Nacht. Wir werden schon vorher dort sein, aber die Brigaden rücken nach. Du und
ich – wir haben so was nicht nur einmal durchgemacht.“ „Natürlich kann man den Standort auch dorthin verlegen“, hatte der Stabschef etwas gekünstelt entgegnet. „Du und ich – wir haben im MG-Feuer gelegen. Gib nur acht, daß du die Verbindung nicht verlierst.“ „Sei unbesorgt, auch die Verbindung klappt.“ „Sicher, warum nicht, wir beide haben ja wiederholt im MG-Feuer gelegen, das sind Lappalien“, hatte der Stabschef bestätigt. „Hauptsache, du vergißt nicht, eine Funkstelle mitzunehmen.“ „Alles klar, in einer Stunde rücken wir ab“, hatte D. versichert. Damit war ihr Gespräch über den geplanten Ortswechsel zu Ende gewesen, und ich befürchtete jetzt, daß sie sich weder nach einer Stunde noch nach zwei Stunden aufmachen würden, sondern auf jeden Fall noch bis zum nächsten Morgen blieben. Nachdem sich Mechlis an Hand der Karte mit der Lage vertraut gemacht, die bevorstehende Verlegung des Stabs zur Kenntnis genommen und nach meinem Dafürhalten mehr als bloß eine ungefähre Vorstellung von den hiesigen Vorgängen gewonnen hatte, fragte er, wie es mit Treibstoff stehe. Aus den Antworten, die D. gab, ging hervor, daß den Panzern nur die anderthalbfache Menge zur Verfügung stand und die Front aufgehört hatte, sie weiter zu versorgen. „Warum?“ wollte Mechlis wissen. „Keine Ahnung.“ „Sie liegen hier fest“, meinte Mechlis, „wahrscheinlich ist darum Schluß.“ „Es wird überhaupt kein Treibstoff mehr ausgege-
ben“, sagte D. „Ich habe in dieser Angelegenheit schon an den Oberbefehlshaber gefunkt.“ „In Ordnung, ich werde anordnen, daß Sie Treibstoff kriegen“, sagte Mechlis. Er knöpfte die Kartentasche auf, zog einen voll beschriebenen Notizblock heraus und kritzelte etwas auf eine leere Seite. „Geben Sie das unverzüglich über die Funkstelle weiter“, sagte Mechlis, riß das Blatt mit seinem Befehl heraus. „Und jetzt sagen Sie mir, wo sich Bondarew befindet.“ Der Leiter der Politabteilung schickte sich an, ihn zu begleiten. Ich verabschiedete mich von D. nachdem ich ihm versichert hatte, daß wir uns an dem neuen Ort wiedersehen würden, und folgte Mechlis ins Freie. Falls sich Bondarew noch bei den Divisionen aufhalten sollte, wollte ich Mechlis nachfahren, wenn er sich zu ihm begeben würde. Der Leiter der Politabteilung begleitete Mechlis zum Vorwerk. Zur Stunde befand sich dort lediglich der Gefechtsstand des Artilleriechefs, der hier die Stelle aller übrigen, darunter auch des Korpskommandeurs, vertrat. Mechlis zog seine Karte hervor, und der Chef der Artillerie stellte darauf die Lage dar. „Hier steht ein Panzerbataillon“, sagte Mechlis und deutete auf den roten Bogen, den General D. eingezeichnet hatte. „Wir verfügen über keinerlei Informationen, daß dort Panzer stehen“, entgegnete der Artillerist. „Aber die Panzer melden es doch.“ „Ich weiß nichts davon“, beteuerte der Artillerist. Raschen Schritts trat Generalmajor Grigorjew ein,
Stabschef eines Schützenkorps, leicht außer Atem vom schnellen Gang, ein etwas volleibiger Mensch mit Ohrenklappenmütze und abgetragener schwarzer Lederjacke. Nachdem er verpustet hatte, schilderte er die Lage und bestätigte die Meldung des Chef Artillerie. Mechlis deutete noch einmal auf die Karte und wiederholte, nach den Angaben der Panzertruppen stände ihr vorderes Bataillon an der bezeichneten Stelle. „Das kann nicht sein“, wandte Grigorjew ein. „Uns liegen keine derartigen Angaben vor.“ „Das verstehe ich nicht – sie melden es doch“, erwiderte Mechlis mit der Zuversicht eines genauen Menschen, der auch von der Genauigkeit anderer überzeugt ist. „Genosse Generaloberst“, sagte Grigorjew, „gestatten Sie zu melden, solange unsere Infanterie nicht dort ist und mir nicht meldet, daß sie dort ist, kann ich es Ihnen nicht melden.“ Bondarew trat ein. Er sah erschöpft aus. Er war zu Fuß zu seinen beiden Divisionen und zurück gegangen. Seit 1943, als ich ihm am Kursker Bogen begegnet war, hatte er sich kaum verändert. Seine Augen blickten noch so wehmütig, und die Kopfbedeckung – damals die Schirm-, diesmal die Pelzmütze – war müde zurückgeschoben. Nur erschien er mir jetzt etwas hagerer und inzwischen gealtert. Sie kamen gleich auf die Meldung der Panzertruppen zu sprechen. Bondarew winkte ab und sagte: „Solange nicht die letzte Mine geräumt ist, rühren sie
sich nicht von der Stelle, aber wenn ein Brummer über ihren Kopf weg heult, schreien sie Zeter und Mordio. Aus meiner ganzen Kriegserfahrung ist mir kein Fall bekannt, daß die Panzer vor mir ins Gefecht gerollt wären. Immer ist die Infanterie vor den Panzern gewesen. Ob es einem schmeckt oder nicht, so ist es nun mal, so und nicht anders!“ Er schwieg eine Weile. Dann fuhr er fort. „Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Die Panzer versperren die Wege, stehen dort vorn dicht bei dicht, beschießen die Deutschen aus der Kolonne, halten sich nicht an die vorgesehenen Marschstraßen, sind in Terminverzug, aber der Korpskommandeur und der Stabschef sitzen hier in einer Hütte, statt zu befehlen und die Panzerbesatzungen kraft ihrer Autorität vorwärts zu stubsen. Das ist vielleicht nicht meine Angelegenheit, aber es ist zu hoch für mich. Entschuldigen Sie schon.“ „Dann bestellen wir uns am besten den Korpskommandeur mal zu uns“, sagte Mechlis und befahl, D. herzurufen. Während sie auf ihn warteten, berichtete Bondarew von zwei Gesprächen, die er mit Petrow geführt hatte. „Gestern gegen Abend sagt der Oberkommandierende zu mir: ,Wenn ihr bis zur Nacht diese und diese Dörfer genommen habt, werden wir das mechanisierte Korps wahrscheinlich an eurem Abschnitt einsetzen.’ Wir haben in der Nacht alle diese Dörfer genommen, aber am Morgen ruft er mich an. ,Bondarew, sag mir offen deine Meinung. Ist der Zeitpunkt gekommen, bei dir die Panzer einzusetzen?’ Natürlich wäre das Gefecht leichter gewesen,
wenn ich die Panzer gehabt hätte. Ich antwortete ihm jedoch, wie ich’s vor meinem Gewissen vertreten kann. Nein, nach meiner Meinung wäre es noch nicht erforderlich, an meinem Abschnitt die Panzer einzusetzen. Später werden uns die Panzer natürlich helfen, aber wieviel böses Blut gibt es, solange sie auf den Verbindungswegen stehen! Manchmal meine ich fast, daß es besser wäre, wenn es sie überhaupt nicht gäbe. Solange die Panzertruppen bei uns hier liegen und nicht zum Durchbruch antreten, sondern mit ihren Panzern sämtliche Straßen blockieren, kann sich die Artillerie nicht vorwärts bewegen, versacken die Troßfahrzeuge, bleiben die Geschütze stecken, kommen die Wagen nicht weiter. Es ist eine regelrechte Katastrophe.“ Schon bald erschien D. und mit ihm der Oberst von den Panzertruppen der Front. Mechlis brachte ihnen recht behutsam bei, sie sollten sich persönlich darum kümmern, wie ihre Panzer vorankamen und in das Gefecht eingriffen. Der Oberst hatte zuvor, als ich ihm bei D. begegnet war, einen guten Eindruck auf mich gemacht. Ich hatte ihn auf Anhieb für einen sympathischen und intelligenten Menschen mit nur einer, allerdings Zweifel erregenden Schwäche gehalten. Bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit erwähnte er seine Heldentaten, was nach meinen im Krieg gemachten Beobachtungen selten mit einer tatsächlichen wesenseigenen oder stark ausgeprägten Tapferkeit zusammenfiel. Nach meinen Erfahrungen ist es meistens so, daß Leute, die ihre Heldentaten allzu bereitwillig zum besten geben – und mögen sie wirklich einiges ge-
leistet haben –, ihre Bedeutung überschätzen und von dem Drang beseelt sind, einen Kult um die Erinnerungen zu entwickeln, während echt tapfere Menschen ihre Heldentaten gewöhnlich nicht überbewerten und auch kaum geneigt sind, sie überhaupt zu erwähnen, geschweige denn aus jedem Anlaß davon zu reden. Aber natürlich läßt sich hier nichts verallgemeinern. Kurz und gut, als Mechlis die Bemerkung hinsichtlich der Panzer machte, war der Oberst plötzlich wie umgewandelt und sagte oder brüllte vielmehr: „Wird alles erledigt! Ich kontrolliere persönlich. Kommt alles in Ordnung. Ich gehe sofort hin!“ „Nehmen Sie den Leiter der Politabteilung mit“, empfahl Mechlis. „Er ist doch da?“ „Das ist er.“ „Nehmen Sie ihn mit.“ „Zu Befehl!“ brüllte der Oberst drohend. „Wird gemacht! Geht alles klar! Werden nachhelfen!“ Er war wahrscheinlich einer von denen, der die Gunst der Vorgesetzten genoß, weil er, ohne zu zaudern, wie aus der Pistole geschossen mit lauter, überzeugter Stimme seine Bereitschaft verkündete, Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen, um das Gewünschte auszuführen – auch wenn hinterher nichts geschah. „Ich gebe Ihnen den rein kameradschaftlich gemeinten Rat“, sagte nach dieser Kanonade Bondarew unerwartet ruhig, „selbst hinzufahren. Wenn sie ihren General sehen, geht es auch vorwärts. Fahren Sie hin, das wirkt. Fahren Sie, versetzen Sie ihnen, einfach ausgedrückt, einen Schubs.“ „Darüber sprechen wir noch“, entgegnete D. leicht
gekränkt. Ich glaubte jedoch, er wollte nicht fahren. „Und – fahren Sie auch?“ fragte Mechlis, als hätte er meine Gedanken erraten. „Ich werde ebenfalls gleich kontrollieren fahren“, sagte D. „Gestatten Sie zu gehen?“ „Gehen Sie.“ Er und der Oberst verließen den Raum. „Beinah wie an der Wolchowfront“, bemerkte Grigorjew, indem er auf die blauen Flecken der Seen und die blauen Schraffen der Sümpfe zeigte. „Ja, es gibt hier viele Sümpfe“, gab Mechlis zu, „aber am Wolchow war es doch schwerer. Wir mußten die Geschütze auf hölzerne Plattformen stellen, damit sie nicht im Morast versanken.“ „Und ich habe Ihnen viele Berichte geschrieben, als Sie dort Mitglied des Kriegsrats waren“, erklärte Grigorjew. „Ich wollte selbst hinkommen, wurde aber nicht weggelassen.“ „In welcher Stellung befanden Sie sich damals?“ fragte Mechlis. „Chef des Stabes des Archangelsker Militärbezirks.“ „Aha – ja, von Ihnen haben wir viele Leute erhalten.“ „Wir waren bestrebt, der Front das Allerbeste zu geben. Allein elf Ren-Schi-Bataillone haben wir geschickt. Die sind nicht bei Ihnen eingetroffen?“ „Nein, nicht bei uns. Was hätten Ren-Schi-Bataillone am Wolchow gesollt. Sie sind wahrscheinlich nach Norden, an die Karelische Front gekommen.“ „Zwei Marinebrigaden haben wir zu Ihnen geschickt“, sagte Grigorjew. „Ausgezeichnete Brigaden.“ Mechlis schwieg. Dann sprachen sie über die Verluste. „An den drei Tagen, der heutige Tag mit-
gerechnet, sind etwa tausendzweihundertfünfzig Mann ausgefallen“, teilte Bondarew mit, „unter ihnen dreihundert Tote.“ „Haben die Deutschen viele Tote?“ fragte Mechlis. „Es reicht“, erwiderte Bondarew. „Das trifft zu“, bestätigte Grigorjew und wiederholte: „Viel! Die ersten beiden Tage habe ich den Divisionskommandeur vertreten und bin fast in den vordersten Schützenketten gewesen. Da habe ich die Leichen gesehen. Hier, hinter diesem Wald, liegen die Deutschen wie gestapelt.“ Er zeigte die Stelle auf der Karte. „Was, selbst dagewesen?“ fragte Mechlis. „Nein, hier zufällig nicht. Das wurde mir heute mitgeteilt.“ „Es stimmt, daß es viele sind“, sagte Bondarew. „Ich hab mich vorhin mit eigenen Augen überzeugt.“ „Und erbeutete Geschütze?“ fragte Mechlis. „Gestern rund fünfzehn, für heute weiß ich es nicht“, erwiderte Bondarew. „Am ersten Tag jedenfalls nicht eins“, sagte Mechlis. „Ja, am ersten Tag sind uns keine in die Hände gefallen“, bestätigte Bondarew, „aber im allgemeinen zählen wir sie nicht.“ „Das ist aber falsch“, stellte Mechlis fest. „Anhand der Stückzahl kann man den Erfolg des Angriffs bestimmen. Sind wir bis zu den Artilleriestellungen vorgedrungen? Gelingt es dem Gegner, die Artillerie abzuziehen, oder findet er keine Gelegenheit dazu?“ „Schon recht“, sagte Bondarew, „aber es ist nicht üblich, zu zählen. Am Ende der Operation von Jaslo stellten wir fest, daß alles in allem dreihundertfünfzig Geschütze als Beute an unser Korps gefallen waren,
aber während der Kämpfe hatte sie niemand gezählt.“ Nach diesem Gespräch fuhr Mechlis zu Moskalenko auf die Beobachtungsstelle, auf der ich zwei Tage zuvor gewesen war. Diesmal blieb ich bei Bondarew. Ich wollte mit ihm sprechen. Zunächst erkannte er mich nicht, erst dann, als ich erinnerte, wo und wann wir uns begegnet waren. Jetzt sah ich noch deutlicher, wie müde er war; doch schon vorher, nach seinem Eintritt, hatte er Mechlis gebeten, sich setzen zu dürfen. Sein Adjutant kam. „Machen Sie uns irgendwas zu essen“, sagte Bondarew. „Sofort, aber wir haben Ihnen ganz in der Nähe Ihr Quartier hergerichtet.“ „Wenn es so ist, fahren wir zum Quartier“, sagte mir Bondarew. „Nein, nein“, wandte der Adjutant erschrocken ein. „Augenblick! Lieber in einer Viertelstunde. Ich gehe schon voraus.“ „Warum wollen Sie gehen? Nehmen Sie den Wagen.“ „Ich gehe immer zu Fuß.“ „Aber wozu?“ fragte Bondarew. „Dort ist noch nicht alles fertig“, antwortete der Adjutant. „Ach so, sag das doch gleich.“ Bondarew konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. „Zieh los, sieh nach dem Rechten, wir kommen später nach.“ Während wir warteten, sprach Bondarew telephonisch mit einem seiner Divisionskommandeure. Das Gespräch drehte sich im wesentlichen darum, daß der Kommandeur nicht kühn vorging. Er fürchtete um seine Flanken. Seine Nachbarn waren liegengeblieben, und die Deutschen beschossen den Rücken sei-
ner Gruppierung. Anfangs redete Bondarew ruhig auf ihn ein, aber dann platzte ihm der Kragen. „Seit wann sind Sie dafür zuständig, was links und rechts von Ihnen passiert? Ich frage meine Nachbarn auch nicht, warum sie nicht Schritt halten und mit mir nicht auf gleicher Höhe sind. Das geht mich nichts an. Ich habe meinen eigenen Abschnitt. Bewegen Sie sich, wie es Ihnen befohlen wurde, mehr ist nicht nötig! Führen Sie meinen Befehl aus, statt sich über andere Dinge den Kopf zu zerbrechen. Sie haben einen Auftrag fürs ganze Leben – angreifen!“ Bondarew legte auf und drehte sich zu mir um. „Sorgt sich um seine Flanken“, sagte er. „Ich habe die Angewohnheit, weder nach links noch nach rechts zu schauen. Es ist nicht meine Aufgabe, die Nachbarn zu belehren.“ Er wandte sich an den Chef Artillerie. „Wie sieht’s mit Granaten aus?“ „Der Nachschub der Granaten flutscht.“ „Na also, das heißt, morgen gehen wir ran“, sagte Bondarew. „In Ordnung, fahren wir essen.“ Der „Willys“ stand hundert Meter entfernt in einem Gäßchen. Wir überquerten die Straße, passierten den Dorfplatz, wateten durch glanzlosen Schnee und Matsch. Auf dem Platz legten Soldaten einige Tote in die ausgehobenen Gräber. Drei Hügel trugen bereits Holzpyramiden mit Sternen und Gedenktafeln. Mehrere Tote lagen unter Zeltbahnen neben den Gruben. In dem Häuschen, in dem sich der Korpskommandeur einquartiert hatte, war das Großreinemachen noch nicht beendet. Ein Zimmer wurde noch gesäubert.
Uns begrüßte dort eine junge Frau mit hochgekrempelten Ärmeln, die den Fußboden wischte. Es war Bondarews Frau. Wir gingen zum nächsten Raum weiter und führten ein halbstündiges Gespräch. Zunächst sprachen wir über die Telephonate, die an diesem Tag in meiner Gegenwart geführt worden waren. Bondarew hatte den Stabschef der 70. Division angerufen und ihm befohlen, den Stabschef einer anderen Division – ich weiß nicht mehr, welcher – an den Apparat zu bitten, was ja mühelos geschehen könne, da er sich gleich nebenan befinde, und bedeuten würde, daß Bondarew nicht noch einmal telephonieren mußte. Der Stabschef der 70. harte erwidert, man werde wohl lange warten müssen, weil der Nachbar gar nicht so nahe sei, es wären immerhin achthundert Meter. „Nicht achthundert und nicht achtzig“, hatte Bondarew entgegnet, „sondern höchstens acht Meter. Wie groß ist der Zwischenraum zwischen zwei Häusern? Jeder sitzt in seinem eigenen Keller, und keiner weiß vom andern, daß er nebenan sitzt. Haben sich in ihre Keller verkrochen, stehen in Telephonverbindung miteinander und wissen nicht, daß sich der Stab der Nachbardivision im Nachbarhaus befindet!“ „Hol’s der Teufel“, sagte er, als er sich jetzt daran erinnerte, „die Leute spüren das nahende Ende des Krieges. Man geht hin, stößt einen vorwärts, jagt ihn aus seinem unterirdischen Versteck, und hast du nicht gesehen, ist er in einem noch etwas sichereren Loch untergetaucht. Niemand will mehr sterben.“
Ich stimmte ihm zu und meinte, es wäre ja natürlich, daß die Menschen vor dem Ende des Krieges den Tod stärker fürchteten. „Nein, ich würde nicht sagen, daß es immer so ist“, widersprach Bondarew. „In der Hitze des Gefechts vergessen sie es.“ „Trotzdem, am Anfang des Krieges haben wir mehr riskiert“, behauptete ich und dachte dabei an mich und daran, wie sehr ich neuerdings den Tod fürchtete. „Aber nein, wie soll ich sagen…“ Auch diesmal war Bondarew nicht einverstanden. „Ich habe in diesem Jahr mal ein Bataillon zum Sturmangriff geführt.“ Er erwähnte das äußerst ruhig, fast beiläufig. „Warum das sein mußte? Die Lage erforderte es. Natürlich war Vorsicht geboten, große sogar. Obwohl ich etwas riskierte, war ich vorsichtig und besonnen, darum ist alles gut ausgegangen.“ Er sagte das so einfach, als plauderte er über ganz alltägliche Dinge, und wenngleich er im Rang eines Generalleutnants stand und den Goldenen Stern eines Helden trug und dazu drei Reihen Ordensspangen, sprach aus ihm der Schwerstarbeiter des Krieges, der Infanterist. Das Essen wurde gebracht, und wir saßen etwa eine Stunde am Tisch. Die Speisen waren schmackhaft; Bondarew trank nichts. „In dieser Hinsicht werde ich Moskalenko immer ähnlicher“, sagte er. „Na ja, dann und wann einen Tropfen Portwein – im allgemeinen trinke ich so gut wie nichts. Wie Moskalenko ,zecht’, haben Sie schon gesehen?“ Ich grinste unwillkürlich, da ich mich eines Falls erinnerte, als Moskalenko, um kein Spielverderber zu sein, Sekt aus einem kleinen Schnapsglas trank, das
er vorher in eine Tasse mit heißem Wasser gestellt hatte. Moskalenko war kehlkopfleidend, und das heiße Wasser sollte den Sekt erwärmen. „Haben Sie den ganzen Krieg an der Front verbracht?“ Diese Frage stellte Alpert, der ausgiebig photographiert hatte, aber zum Mittagessen gekommen war, an Bondarews Frau. „Nein, mit einer Pause – ein Jahr und vier Monate.“ Da hat sie wahrscheinlich ein Kind geboren und gestillt, dachte ich. „Und die übrige Zeit sind Sie zusammen gewesen?“ fragte Alpert. „Ja“, sagte Bondarew, „immer. Sie gibt mir Kraft, sie ist sehr tüchtig.“ „Und überall spürt man das Wirken einer Frau“, bemerkte Alpert. „Das stimmt“, bestätigte Bondarew, „aber alles gestatte ich ihr heute nicht mehr. Früher kam sie bis in die vordersten Stellungen. Mein Aufenthaltsort lag einmal so unter Granatwerferbeschuß, daß ich an der Wand stand und dachte: Na ja, gleich bricht es zusammen, aber dann regte ich mich nur ihretwegen auf. Beim Häuschen war ein kleines Erbsenfeld, und ich sagte ihr: Pflücke Schoten, iß sie! Was hätte ich ihr in dieser Situation sonst sagen sollen, um sie wenigstens ein bißchen abzuschieben?“ Seine Frau trat nett und bescheiden auf. Es gefiel mir, daß sie immer in seiner Nähe war, an der Seite dieses Schwerstarbeiters des Krieges, und selbst wenn sie nicht seine Gattin gewesen wäre, sondern einfach eine Frau, die er liebte, wäre es dennoch ein glückliches Verhältnis, aus dem er an schweren Tagen Kraft schöpfte. Wir sprachen über einen früheren Divisionskom-
mandeur, der am Kursker Bogen dabei gewesen war. „Er ist nicht mehr hier“, erklärte Bondarew und tippte sich an die Stirn, „wurde zur Behandlung eingewiesen.“ Ich erinnerte mich an diesen Divisionskommandeur, einen breiten, hartgesottenen Mann. So hatte ich ihn am Kursker Bogen kennengelernt, und ich sagte, daß er auf mich den Eindruck eines unverwüstlichen Menschen gemacht habe. „Ja schon, in verhältnismäßig ruhigen Augenblikken“, entgegnete Bondarew, „aber wenn es brenzlig wurde, gingen die Nerven durch, dann bekam er Herzanfälle und Weinkrämpfe und wußte später selber nicht, was er geredet hatte. Ich stellte den Antrag, ihn zu entlasten. Er hätte die Division ins Unglück stürzen können, und sich selbst mit. Es kommt eben vor, daß die Psyche eines Menschen streikt, von dem man das nie erwartet hätte.“ Nach dem Essen sah Bondarew genauso müde aus wie zuvor, und ich stand schnell auf. „Wahrscheinlich legen Sie sich jetzt zur Ruhe?“ „Ach nein. Ich bin zwar rechtschaffen müde, aber an Ausruhen ist im Augenblick nicht zu denken. Zunächst sammeln wir die Tagesberichte, geben die Befehle für die nächtlichen Operationen heraus, auch eine Verstopfung auf der Straße ist noch zu beseitigen, ich muß mich wohl selber drum kümmern, dann werden wir weitersehen. Vielleicht findet sich danach wirklich eine Möglichkeit zur Entspannung. Heute habe ich wenig geschlafen“, sagte er zum Abschluß. Wir verabschiedeten uns von Bondarew und fuhren zurück. Auf dem Dorfplatz lag, in eine Zeltbahn
gehüllt, nur noch ein Toter. Alle anderen waren inzwischen beigesetzt. Außerhalb des Dorfes war die Landstraße verstopft, und bei völliger Dunkelheit brauchten wir lange, um durchzukommen. Als wir uns endlich aus dem Knäuel herausgearbeitet hatten, versperrte ein Pferdefuhrwerk die Fahrbahn. „Wohin willst du, verflucht!“ schimpfte vor uns ein Offizier, der in einem anderen „Willys“ fuhr. Der Kutscher entgegnete ihm hitzig mit einem starken – nach meiner Meinung georgischen – Akzent: „Ich fahre nach der Vorschrift, Genosse Offizier, ich fahre nur nach der Vorschrift. Habe warmes Essen nach vorn gebracht. Zurück fahre ich auf der rechten Seite, wie es der Regulierungsposten verlangt hat. Die Worte können Sie sich sparen, Genosse Offizier…“ Der Offizier hatte schon zu schreien aufgehört, dafür kam dem Pferdefuhrwerk ein Lkw von links entgegen. „Na, das ist eine Schlamperei!“ rief der Kutscher aufbegehrend aus. „Eine empörende Disziplinlosigkeit! Warum fährst du auf der linken Seite? Warum hältst du dich nicht rechts? Warum hat dich der Regulierungsposten durchgelassen? Sehen Sie, Genosse Offizier, wie falsch er fährt!“ Als wir dieses letzte Hindernis überwunden hatten, kehrten wir nach Hause zurück, womit ich unser Zimmer bei der Politabteilung der Armee meine. Was soll ich diesen damaligen Aufzeichnungen heute hinzufügen? Wenn ich sie jetzt veröffentliche und damit meinen Besuch beim Kommandeur des mechanisierten Korps beschreibe, so möchte ich seinen
Namen verschweigen. In der Lebensgeschichte jedes Soldaten gibt es trübe Tage und Pechsträhnen, und das Schicksal führte mich zufällig an einem Unglückstag zu ihm, aber ehe seine Pechsträhne begann und er schließlich seines Postens als Korpskommandeur enthoben wurde, hatte er sich in dem großen und schweren Krieg nicht nur einmal hervorgetan. Würde ich seine ganze Biographie erzählen – mit allen ihren Höhen und Tiefen und den schlechten und den guten Tagen – würde ich ohne Hemmungen seinen Namen nennen. Da ich jedoch nur die eine Begegnung schildere, wäre eine Namensnennung ungerecht. Das Vorkommnis hat sich mir besonders fest eingeprägt, denn es steht in krassem Widerspruch zu zahlreichen Episoden, die ich vorher erlebte. Über die Panzertruppe habe ich in verschiedenen Kriegsjahren und von verschiedenen Fronten geschrieben – von der West-, Süd- und Zentralfront, von der 2. Ukrainischen Front. Ich hatte Gelegenheit, sie an Tagen der Niederlage und des Erfolges zu sehen, und je länger der Krieg andauerte, desto stärker überwogen die Eindrücke der Erfolge. Anders konnte es nicht sein. Wie sonst wären wir fähig gewesen, in zweieinhalb Jahren zum Zentrum Europas vorzudringen, nachdem wir uns bis Stalingrad zurückgezogen hatten. Und dennoch stellt auch die Episode mit D. deren Zeuge ich im Frühjahr 1945 wurde, ein Stück reale Kriegsgeschichte dar und gemahnt uns, nicht, zu vergessen, daß der Krieg bis zum letzten Tag restlosen Einsatz und Hingabe verlangte und bei einem Fehltritt Nachsicht nicht gekannt wurde.
Aus der Behauptung General Bondarews, seine Infanterie hätte sich stets vor den Panzern befunden, sprachen bei aller Aufrichtigkeit, mit der sie geäußert wurde, natürlich auch das Engagement für und der Stolz auf die eigene Waffengattung, die Infanterie, die – man mag es drehen und wenden, wie man will – trotz allem das Rückgrat dieses Krieges bildete. Sicherlich sprach der General, als er diese Bemerkung machte, auch aus eigener, realer Erfahrung und dachte dabei an die zwingende Notwendigkeit, unter allen Umständen vorzugehen, ob mit oder ohne Panzerunterstützung, und die Aufgabe gegebenenfalls allein durch die Infanterie und um jeden Preis erfüllen zu lassen. Nun, und schließlich spielt wohl ein wenig der Vergessensfaktor hinein, eine – wie soll ich es nennen – Gedächtnisauswahl. Natürlich hatte auch General Bondarew Fälle kennengelernt, in denen die Panzer vor seiner Infanterie her vorgerollt waren. Ich kann nicht glauben, daß es das in seinem Bereich nie gegeben hätte. Doch bei der Stimmung, in der er sich befand, fielen ihm nicht diese, sondern andere, entgegengesetzte Beispiele ein. Sicherlich muß ich meine damalige Tirade über die Chefs der Panzertruppen der Armeen und Fronten kommentieren. Darin steckt natürlich ein übertriebener jugendlicher Drang zu verabsolutieren. Wenn ich mir heute meine Erlebnisse vergegenwärtige, frage ich mich: Wieviel Menschen habe ich während des Krieges in dieser Dienststellung eigentlich kennengelernt? Faktisch nur sieben oder acht, und wenigstens zwei von ihnen waren willensstarke, energische Leute, die ihre Funktion ernst nahmen und ihr
trotzdem gewachsen waren, so daß meine voreilig angestellte Verallgemeinerung auf sie überhaupt nicht zutrifft. Dennoch enthält meine damalige Behauptung einen wahren Kern. Bis zum Ende des Krieges blieb der Kreis der Rechte und Pflichten der Chefs der Panzertruppen sowohl im Stab einer Front wie auch im Stab einer Armee eine verschwommene Angelegenheit. Wenn der Artilleriechef neben dem Stabschef der Armee gleichsam als rechte Hand des Armeebefehlshabers fungierte, so ließ sich das vom Chef der Panzertruppen in der Regel nicht behaupten, und nur wenn der Oberbefehlshaber der Front oder der Befehlshaber der Armee seine Rolle fixierte, ihn praktisch eigenmächtig mit zusätzlichen Rechten und Pflichten ausstattete und dieser Mensch kraft seiner charakterlichen Qualitäten die erhaltenen Befugnisse sich von niemandem streitig machen ließ, nur dann entsprach seine Tätigkeit der Bezeichnung seiner Dienststellung: Befehlshaber der Panzertruppen. Hier hing in jedem Fall zu vieles nicht nur von der Persönlichkeit des Betreffenden ab, sondern auch davon, welche Bedeutung der Befehlshaber oder der Oberbefehlshaber der Dienststellung dieser Persönlichkeit beimaßen. Unter diesen Umständen ist es nur natürlich, daß die schneidigsten, die energischsten Panzeroffiziere sich in der Regel nicht nach dieser Funktion drängten, sondern ihr eine Kommandeursstelle bei den Truppen vorzogen. Aus dem gleichen Grund geschah es auch, daß erfahrene und verdienstvolle Leute ohne Kommandeursbegabung von sich aus lieber diese an sich
schwierige und mühevolle Tätigkeit in einer manchmal undankbaren Stellung ausübten, als daß sie bei den Panzertruppen eine Kommandeursstelle bekleideten, die stets und ständig mit direkter persönlicher Verantwortung verbunden war – wie man zu sagen pflegte – und nur die eine Alternative kannte, „entweder viel Kreuz an die Brust gesteckt, oder den Kopf in den Busch gesteckt“.
26 Der 14. März 1945 im Tagebuch. Mittags um zwölf nahm mich Alpert in seinem Wagen nach Hinden-burg mit, einer glanzlosen, steingrauen Stadt in Schlesien, der Regen und Nebel so trefflich zu Gesicht standen, daß ich sie mir schwerlich bei Sonnenschein vorstellen konnte. Obwohl mich eine Durchreise schon einmal hergeführt hatte, erfuhr ich erst jetzt, daß Hindenburg 1933 noch ein großes Dorf war und in der gegenwärtigen Gestalt wie kaum eine zweite Stadt als Kind der Hitlerzeit gelten mußte. In diesem Gebiet, das seit jeher zu einem großen Teil von Polen besiedelt war, gaben sich einige Deutsche erdenkliche Mühe, sie zu imitieren. Auch wenn sie nur wenige polnische Brocken beherrschten, waren sie bestrebt, sie bei jeder Gelegenheit anzuwenden. Ich suchte die Kommandantur, hielt an einer Straßenecke und rief zwei ältere Deutsche an den Wagen heran. „Kommandant“, sagte ich. Sie wiesen in eine Richtung und radebrechten dazu in
polnisch-russischem Kauderwelsch. Ich verstand, daß wir geradeaus fahren sollten, daß wir irgendwo abbiegen mußten. Aber wo? „Und weiter – rechts oder links?“ fragte ich auf deutsch. „Weiter?“ wiederholte der eine. „Weiter naprawo.“ Wenigstens dieses eine russische Wort wollte er im Gespräch anbringen. Die Stadt war unzerstört und zwar nicht menschenleer, aber stark entvölkert. Wir fuhren bis zur Kommandantur. Alpert stieg aus, um sich nach dem Kommandanten zu erkundigen, während ich eine Gruppe von Offizieren beim Überqueren der Straße beobachtete: vom Leutant bis zum Oberst waren alle Ränge vertreten. Sie trugen auffallend neue Mäntel, die sie anscheinend frisch empfangen hatten, und sahen so unvorteilhaft aus, wie man es von Leuten gewohnt ist, die erst vor wenigen Tagen eingezogen wurden und sich wie Zivilisten in Uniform ausnehmen, während sie selbst reinen Herzens meinen, sich schon völlig angepaßt zu haben. Ich hielt sie für Ingenieure und Wirtschaftsleiter, die aus Moskau eingetroffen waren, äußerte mich dem zurückkommenden Alpert gegenüber in diesem Sinne und täuschte mich nicht, wie sich später herausstellte. Wir gingen zusammen zum Stellvertreter des Kommandanten und trafen dort einen Oberstleutnant, der ebensolchen funkelnagelneuen Mantel trug. Kaum hatte ich mich vorgestellt, als der Oberstleutnant ausrief: „Konstantin Michailowitsch! Welche Überraschung!“ Sein Gesicht kam mir bekannt vor, aber ich konnte mich beim besten Willen nicht entsinnen, wo ich ihm schon begegnet war. „Sie erken-
nen mich nicht?“ „Nein.“ „Na ja, hier und in dieser Uniform ist das wahrscheinlich auch schwierig. Ich bin Filippow, der Direktor des Theaters der Revolution.“ „Gott sei Dank, jetzt erkenne ich Sie wieder“, sagte ich und versuchte angestrengt, mich zu erinnern, wo ich ihn zuletzt gesehen hatte, in Moskau oder an der Front. „Eine sonderbare Begegnung“, sagte er. „Sehr sonderbar“, gab ich zu. „Sind Sie schon lange hier?“ „Seit dem Ersten. Wir gehören der Kommission General Saburows an.“ In der Ukraine hatte es einen Partisanenkommandeur Saburow gegeben. Ich erinnerte mich, ihn 1943 in Charkow kennengelernt zu haben. Auch wußte ich, daß er jetzt für die Staatssicherheit arbeitete. Als mir das einfiel, betrachtete ich Boris Michailowitsch Filippow neugierig. Warum mochte er vom Theater auf dieses Betätigungsfeld umgestiegen sein? „Der Partisanen-Saburow?“ fragte ich ihn. „Nein. Das ist General Saburow, Stellvertreter Wosnessenskis von der Staatlichen Plankommission. Wir sind in seiner Gruppe.“ „Dann sind das wohl Ihre Leute, die ich auf der Straße mit den gleichen Mänteln gesehen habe?“ fragte ich. „Ja, das sind unsere.“ „Na, dann habe ich sie richtig eingeschätzt“, sagte ich. „Und was machen Sie hier?“ „Ich gehöre zu einer Kommission des Komitees für Kunstangelegenheiten. Die Stradivari dort haben wir heute gefunden.“ Er zeigte mir einen Kasten, der auf dem Diwan lag. Der Kasten war geöffnet, und mir
wurde eine alte Geige vorgeführt. Sie sei bereits geraume Zeit im Lagerraum der Kommandantur untergebracht gewesen und erst heute von dort geholt worden. Auf der Geige stand eine Jahreszahl aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ob es eine echte Stradivari war, entzieht sich meiner Kenntnis, aber schon ihr ehrwürdiges Alter beeindruckte mich. Filippow erzählte mir von seiner Arbeit in den vergangenen beiden Wochen, wobei er mit den verschiedenartigsten – von unangenehmen bis lustigen – Situationen konfrontiert worden war. Am Vortag hatten sie bei Gleiwitz einen Andetthalbtonner angetroffen. Neben dem Fahrer hatte ein großer Affe gesessen. Als sie den Wagen gestoppt und den Fahrer gefragt hatten, wozu er diesen ruhig neben ihm sitzenden Affen mitführe, hatte der Fahrer folgende Geschichte erzählt. In einem Gutshaus hatten unsere Rotarmisten unter allem möglichen verlassenen Gerumpel diesen Affen entdeckt. Da er es ihnen angetan hatte, trieben sie Allotria mit ihm, und ein Soldat rief: „Heil Hitler!“ Zur Antwort erhob der Affe, der abgerichtet sein mußte, die rechte Pfote und erstarrte in einer Pose, die die Faschisten einnehmen, wenn sie „Heil!“ brüllen. Den Soldaten, die über den Durst getrunken hatten, gefiel das nun gar nicht, und sie schrien den Affen nieder, er sei ein Faschist. Niemand weiß, wie die Geschichte ausgegangen wäre, hätte nicht der Fahrer eines vorüberkommenden Anderthalbtonners an seinem alten Wagen eine Panne festgestellt und wäre er nicht ausgestiegen, um sie zu beheben. So aber wurde er Zeuge der Szene, und gegen einen halben Liter seiner eigenen
Schnapszuteilung erwarb er den von den Faschisten verdorbenen Affen und setzte ihn neben seinen Fahrersitz. Der Affe konnte sich glücklich schätzen. Vor dem Krieg hatte der Fahrer in einem Tierzirkus gearbeitet. Als Filippow ihn fragte, ob er den Affen lange mitnehmen wollte, sagte der Fahrer: Ja, und zwar aus folgendem Grund: Sollte sein alter Wagen noch einmal eine Panne haben und stehenbleiben, so daß er wieder jemand um Hilfe bitten müßte, könnte er ohne den Affen lange warten; aber wenn sie neben dem Wagen den Fahrer und neben dem Fahrersitz den Affen erblickten, würden sie natürlich anhalten. „Genau wie Sie, Genosse Oberstleutnant“, sagte er zu Filippow. „Sie haben ja auch gestoppt, und das ist für mich die Hauptsache. Wer anhält, der hilft dann schon.“ Diese Affengeschichte erinnerte mich an eine andere Story, die ich wenige Tage zuvor von Ortenberg gehört hatte. Ich blieb die Antwort nicht schuldig und erzählte sie Filippow. Als Ortenberg einige Tage nach dem Eintreffen unserer Truppen in die Stadt Wadowice gekommen war, sah er auf dem Rathausplatz einen kleinen Wanderzirkus, der abrücken wollte. Dort gab es auch einen Affen, außerdem einen Löwen, einen Tiger und andere Tiere mehr. Etliche Soldaten umringten den Affenkäfig und belustigten sich, indem sie das Tier durchs Gitter mit einer Gerte kitzelten und sich daran ergötzten, wie flink es reagierte, wie es sich dann gewandt hinaufschwang und an den Querstangen turnte. Die beleibte Besitzerin der Tierschau klagte Ortenberg ihr Leid. Erstens seien die Russen so
schnell vorgestoßen, daß sie mit ihrer zwar beweglichen, aber sperrigen Habe die Stadt nicht rechtzeitig habe verlassen können und während des Kampfes um die Stadt dem Feuer ausgesetzt gewesen sei. Außerdem versicherte sie unserem guten Ortenberg, daß sie – der Nationalität nach Tschechin – auch eine tschechische, eine Art nationale Tierschau präsentiere, und sie beklagte sich bitter über den Verlust eines Teils ihres Eigentums. Als nach den ersten Einheiten unsere Troßfahrzeuge in die Stadt gekommen waren, hatte ein Fuhrwerk Achsenbruch erlitten, und die Soldaten hatten kurzentschlossen ein Fahrzeug der Tierschaubesitzerin requiriert. Den Wagen und den Käfig darauf nahmen sie unbesehen mit. Über das Geschick des Tigers in dem Käfig herrschte Ungewißheit. Wahrscheinlich hatten die Soldaten ihn getötet. Ihr übriges Eigentum war unangetastet geblieben, nachdem die gute Frau unseren Soldaten erklärt hatte, daß es sich nicht um eine deutsche, sondern um eine tschechische Tierschau handle. Danach waren sie und ihre Tiere in Ruhe gelassen worden. Während unseres Gesprächs mit Filippow wurde eine Dolmetscherin geholt, ein russisches Mädchen, das aus Taganrog nach Deutschland verschleppt worden war und hier, in Hindenburg, zweieinhalb Jahre gearbeitet hatte. Ich wollte mit ihr die Betriebe aufsuchen, doch zunächst besorgten wir uns eine Bescheinigung von der Kommandantur, und ich fuhr mit Alpert ins städtische Photohaus nach Photopapier.
Im Photohaus wurden nur gegen Vorlage einer schriftlichen Bescheinigung der Kommandantur Aufnahmen angefertigt, und nur auf Veranlassung des Kommandanten erfolgte die Ausgabe von Papier und Chemikalien aus den noch vorhandenen Vorräten. Für die Aufrechterhaltung der Ordnung sorgte außer den beiden im Photohaus arbeitenden deutschen Frauen auch unser diensthabender Posten. Während wir mit den Deutschen verhandelten, unseren Schrieb von der Kommandantur vorzeigten, und während Alpert sein Papier auswählte, schaltete er pausenlos den Plattenspieler ein und legte die Internationale auf. Ich fragte ihn nicht, ob die Schallplatte ihm gehörte oder ob sie die umsichtigen Deutschen hergebracht hatten, aber als ich am Abend in die Kommandantur ging, hörte ich durch die geschlossenen Türen noch die lauten Klänge der Internationale. Alpert erhielt sein Photopapier, und wir fuhren die Betriebe ab. Die eine Fabrik stellte Brückenträger her, eine andere produzierte gleichfalls Brückenteile, die dritte fertigte kleine Lokomotivkessel, außerdem Trossen verschiedener Stärke und Minenräumgeräte. In zwei Werkhallen lief die Arbeit auf vollen Touren. Die hier eingesetzten Männer waren, abgesehen von einigen Invaliden – Kriegsversehrten –, durchweg im fortgeschrittenen Alter, zwischen fünfundfünfzig und fünfundsechzig. Die meisten Personen an den Maschinen waren jedoch Frauen, jüngere und ältere. Ich fragte die Dolmetscherin, die selbst in diesem Betrieb arbeitete, wann die Deutschen mittlerer Jahre aus der Produktion abgezogen worden seien. Sie
erwiderte, schon vor zweieinhalb Jahren, als sie ihre Tätigkeit hier aufgenommen habe, seien Männer zahlenmäßig schwach gewesen und danach immer weniger geworden. Seit anderthalb Jahren gebe es Männer im wehrdienstpflichtigen Alter so gut wie gar nicht mehr, außer den frontdienstuntauglichen Heimkehrern und Invaliden. Im letzten Jahr hätten Altersrentner und fünfzehnjährige Kinder den Dienst angetreten. „Auch Sechzehnjährige?“ fragte ich. „Sechzehnjährige wurden hier nicht eingestellt, die sind zur vormilitärischen Ausbildung gekommen.“ Als ich das hörte, erinnerte ich mich an ein Bild aus einem illustrierten Hitlerbuch, das ich inmitten einer Unmenge erbeuteten Plunders entdeckt hatte. Unter dem Photo stand eine kurze Notiz: „Trommler der Nation“. Auf einer gewaltigen, sehr breiten und sich endlos aufwärts ziehenden Treppe standen Hunderte von Jungen, Mitglieder der „Hitlerjugend“, und bearbeiteten das Kalbsfell. Sie trommelten versessen, hoch erhobenen Hauptes, verbissen. Wahrscheinlich war ihnen eingetrichtert worden, was sie für eine Miene bei der Aufnahme zur Schau zu tragen hätten. Nachdem ich die Gesichter studiert hatte, blätterte ich in dem Buch und sah mir das Datum an. 1934, das zweite Jahr nach der Machtergreifung Hitlers. Noch einmal betrachtete ich das Bild, und dabei ging mir durch den Kopf, daß diese Jungen, die auf dem Photo aus dem Jahre 1934 die Landsknechtstrommel rührten und damals dreizehn, vierzehn, fünfzehn waren, sieben Jahre später den Kern der Aggressionsarmee bildeten. Sie wurden zu einer Hauptstütze Hitlerdeutschlands, und wenn wir einmal zeigen wollten,
womit der Krieg begonnen hatte, dann sollten wir klarstellen, daß hier der Anfang lag. Diese Kinder, die damals das Trommeln erlernten, konnten bis an ihr Lebensende nicht mehr umerzogen werden. Nach der Rückkehr aus den Betrieben wollte ich eine deutsche Familie aufsuchen, um mit den Leuten zu sprechen. Der Stellvertreter des Kommandanten kam mir entgegen und bestellte einen ortsansässigen Deutschen namens Sauer und einen Dolmetscher zu sich. Nach fünfzehn Minuten trafen sie beide ein. Der deutsche Dolmetscher, ein alter Mann, sah auffallend russisch aus. Er trug eine Brille und glich einem betagten Bankangestellten. Die russische Sprache beherrschte er nicht schlechter als ich. Er sprach völlig akzentfrei und bezeichnete sich als Wurstmacher, der einige Jahrzehnte in Rußland gelebt hatte. Der andere, Sauer, war groß und hager, stark entkräftet. Mit seinen eingesunkenen Wangen und seinem schwermütigen Blick ähnelte er einem erfolglosen Literaten, der jahraus, jahrein die Redaktionen abklappert und davon träumt, entdeckt zu werden. Über Sauer hatte ich schon einiges erfahren, bevor er in der Kommandantur auftauchte. Nach seiner Darstellung war er in der Vergangenheit Mitglied der KPD gewesen, hatte eine Zeitlang in Lagern gesessen und sofort nach unserem Einrücken beschlossen, in Hindenburg eine neue deutsche Macht zu organisieren. An einem einzigen Tag hatte er eine ganze Kanzlei mit annähernd hundert Beamten und Stenotypistinnen aus dem Boden gestampft. Der Kommandant vertrat in dieser Hinsicht allerdings
andere Auffassungen. Er betrachtete sich für den Augenblick mit Recht als den einzigen legitimen Träger der Macht in der Stadt und entließ schon in den ersten Stunden den anderen, gerade erst geschaffenen Apparat. Jedoch die Frage, wer Sauer wirklich war, blieb zunächst offen. Dann wurden seine Angaben bestätigt. Er hatte der Kommunistischen Partei angehört und in einem Konzentrationslager gesessen. Darüber hinaus hatte er vor dem Eintreffen unserer Truppen einige Funker aufgenommen und versteckt. Jetzt gehörte er zu den Leuten, die im Stadtgebiet entscheidend dazu beitrugen, daß die Befehle unserer Kommandantur ausgeführt wurden. Dennoch war es angesichts der ganzen Situation keineswegs so einfach, sich ein Urteil über ihn zu bilden, wie es auf den ersten Blick schien. Wollte man leugnen, daß es in Deutschland Leute gab, die die Naziherrschaft haßten und bekämpften, käme das der Behauptung gleich, das ganze deutsche Volk habe das Hitlerregime vorbehaltlos und ohne Einschränkung unterstützt. Das dürfte jedoch kaum den Tatsachen entsprechen. Zu bestreiten, daß während der Naziherrschaft Zehntausende von Deutschen in den Konzentrationslagern schmachteten, würde heißen, für die Deutschen habe es überhaupt keine Konzentrationslager gegeben, und der Hitlerterror habe sich nicht auch nach innen gerichtet, was ebenfalls unrichtig wäre. Wenn all das aber zutrifft, dann existiert hier in Hindenburg wirklich ein eingefleischter Feind des Hitlerregimes, ein Widerstandskämpfer des antifaschistischen Untergrunds, und in einer anderen Stadt
existiert vielleicht ein anderer Sauer? Doch daneben gibt es einen anderen Untergrund, und der Kampf, den Deutsche in den von uns besetzten Gebieten zweifellos aufgenommen haben, beschränkt sich sicherlich nicht auf Diversions- und Terrorakte, sondern wird natürlich auch in feineren Formen geführt und bedient sich bestimmter Methoden der Tarnung. Das ist um so wahrscheinlicher, als die NSDAP vor der Machtübernahme hinreichende Erfahrungen sammeln konnte und vom Zeitpunkt ihrer Gründung an immer den Charakter einer militärischen Partei mit strenger Disziplin getragen hat. Aus diesem Grunde begegnete man Sauer zwangsläufig nicht ohne Mißtrauen. Die Tätigkeit dieses Mannes konnte ja eine Form des Kampfes gegen uns darstellen, und die Losungen „Es lebe die Revolution!“ und „Es lebe die Internationale!“ waren vielleicht Finten und dienten ebenso zur Täuschung wie die roten Fahnen, die beim Einmarsch unserer Truppen anstelle der weißen an den Fenstern aufgetaucht waren? Auch mir fiel es schwer, eindeutig zu sagen, was für ein Mensch Sauer wirklich war, obwohl ich einige Stunden lang Gelegenheit hatte, ihn mir näher anzusehen. Rein persönlich schien er tatsächlich ein Gegner des Hitlerregimes zu sein, und im übrigen – weiß der Himmel… Ich ließ ihn über den Dolmetscher wissen, daß ich Korrespondent war. Ich wolle ein objektives Bild von der Stimmung unter den hiesigen Deutschen gewinnen. Darum möge er mal überlegen, welche geeignete Familie er mir nennen könne. Sie solle nicht wohlhabend, aber auch nicht zu
arm sein, und ihre Mitglieder dürften früher weder der Kommunistischen noch der faschistischen Partei angehört haben. Dabei solle nach Möglichkeit ein Sohn an der Front, ein Mann aber auch zu Hause sein. Sauer dachte lange nach, ging im Geist einige Familien durch, und schließlich nannte er drei Familien zur Auswahl, die eines Arztes, eines Arbeiters und eines Fleischers. Ich entschied mich für den letzten der drei Vorschläge. Sauer führte uns zu einem Haus, das er vor uns betrat, um unseren Besuch anzukündigen. Über einen dunklen Korridor gelangten wir in einen Raum, der früher einmal als Gesellenstube gedient oder zur Fleischerei selbst gehört haben mochte. Es war ein großes, finsteres Zimmer mit einem Öfchen und zwei Betten, zwischen denen ein großer Tisch stand. Alles sah höchst dürftig und armselig aus. Ich glaube nicht, daß es sich um das eigentliche Wohnzimmer des Meisters handelte, zumal ihm das ganze, zwar verhältnismäßig kleine, aber immerhin zweistöckige Haus gehörte, das er von seinem Vater geerbt hatte. Der Grund, weswegen er uns hier empfing, war mehr als durchsichtig. Während die einen Deutschen rote Fahnen heraushängten, zogen die anderen in Gesindestuben um. Auf dem Bettrand am Tisch saß ein klassischer alter Deutscher mit Bierbauch. Er sah genau so aus, wie ich ihn mir seit meiner Kindheit immer vorgestellt hatte: graue Hindenburgbürste, grauer, aufgezwirbelter wilhelminischer Schnurrbart, darauf herabhängend eine rötliche Trinkernase, zugleich aber betont männlich, mit einem Rest soldatischer Straffheit, die er sich trotz Alter und Körperfülle bewahrt hatte.
Er trank aus einer großen weißen Tasse schwarzen Kaffee – ohne Zucker, seiner Miene nach zu urteilen. Außer dem Hausherrn waren noch zwei Frauen anwesend, eine alte, dicke, wahrscheinlich seine Gattin, eine ziemliche Schlampe mit speckigem Kleid, und eine achtundzwanzigjährige in schwarzem, kurzärmeligem Kleid und Pantoffeln an den nackten Füßen. Sie war schwarzhaarig und hatte vorstehende Jochbeine, was ihr ein leicht mongolisches Aussehen verlieh. Wie ich erfuhr, war sie die Frau eines Gesellen, der in der Fleischerei arbeitete. Bei unserem Eintreten stand der Alte auf und grüßte militärisch, alle fünf Finger ausgestreckt. Wir setzten uns, ich bot ihm eine Zigarre an und steckte mir selbst eine an. Der Dolmetscher sagte, mich interessiere ein objektives Bild vom Leben verschiedener Vertreter der deutschen Bevölkerung, uninteressant seien sein Vor- oder Familienname, wenn ich über ihn schriebe, würden sie nirgends erwähnt werden, ich hätte aber die Bitte, alle meine Fragen, die ich nicht als Vertreter der militärischen Besatzungsmacht, sondern ausschließlich als Schriftsteller und Journalist an ihn richte, offen zu beantworten. Trotz dieser Worte machte der Alte zuerst Ausflüchte und trachtete den Eindruck zu erwecken, als stände er links von sich selbst. Er sei immer gegen Hitler gewesen, habe sich stets nur für die Wurstherstellung interessiert und lediglich seine Fleischerzeitung abonniert. Auf eine meiner ersten Fragen, ob er die Aufhebung der Versailler Beschränkungen für das Rheinland und den Wiederanschluß des Saargebietes an Deutschland nicht als gerecht empfunden habe, antwortete er
prompt, er lebe hier in Schlesien und interessiere sich nur für schlesische Angelegenheiten. Ein wenig gelang es mir aber doch, ihn aus der Reserve zu locken. Ob er im ersten Weltkrieg Soldat gewesen sei. Ja, er habe als Feldwebel gedient, an der Westfront, in Frankreich gestanden, sich 1917 eine Gasvergiftung zugezogen und das Eiserne Kreuz erhalten. Langsam und vielsagend klopfte er sich den Nacken: Bitte schön, mit meinem Buckel habe ich das Kreuz erworben. Nach der Gasvergiftung sei er in die Reserve entlassen worden. Bis 1919 habe er mit Fleisch gehandelt. Als dann, 1919, sein Vater starb, sei dieses Haus und die Fleischerei in seinen Besitz übergewechselt. Fünf Gesellen habe er beschäftigt, aber er sei eben nicht nur Wurstproduzent, sondern auch Fleischhändler, habe in den Dörfern Fleisch aufgekauft, einen Teil zu Wurst verarbeitet, den Rest jedoch auch in , seinem Fleischerladen verkauft. Schließlich wandte ich mich der jüngeren Vergangenheit zu und fragte nach den letzten Reichstagswahlen von 1932 und 1933. Zuerst winkte der Alte bloß ab und wiederholte, gegen Hitler zu sein. Etwas anderes war aus ihm nicht herauszuholen. Dann bat ich, ihm zu übersetzen, daß ich durchaus nicht jeden Menschen für einen Faschisten halte, der irgendwann einmal in Deutschland für Hitler gewesen sei. Ich räume sogar ein, Hitler habe in einem begrenzten Zeitraum für Deutschland auch, etwas Nützliches getan – die Arbeitslosigkeit beseitigt, die Wirtschaft angekurbelt… Ungeachtet dessen, was
später geschehen sei, könne ich nicht in allen Deutschen Faschisten sehen, die anfangs mit Hitler einig waren. Als Antwort hierauf sagte der Alte, wenn er damals nicht gegen Hitler gewesen sei, habe er ihm gegenüber doch. Neutralität bewahrt und seine Stimme nicht der Nationalsozialistischen Partei gegeben. Nach weiteren Fragen erklärte er, bei den letzten Reichstagswahlen für das katholische Zentrum gestimmt zu haben. „Ich bin Katholik“, sagte er in gebrochenem Polnisch – schon vorher hatte er mehrfach versucht, zu dieser Sprache überzugehen, wahrscheinlich in der Annahme, daß ich ihn dann ohne Dolmetscher verstehen würde. „Katholik“, wiederholte er und bekreuzigte sich. Mir erschien es glaubhaft, daß er wirklich Katholik war und die Wahrheit sagte, als er behauptete, nicht Hitler, sondern die katholische Zentrumspartei gewählt zu haben. „Na gut“, sagte ich, „aber als Hitler an die Macht kam und sein Programm der Revision des Versailler Vertrages auf den Tisch legte – wie haben Sie sich da verhalten?“ Er sei Fleischer, wiederholte er, und lebe hier, in Schlesien… Da sagte ich ihm noch einmal, daß mir als Ausländer die ersten nationalen Forderungen, die nach Hitlers Machtantritt gestellt wurden – Änderung des Rheinstatus und Rückgabe des Saarlands – anfänglich im wesentlichen als gerecht erschienen waren, und diese Wiederholung der Beteuerung verfehlte ihre Wirkung nicht. Ja, gab der Alte zu, damals habe er die Maßnahmen ebenfalls als gerecht emp-
funden und ihnen zugestimmt. Er ging so weit, zuzugeben, daß er nicht nur den Krieg gegen Polen, sondern auch den Frankreichfeldzug gebilligt und die Rückkehr von Elsaß und Lothringen mit Freude empfunden habe. „Aber danach habe ich aufgehört zu glauben“, sagte er. „Woran glaubten Sie danach nicht mehr?“ „Daran, daß auch weiter alles klappt.“ „Warum?“ „Ich bin ein alter Soldat.“ Das wiederholte er mehrmals, daß er ein alter Soldat sei und aus diesem Grunde nicht glauben könne. „Aber das ist doch kein Grund, nicht zu glauben?“ fragte ich. Eine Weile schwieg er, dann griff er zur Wasserkaraffe und vergoß eine kleine Lache auf dem Tisch. „So, das ist Deutschland“, sagte er. „Es kann nicht den ganzen Tisch überschwemmen. Wir haben uns übernommen. Das sage ich als alter Soldat.“ Es bereitete ihm offenbar Vergnügen, sich als alten Soldaten zu bezeichnen, und er meinte wohl, dadurch mein Mitgefühl zu gewinnen. Von der Politik wechselte ich zu persönlichen Fragen und seinem Gewerbe über, indem ich mich erkundigte, welche Neuerungen Hitler nach der Machtübernahme eingeführt habe. Der Alte erzählte etwa folgendes: Als Hitler an die Macht kam, ging er sofort daran, die „Preisschere“ zwischen landwirtschaftlichen Produkten und Industriewaren zu beseitigen. Gleichzeitig wurden die Verkaufspreise für Fleisch und Fleischerzeugnisse so geregelt, daß sich der Profit bei einem bestimmten und unveränderten
Umfang der Wurstproduktion auf etwa fünfundzwanzig Prozent belief und es keine erheblichen Schwankungen gab. Ich fragte den Alten, wie hoch der Gewinn war, den er vorher erzielt hatte. Etwa dreißig Prozent lautete die Antwort. Dahinter schien sich eine erste konkretere Unzufriedenheit mit Hitler zu verbergen. Im Verlaufe unseres weiteren Gesprächs wurde jedoch klar, daß er diese kommerzielle Verschlechterung nur als vorübergehende Erscheinung betrachtete, genau so, wie die Sache auch amtlicherseits dargestellt wurde. Darin lag ja die Stärke der Agitation Hitlers. Wenn er ein relativ ausgewogenes Lohnsystem einführte, so behauptete er, es handle sich um eine zeitweilige Maßnahme, die im Interesse der wirksamsten Vorbereitung des Landes auf die Vergeltung nötig wäre. Wenn er die Preise festlegte, führte er die gleiche Begründung an. Da sich der Lebensstandard dabei nicht hob, sondern im Gegenteil sank, wurde die Losung „Kanonen statt Butter“ ausgegeben, und hinter dieser Losung stand eine zweite, die nicht mit dieser Offenheit publiziert, aber den Leuten hartnäkkig eingehämmert wurde: Diese Kanonen statt Butter, von denen wir jetzt reden, werden euch in der Folgezeit mehr Butter bringen! Es wurde nicht schlechthin zur Geduld und zur Arbeit aufgerufen, nicht schlechthin dazu, die Pflicht zu erfüllen und zum Wohle des Vaterlandes zu schaffen, sondern um die Vergeltung vorzubereiten, denn die Vergeltung sollte später der ganzen deutschen Nation zugute kommen. Und dieser Faschismus, wie ich ihn jetzt begriff, war
mit seiner sozialen Demagogie weitaus gefährlicher und eine ernstere Bedrohung, als er mir seinerzeit auf der Universitätsbank gedünkt hatte. Bevor die Deutschen ihre Kriegsserie begannen, wurde ihnen für später ein Leben in Reichtum verheißen. Im Frieden noch wurden sie auf das jüdische Kapital und überhaupt auf die Juden im eigenen Lande gehetzt. Jüdische Betriebe, jüdische Geschäfte, jüdische Häuser, jüdische Ersparnisse unterlagen der Beschlagnahme, wobei ein gewisser Teil der eingezogenen Werte ohne Zweifel auch dem sogenannten einfachen Volk zufiel. Im wesentlichen sollte nach diesem System später mit der ganzen eroberten Welt verfahren werden. Der Faschismus hatte den Kapitalismus im eigenen Lande nicht beseitigt und folglich die Lage des werktätigen Teils der Bevölkerung nicht durch eine Neuverteilung der Reichtümer innerhalb der Nation verbessert, aber die jenseits der Landesgrenzen gemachte Beute sollte zur Bereicherung aller dienen. So groß der Anteil sein mochte, der im Verlaufe der Raubfeldzüge in die Taschen der höchsten, herrschenden Kreise wanderte, ein immerhin noch beachtlicher Teil floß auch der deutschen Nation als Ganzes Zu. Das muß man wissen, weil man sonst nicht begreifen kann, wie der Hitlerfaschismus in Deutschland zu solcher Popularität gelangen konnte. Wenn sich der Hermann-Göring-Konzern die Skoda-Werke einverleibte und der werktätige Teil der deutschen Bevölkerung hieraus keinen spürbaren Nutzen zog, so wurden das Vieh, das Getreide, die Butter, der Speck aus der Ukraine natürlich nicht
allein von den Kapitalisten verzehrt, ebensowenig wie polnische Ländereien ausschließlich an Gutsbesitzer übergeben wurden. Überhaupt war Hitler bestrebt, die sozialen Probleme im eigenen Land auf ein Mindestmaß zu beschränken und die werktätigen Elemente der Nation für alles, was sie bei sich zu Hause nicht bekamen, mit erbeutetem und geraubtem Gut aus anderen Ländern zu entschädigen. Hitler erreichte es, daß alle mit der Kriegsvorbereitung verbundenen Entbehrungen im Bewußtsein der Deutschen als vorübergehende Sparmaßnahmen aufgefaßt wurden und daß sie die Aufhebung der Beschränkungen und die Erhöhung ihres Lebensstandards einzig und allein von einem siegreichen Ausgang des Krieges abhängig machten. So wurde die Bevölkerung des gesamten Staatsgebietes bei der Suche nach einem besseren Leben von der Lösung der inneren sozialen Fragen abgelenkt und darauf orientiert, ein besseres Leben durch die Lösung nationaler und territorialer Fragen auf einem höchst aggressiven Wege zu erreichen. Nehmen wir einmal an, Hitler hätte das Unmögliche möglich gemacht und ganz Europa – auch uns – unterworfen. Wenn dieses Unmögliche eingetreten wäre, dann hätte eine neue Sklavenhalterordnung ihren Einzug gehalten. Einige dutzend Millionen Deutsche würden unabhängig von ihrer Stellung im eigenen deutschen Staat sich zu Herren über Hunderte Millionen Menschen anderer Nationalitäten aufschwingen und offen oder versteckt zu ihren Sklavenhaltern werden. Im Herbst 1941 glaubten sehr viele Deutsche, daß die praktische Verwirkli-
chung dieser Idee unmittelbar bevorstehe. Alles, was ich bisher im Krieg gehört und gesehen hatte, zeigte mir eindeutig, daß die ganze Hitlerpropaganda von A bis Z auf den primitivsten und finstersten Instinkten fußte, die in der menschlichen Psyche schlummern. Jeden geheimen Winkel der menschlichen Seele spürte Hitler auf und mißbrauchte ihn für seine Zwecke. Zweifellos war nicht jeder Deutsche ein Anhänger der Rassentheorie, aber wenn man die Vorgänge begreifen will, stelle man sich einmal folgende fiktive Situation vor. Nehmen wir die Bewohner irgendeiner Stadt und erklären wir ihnen, daß alle, die in einer bestimmten Straße und in einem Haus mit einer Nummer aus der Fünferreihe wohnen, die besten Menschen der Welt seien. Ihnen sei alles erlaubt, sie müßten herrschen und die Bewohner sämtlicher übrigen Häuser hätten sich zu unterwerfen und ihnen alle ihre Habe oder wenigstens den größten Teil davon abzutreten. Wenn wir das den Bewohnern der Häuser mit einer Fünferreihe sehr nachdrücklich eintrichtern, wenn wir es ein, zwei, drei Jahre lang wiederholen und ihnen immer wieder einreden, daß sie nur an diese Herrentheorie zu glauben und sie zu unterstützen brauchen, um letzten Endes die Möglichkeit zu erhalten, sich sämtliche anderen Einwohner zu unterwerfen, dann könnten die niedrigsten menschlichen Instinkte schließlich triumphieren. Unter dem Einfluß dieser Herrschaftspropaganda fühlen sich die Bewohner der Häuser Nummer fünf, zehn und so weiter irgendwann einmal berechtigt, die Bewohner der anderen Häuser mit Waffengewalt zu unterwerfen,
denn zu diesem Zeitpunkt halten sie sich bereits für Wesen einer höheren Ordnung als die Leute ihrer Umgebung. Ähnlich wie in dieser erdachten Konstruktion sehe ich das, was unter Hitler in Deutschland geschah. Diese Manipulation wurde durch andere psychologische Faktoren unterstützt. Ich denke zum Beispiel an die Papiere der gefallenen Deutschen, die ich in den verschiedenen Zeiten des Krieges gesehen habe. Dabei fiel mir auf, daß sich unter den einfachen deutschen Soldaten sehr viele Söhne Großindustrieller, Kauf leute, Ladenbesitzer und sonstiger Unternehmer befanden. In dieser Beziehung wurde für das Land insgesamt eine ziemlich strikte Gleichheit durchgesetzt. Ein übriges tat ohne Zweifel die zweihundertprozentige Propaganda, die diese Tatsache noch übertrieb. Diese verstärkte Propaganda von der äußeren Gleichheit, der gleichen Rechte und Anstrengungen für alle Bewohner des deutschen Reiches, verfolgte einen bestimmten Zweck. Hitler wollte erreichen, daß sich die deutsche Nation als einheitliches Ganzes fühlte und als einheitliches Ganzes für alles geradestehen mußte. Das Rezept ist einfach: Wer du auch bist, Arbeiter oder Kapitalist, die materielle Einbuße trifft alle gleich, du gibst deine Kinder wie jeder andere für die Front und verlierst, ihr alle verliert sie gleichermaßen im Krieg, dafür habt ihr gleichen Anspruch auf Wohlergehen nach dem siegreichen Ende dieses Krieges, und als seine gleichen Teilnehmer werdet ihr für den Fall einer Niederlage alle das gleiche Schicksal erfahren und umgebracht.
Hitler war bestrebt, der deutschen Nation das Gefühl einzuimpfen, gegenüber den anderen Nationen, die sie bekriegte, eine höhere Klasse von Ausbeutern zu sein. Und nach den ersten Kriegs Jahren trat die deutsche Nation in ihrer Gesamtheit bekanntlich als Klasse auf, die die von ihr unterworfenen Völker Europas tatsächlich hochgradig ausbeutete. Das alles ging mir durch den Kopf, während wir mit dem alten deutschen Fleischer sprachen. Gerührt und wohlwollend gedachte er des Anschlusses von Elsaß-Lothringen, den er gebilligt hatte. Zugleich behauptete er steif und fest, nach Beginn des Krieges gegen Rußland Hitlers Außenpolitik nicht mehr gutgeheißen zu haben. Das wiederholte er mehrmals. Dann erinnerte ich ihn an eine Rede, die Hitler anläßlich der Kriegserklärung an uns gehalten und in der er gesagt hatte, der Krieg gegen Rußland wäre ein aufgezwungener, ein Präventivkrieg, und wenn er ihn jetzt nicht begänne, dann würde ihn in einigen Monaten Rußland beginnen. Ich fragte den Alten, ob er diese Worte Hitlers damals geglaubt habe. Nein, sagte er, das habe er nicht. Warum nicht, fragte ich ihn. Wieder führte er an, er sei ein alter Soldat, und so große Mühe ich mir gab, mehr aus ihm herauszubekommen – er konnte mir nicht erklären, weshalb er Hitler damals nicht abgenommen hatte, daß es sich um einen Präventivkrieg gegen Rußland handelte. Ich glaube, er heuchelte ein wenig und verschwieg mir vorsichtshalber das eine oder das andere. Die Vor-
sicht hinderte ihn jedoch nicht, auch anderen Gedankengängen zu folgen, als er sich die Vergangenheit ins Gedächtnis rief. Ob er wollte oder nicht, er sprach wie ein Mensch, der den ganzen für Deutschland scheinbar so erfolgreich begonnenen und im weiteren Verlauf sich so ungünstig entwikkelnden Krieg als direkter Zeuge miterlebt hatte. Heute war er ehrlich der Meinung, dieser Krieg wäre lieber nicht angefangen worden. Ich stellte mir vor, wie die Deutschen diese Frage damals betrachtet hatten, und dachte, daß sich 1941 zwei extreme Standpunkte gegenübergestanden haben mußten. Nur ein Deutscher, der sich von Hitler niemals hatte umgarnen lassen, der sich sowohl der Rassentheorie wie auch der Theorie des Herrenstaates wie der Theorie der Weltherrschaft verschlossen hatte, nur jener Deutsche, der sich nie hatte Sand in die Augen streuen lassen und ein gutes Leben auf Kosten der versklavten Völker im übrigen Europa ablehnte, konnte einen Krieg gegen Rußland ebenso bewußt und konsequent wie jeden anderen von Hitler beabsichtigten Krieg ablehnen und darüber hinaus gegen Hitler und alles auftreten, was mit ihm zusammenhing. Der zweite, nicht minder extreme Standpunkt war der. Ein Deutscher, der A gesagt hatte, einmal für Hitler eingetreten war, mitgeholfen hatte, die Tschechoslowakei zu besetzen, Polen zu bezwingen, Frankreich zu besiegen, mußte jetzt auch B sagen und meinen, Hitler tue recht daran, nunmehr in Rußland einzufallen. Selbstverständlich konnte er dabei die Auffassung vertreten, der Führer habe einen zu frü-
hen oder zu späten Zeitpunkt gewählt, möglicherweise schlotterten ihm die Knie, verspürte er Herzbeklemmungen, wenn er sich die Perspektive ausmalte, diesen Krieg vielleicht selber mit dem Leben zu bezahlen – grundsätzlich jedoch mußte er die Handlungsweise seines Führers billigen. Nicht nur, weil Sowjetrußland direkter als irgendein anderer Staat für den Fortbestand der Menschheit eintrat, nicht nur, weil seine Ideologie der Weltanschauung vom Herrenstaat diametral entgegengesetzt war, sondern nicht zuletzt darum, weil er die Existenz eines mächtigen, unbesiegten Rußlands neben dem geknechteten Europa für Hitlerdeutschland eine gefährliche Lage schuf, in der zwar A, aber noch nicht B gesagt ist. Diese oder ähnliche Überlegungen stellte ich an, als ich bei dem Alten in der Wohnung saß und mit ihm sprach. Sei es nun, weil ich ruhig sprach, sei es, weil ich die Änderung des Rheinstatuts für gerecht hielt, ebenso die Rückkehr der Saar, sei es, weil er in meiner Gesellschaft bereits drei Zigarren geraucht hatte – jedenfalls wurde er zunehmend aufgeschlossener und antwortete mir immer bereitwilliger. Seine Offenheit ging so weit, daß er mir völlig ungehemmt erzählte, Ende 41, das ganze Jahr 42 und zu einem großen Teil noch 43 habe er in der Hauptsache ukrainisches Vieh verarbeitet. Fast ein wenig vorwurfsvoll fügte er hinzu, die Tiere seien aber recht mickrig gewesen. Ich verstand nicht ganz und fragte, ob es sich um Schweine gehandelt habe. „Nein“, sagte er, „Schweine und Schafe gingen nach Berlin, wir haben Rindfleisch verarbeitet, aber das
war mickriges Vieh. Großes Hornvieh, aber dürr.“ Hätte ich mich danach zu Beginn unseres Gesprächs erkundigt und ihm jedes Wort wie mit der Zange aus dem Mund gezogen, wäre er trotzdem nicht bereit gewesen, die Verarbeitung ukrainischen Rindviehs zuzugeben. Da saß ich nun diesem Deutschen gegenüber, betrachtete ihn, wie ich noch nie einen Menschen betrachtet hatte, sah ihn an und wußte nicht, wie es weitergehen sollte. Diese Unsicherheit war neuerdings eine meiner hervorstechenden Eigenschaften. Jeden einzelnen Deutschen betrachtete ich ohne besonderen Haß, ich sprach zu ihm als Mensch zu Mensch, wie ich es gewohnt war, aber sobald ich darüber nachdachte, was geschehen war und was geschehen wäre, wenn sie uns besiegt hätten, zerbreche ich mir den Kopf. Tatsächlich, wie soll es weitergehen? Was soll aus ihnen werden? Daß sie so bleiben können, wie sie unter Hitler waren, ist völlig ausgeschlossen. Was also tun? Da bin ich nun heute in den Betrieben gewesen und habe mir die alten deutschen Arbeiter angesehen. Ausgemergelte, müde, traurige Gestalten, sechzigjährig. Natürlich erwecken sie an und für sich keinen Haß. Aber wie verkrafte ich den Gedanken, daß diese selben Leute Hitler mit ihrer Arbeit geholfen haben – Hitler, der uns in Vieh verwandeln wollte? Natürlich wäre es auch unsinnig, anzunehmen, die Deutschen hätten alles Menschliche verloren. Das ist durchaus nicht der Fall. Füreinander, für den Umgang mit anderen Deutschen, haben sie sich absolut alle normalen menschlichen Gefühle bewahrt, und unter
ihnen gibt es vermutlich nicht mehr Sadisten oder geborene Mörder als in jedem anderen Volk, sondern sogar recht viele gutmütige, sentimentale, weiche Menschen, jedoch nur im Verkehr mit Menschen, also mit Deutschen. Und das Schlimmste ist, daß sie sich während des Krieges daran gewöhnt haben, uns außerhalb des Wirkungsbereiches aller menschlichen Gesetze zu stellen. Niemand bezeichnet jemanden als Sadisten, wenn er von den acht Welpen, die eine Hündin geworfen hat, sechs ersäuft. Doch im faschistischen Deutschland wurde der Versuch unternommen, diese Prozedur auf uns, die Menschen jenseits der Staatsgrenzen, zu übertragen. Bei einem Sieg hatten die Deutschen vor, mit den Angehörigen anderer Nationen umzuspringen wie mit Welpen und alle, die ihnen nicht genehm waren, einfach abzuschaffen. Jetzt ist ihnen diese Möglichkeit genommen, der Faschismus hat seine Grundlage verloren, und der Deutsche tritt mir wieder als völlig normaler Mensch entgegen. Dennoch will und kann ich mich des Gefühls nicht erwehren, daß er uns ersäufen würde, wenn er es könnte. Daher drängt sich also wirklich die Frage auf, was soll man nun mit ihnen machen. Es war schon später Nachmittag, als ich mich verabschiedete. Der Alte wurde rührselig und bedauerte, daß er mir keinen Kognak hatte anbieten können. Vorher hatte ich mich nach seinen Söhnen erkundigt. Der ältere habe sein Medizinstudium nicht beendet, sei als Feldscher an der Ostfront gewesen und im Juli 1944 bei Witebsk gefallen. Der jüngere, von Beruf Fleischer wie der Vater, stehe als Soldat am Rhein.
Beide seien einmal in neun Monaten auf Urlaub gekommen. „Was haben sie Ihnen so vom Krieg erzählt?“ fragte ich. Der Alte winkte ab. „Mein Ältester war ein ruhiger Vertreter wie Sie, Herr Offizier. Als er auf Urlaub gekommen war, saß er da und stützte den Kopf auf – so, sehen Sie.“ Er zeigte mir, wie sein Sohn die Wange in die offene Hand gelegt hatte. „Und wenn ich ihn aufforderte, mir zu erzählen, was da bei ihnen so los sei, antwortete er: ,Vater, du bist doch selbst Soldat. Wozu stellst du mir solche idiotischen Fragen?’“ Links von dem alten Mann saß seine Frau auf einer Truhe. Sie war ergraut und hatte ein volles Gesicht, das noch Spuren einstiger Schönheit trug. Die Hände über dem Bauch gefaltet, sah sie ihren Mann die ganze Zeit unverwandt und besorgt an. Offenbar fürchtete sie, er könne ein Wörtchen zuviel sagen. Nur ganz allmählich entspannte sich ihr Gesicht beim friedfertigen Ton unserer Unterhaltung. Doch so friedlich unser Gespräch auch wirkte – ich spürte, wie die beiden alten Leute erleichtert aufatmeten, als ich mich erhob, dem Mann für sein offenherziges Gespräch dankte und ihm sagte, es sei spät, ich wolle nicht länger stören, und wir würden uns sicherlich einmal wieder treffen. Der Alte stand gleichfalls auf, bedauerte nochmals, mir keinen Kognak vorgesetzt zu haben, und meinte, das nächste Mal werde sich bestimmt was Trinkbares auftreiben lassen. Beim Abschied grüßte er auf die lässige deutsche Art, mit zwei Fingern. Beim Durchlesen meiner Aufzeichnungen bin ich
wiederholt versucht gewesen, nachträglich einen Kommentar zu dieser oder jener Äußerung von damals in den Text einzufügen und klarzustellen, welche Meinungsänderungen sich in meinen Gefühlen im Verhältnis zu den Deutschen vollzogen haben. Die Versuchung war um so größer, als ich mir sagte, daß nicht nur meine Landsleute, sondern auch Deutsche dieses Buch einmal lesen werden, und unter ihnen Menschen, die ich längst nicht nur zu meinen Freunden, sondern zu meinen Kampfgefährten rechne. Trotzdem habe ich der Versuchung widerstanden. Soll alles so stehenbleiben, wie ich es im März 1945 niedergeschrieben habe. Schließlich habe ich ja nur fixiert, wie ich als neunundzwanzigjähriger Vertreter meiner Generation damals über Deutschland und die Deutschen dachte. Ich erlaube mir zu sagen „meiner Generation“, denn wenn man von dem seltenen Beruf des Schriftstellers absieht, war ich doch ein typischer Repräsentant dieser Generation. Im ersten und zweiten Fünfjahrplan arbeitete ich als Jugendlicher in der Produktion, später bildete ich mich außerhalb der Arbeitszeit an der Abendhochschule weiter. Dann kam die Feuertaufe in der Mongolei: die Japaner. Später – 1941 die Deutschen. Dreieinhalb Jahre Front. Ende der zwanziger, an der Schwelle der dreißiger Jahre trugen bei uns viele Komsomolzen Jungsturmuniform. Auch ich erinnere mich, sie getragen zu haben. Sie war aus dem Deutschland Thälmanns gekommen. Bei Demonstrationen erklangen neben unseren revolutionären Liedern die Lieder von Eisler. Aus ihnen sprach die Sorge über die Vorgänge in
Deutschland, aber auch der Glaube, daß der Faschismus nicht siegen werde. Dann Buschs „Moorsoldaten“, das Hohelied des Mutes der deutschen Antifaschisten. Der illegale Widerstand in Deutschland, Spaniens Schlachtfelder, die immer schwächer werdende Hoffnung, daß sich der Faschismus in Deutschland nicht lange halten könne, daß er von innen zerschlagen werde. Dann der Krieg. Die Deutschen bei Moskau. Die Deutschen bei Stalingrad. Im Dezember 1941 sah ich die ersten von deutschen Soldaten gehenkten Bauern, Männer und Frauen, Anfang 1942 den Kertscher Graben, in meinem Gedächtnis die ersten Tausenden von Menschen, die die Deutschen erschossen hatten. Im, Januar 43 hörten ich erstmals, daß die Deutschen „Gasmaschinen“ hätten – Vergasungswagen. Im Juli 44 sah ich die noch nicht erkalteten Öfen von Majdanek. Im Februar 45 betrat ich Auschwitz. Im März aber sprach ich in dem von uns besetzten Hindenburg mit Deutschen, um zu verstehen, wie alles geschehen war, und ohne zu wissen, wie es mit den Deutschen weitergehen sollte. Zur Erinnerung hielt ich Notizen fest, die mir heute, nach so vielen Jahren, stellenweise als hart und übermäßig verallgemeinert und übertrieben vorkommen, aber so sah es damals in meinem Herzen und meinem Bewußtsein aus – und anderen erging es ähnlich wie mir. Das ist ja gerade das Problem. Alles Schreckliche, was wir im Krieg erlebten, alle Untaten, die von der faschistischen Armee und vom faschistischen Staat auf unserer Erde begangen wurden – und nicht nur auf
unserer, wovon wir uns mit eigenen Augen überzeugen konnten –, hatten sich 1945 fest in unser Bewußtsein eingeprägt und bestimmten damals weitgehend unsere Meinung von den Deutschen und Deutschland. Wenn man verstehen will, welche Wandlungen meine Ansichten, Auffassungen und Gefühle seitdem durchlaufen haben, muß man von damals ausgehen. Nur dann kann man ermessen die immensen psychologischen Schwierigkeiten in dem allmählichen Wandlungsprozeß dieser Meinungen und Gefühle, denen zufolge – ich wiederhole, im gegebenen Fall spreche ich nur von mir – ich unfähig war, den komplizierten sozialen Begriff, der hinter dem Wort „Deutscher“ stand, zu analysieren. Meine Kriegserlebnisse hinderten mich damals daran, das zu tun. Der Krieg war ja nicht zu Ende, er dauerte an. Ich denke, daß es nicht nur für uns wichtig ist, sich diese Dinge vor Augen zu halten. Darum habe ich darauf verzichtet, das zu beschönigen, was damals aufgeschrieben wurde. Es würde das Problem allzusehr vereinfachen. Nun zu zwei Einzelheiten in meinen Aufzeichnungen. Im März 45 vertraute ich Sauer nicht uneingeschränkt. Ich hielt es für logisch, daß die NSDAP in den Gebieten, die wir schon besetzt hatten, den illegalen Kampf eingeleitet hatte und weiterführen würde, ohne vor Täuschungsmanövern zurückzuschrecken. Folglich war prinzipiell alles möglich. Ich war kein Prophet und wußte nicht, daß bis zur endgültigen Zerschlagung des faschistischen
Deutschland nur noch fünfundfünfzig Tage vergehen würden und daß die faschistische Untergrundbewegung, die ich fürchtete, kaum an Boden gewann. Außerdem wußte ich nicht und konnte ich nicht wissen, welche Ausmaße der unerbittliche Kampf angenommen hatte, den die deutschen Antifaschisten im Innern Deutschlands gegen die Diktatur führten. Noch hatte ich von der heldenmütigen „Roten Kapelle“ nichts gehört und nichts von der kühnen Schulze-Boysen/Harnack-Gruppe, nichts von all den anderen Großtaten des Widerstandskampfes, die uns erst Jahre später bekannt wurden. Wenn ich heute an Sauer denke und daran, was Leute wie er später zu leisten hatten, um auf den Trümmern des faschistischen Deutschland einen neuen, demokratischen Staat zu errichten, möchte ich nachträglich nicht mein mangelndes Vertrauen bereuen, aber ich will das Gefühl der Hochachtung und des tiefen Vertrauens nicht verschweigen, das sich ihnen gegenüber allmählich, im Laufe von Jahren, entwickelt hat. Ja, in Jahren ist es entstanden, und das ist die volle Wahrheit. Ich denke noch an eine weitere Bemerkung: daß die jugendlichen Trommler von 1934 bis an ihr Lebensende nicht umzuerziehen seien. Zum Glück bin ich auch in diesem Punkt kein Wahrsager gewesen. Unter meinen heutigen deutschen Freunden, Menschen meiner Generation, befindet sich nicht nur der Sohn eines antifaschistischen Emigranten, der 44 in der Uniform eines sowjetischen Leutnants unter deutschem Kugelregen – ein Sprachrohr in der Hand – durchs Niemandsland lief und deutsche Soldaten vor dem Tod bewahrte, son-
dern auch der Bordschütze und Funker eines 43 bei Leningrad angeschossenen Bombers. Er hatte in Gefangenschaft die Antifaschule besucht und war schließlich Kommunist geworden – einer von jenen Trommlern des Jahres 1934.
27 Tagebuchaufzeichnungen vom 16. März 1945. Am Vormittag arbeitete ich. Dann fuhr ich zu Moskalenko, zunächst zur früheren Beobachtungsstelle, von der aus ich den Beginn des Angriffs verfolgt hatte. Doch Moskalenko und Jepischew waren schon am Morgen nach Pawlowitz übergesiedelt. Gestern hatten Kameraleute, die von Pawlowitz zurückgekommen waren, erzählt, dort sei die Hölle los, laufend gebe es Luftangriffe, und der Ort liege fortgesetzt unter Beschuß; aber ein Tag ist nicht wie der andere, heute war es dort wider Erwarten ruhig. Von Zeit zu Zeit detonierten deutsche Granaten, doch mindestens einen Kilometer entfernt. Die Beobachtungsstelle befand sich in einem kleinen Gebäude, offenbar einem alten Gutshaus. Eigentlich war es keine Beobachtungsstelle, sondern mehr ein vorgeschobener Gefechtsstand, denn zu beobachten gab es von hier absolut nichts. In dem Haus mußten Generationen von Jägern und Pferdeliebhabern gewohnt haben. Eine Unmenge kleiner und großer Jagdtrophäen bedeckte die Wände: Rehkronen und Hirschgeweihe. Auf den sorgfältig polierten Stirnbeinen waren die Abschußdaten
vermerkt. Die meisten stammten aus dem Anfang des Jahrhunderts, aus der Zeit vor dem ersten Weltkrieg: 1909, 1910 und 1912. In der Diele, wo sich Fahrer und Ordonnanzen aufhielten, hingen einige alte Kupferstiche, Ansichten von schweizer Seen, eine Winterlandschaft in Öl und ein großes, goldgerahmtes Pastellbild, Porträt der Gattin oder Tochter eines der früheren Hausherren. Das Arbeitszimmer war stark geheizt wie jeder Raum, in dem sich Moskalenko niederließ. An den Wänden hingen alte Photos, leicht koloriert, aquarellähnlich, darauf rassige Pferde und Reiter in deutschen Offiziersuniformen. Darunter zuerst die Namen der Pferde, dann ihr Gestüt und an dritter Stelle erst Name und Rang des Jockeis, zum Beispiel ein gewisser Graf Rock, der mehrfach zu sehen war. Neben den Photos ein Aquarell: Derby in London. Moskalenko war in der Stimmung eines Befehlshabers, der einen Mißerfolg erlitten hat und das nicht verbirgt, ebensowenig, daß er weitere Angriffe an seinem Abschnitt für aussichtslos hält, aber trotzdem nicht verzagt, sondern seinen Kampfgeist bewahrt. In dieser Stimmung reden die Leute möglichst von etwas anderem als ihren Problemen. Jepischew und Ortenberg gingen auf Moskalenkos Ton ein. Sie gedachten der Jahre 41, 42, 43, sprachen über Brücken. Moskalenko hatte 41 ein Korps geführt; erzählte, wie er während des Rückzugs alle Brücken, die sie hinter sich ließen, verminte und später sprengte. Sie kamen in ihrem Gespräch darauf, als sie sich darüber unterhielten, wie die Amerikaner bei Remagen eine deutsche Brücke eroberten.
„Ich habe elektrische Ladungen angebracht“, sagte Moskalenko, „und mechanische, ich habe sie mit Faschinen umkleidet und Treibstoff draufgekippt, Benzin, Öl. Die Sache war natürlich riskant, dafür aber wirksam. Als ich eine Dnepr-Brücke in die Luft gejagt hatte, kam Nikischew zu mir.“ (Jener Nikischew, der am Chalchyn gol unter Shukow Mitglied des Kriegsrates war, später Mitglied des Kriegsrats der 5. Armee wurde und bei Kiew gefallen ist.) „Er kommt zu mir“, sagt Moskalenko, „und meint: ,Von uns sind drei Bataillone auf der andern Seite geblieben. Wir werden dich für die Sprengung der Brücke erschießen.’ Ich erwidere ihm: Ja, drei Bataillone sind noch drüben, aber für mich war es das wichtigste, die deutschen Panzer nicht rüberzulassen, und viere waren schon auf der Brücke, als ich sie hochgehen ließ.’ Damit war unser Gespräch beendet. Es genügte, die Panzer zu erwähnen. Und die Bataillone… Ja natürlich, ein Teil entkam auf Booten, die anderen sind gefallen.“ „Wieso gefallen?“ warf Jepischew ein. „Viele wurden zwar eingekesselt, aber sie blieben am Leben.“ „Und nahmen mit unserer Armee später an der Operation von Winniza teil“, ergänzte Ortenberg. „Nun natürlich“, sagte Jepischew. „Moskalenko hat damals ein doppeltes Ziel verfolgt. Erstens mußte er die Brücke sprengen, um die Panzer nicht rüberzulassen, und zweitens wollte er sich auf zwei Jahre im voraus eine Reserve für die Winnizaer Operation schaffen.“ Hiernach drehte sich das Gespräch um die Brücke bei Kupjansk über den Oskol. Moskalenko gab zu, daß er dort zu voreilig gewesen war und die
Zündkapseln zu früh angebracht hatte. Als bei einem Luftangriff der Deutschen eine Bombe die Brücke traf, zündeten infolge der Detonation die Sprengladungen, und die Brücke flog in tausend Stücke. „Aber danach hielten wir uns noch lange“, sagte Moskalenko. „Wir mußten eine neue Brücke bauen, und als ich wieder eine Brücke gesprengt hatte, mischten sich die von den Sondertruppen ein: Hören Sie mal, nach Ihren Angaben ist die Brücke gesprengt, aber nach unseren wird sie noch von den Deutschen benutzt. Nun ja, ich hatte einen Plan des Generalstabs, welche Brücken wann zu sprengen waren, darunter auch diese. An den Plan hatte ich mich gehalten. Darum ärgerte ich mich über den Vorwurf und arbeitete in der Folgezeit so gründlich, daß kein Stein mehr auf dem anderen blieb. Trotzdem muß ich sagen, die Sache funktionierte bei uns. Manchmal sprengte man eine Brücke, und die Kontrollzeichnung lag vor. Dann fiel es den Pionieren nicht schwer, eine neue zu errichten. Träger und Einzelteile standen sehr bald zur Verfügung. Das hat es schon 1941 gegeben!“ Von den Brücken kamen sie auf Panzer zu sprechen. Jepischew erzählte, wie das Charkower Traktorenwerk im Sommer 41 mit größter Eile Hunderte des sogenannten T-60 herstellte. Auf dem Traktor wurde eine 45-mm-Kanone montiert, das Chassis mit einer zehn Millimeter starken Panzerung versehen, fertig war der Lack. Gewiß, nachdem so ein Traktor gepanzert war, konnte er sich nur noch mit einer Höchstgeschwindigkeit von vier Kilometern in der Stunde bewegen, die Kanone hatte einen horizontalen Schwenkbereich von 13 Grad und
einen vertikalen von o, aber immerhin: Das war der erste Versuch, ein selbstfahrendes Geschütz zu schaffen. Vom Charkower Traktorenwerk wechselten sie auf Stalingrad über. Dies und jenes wurde erörtert. Ortenberg sagte, Chrustschow habe sich sehr anerkennend über Jeremenko geäußert und seinen Anteil an der Verteidigung von Stalingrad gewürdigt. Später, während der Offensive, sei Jeremenko sehr zügig vorgegangen. Manchmal habe er die deutsche Nachhut überholt und an den schwierigsten Stellen massierte Artillerie konzentriert. „Das stimmt“, bestätigte Moskalenko. „Ein Risiko hat Jeremenko nie gescheut. Selbst wenn der Gegner mit starken Kräften angriff und die Oberhand gewann, wandte ihm Jeremenko nicht den Rücken zu, sondern trat zum Gegenangriff an. Auch bei der Offensive hat er gewagt operiert, die Artillerie vorwärts getrieben und massiert. Er ist jedes Risiko eingegangen, hat immer alles auf eine Karte gesetzt. Ganz im Gegensatz zu Shukow. Der riskiert nie etwas. Bei dem ist alles genau berechnet. Wenn ein Angriff drei Tage liegenbleibt, wird er aufgeschoben. Nie mit dem Kopf durch die Wand. Neue Feuervorbereitung, und von vorn angefangen.“ So tauschten sie Erinnerungen aus. Zwischendurch wurden Telephongespräche geführt. Einige notierte ich. „Genosse Shukow“, sagte Moskalenko beinahe zärtlich zu dem Korpskommandeur, „na also, da haben Sie heute Ihren ersten Erfolg.“ Ersten Erfolg… Das klang ermunternd. Der Tonfall verhieß Shukow und seinem Korps weitere Erfolge.
„Setzen Sie sich mit den Fliegern in Verbindung. Setzen Sie sich sofort in Verbindung und sorgen Sie dafür, daß Rubau bombardiert wird – nicht Rubau schlechthin – so was machen sie gern –, sondern die Verteidigungsstellungen, die Mühle, alles, wo die Deutschen liegen!“ Moskalenko wandte sich vom Apparat weg zu Jepischew um. „Shukow erzählt, in sechs Angriffen sei es zum Nahkampf gekommen.“ Moskalenko lachte. „Er phantasiert! Im modernen Krieg sechsmal Handgemenge an einem Tag! Wer nimmt ihm das ab?“ Danach rief er Worobjow an, den Stabschef der Armee. „Setzen Sie Flugzeuge ein. Tun Sie alles, damit so bald wie möglich die Flugzeuge eingesetzt werden. Nur daß sie mir nicht die Stadt bombardieren, keine alten Frauen und Männer, sondern die deutschen Stellungen. Daß sie konkrete Ziele treffen und nicht irgendwelche deutschen Feldlazarette.“ Einer der Korpskommandeure gab eine Meldung telephonisch durch. Sie seien vorgerückt, hätten einen Sumpf und ein Seengebiet erreicht. „Dann müssen Sie die Brücken über den Sumpf schleunigst erobern, und zwar alle“, sagte Moskalenko. „Machen Sie’s wie die Briten und Amerikaner, nur daß die die Brücken über den Rhein erobert haben.“ Er rief noch jemanden an. Der Stabschef meldete, sein Kommandeur sei krank. „Krank“, sagte Moskalenko und legte unwirsch den Hörer auf. „Der Befehlshaber will ihn sprechen, und er läßt telephonisch mitteilen, er sei krank. Liegt er etwa im Sterben? Keineswegs. Also ist es, gelinde gesagt, eine Flegelei. Würde ich mir erdreisten, dem
Befehlshaber mitzuteilen, daß ich krank bin, solange mir meine Zunge gehorcht? Noch dazu nicht mal selbst, sondern in seinem Namen telephonisch bestellt!“ „Na, haben sie euch mit ihren – Iahern’ eingeheizt?“ fragte Moskalenko ein wenig später einen eintretenden Artilleristen. Als „Iaher“ bezeichnete er die schweren deutschen Werfer, die die Soldaten „Wanjuschas“ getauft hatten. Moskalenko fand, ihre Geräusche klangen wie das Schreien der Esel. Nach dem Gespräch mit dem Chef Artillerie rief er den Befehlshaber der Luftarmee an. „Guten Tag. Ich wate hier im Schlamm, während du auf Asphalt sitzt, aber helfen kannst du mir wohl nicht.“ In das Gespräch mit dem Befehlshaber der Luftarmee schaltete sich Petrow ein, der soeben eingetreten war. Er erklärte genau, wie der Abschnitt zwischen dem Fluß und dem Waldrand zu bombardieren sei. „Pflügen Sie entlang der Bahnlinie alles um. Dort haben sie Maschinengewehre und Granatwerfer stehen, Panzer, Selbstfahrlafetten, und da liegt auch Infanterie. Aber sorgen Sie dafür, daß die Flugzeuge nicht einfach ihre Bomben abwerfen und umkehren, sondern genau in die Schlucht treffen. Sie dürfen die ganze Bahnlinie entlang nicht höher als zweihundertfünfzig Meter fliegen, und sie müssen ihre Last von Anfang an mit genau hundert Metern Abstand abladen. Dann kommt was dabei heraus.“ Obwohl der Tag nicht erfolgreich verlief, befand sich Petrow in einer angeregten, gehobenen Stimmung. Er war gerade von einer Rekognoszierung zurückge-
kehrt und hatte einen Abschnitt der Front studiert, dem vorher keine besondere Beachtung geschenkt worden ist, weder von unserer noch von deutscher Seite. Moskalenko, der schon früher mit Jepischew dort war, teilte seine Ansicht, daß die Deutschen diesen Teil des Handlungsstreifens schwach gesichert hatten. Petrow stimmte seinem Vorschlag zu, in den nächsten Tagen hier einen Überraschungsschlag zu führen, wobei er bis zur letzten Minute den Anschein aufrechterhalten wollte, den Angriff am alten, ursprünglich vorgesehenen Frontabschnitt fortzusetzen. Petrow berichtete in allen Einzelheiten über seine Beobachtungen an dem von ihm persönlich ausgewählten Sektor, über den Verlauf der Wege, über den gegenwärtigen Zustand der Felder. Er war selbst hingefahren, um sich die Bodenbeschaffenheit anzusehen. „Nur an einigen Stellen ist der ,Willys’ im Acker steckengeblieben, ansonsten ist die Fahrt glatt verlaufen.“ Er zeigte auf der Karte, von wo und bis zu welchem Punkt die Deutschen die zur Front führende, auf der sowjetischen Seite liegende Straße einsehen konnten, und er ordnete an, zur Regelung des Verkehrs einen Schlagbaum zu errichten und Tarnnetze aufzuhängen. „Innerhalb von dreizehn Tagen haben die Deutschen diesen Abschnitt lediglich mit elf Granaten belegt“, sagte Petrow. „Ich bin das ganze Gebiet zu Fuß abgelaufen. Die Zugangswege auf unserer Seite sind außerordentlich günstig. Die Deutschen können zwar von einem Hügel aus zu uns ziemlich weit hinübersehen, aber wenn wir Netze anbringen,
erschweren wir die Beobachtung. Durch dieses Terrain führt eine Chaussee, die getarnt werden muß. Ich bin darauf hin- und zurückgefahren, ohne beschossen zu werden. Offenbar haben sie dort gegenwärtig nur eine oder zwei Batterien aufgestellt und messen diesem Abschnitt keine Bedeutung bei. Es ist erfreulich, höchst erfreulich“, wiederholte er mehrmals so zufrieden, als handle es sich um ein lange aus der Ferne geliebtes und endlich heimgeführtes Mädchen. In diesem Vergnügen, mit dem er von seiner Rekognoszierung berichtete und erzählte, wie Troßfahrer aus dem Niemandsland zwischen den sowjetischen und den deutschen Gräben seelenruhig Heu holten und wie ein Soldat, dem wohl der Frühling zu Kopf gestiegen war, vor den Augen der Deutschen seine Possen trieb, indem er mit einem Fahrrad übers Eis radelte – darin lag außer dem professionellen militärischen Interesse daran, daß der künftige Angriffsstreifen die Erwartungen erfüllte, noch ein unverfälschtes Gefühl jugendlicher Unbeschwertheit. Meiner Meinung nach verfehlte der erste herrliche Sonnentag auch auf Petrow seine Wirkung nicht. An so einem Tag mußte man einfach guter Laune und des Erfolges sicher sein. Mag kommen, was wolle – der Glaube war unverwüstlich… Meine nächsten Tagebuchaufzeichnungen beziehen sich auf den 17. März 1945 und beginnen mit folgenden Worten: „Die Offensive an der 4. Ukrainischen Front wurde bis auf weiteres eingestellt…“ Warum sie für unbestimmte Zeit unterbrochen wurde, das geht im großen und ganzen aus meinen vorherigen Eintragungen hervor. Heute habe ich jedoch
die Möglichkeit, die Ereignisse jener Tage nicht nur mit den Augen eines Frontkorrespondenten zu sehen, sondern sie außerdem von zwei anderen Standpunkten – von oben und unten – zu betrachten. Da schließt in seinem zweiten Buch „In der Südwestrichtung“ Marschall Moskalenko, ehemaliger Befehlshaber der 38. Armee, der sich weder durch vorangegangene noch durch spätere Erfolge seiner Armee die selbstkritische Sicht trüben ließ, seine Erinnerungen an unsere Fehlkalkulationen und zeitweiligen Rückschläge mit folgenden Worten: „Eine so ausführliche Behandlung der Mängel, die in den ersten Tagen der Angriffsoperation von Moravska-Ostrava auftraten, ist meiner Meinung nach notwendig, weil es weder 1944 und schon gar nicht 1945 an keiner anderen Front eine ähnliche Situation gegeben hat und ein Angriff so unerwartet zum Erliegen kam. Dieser Mißerfolg soll, wenn seine Gründe bekannt sind, bei der Ausbildung der Truppen und Stäbe ebenfalls beachtet werden. Dabei liegt es mir fern, diese Mängel allein der Führung und dem Stab der Front zuzuschreiben. Die Führung und die Stäbe der Armee, auch ich, hätten sowohl bei der Operationsplanung als auch bei der Gewährleistung des Überraschungsmoments mehr tun können.“ Das ist die Darstellung des Armeebefehlshabers „von oben“, und was in seinen Memoiren ausgesagt wird, bestätigen im wesentlichen die Briefe der Frontsoldaten, die jene Tage an dem beschriebenen Abschnitt erlebt und die Veröffentlichung meiner Tagebuchaufzeichnungen in der Presse gelesen haben, mit ihrer Ansicht „von unten“. „An dieser
Operation war unser 276. Rotbanner-Granatwerferregiment beteiligt. Unsere Stellungen lagen vor der berüchtigten Bahnlinie. Nie werden wir den Mißerfolg vergessen, den ersten Angriff auf Moravska-Ostrava Anfang März 45. Ich erinnere mich sehr wohl an das abscheuliche Wetter, an die Feuervorbereitung und die unbeweglichen Einheiten des mechanisierten Korps, das im Raum Studenka sämtliche Straßen versperrte. Als das Korps abgezogen wurde, war keine Straße befahrbar. Erst eine Woche später wurden die Wege allmählich wieder in einen verkehrstauglichen Zustand versetzt. Über die Offensive wurde viel geredet und die Bevölkerung ,sorgte dafür’, daß der Plan zum Feind durchsickerte. Wenn man Ihre Tagebuchaufzeichnungen liest und erfährt, was Sie auf Beobachtungs- und sonstigen Führungsstellen gehört und gesehen haben, begreift man, welcher Kräfte es bedarf, damit sich Infanterie, Panzer und Artillerie unaufhaltsam vorwärts bewegen…“ Soweit der Brief A. G. Petrows, eines ehemaligen Angehörigen einer Granatwerfereinheit. „In diesem ersten Angriff auf Moravska-Ostrava machten wir uns selber etwas vor“, schreibt F. I. Schuschin, Kommandeur einer anderen Granatwerferbatterie. „Ich persönlich glaubte damals, daß von den Deutschen nicht mehr viel übrig war oder daß sie sich schon mit Friedensabsichten trugen. So ein Schlamassel wie dort habe ich während des ganzen Krieges kein zweites Mal erlebt. Unsere Offensive bereiteten wir in aller Offenheit vor, und die Deutschen beschossen uns nicht. Wir verrechneten uns
gründlich, außerdem waren das Wetter und das Gelände gegen uns. Als wir dem Armeebefehlshaber von den angeschlagenen Deutschen berichteten, nahmen wir den Mund recht voll. Ich gehe von meinem Abschnitt aus, als wir bei der Eisenbahn ihre erste Linie durchbrochen hatten. Dann kam das dicke Ende, ihre zweite Linie hinterm Wald machte uns arg zu schaffen. Da konnte von keiner Vorwärtsbewegung mehr die Rede sein. Wie die begossenen Pudel lagen wir im Dreck. Unsere alten Feuerstellungen hatten wir verlassen, aber es war nahezu unmöglich, die Granatwerfer dort aufzustellen, und als wir es schließlich bewerkstelligt hatten, versanken sie nach dem ersten Schuß. Der Boden war aufgeweicht und morastig. Der Befehlshaber dachte, die Artilleristen hätten den Beschuß eingestellt, um Tee zu trinken. Ja, wir tranken schon, aber keinen Tee, sondern die Brühe vom Sumpf…“ In diesem bissigen Brief eines Mannes, der dreißig Jahre später noch so tief, mit allen Fasern seines Herzens empfindet, was er fünfundfünfzig Tage vor Kriegsende erlebte, als unser Vormarsch bei Moravska-Ostrava grausam zum Erliegen kam, wird auch mir, dem Verfasser des Tagebuches, der Kopf gewaschen. „Jedermann weiß, daß auch im Krieg und über den Krieg gelegentlich geflunkert wird. Das Gesetz der Selbsterhaltung, wirkt sich aus, denn die Menschen dort kämpfen, es sind keine Schauspieler. Wie soll sich der Künstler und Dokumentalist dazu verhalten? Das ist keine einfache Frage, denn abgesehen von allem übrigen geht es hier zwangsläufig ums Ver-
stehen. Es ist dem Künstler erlaubt, sich im Namen der Wahrheit zu empören, aber wenn er dies im Namen der Unwahrheit tut, hat doch sogar der Künstler etwas nicht verstanden. Zwar kannte und kenne ich, damaliger Batteriechef in einem Granatwerferregiment, das links von Pawlowitz die 69. Brigade unterstützte, nicht den General und Kommandeur des mechanisierten Korps, trotzdem muß ich sagen, daß er nicht objektiv dargestellt sein kann. Falls er noch lebt, wird er deswegen wohl empört sein. Bei jener Offensive hatten es die Panzertruppen am schwersten. Warum zum Teufel mußte ein mechanisiertes Korps überhaupt in diese Sümpfe geschickt werden? Ein Filmschauspieler in der Rolle eines Generals hätte sicherlich einen Ausweg gefunden und sogar den Sieg davongetragen – aber eben nur im Kino. In der Wirklichkeit aber wurde der General degradiert, und der Schriftsteller brachte ihn obendrein in Verruf. Oh, es ist nicht einfach, mit lebendigen Helden zu arbeiten…“ Ich will aus meinem Herzen keine Mördergrube machen. Der Brief Fjodor Iwanowitsch Schuschins änderte nicht den Eindruck, den ich damals von General D. gewonnen hatte. Gleichzeitig veranlaßte er mich jedoch, über die dramatische Lage, in der sich dieser Mann seinerzeit befunden hatte, erneut nachzudenken. Einerseits war ich auch im Recht mit meiner Notiz im Tagebuch, daß es das natürliche Bedürfnis eines Kommandeurs sein mußte, möglichst bald eingesetzt zu werden, wenn sein Korps acht Monate zuvor aufgestellt worden war.
Andererseits erscheint mir jedoch auch seine Sorge natürlich. In welcher Lage und mit welchen Erfolgsaussichten trat er in den Kampf ein, nachdem er acht Monate lang auf diesen Augenblick gewartet und sich darauf vorbereitet hatte? Welche Verantwortung bürdet dieser Augenblick einem Kommandeur auf? Und daß die Lage tatsächlich heikel war, geht schon daraus hervor, daß der Oberbefehlshaber der Front, ein im allgemeinen durchaus nicht wankelmütiger Mann, zwei Tage schwankte und dann den Entschluß faßte, das Korps nicht einzusetzen. Angesichts der grausamen Dialektik des Krieges ist der Vorwurf, der im Brief gegen mich erhoben wird, ich hätte da etwas nicht ganz verstanden, zu einem gewissen Grad sicherlich berechtigt. Außerdem enthält der Brief dieses Offiziers die edle Feststellung, die Panzertruppen hätten es am schwersten gehabt. Hinter dieser Bemerkung verbirgt sich die Fähigkeit, nicht nur die eigenen Schwierigkeiten zu sehen, sondern auch die der anderen wie die eigenen zu empfinden, das heißt letzten Endes jenes Gefühl der Waffenbrüderschaft, ohne das es im Krieg weder Gefechtserfolge noch eine gerechte Wertung geben kann. Ich kehre zu meinem Tagebuch zurück. Von den Eintragungen, die unter dem 17. März 1945 stehen, habe ich bisher nur den ersten Satz angeführt. Am Morgen verließen Alpert und ich Pszczyna. Wir beabsichtigten, an die 1. Ukrainische Front zu fahren, und zwar zur 60. Armee General Kurotschkins, die dem Vernehmen nach erfolgreich angreifen sollte.
Als wir auf unserem Weg dorthin in Hindenburg ankamen – wir machten Station, um uns von der Kommandantur einen Einweisungsschein für ein Hotel zu besorgen, wenn wir von Kurotschkin hierher zurückkehrten –, erfuhren wir jedoch etwas Unerwartetes. Oberschlesien wurde schon jetzt, vor Kriegsende, an Polen abgetreten. Natürlich war dieser Schritt im Krimabkommen vorgesehen. Oberschlesien mußte auf jeden Fall an Polen fallen, aber daß der Anschluß schon jetzt erfolgte, war gewiß eine geschickte politische Maßnahme, die das Ziel verfolgte, eine demokratischere Zusammensetzung der sich gerade konstituierenden Regierung zu erreichen. Wenigstens erscheint es mir so. Als wir die Neuigkeit hörten, änderten wir unsere Pläne. Jetzt wollten wir am nächsten Tag zu Kurotschkin fahren. Wir nahmen Kurs auf Katowice, wo nach den Auskünften der Kommandantur um zwölf Uhr Ortszeit, um vierzehn Uhr Moskauer Zeit, anläßlich der Übergabe Oberschlesiens an Polen eine Massenkundgebung eröffnet wurde. In Hindenburg hingen bereits einige polnische Fahnen, die ich vorher nicht gesehen hatte. Es waren nur wenige, was sich sicherlich daraus erklärt, daß der polnische Anteil an der Hindenburger Bevölkerung meines Wissens gegenwärtig nicht mehr als sieben Prozent betrug. Je weiter wir uns Katowice näherten, desto stärker war geflaggt. Besonders viele Fahnen hingen an den polnischen Bergarbeitersiedlungen zwischen Königshütte und Katowice. Von Königshütte aus bewegte sich ein immer mächtiger werdender Menschenstrom auf der Landstraße vorwärts
– Männer, Frauen und sogar Kinder –, Polen, die zur Kundgebung nach Katowice zogen. Wir überholten eine Kolonne polnischer Kinder, dann kamen wir an Feuerwehrleuten in Uniform und mit blitzenden Helmen vorüber, dann an Marschblöcken schlesischer Bergleute in Festkleidung. Sie trugen lange schwarze Hosen, schwarze Schnürschuhe, kurze bis zum Gürtel reichende schwarze Jacken, über den Ärmeln ein zweites Paar faltige Ärmel, auf den Köpfen runde schwarze Kappen, die eine gewisse Ähnlichkeit mit Mönchskappen aufwiesen, nur daß verschiedenfarbene Hahnenfedern daran steckten: rote, weiße und schwarze. Der Kolonne voraus marschierte eine Kapelle, und vor der Kapelle ritt ein Mann mit pelzbesetztem Halbkaftan und keck aufs Ohr geschobener Mütze. Ähnliche Reiter habe ich auf alten Kupferstichen gesehen, die den Aufstand unter Kosciuszko oder andere Ereignisse jener Zeit darstellten. Als wir an den Bergleuten vorüber waren, überholten wir noch eine Kolonne Kinder, diesmal Schüler, danach wieder eine Marschsäule von Bergleuten, und schließlich fuhren wir in Katowice ein. Auf dem zentralen Platz der Stadt hatte sich schon eine gewaltige Menschenmenge versammelt – das heißt, „Menge“ ist nicht das richtige Wort. Es war eine gewaltige Demonstration. Demonstranten, die sich in Reih und Glied formiert hatten. Der Platz selbst war nicht allzu groß und auf allen Seiten von Häusern umgeben. Zum Haupteingang des größten Gebäudes mit seinen großen Fenstern und massiven Säulen – vermutlich dem Sitz der Stadtverwaltung – führte eine graue Steintreppe, auf der schon Fahnen-
träger standen. Ein Heer von Fahnen, vielleicht einhundert oder auch zweihundert, einige neue, vor allem aber alte, lange aufbewahrte, mehrere mit dem polnischen Adler auf dem Tuch und auf der goldenen Spitze am Ende der Fahnenstange, und andere – es waren nicht einmal wenige – aus blauer Seide, mit einem Bildnis der heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergleute. In der Mitte der Treppe stand eine Tribüne, daran hingen Tücher mit dem polnischen Adler, und unter der Tribüne zwei Leinentransparente, eins links, das andere rechts, darauf die Porträts von J. W. Stalin und Boleslaw Bierut, dem Vorsitzenden des Landesnationalrats. Unter Stalins Bild lag ein riesiger, viele Pud schwerer Klumpen Kohle mit der Inschrift: „Dem großen Marschall Stalin von den schlesischen Bergarbeitern“. Schon vor Beginn der Kundgebung drängten sich Dutzende von Menschen auf der Treppe – polnische und sowjetische Militärangehörige, aber auch Zivilisten, wahrscheinlich führende Mitglieder der Arbeiterpartei und Angestellte der Wojewodschaft, und immer mehr trafen ein, die von der Wache auf die Treppe gelassen wurden. Verspätet kamen einige Photographen. Dann erschien ein alter Mann, hochgewachsen, hager, kerzengerade, als ob er einen Stock verschluckt hätte, mit steifem Hut und altem Zivilistenmantel, auf dem zwei Orden und zwei Medaillen steckten. Bedächtig, ohne jemanden anzusehen, schritt er dahin, ein Ausdruck von Stolz im ernsten, saftlosen Greisengesicht. Große knorrige Hände ragten aus den Ärmeln. Ich weiß nicht, wer er und was er war, dieser Teilnehmer des ersten Welt-
krieges, vielleicht ein Steiger, denn trotz seines steifen Hutes wirkte er wie ein Mann aus dem Volk. Auf der Kundgebung sollten einige Redner sprechen: Bierut, Vorsitzender des Landesnationalrats, Premierminister Edward Osöbka-Morawski und der Oberkommandierende der Polnischen Volksarmee, Micha! Zymierski. Mehrere schick gekleidete polnische Offiziere schritten geschäftig auf und ab, während sie die drei erwarteten. Sie trugen flotte hohe Mützen mit blauem Rand. Einer von ihnen, ein kleiner Mann mit weichem Gesicht, langen, braunen, unter der Mütze hervorquellenden Haaren, mit schwarzem Umhang und großer Pistole, lief besonders aufgeregt hin und her, lächelte, posierte für die Photographen. Es war wohl ein Adjutant. Wir waren zu früh gekommen und mußten eine Stunde warten. Zuerst war es trübe, dann setzte feiner Sprühregen ein, dann goß es in Strömen. Als es vom Turm zwei schlug, traten aus einem der Häuser der Tribüne schräg gegenüber endlich jene erwarteten Männer und überquerten den Platz: Bierut, Osöbka-Morawski, Zymierski und in ihrer Begleitung ein Generalmajor als Vetreter der sowjetischen Seite. Jemand sagte mir, sie seien hergeeilt, nachdem sie am selben Tag bereits auf zwei anderen Veranstaltungen gewesen waren, einer Versammlung der schlesischen Metallarbeiter und einer der schlesischen Bergleute. Als sie die Treppe hochstiegen, schrie die Menge vor der Tribüne: „Niech zyje!“ Dreimal erschollen die Rufe, und dreimal flogen im Takt die Mützen hoch. Wenn man bedenkt, daß zwanzigtausend Menschen auf dem Platz versammelt waren, wird man verste-
hen, daß es ein recht eindrucksvolles Schauspiel war. Danach spielte die Kapelle der Bergleute in ihren eigenartigen schwarzen Anzügen und den Kappen mit den Federbüschen die herrliche polnische Nationalhymne, die an Schönheit vielleicht nur durch die Marseillaise übertroffen wird. Einträchtig standen die Leute auf dem Platz mit entblößtem Haupt, die sowjetischen Offiziere hatten die Hand an den Mützenschirm gelegt, die polnischen berührten den Rand lässig mit zwei Fingern. Ich ertappte mich bei dem Gefühl, daß ich trotz allen ernsthaften Bemühens, die Ereignisse in Polen zu verstehen, den Anflug von Geckenhaftigkeit bei einigen Vertretern der polnischen Armee mit gewissem Unbehagen verfolgte. Durch ihr Äußeres und ihr Auftreten erweckten sie den Eindruck, nicht ganz seriös zu sein – bei allem Patriotismus, den sie zweifellos hatten und der, wovon ich mich wiederholt überzeugen konnte, die Polen stärker als die Vertreter anderer Nationen auszeichnet. Als erster sprach Generalleutnant Aleksander Zawadzki, bislang Wojewode von Dabrowa. Mit diesem Tag wurde seine Wojewodschaft auf ganz Schlesien ausgedehnt. Ich hatte Zawadzki bereits 44 in Lublin gesehen. Damals war er in der 1. polnischen Armee als Leiter der Politabteilung Stellvertreter des Generals Zygmunt Berling gewesen, und ich hatte mir sagen lassen, er sei einer der bedeutendsten Funktionäre der Polnischen Arbeiterpartei. Ernst betrat er die Tribüne, ein kleiner, korrekt gekleideter Mann mit zickzackförmig aufgesteppter
Silberlitze am Mützenschirm. Er sprach temperamentvoll, dabei besonnen, ein erfahrener Redner, der an den richtigen Stellen nicht die Pausen vergaß. Soweit ich seine Rede verstand – ich war weit davon entfernt, alle Feinheiten zu erfassen –, sagte Zawadzki genau das, was unter den gegebenen Umständen gesagt werden mußte. Er sprach über die künftige polnische Grenze an Oder und Neiße, über die Ostsee, über die Freundschaft zu Rußland, über die Notwendigkeit, die militärischen Anstrengungen fortzusetzen, über den Dank des Volkes an die Rote Armee und die Volksarmee. Sooft er seine Rede unterbrach, um eine Pause einzulegen, applaudierte die Menge auf dem Platz und rief: „Niech zyje!“ Das Orchester spielte eine Strophe der polnischen Nationalhymne, und alle nahmen die Mütze ab. Nachdem Zawadzki über die Rote Armee und Stalin gesprochen hatte, wurde plötzlich die sowjetische Hymne gespielt. Das Orchester spielte sehr unsicher und in falschem Tempo, doch ungeachtet dessen war man ergriffen. Nach Zawadzki sprach Bierut. Er war dem Aussehen nach etwa fünfundvierzig. Solche wohlgeformten, scharf geschnittenen Gesichtet wie das seine altern nicht so schnell. Er sprach außerordentlich gut, wirkungsvoll und nicht lange. Während seiner kurzen Rede erhielt er mehrmals Beifall, und die Leute riefen: „Niech zyje!“ Nach Bierut trat Osöbka-Morawksi ans Rednerpult. Sein Kopf war fast völlig ergraut, aber er hatte ein junges, vorstrebendes Gesicht, in dem alles nach vorn sprang: das Kinn und die Nase. Diese scharfen, markanten Züge ließen ihn
jünger erscheinen, als er war. Seine Rede enthielt die Bemerkung, Polen habe sich zwischen Rußland und Deutschland befunden und befinde sich noch dort. Daher habe es sich nie den Luxus leisten können und könne ihn sich auch jetzt nicht leisten, etwa mit beiden Nachbarn verfeindet zu sein. Diese Feststellung – sofern ich sie richtig verstanden habe – empfand ich als höchst engstirnig. Zwar führte er fast im gleichen Atemzug aus, Polen müsse unbedingt Freundschaft mit uns halten, zwar sprach er vom Gefühl der Dankbarkeit, von auferlegten Verpflichtungen und so weiter, aber nach der vorausgegangenen Bemerkung empfand ich das alles als nicht emotional motiviert, sondern unter dem Blickwinkel verstandesmäßiger Erfordernisse und eines praktischen Nützlichkeitsdenkens gesehen. Nachdem Bierut und Osöbka-Morawski gesprochen hatten, hallte ihnen zu Ehren dreimal der Ruf „niech zyje!“ über den Platz. Dann trat General Zymierski ans Pult. Er sprach gut, begann leise, kaum hörbar und baute seine ganze Rede auf Wiederholungen auf. Seine Stimme wurde immer stärker, immer fester, während er so sprach, wie Dichter, die das können, manchmal ihre Verse lesen – ein bißchen monoton, wobei er mit seinem Redetempo, den rhythmischen und gedankenmäßigen Wiederholungen die Leute immer mehr in seinen Bann zog, Ihm lauschten sie am aufmerksamsten und eifrigsten, und als er seine Rede beendet hatte, dankten sie ihm mit dem größten Beifall und schrien am häufigsten: „Niech zyje!“ Er sprach von der Stärke der Roten Armee, von der Stärke der Volksarmee, von der
Rache an den Deutschen. Er sagte nur das Einfachste und Verständlichste von allem, was man den hier versammelten Menschen bekunden konnte. Darum folgte seinen Worten der lebhafteste Beifall. Der Oberkommandierende der Volksarmee, der außerdem schon in der alten polnischen Armee General gewesen war, nahm wohl im Bewußtsein der Anwesenden einen festen Platz ein, er verkörperte für sie nicht nur das neue, das demokratische Polen, sondern schlechthin Polen – Polen überhaupt. Nach Zymierski redete unser Generalmajor, ein dikker Mann mit Generalsmütze, aber ohne Mantel, in Sommerdienstkleidung. Er sprach nüchtern, klug und sehr knapp, und von Anfang an wandte er sich direkt an die schlesischen Bergleute und Metallarbeiter, was ihm sofort die Sympathie der auf dem Platz versammelten Menschen eintrug. Gleich zu Beginn versprach er sich, als er sagte: „Genossen Bergleute, Genossen Metallarbeiter, Genossen Arbeiter und Arbeiterinnen der schlesischen Schächte und Gruben, Genossen Hausarbeiterinnen…“ Wahrscheinlich wollte er sagen: Genossinnen Hausfrauen, aber der Lapsus blieb unbemerkt, denn was er danach sagte, war wohlüberlegt und gut. Danach stürmte ein barhäuptiger Mann auf die Tribüne. Er hatte schwarzes, zottiges Haar und begann in höchsten Tönen zu reden. Seine Stimme überschlug sich mehrmals, er wurde heiser, hustete, aber die hohen Töne behielt er bis zum Schluß bei. Er sprach leidenschaftlich und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, geißelte die Londoner Exilregierung, erwähnte Bierut, Osöbka-Morawski und Zymierski,
nannte sie Menschen, die ihr Volk nicht verlassen hatten, sondern bei ihm geblieben waren, um im Untergrund zu kämpfen, und daher seine Nöte kannten. Er stellte sie den Londonern gegenüber, sprach davon, wie nötig es war, die Hände nicht in den Schoß zu legen, daß die Russen versprochen hatten, bei Polens Wiedergeburt Hilfe zu leisten, und rief die Anwesenden auf, zum Wiederaufbau des Landes alle Anstrengungen zu unternehmen, und obwohl ich den Eindruck hatte, daß er seine Stimmkraft überschätzte und jeden Augenblick verstummen müsse, hielt er bis zum Ende durch. „Niechzyje!“ Viele Male wurde er von dem Ruf unterbrochen. Unter donnerndem Beifall verließ er die Tribüne. Soweit ich verstand, vertrat er die Ortsgruppe der Arbeiterpartei. Übrigens, der Alte mit den beiden Kreuzen und den beiden Medaillen, den ich vor Beginn der Kundgebung bemerkt hatte, stand unweit der Tribüne. Jedesmal, wenn ihm eine Stelle einer Rede besonders gefiel, zog er den steifen Hut, blickte den Redner fest an und reckte sich ihm entgegen, als wolle er ihm zeigen, wie sehr er das Gesagte begrüßte. Ihm gefielen die von der Tribüne gesprochenen Worte nicht einfach, er ging darin auf, er lebte darin, als wären sie ein Stück von ihm. Über die Zeit vom 18. bis 24. März besitze ich keine Tagebuchaufzeichnungen. An der 4. Ukrainischen Front vollzog sich nichts von Bedeutung. Die Truppen wurden für einen Stoß in neuer Richtung umgruppiert. Um zwei Tage verzögerte sich wegen der Kundge-
bung in Katowice die an die Nahtstelle der 4. und der 1. Ukrainischen Front zur Armee des Generals P. A. Kurotschkin geplante Fahrt. Diese Armee griff zwar an, erzielte jedoch in jenen Tagen nicht so spürbare Erfolge, daß man darüber für die Zeitung hätte schreiben können, zumal in der Redaktion von den verschiedensten Fronten eine Welle von Berichten über die Einnahme neuer und immer wieder neuer Städte eintraf. Mich drängte die Redaktion der „Krasnaja Swesda“ zu etwas anderem. Ich sollte meine geplante Artikelserie „Briefe aus der Tschechoslowakei“ schreiben. Da ich mich an die Arbeit setzte, kam ich nicht dazu, über meine zwei Tage bei der 60. Armee Tagebuch zu führen. Das tut mir heute schon deshalb leid, weil ich an einem der beiden Tage Marschall Konew folgte, der gerade den äußersten linken Flügel besuchte. In seinen Einheiten hatte ich mich schon öfter umgesehen. Ihm selber begegnete ich zum erstenmal. Während der vielen Jahre, in denen ich später meine Kriegsromane schrieb, wandte ich mich wiederholt um Rat und Unterstützung an Iwan Stepanowitsch Konew. Ich erkundigte mich nach dem Verlauf der Ereignisse, wie er sie als Oberbefehlshaber einer der entscheidenden Fronten erlebt hatte. Bei einem dieser Gespräche tauchte die Frage auf, wann und unter welchen Umständen wir uns kennengelernt hatten. Wann – daran erinnerten wir uns beide noch, aber wie – das wußten wir nicht mehr. Unsere erste Begegnung war kurz. Ein Korrespondent der Zeitung „Krasnaja Swesda“ hatte sich Marschall Konew vorgestellt und seine Erlaubnis einge-
holt, ihm überallhin folgen zu dürfen. Konew sagte „ja“, stieg in seinen „Willys“ und fuhr los. So hatten wir uns kennengelernt. Für längere Gespräche mit mir oder einem anderen in meiner Situation hatte Konew an diesem Tage keine Zeit. Bei aller Unzulänglichkeit eines so fragwürdigen Instruments wie des Gedächtnisses -hieran erinnere ich mich genau und scheue mich nicht, es zu Papier zu bringen, trotz der vielen Jahre, die inzwischen vergangen sind. Näherer Einzelheiten entsinne ich mich nicht, weder der Lage noch der Örtlichkeit noch des Wetters. Ich weiß nur, daß Konew zwischen Morgen und Nacht Korps um Korps und Division um Division der angreifenden Armee aufsuchte, von einer Beobachtungsstelle zur anderen fuhr, die Leute aufmerksam anhörte, Befehle erteilte und die Fahrt nach kurzer Zeit fortsetzte. Er geizte mit jeder Minute und wollte an einem Tag viel schaffen. Seine Zeit war knapp bemessen. Obwohl die 60. Armee eine wesentliche Angriffsoperation durchführte, mußte Konew außerdem die ganze riesige I. Ukrainische Front führen, dazu sieben allgemeine Armeen, nicht mitgerechnet zwei Panzerund Luftarmeen. Ich besitze also keine detaillierten Notizen, aber der allgemeine Eindruck, den dieser außergewöhnliche Mensch an jenem Tag auf mich machte, hat sich erhalten. Er war siebenundvierzig, viele Jahre jünger, als ich heute bin, hager, kurzangebunden, pflichtbewußt, und nie verlor er seine einzige Aufgabe aus den Augen, außerstande, sie auch nur für eine Minute zu vergessen: den Krieg. So lebt der Konew des zeitigen
Frühjahrs 1945 in meiner Erinnerung. Die Verlockung, ausführlicher über jemand zu schreiben, den ich nach dem Krieg Dutzende Male gesehen habe, ist um so größer, als ich von diesen späteren Begegnungen mit Konew hinreichende detaillierte Aufzeichnungen besitze. Hier handelt es sich jedoch um ein Tagebuch der Kriegsjahre, und da muß ich der Versuchung widerstehen. So hebe ich mir dieses Thema auf, und zwar für ein Kapitel des Buches „Nachkriegsbegegnungen“, das ich bereits begonnen habe und das ich in einigen Jahren abzuschließen hoffe.
28 Tagebuch, 24. März 1945. Endlich beginnt die lange erwartete Offensive, nachdem sie wegen des Wetters nochmals verschoben wurde (von gestern auf heute). Diesmal soll der Stoß durch ein dichtes Waldgebiet über Sorau geführt werden, eine Stadt, vor der unsere Truppen ihre Ausgangsstellungen bezogen haben. Nach den Lehren des vorangegangenen erfolglosen Angriffs ist diese Operation sehr geheim vorbereitet worden. Gegen Morgen sind die Wege völlig frei, die Fahrzeuge sind auf die Seite gezogen und getarnt. Nur ganz vorn stehen die Panzer der 1. Tschechoslowakischen Brigade und ein Regiment unserer selbstfahrenden Geschütze im Schutz des Morgennebels und durch Zweige verdeckt auf der Straße. Sie wurden in der Nacht herangeführt. Der Beginn der
Artillerievorbereitung ist auf acht Uhr fünfzehn festgesetzt. Die Sterne verblassen schon, von den umliegenden Sümpfen, Teichen und Seen ziehen feuchte Schwaden heran. Der Nebel löst sich von der Erde, schwebt wie eine riesige, mit unsichtbaren Fäden am Himmel hängende weiße Wüste über dem Boden. Wir fahren an den Panzern und Geschützen vorbei, biegen nach links ab und halten bei drei alten Backsteinhäusern. Hier ist die Beobachtungsstelle des Korps eingerichtet. Bei einem gitterförmigen Zaun führt ein Loch in die Erde. Der Splittergraben ist mit zwei Lagen Baumstämmen überdeckt. Der kluge Mann beugt vor. Von den Stellungen sind wir etwa einen Kilometer entfernt. Vorn sieht man den Bahndamm. Dort beginnt das Verteidigungssystem der Deutschen. Hinter der Eisenbahnlinie liegt Sorau, aber zunächst ist es noch im Nebel verborgen. Ich betrete ein kleines Zimmer mit mehreren Plüschstühlen und einem Nickelbett. General Melnikow, der Korpskommandeur, hat die Jacke aufgeknöpft und ruht, die Hände unterm Kopf verschränkt, auf dem Bett. „Ich habe es mir bequem gemacht. Alles fertig. Nichts zu tun. Ich warte.“ Er setzt sich hin. Melnikow ist eckig gebaut. Er hat einen großen, kahlrasierten Schädel, eine tiefe Narbe auf der Stirn, ein schweres, quadratisches Gesicht, einen quadratischen Rumpf. Trotzdem wirkt er nicht finster, sondern stattlich, solide. Seine Stimme klingt dumpf und ruhig. In dem quadratischen Gesicht blitzen blanke, lebhafte Augen. Auch der Chef des Stabes und der Chef Artillerie
sitzen hier im Zimmer, alle im Zustand qualvoller Erwartung. Bald der eine, bald der andere geht auf die Straße, um nach dem Wetter zu sehen. Der Nebel hat sich noch nicht gelichtet, obwohl es schön zu werden verspricht. „Vor elf verzieht er sich nicht’’, meint Melnikow mürrisch. „Das habe ich dem Befehlshaber schon gestern mitgeteilt. Gestern ist es später auch schön geworden, aber der Nebel hat sich erst gegen elf verzogen. Wenn wir vorher anfangen, vergeuden wir kostbare Munition!“ Einer der Anwesenden äußert, daß man lieber um zwölf oder um eins anfangen sollte. Das wäre für die Deutschen eine ungewohnte Zeit und eine völlige Überraschung. „Unerwartet kommt es für sie sowieso“, sagt Melnikow. „Ich bin davon überzeugt, daß sie nichts ahnen. Sie sind weder auffallend leise noch auffallend laut, sondern wie immer. Aber wenn wir anfangen, ehe sich der Nebel verzogen hat, verpulvern wir sinnlos Granaten. Das wäre schlecht.“ Moskalenko ruft an. „Jawohl. Zu Befehl. Jawohl.“ Melnikow spricht erfreut in den Hörer und legt auf. „Um eine Stunde verschoben.“ Er wendet sich an den Chef Artillerie. „Sofort allen bekanntgeben.“ Dann verdüstert sich seine Miene wieder, und er betont, auch um neun Uhr fünfzehn habe sich der Nebel nicht verzogen, nicht vor elf Uhr. Der Gedanke quält ihn, das Gespräch dreht sich weiter um diesen Punkt, bis Moskalenko nochmals anruft. Diesmal wendet sich Melnikow an den Chef der Nachrichtentruppen, als er aufgelegt hat. „Bringen
Sie sofort in Erfahrung, wer im Korps auf ,Eiche’ und ,Ahorn’ hört.“ „Diese Rufzeichen hat bei mir niemand“, entgegnet der Chef der Nachrichtentruppen, ohne zu zögern. „Dann erkundigen Sie sich bei allen uns zugeteilten Artillerieeinheiten, wer ,Eiche’ und ,Ahorn’ hat. Stellen Sie sich vor“, sagt Melnikow, während der Leiter Nachrichten hinausgeht, „irgendein Schuft mit diesen Rufzeichen hat eben einen offenen Text gefunkt: .Eiche, hier Ahorn. Vergiß nicht, in fünf Minuten geht es los.’“ „Nach meiner Meinung gibt es diese Rufzeichen auch nicht bei den uns zugeteilten Artilleristen“, sagt der Chef Artillerie. „Weiß der Teufel!“ Melnikow zuckt die Schultern. „Unsere Nachbarn vielleicht? Sie fangen früher an. Trotzdem kommt es zeitlich nicht hin. In fünf Minuten, das heißt acht Uhr zehn. Verstehe ich nicht.“ Jemand äußert eine Vermutung. „Vielleicht wollen die Deutschen provozieren.“ „Das wäre übel. Wenn sie provozieren, heißt das, sie haben Lunte gerochen.“ Fünf Minuten später hinkt, ein Bein nachziehend, der Kommandeur einer Artilleriebrigade herein. Er ist schlank, spitznasig und kommt mir sehr jung vor, bis er die Soldatenmütze mit dem Generalsstern abnimmt. Da sehe ich, daß er stark ergraut ist. „Was ist mit diesen Rufzeichen?“ fragt er. Melnikow erklärt es ihm. „Nein, ich habe in meiner Brigade niemanden mit diesen Rufzeichen“, erklärt der Artillerist. Eine Viertelstunde später tritt der Leiter Nachrichten ein und meldet, weder im Korps noch in den Einhei-
ten, die dem Korps zugeteilt sind, gebe es „Eiche“ oder „Ahorn“. „Wieso nicht?“ fragt Melnikow streng. „Die gibt’s eben nicht“, antwortet der Leiter Nachrichten unbeirrt. „Na, Gott sei Dank, wenn es so ist“, sagt Melnikow und seufzt erleichtert auf. „Das werden wir weitermelden.“ Wenige Minuten später wird wieder von oben angerufen. Die Feuervorbereitung sei abermals um eine weitere Stunde verschoben. „Das ist gut“, sagt Melnikow. „Zehn Uhr fünfzehn also. Bloß steigt der Nebel vor elf nicht“, beteuert er hartnäckig. Durch die Bemerkungen übers Wetter kommen wir auf die Krim zu sprechen. Der Artilleriegeneral erwähnt einige Orte der Halbinsel Kertsch, die ich gut kenne: Korpetsch, Tulumtschak, Dshantaru… „Mit dem Wetter hatten wir Pech. Vom frühen Morgen an, kaum daß der Angriff begann, Regen, Schnee, Hagel und weiß der Teufel, was noch. Einfach abscheulich!“ „Ja, wer nicht auf der Krim war, der kennt so was nicht“, bekräftigt der Stabschef, der die Krim ebenfalls kennengelernt hat. Ich gehe hinaus. Der Nebel hat sich doch ein wenig gelichtet. Von den Häusern am Stadtrand sind schon die Dächer zu sehen. Melnikow wird wohl irren. Der Nebel wird sich vor elf auflösen. „Na, was ist, verzieht er sich?“ fragt Melnikow, als wir eintreten. „Ein bißchen.“ „Nicht vor elf“, wiederholt er. „Sie sollten es dem Befehlshaber melden“, rät ihm jemand. „Was gibt es da zu melden. Sie sehen dort auch nicht schlechter als ich. Sie sitzen nicht irgendwo im Stab, sondern achthundert Meter weiter.“
„Ja, also noch eine Stunde und vierzig Minuten“, sagt der Artillerist. „Ein Gefühl, als ob man auf dem Bahnsteig steht, wenn der Zug Verspätung hat.“ Melnikow meint, heute ließe sich die Überraschung offenbar realisieren. „Meiner Meinung nach haben wir strengste Geheimhaltung gewahrt. Natürlich ist es ihnen nicht entgangen, daß wir vor zwei, drei Tagen die Artillerie fürs direkte Richten in Stellung brachten, aber ich befahl am Abend, daß sämtliche Geschütze noch einmal die Position wechselten. Gegen Morgen eröffneten die Deutschen das Feuer auf die vorher markierten Punkte. Der Beschuß ging ins Leere. Sie glaubten unsere Artillerie zerschlagen zu haben und beruhigten sich. Aber hier ist alles ganz geblieben.“ Von der Division wird angerufen. Kleine deutsche Gruppen mit leichten Maschinengewehren näherten sich dem Bahndamm. „Haben sie etwa doch was gerochen?“ entgegnet Melnikow besorgt. „Das sollten sie nicht. Beschießen Sie sie ein wenig mit den Geschützen, die direkt gerichtet sind. Auch gut“, fügt er hinzu, als er schon aufgelegt hat, „hier und da ein Schuß und Treffer – es kann nicht schaden. Außerdem wäre es sogar verdächtig, wenn wir sie beobachteten und nicht reagierten.“ Zwanzig Minuten später wird von der Divisionsbeobachtungsstelle mitgeteilt, die Deutschen bewegten sich anscheinend nicht auf den Bahndamm zu, sondern zögen sich im Gegenteil von dort zurück. Bei der ersten Meldung hätten sich die Beobachter geirrt. „Das ist schon schlechter“, sagt Melnikow. Alle im Zimmer sind aufgeregt.
„Unangenehm, wenn sie doch etwas gemerkt haben sollten“, sagt Melnikow, „obwohl ich nach wie vor der Meinung bin, daß sie nichts ahnen. Erhebt sich die Frage, warum sie dann die Stellung wechseln. Na, egal, in fünfzig Minuten fangen wir an. Auch wenn sie sich auf die zweite Linie zurückziehen – entgehen werden sie uns nicht. Die erste Linie beschießen wir nur zehn Minuten lang, dann verlegen wir das Feuer auf die zweite. Noch ist unbekannt, wo wir sie am empfindlichsten treffen. Vom psychologischen Gesichtspunkt aus wäre es natürlich schlecht, wenn sie vorher Lunte gerochen haben. Wenn sie was ahnen, halten sie sich länger. Trotzdem, so oder so werden wir sie zerschlagen, und bei den Toten spielen psychologische Faktoren keine wesentliche Rolle mehr. Ja, ja“, sagt er bekräftigend zum Chef Artillerie, „direktes Richten, Feuer eröffnen, und recht aktiv, aber noch kein massiertes Feuer. Einzelne Geschütze schießen lassen.“ In nächster Nähe schlagen deutsche Granaten ein. Die Scheiben klirren. „Störfeuer“, sagt Melnikow. Die Detonationen erfolgen jedoch immer häufiger. „Nein – bitte sehr, ein regelrechter Feuerüberfall.“ „Die werden nervös“, bemerkt jemand. „Ja. Sie regen sich langsam auf.“ Nach einer Minute endet der Feuerüberfall. Ruhe tritt ein. Nur das nicht allzu laute, abgehackte Blaffen unserer direkt gerichteten kleinkalibrigen Kanonen kommt von vorn. Anruf der Division. „Sie melden, daß sie treffen“, sagt Melnikow, als er aufgelegt hat. „Die Deutschen gehen zu Boden, und ein Teil von denen, die abgezogen waren, ist zum
Bahndamm zurückgekehrt. Macht nichts. Vernichten sie. Alle.“ Hinter jede der drei letzten Bemerkungen setzt er gleichsam einen Punkt. Schwer schlägt er mit der Faust auf den Tisch. Neun Uhr dreißig grollen links von uns die „Katjuschas“, und Hunderte von Rohren speien ächzend Granaten. „Die Nachbarn haben angefangen.“ Wir gehen ins Freie. Links brüllt und donnert es auf einem zehn Kilometer langen Abschnitt. Das Bondary-Korps hat aus dem beim letzten Angriff gewonnenen Raum heraus die Feuervorbereitung begonnen. Die Feuervorbereitung ist dort von vornherein für fünfundvierzig Minuten früher vorgesehen als hier, wo der Hauptstoß erfolgen wird. Die Deutschen sollen sich in dem Glauben wiegen, daß wir unsere Offensivoperationen genau dort wiederaufnehmen wollen, wo sie zum Erliegen kamen. Das wird zur Folge haben, daß sie ihre nächsten Reserven dorthin werfen, und dann, wenn sie merken, daß wir unseren Hauptstoß hier führen, werden sie abermals Zeit verlieren, um die Bewegung der Reserven zu stoppen und sie zurückzuführen. In den letzten Tagen haben wir eine eifrige Desinformation der Deutschen betrieben, zur Täuschung scheinbare Stellungswechsel vorgenommen, insbesondere Lkw-Kolonnen auf die Nachbarn zur Linken zurollen und auf ihren Verbindungswegen entlang der Front Panzer hin- und herfahren lassen. So wollten wir den Eindruck erwecken, daß der Hauptschlag dort vorbereitet werde. Von Zeit zu Zeit durchbricht das Krachen einer Detonation das allgemeine Getöse der Kanonade. Die
Deutschen erwidern das Feuer. Wir gehen ins Zimmer zurück. Der Befehlshaber ruft an. Er warnt uns. „Keine Sorge, keine Sorge.“ Melnikow lacht, als er den Hörer auflegt. „Sie haben Angst, wir könnten uns hinreißen lassen, wenn wir hören, daß es bei den Nachbarn losgegangen ist.“ Dann folgt Schweigen, das der Kommandeur einer Artilleriebrigade unterbricht. „Zehn Uhr zehn. Fünf Minuten haben die Deutschen noch zu leben. Dann müssen sie sterben.“ Der Chef Artillerie läßt zwei weitere Kommandeure von Artilleriebrigaden kommen, zwei Obersten. Beide treten mit einem Stock ein. Für viele unserer Offiziere, besonders für die der Panzertruppen und der Artillerie, ist das Gehen am Stock zur Gewohnheit oder zur Mode – und manchmal zu beidem – geworden. Der Chef Artillerie wendet sich an die Obersten. Seine Stimme klingt sogar ein bißchen feierlich, als er sagt: „Machen Sie sich fertig. Länger schieben wir es nicht auf. Artilleristen an die Geschütze!“ „Zu Befehl, an die Geschütze!“ antworten die Obersten und treten ab. Ein Brigadekommandeur bleibt im Zimmer. Plötzlich erinnert sich der General an einen Vorfall im Bereich der Zentralfront. „Wir kamen nicht dazu, alle von der Verlegung des Beginns der Feuervorbereitung zu unterrichten. Zwei Regimenter fingen zu früh an, ihnen folgten auch die anderen.“ „Und was passierte dann?“ fragte Melnikow. „Nichts. Alles verlief erfolgreich.“ „Es passierte nichts, weil alles erfolgreich verlief“,
bemerkt Melnikow ironisch. „Wäre es ein Mißerfolg geworden, hätten sich die, die vorzeitig angefangen hatten, nicht wiedergefunden. Uns geht nichts übers Prinzip, aber ein Sieg rechtfertigt alles.“ Eine Minute noch. „Also, mit Gott“, sagt jemand. „Auf gutes Gelingen!“ sagt Melnikow, knöpft den Ledermantel zu, stülpt die Mütze auf, tritt vor die Tür. „Feuer!“ ruft er beim Hinausgehen dem Chef Artillerie zu. Der Angeredete verschwindet durch das Loch neben dem Haus in dem Bunker, der Funkstelle und Telephone beherbergt. Fünfzehn Sekunden später kracht die erste herrliche Salve der Raketenwerfer. Über unsere Köpfe hinweg ziehen Feuerpfeile, die wenige hundert Meter über der Erde schwarz werden und sich in hantelähnliche Gebilde verwandeln, schwere Raketengeschosse, und eine Minute später erheben hinter uns tausend Artillerierohre ihre Stimme, erfüllen den ganzen Raum mit ihrem Gebrüll. Gleichzeitig rollen die leichten 76-mm-Kanonen an uns vorbei die Chaussee entlang. Sie fahren sehr schnell und verschwinden eine nach der anderen hinter einer Biegung der Landstraße. Vor uns donnert und brodelt es. Anfangs konnte ich noch beobachten, wie die Granaten am Stadtrand in die Häuser einschlugen. Jetzt tauchen unsere Bomber über Sorau auf. Alles verschmilzt zu einem Hexenkessel, über dem eine Säule aus Rauch und Staub steht. Nur hier und da steigen schwarze Fontänen auf und lösen sich aus dem Dunst. Kampfflugzeuge jagen in geringer Höhe heulend über die deutschen Gräben am Stadtrand hinweg. Den
selbstfahrenden Geschützen folgen tschechoslowakische Panzer die Landstraße entlang. Auf dem zweiten oder dritten sitzt ein Mann in Lederjacke, den Helm hat er abgenommen und winkt damit der vorgehenden Infanterie zu. Ein Offizier löst sich von dem Haus, vor dem wir stehen, und läuft zur Straße. Wahrscheinlich ist er Verbindungsoffizier und muß nach vorn fahren. Er winkt, weil er aufsteigen möchte, aber die Panzer sind mitten im Angriff und können nicht anhalten. Auch die Tatsache, daß einer den anderen weiterdrängt, hat etwas Erregendes. Einer nach dem anderen schwenken sie von der Chaussee ab und rollen übers Feld zur Übersetzstelle, die links von der Stadt angelegt ist. Ich steige zum Boden des Hauses hoch. Durchs Scherenfernrohr ist gut zu erkennen, wie die ersten Panzer, die das Flüßchen vor Sorau (Zory) bezwungen haben, die vordersten deutschen Gräben passieren und weiterfahren. Ich sehe die Pioniere, winzige Figuren, die mit Minensuchstäben vor den Panzern her gehen. Zu beiden Seiten der Panzer bewegt sich die Infanterie, wobei man aus der Ferne – wie stets bei einem Angriff – den Eindruck hat, daß es nur wenige Soldaten seien, und der Schein trügt auch nicht ganz. Wenn man das gewaltige Ausmaß dieses Kriegsmechanismus bedenkt – so ist heute zum Beispiel auf dem Streifen des Hauptstoßes eine komplette Armee zum Angriff angetreten und wird von ihren Nachbarn unterstützt –, dann sind es, am Ganzen gemessen, tatsächlich nicht allzu viele Infanteristen, die im eigentlichen Durchbruchsabschnitt zur ersten Welle gehören, einige hundert, allenfalls tausend. Die
Gruppierung ist tief gestaffelt, und eine Division des Korps, das den Hauptschlag führt und den Frontdurchbruch erzielen soll, bildet – ebenfalls in zwei Staffeln gegliedert – die Spitze. Zur ersten Staffel gehören zwei Regimenter, von jedem Regiment gehen zwei seiner Bataillone voran, und von diesen Bataillonen geht je eine Kompanie hinten und gehen je zwei Kompanien vorn, so daß also die ersten Reihen im Durchbruchsabschnitt nur sieben- bis achthundert Angreifer zählen, wobei zu diesen Infanteristen natürlich noch die Pioniere, die Panzer und die übrigen unterstützenden Einheiten kommen. Heute kann niemand mehr auf der Welt einen Angriff von der Art erleben, wie er zur Zeit der Napoleonischen Kriege üblich war. Ein moderner Angriff gleicht dem überhaupt nicht mehr, auch wenn ihn einige unserer Schriftsteller im Stil von 1812 schildern. Die letzten Panzer haben die Straße noch nicht verlassen. Lange Reisigbündel bedecken ihre Seiten. Aufgesessen sind die Landungstruppen, und auf dem letzten die Einweiser mit ihren Fähnchen. Sie sollen in Sorau, das jetzt in Flammen steht, die ersten Regulierungsposten einnehmen. Durchs Scherenfernrohr kann ich gut verfolgen, wie die Infanterie weiter und weiter vordringt. Nur ganz vereinzelt schlagen dort Granaten ein. Diesmal verläuft alles wunschgemäß. Auf der ganzen Breite des Durchbruchsabschnitts ist die vordere deutsche Artillerie weitgehend ausgeschaltet. Trotzdem spüre ich Ungeduld und Erregung, die auf den Beobachtungsstellen herrschen. Dreißig Minuten später wird der erste verwundete Offizier zurückgebracht. Er liegt in
einer Zeltbahn, die vier Soldaten an den Enden tragen. Noch einige Minuten vergehen, dann wird ein gefangener deutscher Feldwebel vorgeführt. Er ist besudelt, über und über mit Ruß und Erde beschmiert, hellblond, er sieht wie fünfundzwanzig aus. Ich weiß nicht, ob die Volkssturmleute, von denen neuerdings so viel geredet wird, an anderen Frontabschnitten eingesetzt sind oder ob sie sich nicht ergeben, oder warum kein Angehöriger des Volkssturms in Gefangenschaft gerät. Jedenfalls waren alle Gefangenen, die ich in den letzten Tagen gesehen habe, durchschnittlich etwa so alt wie früher, in den ersten Kriegsjahren. Ich habe unter ihnen weder Kinder noch Greise angetroffen. Gewiß, es gab zahlreiche Brillenträger, und andere waren vielleicht begrenzt tauglich, aber Knaben oder alte Männer habe ich bisher nicht gesehen. Die Antworten, die der Feldwebel auf Ortenbergs Fragen gibt, enthalten wenig Bemerkenswertes. Er sagt etwa das, was unter ähnlichen Umständen wohl jeder deutsche Feldwebel sagen würde. Von praktischem Interesse für uns ist nur seine Bestätigung, die Deutschen hätten den Angriff wirklich nicht vorausgesehen. Gestern hätten Nachrichtenleute etwas von Truppenverschiebungen bei den Russen gemunkelt, genauere Gerüchte wären jedoch nicht kursiert, und auch durch die vorgesetzten Stellen seien keine Hinweise erfolgt, so daß der Feuerschlag sie völlig überrumpelt habe. Die Verluste, die sie dabei erlitten hätten, seien beträchtlich. Nach den Umständen seiner Gefangennahme befragt, erklärt der
Feldwebel ziemlich verblüffend: „Die russischen Kameraden haben mich von zwei Seiten umgangen, da habe ich mich ergeben.“ Er formuliert das wörtlich so: „Die russischen Kameraden…“ Der Feldwebel wird weggeführt, und der Stabschef des Korps, der inzwischen mit dem linken Nachbarn verbunden war, meldet eine Neuigkeit. Trotz der Tatsache, daß der Nachbar lediglich einen Hilfsschlag führte und im wesentlichen ein Scheinmanöver verübte, seine Feuervorbereitung folglich verhältnismäßig gering war und von ihm nur schwächere Kräfte eingesetzt wurden, hat sich dort ein unverhoffter Erfolg eingestellt. Die Deutschen, die dem linken Nachbarn gegenüberstanden, sind ins Wanken geraten und haben sich zur Flucht gewandt. Von der dort liegenden deutschen Division sind bereits vierzig Gefangene eingebracht worden. Später erfahre ich, etwa zweihundert Angehörige dieser Division hätten sich in Gefangenschaft begeben. Nach Gefangenenaussagen sind die Soldaten zwei Tage zuvor aus Italien gekommen und haben, da sie an den Stellungskrieg gegen unsere Verbündeten gewöhnt waren, vor dem Einsatz an der Ostfront große Angst gehabt. Darum haben sie als erste die Flinte ins Korn geworfen. Ich setze mich zu Ortenberg in einen „Willys“, und wir fahren nach Sorau. Unterwegs halten wir an. Ortenberg sucht für einige Minuten die Beobachtungsstelle einer angreifenden Division auf. Ich bleibe draußen. Die Straße ist bereits Schauplatz erster Stauungen. Panzer, die ewigen Widersacher der Nachrichtenleute, bleiben mit ihren Funkanten-
nen in den höchsten Telephonleitungen hängen, während sie die tieferen mit ihren Türmen und Kanonen zerreißen. Wir fahren weiter. Der ganze Raum zwischen unseren ehemaligen vorgeschobenen Stellungen und dem Eisenbahndamm ist umgepflügt. Auf dem Feld liegen einige sowjetische Soldaten, tot, wahrscheinlich die Opfer von Minen oder zu kurz gefeuerter Granaten. Eine traurige Geschichte, ohne die es so gut wie nie abgeht. Den Bahndamm hat die Artillerie kreuzweise umgewühlt. Zwischen den Trichtern liegen tote Deutsche. Die Brücke über den Fluß. Unsere Pioniere haben sie einmalig schnell gebaut. Wir holpern über die Baumstämme. Dann haben wir den Rand von Sorau erreicht. Hier herrscht schon das in solchen Fällen übliche Durcheinander, hier besonders schlimm, weil in der Stadt mehrere Straßen zusammenlaufen. Pioniere durchqueren den Ort, suchen das Pflaster ab. Hinter ihnen dröhnen Panzer, und den Panzern folgen schon die Versorgungsfahrzeuge. In den dreißig Minuten der Feuervorbereitung durch die Artillerie und der Luftangriffe wurde die Stadt buchstäblich kurz und klein geschlagen. Ein Teil der Häuser ist völlig dem Erdboden gleichgemacht. In anderen klaffen zahlreiche Löcher, die Granaten gerissen haben. Viele Häuser brennen. Die Straßen sind von Trümmern übersät. Im ersten Augenblick scheinen keine Einwohner mehr in der Stadt zu sein. Doch der Eindruck trügt. Die Leute halten sich zunächst weiterhin in ihren Kellern versteckt.
Wir fahren durch Sorau und biegen nach rechts ab. Dort liegt am Stadtrand ein Werk, über dem ein zerschossener Schornstein aufragt. Auf dem Weg zum Werk gelangen wir zur Beobachtungsstelle einer Division, die rechts von Sorau operiert hat. In einem kleinen Unterstand treffen wir den Divisionskommandeur, General Dudarew. Wie Ortenberg sagt, hat er am Chalchyn gol eine Brigade geführt. Ich muß ihn dort gesehen haben, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Dudarew ist ein großer, starker Mann mit Brille, die nicht zu seinem herben, straffen, männlichen Gesicht paßt. Er hat die Mütze zurückgeschoben und den Kragen aufgeknöpft. Der General steht im Begriff, nach vorn zu fahren, doch zunächst erledigt er eilig einige wichtige Dinge. Dabei wirkt er nicht abgehetzt, ein Mensch, der ganz in seiner Arbeit aufgeht. Alles zusammen – die auf den Hinterkopf geschobene Mütze, die Nickelbrille, der aufgeknöpfte Kragen – verleiht ihm das Aussehen eines Handwerksmeisters, der mit hochgekrempelten Ärmeln arbeitet, nur für eine Minute seine Tätigkeit unterbricht und sich uns zuwendet, ohne sein Werkzeug aus der Hand zu legen. Von Dudarew fahren wir zum Werk. Es befand sich im vordersten Abschnitt der Deutschen. Viele Granaten haben seine Mauern durchschlagen, aber es zeigt sich wieder einmal, solche Anlagen sind nicht leicht zu zerstören. Alles in allem existiert das Werk noch, ein langgestrecktes Backsteingebäude, das aus drei Abteilungen besteht, offenbar eine starke spezialisierte Produktion. Auf dem Boden türmen sich frisch gedrehte Scheiben für Panzertürme. Wahrscheinlich sind diese Scheiben
hier gefertigt worden. In der Halle steht fast nichts außer einigen Dutzend Dreh- und Schleifmaschinen. In der dritten, der letzten Abteilung, liegt zwischen zwei riesigen Schleifmaschinen am Ende des Raums – unter einem Loch, das eine Granate ins Dach geschlagen hat – ein toter sowjetischer Soldat, buchstäblich in Stücke zerrissen. Warum liegt er hier, im äußersten Winkel der Halle, wo der Tod auf ihn lauerte. War er einem Deutschen gefolgt? All das ist unbekannt. Niemand kann die Frage beantworten, warum dieser Mann hier, in einem deutschen Werk Soraus, vom Tod ereilt wurde. Mancherlei ungereimte Dinge geschehen im Krieg. Vom Werk fahren wir in die Stadt zurück. Die Bevölkerung kommt allmählich aus den Kellern. Die Leute sind verstört, besudelt, beschmutzt, mit Mörtel bestäubt, von den Vorfällen betroffen. In diesen anderthalb bis zwei Stunden müssen sie wahrhaft Schreckliches durchgemacht haben, denn sie können noch gar nicht zu sich kommen. Da stehen sie vor leeren Fensterhöhlen, vor zerfetzten Türen und betrachten schweigend die vorüberziehenden Soldaten. Unter ihnen gibt es Männer mittleren Alters, auch Greise, die Mehrheit aber sind Frauen und Kinder. Wir halten an, um mit ihnen zu sprechen. Es sind alles Polen. Die deutsche Zivilbevölkerung ist längst evakuiert worden. Geblieben sind die Polen, die nicht fortgehen wollten und entschlossen waren, alles Schreckliche in Kauf zu nehmen. Wir durchfahren eine Straße, eine zweite, nähern uns einer Kirche. Ich glaube, es ist diesselbe, die Iwan Jefimowitsch Petrow meinte, als er vor einer Woche von einer Re-
kognoszierung zurückkam und sagte, daß sie mit den ersten Schüssen zu zerstören sei, weil sie eine gute Aussicht bot und die Deutschen dort sehr wahrscheinlich eine Beobachtungsstelle eingerichtet hatten. Falls sie es wirklich getan haben, ist davon nichts übriggeblieben. Nur das Gerippe der Kirche steht noch. Auch der Friedhof daneben ist von Trichtern durchzogen. Selbst den Toten gönnt der Krieg hier keine Ruhe. Wir gehen in eins der Häuser, die nicht zerstört sind. Das Nachbarhaus wurde in der Mitte von einer Bombe getroffen; die vier Wände sind in einen riesigen Trichter gestürzt, den der Schutt fast bis zum Rand füllt. Das Haus nebenan aber ist verschont geblieben. In den Korridoren und Zimmern herrscht ein wirres Durcheinander, Gegenstände aller Art liegen herum: Regale, Garderoben, Servietten und sonstiger Hausrat, ein erschütterndes Bild. Einige Frauen drängen sich in den Zimmern, laufen durch die Korridore, halten Kinder an den Händen. Sie sind schockiert, benommen, denken nicht an ihr Äußeres, nicht einmal daran, sich Ruß und Mörtel vom Gesicht zu wischen. In einem Raum treffen wir zwei Soldaten an. „Was macht ihr hier?“ fragt Ortenberg. „Wollt euch wohl drücken?“ „Überhaupt nicht. Wir sind gekommen, weil wir Durst hatten.“ „Sie haben um Wasser gebeten, das ist wahr“, bestätigt eine alte Frau und hält zum Beweis einen Krug hin. Sie bangt um die Soldaten. Die Obrigkeit könnte ungerecht zu ihnen sein. Auf der Straße begegnen wir einem Trupp Gefan-
gener, etwa zehn Mann. Ein kurzes Gespräch mit ihnen ergibt nichts Neues, aber schweigend nehme ich eine charakteristische Einzelheit zur Kenntnis. Bei einem gefangenen Gefreiten entdecke ich eine ausgefranste Stelle auf der Feldbluse. Einige Seidenfäden hängen dort, wo die Deutschen gewöhnlich ein Ehrenzeichen tragen, das ihnen zur Erinnerung an ihre Teilnahme am Winterfeldzug 41/42 in Rußland verliehen wurde. Wahrscheinlich hat es der Gefreite mit der Angst bekommen, das Ehrenzeichen abgerissen und versäumt, die restlichen Fäden herauszuziehen. In der nächsten Straße treffen wir noch einen Gefangenen. Ein kräftiger Soldat, der nicht auf den Mund gefallen ist, führt ihn ab. „Wo hast du ihn aufgegabelt?“ fragt Ortenberg. „Na hier, in Sorau.“ „Und wie hat er sich dir ergeben?“ „Überhaupt nicht hat er sich ergeben. Er ist aus einem Keller gekrochen. Auf allen vieren krabbelte er zwischen den Steinen herum. Da nahm ich ihn am Schlafittchen. Was hast du zu krabbeln, fragte ich, bist du eine Laus?“ Immer mehr Soldaten und Autos überschwemmen den Ort. Pioniere, die Gesichter angespannt, ganz Aufmerksamkeit, tasten mit ihren Minensuchgeräten die Straßen ab. Hinter ihnen brummen ungeduldig die Motoren der Lastwagen. Wir verlassen Sorau in westlicher Richtung und geraten auf eine Straße, die verstopft ist. Gleich am Stadtrand steht bei einer Kreuzung ein Wegweiser mit der deutschen Aufschrift „Loslau 18 km“. Als wir zweieinhalb Kilometer gefahren sind und ein Dorf
hinter uns haben, sehen wir auf der Chaussee und im Straßengraben immer wieder tote Deutsche liegen. Wir fahren in eine Niederung, auf eine Anhöhe, dann wieder an einem Hügel entlang und erblicken Petrow und Mechlis, die am Straßenrand stehen. Eine Verkehrsstockung hat sie aufgehalten. Vor ihnen bilden Lastwagen, Fuhrwerke und Panzer ein Durcheinander. Ich trete zu Petrow. Erstmalig sehe ich ihn glücklich, mit strahlender Miene. Er trägt keine Pelzmütze, sondern schon frühlingsmäßig eine neue Feldmütze. „Ganze Arbeit geleistet“, sagt Petrow. Ortenberg kommt hinzu und sagt, er habe mit Deutschen gesprochen, und sie hätten von dem Angriff nichts geahnt. „Das trifft zu“, bestätigt Petrow. „Alle, die hier waren, sind hier geblieben.“ Die Stockung hat sich ein wenig gelöst. Petrow winkt uns zu und fährt weiter. Wir gehen zu unserem „Willys“ und fahren hinterher. Bald haben wir sie eingeholt. Vor uns bildet sich noch eine Stauung. Als wir Sorau verließen, glaubte ich nach dem ursprünglichen Tempo des Angriffs, wir kämen heute weiter, aber schon hier sehen wir auf den Hängen eines Hügels unsere Infanterie, die sich entfaltet, wahrscheinlich die zweiten Staffeln, und dahinter, vom Hügel verdeckt, ist das Gefecht im Gange. Granaten detonieren, Tiefflieger brummen über uns hinweg und beschießen drüben die Deutschen, die so nahe sein müssen, daß man beinah die Hand nach ihnen ausstrecken könnte. Petrow kommandiert unter solchen Umständen we-
nig. Er pflegt zu beobachten und einzuschätzen, sozusagen Gefechtswitterung aufzunehmen. Sein Adjutant und einige andere Offiziere suchen das Fahrzeugknäuel zu entwirren. Wir stehen inzwischen in der Niederung unter einem Baum, als eine Granate wild pfeifend flach über unsere Köpfe fliegt. Das Geräusch ist kurz und bald verstummt. Danach müßte eine nahe Detonation erfolgen. Petrow, Mechlis, Ortenberg und Alpert ducken sich, und ich – welche Schande! – habe mich sogar hingelegt. Doch das erwartete Krachen bleibt aus. Irgendwo ist die Granate aufgeschlagen, aber wir hören nicht, wie sie detoniert. Alle richten sich auf. „Die ging vorbei“, bemerkt Petrow. Mechlis äußert sich in ähnlichem Sinne, und ich bin wütend, weil ich mich hingelegt habe. Das kann ich mir nicht verzeihen. Übrigens, so geht es einem häufig im Krieg. Hat man sich hingelegt und die Granate detoniert in der Ferne, schämt man sich, Deckung genommen zu haben. Begibt sich einer nach vorn an einen gefährlichen Ort und kehrt wohlbehalten zurück, tut es einem leid, ihn nicht begleitet zu haben. Starten Flugzeuge zu einem Angriff, hat man Bedenken mitzufliegen, aber wenn alle Maschinen vom Einsatz zurückkehren, sagt man sich: Irgendwann muß man so einen Feindflug unbedingt mitgemacht haben. Wir entfernen uns, gehen etwa zweihundert Meter den Hang hoch und bleiben bei einem steinernen Gebäude stehen. Auf dem Hof drängen sich Soldaten und Pferde. Die Straße ist immer noch leicht blokkiert. Ein Zaun umgibt das Haus auf dem Hügel. Ich
habe den Eindruck, daß der Vormarsch ins Stocken gerät. Petrow ist unzufrieden und wird nervös. Mechlis sagt ihm, man solle vielleicht fünfzehn bis zwanzig Panzer einsetzen, um – selbst auf die Gefahr, sie zu verlieren – einen Durchbruch nach Loslau zu versuchen. Je eher, desto besser, weil es später bedeutend stärkerer Kräfte bedürfe. Petrow gibt zu, daß es ein lohnendes Wagnis wäre. Nur sollten zusätzlich fünfzig Geschütze herangebracht werden und die Stadt im direkten Richten beschießen. Ich weiß nicht, ob diese Vorschläge später verwirklicht werden. Solange ich mich dort aufhalte, ergeht hierzu kein Befehl. Alle, die den ersten Verteidigungsstreifen der Deutschen überwunden haben, rücken auf den Straßen vor, und die Artillerie, die nach der Feuervorbereitung zu spät aufgebrochen ist, muß in der allgemeinen Vorwärtsbewegung irgendwo steckengeblieben sein. Das Gefecht erlahmt. Ohne Artillerie tritt die Infanterie nicht zum Angriff an, und das Tempo der Operation verlangsamt sich. Ein großer Teil der Panzer ist zwar schon weitergefahren, aber bis wohin die Infanterie vorgedrungen ist, kann mir niemand genau sagen. Auf den ersten erfolgreichen Ansturm folgen nicht immer böse, sondern manchmal auch freudige Überraschungen. Wenn die Verbindung unterbrochen ist, wird nicht nur verniedlicht, sondern auch übertrieben, ähnlich, wie das bei erfolglosen Angriffen der Fall ist. Petrow sitzt auf dem Hof auf einem Leiterwagen und denkt schweigend nach. Mechlis steht neben ihm. Da detoniert zweihundert Meter von uns entfernt eine schwere Granate, gleich danach eine zweite. „Treten
wir näher ran“, sagt Petrow und erhebt sich. Während wir zum Haus gehen, detonieren hinter uns drei oder vier weitere Granaten auf dem Hang des Hügels. „Gleich kommen noch zwei“, sagt Petrow. Die Deutschen schicken jedoch keine mehr herüber. Wir ziehen uns hinter das Haus zurück. Dort bleiben wir stehen. „Jetzt werden die Deutschen die Straße fegen“, meint Mechlis. „Wie mit einem Besen“, bekräftigt Petrow. Tatsächlich, als wir fünf Minuten später an den Zaun treten, ist die Straße leer, obwohl es vor kurzem noch unmöglich erschien, die Fahrzeuge auseinanderzuziehen. „Kommandantendienst“, sagt Ortenberg lachend von dem deutschen Feuerüberfall. Nicht weit entfernt stehen zwei Mädchen mit Gewehren im offenen Gelände, anscheinend Sanitäterinnen. „Aber nun, ihr beiden Hübschen, marsch, hinters Haus“, sagt Petrow in seiner gewohnten, altväterlichen Art, zärtlich und barsch zugleich. Die Mädchen ziehen sich hinter das Gebäude zurück. Das Haus ist vollgestopft mit Offizieren und Soldaten, die sich bei den ersten Detonationen hineingedrängt haben. Die Deutschen haben den Beschuß eingestellt. Wie ich am Abend erfahre, wurde durch den Feuerüberfall zweihundert Meter unterhalb jenes Gebäudes eine Funkstelle zerstört. Der Kommandeur einer Artilleriebrigade und sein Nachrichtenchef sind dabei gefallen, einige Offiziere wurden verwundet. Zwanzig Minuten später steigt ein finsterer Petrow in den „Willys“ und fährt nach Sorau zurück, von dort
vermutlich an andere Abschnitte der Front. Ortenberg ist aufgebrochen, um den Politchef einer Division aufzusuchen, und da sich Alpert verabschiedet hat, weil er in der Redaktion seine Aufnahmen entwickeln muß, frage ich mich zu Moskalenkos Beobachtungsstelle durch. Die ersten Erkundigungen will ich auf Melnikows Beobachtungsstelle einziehen. Zunächst fahre ich also dorthin, treffe aber kaum noch jemanden an. Der Artilleriestabschef ist da, er führt ein heftiges Telephongespräch mit dem Chef Artillerie der Armee, der einen Feuerüberfall auf eine von den Deutschen besetzte Ortschaft befohlen hat, jedoch bezweifelt, daß sein Befehl ausgeführt wurde. Aus diesem Anlaß gibt es einen Wortwechsel am Telephon. „Na gut, dann mache ich Ihnen eben was vor“, sagt der Stabschef beleidigt. „Wenn ich lüge, kann ich Sie ja direkt mit meinen Regimentskommandeuren verbinden. Dann können Sie sich bitte bei ihnen persönlich erkundigen. Ich melde Ihnen, daß ich sechzig Granaten verschossen habe, aber wenn Sie mir nicht glauben, vergewissern Sie sich!“ Er legt den Hörer auf und fährt die Nachrichtenleute an, sie sollen die Regimentskommandeure einbeziehen. Nur mit Mühe erreiche ich, daß er mir eine Minute Gehör schenkt und mitteilt, die Beobachtungsstelle Moskalenkos befinde sich achthundert Meter weiter. Fünf Minuten später bin ich dort. Es ist ein warmer Tag. Trotzdem sitzt Moskalenko im geheizten Zimmer, an einem Haken hängt sein schwerer Pelzmantel. Jepischew ruht halb sitzend,
halb liegend auf einem Diwan. Seine Wunde macht ihm zu schaffen. Moskalenko befindet sich in jener melancholischen, leicht ironisch gefärbten Stimmung, in die er gewöhnlich verfällt, wenn zwangsläufig eine Gefechtspause eintritt. „Lahm“, sagt er, „sie kommen nicht zügig voran. Vor und halt. Vor und halt. Weiß der Teufel, was das für ein Angriffstempo ist. Kein innerer Schwung, kein Elan. Müssen geschoben werden. Traurig. Sehr traurig. Kämpfen an zwei Fronten – gegen die Deutschen und mit den eigenen Leuten, besonders mit der Artillerie, die nach keiner Feuervorbereitung rechtzeitig vom Fleck kommt.“ Nach meinem Empfinden verläuft der Angriff nicht schlecht, wenngleich nicht so gut, wie es beim ersten Ansturm schien. Alle, die ich heute gesprochen habe, waren auf Grund des vorangegangenen Mißerfolgs anfangs skeptisch. Dann, nach dem ersten erfolgreichen Stoß, glaubten sie, das Tempo des Vormarschs werde im weiteren Gefechtsverlauf zunehmen, und jetzt sind sie enttäuscht, weil die Angreifer wieder geschubst werden müssen, weil erneut eine leidige Periode des Drucks und des Schiebens eingetreten ist. Insgesamt hat sich die Lage zwar günstiger entwikkelt als beim letztenmal, doch jener Freudentag, den sich alle so sehnlich herbeiwünschten und an den sie nach der Feuervorbereitung und dem ersten Stoß glaubten, eine rasche und entscheidende Vernichtung des Gegners, ist vorerst ein Wunschtraum geblieben. Der Krieg schleppt sich weiter zermürbend dahin. Moskalenko empfängt mich mit einem scherzhaften
Vorwurf. „Da sind Sie ja endlich. Was fällt Ihnen ein, mich sitzenzulassen? Ich habe meine Beobachtungsstelle eigens zur Besichtigung für die Korrespondenten so eingerichtet, und Sie lassen sich einfach sechs Tage nicht mal sehen.“ Ich erkläre ihm, wie ich die Zwischenzeit verbracht habe und wo ich heute seit dem Morgen gewesen bin. „Trotzdem können Sie unseren Gefechtsstand ruhig mal besichtigen“, sagt Moskalenko, immer noch lächelnd, „sonst rücken wir ab, und Sie haben das Nachsehen.“ Ich gehe die wenigen Stufen der Kellertreppe hinab und betrete einen großen Raum. Im Gemäuer sind drei Öffnungen für die Scherenfernrohre eingelassen. Hier ist tatsächlich alles so wie auf einer vorbildlichen Beobachtungsstelle eingerichtet. In letzter Zeit, seitdem wir die deutsche Luftwaffe nicht mehr ständig über uns haben, sind wir in dieser Hinsicht recht nachlässig geworden, besonders während des Vormarschs. Eine so vortreffliche Beobachtungsstelle ist wirklich eine Seltenheit. „Sogar einen Hochfrequenzapparat haben wir“, sagt der Adjutant so stolz, als wäre es sein persönliches Verdienst. Als ich wieder oben bin, fragt mich Moskalenko, ob ich heute schon gegessen hätte, und er befiehlt, mir etwas vorzusetzen. „Und auch was zu trinken“, ruft er hinterher. Er vertritt zwar nicht den Standpunkt, daß es nötig wäre, aber kann mir nachfühlen, daß ich schon ein Schlückchen möchte. Ich erhalte einen Teller mit einem schnell zubereiteten Imbiß und einen Wodka, von dem Moskalenko
behauptet, es sei ein ausgezeichnetes ungarisches Erzeugnis, obwohl er meiner Überzeugung nach nicht einmal daran gerochen hat. Ich trinke ein halbes Gläschen und spüle mit Tee nach. Moskalenko wendet sich Jepischew zu. „Also was machen wir, fahren wir zur neuen Beobachtungsstelle?“ „Und wo ist Ihre neue Beobachtungsstelle?“ frage ich. „Hinter Sorau, linker Hand, auf einem Hügel. Sehr gute Sicht. Als wir vorn waren, habe ich mir die Stelle ausgesucht. Wir haben sie in einem Trichter eingerichtet, in dem wir schon einmal gesessen haben. Die Deutschen sahen seine Dienstgradabzeichen blitzen“ – Moskalenko nickt zu Jepischew hin – „und ballerten los. Da sind wir beide in den Trichter. Sehr geräumiger Bombentrichter. Unsere Bombe hat also sozusagen einen zweifachen Zweck erfüllt. – Gubanow, vergessen Sie nicht, die Stühle mitzunehmen“, sagt er zum Adjutanten. „Wenn es auch bloß ein Trichter ist – auf Stühle wollen wir nicht verzichten. Inzwischen muß schon eine Leitung hingelegt sein. Also, gehen wir?“ Da ruft einer seiner Korpskommandeure an. „Ja?“ sagt Moskalenko. „Wo sind Sie denn? In einem Wäldchen? In welchem Wäldchen? Nein, trotzdem, in welchem?“ forscht er geduldig, aber seine Stimme klingt gereizt. „In dem Wäldchen, von dem Sie mir schon vor zwei Stunden gemeldet haben, daß Sie drin wären? Ach, nicht in diesem Wäldchen. In welchem dann? Aha, in dem Wäldchen.“ Er sucht es auf der Karte. Mit veränderter Stimme sagt er: „Hören Sie, dieses
Wäldchen liegt von dem anderen zweihundert Meter entfernt. Das zu Ihrer Kenntnisnahme.“ Er verliert seine Ruhe, schlägt einen zornigen Ton an, schreit los. „Vorwärts! Unverzüglich vorwärts! Unschön von Ihnen, sich so zu verhalten, unschön und basta! Muß ich Sie erst mit dem Knüppel antreiben? Was für ein Widerstand? Davon kann überhaupt keine Rede sein. Sie dringen langsam in den Wald ein? Das haben Sie mir vor fünf Stunden schon gemeldet. Sie verderben sich doch selbst alles mit Ihren Falschmeldungen. Hätten Sie mir vor fünf Stunden gesagt, daß Sie nicht vorankommen, daß Sie nicht in den Wald eindringen können, weil Ihnen von dort heftiges Feuer entgegenwirkt, hätte ich Ihnen wirksame Artillerieunterstützung gegeben, und Sie wären längst in dem Wald und hätten ihn durchgekämmt. Aber Sie scheuen sich, eine Stockung einzugestehen, Sie erstatten keine ordentliche Meldung, und wegen einer Unwahrheit, für solche Dummköpfe wie Sie und ich geben Menschen ihr Leben hin.“ Diese diplomatische Formulierung während der Standpauke erheitert mich unwillkürlich, denn ich höre sie nicht zum erstenmal. „Also gut, gehen wir“, sagt Moskalenko, als er aufgelegt hat, und zieht seinen schweren Pelzmantel an. „Warum haben Sie nicht meinen Uniformmantel genommen?“ fragt er den Adjutanten. „Heute morgen ist es kühl gewesen.“ „Ja, am Morgen war es kühl. Trotzdem hätten Sie den Uniformmantel nehmen sollen. Haben Sie die Stühle?“ „Jawohl.“ „Dann los. Und Sie?“ Er dreht sich zu mir um.
„Kommen Sie auch mit?“ „Das tue ich.“ „Gut. Gehen wir.“ Wir steigen in den Wagen und fahren über Sorau nach vorn. Sorau brennt noch und ist von Menschen und Technik vollgestopft, so daß wir etwa eine Stunde brauchen, um durch die Stadt zu kommen. Als wir unterwegs in einer Stauung festsitzen, bemerke ich ein Haus, dessen eine Wand zum Teil eingestürzt, zum Teil nach außen getrieben ist, davor einen Haufen Schutt und Ziegel und etwa fünfzehn sowjetische Soldaten, die den Berg abzutragen versuchen. Neben ihnen stehen einige Frauen. „Was gibt’s da?“ frage ich. „Dort sind fünf Kinder verschüttet. Wir graben sie aus. Sie melden sich, sind alle am Leben, im Keller verschüttet, aber nicht tot.“ Die Soldaten schuften im Schweiße ihres Angesichts. Einer hat die Feldbluse abgestreift und arbeitet mit nacktem Oberkörper, schweißüberströmt, voll äußerster Hingabe. Am Stadtrand bleiben wir endgültig stecken, aber von hier sehen wir in der Ferne schon den Hügel, den wir aufsuchen müssen, und wir gehen zu Fuß weiter. Unterwegs erblickt Moskalenko einen Soldaten, der mit einem weißen Bündel unterm Arm zu entwischen sucht. Er huscht in die Kabine seines Fahrzeugs. Dort scheint er sich vor den Offizieren sicher zu wähnen. „Das ist doch – he, du da, komm mal her, und bring den Kram mit“, sagt Moskalenko. „Na, wird’s bald!“ Der Soldat steigt aus und tritt näher, ohne das Bündel zu verbergen. Er hält es offen unterm Arm, und es zeigt sich, daß es aus einem Laken, zwei Handtü-
chern, einem gestreiften Hemd und einer Unterhose besteht. „Aha, er hat sich Wäsche organisiert“, sagt Jepischew. „Nein, erkläre mir mal, warum du hier trödelst, wenn dort die Leute sterben.“ Moskalenko deutet nach Westen. „Was?“ „Wir sind Artilleristen, hängengeblieben, festgekeilt“, antwortet der Soldat. „Wir warten.“ „Ihr seid hängengeblieben und festgekeilt, weil hier Trödelkram organisiert wird, während andere dort sterben“, sagt Moskalenko. „So ist es nicht“, entgegnet der Soldat. „Das hier nehme ich mit, um meine Kanone zu reinigen.“ Moskalenko sieht ihn an, betrachtet die Bänder der Unterhose, die aus der Rolle heraushängen, und einen gestreiften Hemdärmel. Dann wandert sein Blick zu mir weiter. Mich hat die schlagfertige Antwort des Artilleristen so verblüfft, daß ich unwillkürlich schmunzele. Moskalenko schielt mich von der Seite an, dann wieder den Soldaten, lacht auf und meint: „Donnerwetter, der weiß sogar, was er einem Vorgesetzten zu sagen hat“, dreht sich um und geht weiter. Wir steigen auf den Hügel. Tatsächlich befindet sich dort ein anständiger Trichter. Die Stühle werden gebracht. Auf den einen setzt sich Moskalenko, auf den zweiten Jepischew, auf den dritten wird das Telephon gestellt. Doch wie wir erfahren, führt keine Leitung her. Das Kabel wurde weiter links verlegt und zu einer kleinen Erhöhung gezogen, die wie ein Nabel die Kuppe des Hügels krönt. Ein Hauptmann meldet, die Beobachtungsstelle werde dort eingerichtet. Er zeigt auf die Pioniere, die sich
bei dem Nabel zu schaffen machen. „Was bauen sie da?“ fragt Moskalenko. „Die Beobachtungsstelle“, erklärt der Hauptmann. „Welcher Schlauberger hat ihnen befohlen, die Beobachtungsstelle dort einzurichten?“ „Das entzieht sich meiner Kenntnis, Genosse Befehlshaber.“ „Einstellen“, sagt Moskalenko. „Gehen Sie hin und stellen Sie die Arbeit ein.“ Er setzt sich und erwartet, daß die Telephonleitung in den Trichter geführt wird. Man sagt ihm, nicht weit, in einer Entfernung von wenigen hundert Schritt, stehe ein Häuschen, in dem schon ein Telephon vorhanden sei. Dort befänden sich die Stabsmitglieder des 95. Korps. Moskalenko möchte aber nicht hingehen. Er bleibt hartnäckig im Trichter sitzen, nimmt sein Glas und beobachtet eine lange Kolonne, die mit der Spitze nach Südwesten reglos dasteht. „Bewegen sich nicht, Teufel noch mal“, schimpft er. „Was für eine Unordnung ist das!“ Die Nachrichtenleute kommen schon übers Feld gelaufen, spulen Kabel von den Trommeln ab. Endlich reicht es in den Trichter und kann angeschlossen werden. Den Anschluß besorgt ein Nachrichtenoffizier, aber irgend etwas klappt nicht. „Also, funktioniert der Apparat nun oder nicht?“ fragt Moskalenko träge und leise, aber mit nichts Gutes verheißendem Zischeln. „Sagen Sie, wird er, oder wird er nicht?“ „Gleich, gleich, ein anderer ist schon unterwegs.“ „Und wo ist er, wenn ich fragen darf?“ „Dort, dort. Er wird gerade gebracht.“
Und tatsächlich, nach einer Minute wird noch ein Apparat gebracht und angeschlossen, zwei-, dreimal die Lautstärke geprüft, denn auch er funktioniert nicht gleich. Doch endlich kommt die gewünschte Verbindung zustande. Mitten im Gespräch reißt sie ab. Moskalenko läßt sie wiederherstellen, aber sie wird erneut unterbrochen. „Wolga, Wolga!“ ruft der Nachrichtenoffizier und will sie ein drittes Mal herstellen. „Sparen Sie sich die Mühe“, sagt Moskalenko. „Jepischew, wir fahren direkt zum Korps.“ „Und, Genosse Befehlshaber, was ist mit dem Telephon?“ fragt der Offizier. „Hierlassen oder was?“ „Na was, was“, sagt Moskalenko, indem er aus dem Trichter kriecht. „Du wirst ihn mir ja nicht nachschleppen wollen. Also laß ihn hier. Ab geht’s.“ Wir fahren durch die Niederung, die verstopft ist. Am Tage hat sie unter deutschem Artilleriebeschuß gelegen. Zerrissene Pferde und zerstörte Fuhrwerke zeugen davon. Dann geht es den Hügel hinauf zu einem Dörfchen. Hier halten wir, und es hagelt Vorwürfe. „Wo ist Ihr Korpskommandeur?“ „Ich weiß es nicht.“ „Wieso wissen Sie das nicht? Was sind Sie für ein Korps, daß Sie nicht wissen, wo der Korpskommandeur ist, wie?“ „Ich weiß nicht“, wiederholt der Leutnant kleinlaut. „Holen Sie mir den Korpskommandeur.“
„Er ist weggefahren.“ „Warum haben Sie das nicht gleich gesagt? Wo ist er hingefahren? Nach vorn oder zurück?“ „Er ist nach vorn gefahren.“ „Na, das wär’s dann. Und wer liegt hier in der Nähe?“ „Eine operative Abteilung.“ „Holen Sie mir einen Mitarbeiter der operativen Abteilung.“ Während der Leutnant den Mitarbeiter sucht, bemerkt Moskalenko, daß sich am Hang der Höhe einige Soldaten eingraben. Einer hockt neben dem Weg in der Schützenmulde, die er schon ausgehoben hat. „Was machen Sie denn da?“ fragt Moskalenko. Wenn er besonders wütend ist, „siezt“ er alle Unterstellten. „Wir beziehen Verteidigungsstellung.“ „Was für eine Verteidigungsstellung? Was verteidigen Sie hier?“ „So lautet der Befehl.“ „Welche Einheit sind Sie?“ „Dreiundsiebzigstes Sturmbataillon der Brigade.“ „Wo ist Ihr Kommandeur?“ „Hier.“ „Rufen Sie mir den Kommandeur.“ Zwei Minuten später ist der Kommandeur zur Stelle. „Sie sind der Bataillonskommandeur?“ fragt Moskalenko. „Zu Befehl. Kommandeur des dreiundsiebzigsten Sturmbataillons der Brigade, Genosse Befehlshaber.“ „Was machen Ihre Soldaten hier?“ fragt Moskalenko mit belegter Stimme. „Sie beziehen Verteidigungsstellung.“ „Was für eine Verteidigungsstellung?“ An dieser Stelle gebraucht Moskalenko einen Kraftausdruck,
was er sehr selten tut. „Sie beziehen Verteidigungsstellung, wenn fünf Kilometer vor Ihnen gekämpft wird?“ „So lautet der Befehl“, rechtfertigt sich der Kommandeur. „Wer hat es befohlen?“ „Der Oberst.“ „Er kann Ihnen nicht solchen Unsinn befohlen haben.“ „Gestatten Sie, Genosse Befehlshaber…“ „Ich gestatte es nicht. Nehmen Sie sofort alle Ihre Soldaten zusammen, und vorwärts! Nach Loslau, schnellstens vorwärts! Und vergessen Sie für die Zeit der Offensive das Wort ,Verteidigungsstellung’. Vergessen Sie es.“ „Zu Befehl, Genosse Befehlshaber. Gestatten Sie zu melden…“ „Ich gestatte nicht zu melden, führen Sie den Befehl aus.“ Moskalenko geht weiter in Richtung auf das Dorf, das wir schon fast erreicht haben. Der Major verweilt noch einige Sekunden bei Jepischew, um ihm zu erklären, daß er seine Hände in Unschuld wasche, daß der Befehl tatsächlich vom Obersten ergangen sei. „Führen Sie den neuen aus“, sagt Jepischew. „Alles weitere wird sich später finden.“ Und der Major läuft zu seinen Soldaten zurück und läßt sie aufstehen. Nach einigen Schritten kommt Moskalenko ein Oberstleutnant entgegen, der Chef des Korpsstabs. „Was liegt bei Ihnen hier im Dorf?“ fragt er den Oberstleutnant. „Der Stab.“ „Und warum liegt Ihr Stab hier?“
„Der Korpskommandeur hat befohlen, daß er hier zu liegen hat.“ „Und wo ist Ihr Korpskommandeur?“ „Er ist nach vorn gefahren, zu den Brigaden.“ „Und was machen Sie hier? Sie wollen sehen, wie die Kämpfer hinter Ihrem Korpsstab Verteidigungsstellungen beziehen? Ja? Wenn Sie die Leute nicht führen können, dann fahren Sie wenigstens nach vorn. Wenn Sie mit Ihrem Verstand und Ihrer Autorität die Leute nicht auf die Beine bringen, reißen Sie sie wenigstens durch Ihre Anwesenheit mit. Haben Sie mich verstanden? Begeben Sie sich nach vorn. Ich will Sie hier nicht mehr sehen. Lassen Sie einen Mann als Telephonist zurück. Alle anderen vorwärts!“ „Wohin vorwärts?“ „Nach Loslau. Sammeln Sie Ihr Sturmbataillon und führen Sie es vorwärts.“ Der Oberstleutnant setzt sich in Trab, um den Befehl auszuführen, und Moskalenko geht ins Haus, setzt sich ans Telephon und spricht eine geschlagene Stunde mit den Kommandeuren und Stabschefs der Korps und Divisionen, mit den Chefs Artillerie. Er erkundigt sich nach dem Stand des Gefechts, nennt auch die Punkte, auf die unbedingt das Feuer gelenkt werden muß. Als jemand meldet, eine Division sei wider Erwarten nicht so recht vorangekommen, schreit er scharf ins Telephon: „Dann bestellen Sie diesem Ihrem sogenannten Divisionskommandeur in meinem Namen, er soll sich in ein Bataillon verfügen und es zum Sturmangriff bewegen, da er es anders nun mal nicht
führen kann. Wenn er seinem Niveau nach nur Bataillonskommandeur sein kann, soll er ein Bataillon ins Gefecht führen.“ Wir wollen gerade wieder ins Auto steigen, als der Stabschef des Korps noch einmal auftaucht. Er ist inzwischen vorn gewesen und meldet Moskalenko jetzt, daß sich der Korpskommandeur bei einer Brigade aufhält und mitteilen läßt, er sichere gerade die Einnahme des vor ihm liegenden Waldes.“ „Er sichert die Einnahme?“ fragt Moskalenko erstaunt. „Er soll nicht die Einnahme sichern, sondern durchstoßen. Durch einen Wald, in dem sich kein Gegner befindet.“ „Doch, Genosse Befehlshaber, gestatten Sie zu melden, der Gegner ist dort.“ „Ach nein. Haben Sie das selbst beobachtet?“ „Ich habe es beobachtet.“ „Was haben Sie beobachtet?“ „Starkes Feuer aus automatischen Waffen.“ „Selbst beobachtet?“ „Ja.“ „Dann übermitteln Sie Ihrem Korpskommandeur, daß er den Wald so bald wie möglich einnehmen soll. Je später er sich dazu entschließt, desto schwieriger wird es für ihn, desto teurer kommt ihm der Zeitverlust zu stehen. Verstanden?“ Nach diesem Gespräch fahren wir zurück, biegen von der Straße auf einen holprigen Feldweg ab und erreichen ein zweistöckiges Steinhaus, in dem sich jetzt der Gefechtsstand des 95. Korps befindet. Es ist das Korps, das ich am Morgen aufgesucht habe. Am Zaun hat ein Soldat einen Hasen aufgehängt und zieht ihm
geschickt das Fell ab. Außerhalb der Umzäunung brennt ein Lagerfeuer, dort brutzelt etwas. In der Ferne sehe ich weitere Rauchschwaden. Der Magen verlangt sein Recht. Bis zum Morgengrauen ist der Vormarsch eingestellt. Nicht nur einmal habe ich mich davon überzeugen können, daß ein Angriff, wenn er nicht ausdrücklich für die Nacht befohlen wurde, sondern am frühen Morgen begonnen hat, gegen Abend erlahmt, unabhängig davon, welche Befehle noch ergehen. In der Regel kämpfen die Soldaten dann nicht mehr, und die morgendlichen Meldungen darüber, wie weit die Einheiten in der Nacht vorgerückt sind, hängen nicht von dem Geländestreifen ab, der tatsächlich bezwungen wurde, sondern in weit größerem Maße davon, wie gewissenhaft die berichtenden Offiziere sind, bis zu welchem Grad sie dem Vorgesetzten die Wahrheit sagen. Der Korpskommandant befindet sich nicht auf dem Gefechtsstand. Er hat sich weiter nach vorn begeben. „Das sind Kerle“, sagt Moskalenko, „ständig auf Achse, mal nach vorn, mal nach hinten, aber immer so, daß der Befehlshaber sie nicht erwischen kann. Na, dann melden Sie mal.“ Er wendet sich an den Oberst, den Stabschef. „Sie kennen doch die Lage?“ „Die kenne ich.“ „Genau, die ganze Lage im gegenwärtigen Augenblick?“ vergewissert sich Moskalenko, da der Oberst in einem unsicheren Tonfall gesprochen hat. „Die kennen Sie?“ „Nein, genau kenne ich sie nicht.“ „Also wissen Sie gar nichts“, sagt Moskalenko, we-
niger zornig als müde. „Fahren Sie nach vorn, schubsen Sie Ihre Einheiten an. Hier möchte ich weder Sie noch Ihren Stab mehr sehen. Verlegen Sie ihn nach vorn, verlegen Sie den Korpsstab und die Stäbe der Divisionen und Regimenter. Daß sich alle bewegen! Fahren Sie.“ Der Oberst ergreift seine dicke Mappe, und da er fühlt, daß ihm eine Entgegnung nicht viel nützen würde, grüßt er und entfernt sich schweigend. Übrigens, Moskalenko duzt seine Unterstellten selten, höchstens, wenn er bei Laune ist. In der Regel sagt er „Sie“, und wenn er sich ärgert, kennt er überhaupt keine andere Anrede. Petrow in guter Laune dagegen sagt meistens „Sie“, und wenn er jemandem zürnt, geht er meistens zum „Du“ über. Am Nachmittag wurde ich auch Zeuge, wie Petrow einen Divisionskommandeur rügte, Dudarew, den ich am Vormittag rechts von Sorau auf dem Gefechtsstand aufgesucht hatte. Ich wollte bei ihrem Gespräch nicht zugegen sein und trat beiseite, hörte aber trotzdem jedes Wort. Die Divisionsartillerie war in einer Kolonne steckengeblieben, und Dudarew befand sich nicht dort, wo er sich nach Meinung Petrows hätte befinden müssen, und das wäre wesentlich weiter vorn gewesen. Dudarew verantwortete sich, was Petrow empörte. Er ging sofort zum „Du“ über. „Fahre unverzüglich nach vorn, und keine Widerrede! Organsiere den Kampf! Was ist das für ein Divisionskommandeur, der hier diskutiert. Fahre los und kämpfe! Stelle genau fest, wo deine Panzer sind, wo deine Geschütze und Sol-
daten sind, statt hier rumzustehen I“ Ich habe schon öfter erlebt, daß Petrow wütend wurde und zum „Du“ griff, aber diesmal war er besonders erbost. Nachdem Moskalenko den Oberst weggeschickt hatte, warf er sich gegen die Stuhllehne, grübelte und lächelte still vor sich hin. Da begriff ich einen Umstand – zumindest glaube ich, daß es so ist –, den ich während meiner ganzen bisherigen Fahrt mit ihm nicht begreifen konnte. Bisher glaubte ich immer, daß er seine Entscheidungen nicht reiflich überlegt. So war es, als die Stäbe nach vorn verlegt werden mußten, als das Bataillon entgegen dem Befehl seines Kommandeurs die Positionen zu verlassen und vorzugehen hatte, als er alle seine anderen Befehle erteilte, was er stets sehr lebhaft tat. Ich habe mir gesagt, als erfahrener Soldat müßte er eigentlich wissen, daß es letzten Endes nicht allzuviel nutzte, wenn ein Stab um einen halben Kilometer weiter nach vorn verlegt wurde, und daß es ebenfalls keine wesentliche Rolle spielte, ob ein Bataillonskommandeur entgegen dem Befehl seines direkten Vorgesetzten seine Einheit von der alten auf eine neue Linie führte oder nicht. Jetzt ging mir plötzlich ein Licht auf. Die wichtigsten, den Gefechtsverlauf bestimmenden Befehle erteilt Moskalenko vom Gefechtsstand oder aus der Beobachtungsstelle. Wenn er dann nach vorn fährt, will er vor allem die Leute aufrütteln, sie im wahrsten Sinne des Wortes vorwärtsschieben. Sicherlich weiß er, daß ein Bataillon, das er aus der Verteidigungsstellung der zweiten
Staffel wirft, nicht schnurstracks nach Loslau vordringt, sondern nach kurzer Bewegung stehenbleibt, um die weiteren Befehle des Brigadekommandeurs abzuwarten. Ebenso gewiß ist auch, daß er es schließlich und letzten Endes nicht für gar so wichtig hält, ob sich der Stab des 95. Korps heute abend einen halben Kilometer näher heran oder weiter entfernt befindet. Doch obwohl er die Realität des Krieges kennt, verfolgt er insgeheim ein sehr praktisches Ziel. Er will die Leute aufmuntern, sie in Bewegung versetzen, damit sie ihrerseits andere aufmuntern und vorwärts schubsen. Niemand soll ich mit dem Erreichten begnügen. Er hebt die Stimme, nicht nur, weil er ein temperamentvoller Mensch ist, sondern auch, weil es ihm in dieser Etappe des Kampfes nützlich und nötig erscheint. Und als er hierüber nachdenkt und vergißt, daß ihn jemand beobachten könnte, erheitert sich seine Miene, und er belächelt wohl alles, was während seiner Fahrt geschehen ist, als er sich fortgesetzt einmischte. Er lächelt. Im großen und ganzen sind seine Befehle ausgeführt worden, aber Krieg ist Krieg, und weil diese oder jene Schlamperei dazugehört, weil es darum zusätzlicher Kleinarbeit bedarf, ergreift er alle praktikablen Maßnahmen, die sich unter dem Begriff „vorwärts schubsen“ zusammenfassen lassen. So übt er Druck aus und schreit die Leute an, die er nach Beendigung der Operation vermutlich auszeichnen wird. Vom Korps fahren wir zum Armeestab. Schon bei völliger Dunkelheit haben die Pioniere bei Sorau eine
neue Brücke über den Fluß geschlagen, diesmal keine provisorische, sondern eine massivere, die einen breiteren Verkehrsstrom aufnehmen kann. Wir aber werden wieder in einer verstopften Straße aufgehalten. Zwei spaßige Eindrücke aus dem Soldatenalltag will ich noch festhalten. Auf dem letzten Gefechtsstand, den wir besuchten, habe ich einen Soldaten mit Ohrenklappenmütze, Wattejacke und wasserdichten Stiefeln gesehen. Er trug blütenweiße Glacehandschuhe, die mir als Kontrast zu seiner übrigen Kleidung förmlich in die Augen sprangen. Dann die vorsorglichen Artilleristen, die immer etwas an die langen Lafetten binden müssen. Hier war eine zerlegte Kuhhaut festgeschnallt, dort eine ganze Gänseschar, die, an den Hälsen zusammengeschnürt, zum Teil auf der einen, zum Teil auf der anderen Seite der Lafette herabhingen. Sie hingen so tief, daß sie, nachdem sie ihre Seele Gott empfohlen hatten, mit den leblosen Füßen die Erde fegten.
29 Tagebuch, 26. März 1945 Da der „Willys“ Panne hatte, saß ich den ganzen gestrigen Tag in Pszczyna fest. Trotzdem gab ich mir redlich Mühe, die Zeit zu nutzen. Ich beschrieb vierzig Tagebuchseiten und setzte mich an das vierte meiner tschechoslowakischen Porträts, diesmal über
den Kommandeur eines Panzerbataillons. Die Arbeit war unvollendet, als mich der Schlaf übermannte. Ich schrieb heute morgen weiter, schaffte es trotzdem nicht ganz, da ich an die Front fuhr und gegen elf Uhr bei General Worobjow, dem Chef des Armeestabs, vorstellig wurde. Er sagte, am Vortag sei der Vormarsch fortgesetzt worden, an diesem Morgen seien Panzer zur Bahnstation von Loslau durchgebrochen; der Kampf sei noch in vollem Gange. Als ich von Worobjow kam und schon in den Wagen steigen wollte, fuhr ein „Willys“ vor, dem der Befehlshaber der Luftarmee, Generalleutnant Shdanow, entstieg. Ich hatte für diesen Tag ohnehin eine Stippvisite zur Jägerleitstelle geplant, und als ich auf Shdanow zuschritt, fragte ich ihn, ob er dort sein werde. „Ja“, sagte er, „im Verlaufe des Tages fahre ich hin. Vorher muß ich allerdings zu Jeremenko. Er befindet sich augenblicklich bei Moskalenko auf dem Gefechtsstand.“ „Jeremenko – wer ist das?“ fragte ich und dachte: Wahrscheinlich Shdanows Stellvertreter. „Der neue Oberkommandierende“, sagte Shdanow. „Was für ein neuer Oberkommandierender?“ fragte ich. „Der neue Oberbefehlshaber der Front, der Petrow ablöst.“ Ich sah ihn verdutzt an. „Ja, ja“, sagte er, „heute morgen um sechs wurde ich durch eine Eilnachricht geweckt: ,Trete die Stelle des Oberbefehlshabers der 4. Ukrainischen Front an; verfügen Sie sich umgehend zu mir. Jeremenko.’ Das war alles. Ich fuhr zum Frontstab, aber dort war er
nicht. Wie ich hörte, hielt er sich bei Moskalenko auf. Jetzt gehe ich zu Worobjow, um etwas Genaueres zu erfahren.“ „Genosse General, gedulden Sie sich eine Minute, erzählen Sie, wie alles gekommen ist“, bat ich ihn, erschüttert über den schnellen Wechsel. „Ich weiß auch nicht, wie und was“, entgegnete Shdanow, „ich habe keine genaueren Informationen.“ „Traurig“, sagte ich. „Ja“, gab Shdanow zu – ehrlich, wie mir schien. Soviel ich wußte, kannte er Petrow schon lange, hatte in Mittelasien mit ihm zusammen gedient und schätzte ihn. „Was ist bloß los?“ fragte ich. „Keine Ahnung. Nicht mal die übliche Formulierung: Übergebe die Front – Petrow; übernehme die Front – Jeremenko. Einfach: Trete die Stelle des Oberbefehlshabers der 4. Ukrainischen Front an – Jeremenko. Alles. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Vielleicht trägt die letzte erfolglose Operation die Schuld. Aber so katastrophal war sie wiederum auch nicht. Ich weiß es nicht. Der Alte tut mir leid“, sagte Shdanow. Wie viele andere nannte er Petrow den „Alten“, weniger wegen der Jahre, die Iwan Jefimowitsch hinter sich hatte, als wegen seiner Umgangsformen, die ihm den Spitznamen eingetragen hatten. Immerhin zählte der forsche, große, draufgängerische Shdanow ebenfalls fünfzig Jahre. Er und Petrow waren gleichaltrig. „Warten Sie hier auf mich“, sagte er. „Ich werde mich nur schnell bei Worobjow erkundigen. Wenn Sie ebenfalls zu Moskalenko wollen, können wir zu-
sammen fahren.“ Ich stand beim „Willys“ und wartete auf Shdanow. Ein Gefühl der Wehmut beschlich mich, mein Herz war schwer. Petrow tat mir leid, sehr leid. Zunächst glaubte ich, daß er einfach Pech gehabt hatte, wie das ja häufig im Krieg der Fall zu sein pflegt. Ich weiß nicht, mir steht es nicht an, über sein militärisches Talent zu urteilen, aber jedenfalls war er ein guter, erfahrener Offizier und ein weitherziger Mensch. Dieser Schlag mußte ihn in tiefster Seele getroffen haben. Wenn ich ihn beobachtete, kam es mir selbst manchmal so vor, daß er als Oberbefehlshaber der 4. Ukrainischen Front ein bißchen fehl am Platze war – nicht, daß ihm Talent oder Fähigkeiten abgingen, aber er war nicht scharf genug, nicht hart und unerbittlich genug – im eigentlichen Sinne des Wortes –, als daß er den harten Gesetzen des Krieges gewachsen gewesen wäre. Manchmal schien es mir, daß er unnötig sanft mit den Offizieren verkehrte, wenn sie diesen Ton gar nicht verdienten. Zu weich und edelmütig, appellierte er nur an ihr Taktgefühl. Er verzichtete auf die unerbittliche Härte und Strenge, die andere walten ließen. Ich glaube, Petrow verhielt sich zu einigen der ihm unterstellten Offiziere und Generale so, wie er mit idealen Offizieren und Generalen verkehren könnte, die wir vielleicht zehn Jahre nach Beendigung des Krieges auf der Grundlage der gesamten vorliegenden Erfahrung einmal herangebildet haben werden. Zunächst aber waren viele der Menschen, mit denen er sprach, die er befehligte, in erheblichem Maße
Produkte der Kriegszeit, und im Verkehr mit ihnen hätte er sicherlich von der realen, schwierigen Lage im vierten Kriegsjahr ausgehen müssen, statt sich von idealen Verhaltensnormen zu den unterstellten Offizieren leiten zu lassen. Aber genau das tat Petrow, und weil er es tat, liebten ihn seine Unterstellten, obwohl sie ihn in einigen Fällen weniger achteten, als er es verdient hätte. Zumindest erschien es mir so. Es kann also sein, daß seine Mißerfolge mit auf seine Beziehungen zu den Unterstellten zurückzuführen waren – natürlich nicht ausschließlich, denn der Kriegsverlauf wird im wesentlichen nicht durch Worte und Verhaltensweisen, wohl aber zu einem großen Teil auch vom Kriegsglück bestimmt. Sein Charakter begünstigte die Mißerfolge und ein langsameres Vormarschtempo der Truppen. Vielleicht hätte Petrow mehr erreicht, wenn er anders aufgetreten wäre. Vielleicht – ich weiß es nicht. Unabhängig davon, wie Petrow diesen Krieg einmal beendet, ob ihm noch Erfolge beschieden sind oder nicht – wenn ich später einen Kriegsroman schreibe, wird die Gestalt des Oberbefehlshabers nicht irgendwelche Züge tragen, sondern er wird weitgehend Petrow gleichen; denn ungeachtet seiner Mißerfolge – als Mensch gefällt er mir. In seiner Person verkörpert sich eine althergebrachte, seltene Verbindung von rauhem Wohlwollen und Schlichtheit, gepaart mit Takt und Höflichkeit, und dabei ist er ausgesprochen gradlinig, prinzipientreu, der Sache ergeben, selbstlos. Er ist ein Kommunist im besten Sinne des Wortes. Dazu kommt eine wenig vordergründige, eine stille persönliche Tapferkeit, die ich als unend-
lich schön empfinde. Natürlich habe ich jetzt viel mehr geschrieben, als mir in den wenigen Minuten des Wartens durch den Kopf gehen konnte. Ich habe später noch, im weiteren Verlauf des Tages, darüber nachgegrübelt. Shdanow kam heraus und sagte, Jeremenko sei bei Moskalenko. Wir wendeten den „Willys“ und folgten Shdanow. Da die Straßen verstopft waren, verloren wir ihn jedoch bald aus den Augen, ohne ihn noch einmal zu sehen. Nach meinen Informationen hatte Moskalenko seine Beobachtungsstelle in Brodek eingerichtet, aber wir bogen vor dem Ort auf einen Feldweg ab und versackten im Schlamm. Als wir den Wagen mühsam flottgemacht hatten, kamen mir Zweifel. Brodek war schon nahe, und das Artilleriefeuer klang sehr fern. Wenn Moskalenko am Morgen wirklich in Brodek gewesen war, hielt er sich jetzt kaum noch dort auf. Er wählte für seine Beobachtungsstelle gern einen Punkt dicht hinter der vordersten Linie. Wir gelangten auf die Landstraße zurück, und bei einer Kreuzung sahen wir Soldaten, die eine Leitung legten. Ich rief den Kommandeur zu mir, einen Hauptmann der Nachrichtentruppe, und erfuhr, daß Moskalenko die Beobachtungsstelle tatsächlich vorverlegt hatte oder dabei war, sie vorzuverlegen, und zwar ins Dorf Nieder-Schwirklan, auf halbem Wege zwischen Sorau und Loslau (Wodzislaw Slask). Moskalenko sollte schon dort sein. Wir fuhren nach Nieder-Schwirklan. Im Dorf wimmelte es von Angehörigen der Nachrichtentruppe. Die Häuser entlang wurden Leitungen gelegt, und bei einem Backsteingebäude, durch dessen Fenster schon einige Kabel
gelegt waren, stand ein weiches grünes Plüschsofa an der Wand in der Sonne. Dort schlief und wärmte sich irgendein Nachrichtenmann, vielleicht eine Ordonnanz, und erwartete die Vorgesetzten. Kurz und gut, alle Anzeichen sprachen dafür, daß es entweder eine Beobachtungsstelle oder ein vorgeschobener Gefechtsstand war. Unser Fahrer Mischa hatte Ladehemmung und stocherte fluchend die eingeklemmte Patrone heraus. Wir, Alpert und ich, hatten tatsächlich die Beobachtungsstelle vor uns. Allerdings war Moskalenko noch nicht eingetroffen. Er hatte unterwegs einen Abstecher gemacht und mußte jeden Augenblick eintreffen. Da es auf der Welt kaum einen ungenaueren Ausdruck gibt als „jeden Augenblick“, noch dazu im Krieg, schlug ich Alpert vor, zunächst zu Melnikow zu fahren. Nach meinen Informationen befand sich die Beobachtungsstelle des 95. Korps vier Kilometer links von der Landstraße nach Loslau. Auf dem Wege dorthin kamen wir erstmals in diesen Tagen an deutscher Kampftechnik vorüber. Einige Panzer und zurückgelassene Geschütze standen auf der Chaussee. In den Straßengräben und davor lagen tote Deutsche. Ich glaube, die Deutschen hatten gestern und heute schwere Verluste hinnehmen müssen. Sowjetische Soldaten, die vor uns über diese Straße gefahren waren, hatten es wie immer nicht geschafft, die Leichen wegzuräumen, sondern hatten sie einfach überrollt. Einige waren bis zur Unkenntlichkeit breitgewalzt. Hinter einem Ort, dessen Name mit „Ober…“ anfängt
– davon gibt es hier unzählige, ebenso wie „Nieder“, weil von jedem Dorf ein „Ober…“ und ein „Nieder…“ existiert –, hinter irgendeinem Ober… also biegen wir nach links zum Dorf Pohlom ab. Dort soll Melnikow seine Beobachtungsstelle haben. Die Straße ist stark beschädigt. Bei den letzten Kilometern spürt man, daß hier vor wenigen Stunden noch gekämpft wurde. Das Blut der Leichen und der getöteten Pferde ist noch nicht geronnen. Ein deutscher Schützenpanzerwagen brennt noch. Eines unserer selbstfahrenden Geschütze, das in drei Teile zerrissen wurde, qualmt ebenfalls noch. Als wir uns den ersten Häusern des Dorfes nähern, verrät mir der Gefechtslärm, daß wir auf einer „Zunge“ vordringen. Jetzt wird nicht nur vorn und links, sondern auch hinter uns geschossen. Die Dorfstraße ist von Trichtern übersät. An einer Kreuzung steht ein rauchender T 34 der Tschechoslowakischen Brigade. Links der Straße liegen Gefallene – unsere, die mit Zeltbahnen bedeckt sind, und deutsche, unbedeckt und blutüberströmt. In einem Vorgarten stöhnt jemand. Er wird verbunden. Bei einer Scheune halten wir. Dort steht ein Hauptmann. „Wo ist General Melnikow?“ „Ich weiß nicht“, antwortet er. „Aber können Sie mir nicht sagen, wo ich den Stab des fünfundneunzigsten Korps finde?“ „Worum geht’s?“ frage ich. „Ich muß zwanzig Gefangene hinführen.“ Er deutet mit einer Kopfbewegung zur Scheune. Aus dem Tor sehen beschmutzte, verängstigte Deutsche heraus. Ich zeige auf der Karte, wo sich der Stab
befindet, etwa acht Kilometer hinter uns. „Ach du meine…“ Der Hauptmann ärgert sich. „So weit! Und ich muß sie hinführen.“ „So weit!“ wiederholt er, aber trotz dieser Bemerkung, die nichts Gutes verheißt, glaube ich, daß er die Deutschen hinbringen wird. Pohlom zieht sich maßlos in die Länge. Wir durchfahren das Dorf fast bis zum anderen Ende, und als wir uns dem Westrand nähern, merken wir, daß wir von der Spitze des Keils, den unsere Angreifer in das deutsche Verteidigungssystem getrieben haben, nicht mehr weit entfernt sind. Jetzt schießen die Deutschen auf drei Seiten. Die Nachrichtenleute, die gewöhnlich am besten im Bilde sind, sagen, den Korpskommandeur müßten wir weiter vorn suchen, bei der Kirche. Die Kirche, ein alter Holzbau, steht auf einer Anhöhe gegenüber einem grauen Steinhaus. Dort soll sich die Beobachtungsstelle des Korpskommandeurs befinden. An dem Haus hängt ein Schild: Ortsgruppe der NSDAP. Im Erdgeschoß ist niemand, auch nicht im ersten Stock. Ich glaube schon, daß das Gebäude leer ist, da entdecke ich ein Kabel, das über die Treppe hinauf führt. Wahrscheinlich ist die Beobachtungsstelle weiter oben eingerichtet. Alpert und ich gehen zur nächsten Etage hoch, dann zum Boden. Auf dem Boden liegen die Enden der Leitungen. Vermutlich hat sich hier früher tatsächlich eine Beobachtungsstelle befunden, aber eine der Deutschen. Es sind die abgeknipsten Enden der ehemaligen deutschen Telephonverbindungen. Wir gehen wieder nach unten. Wie wir hören, ist das Dorf erst vor zwei bis drei Stunden eingenommen
worden. In einem Dienstzimmer des Erdgeschosses stehen zwei Ledersessel, aus denen je ein großes Stück Leder herausgeschnitten ist, eine Bestätigung dafür, daß der Ort erst kürzlich besetzt wurde, denn sonst wäre von den Bezügen dieser herrenlosen Sessel nichts mehr übrig. Als wir vor die Haustür treten, erblicken wir auf dem Kirchhof einen „Willys“, der vorhin nicht dort stand. Wir treffen Melnikow im Keller des Pfarrhauses. Er sitzt dort mit Dudarew, dem Kommandeur der 351. Division, den ich vorgestern zweimal flüchtig gesehen habe. Es ist nicht die Beobachtungsstelle des Korps, sondern die der 351. Division. Melnikow ist frisch rasiert, bis oben zugeknöpft. Er trägt einen sauberen gelben Mantel mit straff sitzendem Gürtel. Seit dem ersten Tag des Angriffs hat er sich nicht verändert, ist genau noch so rosig, sauber, akkurat, als käme er gerade aus dem Bad und würde gern drei Glas starken Tee hinterstürzen. Dudarew sieht nicht halb so proper aus. Er ist verschwitzt, und ein drei Tage alter schwarzer Stoppelbart bedeckt sein Gesicht. Sie beugen sich von zwei Seiten des Tisches über eine Karte und studieren sie wohl nicht das erstemal. Ich grüße Melnikow und stelle mich Dudarew vor. „Sehr angenehm“, sagt er und nimmt die Brille ab. „Einige Ihrer Werke gefallen mir außerordentlich. Den ,Bunker’ find ich besonders gut.“ Zu meinem Leidwesen muß ich gestehen, daß der „Bunker“ Surkow gehört, aber er gefällt mir ebenfalls. „Nein, ich meine nicht den ,Bunker’. Den mag ich auch, das schon, aber das wollte ich nicht sagen.
Ich meine dieses… Wie heißt es bloß? Ich komme einfach nicht auf den Titel, ist wie weggeblasen. Nun, Sie wissen schon… Dieses Werk von Ihnen finde ich besonders gut.“ „Sicherlich ,Wart auf mich’„, sage ich. „Wart auf mich… Genau das. Wart auf mich, ich kehr zurück… Genau das meine ich.“ Außer dem Korpskommandeur sitzen noch einige andere Vertreter der Korpsführung bei Dudarew. Anscheinend ist es gar nicht nach seinem Geschmack, so viele Leute am Halse zu haben. Er ist sehr müde, und das Gefecht läuft. Gerade hat er geschubst, Dampf gemacht, ist bei den Regimentern gewesen und zurückgekehrt. Jetzt entspannt er ein bißchen, dann wird er wieder nach vorn fahren – er sieht sich schon dort –, um zu schubsen und Dampf zu machen. In der kurzen Pause möchte er ganz bewußt nicht über die Operationen seiner Division sprechen, sondern sich über Kunst unterhalten. „Sehen Sie, am Chalchyn gol“, sagt er, als ich ihn daran erinnere, daß wir zur selben Zeit dort waren, „damals habe ich Ihre Verse über die Panzer gelesen. Sie wurden in meiner Kulturgruppe wunderbar dargeboten. Shukow kam, war auch ganz angetan. Eine sehr schöne Leistung.“ Er überlegt eine Weile. „Gestatten Sie“, sagt er dann, „ich wollte schon einen Brief schreiben, aber nun fahren Sie persönlich nach Moskau. Vielleicht können Sie dort ein Problem zur Sprache bringen. Warum schickt man uns immer Filme, in denen es kracht? Was zum Donnerwetter soll das? Verstehen Sie, das geht über unsere Kräfte.
Das fünftemal schicken sie uns was mit Feuerzauber. Da – hören Sie! Ja? Die Erde bebt!“ Ganz in der Nähe schießen unsere Kanonen, ein bißchen weiter vorn detonieren deutsche Granaten. „Das meine ich“, sagt Dudarew. „Den ganzen Tag diesen Lärm um die Ohren, und dann noch im Kino. Hol’s der Teufel, das ist zuviel. Sollen sie das alles ins Hinterland schicken, wo die Menschen das nicht erleben. Hierher gehören menschliche Filme. Schließlich sind wir immer noch Menschen.“ „Die ,Serenade fürs Sonnental’ haben wir auch gesehen“, läßt sich der Leiter der Politabteilung der Division vernehmen, ein kleiner, stupsnasiger Mann. „Ein herrlicher Film. Stimmt’s, Genosse General?“ „Na ja, natürlich, ein herrlicher Film. Vielleicht nicht mal herrlich, aber in der gegenwärtigen Situation ein guter Streifen. Teilen Sie ihnen das mit. General Dudarew – der Name sagt ihnen vielleicht nichts. Trotzdem, wenn auf der Leinwand geschossen wird, geht er fort und sieht nicht mehr zu. Er glaubt, daß dies die allgemeine Einstellung der Frontsoldaten ist. Kümmert euch doch ums Hinterland. Erklärt dem Hinterland, wie es an der Front zugeht. Aber uns? Uns braucht ihr nicht zu sagen, was Krieg ist. Sagt uns lieber, was Friede ist! Das wissen wir schon nicht mehr. Wollt ihr uns das nicht erklären? Erklärt es uns, es ist nötig. Wie es im Frieden war, als es den Krieg noch nicht gab!“ Ich erwidere, daß der Filmvertrieb offenbar die falschen Streifen an die Front schickt, weil er die Aufgaben der Kinopropaganda mißversteht. „Kinopropaganda – das ist es ja eben!“ entgegnet
Dudarew wütend. „Als ob man hier noch Propaganda machen müßte. Sagen Sie ihnen das.“ Dieses Thema beschäftigt ihn offenbar schon lange und ernsthaft. „Oder ein anderes Beispiel“, fährt er fort. „Ich war an der Westfront, wo die Zeitschrift ,Smech’ herausgegeben wurde. Jemand hatte da irgendwelche Karikaturen untergebracht. Ich erinnere mich nicht mehr an die Texte, die unter den Bildern standen, aber es waren aufgehängte Leute dargestellt. Was gibt es da zu lachen, wenn Menschen aufgehängt werden? Ich habe ihnen einen Brief geschrieben, daß ich daran nichts zu lachen finde. Wenn ihr so was zeigen wollt, gebt doch lieber eine Zeitschrift mit dem Namen ,Tragödie’ heraus, dann weiß jeder gleich, woran er ist.“ Dieses für mich so überraschende Gespräch wechselt manchmal in einen praktischen Meinungsaustausch über, wenn Dudarew und der Korpskommandeur ihre Meinungen zum Gefechtsverlauf austauschen. „Sie kommen heute nicht richtig voran, das ist schlecht“, sagt Melnikow mit einem Blick auf die Karte. „Wieso schlecht?“ entgegnet Dudarew brummig. „Wir kommen überhaupt nicht schlecht voran.“ „Doch – schlecht, langsam.“ „Wieso langsam? Vier bis fünf Kilometer an einem Tag zurückgelegt, und wir gehen noch weiter. Überhaupt nicht langsam!“ beteuert Dudarew unwirsch. „Trotzdem muß man Dampf machen. Es geht alles so lahm.“ „Wieso lahm? Dreizehn Geschütze haben wir heute
morgen erbeutet. Da – bitte!“ In diesem Augenblick klirren die Fensterscheiben, und Dudarew nickt triumphierend. „Da hören Sie es. Erbeutete 105-mm-Geschütze. Wir schießen damit Fernfeuer – auf die Deutschen! Und Sie sagen, wir sind schlecht.“ „Schon gut, hören Sie zu reden auf, Dudarew. Machen Sie Dampf.“ „Ich mache ja Dampf“, entgegnet Dudarew halsstarrig, der wohl gewohnt ist, seinen Vorgesetzten zu widersprechen. „Ich habe die Artillerie vorgezogen und Dampf gemacht. Jetzt ist die Infanterie angetreten. Ich werde die Artillerie nachziehen und wieder Dampf machen. Aber soll ich die Infanterie allein, ohne Artillerie, ins Feuer jagen? Das wäre wohl doch unzweckmäßig. Wozu sich überstürzen? Die Geschütze ranziehen, feuern, vorgehen. Dann wieder feuern und weiter vorgehen. So wird ein Schuh draus.“ „Also, geben Sie mir die Punkte, die bombardiert werden sollen“, befiehlt der Korpskommandeur, womit er das Gespräch beendet. „Bitte!“ Dudarew kennzeichnet flink einige Stellen auf der Karte, die der Korpskommandeur sofort dem Stabschef übergibt, damit er sich mit den Fliegerkräften in Verbindung setzen kann. Inzwischen wird Dudarew von einem Regiment angerufen. „So“, sagt er. „Gut! Tadellos! Wirklich – tadellos!“ Er legt auf. „Noch drei 105-mm-Geschütze in einwandfreiem Zustand erbeutet. Das macht sechzehn an einem Tag. Und Sie sagen lahm.“
Wieder klingelt das Telephon. „Feuer führen?“ fragt Dudarew. „Wohin? Auf die Straßengabelung. Was gibt’s da? Gehen zurück? Sofort!“ Mit der Karte in der Hand wendet er sich an den Chef Artillerie. „An dieser Stelle stauen sich bespannte deutsche Geschütze. Wirken Sie auf diese Kreuzung ein.“ Noch ein Telephonanruf. Der Chef eines Regimentsstabs meldet, sein Regiment gehe in Richtung Wilchwa vor. „Lassen Sie nicht frontal angreifen“, sagt Melnikow. „Links umgehen. Rufen Sie an, befehlen Sie es.“ „Anruf erübrigt sich“, wirft Dudarew ein. „Sie sind von vornherein darauf orientiert, links vorbeizustoßen.“ Ein Hauptmann tritt ein und meldet die Gefangennahme von Angehörigen einer neuen deutschen Division. „Natürlich führen sie frische Kräfte heran“, sagt Dudarew. „Das war zu erwarten. Wir müssen die Artillerie vorziehen.“ Fünf Minuten später klärt sich die Mitteilung als Irrtum auf. Es handelt sich nicht um Gefangene, sondern um Dokumente, die einem Toten abgenommen wurden. „Ja, dann ist noch nicht erwiesen, daß es eine neue Division ist“, bemerkt Melnikow gleichgültig. „Vielleicht war es nur ein Verwundeter, der wieder eingesetzt wurde. Die Deutschen werfen jetzt jeden ins Gefecht, der sich in Frontnähe auftreiben läßt. Sie stopfen die Breschen mit allen verfügbaren Mitteln. Dabei können Divisionsnummern auftauchen, die
schon längst nicht mehr existieren.“ Melnikow erhebt sich, um zur Nachbardivision zu fahren. Ich stehe gleichfalls auf. Der Kommandeur der Tschechoslowakischen Panzerbrigade soll mit drei unserer Panzer am Dorfrand stehen. Eine Begegnung käme mir sehr gelegen. „Ich komme noch mal vorbei“, sage ich zu Dudarew. „Gut.“ Ich gehe hinaus. Von den freien Plätzen zwischen den Höfen hinter der Kirche schießen unsere Artilleristen mit gelb gestrichenen 105-mm-Geschützen. „Wohin feuern sie?“ frage ich einen Politleiter. „Wahrscheinlich auf befohlene Ziele“, antwortet er. Dann kommen ihm Zweifel, und er wendet sich an den Unterleutnant. „Wen oder was beschießen Sie? Doch nicht die eigenen Leute?“ „Nein, es ist ein Ziel angegeben worden.“ „Wer hat es angegeben?“ „Der Stabschef Artillerie.“ „Und wohin schießen Sie nun wirklich?“ Der Leutnant nennt den Punkt, auf den er das Feuer führt, und fügt hinzu, die Kanonen feuerten annähernd mit maximaler Schußentfernung: acht Kilometer. „Na, wenn das Ziel acht Kilometer entfernt liegt, sind unsere Leute zweifellos noch nicht dort“, sagt der Leiter der Politabteilung. „Wie sieht es mit Munition aus?“ „Der Deutsche hat uns eine Menge dagelassen.“ „Dann brauchen Sie mit den Granaten nicht zu geizen.“ Alpert und ich fahren zu den Panzern am Ende des Dorfes. „Wir haben nämlich eine Pute“, verrät
uns der Fahrer triumphierend. „Was für eine Pute?“ „Ich hab ihr den Hals umgedreht und sie in den Beutel gesteckt. Morgen gibt’s Putenbraten“, erklärt er aufgeräumt. Beim letzten Haus treffen wir einen tschechoslowakischen Panzersoldaten mit frisch verbundenem Arm und einem Tragetuch um den Hals. Ich frage ihn: „Wo ist der Brigadekommandeur?“ „War hier“, antwortet er mit leichtem Akzent, „ist schon vor fünf Minuten weitergefahren. Vielleicht holen Sie ihn ein.“ „Und wo liegt der Stab Ihrer Brigade?“ frage ich. „Sechs Kilometer hinter uns.“ Zum Brigadestab zurückzufahren wäre sinnlos. Wir setzen unseren Weg noch einen halben Kilometer fort. Die Straße verläuft in einem schmalen Tal. Jetzt hören wir von zwei Seiten Gefechtslärm. Nach der einen beträgt die Entfernung zur Kampflinie rund einen Kilometer, nach der anderen – wie aus MPiund MG-Feuer zu hören ist – noch weniger. Auf der Kuppe eines Hügels verlassen wir den Wagen. Vor uns ist die Sicht schlecht. Einen Kilometer von hier brennen die Häuser. Darüber steht eine dichte Rauchsäule. Drei Panzer fahren darauf zu. Wahrscheinlich ist der Brigadekommandeur dort zu finden. Ich ärgere mich, nicht eine halbe Stunde früher gekommen zu sein. Vor Wut würde ich am liebsten den Panzern nachjagen. Doch Alpert, ein kühner Mann, der auch Vorsicht wahrt, wenn es seiner Meinung nach angebracht ist, beharrt entschieden darauf, daß wir nicht fahren. Nachdem wir uns eine halbe Minute gestritten haben,
bemerkt Alpert ironisch, der Kommandeur der Panzerbrigade hätte offenbar seinen Wagen hier abgestellt, um mit einem Panzer weiterzufahren. Ich sehe ein, daß Alpert recht hat. Wir wenden und kommen wie auf dem Herweg an Ruinen und toten Deutschen vorbei. Dudarew rasiert sich gerade, als ich bei ihm eintrete. Während der Rasur erteilt er verschiedene Anweisungen, die den Alltag betreffen, aber nicht so wesentlich sind, daß ich sie wiedergeben müßte. Gleichzeitig unterhält er sich mit mir. Wir sprechen über die geflohenen und die gebliebenen Einwohner. „Unter denen, die geblieben sind, gibt es ebenfalls Halunken“, sagt Dudarew. „Volksdeutsche! Einer hat heute morgen meinen Nachrichtenchef umgebracht. Er ging an einem Haus vorbei, in dem ein Heckenschütze auf dem Boden saß. Ein einziger Gewehrschuß. Wir haben ihn rausgeholt, und ich habe befohlen, ihn zum Teufel zu schicken.“ „Sie haben ihn verhört?“ „Ja, ein paar Worte haben wir gewechselt. Er gab zu, bei der deutschen Polizei zu dienen. Außerdem trug er Polizeiuniform und am Ärmel eine Hakenkreuzbinde. Für ein längeres Gespräch fehlte mir die Zeit. Wir haben ihn erschossen.“ „War noch jemand bei ihm in dem Haus, seine Familie?“ „Nur seine Frau.“ „Und was haben Sie mit ihr gemacht?“ frage ich. „Die hätte ebenfalls erschossen werden müssen.“ „Warum?“ „Zur Abschreckung, damit sich derartige Fälle von Offiziersmord nicht wiederholen.“
„Nein, warum erschießen.“ Dudarew ist nicht einverstanden. „Sie war doch eine Frau. Wir kämpfen nicht gegen Frauen.“ „Das ist natürlich richtig“, gebe ich zu, „aber man hätte auf jeden Fall etwas tun müssen, damit so ein Mord nicht wieder vorkommen kann.“ „Nein, trotzdem ist sie eine Frau“, sagt Dudarew. „Meiner Meinung nach haben Sie unrecht. Im ersten Zorn wollte ich das Haus niederbrennen lassen. Ich war schon drauf und dran, es zu befehlen, da überlegte ich es mir. Es ist polnisches Gebiet, und in dem Dorf sind so wenige Häuser ganz geblieben. Es kann noch bewohnt werden, wozu es also niederbrennen? Das wäre unvernünftig. Und der Frau haben wir auch nichts getan. Wir haben sie der Abwehr übergeben. Soll man sie dort vernehmen. Aber Frauen erschießen – das werde ich nie zulassen. Die Bemerkung hätten Sie sich schenken können“, sagt Dudarew vorwurfsvoll. Obwohl ihn der Krieg hart gemacht hat, ist er doch fest davon überzeugt, daß eine Frau nie und unter keinen Umständen erschossen werden darf. Dreißig Jahre später kriecht man nicht immer so leicht in die eigene Haut zurück. Manchmal versteht man sein eigenes Ich von damals selbst nicht mehr. Beim Lesen meiner Notizen fühlte ich mich versucht, einiges zu streichen, dieses Gespräch mit General Dudarew auszulassen. Ich kann heute nur schwer meine damaligen Worte begreifen, die Frau des Mörders hätte erschossen werden müssen, zur Abschreckung, um weitere Morde zu verhüten. Nun kann man einräumen, dieser Satz war lediglich in der Hitze der Empörung hingesagt und niemals
ernst gemeint – trotzdem wurde er geäußert, und der Divisionskommandeur beschämte mich. Für ihn schied die Möglichkeit der Vergeltung an einer Frau rundweg aus, auch wenn es sich um die Frau eines Mörders handelte. Ich aber dachte seinerzeit offenbar anders hierüber? Was hat mir 45 diese Worte eingegeben, woher solche unnachsichtige Härte? Vielleicht waren irgendwelche Erinnerungen aufgeblitzt – an Majdanek, an jenes Weib, die SS-Furie, die Aufseherin und Mörderin, die ich dort befragt hatte? Es kann sein, daß ich unter diesem Eindruck stand und dachte, die Frau des Faschisten wäre wie ihr Mann fähig, einen Mord zu begehen. Warum sie also schonen? Ich weiß heute nicht, wie ich diese Fragen vor mir selbst beantworten soll. Ich weiß nur, daß es so war. So erging es mir, und so erging es anderen Menschen auch, die von Natur aus keineswegs grausam waren. Ich bin stolz auf Dudarew, glücklich über seine Entgegnung, schäme mich meiner Worte und gebe sie doch unverändert wieder. Ich kehre zum Tagebuch zurück. Als sich Dudarew rasiert hat, wäscht er sich und schnauft dabei laut und lange. Unterdessen trifft die Mitteilung ein, die Korpsbeobachtungsstelle befinde sich fünfhundert Meter weiter, und Moskalenko halte sich dort auf. Ich möchte Moskalenko wiedersehen, mich nach dem Verlauf der Operation in der ganzen Armee erkundigen. Ich bitte Alpert, hinzufahren und festzustellen, ob Moskalenko tatsächlich dort ist. Kaum ist Alpert gegan-
gen, wendet sich Dudarew an mich. Er schlägt mir vor, schnell etwas zu Mittag zu essen. „Das heißt, eigentlich zum Frühstück“, fügt er hinzu, „obwohl es im wesentlichen doch auf ein Mittagessen hinausläuft, denn eine weitere Mahlzeit ist heute noch nicht in Sicht.“ Abzulehnen wäre ungehörig, und anzunehmen unpassend gegenüber Alpert, der gerade weggefahren ist, aber was hilft das alles. Während Dudarew das Essen erwartet, schimpft er auf die „Plundermätze“. „Einige ,Kriegsgötter’ sind besonders tüchtig. Soll sie der Teufel holen! Ein Infanterist, der angreift, nimmt keinen Gerümpelkoffer mit nach vorn. In einer Hand die Maschinenpistole, in der anderen einen Koffer – das geht wohl schlecht. Also schlägt er sich wenigstens den Bauch voll, wenn ihm was geboten wird, und füllt sich allenfalls noch die Taschen. Am nächsten Tag leert er sie meistens wieder, weil er sich mit dem Ballast nicht länger schleppen will. Vielleicht reißt er sich aus einer Gardine Fußlappen zurecht und scheuert sich die Hacken wund, schüttet sich ein halbes Kilo Zucker in die Hosentasche und vernascht ihn zusammen mit dem Dreck, der da drin war. Deshalb verliere ich nie auch nur ein Wort. Dagegen die Artilleristen, die eine verlassene Ortschaft nach der Infanterie und vor den Vorgesetzten betreten. Diesen Umstand nutzen einige weidlich aus. Der Infanterist schleppt keinen Koffer weg – der Artillerist schnallt ihn an die Lafette oder schiebt ihn in den Wagen, und alles hat seine Ordnung. Ich habe Leute beobachtet, die sich da besonders auszeichneten. Aber wenn ich bei jemandem einen Goldring gesehen
habe, habe ich ihn vom Finger gerissen.“ Dudarew schiebt den Ärmel hoch und ballt seine wuchtige Faust. „Damit reiße ich ihn ab und werfe ihn weg. Schade natürlich ums Gold! Aber was bedeutet das – der Ring am Finger? Wem wurde er abgenommen? Daß jemand vorm Verlassen des Hauses einen goldenen Ring auf den Tisch legt, das kommt unter tausend Fällen vielleicht einmal vor.“ Der Chef des Divisionsstabs ruft an. Es geht um eine Panzerlandungstruppe. Während meiner Abwesenheit – als ich den Kommandeur der Tschechoslowakischen Brigade suchte – ist die Meldung eingegangen, unsere Panzer seien bis zum westlichen Ortsrand von Loslau durchgebrochen. Moskalenko hat befohlen, aus der Division Dudarews einen Landungstrupp zusammenzustellen, ihn auf die Panzer zu setzen und nach Einbruch der Dunkelheit weiter in Richtung Oder vorzustoßen. „Nein“, sagt Dudarew, „bis zur Oder schaffen wir es heute kaum.“ Er zeigt auf der Karte die Strecke, die uns noch von dem Fluß trennt. „Da, bis hierher werden wir vermutlich kommen.“ Er spricht als kaltblütiger, erfahrener Soldat, der gewohnt ist, daß im Krieg nicht alles wunschgemäß und nach Plan verläuft. „Der ganzen Division gelingt es nicht, aber ein Bataillon kann auf den Panzern durchbrechen.“ In zwei Kochgeschirren wird das Essen gebracht, und wir langen zu. „Weiß der Teufel, warum uns das Hinterland keinen Fisch schickt. Wenn sie uns wenigstens Heringe schicken würden, damit wir die Besonderheiten des Sowjetstaates nicht vergessen. Wir haben so einen guten Hering und wissen schon
kaum noch, wie er schmeckt. Von Kaviar will ich gar nicht reden. Ich meine Hering. Da taucht eines Tages der ungarische Befehlshaber, Generaloberst Milos Bela, an meinem Abschnitt auf. Er sitzt bei uns in der Division und überhäuft uns mit Fragen. Werden wir Ungarn annektieren oder okkupieren? Na, hören Sie mal, sag ich ihm, wir verfolgen keine derartigen Ziele! Geb Gott, daß wir uns selbst anständig regieren. Wirklich, wozu brauchen wir Ihr Land? Wir haben Kohle, Erdöl, Eisenerz, Aluminium… Kautschuk haben wir zwar nicht, aber wir sind dazu übergegangen, künstlichen herzustellen. Und zur Krönung haben wir unseren russischen Kaviar. Ja, sagt er, ein herrlicher Kaviar, und leckt sich sogar die Lippen. Angeben ist leicht. Die Wirklichkeit sah so aus, daß wir seit einem halben Jahr nicht mal einen Hering gesehen hatten. Ich wollte mich hierüber schon schriftlich beschweren.“ Als wir mit dem Essen fast fertig sind, klingelt es wieder, und obwohl ich bei einem Telephongespräch an der Front meistens nach den ersten Worten im Bilde bin – Intonation, Redseligkeit, Einsilbigkeit lassen bestimmte Schlüsse darauf zu, ob von unten oder von oben angerufen wird, und wenn von oben, welcher Vorgesetzte es ist, stehe ich diesmal vor einem Rätsel. Während des ganzen Gespräches weiß ich nicht, wer da anruft. Dudarew spricht wie sonst, unverbindlich, seine Stimme verändert sich nicht. „Jawohl, Dudarew. Am Apparat. Nicht im geringsten. Wieso schlecht? Nein, wir schlagen uns nicht schlecht. Sechzehn Geschütze erbeutet. Voll einsatzfähig. Und fünf Kilometer zurückgelegt… Ja,
werde dranbleiben. Bin den ganzen Morgen dran gewesen. Augenblicklich beim Essen. Gleich kümmere ich mich wieder drum. Zu Befehl. So, Jeremenko – na und? Meine Division erfüllt ihre Kampf aufgäbe. Zu Befehl. Jawohl, wird erledigt. Zu Befehl“, wiederholt er noch einmal, und ich merke ihm an, daß er so bald wie möglich auflegen möchte. „Jawohl. Verstehe. Zu Befehl.“ Als er den Hörer aufgelegt hat, sagt er: „Moskalenko hat angerufen. Neuer Oberbefehlshaber ist Jeremenko. Jeremenko wird’s dir zeigen!’ meint er. Möchte wissen, was er mir zeigen wird, wenn alles normal verläuft.“ Aus seiner Stimme klingt kein Anflug von Furcht oder Erregung. „Auf Wiedersehen. Bis demnächst.“ „Versteht sich.“ Ich gehe hinaus, treffe Alpert und fahre mit ihm zur Beobachtungsstelle des Korps auf der sich, wie Alpert bestätigt, Moskalenko tatsächlich aufhält. Außerdem sind Jepischew und der Stabschef des 95. Korps zugegen: Oberst Schuba, ein ruhiger Ukrainer. „Wissen Sie schon, daß unser Freund abreist?“ fragt mich Moskalenko. Der Satz ist ironisch formuliert, aber die Art, wie das gesagt wird, ist frei von Ironie. „Wen meinen Sie?“ entgegne ich. „Petrow.“ „Ja, daß er abfährt, weiß ich“, sage ich. „Sein Nachfolger ist Jeremenko.“ Ich schweige. „Ja“, sagt Moskalenko nach einer Pause. Wie mir in der letzten Zeit schien, ist Moskalenko in vielerlei Hinsicht mit Petrow nicht einverstanden gewesen. Er
gibt ihm die Schuld am Mißerfolg des letzten Angriffs, und obwohl er ihn als Menschen achtet, lehnt er ihn als Oberbefehlshaber der Front ab. „Wir haben Pech, wirklich Pech! Mitten im Angriff diese Veränderungen. Es war schon alles ausgearbeitet, auf ein einheitliches Konzept abgestimmt, jetzt gibt es neue Pläne, neue Richtlinien. Zu einem unpassenden Zeitpunkt. So ein Pech!“ beteuert er noch einmal. Dann wendet er sich an Oberst Schuba und wechselt von einem melancholischen zu einem unzufriedenen Tonfall über. „Sie sind heute wenig vorangekommen.“ „Wir haben einen schwierigen Abschnitt“, erwidert Schuba gelassen. „Das stimmt“, bestätigt Moskalenko. „Ein schwieriger Abschnitt, ohne Straßen – obwohl Sie natürlich nicht lange gefackelt haben, sondern mit Ihrer Artillerie fremde Straßen benutzten – die des linken wie die des rechten Nachbarn –, so daß sie hinsichtlich der Verbindungswege nicht benachteiligt waren. Trotzdem – ein schwieriger Abschnitt, zugegeben.“ Er fragt, wann im Korps das Aufsitzen auf die Panzer abgeschlossen sein soll. Schuba meldet. „Vergessen Sie eins nicht“, sagt Moskalenko. „Gegenwärtig ist die Oder Ihnen näher als den Nachbarn. Werfen Sie einen Blick auf die Karte. Sehen Sie, wie Ihnen die Windung entgegenkommt, der Fluß springt Ihnen förmlich entgegen. Sie müssen als erster dort sein. Aber Sie lassen sich Zeit. Bondarew hat sein Korps über Nacht von einem Abschnitt zum anderen geworfen und hat trotz der Umgruppierung mehr erreicht als Ihr Korps. Das nach einem Nachtmarsch.
– Ja also -die Flieger.“ Die Verbindung wird hergestellt, aber die Verständigung ist schlecht. Da beginnt er zu schreien, daß es weitergegeben werden soll. „Geben Sie es weiter, Fräulein! Mädchen, hörst du mich?“ ruft er beinah flehentlich aus. „Gib durch, ich fordere Luftunterstützung an.“ Er telephoniert weit zurück, ins tiefe Hinterland, aber die Punkte, die er auf der Karte mit Bleistift kennzeichnet, befinden sich ganz in seiner Nähe. „Gib es weiter“, sagt er, „und wiederhole!“ Das Mädchen gibt die verzwickten polnischen und deutschen Namen der Dörfer weiter und wiederholt sie ihm. „Gib durch und bestätige mir, daß die Flugzeuge noch vor dem Abend einen mächtigen Schlag führen…“ Er zählt eine Reihe benachbarter Punkte auf. Nach dem Telephonat wendet er sich dem Chef des Korpsstabs zu. „Zur Sache. Wir verfügen über Informationen und sehen uns genötigt, sie ernst zu nehmen, daß die Deutschen ihre achte Panzerarmee herwerfen. Sichern Sie mit zwei Artilleriedivisionen nordöstlich von Loslau die Verteidigung. Organisieren Sie dort ein Panzerabwehrsystem und graben Sie sich entlang der Straße so gut wie möglich ein.“ Danach ruft er die Division an, der kürzlich die Tschechoslowakische Panzerbrigade zugeteilt wurde. „Was ist bei Ihnen los, Saweljew? Wo sind die Tschechen? Ein Bataillon liegt im Dorf. Warum liegt es immer noch dort und bewegt sich nicht vorwärts? Und wo befindet sich das zweite? Und warum setzen Sie die Panzer so schlecht ein? Entweder Sie arbeiten
mit den Panzern ordnungsgemäß, oder ich entziehe sie Ihnen wegen unsachgemäßer Verwendung. Dann müssen Sie sehen, wie Sie mit der Infanterie allein weiterkommen. Übrigens, wo befinden Sie sich selbst? Beschreiben Sie mir Ihren Standort, Saweljew.“ Saweljew ist der vereinbarte Rufname für einen Divisionskommandeur. Der Gesprächspartner schildert seine Position offenbar ungenau. Moskalenko dreht sich zu Jepischew um, verdeckt den Hörer mit der Hand und sagt: „Ich habe das Gefühl, daß er ganz in der Nähe sitzt, vielleicht drei Häuser weiter.“ „Wo sitzen Sie?“ fragt er in den Hörer. „Das weiß ich, daß Sie auf Ihrer Beobachtungsstelle sitzen. Und wo ist Ihre B-Stelle? Wo vorn? Ach, in Pohlom? Wo, an welchem Rand? Ich möchte zu Ihnen kommen. Am östlichen? Dann sitzen Sie anderthalb Kilometer hinter mir, aber Ihr Platz ist vorn.“ So endet das Gespräch mit dem Divisionskommandeur, und Moskalenko verlangt unverzüglich den Korpskommandeur zu sprechen, dem die Division untersteht. Wahrscheinlich will er seinem Herzen Luft machen. „Wie schamlos manchmal versucht wird, einem Sand in die Augen zu streuen“, sagt er zu mir. Er beißt sich auf die schmalen Lippen und starrt vor sich hin. Ich frage, ob Loslau genommen ist. „Es ist als eingenommen gemeldet. Warum? Wollen Sie hinfahren?“ Ich erwidere, daß ich es versuchen würde. „Tun Sie es.“ Auf dem Weg nach Loslau kommen wir an mehreren
zerstörten deutschen Kanonen vorüber. Dann erstreckt sich links von der Straße eine große, sumpfige Wiese, die von reaktiven Geschossen so aufgepflügt wurde, daß sie wie ein Sturzacker aussieht. Dort liegen die Toten zu Dutzenden. Die Deutschen müssen sich gerade auf der Flucht befunden haben, als sie von einer Katjuscha-Salve überrascht wurden. Auch weiter vorn liegen neben der Straße Tote. Überhaupt gibt es Anzeichen dafür, daß der Angriff trotz des mäßigen Tempos heute erfolgreicher als an den Vortagen verläuft, und gerade heute hat der Gegner besonders hohe Verluste erlitten. In Loslau wird heftig geschossen. Bis zur Stadt ist es noch fast ein Kilometer. Auf einer kleinen Anhöhe halten wir. Von hier führt die Straße in eine tiefe Talsenke, und dort, wo sie wieder ansteigt, liegt auf einem Hügel Loslau. Am Bahndamm, unmittelbar vor dem Ort, sehen wir Infanterie, die sich eingräbt. Dieser Anblick überrascht mich ein bißchen, aber die Straße vor uns ist ruhig, und wir wollen schon weiterfahren, als hinter einem Haus ein Hauptmann hervorspringt und unseren Wagen stoppt. „Warten Sie noch“, sagt er, „fahren Sie später. Dieser ganze Abschnitt liegt unter starkem Artilleriebeschuß. Jetzt eben hat es einen Feuerüberfall gegeben. Sehen Sie, die Infanterie ist in Deckung gegangen. Warten Sie bis zum Dunkelwerden. Es dauert nicht mehr lange.“ „Ist in Loslau selbst auch Infanterie?“ „Ich weiß nicht“, sagt er. „Wahrscheinlich ja. Die Panzer sind schon vor vier Stunden eingedrungen.“
Unschlüssig stehen wir da. Rechts beschießen zwei Batterien 76-mm-Geschütze Ziele nördlich von Loslau, während die deutsche Artillerie ihr Feuer tatsächlich auf die in die Stadt führende Straße richtet, was die Warnung des Hauptmanns bestätigt. Dann sehen wir unsere Iljuschins zum Westrand des Ortes fliegen. Eine Maschine nach der anderen heult über uns hinweg, setzt zum Tiefflug an und schießt Raketen ab. Nach zehn Minuten beschließen wir, heute nicht mehr weiterzufahren, und wenden. Neben der Straße steht ein ausgebrannter T-34, den wir auf der Herfahrt nicht gesehen haben. Auf den zerstörten Raupen sitzen drei Infanteristen. Einer spielt auf einer kleinen erbeuteten Harmonika „Und das Mädchen bracht’ den Kämpfer in die Stellung…“ Die beiden anderen hören zu. Schon nach wenigen Kilometern wird es dunkel. Außerdem müssen wir anhalten, unsere zweite Reifenpanne an diesem Tag. In der Nähe erhebt sich ein von Granatfeuer beschädigtes Vorwerk. Wir gehen hin. Dort ist das Oberste zuunterst gekehrt. Mindestens zehn oder zwölf Granaten haben das Haus getroffen. Die Deutschen müssen versucht haben, sich hier zu halten. Am Fenster liegen inmitten der Trümmer deutsche MG-Gurte. Hundert Meter vom Vorwerk entfernt gähnt direkt neben der Straße ein Trichter. Daneben liegen blutbeschmiert ein Schnürschuh, ein Stück Zeltbahn, etwas weiter ein verbeultes Kochgeschirr; das ist alles, was von einem Menschen übriggeblieben ist. Zwei Schritte weiter ist ein frischer Hügel aufgehäuft
mit einem Pfahl, daran ist ein großer Rahmen aus Palisanderholz befestigt, der wahrscheinlich aus dem Vorwerk geholt wurde und in den weiße Pappe gespannt ist, die Rückseite einer Lithographie. Darauf stehen handschriftlich die Namen der Toten. KASSATKIN – SERGEANT BELJAKOW – SERGEANT KONDRATENKO – GEFREITER BRODI – ROTARMIST Gefallen am 26. 3. 1945 Ich stehe an dem Grab und denke an das jähe Lebensende dieser vier Männer. Sie wollten das Vorwerk nehmen, wurden mit Granatwerfern beschossen. Eine Granate detonierte unmittelbar neben ihnen. Sie fielen und wurden zwei Schritte vor diesem Trichter begraben, unweit des Vorwerks, das ihre Genossen eine halbe Stunde später stürmten. Die Benachrichtigungen für ihre Angehörigen aber waren noch ungeschrieben, und anderthalb bis zwei Monate würden vergehen, bis sie in Irkutsk, Nowgorod, Poltawa eintrafen. Schrecklich einfache Menschenschicksale im Krieg. Wir gehen zur Straße zurück. Ein Rotarmist hilft uns, den Reifen zu wechseln. Sein Geburtsjahr ist 1896, und er hat das klassische Aussehen eines alten Soldaten mit seinem großen grauen Schnurrbart, den hell gewordenen buschigen Augenbrauen. Er geht uns eifrig zur Hand. Wahrscheinlich langweilt er sich hier und weiß nicht recht, was er tun soll. Dann fragt er mich: „Wie spät haben wir’s?“ Ich sage ihm die Uhrzeit. Später spreche ich ihn an. „Und was machst du hier,
Vater?“ „Ich bin hier bei der Straße eingesetzt“, sagt er, „ich planiere die Straße.“ An dieser Stelle ist die völlig zertrümmerte Asphaltdecke auf einer fünfzig Meter langen Strecke mit Schotter – zerschlagenem Ziegel – überschüttet. Wenn ein schwerer Lkw sich nähert, schwankt die Straße wie das Meer und schlägt Wellen. Fahren mehrere Wagen hintereinander, furchen sie mit ihren Rädern eine tiefe Spur in den Schotter. Der alte Krieger hat die Aufgabe, die Fahrzeuge so zu dirigieren, daß sie sich nicht alle durch dieselbe Spur bewegen. Die Ränder sind aufgewulstet, und der Alte bemüht sich, den folgenden Wagen jeweils neben die Spur auf die erhöhten Stellen zu leiten, damit die Räder die Wülste plattdrücken und das Profil der Straße auf diese Weise verschwindet. Die leichten Personenwagen läßt er ungehindert passieren, aber sobald sich ein schwerer „Studebaker“ nähert, eilt er auf die Straße, ruft dem Fahrer etwas zu und weist ihn ein. Einige Fahrer beachten ihn nicht, aber die meisten gehorchen ihm, lenken den Wagen auf die Hügel neben der Spur, ebnen sie ein. So planiert der Alte die Straße. Mit dem Rad beschäftigen wir uns lange, flicken den Schlauch, wechseln ihn, pumpen vorsichtshalber auch den Ersatzreifen weiter auf. Pszczyna erreichen wir spät in der Nacht. Tagebuch vom 27. März 1945. Am Morgen ging ich zu Ortenberg und erfuhr durch ihn, daß Petrow noch nicht abgefahren war. Ich ver-
spürte den starken Wunsch, Iwan Jefimowitsch wiederzusehen. Gleichzeitig war ich mir bewußt, daß dem Mann, der gestern noch als Oberbefehlshaber der Front volle Kommandogewalt besessen hatte, jeder Versuch, ihm Mitgefühl zu bezeugen, unangenehm sein könnte, und trotzdem, ihn nicht aufzusuchen erschien mir nach allem, was gewesen war, schlechterdings unmöglich. Ortenberg riet mir, zum Stab der Front zu fahren, was ich auch erwartet hatte. „Angenommen, daß er dich nicht sehen möchte, weil ihm jetzt jeder Besuch zuwider ist“, sagte Ortenberg, „später wird er auf jeden Fall froh sein, wenn du ihn zum Abschied aufgesucht hast. Grüße ihn unbedingt auch von mir. Er ist ja kein Befehlshaber mehr und kann nicht denken, daß ich damit eigennützige Ziele verfolge oder aus unlauteren Beweggründen handle. Er ist ein sehr guter Mensch. Wenn der einmal Pech hat, dann gleich gründlich.“ Ich fuhr zu den Journalisten, die Telephon hatten. Offen gestanden wußte ich nicht so recht, wen oder was ich anrufen sollte. Wenn ich es beim Oberbefehlshaber versuchte, fürchtete ich, an Jeremenko zu geraten, was im gegebenen Fall höchst unzweckmäßig war. Schließlich kam ich zu dem Adjutanten durch, mit dessen Hilfe ich eine direkte Verbindung zu Petrow erlangte. „Ja bitte“, sagte Petrow mit seiner gewohnten Brummelstimme am anderen Ende. „Guten Tag, Iwan Jefimowitsch, hier Simonow.“ „Ah, Konstantin Michailowitsch, seien Sie gegrüßt.“ An dieser Stelle wäre üblicherweise eine Frage ge-
folgt: Na, wo haben Sie die ganze Zeit gesteckt? oder ein Vorschlag: Kommen Sie doch her. Diesmal trat eine bedrückende Pause ein. „Iwan Jefimowitsch, ich möchte Sie sehr gern sehen“, sagte ich. „Aber bitte später“, entgegnete er. „Geht es nicht später?“ „Natürlich. Deswegen bin ich ja hergekommen. Ich werde mich hier aufhalten und warten.“ „Sagen wir, um fünfzehn Uhr. Geht das?“ „Gut. Ich halte mich bereit.“ „Und wo sind Sie?“ Ich erklärte ihm, daß ich bei den Journalisten warten wolle. „Ich rufe zurück“, sagte er, und damit war das Gespräch beendet. Genau um drei klingelte das Telephon. Er war pünktlich wie immer. „Konstantin Michailowitsch?“ „Ja.“ „Hier Petrow. Kommen Sie. Ich erwarte Sie.“ Der Hof des Häuschens, in dem Petrow wohnte, war still. Nur ein Posten schritt auf und ab. Eine Kleinigkeit, eine Belanglosigkeit vielleicht, sprang mir ins Auge. Er trug keine Maschinenpistole, sondern ein Gewehr. Ich betrat das Empfangszimmer. Dort saß eine Ordonnanz, ein Offizier, dem ich auch früher bei Petrow begegnet war. „Ist jemand beim Armeegeneral?“ fragte ich. So umging ich das Wort „Befehlshaber“, und ich glaubte es auch künftig vermeiden zu müssen. Der Sekretär des Kriegsrats saß bei Petrow. Nach einigen Minuten kam er heraus, und ich ging hinein. Petrow saß an einem Tisch, der wie stets, wo immer
er sich aufhielt, mit einer riesigen Karte bedeckt war. Er stand auf und kam mir entgegen. Nach der Begrüßung trat eine Pause ein. Dann sagte Petrow: „Bei Moskalenko klappt es so einigermaßen. Sind ein Stück vorangekommen.“ Ich bestätigte es. „Und wo sind Sie gewesen?“ Ich erzählte es ihm. „Ja, vielleicht läuft alles gut“, sagte Petrow. „Wenn heute und im Laufe der Nacht die Oder erreicht wird, könnte Moravska-Ostrava in den nächsten Tagen fallen.“ „In den nächsten Tagen?“ vergewisserte ich mich. „Ja. Es gibt nur zwei Möglichkeiten. Gelingt es uns in den nächsten Tagen, die Oder zu überschreiten, haben die Deutschen keine Gelegenheit, Reserven einzusetzen. Um sie aus der Tiefe und in großem Umfange heranzuführen, brauchen sie wenigstens zwei bis drei Tage. Die Reserven, die ihnen zur Verfügung standen, haben sie bereits in den Kampf geworfen. Sie hatten ihre Hoffnungen auf die achte und die sechzehnte Panzerdivision gesetzt. Sie sind faktisch aufgerieben. Ihre 751. Infanteriedivision, die zu Beginn der Kämpfe noch frisch war, ist ebenfalls zerschlagen, so daß sie also im nächsten rückwärtigen Raum über keine Reserven mehr verfügen. Aber wenn es uns binnen zwei Tagen nicht gelingt, die Oder zu überschreiten, können diese Reserven auftauchen, und dann sitzen wir bei Ostrava fest.“ „Und wieviel Kilometer verbleiben noch bis zur Oder?“ fragte ich, ohne nachzudenken. Wer, wenn nicht Petrow, sollte das wissen! Erst in der nächsten Sekunde fiel mir ein, daß er nicht mehr Oberbefehl-
shaber der Front war und den jüngsten Stand nicht wissen konnte. Ich täuschte mich jedoch. „Das werde ich Ihnen gleich zeigen“, sagte Petrow und führte den Bleistift über die Karte. „Hier und hier sind es nur fünf Kilometer. Vor einer Stunde hat mich Moskalenko angerufen. In der Nacht können diese fünf Kilometer überwunden werden.“ Er machte noch einige Bemerkungen zur allgemeinen Lage an der Front, und ich glaubte, er wolle selbst nicht über seine bevorstehende Reise sprechen und wünsche auch nicht, daß ich dieses Thema berührte. Mir schien sicher, daß wir kein Wort darüber verlieren würden. Nachdem Petrow die Lage an der Front geschildert hatte, fragte er jedoch unvermittelt und so ruhig, als handelte es sich um die natürlichste Sache der Welt: „Wie ist es, müssen Sie auch dienstlich nach Moskau?“ Aus dieser Frage sprach sein ganzer Takt. Er gab mir zu verstehen, daß er sehr wohl wisse, daß ich von den Vorgängen gehört hatte, daß er aber nicht auf dieses Problem einzugehen gedachte, jedoch als alter Bekannter, der nach Moskau fuhr, vorschlug, diese Gelegenheit, falls ich es wünschte, zu nutzen. „Und wann fahren Sie?“ fragte ich. „Heute abend. Bis Krakow mit dem Auto, von dort mit dem Zug. Ich habe ein Abteil für mich.“ „Danke“, sagte ich. „Dann werde ich jetzt gehen. Ich schreibe einen Brief und gebe ihn Ihrem Adjutanten.“ „Gut“, sagte er. Generalleutnant Kariofilli, Chef Artillerie der Front, trat ein. Petrow forderte ihn auf, sich zu setzen, und
fragte mich: „Nun, was meinen Sie zu Ihrer Reise, alles in allem? Sind Sie zufrieden? Hat es gelohnt?“ Ich entgegnete, daß ich drei Artikel telegraphisch übermittelt habe, an einem vierten noch arbeite, vor allem aber eine Menge Material gesammelt habe, darunter Material für eine Novelle, die ich zu schreiben hoffe. Ich erzählte ihm in aller Kürze die Geschichte des Partisanenarztes Julius Bernard, merkte jedoch, daß ich nach Kariofillis Eintreffen fehl am Platze war, stand auf und empfahl mich. „Alles Gute.“ Petrow streckte mir die Hand hin. Ich hätte ihm gern noch viele Liebenswürdigkeiten gesagt, aber der anwesende Kariofilli hinderte mich. So ergriff ich nur die Hand, die mir Petrow gab, hielt sie lange in der meinen und murmelte, daß ich ihm dankbar sei und ihn bald wiederzusehen hoffe. Beim Hinausgehen empfand ich eine widerliche Leere. Da Petrow mit dem Zug nach Moskau fuhr, hatte er also keine große Eile, folglich erwiesen sich meine früheren Hoffnungen, er könnte einfach in eine neue Stellung berufen und nach Moskau beordert werden, um eine andere Aufgabe zu übernehmen, als purer Selbstbetrug. Er wurde nicht umgesetzt, sondern abgelöst. Er fuhr nach Moskau, um sich dem Hauptquartier zur Verfügung zu stellen, und niemand wußte, ob es für lange oder kurze Zeit sein würde. Gegen Ende des Krieges war das besonders schmerzlich. Als ich Petrow so sah, merkte ich ihm nicht an, wie nervös er war, welche Qualen er ausstand. Er zeigte sich nur als Mensch, der fest entschlossen war, sich in der Hand zu behalten. Sogar das krampfhafte Zucken,
das seit der Kontusion, die er erlitten hatte, bei jeder Erregung sein Gesicht entstellte, äußerte sich nicht stärker als gewöhnlich. Er war völlig unverändert, ganz und gar der alte, und wenn ich nicht vorher von den Vorgängen erfahren hätte, sein Verhalten hätte es mir nicht verraten. Vielleicht war es geschmacklos, aber ich mußte daran denken, was mir ein Divisionskommandeur der 2. Belorussischen Front erzählt hatte. Er war Petrow nie zuvor begegnet und wußte nichts von dem Nervenzucken, an dem Petrow litt, als er zum Oberbefehlshaber der 2. Belorussischen Front ernannt wurde. Nach den vorangegangenen Aufregungen hatte sich das Leiden verschlimmert, und er neigte den Kopf besonders rasch und häufig mit nickender Bewegung. Der Divisionskommandeur stellte die Geschichte etwa folgendermaßen dar: „Überraschend trifft der Oberbefehlshaber bei mir ein und fragt mich, wie ich auf meinem Abschnitt vorzugehen gedenke. So und so, melde ich ihm, so und so. Er nickt, schweigt, nickt nochmals. Berichten Sie weiter, sagt er. Ich breite die Karte aus, berichte. Er nickt schweigend. Ich denke, daß er mit allem einverstanden ist. Da bin ich erleichtert, und ich erläutere ihm sämtliche Einzelheiten meines Plans. Er nickt. Ich habe das Gefühl, daß er sie restlos billigt. Alles?’ fragt er, ,sind Sie fertig?’ – ,Alles’, sag ich. Darauf meint er: ,Ein sehr schwacher Plan, ein sehr unsicherer Plan, den Sie da aufgestellt haben. Schlecht durchdacht. Lassen Sie sich ihn noch einmal durch den Kopf gehen. Wir kommen später darauf zurück.’ So weist er mich zurecht und geht wieder, beides unter ständigem Nicken. Ich weiß
nicht, was ich davon halten soll, und denke nur: Na, das ist mir ein sonderbarer Kauz!“ Ich ging ins Quartier der Korrespondenten. Zuerst schrieb ich einen Brief nach Hause, dann drängte es mich trotz allem, ein paar passende Zeilen an Petrow zu richten, mitfühlend, aber mit der erforderlichen Distanz. Ich schrieb beide Briefe und brachte sie weg. Petrow hatte einen Besucher bei sich, und im Vorzimmer wartete ein Generalleutnant. Als ich wieder kehrtmachte, fragte er: „Wo sind Sie her, Genosse Oberstleutnant?“ Ich erklärte es ihm. „Darf ich mich vorstellen. Korshenewitsch.“ So lernte ich den Chef des Stabes der Front kennen. Gehört hatte ich schon viel von ihm, aber ich sah ihn zum erstenmal. Als ich das Haus verließ, traf ich Kutscherenko, der Petrow seit den ersten Kriegstagen immer und überallhin begleitet hatte. Dieser tapfere, sonst so gesprächige und rundliche Ukrainer sah völlig verändert aus, war entsetzlich abgemagert und finster, so daß ich ihn im ersten Augenblick kaum erkannte. Er sprach nicht nur leise, mit unnatürlicher, belegter Stimme – auch sein Gesichtsausdruck war ein anderer; das Lächeln, das ihn früher ständig begleitet hatte, war wie weggeblasen. Als ich Kutscherenko sah, wußte ich, wie nahe ihm die Sache ging und daß auch Petrow sie sich schwer zu Herzen nahm. Es war schlimm, ganz schlimm. Ich bat Kutscherenko, die Briefe weiterzureichen, verabschiedete mich von ihm und ging. Aus dem Tagebuch geht hervor, daß ich das Ende des Krieges zwar nicht vorausbestimmen konnte, aber
wie alle anderen fühlte: es steht vor der Tür. Ich schmiedete schon Nachkriegspläne, dachte an eine Novelle und sogar einen Kriegsroman, die ich schreiben wollte. Die Novelle von dem Partisanenarzt blieb allerdings ungeschrieben. Der Kriegsroman entstand zwar, jedoch viel später, als mir 1945 vorschwebte, und als ich hinter den letzten Band einen Punkt setzte, war ich noch nicht bei den oben geschilderten Ereignissen im Bereich der 4. Ukrainischen Front angelangt. Dennoch entsprach die Antwort, die ich damals Petrow erteilte, und zwar viel Material zu sammeln, der Wahrheit. Ebenso verwirklichte ich meine Absicht, in den Roman eine Gestalt einzuführen, die Iwan Jefimowitsch ähnelte. Zwar hat der Oberbefehlshaber meines Romans kaum etwas mit Petrow gemein, aber Petrow gehört zu den Menschen, die General Serpilin, der Hauptgestalt des Werkes „Die Lebenden und die Toten“, wichtige Züge verliehen, insbesondere hinsichtlich seines Verhältnisses zu den Unterstellten. Was die Unterstellten Petrows betrifft, eine wirklich seltene Übereinstimmung in der Wertschätzung seiner menschlichen Qualitäten spürt man aus allen Briefen, die ich in den letzten Jahren erhielt, die sich auf seine Person beziehen. „Nur gute Gefühle regen sich in meinem Herzen, wenn ich an diesen großartigen Menschen denke – ein Soldat, der auf seinen Befehlshaber stolz ist und ihn liebt…“ „Sein außergewöhnliches Namensgedächtnis haben Sie ganz treffend charakterisiert. Er war mir 1931
einmal in der Karakum begegnet, wo ich eine Abteilung gegen die Basmatschen führte. Als ich mich ihm später, 1942, bei Noworossisk in der Funktion des Korpskommissars vorstellte und meinen Familiennamen nannte, gab er mir die Hand, lächelte und sagte: ,Ein alter Bekannter, ein politischer Leiter der Allrussischen Tscheka aus Chiwa.’ Sein Gedächtnis verblüffte mich…“ „Er war ein großartiger Mensch. Aus den Augen dieses Mannes, der nie weinte, flossen Tränen, als bei der Landung auf der Halbinsel Kertsch seine neben ihm stehende Ordonnanz getötet wurde. Mir ist das bekannt, weil ich selbst kurz zuvor an Land gegangen war…“ „Da ich die letzte, bittere, schwierige, aber siegreiche Landungsoperation auf der Krim persönlich zur Genüge kennenlernte, konnte ich mich wiederholt von den ungewöhnlichen Charaktereigenschaften dieses großen Mannes überzeugen…“ Ich habe hier die Ansichten von vier verschiedenen Militärangehörigen wiedergegeben, die eines Infanterieleutnants, eines Politarbeiters eines Korps, eines Majors der Nachrichtentruppen und eines Arztes. Sie unterstanden zu unterschiedlichen Zeiten dem Mann, den sie charakterisieren. Diese Urteile sind mir lieb und teuer, nicht nur ihrer selbst wegen, sondern auch als eine weitere Bestätigung meiner eigenen Meinung, die ich von Petrow habe. Ich kehre zum Tagebuch zurück. Ich hatte meinen Bericht über die tschechoslowaki-
schen Panzersoldaten abgeschlossen, telegraphisch übermittelt und saß mit Ortenberg beim Abendessen, als wir eine Rundfunkmeldung hörten. Wegen der Einnahme der Stadt Rybnik wurde für die i. Ukrainische Front Salut befohlen. Wir hatten mit dem Fall der Stadt von Stunde zu Stunde gerechnet, so daß die Nachricht nicht unerwartet kam und uns keinesfalls überraschte. Die 60. Armee hatte Rybnik besetzt, nachdem die Deutschen gezwungen worden waren, die Stadt aufzugeben, um der Gefahr zu entgehen, durch die immer tiefer vorstoßende 38. Armee Moskalenkos abgeschnitten zu werden. Der Verlesung des Befehls folgte der Lagebericht. Darin hieß es unter anderem: „Nordöstlich der Stadt Moravska-Ostrava haben die Truppen der 4. Ukrainischen Front im Ergebnis ihrer Angriffsgefechte die Städte Sorau, Loslau sowie über vierzig andere Ortschaften eingenommen…“ Aus diesem Anlaß wurde nichts befohlen. Wegen Rybnik gab es einen Befehl, aber hierfür gab es keinen. Ortenberg war verstimmt. Noch mehr ärgerte sich wahrscheinlich Moskalenko, dem der rechte Nachbar die Belohnung vor der Nase weggeschnappt hatte. Die schweren Kämpfe um Sorau und Loslau hatten schon den vierten Tag angehalten, Tausende waren verwundet oder gefallen, und die Deutschen hatten Rybnik vermutlich nur darum aufgegeben, weil Sorau und Loslau genommen waren. Der Salut aber wurde nicht Moskalenko, sondern Kurotschkin zuteil. Ähnliches kommt im Krieg nicht selten vor, und obwohl sich die Menschen längst angewöhnt haben
sollten, solche Ungereimtheiten gelassen hinzunehmen, empören sich die Betroffenen jedesmal aufs neue. Einige Worte zu der Frage, wieweit die Leistungen der Truppen gerecht beurteilt wurden. Solange gekämpft wurde, erfolgten die Meldungen in aller Eile, ebenso die Befehle auf der Grundlage dieser Meldungen. Unter diesen Umständen war es bisweilen schwierig, genau abzuwägen, was die einzelnen Truppenteile zu diesem oder jenem Erfolg beigetragen hatten. Desto wichtiger ist es, daß gut informierte Leute bei der Schilderung der Ereignisse auch viele Jahre später noch das Rückgrat aufbringen, einem ehemaligen Nachbarn den nötigen Tribut zu zollen. Das Bemühen, die damaligen Vorgänge an der Naht zwischen der 4. und der 1. Ukrainischen Front richtig darzustellen, fand ich in dem Buch „Das Jahr fünfundvierzig“ von Marschall Konew, und ich möchte hier eine Stelle daraus zitieren. „Unser Vormarschtempo blieb nach wie vor gering. Tag für Tag kämpften wir unter hohen Verlusten hartnäckig um den Besitz kleinerer Ortschaften, Straßenknotenpunkte, größerer und kleinerer Höhen. Der Verlauf der Operation befriedigte weder im Tempo noch im Niveau die Ansprüche, die wir nach den jüngsten Erfahrungen stellen zu können glaubten. Nach einer Pause nahm aber am 24. März im Streifen der 4. Ukrainischen Front zu unserer Linken die 38. Armee unter ihrem energischen Befehlshaber, General Moskalenko, ihren Angriff wieder auf. Durch ihr zielstrebiges Handeln änderte sie die Lage am
linken Flügel der 60. Armee, wo der Gegner jetzt Gefahr lief, im Raum Rybnik-Ratibor eingekreist zu werden. Dadurch ergaben sich für uns günstige Voraussetzungen für die Erstürmung dieser Städte. Nach der Einnahme von Rybnik setzte ein Korps der 60. Armee südlich Ratibor auf das linke Oderufer über.“
30 Tagebuch vom 28. März. Am Morgen diktierte ich, und um zwölf Uhr fuhr ich mit Alpert nach Rybnik. Mit uns fuhr in einem „Willys“ der Korrespondent der „Krasnaja Swesda“ Boikow. Um Zeit zu sparen, wählten wir einen Weg, der zwar länger, aber besser war. Wir nahmen zunächst die Chaussee nach Hindenburg, dann die nach Ratibor, dann bogen wir in Richtung Rybnik ab. Als wir nach anderthalb Stunden sechzig Kilometer zurückgelegt hatten, sahen wir hinter einem Wald die hohen Fabrikschornsteine der Stadt aufragen und glaubten uns schon fast am Ziel. Wir sollten uns jedoch getäuscht haben. Im Wald, der uns von Rybnik trennte, hatte kürzlich noch der Kampf getobt. Minenfelder und große Barrikaden versperrten die Straße. Wir mußten auf einen schlecht befahrbaren Waldweg ausweichen. Lange irrten wir dort zwischen Bäumen, Gräben und Unterständen umher, überquerten zwei gedeckte Stellungen, die den Weg schnitten, und dann gerieten wir an ein schlecht sichtbares Hindernis aus feinem Draht, von dem sich
ein langes Stück um die Kardanwelle wickelte. Wir krochen unter den Wagen, entfernten die Spule stückchenweise und fuhren endlich weiter zu einer Wiese, hinter der Rybnik begann. Es war ein sumpfiges, tief gelegenes, überschwemmtes Gebiet mit zwei Bächen, die man – bis zum Knie im Wasser – wohl durchwaten, aber – des morastigen Bodens wegen – nicht durchfahren konnte. Über den ersten Bach waren grob behauene Stämme und Bretter geworfen. Ein Sanitätswagen steckte dort fest. Daneben stand ein Mercedes, bis zu den Sitzen im Wasser. Der Offizier war offenbar zu Fuß weitergegangen, der Fahrer saß mit untergeschlagenen Beinen auf dem Dach und verfolgte skeptisch die erfolglosen Versuche, den Sanitätswagen über die primitive Brücke zu schieben. Wir stiegen aus und liefen das Ufer auf und ab. Dem Ort haftete etwas Unheimliches, Gruseliges an. Unter der gesprengten Eisenbahnbrücke hatte sich ein Tümpel gebildet, um den einige Tote lagen, fast alle mit dem Kopf im Wasser. Auch in der Nähe unserer Fahrzeuge lag ein Toter, schwärzlich verfärbt, aufgedunsen, mit nur noch einem Bein. Seine Kleidung ähnelte weder der sowjetischen noch der deutschen Uniform, aber der beschädigte Karabiner neben ihm war ein deutsches Fabrikat. Auf der anderen Seite des Baches lag ein völlig verkohlter Leichnam, neben ihm Gewehr und Spaten, und eine flache Grube war ausgehoben. Offenbar hatte dieser Mensch in der letzten Minute seines Lebens eine Schützenmulde zu graben versucht. Dann war da noch ein Toter, ebenfalls in unbekannter Kleidung. Wahrscheinlich handelte es
sich um Volkssturmleute, die einige Tage zuvor Opfer eines überraschenden Feuerüberfalls unserer Artillerie geworden waren. Der Tod hatte sie schon stark entstellt. Hier ruhten sie -vergessen und unbestattet. Sowohl die fliehenden Deutschen als auch unsere angreifenden Kämpfer hatten sie liegengelassen. Ein gräßlicher Anblick! Die zerstörte, ins Wasser gestürzte Brücke, die halb im Tümpel liegenden Toten, der aufgetriebene Leichnam, das abgerissene Bein, dazu der lückenlos verhangene graue Himmel und der Regen… Zehn bis zwölf Polen, ärmlich bekleidete Zivilisten – aber mit Hut –, halfen, den Sanitätswagen über die Brücke zu bugsieren. Der Fahrer und sein Begleiter, ein Starschina, der jetzt mitschob, feuerten sich gegenseitig und die Polen an: „He, Panie! Nu, Panie! Nu – dawai! Panie…“ Endlich gelang es ihnen, den Wagen zu bewegen. Er machte einen Satz nach vorn und rollte, die Stämme hinter sich durcheinanderwirbelnd, zum zweiten Bach weiter. Dort fuhr er sich wieder fest, und das Schauspiel begann von vorn. „He, Panie! Dawai, Panie!“ Während diese Rufe vor uns erschollen, legten wir die Bretter und Stämme zurecht und schleppten unsere beiden Wagen hinüber. Unterdessen bezwangen die Polen unter der Anleitung und dem Geschrei des Starschina den zweiten Bach. Diesmal brauchten wir unsere Wagen nur auf die Brücke zu schieben, und schon fuhren wir hinter dem Sanitätswagen her und ließen die düstere Szene im gottvergessenen ehemaligen Niemandsland zwischen unseren und den deutschen Stellungen hinter uns. Rybnik erreichten wir gegen sechzehn
Uhr. Wie die meisten Städte hier wirkte der Ort unfreundlich, grau in grau. Dieser Eindruck verstärkte sich noch dadurch, daß er zwar nicht besonders stark zerstört war, wohl aber entsetzlich mitgenommen aussah. Es gab nur wenige Häuser, die der Krieg in Schutt und Trümmer gelegt hatte. Viele waren durch Artillerieeinwirkung beschädigt, doch alle übrigen trugen einfach einen Stempel leichterer Zerstörung. Die Scheiben, auch die Schaufenster, waren zerschlagen, die Türen aus den Angeln gerissen. Das herumliegende Papier, die Glasscherben, die zerfetzten Leitungsdrähte, die zerbrochenen Apothekerdosen, die aufs Pflaster gestreuten Chemikalien – das alles konnte unmöglich das Werk eines Tages sein. Sicherlich war Rybnik seit zwei Monaten schon eine töte Stadt, von dem Tag an, als sich die Front in unmittelbarer Nähe befunden hatte. Am Ortseingang standen mehrere ausgebrannte sowjetische Panzer und selbstfahrende Geschütze. Die Häuser ringsum waren zerschossen. Im Asphalt gähnten Trichter. Dort lagen die Überreste der Toten, die in diesen zwei Monaten nahezu völlig verwest waren. Es waren sowjetische Soldaten und deutsche. Sie waren gefallen, als sowjetische Truppen das erstemal den Ortsrand erreicht hatten und einen Tag später wieder hinausgedrängt wurden. Diese Stelle war dem pausenlosen Feuer beider Seiten ausgesetzt gewesen, so daß weder unsere Leute noch die Deutschen die Leichen aus dem Niemandsland hatten ziehen können, und wahrscheinlich hatten sie bei dem heftigen Beschuß auch keine besonderen Anstrengungen unternommen.
Wir fuhren zur Kommandantur, die im zweiten Stock eines Eckhauses untergebracht war. Den Kommandanten trafen wir nicht an. In dem kleinen Zimmer wartete ein Generalmajor auf ihn mit dem schwarzen Rand der Artillerie um die Schirmmütze. Er war aus Moskau gekommen, um in diesem Gebiet die deutschen Rüstungsbetriebe zu ermitteln und zu fixieren. Er erzählte, in Rybnik schon ein großes Werk ausfindig gemacht zu haben, das Panzerfäuste gefertigt hatte – nicht die Sprengladung, die in Deutschland hergestellt wurde, nur die Mäntel der Panzerfäuste. Zehntausende dieser Mäntel lagerten noch in dem Werk, das seine Produktion erst Ende Dezember 1944 aufgenommen und am 25. Januar 1945, dem Tag unseres Vorstoßes nach Rybnik, bereits wieder eingestellt hatte, nachdem fünfzigtausend Panzerfaustmäntel – das erste Monatssoll – hergestellt worden waren. „Offenbar gibt es hier auch ein Panzerwerk“, sagte der General, „ich verfüge über Informationen, daß es eins geben muß. Aber wo? Wir werden die Wälder durchsuchen. Vielleicht liegt es im Verborgenen. Seitdem unsere Bombenangriffe verstärkt wurden, haben sie viele ihrer Produktionsstätten in Waldverstecke verlagert. Nicht nur einzelne Werke – ganze Komplexe. Wahrscheinlich ist es auch in diesem Fall so.“ Später kam der General noch einmal auf die Panzerfäuste zu sprechen. „Das ist eine ernst zu nehmende Waffe“, sagte er, „und die Methode ihrer Handhabung haben wir hier beobachten können. Sie erwar-
teten, daß wir in die Stadt eindringen würden, und horteten Panzerfäuste im ersten Stockwerk der Häuser, vor allem bei den Fenstern, die zu den wichtigsten Kreuzungen hinausgehen. Es wäre schwierig, beim Rückzug immer die Panzerfäuste mitzuschleppen, mit ihnen hin und her zu laufen; aber die Soldaten der deutschen Einheit, die ein bestimmtes Stadtviertel verteidigen sollte, wußten, wo die Panzerfäuste bereitlagen. Als sich die Deutschen zurückzogen, liefen sie in die jeweiligen Häuser, zum ersten Stock hoch, fanden dort die Panzerfäuste und beschossen damit unsere Panzer, die in die Stadt eindrangen. Um von oben, aus dem ersten Stock, einen Panzer ohne Infanteriebegleitung in Brand zu schießen – dazu gehört nicht viel.“ Wir verließen die Kommandantur, ohne auf den Kommandanten zu warten. Wie uns der Lärm verriet, wurde in der Nähe gekämpft. Ich wollte von Rybnik direkt nach Loslau fahren. In der Nähe der Stadt, beim Dorf Radniuk, hatte Moskalenko seine Beobachtungsstelle eingerichtet. Nach der Karte waren es bis dorthin nur dreizehn Kilometer auf guter Straße, aber ich wußte nicht, ob diese Verbindung möglich, ob die Straße gesäubert war. Am Vortag war dort ein Verbindungsoffizier in seinem Wagen verbrannt. Seitdem waren fast vierundzwanzig Stunden vergangen. Sicherlich konnte man die Straße befahren. Dennoch wollte ich vorsichtshalber jemanden befragen. Ein Major, der uns entgegenkam, Bevollmächtigter der Frontspionageabwehr „Smersch“ in der 60. Armee, riet mir, die Straße nicht zu benutzen, weil sie
sechs Kilometer vor Radniuk auf einem eintausend bis eintausendfünfhundert Meter langen Abschnitt von den Deutschen beherrscht wurde und sich unsere 38. Armee noch nicht mit der 60. Armee vereint hatte. Nach meinen Vorstellungen mußte sich die Front gegenwärtig schon weiter entfernt haben. Aber wir dachten nicht daran, Kopf und Kragen zu riskieren, um die Aussagen des Majors zu überprüfen. Wir beschlossen, einen Umweg zu machen, nötigenfalls über Sorau. Allerdings wollten wir für die Rückfahrt eine andere Strecke wählen, um nicht noch einmal im Sumpf zu versacken. Selten war eine Reise so erfolglos verlaufen wie diese, und es ging bereits auf den Abend zu. Wir nahmen die Landstraße Richtung Sorau, eine asphaltierte, gute Chaussee, aber sehr verkehrsarm. Boikows „Willys“ hatte seine Mucken. Fast eine halbe Stunde brauchte der Fahrer, um den Schaden zu beheben, und während der ganzen Zeit kam uns ein einziger Wagen entgegen. Wir hielten ihn an und erfuhren, daß Sorau auf dieser direkten Strecke nicht zu erreichen sei. Weiter vorn sei die Straße versperrt und vermint. Zwei Kilometer von hier gebe es jedoch eine Ab-biegung. Ihr sollten wir zu irgendeinem zwischen Sorau und Loslau gelegenen Ober folgen. Wir starteten und trafen einen weiteren Wagen. Der Fahrer bestätigte, daß wir abbiegen müßten, aber nach diesem Ober zu fahren, wäre ganz und gar unmöglich, weil die Deutschen die Straße dort vermint hätten. Wir sollten einfach die Chaussee verlassen, das Minenfeld umfahren und auf die Chaussee zu-
rückkehren. Kurz und gut, am Ende wußte keiner von uns so recht, woran wir waren. Wir fuhren also auf der Chaussee weiter und hielten bei einem einsamen Feldweg, der befahrbar zu sein schien. An der Abzweigung standen einige Häuschen, und wir fragten einen Polen, der im ersten Stock eines Hauses am Fenster saß, wie wir nach Sorau kämen. „Immer die Chaussee lang“, entgegnete er. „Fahren irgendwelche Autos dorthin?“ „Freilich“, sagte er, „freilich fahren welche hin.“ Wir glaubten ihm und fuhren weiter. Nach einem Kilometer bremste der Fahrer scharf. Vor uns lagen die Trümmer eines „Studebaker“ – die Räder, Teile des Motors und der Karosserie, ein Stück abseits das Chassis und das fast unversehrte Führerhaus. Daneben hockte ein mit einem Gewehr bewaffneter Rotarmist, den wir zunächst für einen besonderen Posten hielten. „Es ist kein Durchkommen“, sagte er, nachdem er sich erhoben hatte. „Und wozu stehen Sie hier?“ „Ich bin der Fahrer“, sagte er und nickte zu den Bruchstücken hin. „Sie sind wohl auf eine Mine gefahren?“ fragten wir. „Ja, das sind wir“, sagte er gleichgültig und setzte sich wieder hin. Wir wendeten vorsichtig und fuhren zurück, voller Groll gegen den Polen, der uns hergeschickt hatte. Er saß noch in seinem Häuschen am Fenster. Alpert wetterte los. Was ihm eingefallen sei, uns dorthin zu schicken. Der Pole wiederholte jedoch: „Freilich fahren welche hin.“
Da dämmerte mir, daß er die Wahrheit gesagt hatte. „Hör auf, ihn anzuschreien“, riet ich Alpert. „Er meint den Wagen, der auf die Mine gefahren ist. Der muß hier vorbeigekommen sein.“ Wir bogen nach rechts auf einen Feldweg ab und fuhren vier Kilometer. Dann nahmen wir einen anderen, kleineren Feldweg und folgten den Spuren von zwei Lastwagen bis zu einer Stelle, wo sie beide gewendet hatten. Dort gab es eine kleine Meinungsverschiedenheit zwischen uns drei Korrespondenten, Alpert, Boikow und mir. Ich überzeugte mich an Hand der Karte, daß uns höchstens noch drei Kilometer von der Landstraße trennten, auf die dieser Feldweg führen mußte, und ich versuchte den anderen klarzumachen, daß dieser Abschnitt schwerlich vermint sein könne, da keinerlei Stellungen in der Nähe lagen und es keine Anzeichen dafür gebe, daß hier Kämpfe stattgefunden hätten. Schließlich kamen wir an eine Brücke, die zu unserm Glück miserabel gesprengt war. Sie hatte sich nur zur Seite geneigt, und vermutlich konnte man sie noch benutzen, obwohl auf der anderen Seite keine Spuren zu sehen waren, nicht einmal von Pferdefuhrwerken. Rechts dahinter standen einförmige Siedlungshäuschen, links lag Wald. Ich weiß nicht, was wir unternommen hätten, wenn ich am Ende einer Schneise nicht einen parkenden Wagen bemerkt hätte. Er wartete dort, fuhr dann an, näherte sich, kroch schwankend über die Brücke und hielt bei uns. Die Insassen des Fahrzeugs fragten, ob sie auf dem Weg nach Rybnik seien. Wir bejahten es, erkundigten
uns unsererseits nach dem Weg Richtung Loslau. Wir waren richtig. Wir fuhren weiter. Doch vor einem anderen Wald bremste der Fahrer. Die Straße hier war schachbrettartig vermint, wenn auch nicht allzu dicht. Die Deutschen hatten es offenbar, eilig gehabt, die kleinen Minen in etwa anderthalb Meter Abstand voneinander auf der Straße verlegt und die Brettchen lediglich mit einer dünnen Schicht Erde überschüttet, ohne alles richtig einzuebnen, so daß unser Fahrer es sofort bemerkt hatte. Ich stieg aus und wies dem Fahrer den Weg durch eine schmale Gasse. Schließlich erreichten wir trotz allem die Straße nach Loslau. Beim Überfliegen dieser Notizen dachte ich, daß die eingehende Beschreibung unserer Fahrt nach Rybnik und von dort nach Loslau sicherlich zu jenen unwesentlichen Detailschilderungen unseres Korrespondentenlebens gehört, die ich in der Regel gekürzt habe. Dann entschloß ich mich jedoch, es in diesem Fall nicht zu tun. Soll unsere in jeder Hinsicht erfolglose Fahrt dem Leser so gezeigt werden, wie sie verlaufen ist. Solche Mißerfolge habe ich im Krieg nicht nur einoder zweimal gehabt, und meinen Berufskollegen ist es ähnlich ergangen. Gewiß bildeten sie keinen wesentlichen Bestandteil unserer Tätigkeit, aber aus dem Gesamtbild waren sie nicht wegzudenken, da sich für mich – wie für die anderen Korrespondenten – der Krieg zur Hälfte. auf der Straße abspielte. In unseren Berichten ist hierüber gewöhnlich nichts zu lesen, doch wir haben es im Gedächtnis bewahrt.
Manchmal erwies sich eine Straße als völlig harmlos, obwohl wir ursprünglich Gefahren witterten, und umgekehrt, manchmal lauerten Gefahren gerade dort, wo sie nicht vermutet wurden. Ein Kapitel für sich waren die Nähte zwischen den Fronten und Armeen. Hier warteten sogar weit vom Schuß alle möglichen bösen Überraschungen auf den einsamen Wagen des Korrespondenten, der die eine Gruppierung verlassen und die andere noch nicht erreicht hatte, unter Umständen die Lage schlecht kannte oder wenigstens nicht über die letzten Veränderungen informiert war. Als ich dem ehemaligen Frontkorrespondenten der Zeitung „Krasnaja Swesda“, Pjotr Dmitrijewitsch Korsinkin, dem selbstlosen, inzwischen verstorbenen Verfasser eines dreibändigen Werkes über gefallene Journalisten, bei der Arbeit half, konnte ich mich davon überzeugen, daß nahezu jeder dritte unserer Genossen auf den Straßen oder während des Fluges zur oder von der Front oder sonstwie unterwegs getötet wurde. Sie verbrannten in der Luft, kamen bei der Landung um, fuhren auf eine Mine, gerieten an ungeschützter Stelle in einen Bombenhagel oder wurden zufällig von einer Granate getroffen, fielen einer Bande oder einer Gruppe fliehender Deutscher in die Hände, manchmal nur wenigen Leuten. Die Zeit ging hin, Zehntausende über Zehntausende von Kilometern brachte ich hinter mich, und alles überstand ich wohlbehalten, aber gegen Kriegsende entwickelte ich eine immer stärker werdende Scheu vor einsamen Straßen, auf denen außer dem eigenen Wagen kein Fahrzeug zu sehen war.
Ich kehre zum Tagebuch zurück. Wir fanden die richtige Straße, schon eine halbe Stunde später saß ich bei Moskalenko auf der Beobachtungsstelle, in einem kleinen Haus, fünfhundert Meter vom Bahndamm entfernt. Moskalenko sagte mir, daß wir weder am vorherigen noch an diesem Tag die Oder erreicht hatten, obwohl wir an einer Stelle bis auf drei Kilometer herangekommen waren. Moskalenko beugte sich über die Karte. „Sehen Sie her, wie sie uns an allen Abschnitten einen Riegel vorgeschoben haben. Da, schauen Sie, wie weit wir gekommen sind, aber sie haben uns gestoppt. Hier bloc-kiert uns ihre achte Panzerarmee, hier ihre sechzehnte, hier die neunzehnte, hier Infanterie. Wohin man sich wendet, überall haben sie uns festgeklebt.“ „Was glauben Sie, werden sie sich diesseits der Oder halten?“ fragte ich, auf die Deutschen bezogen. „Ja und nein“, sagte Moskalenko. „Ihr wichtigstes Verteidigungsgefecht werden sie sich schließlich am anderen Ufer liefern, aber sie setzen alles daran, uns so weit wie möglich vom Fluß abzuhalten, damit wir ihn nicht sehen, damit wir keine Vorbereitungen treffen können, ihn bei voller Kenntnis des Ortes und aller näheren Umstände zu überqueren. Wenn wir in großer Breite zum Fluß durchbrechen, können wir leichter übersetzen. Darum wollen sie uns aufhalten, um uns das Übersetzen zu erschweren, damit wir erst verschnaufen müssen, um es vorzubereiten. Darum sind die Deutschen so bemüht, unseren Vormarsch zu
verzögern. Das ist der ganze Sinn.“ Moskalenko wandte sich von mir ab und befahl der Artillerie, das Feuer gegen zwei MG-Nester auf der Höhe 247 zu führen. „Den ganzen Tag haben wir diese Höhe nicht nehmen können“, sagte er. „Nur gut, daß es heute weiter südlich gelungen ist, zu ihrer Frontverbindung durchzubrechen. Die deutschen Panzer sind dort hinund hergefahren. Das ist jetzt vorbei. Die einen Panzer stehen südlich von uns, die anderen nördlich, den mittleren Teil der Straße halten wir besetzt. Seitdem sind sie nicht mehr imstande, mit den Panzern zu manövrieren.“ Auf meine Frage, wohin ich am nächsten Morgen fahren solle, erteilte mir Moskalenko den Rat, die Korps Bondarews und Melnikows aufzusuchen. „Insgesamt haben sie fast zweihundert Geschütze erbeutet“, fügte er hinzu, „und zweitausend Gefangene gemacht. Auf zweitausend Gefangene können Sie viertausend Tote rechnen, auf sechstausend Gefangene und Tote nach sehr bescheidenen Schätzungen die gleiche Zahl von Verwundeten. Die Gesamtverluste belaufen sich folglich auf zwölftausend Mann. Jetzt und hier sind das für die Deutschen erhebliche Ausfälle. Sie sind stark angeschlagen. Aber es wäre verfrüht, sich damit trösten zu wollen. Die Aufgabe ist noch nicht gelöst.“ Ein Generalmajor der Fliegerkräfte trat beim Befehlshaber ein. Er hatte das ebenmäßig geschnittene, harte Gesicht eines Feldwebels der alten Zeit. Eine tiefe Narbe zerfurchte dieses Gesicht. Moskalenko sprach mit ihm darüber, daß in der Nacht die Übersetzstelle der Deutschen zu bombardieren sei und daß die Brücken beleuchtet
werden müßten, um den nächtlichen Verkehr festzustellen. „Wie sind Sie mit Kandelaber versorgt, haben Sie genügend?“ fragte Moskalenko. „Dann lassen Sie die ganze Nacht durch beleuchten, damit die Deutschen kopfscheu werden, falls sie über die Brücken fahren oder laufen, damit sie sich unsicher fühlen und nervös werden. Verstehen Sie?“ fragte er, indem sein Lächeln schwand und seine Miene ernst wurde. Auf der Karte zeigte er die Punkte, die bombardiert werden sollten. „Ich weiß bis jetzt aber noch nicht, wie viele unserer Flugzeuge für Sie arbeiten können“, sagte der Generalmajor. „Der Oberbefehlshaber hat befohlen, sie Gretschko zur Verfügung zu stellen.“ „Und werden sie für ihn auch eingesetzt?“ vergewisserte sich Moskalenko. „Morgen sollen sie. Ein endgültiges Kommando liegt im Augenblick noch nicht vor, aber sie sollen es.“ „Nun, wieviel Maschinen könnten Sie in diesem Fall mir überlassen?“ fragte Moskalenko. „Dann geben wir ihm vierhundertfünfzig Einsätze und Ihnen hundertfünfzig.“ „Gut“, sagte Moskalenko, „aber falls er morgen nicht angreift, müssen Sie mir vierhundert geben.“ „Gut, ich werde es melden“, sagte der Generalmajor. Es war schon finster. Moskalenko schickte sich an, den Stab aufzusuchen, und erkundigte sich nach meinen Plänen. Ich erklärte ihm, daß ich ebenfalls nach Pszczyna fahren wolle. „Wenn es so ist, fahren wir zusammen“, schlug Moskalenko vor. „Und wird Gretschko morgen angreifen?“ fragte ich. „Wahrscheinlich. Warum? Möchten Sie dabei sein?“
„Ja“, sagte ich, „wenn dort angegriffen wird, wäre ich gern dabei.“ „Dann kommen Sie doch zu uns in den Armeestab, erkundigen Sie sich bei Worobjow. Er kann es Ihnen genau sagen. Entweder erfahren Sie es heute nacht noch oder spätestens morgen früh.“ Moskalenko bot mir einen Platz in seinem Wagen an, und ich begleitete ihn und Jepischew. Unterwegs streiften wir alle möglichen Alltagsthemen, nur über militärische Angelegenheiten schwiegen wir, und aus dem Bestreben, nicht über den Krieg zu sprechen, und aus dem Ton der Unterhaltung spürte ich die Müdigkeit, die sich in den fünf Angriffstagen angehäuft hatte. Beim Chef des Armeestabs traf ich gegen Mitternacht ein. Worobjow arbeitete noch. Ich fragte ihn, ob die Nachbarn am nächsten Tag angreifen würden. „Gleich“, sagte er, stand mühsam vom Stuhl auf und ging zum Telephon. In den letzten Tagen hatte sich eine heftige Nierenentzündung eingestellt. Er quälte sich, arbeitete jedoch weiter. Im Telephongespräch mit Shdanow, Befehlshaber der Luftarmee, vergewisserte sich Worobjow, daß die entsprechenden Befehle zum Einsatz der Fliegerkräfte erteilt waren und daß die Nachbarn folglich angreifen würden. Dann gestattete er mir, von dort aus das Mitglied des Kriegsrates der 1. Gardearmee, Issajew, anzurufen und mit ihm zu vereinbaren, daß ich noch in der Nacht hinkäme. Halb drei traf ich bei Issajew ein. Er hatte sich schon hingelegt, denn um vier Uhr wollte er geweckt wer-
den. In einem der beiden Zimmer des Häuschens, das er bewohnte, war für mich vorsorglich ein Nachtlager hergerichtet worden. Ich legte die Stiefel ab und streckte mich, ohne mich weiter auszuziehen, voll Wohlbehagen auf dem Feldbett aus. Doch kaum war ich eingeschlafen, als mich ein Telephongespräch wieder weckte. „Ja, ich höre“, sagte Issajew laut, aber schlaftrunken. „Jawohl, Genosse Generaloberst, jawohl, um vier. Zu Befehl. Gut.“ Wenn ich mich nicht täuschte, hatte Mechlis angerufen und ließ Issajew nicht schlafen. Issajew warf sich nebenan von einer Seite auf die andere, und auch ich brauchte eine Viertelstunde, ehe ich um drei Uhr einschlafen konnte. Noch eine Stunde… Tagebuch vom 29. März 1945. Issajew weckte mich Punkt vier. Um fünf mußte er an einer Straßenkreuzung sein, um auf Mechlis zu warten und mit ihm zusammen zur Beobachtungsstelle zu fahren. Der Angriff war nicht abgeblasen worden, die Feuervorbereitung war für neun Uhr festgesetzt. Zehn Minuten nach fünf Uhr standen wir an vereinbarter Stelle. Mechlis ließ vierzig Minuten auf sich warten. Dann kam er endlich, begrüßte zunächst Issajew, danach mich. „Guten Tag“, sagte er liebenswürdig. „Ich habe Sie trotz der Finsternis erkannt. Bei mir ist noch ein Plätzchen frei. Sie können sich zu mir setzen.“ Ich erwiderte, daß ich schon bei Issajew untergekommen sei, aber Mechlis wiederholte die Einladung und ließ einen seiner beiden MPi-Schützen in den „Willys“
umsteigen, der ihm folgen sollte. Wir kletterten in den geschlossenen Wagen, den ich zunächst für einen umgebauten „Dodge“ hielt. Ich teilte Mechlis meine Vermutung mit. „Das ist kein ,Dodge’, sagte er. „Es ist ein GAS 63, Allachsantrieb, Motor von einem T-70.“ „Und die Karosserie?“ fragte ich. „Die Karosserie eines gewöhnlichen ,Emka’. Ich fahre diesen Wagen schon lange.“ Ich erinnerte mich, diesen Wagen schon früher gesehen zu haben, zumindest einen sehr ähnlichen. Mechlis war damit auf der Halbinsel Kertsch gewesen, und ich hatte ihn dort gesehen. Allerdings sprach ich nicht über meine Kertscher Erinnerungen und ließ auch unerwähnt, daß ich den Wagen bereits kannte. Eine Weile schwiegen wir, dann drehte sich Mechlis zu mir um und fragte: „Wissen Sie, daß die Front einen neuen Oberbefehlshaber hat?“ „Ja, das weiß ich“, sagte ich. „Sind Sie bei Iwan Jefimowitsch gewesen?“ „Bin ich. Vorgestern habe ich mich von ihm verabschiedet.“ „Was hat er Ihnen gesagt? Aber ehrlich!“ „Gar nichts hat er mir gesagt. Er hat nur über den Verlauf der Operation gesprochen und verschiedene abstrakte Betrachtungen angestellt. Aber das eigentliche Thema, das Sie jetzt interessiert, hat er nicht angeschnitten, und ich habe ihn natürlich auch nicht gefragt.“ „Nun ja“, sagte Mechlis nach einer langen Pause gedehnt. „Ich bin zu ihm gefahren, um mich zu verabschieden
und mich für sein gastfreundliches Entgegenkommen zu bedanken“, erklärte ich. „Kennen Sie ihn schon lange?“ fragte Mechlis. „Ja. Nach meiner Meinung ist er ein sehr guter Mensch.“ „Ja“, sagte Mechlis trocken, und ich glaubte, daß er diesen besonderen Tonfall wählte, um sich zu zwingen, objektiv zu sein. „Er ist ein guter und geselliger Mensch. Er ist – das steht zweifelsfrei fest – einer unserer Spezialisten des Gebirgskriegs. Auf diesem Gebiet kennt er sich besser als so mancher andere aus. Vielleicht ist er sogar der beste Fachmann, den wir haben. Aber er kränkelt. Wissen Sie das?“ „Wie – er kränkelt, in welcher Beziehung?“ erkundigte ich mich. „Nur so, es gibt eben kränkliche Menschen, aber…“ Mechlis stockte, ehe er sagte: „Aber hierüber werden wir uns bei anderer Gelegenheit näher unterhalten.“ Offenbar wollte er darüber jetzt nicht sprechen, weil der Fahrer und ein MPi-Schütze zugegen waren. Was hat er Ihnen gesagt? hatte Mechlis gefragt. Sicherlich wollte er etwas über Petrows Gefühle nach seiner Funktionsenthebung hören. Ob er vielleicht ihn, Mechlis, dafür verantwortlich machte, daß er abgesetzt worden war. Zumindest erschien es mir so. Schon am Tag vorher hatte ich solche Gerüchte munkeln gehört. Darum kam dieses „Aber ehrlich!“ aus seinem Munde für mich jetzt nicht unvorbereitet, obwohl ich nicht wußte, wie es sich tatsächlich verhielt. Jedenfalls merkte ich trotz aller äußerlichen Höflichkeit und Korrektheit in ihrem Umgang, trotz der Zurückhaltung, die Mechlis an den Tag legte, daß
diese beiden Männer nicht sonderlich gut aufeinander zu sprechen waren und daß ihre Differenzen im dienstlichen Bereich ihren Ursprung hatten. Petrow wünschte nicht, daß sich Mechlis auch nur im entferntesten in operative Angelegenheiten einmischte. Er unterstrich das, indem er sich in solchen Fragen so gut wie nie an ihn um Rat wandte, und Mechlis – das war mir schon vorher aufgefallen – verzichtete offenbar ganz bewußt darauf, bei der Entscheidung operativer Fragen irgendwie mitzusprechen. Er sagte hierüber nichts zu Petrow, riet ihm nichts und wandte sich auch aus eigenem Antrieb nie mit Fragen an ihn. Als ich dort im Auto saß und hörte, wie Mechlis über Petrow sprach, gewann ich den Eindruck, daß sie vor dem 10. März darüber in Streit geraten waren, ob sie zur Offensive bereit seien oder nicht. Mechlis hatte gefordert, dem Hauptquartier zu melden, daß sie nicht bereit seien, daß die Eröffnung der Offensive um einen oder zwei oder drei Tage verschoben werden solle, daß er die Verantwortung dafür übernehmen würde. Offenbar hatte er angesichts des schlechten Wetters diese Forderungen noch in der Nacht erhoben. Petrow war darauf nicht eingegangen und hatte entgegen seinen Ratschlägen den Angriff begonnen. Ich kann mich nicht verbürgen, daß es sich so zugetragen hatte, aber als ich mich im Wagen mit Mechlis unterhielt, sprachen alle Anzeichen dafür. Nach dem Fehlschlag hatte Mechlis nach oben gemeldet, was vorausgegangen war, und das mochte ein Grund für die Funktionsenthebung gewesen sein. Sehr wahrscheinlich sogar, und das wäre auch eine
Erklärung für den besonderen Ton, in dem Mechlis gefordert hatte: „Aber ehrlich!“ Einige Minuten schwiegen wir. Dann sagte Mechlis: „Ich habe mich von Iwan Jefimowitsch nur halb verabschiedet, gestern wurde ich bei der Armee festgehalten. Als ich ihn anrief, war er schon im Aufbruch begriffen. Dadurch konnte ich mich nur telephonisch verabschieden.“ Auch das sagte er trocken. Aus seiner Stimme sprach weder aufrichtiges Bedauern noch falsche Betroffenheit darüber, daß er sich von Petrow nicht richtig verabschiedet hatte. Er hatte sich tatsächlich verspätet, weil Wichtigeres als dieser Abschied erledigt werden mußte. Sonst hätte er Petrow aufgesucht, um ihm Lebewohl zu sagen, weil es nötig und richtig gewesen wäre – auch wenn die Enthebung auf seine Meldung hin erfolgt war. Mechlis schien etwas an sich zu haben, was ihn zu einer Art Streitaxt machte, die sich zwangsläufig senkte, weil sie sich senken mußte, und obwohl sie vielleicht nicht auf ein Haupt niederfallen wollte, konnte sie doch nicht in der Luft schweben, sondern mußte herabsausen. So ähnlich wird es im Fall des Oberbefehlshabers Petrow gewesen sein. Mag der Vergleich mit einer Axt an den Haaren herbeigezogen sein – psychologisch läßt es sich so deuten, und ich glaube kaum, daß ich mich irre. Wir bogen auf einen holprigen Feldweg ab. Issajew, der vorausfuhr, bremste mehrmals, hielt an und leuchtete nach allen Seiten. „Er findet sich nicht zurecht“, sagte Mechlis. „Issajew hat überhaupt ein schlechtes Orientierungsvermögen. Fehlt nur noch,
daß sie uns den Deutschen ausliefern. Bei uns an der 2. Baltischen Front hat sich kürzlich der Artilleriebefehlshaber verfahren, den Deutschen direkt in die Arme. Glauben Sie nicht, daß er ein Schuft war, nichts dergleichen, ein anständiger Kerl. Der Fahrer meinte so und so, der Befehlshaber riet zu einer anderen Strecke. So landeten sie bei den Deutschen. Ihr weiteres Schicksal ist unbekannt. Aber wie es passieren konnte, weiß ich genau. Wie oft bin ich selbst schon falsch gefahren worden!“ Zweimal bogen wir noch ab, zuerst nach der einen, dann nach der anderen Seite. „Er kennt sich auf den Wegen nicht aus“, beteuerte Mechlis, „absolut unbewandert.“ Er öffnete den Schlag und rief dem Offizier in dem hinter uns fahrenden „Willys“ zu: „Hallo, Bragin, geben Sie mir die Karte, steigen Sie aus und sehen Sie sich mal selber ein bißchen um.“ Mechlis leuchtete die Karte an. „Sehen Sie, wie wir fahren müssen“, rief Mechlis, an Bragin gewandt, und setzte das Studium der Karte fort. „Selbstverständlich nicht nach rechts. Los, wir kehren um.“ Wir wendeten, und in Issajews Gefolge bogen wir wieder zweimal ab. „Melnikow, geben Sie mir die MPi“, sagte Mechlis. Seine Ordonnanz Melnikow, der hinten neben mir saß, holte die große italienische MPi hervor, zog sie aus der Hülle und reichte sie Mechlis. Mechlis stellte die Waffe griffbereit zwischen die Knie. Viel hatte ich schon über seine ans Phantastische grenzende Tapferkeit gehört und fand so bestechend an ihm, daß er sehr akkurat, sehr geradezu war und keine Spiegelfechterei kannte. Ich konnte ihn mir vorstellen, wie er handeln würde,
wenn er sich in einem Graben der vordersten Linie überraschend einer kritischen Lage gegenübersähe. Er würde genauso akkurat verfahren, wie er es an seinem Schreibtisch bei der Arbeit zu tun gewohnt war, den Zwicker aus der Tasche ziehen, ihn auf die Nase klemmen, sorgfältig zielen, alle Patronen verschießen – bis auf die letzte, die er genauso gewissenhaft für sich aufhob, ohne diesen Schlußakt im Eifer des Gefechts eine Sekunde aus dem Auge zu verlieren. Nach vielen Irrfahrten erreichten wir schließlich die richtige Straße. Vor uns stiegen zu beiden Seiten fortgesetzt deutsche Leuchtraketen auf. Die Straße entlang und links davon stand direkt gerichtete Artillerie mittleren und kleineren Kalibers. Die Entfernung bis zur vordersten Linie betrug an dieser Stelle nicht mehr als einen Kilometer. Wir fuhren mit abgeblendeten Scheinwerfern weiter und gelangten durch eine Lücke in einer zerschossenen Mauer auf den Hof eines halbzerstörten Vorwerks. Dort war es sehr schlammig, so daß der Wagen im Dreck stekkenblieb. „Noch weit?“ fragte Mechlis. „Nein, hundert Meter.“ „Laufen wir.“ Durch das Vorwerk, in dem es von Menschen wimmelte, gelangten wir in einen Wald und nach hundertfünfzig Schritten an einen mit fünf oder sechs Lagen Holzstämmen überdeckten Bunker. „Guten Abend.“ So grüßte Mechlis den ihm entgegenkommenden großen, starken Gretschko, der Ledermantel und Feldmütze trug. „Hier ist Ihre Beobachtungsstelle?“ fragte er ver-
wundert. „Ja, hier.“ „Was können Sie denn von hier beobachten?“ „Erstens sieht man von hier eine ganze Menge, und zweitens habe ich meinen Beobachtungsturm.“ Gretschko zeigte nach oben, und zwanzig Meter von dem Bunker entfernt erhob sich zwischen drei Kiefern ein gut getarnter, sorgfältig angelegter Turm mit einer genau gearbeiteten Plattform und einer bequemen Holzleiter, die zu dieser Plattform hinaufführte. Hier war wieder alles haargenau so eingerichtet wie damals, als ich Gretschko das erstemal besuchte. Das war offenbar sein Stil. Ein anderer hätte das benachbarte Vorwerk als Standort gewählt. Gretschko liebte gut gebaute Unterstände und Beobachtungstürme zwischen den Bäumen. Wir gingen in den Bunker. Dort standen ein Tisch, drei Stühle und ein bloßes Bettgestell mit Drahtgeflecht. „Was sagen die Meteorologen?“ fragte Mechlis sofort. „Verheißen nichts Gutes“, erwiderte Gretschko. Das Wetter war ausgesprochen abscheulich. In der Nacht hatte es angefangen zu regnen. Der Boden war aufgeweicht, und es regnete weiter. Es sah nach einem Landregen aus. „Vielleicht setzen Sie den Angriff ab?“ fragte Mechlis und blickte Gretschko scharf an. Mir fielen bei diesen Worten die Mißerfolge des letzten Angriffs ein. Gretschko antwortete nicht. „Für welche Zeit haben Sie ihn angesetzt?“ fragte Mechlis. „Die allgemeine Feuervorbereitung für zehn Uhr“, sagte Gretschko, „aber eine partielle für sieben
Uhr zwanzig, zur Unterstützung einer gewaltsamen Aufklärung. Von jeder der drei Divisionen ein Bataillon. Die Stoßtrupps sollen feststellen, ob sich der Gegner zurückgezogen hat, und Gefangene einbringen. Von ihnen erfahren wir, ob der Gegner über den geplanten Schlag unterrichtet ist. Wenn er nichts gewußt hat und sich, erschreckt durch die gewaltsame Aufklärung, auf die zweite Linie zurückziehen will, kommt er nicht mehr dazu.“ „Für wann ist das Stoßtruppunternehmen angesetzt?“ vergewisserte sich Mechlis. „Für sieben Uhr zwanzig“, wiederholte Gretschko. Mechlis ging hinaus, blieb einige Minuten draußen stehen und kam in den Bunker zurück. „Nichts zu sehen. Überhaupt keine Sicht.“ „Ja, die Sicht ist gleich Null“, gab Gretschko zu. „Vielleicht wäre es sinnvoll, die Operation zu verschieben?“ fragte Mechlis und blickte Gretschko durchdringend an. „Wieviel Zeit verbleibt bis zu Ihrer Teilfeuervorbereitung?“ „Noch zwanzig Minuten“, antwortete Gretschko. „Ich werde dem Stabschef befehlen, sich mit dem Oberbefehlshaber in Verbindung zu setzen. Um über den Aufschub zu informieren, sind zehn Minuten erforderlich. Die Leute sitzen alle an den Telephonen. Genosse Pawlow!“ Gretschko nannte den Stabschef bei diesem Pseudonym. „Rufen Sie in meinem Namen den Oberbefehlshaber an. Die Sicht hat sich nicht gebessert. Es besteht Veranlassung, alles um eine Stunde zu verschieben.“ Mechlis runzelte kaum merklich die Stirn. Die Form des Gesuchs schien ihm zu mißfallen.
Wir verließen den Bunker. Bald kam Gretschko nach und verkündete, es sei ein einstündiger Aufschub befohlen worden. Er ging noch einmal in den Bunker, während ich bei Mechlis im Freien blieb. Das Wetter war unverändert, auch um sieben, auch sieben Uhr zwanzig, auch um acht. Zu Beginn der neunten Stunde kehrte Gretschko aus dem Bunker zurück, und ich wurde Zeuge des Gesprächs, das Mechlis mit ihm führte. „Das Wetter bessert sich nicht“, sagte Mechlis. „Vielleicht wäre es besser, alles aufzuschieben?“ „Der Oberbefehlshaber hat mir keine derartigen Instruktionen erteilt“, entgegnete Gretschko. „Aber Sie haben ihm doch Ihre Meinung gesagt, daß Sie gegen den Beginn sind?“ „Das habe ich.“ „Na und?“ „Er hat befohlen, ihn um eine Stunde zu verschieben. Andere Instruktionen hat er nicht erteilt.“ „Das heißt also, Sie haben ihm Ihre Meinung gesagt, als Sie sich vorhin durch Ihren Stabschef verbinden ließen?“ fragte Mechlis. „Ja“, antwortete Gretschko ruhig. „Dann nehmen Sie die Verantwortung für den Aufschub auf sich“, schlug Mechlis vor. „Der Oberbefehlshaber hat mir keine derartigen Instruktionen erteilt“, wiederholte Gretschko. „Dann tun Sie es von sich aus! Die Auffassung des Hauptquartiers zur letzten Offensive kennen Sie?“ „Nein, die kenne ich nicht“, erwiderte Gretschko. „Dann will ich es Ihnen sagen. Das Hauptquartier vertritt folgende Auffassung. Wir hätten um einen
Aufschub ersuchen können. Er wäre uns genehmigt worden. Wir haben es jedoch nicht getan und mußten das Versäumnis teuer bezahlen. Ich würde an Ihrer Stelle den Angriff für heute absetzen und die Entscheidung melden.“ „Nein“, entgegnete Gretschko. „Oder habe ich Ihre Worte als Befehl aufzufassen?“ Das war eine Herausforderung, die Mechlis nicht annehmen konnte. In dieser Frage konnte ein Mitglied des Kriegsrats einen Befehl des Oberbefehlshabers nicht außer Kraft setzen. Es wäre eine unerhörte Eigenmächtigkeit, und Gretschko wußte das. „Dann lassen Sie sich noch einmal mit dem Oberbefehlshaber verbinden“, empfahl Mechlis. „Dazu ist es zu spät“, entgegnete Gretschko. „In fünf Minuten fängt es an. Zu spät, mich zu verbinden, zu spät, den Beginn aufzuschieben.“ Die Uhr zeigte tatsächlich schon Viertel nach acht. Bis zum Beginn der Feuervorbereitung verblieben fünf Minuten. Ich betrachtete Gretschko, der neben Mechlis stand. Trotz seiner äußeren Ruhe und der anscheinend so festen Entschlossenheit, die er dem Drängen entgegengesetzt hatte, sich beim Oberbefehlshaber für einen generellen Aufschub zu verwenden, war er offensichtlich nervös. Er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und drehte die eine in der anderen Hand. Die Feuervorbereitung, die dem Unternehmen der Bataillone vorausging, war eindrucksvoll. In das Brüllen der Geschütze mischten sich die Salven der leichten Geschoßwerfer, die auf „Willys“ montiert waren. Kurz, es fehlte nichts, um eine generelle
Feuervorbereitung vorzutäuschen. „Na, dann los, Borissy“, sagte Gretschko, sich immer noch die Finger reibend. Als „Borissy“ bezeichnete er seine Bataillone, die zur gewaltsamen Aufklärung vorgingen. Das Wetter war unverändert, aber während es Mechlis bisher für ausgeschlossen gehalten hatte, daß eine Besserung eintreten könnte, betrachtete er jetzt unablässig den Himmel und suchte und fand bald hier, bald dort Anzeichen der Aufheiterung. Da der Angriff einmal begonnen hatte, wollte er unter allen Umständen eine Wetterbesserung erkennen. Er litt beinahe an Halluzinationen. „Da, sehen Sie“, sagte er, „bis zu dieser Stelle sind es mindestens vierhundert Meter, wenn nicht fünfhundert.“ (In Wirklichkeit betrug die Entfernung kaum dreihundert Meter.) „Und die Bäume an der Straße sind schon zu erkennen. Da, sehen Sie, dort fährt ein Panzer. Vor einer halben Stunde hätten wir den nicht gesehen. Und dort rechts ist die Wolkendecke gerissen. Vielleicht klart der Himmel auf. Sehen Sie es?“ Dann folgte der Feuervorbereitung die übliche Pause, während der auf der Beobachtungsstelle alle gespannt die ersten Meldungen erwarten. Ich stand bei Mechlis und Issajew, und irgendwie kamen wir darauf zu sprechen, was die Soldaten von der Front nach Hause schickten. Issajew erzählte, daß viele Soldaten Fensterglas schickten, sie verpackten die Scheiben zwischen Brettern und wollten sie so aufgeben, weil zu Hause kein Glas zu haben sei. Auf der Feldpoststelle aber wurde die Annahme verweigert. Unmöglich! Es entsprach nicht dem vorge-
schriebenen Format, und außerdem gab es Bruch. „Nimm’s doch an“, sagte neulich ein Soldat, „los, nimm’s an! Die Deutschen haben mein Häuschen kaputtgemacht. Nimm das Päckchen an! Sonst sage nicht, daß das eine Post ist, wenn du es nicht annimmst.“ Viele schickten Säckchen mit Nägeln, ebenfalls für ein neues Häuschen, und einer brachte eine Säge, die kreisrund zusammengerollt war. „In irgendwas mußt du sie aber einwickeln“, wurde ihm auf der Post gesagt. „Nimm sie, nimm sie an! Was soll das Gemecker! Ich hab keine Zeit. Muß zurück in die Stellung.“ „Und wo hast du die Anschrift?“ „Die Adresse steht auf der Säge. Hier, siehst du?“ Tatsächlich, da stand die Adresse, mit Kopierstift auf die Säge geschrieben. Als Issajew diese Geschichte erzählte, fiel mir eine andere ein, die ich kurz zuvor gehört hatte. Nach der Einnahme eines deutschen Städtchens stieß ein Starschina, ehemaliger Kolchosvorsitzender, auf ein von den Besitzern verlassenes Hutgeschäft. Er hatte ein Troßfahrzeug der Kompanie zur Verfügung und lud die Männerhüte auf. Später packte er ein Paket, stülpte einen Hut in den anderen und schickte die Sendung – dreißig neue Filzhüte – an seinen Kolchos, dazu einen Begleitbrief, in dem er seiner Frau schrieb: „Schicke zum 1.Mai Geschenke für die Kolchosbauern. Verteile sie an alle Männer, die noch am Leben sind. Sorge dafür, daß sie am 1. Mai getragen werden und daß alle an mich denken.“ Gretschko, der noch einmal in den Unterstand ge-
gangen war, kam von dort zurück. „Die Borissy sind weg. Soweit ist alles klar.“ „Ja, trotzdem wäre es besser gewesen, die Operation aufzuschieben“, bemerkte Mechlis. „Das war schwer zu machen“, sagte Gretschko. „So ein allgemeiner Aufschub hat bei den Leuten einen Stimmungsumschwung zur Folge. Sie sind auf Angriff eingestellt. Nur schnell angreifen, nur schnell nach Hause.“ „Das ist eine gefährliche Losung“, sagte Mechlis. „Wissen Sie.“ „Inwiefern gefährlich?“ „Weil das Schwergewicht nicht auf ,angreifen’, sondern auf ,nach Hause’ liegt.“ Gretschko blieb die Antwort schuldig und hüllte sich in Schweigen. Die Feuervorbereitung ging weiter. Sie dauerte etwa eine Viertelstunde. „Wie groß ist der Munitionsaufwand, gemessen an dem vorgesehenen Gesamtverbrauch?“ fragte ich Gretschko. „Folgendermaßen“, sagte Gretschko. „Jetzt arbeiten zwei Abteilungen für jedes Bataillon, und einige Rohre zusätzlich. Insgesamt hundert Geschütze fünfzehn Minuten lang. Wenn statt der Schein- die echte Feuervorbereitung beginnt, arbeiten neunhundert Geschütze plus die schweren Geschoßwerfer, und nicht fünfzehn, sondern fünfundvierzig Minuten. Eine dreißigfache Feuerkraft.“ „Und was meinen Sie – halten die Deutschen den jetzigen Überfall für eine echte Feuervorbereitung?“ „Ich glaube schon. Wir haben sie zwar nur mit leichten Geschoßwerfern eingedeckt, trotzdem –
wenn hundert Geschütze schießen, ist es bei der entsprechenden Feuerdichte recht wirkungsvoll, insbesondere, wenn man den Überfall nicht von hier, sondern auf der anderen Seite erlebt.“ Bald traf die telephonische Meldung von der Gefangennahme der ersten sieben Deutschen ein. Unsere Soldaten waren dreihundert Meter entlang der Eisenbahnlinie vorgerückt und hatten Angehörige der Strafkompanie der i. Panzerarmee gefangengenommen. Die Kompanie hatte ihre Stellungen erst in der letzten Nacht bezogen. Nach Aussage der Gefangenen waren sie auf unseren Angriff nicht vorbereitet gewesen. Sie hatten zwar mit einer Offensive gerechnet und darum die vorderste Linie besetzt, aber den Zeitpunkt des Angriffs hatten sie nicht gewußt. Der Chef Artillerie, Kariofilli, trat an Mechlis heran. Sie gerieten sofort in ein Gespräch über die Berechnungen der Artillerie. Wieviel Granaten wann wohin verschossen werden sollten. Wie viele wann und wo gebraucht wurden. „Man muß wendig sein“, sagte Mechlis, „von oben alles anfordern, was irgendwie menschenmöglich ist. Ich rufe an, und wenn darauf positiv reagiert wird, warte ich nicht, bis Papiere eintreffen, sondern handle sofort. Ich verfüge über die Granaten und verschieße sie. Wenn die Vorgesetzten nur ansagen – mehr brauche ich nicht. Alles übrige regeln wir hier – ohne Obrigkeit.“ Sie wechselten das Thema und sprachen über die 18. Armee. Dort sollten einige Artillerieoffiziere ihrer Posten enthoben werden. „Gastilowitsch muß in Schwung gebracht werden“, sagte Mechlis vom Be-
fehlshaber der 18. Armee. „Die haben mit dem Angriff noch nicht begonnen und müssen sich ranhalten, sonst bleibt der linke Flügel so weit zurück, daß es auf der Karte nicht hübsch aussieht. Wir hinken schon alle hinterher. Ich glaube, die 2. und die 1. Ukrainische Front werden uns bald in Teufels Küche bringen“, fügte er mit bitterem Lachen hinzu. „Was beobachtest du?“ fragte Gretschko einen Divisionskommandeur, legte den Hörer auf und sagte: „Beschwert sich, daß er nichts sieht, nicht mal das Gefecht seines eigenen Bataillons kann er verfolgen, obwohl es nur einen halben Kilometer entfernt ist.“ Ein kleiner Panzer rumpelte vorüber. „Wissen Sie, wie die Soldaten diese Panzerchen nennen?“ fragte Issajew Mechlis. „Keine Ahnung. Wie?“ „Heimat, leb wohl!“ „Na ja, er hat eine schlechte Panzerung“, sagte Mechlis, „aber er wird auch nie im Kampf eingesetzt. Er dient lediglich als Transportmittel für Verbindungsoffiziere.“ Die Feuervorbereitung näherte sich ihrem Ende. Nur die Begleitartillerie schoß noch. Die Deutschen antworteten immer heftiger. Vor uns detonierten ihre Granaten, und wir hörten wildes Gewehr- und MG-Geknatter. Von einer Division ging die Meldung ein, die Zahl der Gefangenen habe sich bereits auf siebenundvierzig erhöht. Sie alle waren auf einem etwa einen Kilometer breiten Abschnitt der Front gefangengenommen worden, und alle stammten aus der Strafkompanie, die dort geschlossen im vordersten Graben eingesetzt war. „Und nun geben Sie eine
Salve auf den Streifen zwischen den Stellungen der ersten und der zweiten Linie“, befahl Gretschko ins Telephon, „damit der Gegner nicht ausweicht und uns davonläuft.“ Er legte den Hörer auf und sagte: „Ich denke, daß wir den Gegner desorientiert haben. Inzwischen hat er begriffen, daß es sich um ein Stoßtruppunternehmen und nicht um den Angriff handelt. Er sagt sich, daß wir heute die Ergebnisse auswerten, die Gefangenen verhören und morgen angreifen werden. Aber wir fangen heute an.“ „Siebenundvierzig Gefangene, noch dazu aus einer Strafkompanie, alle auf einen Schlag bei der Aufklärung, das ist symptomatisch“, meinte Mechlis. „Offenbar haben sie keine große Lust zu kämpfen.“ „Aber das Wetter bessert sich nicht“, stellte Gretschko fest. Mechlis sah ihn kalt an. „Nach meiner Meinung ist das Wetter besser geworden.“ So war sein Charakter. Er wollte, daß seine Wünsche in Erfüllung gingen, und obwohl sich das Wetter überhaupt nicht geändert hatte, redete er sich ein, es sei besser geworden. „Der Wind wird bestimmt noch den Nebel vertreiben“, sagte er. „Es ist nur ein schwacher Hauch“, entgegnete Gretschko. „Nicht mal die Zweige bewegen sich.“ „Sehen Sie doch nicht nach den Zweigen, man muß stets den Rauch beobachten“, bemerkte Mechlis und deutete auf die Fahne, die dem Schornstein entstieg. „Sehen Sie, ein anständiger Wind.“ Ein Oberst, Kommandeur eines Selbstfahrlafettenregiments, trat an Gretschko heran. „Sind die Leute bereit?“ fragte Gretschko.
„Fertig.“ „Gut. Bedenken Sie, Gordejew, es ist möglich, daß die Deutschen ihre Geschütze auf der Chaussee bewegen. Kalkulieren Sie das ein.“ Wir gingen wieder in den Bunker. „Beobachten Sie, wie unsere Granaten liegen?“ fragte Gretschko durchs Telephon. „Wie ist die Stimmung?“ Offenbar wurde er schlecht verstanden. „Wie die Stimmung der Leute ist?“ fragte er laut. „Die Stimmung ist gut? Möbeln Sie die Leute auf. Sagen Sie ihnen etwas Nettes vor dem Sturmangriff; sie sollen sich nicht ums Wetter scheren.“ „Wann beginnt die allgemeine Feuervorbereitung?“ erkundigte sich Mechlis, der einen möglichen Aufschub des Angriffs nicht länger ins Auge faßte. „In einer halben Stunde, Punkt elf“, erwiderte Gretschko. „Werden die Artilleristen die Ziele sehen?“ fragte Mechlis. Statt Gretschko antwortete Kariofilli. „Das werden sie nicht. Das ist das Hauptübel, daß auf dem Angriffsstreifen überall Vorwerke und Gehöfte liegen, und um die Steinhäuser zu zerstören, müßten wir schwere Geschütze auffahren, aber näher als einen Kilometer sind sie fürs direkte Richten nicht heranzuziehen. Gut sieht man nur bis zu fünfhundert Metern – bestenfalls.“ Gretschko telephonierte mit den Divisionskommandeuren. „Möbeln Sie die Leute auf, machen Sie ihnen Mut, sagen Sie ihnen etwas Nettes. Sorgen Sie dafür, daß sie sich nicht ums Wetter scheren, und prägen Sie sich fest ein, daß ich von Ihnen fordere, kein Halt vor Pruchno!“ Er rief den nächsten Divisionskommandeur an.
„Ziehen Sie die Infanterie weiter vor, bis möglichst dicht hinter die Einschläge unserer Granaten, und halten Sie beim Angriff Kontakt. Das ist alles. – Alle beklagen sich wie aus einem Munde über die schlechte Sicht“, sagte Gretschko, als das Telephongespräch beendet war. Mechlis entgegnete nichts. Es verblieb noch eine Minute. Wir traten ins Freie, fast gleichzeitig setzte die Feuervorbereitung ein. Dreihundert Meter vor uns standen die schweren Geschoßwerfer M-31. Wie große schwarze Pfeile flogen die Geschosse davon. Die Werfer erinnerten an mittelalterliche Kriegstechnik, altertümliche Wurf- und Schleudermaschinen. Gleich nach dem Start zogen die Geschosse einen fuchsschwanzähnlichen Feuerschweif hinter sich her. Die Flamme verlosch, und man sah nur noch den weiter in die Höhe fliegenden Pfeil. Ein Werfer hinkte bei jeder Salve nach. Seine Geschosse flogen immer allein hinter den anderen her. „Da, sehen Sie mal, wie eine Gans“, bemerkte jemand treffend. Alles klapperte und dröhnte wie eine riesige Dreschmaschine. Nach fünfundvierzig Minuten war die Feuervorbereitung zu Ende, die Begleitartillerie eröffnete das Feuer, und die Infanterie griff an. Von unserem Standort konnten wir nichts erkennen, obwohl die Beobachtungsstelle bei klarem Wetter wahrscheinlich ausgezeichnet gewesen wäre. Der Pulverdampf hatte sich wie ein zweiter Vorhang vor die vom Nebel verschleierte Ferne gelegt. Gleich nach der Feuervorbereitung schossen die
deutschen Granatwerfer, und rasendes MG-Feuer setzte ein, besonders auf der linken Seite. „Wir haben sie nicht restlos vernichtet“, sagte Gretschko, „wir haben nicht alle Ziele ausgeschaltet“, und er schnalzte bekümmert mit der Zunge. Nach einer halben Stunde trafen die ersten Meldungen ein. Ein Divisionskommandeur telephonierte, er sei bis zur Eisenbahn vorgedrungen, weiter könne er jedoch nicht vorstoßen, da er von rechts starkes Artilleriefeuer erhalte und Verluste erleide. „Erstens“, sagte Gretschko, „wenn Sie jetzt Verluste scheuen und sich nicht vom Fleck rühren, verlieren Sie dreißig Minuten, und das ist der empfindlichste Verlust. Danach werde ich Ihnen trotzdem befehlen, weiter vorzugehen, und Sie werden dreimal soviel Ausfälle haben, wie Sie jetzt hätten. Und zweitens, was Sie da von der deutschen Artillerie sagen, stimmt nicht. Sie können gar nicht unter starkem Artilleriebeschuß liegen. Die deutsche Artillerie ist ausgeschaltet, wir hören von hier nichts, sie erhalten kein Flankenfeuer. Ihre Meldung ist unrichtig. Gehen Sie vor. Ende.“ Nach diesem Gespräch rief er sofort den Korpskommandeur an. Soundso (Gretschko nannte den Familiennamen des Divisionskommandeurs) meldet Flankenfeuer von der deutschen Artillerie: „Helfen Sie ihm“, sagte er. „Führen Sie einen Feuerschlag gegen die flankierende deutsche Batterie, einen mächtigen Schlag! Erweisen Sie ihm die erforderliche Hilfe.“ Kariofilli lachte „Pädagogik!“ „Jawohl“, sagte Gretschko. „Vielleicht beschießt ihn die deutsche Artillerie tatsächlich. Ich muß ihm ein-
hämmern, daß ich darauf keine Rücksicht nehme, aber der Korpskommandeur soll ihm auf jeden Fall helfen.“ Das MG-Feuer dauerte unvermindert an. Schon daraus wurde deutlich, daß sich die Deutschen nicht abgesetzt hatten, daß sie ihre alten Stellungen hielten, wenigstens auf der linken Seite. Wir gingen vor dem Bunker hin und her und schwiegen lange. Dann sagte Mechlis: „Bei den Deutschen ist die Meteorologie ein integrierender Bestandteil der Militärwissenschaft. Für einen Angriff suchen sie sich geeignetes Wetter wie ein Pilot, der die Erde umfliegen will. Sie warten fünf Tage, zehn, fünfzehn – auch länger, bis sie ideales Wetter haben, und bei diesem idealen Wetter nutzen sie optimal alle Möglichkeiten. Und uns kennen sie längst, sie kennen unseren Starrsinn. Ob das Wetter danach ist oder nicht – wenn es einmal beschlossen wurde, greifen wir an. Damit rechnen sie, darauf stellen sie sich ein. Haben wir den Tag für den Angriff festgesetzt, gehen wir unter keinen Umständen davon ab.“ Eine Granate zog heulend über uns hinweg und detonierte weit hinter uns. Ich gab eine Geschichte zum besten, die mir Boris Smirnow erzählt hatte. Er hatte mit einigen Artilleristen auf einer Jägerleitstelle gesessen. Sie hatten gerade Suppe empfangen und löffelten sie aus den Kochgeschirren, als die deutsche Artillerie einen Feuerschlag führte. Solange die Granaten hoch oben heulten und weit hinter ihnen krepierten, lachten die Soldaten und witzelten darüber: „Das ist keine für uns, das ist eine Generalsgranate, und das ist eben-
falls eine Generalsgranate – aber die da ist für uns.“ Ein Soldat riß sich die Mütze vom Kopf und breitete sie über das Kochgeschirr mit der Suppe, ehe er sich hinwarf. „Granaten kommen öfter an einem Tag, aber Suppe gibt’s nur einmal“, sagte Mechlis. „Niemand holt eine zweite Portion, wenn sie verdreckt ist.“ Der Angriff dauerte schon die vierte oder fünfte Stunde. Das Wetter besserte sich ein wenig, aber die Feuervorbereitung, die einen Durchbruch hatte ermöglichen sollen, war ohne die erwartete Wirkung geblieben. Es bestand noch die Hoffnung auf den Einsatz der Fliegerkräfte für den Fall, daß es wesentlich aufklarte. Gretschko erteilte weiterhin telephonisch Befehle, beharrte darauf, daß Pruch.no erreicht werden müßte, doch es lag bereits in der Luft, daß dem Angriff an diesem Tag ein durchschlagender Erfolg versagt war. Ich ging zu Alpert, den das schlechte Wetter ebenfalls behinderte. Es standen keine interessanten Aufnahmen in Aussicht. „Bleiben Sie noch lange hier?“ fragte er mich mit einem mißmutigen Blick auf den regengrauen Himmel. „Nein, nein. Ich denke, daß wir bald fahren.“ „Nach meiner Meinung richten wir heute nichts aus“, sagte er. Ich mußte ihm recht geben. Wir erreichten hier nichts, höchstens, daß wir den Leuten durch unsere Anwesenheit die Laune verdarben. Als ich mich umdrehte, sah ich Mechlis, der sich am Bunkereingang mit Gretschko unterhielt.
„Also keine Änderung?“ „Nein, so ärgerlich es ist“, sagte Gretschko. „Rechts haben wir die Häuschen nicht genommen, auch links ist alles beim alten.“ Er versuchte nicht, die Lage zu beschönigen, und sprach ruhig, aber mit einem Anflug von Trauer in der Stimme. „Also nichts Neues“, resümierte Mechlis. „Es bleibt beim Ergebnis der gewaltsamen Aufklärung.“ „Wir haben etwa zwanzig weitere Gefangene gemacht“, erklärte Gretschko. Mechlis verabschiedete sich von ihm, ging ein paar Schritte und sagte dann: „Ich wollte eigentlich noch zur Achtunddreißigsten, aber ich bin am Ende meiner Kräfte. Ich habe heute kein Auge zugetan. Ich fahre direkt zum Frontstab, muß ein bißchen schlafen. – Und Sie?“ fragte er mich. Ich antwortete, daß ich wahrscheinlich auch bald aufbrechen würde, aber noch ein bißchen bleiben wolle. Ich begleitete ihn zu den Wagen. Seine beiden Wagen standen fahrbereit auf der Straße, die Motoren waren angelassen, aber die Adjutanten hatten sich entfernt, und einer der Fahrer suchte sie. Wir mußten warten. Ich stand lange bei Mechlis. Wir sahen uns einen Friedhof mit sorgfältig gearbeitetem Zaun an. Er lag neben einem Vorwerk nahe der Straße, und innerhalb des Zaunes erhoben sich fünfzig bis sechzig gelb und rot gestrichene größere und kleinere Holzpyramiden. Unter den großen befanden sich Massengräber der Soldaten und Sergeanten, unter den kleinen waren die Offiziere bestattet. Ein älterer Soldat, der einen Zettel mit den Daten bei sich hatte, tauchte einen Pinsel in
einen Farbtopf und schrieb die noch fehlenden Namen auf die Pyramiden. Ich trat an den Zaun, Mechlis ebenfalls, und las die Inschriften – eine, eine zweite, eine dritte… Die meisten der gefallenen Soldaten hatten ukrainische Namen. Ich machte Mechlis darauf aufmerksam. „Ja, natürlich“, sagte er, „die Infanterieeinheiten werden in der letzten Zeit durch Westukrainer und Belorussen aufgefüllt, besonders durch Westukrainer. Das ist unsere am schlimmsten betroffene Waffengattung.“ Ich fragte, ob es stimme, daß die höheren Kommandeure, vom Major aufwärts, in der Heimat begraben werden. Ich hatte von einem solchen Befehl gehört. „Einige sind in die Heimat übergeführt worden“, sagte Mechlis, „das ist vorgekommen, aber so einen Befehl gibt es nicht. Es wäre auch nicht richtig.“ „Wieso?“ fragte ich. „Eine Dialektik besonderer Art. Einerseits erscheint es möglich, einen toten Offizier in die Heimat zu überführen. Könnte man andererseits die Menschen nach dem Tode in zwei Gruppen teilen? Die Soldaten würden sagen: Gegen die Deutschen haben wir gemeinsam gekämpft, aber begraben werden wir getrennt. Nein, das wäre nicht gut, das wäre falsch“, erklärte er, grübelte und setzte hinzu: „Es wäre schädlich.“ Er schwieg wieder nachdenklich. Dann erklärte er mir, neuerdings sei die Sache geregelt. Es bestehe ein Befehl, Offiziere nur in Ortschaften zu bestatten, höhere Offiziere nur in Städten, und niemanden mehr in die Heimat zu überführen. Als seine Adjutanten auftauchten, fuhr er ab, und ich
ging zu Issajew zurück. Wir sprachen über Murmansk, wo wir uns zu Beginn des Krieges erstmalig begegnet waren, und über Moskau. „Haben Sie in Moskau eine Wohnung?“ fragte ich ihn. „Soweit man das als Wohnung bezeichnen kann.“ Er lachte. „Acht Meter im siebenten Stock, ohne Fahrstuhl, Frau und Kinder.“ „Und wo haben Sie vor dem Krieg gewohnt?“ „In einer Militärsiedlung, von dort ging es direkt ab an die Front.“ Issajew begleitete mich zu Gretschko. Da ich mich an diesem Tag überflüssig fühlte, und mit jeder Stunde mehr, verabschiedete ich mich kurzerhand. „Alles Gute“, sagte Gretschko. „Kommen Sie ein andermal wieder. Heute gibt es für Sie hier nichts von Interesse oder Belang mehr zu sehen.“ Er sah mich bekümmert an und rieb sich die Hände. Obwohl er äußerlich gefaßt wirkte, spürte ich, daß ihm der Mißerfolg dieses Tages sehr naheging. Ich stieg mit Boikow und Alpert in den „Willys“, und wir fuhren zum Stab der 38. Armee. Im Schlamm der Straße drehten sich die Räder lange auf der Stelle. Wir passierten die Feuerstellungen der Artillerie, die nicht mehr schoß. Die Artilleristen hockten bei den Geschützen unter Zeltbahnen, rauchten oder nahmen einen Imbiß. Sie hatten ihr Werk getan, ihre Feueraufgabe erfüllt. Sie waren müde und durchnäßt und schienen der ganzen Welt gegenüber gleichgültig zu sein. Wir benutzten eine Strecke der Straße, auf der ich am 10. März, dem ersten Tag des Angriffs, mit Petrow von der 38. Armee zur 1. Gardearmee gefahren war. Ich dachte wehmütig an Iwan Jefimo-
witsch. Auch damals war das Wetter schlecht gewesen, anders als an diesem Tag, aber ebenfalls schlecht. Die Straße hatte an den Stellungen vorbeigeführt. Heute erinnerte schon nichts mehr an die Kämpfe. Dort lagen keine Toten mehr, keine zurückgelassenen Waffen, aber an einer Kreuzung stand ein Lkw, und daneben war ein Fuhrwerk umgestürzt. Das blutüberströmte Pferd, das der Wagen erfaßt hatte, zuckte noch. Der Troßfahrer beugte sich über das Tier, spannte es aus, und ein Verkehrsposten hatte seinen Notizblock gegen die Wand des Lastwagens gelegt und nahm ein Protokoll auf. Als Mechlis Gretschko auf der Beobachtungsstelle gedrängt hatte, den Beginn der Angriffsoperationen wegen des schlechten Wetters zu verschieben, hatte ich geglaubt, daß in der Stellungnahme des Hauptquartiers zum vorangegangenen Angriff eben vom Wetter die Rede war, denn Mechlis hatte den Beschluß des Hauptquartiers ja erwähnt, um den unnachgiebigen Befehlshaber der 1. Gardearmee unter Druck zu setzen. Tatsächlich aber ging es in dieser Entschließung nicht ums Wetter, sondern um den Vorwurf, die Gefechtsbereitschaft der Truppen wäre unzureichend gewesen. Es heißt darin, der „Oberbefehlshaber der Front, Armeegeneral Petrow, hätte feststellen müssen, daß die Truppen ungenügend auf den Angriff vorbereitet waren; er wäre verpflichtet gewesen, es dem Hauptquartier zu melden und um eine Verlängerung der Frist für die Vorbereitung nachzusuchen, die seitens des Hauptquartiers auch gewährt worden wäre“.
Dieses Dokument wurde inzwischen in den Erinnerungen Marschall Moskalenkos veröffentlicht. Wenn ich mir heute jenen Morgen auf der Beobachtungsstelle der 1. Gardearmee ins Gedächtnis zurückrufe, drängt sich mir unwillkürlich die Frage auf, warum Mechlis, der sich so nachdrücklich für einen Terminaufschub einsetzte, Jeremenko nicht persönlich angerufen, ihm seine Meinung nicht selbst vorgetragen hat. Vielleicht wollte er, da er mit der Ablösung des früheren Oberbefehlshabers zu tun hatte, nicht von vornherein gegen die Entscheidungen seines Nachfolgers opponieren? Vielleicht wollte er die Verantwortung dafür, ob der Angriff verschoben wurde oder nicht, einzig und allein dem Armeebefehlshaber überlassen? Im allgemeinen neigte Mechlis nicht zu Zugeständnissen, aber in diesem Fall scheint mir meine Vermutung nicht ganz abwegig zu sein, zumal er das Thema Petrow, das er selbst angeschnitten hatte, nicht noch einmal aufgriff, obwohl wir uns vor seiner Abfahrt unter vier Augen sprachen und ihn nichts gehindert hätte, diesen Dialog zu beenden. Wenn ich die Gründe untersuche, die dazu führten, daß Petrow als Oberbefehlshaber der 4. Ukrainischen Front abgelöst wurde, fällt es mir schwer, mich von meinen persönlichen Gefühlen frei zu machen – ich scheue mich nicht, von meiner Sympathie für diesen Mann zu sprechen, mit dem ich bis ans Ende seines Lebens befreundet war. Trotzdem will ich es versuchen. Wie ich damals über Iwan Jefimowitsch dachte – und was Ortenberg so mitfühlend bemerkte –, „wenn der einmal Pech hat, dann gründlich“, sagt natürlich noch
nichts darüber aus, wie er den Krieg insgesamt verbrachte. Petrow begann ihn als Generalmajor in Odessa, wo er aus Veteranen eine Kavalleriedivision aufstellte. Den Tag des Sieges erlebte er als Armeegeneral und Stabschef einer der beiden größten Fronten, der 1. Ukrainischen. Nach dem Krieg unterstand ihm der Mittelasiatische Militärbezirk, in dem er vor dem Krieg eine Infanterieschule geleitet hatte. Sein Leben beschloß er auf dem Posten eines Hauptinspekteurs der Streitkräfte, so daß man ihn also unmöglich einen erfolglosen Menschen nennen kann, wenn man seinen Lebensweg und seine militärische Laufbahn sieht. Aber in der zweiten Kriegshälfte erlebte er dreimal das Drama einer Funktionsenthebung, und mir scheint, das ist nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Bei der ersten hielt er sich im Kaukasus auf, nachdem er mit der Flotte zusammen erfolglose Landungsoperationen auf der Krim unternommen hatte. Das zweitemal war er an der 2. Belorussischen Front, hatte sie auf die Offensive vorbereitet, war aber vor ihrem Beginn abgesetzt worden. Ich maße mir über diese Geschichte kein Urteil an, aber damit man sich vorstellen kann, welche psychologische Wirkung diese Maßnahme auf Petrow ausgeübt haben muß, führe ich einen Absatz aus den Memoiren General S. M. Schtemenkos an. „Als Antonow und ich eines Tages zum gewohnten Vortrag ins Hauptquartier fuhren, sagte uns der Oberste Befehlshaber, das Mitglied des Kriegsrates der 2. Belorussischen Front, Mechlis, hätte ihm ge-
schrieben, daß Petrow charakterschwach und deshalb unfähig sei, die Operation erfolgreich zu leiten. Außerdem sei Petrow anscheinend krank und gebe sich zuviel mit Ärzten ab. Das überraschte uns völlig, denn wir kannten Petrow als aufopferungsvollen und kämpferischen Kommandeur, der unserer Sache völlig ergeben war, als sehr fähigen Heerführer und als einen Menschen mit ausgezeichnetem Charakter. Er hatte Odessa und Sewastopol verteidigt und die Verteidigung am Terek aufgebaut. Ich hatte ihn wiederholt bei der Schwarzmeergruppe, an der Nordkaukasusfront und bei der Selbständigen Küstenarmee besucht und war von seinen Qualitäten als Kommandeur und Parteiarbeiter überzeugt. Anscheinend hatte Stalin ihm gegenüber ein gewisses Vorurteil. Erst im Januar war Petrow seines Postens als Oberbefehlshaber der Selbständigen Küstenarmee enthoben worden. Im Mai wurde er bei gleichzeitiger Beförderung – zum Oberbefehlshaber der 2. Belorussischen Front ernannt und anderthalb Monate später wieder seiner Funktion enthoben, um nach weiteren zwei Monaten – am 5. August 1944 – erneut zum Oberbefehlshaber einer Front ernannt zu werden; diesmal der 4. Ukrainischen.“ Wie es mit seiner dritten Absetzung aussah, was ich hierüber hörte und wie ich sie damals empfand, habe ich in meinem Tagebuch festgehalten. Wenn ich heute darüber nachdenke, glaube ich im wesentlichen drei Momente zu erkennen, die für Petrow psychologisch bedrückend waren, als er das drittemal abgesetzt wurde. Erstens war Mechlis, der in unmittelbarer Beziehung zu seiner zweiten Funk-
tionsenthebung stand, wiederum Kriegsratsmitglied seiner Front, diesmal der 4. Ukrainischen Front. Zweitens wollte es eine bittere Ironie des Schicksals, daß A. I. Jeremenko das zweitemal sein Nachfolger wurde, was nicht gerade häufig vorkommt. Und drittens erfolgte die unerwartete Absetzung gerade in dem Augenblick, als an der Front eine Wende zum Besseren eintrat. Wie ich das damals aufnahm, wurde schon gesagt, aber kürzlich las ich in dem Buch „Durch die Karpaten“ von Marschall A. A. Gretschko mit großem Interesse, was der damalige Befehlshaber der 1. Gardearmee dazu meinte. Ich führe ein Zitat an, das mir zum Verständnis der Vorgänge sehr wichtig erscheint. „Am 25. März setzten die 38. Armee und zwei Korps der 1. Gardearmee den Angriff fort. Sie überwanden den hartnäckigen Widerstand, vertieften und erweiterten den Durchbruch und bedrohten durch ihren Vorstoß auf Wodzislaw Sloski (Loslau) den Gegner. An diesem Tag wurden der Oberbefehlshaber der 4. Ukrainischen Front, Armeegeneral I. J. Petrow, und der Chef des Stabes der Front, Generalleutnant F. K. Korshenewitsch, abgelöst. Zum Oberbefehlshaber wurde Armeegeneral A. I. Jeremenko und zum Chef des Stabes Generaloberst L. M. Sandalow ernannt. Die Gründe dafür blieben den Generalen und Offizieren der Armeeoberkommandos unbekannt, aber alle bedauerten die Ablösung von General Petrow, einem begabten Befehlshaber, bescheidenen und verständnisvollen Menschen… Bald wurde Armeegeneral I. J. Petrow zum Chef des Stabes der 1. Ukrainischen Front ernannt, wo er sich sehr
bewährte.“ Diesen Posten bekleidete Petrow, als ich ihm – genau einen Monat später – wieder begegnete, zum letztenmal im Krieg.
31 Tagebuch vom 31. März 1945. Eine ausführlichere Darstellung verdient an diesem Tag wohl lediglich ein vierstündiges Gespräch, das ich in Hindenburg mit einem deutschen katholischen Pfarrer hatte. Die Begegnung war von Sauer schon bei meinem letzten Aufenthalt vorgeschlagen worden, aber verwirklichen konnte ich sie erst jetzt. Ich hatte noch einige andere Dinge zu erledigen, und als ich Sauer beim Stellvertreter des Kommandanten traf, bat ich ihn, eine Zusammenkunft mit dem katholischen Geistlichen für die Abendstunden zu vereinbaren. „Da ist es schon finster“, sagte Sauer, „und in den deutschen Häusern ist über Nacht alles verschlossen und verriegelt.“ „Stimmt“, bestätigte der Stellvertreter des Kommandanten, „die Deutschen schließen sich ein. Sie fürchten Übergriffe, Plünderungen und haben überhaupt Angst. Wenn wir von der Kommandantur kurzfristig jemanden aufsuchen müssen, stehen wir nach Anbruch der Dunkelheit vor einem Dilemma. Entweder hingehen und die Tür aufbrechen oder einen Deutschen mitnehmen, der mit uns zusammenarbeitet und erreicht, daß wir eingelassen werden.“ Als ich das hörte, mußte ich unwillkürlich daran denken, was mir Marschall Tito erzählt hatte. Daß die
Deutschen 1941, nach der Besetzung von Belgrad, den Einwohnern unter Androhung der Todesstrafe verboten, für die Nacht ihre Türen zu verschließen, und so sagte ich mir, daß wir bei aller Strenge recht human zu ihnen waren. Sauer fand einen Ausweg. Er erbot sich, den Pater sofort aufzusuchen und mich anzumelden. Am Abend könnten wir uns dann in der Kommandantur treffen und gemeinsam hingehen. Diesem Vorschlag entsprechend verfuhren wir. Am Abend kam Sauer mit einem Dolmetscher in die Kommandantur, und wir zogen los. Es war stockfinster, und die Stadt war wie ausgestorben, und ich fühlte mich nicht ganz unbeschwert, da ich unbewaffnet – die Pistole hatte ich in meinem Ledermantel in der Kommandantur vergessen, und umkehren wollte ich nicht), mit zwei Deutschen durch eine deutsche Stadt zu einem dritten Deutschen ging – obwohl andererseits gerade die Anwesenheit der beiden Begleiter meine Sicherheit garantierte. Sollte mir etwas zustoßen, würden sie ein trauriges Schicksal erleiden. Wir kamen an ein großes Haus, klopften gegen die Eisenpforte. Über uns öffnete sich ein Fenster, jemand leuchtete uns mit einer Taschenlampe an, der elektrische Drücker wurde betätigt, die Pforte sprang auf. Wir gingen eine Treppe hoch. An der Tür empfing uns ein Mann, den ich wegen der Dunkelheit nicht näher betrachten konnte. Er führte uns in ein Zimmer, und es zeigte sich, daß es der Pater persönlich war. Er trug eine schwarze Soutane mit einem großen roten Kreuz auf der Brust. Ich dachte, daß er sicherlich nicht nur der Gemeindepfarrer, sondern zugleich der
Geistliche eines Hospitals sei. So verhielt es sich tatsächlich. Das große Backsteingebäude mit dem Eisengitter war ein Hospital, in dem auch die katholische Gemeindekirche stand. Der Pater war über sechzig, mittelgroß, untersetzt. Er hatte weiße, gepflegte Hände und ein blasses, trotz der scharfen Züge schönes Greisengesicht. Der Raum war niedrig, grau gestrichen, an der Wand hing ein großes Kruzifix. In der Zimmermitte stand ein Tisch mit vier Sesseln, auf dem Tisch standen vier Teetassen. Ich wußte, daß zu Beginn der Hitlerherrschaft viele Katholiken und insbesondere katholische Geistliche in gewisser Opposition zu ihm gestanden hatten. Ich wußte ebenfalls, daß viele in Lagern saßen und zur Zeit der Machtergreifung durch Hitler die meisten von ihnen Anhänger einer anderen politischen Orientierung gewesen waren und die katholische Zentrumspartei unterstützt hatten. Natürlich rechnete ich von vornherein nicht damit, hier völlig aufrichtige Antworten zu erhalten, aber auf eine gewisse Offenheit hoffte ich doch. So glaubte ich, mit Hilfe einiger Korrekturen eine ungefähre Vorstellung von der Stimmung der deutschen katholischen Kreise zu gewinnen. Nach dem bei derartigen Gesprächen üblichen Vorwort, in dem ich um Aufrichtigkeit bat und sagte, daß mich ein objektives Bild interessiere, stellte ich meine erste Frage: Für wen der Pater 1933, im Jahr von Hitlers Machtantritt, gestimmt habe. Leicht verwundert zuckte er die Achseln. Wem er seine Stimme gegeben habe? Wem schon! Der katholischen Zentrumspartei natürlich. Dann fragte ich:
„Nun, und wenn wir uns nachträglich das Unmögliche vorstellen, daß 1933 in Deutschland nicht Hitler die Macht in die Hände genommen hätte, sondern das katholische Zentrum – welche Außenpolitik hätte diese Partei dann verfolgt?“ „Eine völlig andere“, antwortete der Pater wie aus der Pistole geschossen. „Und was für eine?“ „Jedenfalls keine Kriegspolitik“, sagte er. „Aber jede Partei, die damals an die Macht gekommen wäre, hätte eine Revidierung des Versailler Friedensvertrages fordern müssen. Stand diese Losung etwa nicht auf dem Programm Ihrer katholischen Partei?“ fragte ich. „Das tat sie“, sagte er. „Aber es ist doch schwer vorstellbar, daß eine Revision des Versailler Friedens auf friedlichem Wege erreicht werden konnte.“ „Wieso?“ entgegnete er. „Wir hätten sie mit friedlichen Mitteln erreichen können.“ „Auf welche Weise?“ „Wir wären nicht zum Krieg geschritten“, sagte er, „unter gar keinen Umständen.“ „Dann lassen Sie uns das Problem einmal Schritt für Schritt erörtern“, sagte ich. „Beginnen wir bei der Saar.“ „Nun, diese Angelegenheit wäre sicherlich friedlich gelöst worden“, sagte er. „Ein Plebiszit hätte dort ohne Zweifel eine Mehrheit zu unseren Gunsten erbracht, und das Saargebiet hätte uns gehört.“ „Gut“, stimmte ich zu. „Wie wäre es aber mit der zweiten Angelegenheit gewesen? Wie hätte sich der
Anschluß Österreichs vollzogen?“ „Wir hätten diese Forderung nicht gestellt.“ „Überhaupt nicht?“ „Nein, überhaupt nicht. Wir hätten die Sache lediglich unter wirtschaftlichem Gesichtspunkt betrachtet. Ökonomischer Anschluß, ökonomische Zusammenarbeit mit Österreich. Die hätten wir und die Österreicher nötig gehabt. Was dagegen eine politische, staatliche Vereinigung betrifft, so hätten wir sie nicht gefordert.“ „Haben denn Ihrer Meinung nach nicht beide Länder dahin tendiert?“ „Deutschland bekanntlich ja, in starkem Maße, aber nicht Österreich, ganz und gar nicht. Ganz und gar nicht“, wiederholte er eigensinnig. „Warum nicht?“ Ich forschte ihn aus. „Eine Sprache. Im wesentlichen ein Volk, Deutsche. Hüben wie drüben.“ „Zugegeben“, sagte er, „aber wenn wir uns in der Geschichte mal etwas gründlicher umsehen, so finden wir im Verlaufe der Jahrhunderte zahlreiche Beispiele des Kampfes zwischen den beiden Staaten, ungeachtet der gemeinsamen Sprache.“ „Stimmt“, gab ich zu, „das ist so, aber nach dem Krieg von 1914 stand Österreich nicht länger an der Spitze eines Imperiums, das vorher einmal um die Vorherrschaft unter den deutschen Völkern und um die Vorherrschaft in Mitteleuropa überhaupt gerungen hatte.“ „Das ist richtig“, sagte er. „Dennoch wollten sich die Österreicher nicht mit uns vereinigen. Es ist ein ganz anderes Volk. Sie hassen die Preußen und stehen lediglich der Bevölkerung vom Rhein ein bißchen
freundlicher gegenüber, den Rheinländern. Als ich zum Beispiel dort lebte – ich habe sechs Jahre in Österreich zugebracht –, habe ich immer betont, daß ich Rheinländer bin, und das hat ihre Einstellung zu mir beeinflußt. Übrigens war es nicht gelogen, ich komme tatsächlich vom Rhein. Das österreichische Volk in seiner Masse hat die Frage des Anschlusses nie gestellt. Es war weit davon entfernt. Die Österreicher haben im allgemeinen gut gelebt, besser als die Deutschen. Sie wußten, daß bei einem Anschluß eine Angleichung erfolgen würde und daß das für sie unvorteilhaft wäre – von einem rein praktischen Gesichtspunkt, ganz zu schweigen davon, daß sie sich immer als eigenständige Nationalität gefühlt haben.“ „Ja, aber ich habe da einige Alben gesehen, Aufnahmen von Hitlers Einmarsch in Österreich, Menschenmassen auf den Straßen“, entgegnete ich, „und überhaupt hatte es den Charakter eines Triumphzuges. Offenbar hat es auch dort, im Lande selbst, Befürworter des Anschlusses gegeben.“ „Wissen Sie“, sagte er, „als Hitler den Weg des Anschlusses einmal beschritten hatte und seine ganze Politik darauf ausgerichtet war, wurde ihnen von innen her Angst gemacht, daß Hitler den Anschluß mit militärischen Mitteln betreiben würde und daß danach alle, die vorher gegen den Anschluß waren, mit Verbannung und Strafe zu rechnen hätten. Da diese Drohung durchaus begründet war, gelang es den österreichischen und den eingereisten deutschen Faschisten, auf Österreich Druck auszuüben, obwohl das Land selbst, ich wiederhole es, niemals nach Anschluß gestrebt hat.“
„Also Sie hätten die Anschlußfrage damals nicht erhoben?“ vergewisserte ich mich. „Nein, wir hätten eine Form der wirtschaftlichen Zusammenarbeit gesucht. Das wäre uns völlig ausreichend erschienen.“ „Dann gehen wir zur Frage der Sudetendeutschen über“, sagte ich. „Wie wären Sie in dieser Angelegenheit vorgegangen?“ „Wir hätten diese Frage nie aufgeworfen“, behauptete der Pater. „Und wie sahen Sie die Tatsache, daß drei Millionen Deutsche, die in den Sudeten wohnten, Angehörige eines – gemessen an Deutschland -verhältnismäßig kleinen Staates waren?“ „Diese Frage muß man vor allem historisch betrachten“, sagte der Pater. „Erstens haben die Sudetendeutschen niemals zu Deutschland gehört, sondern zu Österreich-Ungarn. Wenn sie also historisch eine Staatstheorie hatten, so war diese Theorie in der österreichisch-ungarischen Monarchie verwurzelt und nicht in Deutschland. Zweitens, nationale Losungen sind im Leben eines Volkes eine Sache, und die täglichen Bedürfnisse sind eine andere. Die Sudetendeutschen lebten in den Grenzen der Tschechoslowakei gut und unabhängig, sie hatten ihre Parlamentsabgeordneten, ihre Minister in der Regierung. Sie waren völlig gleichberechtigte Bürger der Tschechoslowakischen Republik, und wenn es für sie eine gewisse nationale Behinderung gab -- in dem Sinne, wie ich es aus Ihrer Frage herausgehört habe –, so bekamen sie diese praktisch nicht zu spüren. Das heißt, sie spürten es nicht, wenn sie zur Arbeit gingen. Sie spürten es höchstens, wenn sie sich
im Kaffeehaus versammelten und nationalistische Gespräche führten. Aber das Bewußtsein eines Menschen wird vor allem dadurch bestimmt, wie er lebt und was er tut, weit weniger durch die Gespräche bei einer Tasse Kaffee. Der Gedanke der Vereinigung mit Deutschland war ein imperialistischer Gedanke, der im imperialistischen Deutschland geboren wurde. Die Sudetendeutschen selbst verspürten da kein Bedürfnis. Sie hatten sich mit der bestehenden Lage abgefunden. Sie hatten sich damit abgefunden, auf tschechoslowakischem Staatsgebiet zu leben. Als wir ihnen diese Idee aber von außen her aufdrängten, fanden sich auch dort einige Befürworter.“ „Und was meinen Sie, im Falle einer Volksabstimmung, bei der niemand um seine Zukunft hätte fürchten brauchen, unabhängig davon, wofür er sich entschied?“ fragte ich. „Wie hätten Ihrer Meinung nach die Sudetendeutschen gestimmt, dafür, in der Tschechoslowakei zu verbleiben, oder für einen Austritt aus dem Staatsverband?“ „Einen Austritt wohin – nach Österreich oder nach Deutschland?“ erkundigte sich der Pater. „Dafür, daß sie im Prinzip austreten wollten“, sagte ich, „egal, wohin, nur austreten.“ „Nein, das war nicht egal. Möglicherweise hätten sie für eine Angliederung an Österreich gestimmt, aber an Deutschland – ich weiß nicht. Zugegeben, daß sie vor 1933, vor Hitlers Machtübernahme, für eine Vereinigung mit Deutschland gestimmt haben könnten, aber nachdem Hitler an die Macht gekommen war, und dann noch 1937/38, als der Krieg vorbereitet wurde und sich das Hitlerregime un-
verblümt als terroristisch zu erkennen gegeben hatte – ich möchte doch bezweifeln, daß ein Plebiszit da eine Entscheidung zugunsten Deutschlands gebracht hätte, vorausgesetzt natürlich, daß die Wähler vor der Abstimmung nicht eingeschüchtert worden wären und keine Verfolgungen hätten befürchten müssen.“ „Kurz und gut, Sie haben das Sudetenproblem zu keiner Zeit auf die Tagesordnung gesetzt?“ „Nein, das haben wir nicht.“ „Aha. Und den Polnischen Korridor?“ fragte ich. „Der Polnische Korridor – ja. Das war für uns ein wirkliches und schwer zu lösendes Problem. Wir vertraten die Ansicht, daß der Polnische Korridor verschwinden müsse. Dieser Punkt stand auch in unserem Programm.“ „Aber Sie sagen doch, daß Sie für eine Lösung aller Probleme auf friedlichem Wege waren, und Polen hätte Ihnen den Korridor unter keinen Umständen kampflos abgetreten.“ „Nein, nicht einmal wegen des Polnischen Korridors hätten wir einen Krieg angefangen. Nötigenfalls wären wir zu Kompensationen bereit gewesen.“ „Zu welchen Kompensationen?“ „Wir hätten den Polen den östlichen Teil Ostpreußens abgetreten und ihnen auf diese Weise einen anderen Zugang zum Meer verschafft, der allerdings unser Landesgebiet nicht hätte zerschneiden dürfen. Als territoriale Gegenleistung hätten wir den ehemaligen Polnischen Korridor beansprucht.“ „Und Sie – die Möglichkeit all dessen einmal eingeräumt – wären also den Weg der friedlichen Lösung des Problems und der Kompensation gegangen, auch
wenn Sie gewußt hätten, daß Sie ein Mittel in der Tasche hatten, um Polen in die Knie zu zwingen, ohne irgendwelche Kompensationsleistungen erbringen zu müssen?“ Der Pater schwieg einige Augenblicke und grübelte. Dann sagte er: „Wissen Sie, ein weitsichtiger Mensch rechnet nicht nur mit den Trümpfen, die er in der ersten Minute, im ersten Monat auf den Tisch werfen kann. Ein weitsichtiger Mensch berechnet das Ausmaß der Kräfte, die ihm überhaupt zur Verfügung stehen, und im Falle eines Krieges hätte sich die Waagschale unter keinen Umständen letztlich zu unseren Gunsten gesenkt. Darin besteht meiner Ansicht nach Hitlers Grundirrtum.“ „Und Sie haben an dieser Auffassung auch in den Tagen seiner größten Erfolge festgehalten?“ „Es wäre unaufrichtig, zu behaupten, daß alle, die diese Ansicht zuvor vertreten hatten, auch später, während der Erfolge der deutschen Armee dazu gestanden hätten. Was. meine Person angeht – Sie können mir glauben oder nicht, das steht Ihnen frei –, ich persönlich habe diese Auffassung jederzeit vertreten.“ Er sagte das sehr überzeugt und schien überhaupt recht offen zu sprechen, ohne Repressalien von meiner Seite zu fürchten. Vielleicht hatte ihn Sauer vorher über meine rein literarischen Interessen instruiert, vielleicht war er auch über die Jahre hinaus, wo der Mensch noch etwas zu verlieren fürchtet. Wir unterbrachen das Gespräch, um Tee zu trinken. Der Pater verließ den Raum und kam mit einer großen Kanne zurück. Darin war echter Tee, so kräftig und aromatisch, wie ich lange keinen genossen hatte.
Als wir jeder eine Tasse getrunken hatten, fragte ich den Pater, wie viele der katholischen Geistlichen Hindenburgs und des ganzen Verwaltungsbezirks unter Hitler in Lagern gewesen seien. „Etwa dreißig von hundert“, antwortete er. „Wofür?“ „Hauptsächlich wegen Propaganda. Nach Hitlers Machtantritt wurden Stenographen in die Kirchen geschickt, was wir damals noch nicht wußten. Sie saßen mit Gebetbüchern da und stenographierten die Sonntagspredigten. Diejenigen, die sich in einer Predigt besonders scharf gegen Hitler aussprachen, wurden eingesperrt.“ „Sie persönlich waren aber nicht davon betroffen?“ fragte ich. „Um ein Haar wäre ich es“, erwiderte er, „doch für die Gestapo arbeitete in Hindenburg ein Katholik, der längere Zeit aus der Stadt verschwunden war. Als junger Mann hatte er zu meiner Gemeinde gehört und bei mir gebeichtet. Er bestellte mich zu sich, zeigte mir das Stenogramm meiner Predigt und empfahl mir, gleich in seinem Büro einen neuen Text niederzuschreiben. Er sollte sich nicht allzu auffällig von dem Stenogramm unterscheiden, aber gleichzeitig dank einer gewissen Milderung so weit davon abweichen, daß er für mich keine reale Gefahr darstellte. Ich befolgte den Rat und entging so mit seiner Hilfe der Verfolgung, der viele meiner Kollegen nicht entrinnen konnten.“ „Und wie viele Ihrer Gläubigen waren vor dem Krieg Mitglied der faschistischen Partei?“ „Viele, wenngleich weniger als bei den Protestanten.
Dabei müssen wir allerdings berücksichtigen, daß die Zugehörigkeit zur faschistischen Partei für zahlreiche Menschen insbesondere die Vertreter der Intelligenz, eine Voraussetzung war, um Beschäftigung zu finden.“ Wir sprachen dann über Probleme, die mit der derzeitigen Besetzung und der Arbeit unserer Kommandantur zusammenhingen. „Die deutsche Bevölkerung verhält sich hier sehr ruhig“, sagte der Pater, „und wird auch weiterhin Ruhe bewahren, aber sie klagt schon. Sie ist verwöhnt.“ „Wodurch verwöhnt?“ fragte ich. „Während die Leute in ihrem Verhältnis zu Hitler Sklaven waren, konnten sie sich im Umgang mit anderen als Herren aufführen. Zu Hitler verhielten sie sich übertrieben sklavisch. Im deutschen Volk machen sich unter bestimmten Umständen eine Disziplin und ein Gehorsam bemerkbar, die mich sehr ärgern. So eine maßlose, maßlose, maßlose’ – dieses Wort wiederholte er mehrmals giftig – „Katzbuckelei brachten die Deutschen Hitler entgegen.“ Dieses Thema schien ihn zu erregen. Jedenfalls hob er zum erstenmal während unseres Gesprächs die Stimme. „Zu mir kommen weinende Frauen. Sie klagen und weinen, weinen viel, weil ihre Männer, Mitglieder der faschistischen Partei, verhaftet sind. Ich bemitleide sie als ihr geistlicher Vater, aber sie tun mir weniger leid, als ich es selbst möchte.“ „Warum tun sie Ihnen weniger leid?“ „Weil sie das erstemal weinen. Weinten sie das zweitemal, so hätte ich volles Mitgefühl für sie.“ „Wieso?“ fragte ich.
„Weinten sie das zweitemal“, wiederholte er, „bei der Verhaftung ihrer Männer, dann hätten sie das erstemal damals geweint, als ihre Männer in die faschistische Partei eintraten. Aber damals haben sie nicht geweint. Sie zeigten jene maßlose Gefügigkeit und Disziplin, die ich, ein Deutscher, in den Deutschen so hasse.“ Ich erinnere mich nicht mehr aller übrigen Einzelheiten dieses Interviews, weiß aber noch, daß wir uns über die nationalen Züge des deutschen Volkes und über die gegenwärtigen Zustände in Hindenburg unterhielten. Notiert habe ich nur das, was sich während des verzwickten Gesprächs am besten einprägte. Der Rest geht in meinem Kopf durcheinander. Unsere Debatte beendeten wir lange nach Mitternacht. Menschlich hat mir der Alte gefallen. Er sprach ruhig und überzeugt und zeigte keine Spur von Feigheit. Er sagte, was er dachte, ohne Rücksicht darauf, ob es mir passen würde oder nicht, und das war anerkennenswert. Der Mann, mit dem ich in Hindenburg dieses Gespräch zur Nachtzeit führte, erschien mir damals als uralter Greis. Ist man selbst neunundzwanzig, so kommt einem der Unterschied von mehr als dreißig Jahren sehr groß vor. Dieses Gefühl, daß er sehr alt war, verlieh seinen Worten in meinen Augen zusätzliches Gewicht und veranlaßte mich, sie bedenkenlos für bare Münze zu nehmen. Überhaupt glaubte ich damals, alte Leute flunkern seltener als junge. Beim Lesen meiner Notizen von damals denke ich,
daß dieser an sich gewiß mutige und bedeutende Mann nicht nur seine persönlichen Ansichten ausdrückte, sondern auch die der katholischen Partei, des Zentrums, das im Nachkriegsdeutschland seine politischen Erben fand. Die Geschichte zeigt, daß die Haltung dieser Partei zu den Machthabern des faschistischen Deutschland kompliziert und nicht so eindeutig war, wie es dem vor ihm sitzenden neunundzwanzigjährigen sowjetischen Offizier dünkte. Beim Lesen kommen mir heute Zweifel, ob er wirklich sagte, was er dachte. Richtiger würde ich es vielleicht so formulieren: Obwohl er nicht „sagte, was er nicht dachte, sagte er doch nicht alles, was er dachte. Jedenfalls zwingt mich die inzwischen gesammelte politische Lebenserfahrung zu dieser Auffassung. Das, was ich in meinem Notizbuch vom 31. März 1945 berichtet habe, fand für mich eine unerwartete Fortsetzung. Es war im Frühjahr 1977. Ich fuhr in die DDR zu einem Treffen mit den Lesern meiner Bücher über den letzten Krieg. Da erhielt ich auf einer dieser abendlichen Literaturveranstaltungen einen Zettel mit einer Mitteilung in russischer Sprache: „Verehrter Konstantin Michailowitsch! Vor zweiunddreißig Jahren hielten Sie sich in der Stadt Hindenburg (Zabrze) auf. Dort machte uns der stellvertretende Militärkommandant der Stadt, Oberstleutnant Jalowoi, miteinander bekannt, und ich wurde Ihr Dolmetscher. Erinnern Sie sich noch an unser
nächtliches Gespräch mit dem Pater von Sankt Comenius. Alexander Grüttner.“ Noch am selben Abend traf ich mich mit dem Schreiber dieser kurzen Notiz. Wie sich herausstellte, ist Alexander Grüttner, dessen Name ich damals in Hindenburg nicht festgehalten hatte und an den ich mich deshalb nicht erinnerte, ein Altersgenosse. In der Nachkriegszeit, nachdem er eine höhere Parteischule besucht hatte, wurde er im diplomatischen Dienst eingesetzt und war in den fünfziger Jahren als Berater tätig; eine Zeitlang war er Geschäftsträger der DDR in der Volksrepublik China, dann arbeitete er im Ministerium des Innern der DDR, und anschließend widmete er sich wissenschaftlichen und übersetzerischen Aufgaben. Grüttner erzählte mir auch von Adolf Sauer, von dem in meinen Aufzeichnungen des Jahres 1945 die Rede ist. Sauer, von Beruf Schlosser, besaß eine kleine Werkstatt, war, wie er uns auch gesagt hatte, tatsächlich Mitglied der KPD und arbeitete im Untergrund, vorwiegend als Verbindungsmann. Einige Bemerkungen über seine gefahrenvolle Arbeit fand ich dann in den in der DDR erschienenen Memoiren von Vincenz Porombka, der 1945 in Schlesien mutig seinen Dienst bei den illegalen Fallschirmspringern tat. Sauer, inzwischen kein junger Mann mehr und gesundheitlich stark angegriffen – er war in den Kriegsjahren durch schwere Prüfungen gegangen – starb 1955, zehn Jahre nach unserer Begegnung. Bevor ihn die Krankheit zwang, seine Arbeit aufzu-
geben, war er Direktor einer Maschinenfabrik in Dresden. Tagebuch vom 1./2. April 1945. Gestern mittag ließ ich Alpert in Pszczyna zurück und fuhr allein zum neuen Standort des Stabes der 38. Armee. Der Stab war jetzt bei einer Siedlung mit dem Namen Emma untergebracht. Hier lagen eine riesige Grube und eine große Kokerei. Beide waren unbeschädigt in unsere Hände gefallen. Sowohl die Grube als auch die Kokerei arbeiteten. Die Luft war mit Kohlenstaub gesättigt. Überall standen schwarze, schlammige Tümpel. An den Hauswänden saß der Ruß. Eine düstere Landschaft. Ortenberg wohnte – wie auch vorher in Pszczyna – neben dem Chef des Armeestabs. Der rote, im Kasernenstil errichtete Backsteinbau, der von außen – wie auch viele andere deutsche Häuser – finster aussah, war innen gemütlich gestaltet. Ich traf gegen Abend bei Ortenberg ein. Wir tranken ein Glas Tee, und ich telephonierte, um herauszubekommen, wo sich Moskalenko aufhielt – im Stab oder auf der Beobachtungsstelle. Ich wollte ihn sehen. Moskalenko war auf der Beobachtungsstelle zu finden. Bei ihm saßen gegenwärtig auch Jeremenko und Mechlis. Bei Mechlis wollte ich mich erkundigen, ob und wann Benes eintreffen würde. Benes sollte in den nächsten Tagen erstmalig das befreite Gebiet der Tschechoslowakischen Republik betreten. Aus diesem Anlaß sollte in Kosice eine festliche Versammlung oder Massenkundgebung stattfinden, und es war für mich eine gute Gelegenheit, mit einem Bericht
hierüber meine Artikelserie, die Tschechoslowakischen Skizzen, für die Zeitung abzuschließen. Ortenberg wollte mich begleiten. Wir stiegen in einen „Willys“ und fuhren los, mußten jedoch einen Umweg machen. Die Beobachtungsstellen der Armee und der Front waren zwei Kilometer hinter den Linien eingerichtet, aber nur in einem Bogen über Loslau und Radniuk erreichbar. Von Radniuk konnte man zum Dorf Stawka abschwenken, und dort hatte Moskalenko seine Beobachtungsstelle eingerichtet. Als wir Emma verließen, war es schon fast dunkel. Uns entgegen kam eine Troßkolonne, die nach der Siedlung wollte. Das erste Fuhrwerk führte ein alter Soldat in speckiger Steppjacke und mit Ohrenklappenmütze. Er zog die Zügel, um das ermüdete Pferd anzutreiben. Seine Augen schützte eine hübsche, gut dichtende deutsche Autobrille. Loslau, das ich noch nicht kannte, bot etwa das Bild von Sorau am Tag seiner Einnahme. Hier stand zwar nichts in Flammen, aber es schwelte und roch brenzlig. Viel Infanterie bewegte sich auf der Straße, die frontwärts führte, Geschütze wurden gezogen. Ortenberg meinte, wahrscheinlich sei es ein Reservekorps. Als wir Stawka erreichten, hörten wir MG-Feuer. Wir mußten die Beleuchtung ausschalten, weil dieser Abschnitt der Straße von den Deutschen eingesehen wurde. Wir bogen zu einigen seitlich stehenden Häusern ab und hielten vor dem letzten. Im ersten Zimmer saßen die Adjutanten, die ich vom Sehen kannte, und andere, mir unbekannte Personen. Ortenberg öffnete die Tür zum zweiten Zimmer.
Jeremenko war der erste, den ich durch die Tür bemerkte. Er stand an der gegenüberliegenden Wand und sah in diesem Augenblick sehr imposant aus. Er hatte die Generalsmütze tief in die Stirn gezogen, trug eine Hornbrille, einen bis zum letzten Knopf geschlossenen Mantel, auf der Brust einen Feldstecher. Ortenberg erwies ihm eine Ehrenbezeigung. Jeremenko begrüßte ihn fröhlich und wechselte ein paar Worte mit ihm. Nach Ortenberg trat ich ein. Wider Erwarten erkannte mich Jeremenko, dem ich während des Krieges nur zweimal begegnet war. Er streckte mir die Hand hin. „Schauen Sie an, was Sie sich für einen Schnurrbart stehengelassen haben, wie ein richtiger Husar.“ „Den trage ich schon lange“, sagte ich. „Schon, aber jetzt ist es ein vollendeter Husarenbart“, sagte Jeremenko. Nachdem ich auch die übrigen begrüßt hatte, zog ich mich, um nicht zu stören, in einen Winkel zurück. Obwohl es schon auf zweiundzwanzig Uhr zuging, dauerte die Hektik an. Soeben war beschlossen worden, die Kommandeure der Korps und ihre Chefs Artillerie vor der neuen Angriffsetappe, die in ein bis zwei Tagen beginnen sollte, zu einer Beratung zusammenzuziehen. Dann drehten sich die Gespräche im Zimmer um die bevorstehende Forcierung der Oder. Soviel ich verstand, hatten die Deutschen bereits einen allgemeinen Rückzug angetreten und diesseits des Flusses nur eine Nachhut zurückgelassen. Von zwei Etappen unserer Operation war die Rede. Das 126. Schützenkorps, das bisher den Hauptschlag zu realisieren
hatte, sollte die Oder überschreiten, am anderen Ufer einen Brückenkopf bilden, wonach das 2. Schützenkorps aus diesem inzwischen bezogenen Bereitstellungsraum frisch in den Kampf eingriff. Von diesem Korps hatte Moskalenko behauptet, daß es nicht ihm, sondern dem Nachbarn zugeteilt werden sollte. Jetzt wurde dieses Korps, das wir unterwegs auf dem Marsch gesehen hatten, offenbar doch Moskalenko unterstellt, wie er es gewollt hatte. Moskalenko hatte mir gesagt, Petrow würde ihm dieses Korps zum Ausbau des Erfolgs geben. Mit dem kürzlich erfolgten Versuch, auf dem Abschnitt der i. Gardearmee anzugreifen, war die erste Erregung nach dem Wechsel in der Führung verraucht. Nachdem einige Umgruppierungen vollzogen, frühere Entschließungen aufgehoben und neue gefaßt waren – die übliche Folge der Ernennung eines neuen Oberbefehlshabers –, kehrte Jeremenko zu dem alten Plan zurück und entschied, das Korps dort einzusetzen, wo es den Vorstellungen Petrows entsprechend ursprünglich hatte eingesetzt werden sollen. Wenigstens war das mein flüchtiger Eindruck, und ich reimte mir das nach allem, was ich hörte, so zusammen. Im Zimmer wurden verschiedene Fragen erörtert. Erstens telephonierte Moskalenko mit den Korpskommandeuren und den Chefs Artillerie und bestellte sie zur Beratung. Zweitens unterhielten sich die Anwesenden darüber, wie man die Eingeladenen am besten empfangen, wohin man Einweisungsposten schicken müsse, damit sie keine Zeit verloren und sich nicht erst zum ehemaligen Standort des Stabs der 38. Armee verirrten. Drittens entbrannte ein heftiger
Streit darüber, wie die Moskalenko unterstellte Artilleriedivision prinzipiell einzusetzen sei. Dieser Streit hatte mit der Frage angefangen, ob es nötig sei, den Kommandeur der Artilleriedivision zur Beratung hinzuzuziehen. „Natürlich, es ist unerläßlich“, sagte Jeremenko. „Er befehligt doch die Division.“ „Schon richtig“, sagte Moskalenko, „aber praktisch ist ein großer Teil seiner Technik auf die Korps verteilt.“ „Inwiefern?“ fragte Jeremenko. „Was verbleibt dann bei Ihnen?“ Moskalenko zählte auf, was ihm noch direkt unterstellt war. „Das ist nicht richtig“, sagte Jeremenko, „das ist falsch, daß die Division so zerrissen wurde. Sie muß sich in einer Hand befinden. Sie haben diese Division nicht zufällig erhalten. Es gibt einen Divisionskommandeur, der sie kommandiert, aber Sie sind sein Vorgesetzter, Sie und Ihr Chef Artillerie. Sonst zerreißen Sie die Division, und es gibt keine einheitliche Führung. „Ja, wenn es ein anderer Divisionskommandeur wäre“, sagte Moskalenko, „aber so…“ „Was, hat er Schwierigkeiten? Dann greifen Sie ihm unter die Arme, aber das ist kein Grund, die Division zu zerreißen. Nein, damit bin ich nicht einverstanden. Es ist besser, sie als Einheit zu behandeln und in einer Hand zu halten.“ Danach sprachen sie über Diversionsgruppen. Mechlis verlangte, Diversionsgruppen zu entsenden, die im Hinterland der Deutschen Brücken und Übersetzstellen sprengten. „Damit, daß wir Diversionsgruppen schicken müs-
sen, bin ich einverstanden“, sagte Jeremenko, löste sich von der Wand und setzte sich aufs Sofa, „aber daß es nötig wäre, Brücken zu sprengen… Wir brauchen keine Brücken zu sprengen. Warum sollen wir sie sprengen? Es ist absolut überflüssig, sie in die Luft zu jagen. Wir müssen die Brücken an uns reißen, um die Möglichkeit zu haben, sie zu benutzen.“ Er sprach hitzig, und was er sagte, klang einleuchtend. Mechlis entgegnete jedoch ebenfalls heftig, daß wir noch Zeit brauchten, um in der ganzen Breite der Front die Oder zu erreichen. Zunächst hätten die Deutschen aber noch Panzer, Infanterie und Artillerie auf dieser Seite des Flusses, und die Störtrupps würden viel erreichen, wenn sie im rückwärtigen Raum der Deutschen die Brücken sprengten, um den Gegner auf diese Weise zu zwingen, sämtliche technischen Kampfmittel diesseits des Flusses aufzugeben. „Nein“, entgegnete Jeremenko, „es wäre trotzdem ein Fehler. Die Deutschen haben den gesamten Grundbestand ihrer Artillerie bereits am anderen Ufer. Wenn aber ihre Artillerie jenseits der Oder steht, werden sie ihre Granaten kaum über die Brücken an dieses Ufer schaffen, und die Munition für die zwei Dutzend Kanon chen auf dieser Seite wird der Gegner so oder so herübertransportieren. Am wahrscheinlichsten ist, daß sie sich bereits diesseits bei seinen Kanönchen befindet. Es wäre sehr wünschenswert, die Brücken zu besetzen. Es würde unseren Vormarsch sehr erleichtern. Und vergessen wir die psychologische Wirkung nicht“, fügte er hinzu. „Die Pioniere bleiben bis zum Schluß zurück, alle anderen müssen an ihnen vorbei. Sie sind auf der
Brücke die letzten. Dagegen, wenn sie die ersten sind, kann viel passieren. Sie könnten es mit der Angst kriegen, können von einer Granate getötet werden. Der Zünder kann versagen, und einen Ersatzzünder gibt es nicht immer. Die Sprengleitung kann unterbrochen werden. Brücken, die gesprengt werden sollen, bleiben viel öfter heil, als man sich das im allgemeinen vorstellt.“ Während Jeremenko mit Mechlis stritt, rief Moskalenko weiterhin seine Korpskommandeure an. Etliche Male wurde die Verbindung unterbrochen oder kam nicht zustande. Als Jeremenko den Disput mit Mechlis beendet hatte, saß er einige Minuten schweigend da, mit dem Rücken gegen die Sofalehne gelehnt, und verfolgte Moskalenkos Telephongespräche. Da der Oberbefehlshaber jetzt die Brille abgesetzt hatte, konnte ich sein Gesicht gut sehen. Es war breit, männlich, soldatisch und trug zugleich einige feminine Züge, eine sonderbare Mischung. Man hätte sein Gesicht als gutmütig bezeichnen können, wären da unter den Brauen nicht die kleinen, zornigen Augen mit dem stechenden Blick gewesen, der Moskalenko jetzt durchbohrte. Moskalenko telephonierte unbeirrt weiter, hingebungsvoll, manchmal schrie er, um besser verstanden zu werden. Jeremenko schwieg lange und sagte plötzlich: „Genosse Moskalenko, warum befassen Sie sich damit? Stellen Sie ein Verzeichnis zusammen und beauftragen Sie Ihre Adjutanten. Die können vom Nebenzimmer aus die Anschlüsse herstellen und sprechen.
Warum befassen Sie sich damit?“ „Ich bin gleich fertig“, sagte Moskalenko, ohne vom Apparat zu weichen. „Aber Sie brauchen doch nicht alle anzurufen“, beharrte Jeremenko ärgerlich. „Das ist unnötig. Sie haben einen Stab, haben Adjutanten. Nebenan ist auch Telephon. Befehlen Sie, und alle werden herbestellt. Sagen Sie, wann sie sich einfinden sollen. Es wäre doch gelacht, wenn das nicht klappen sollte. Wozu denn den Adjutanten die Arbeit abnehmen!“ Im Zimmer nebenan gab es jedoch keinen Apparat, über den man mit den Korpskommandeuren sprechen konnte. Der nächste stand im Nachbarhaus, und Moskalenko winkte ab, rief starrsinnig den letzten Korpskommandeur an. Mit den anderen hatte er inzwischen gesprochen. Danach stritten sie darüber, wer die Teilnehmer an der Beratung empfangen und einweisen sollte. „Ich habe bereits befohlen, einige Offiziere an den östlichen Stadtrand von Loslau zu schicken“, sagte Moskalenko mit verhaltenem Ärger. „Nun, nicht unbedingt Offiziere“, entgegnete Jeremenko. „Und wozu an den Ortsrand? Der Ortsrand – das ist ungenau. Besser, sie warten beim Verkehrsposten.“ Moskalenko biß sich auf die Lippen. Dieses Gespräch brachte ihn zusehends auf, insbesondere der belehrende Ton, den Jeremenko auch bei der Erörterung von Nebensächlichkeiten anschlug. Ich dachte unwillkürlich an Petrow, seine Umgangsformen, wie er sich zu den Armeebefehlshabern verhalten hatte. Er war äußerst taktvoll gewesen, und wenn er einmal
einen Befehl erteilt hatte, überließ er alles übrige der Initiative der Unterstellten. Das Gespräch, dessen Zeuge ich wurde, verriet einen ganz anderen Stil. Jeremenko steckte seine Nase in jede Kleinigkeit, saß den Leuten im Nacken, erteilte ihnen ständig Hinweise, nörgelte an ihnen herum. Ich schreibe das nicht, um ihn zu verurteilen. Vielmehr denke ich gleichzeitig daran, daß unsere Armee noch keinen einwandfrei funktionierenden Mechanismus besitzt und daß unsere Kommandeure bis hin zu den Armeebefehlshabern noch keine ideal durchorganisierten Menschen sind, so daß es am Ende unmöglich wäre, sich vorbehaltlos auf die Seite Petrows zu stellen. Sicherlich ist weder die eine noch die andere Art die richtige, und das Erstrebenswerte liegt wohl zwischen den beiden Methoden. Zwei Verbindungsoffiziere kamen mit Meldungen. Nach ihnen erschien ein Hauptmann, der Chef einer Korpsaufklärungsabteilung. Jeremenko ging ihm entgegen. „Du sollst mir also die Oder aufklären? Nimm dort alle Einwohner vor, sprich mit allen Einheimischen, besonders den alten Leuten, laß dir erzählen, wann das Wasser wie hoch steht, wo man Boote einsetzen kann, wo es Furten gibt, wo Brücken und Übersetzstellen vorhanden sind. Damit du dir ein vollständiges Bild machen kannst. Ist dir das klar?“ „Zu Befehl“, sagte der Hauptmann. Kaum hatte er hinzugefügt: „Bitte gehen zu dürfen“, als ihn Jeremenko freundschaftlich grob bei den Schultern nahm, umdrehte, sanft in den Rücken knuffte und sagte: „Na lauf.“ Ich trat an Mechlis heran, und um niemanden zu
stören, erkundigte ich mich leise nach der vorgesehenen Ankunft von Benes. Er sagte, Benes sei schon unterwegs. Er käme von Moskau mit dem Zug und müßte am 3. in Kosice eintreffen. Ich fragte, ob er, Mechlis, beim Empfang dabei sein würde. „Ich habe keine derartigen Instruktionen“, erwiderte er. „Diejenigen, zu deren Verpflichtungen es gehört, Benes zu empfangen, sind bereits abgereist. Aber ich habe nicht den leisesten Wunsch, mit Benes zusammenzutreffen, sofern ich keine besonderen Anweisungen erhalte.“ Ich erzählte Mechlis, daß ich am folgenden Tag nach Kosice fahren wollte, um bei Benes’ Ankunft zugegen zu sein und dann von dort direkt nach Moskau weiterzureisen, um meine Materialien abzuliefern. Anschließend würde ich wahrscheinlich woandershin geschickt werden, und danach – etwa in einem Monat – versuchen, noch einmal zur 4. Ukrainischen Front zu kommen. „Ja“, sagte Mechlis, „ich kann mir denken, daß sich in Kosice jetzt viele Korrespondenten aufhalten.“ Da beschloß ich, die Angel auszuwerfen. „Gut wäre es ja, wenn man dort ein Flugzeug organisieren könnte, damit sämtliche Materialien, einschließlich Aufnahmen, von Kosice direkt nach Moskau kämen.“ „Wozu denn das noch?“ fragte Mechlis so grob und gereizt, wie ich es ihm in diesem Augenblick nicht zugetraut hätte. „Wozu ein Flugzeug beanspruchen, Benzin verbrauchen?“ „Um Zeit zu sparen“, sagte ich. „Sollen sich darüber doch die Leute den Kopf zerbrechen, die an diesen Materialien interessiert sind“, entgegnete er trocken und abweisend.
Diese Bemerkung verblüffte mich. Von jedem anderen hätte ich sie vielleicht erwartet, aber nicht von einem alten Journalisten. Inzwischen hatte Moskalenko sein Telephongespräch beendet. Allgemeines Schweigen herrschte im Zimmer. Unvermittelt stand Mechlis auf, wandte sich an Jeremenko und sagte: „Ich denke, wir fahren jetzt zu uns?“ „Ja, ja“, entgegnete der Oberbefehlshaber, „fahren wir“, und er rief durch den ganzen Raum ins Adjutantenzimmer: „Den Wagen! Wir fahren. Alles Gute!“ Sie verabschiedeten sich und gingen. Zwei oder drei Minuten verharrten Moskalenko und Jepischew noch schweigend, dann setzte sich Moskalenko an den Tisch, legte ein Blatt Papier vor sich hin, ergriff einen Bleistift und sagte: „Ich werde einen Befehl schreiben. Gottlob, die Obrigkeit ist fort.“ „Ja“, bestätigte Jepischew. „Nun hat Lew Sacharowitsch wohl endlich begriffen, daß man den Leuten keine ruhige Minute gönnen darf.“ „Ach, ich kann es nicht leiden, wenn mir einer das Leben so schwer macht“, sagte Moskalenko, legte die linke Wange in die Hand und schrieb den Befehl. Als er ihn beendet hatte, stiegen wir in die Wagen und fuhren mit abgeblendeten Scheinwerfern wieder zum Armeestab. In der zwölften Stunde trafen wir dort ein. Ortenberg war zur Beratung der Korpskommandeure, und ich setzte mich an meine Aufzeichnungen. David kehrte erst morgens um drei zurück. Wir nahmen einen Imbiß, und während des Essens erzählte ich ihm von meinem Gespräch mit Mechlis wegen des Flugzeugs.
„Was!“ Er lachte. „Hat dich sitzenlassen mit dem Flugzeug? Das war wohl auch zu erwarten, hättest du wissen sollen. Niemand ist herzloser in Zeitungsfragen als ein alter Journalist, der zu einem anderen Beruf übergewechselt ist. Nimm doch mich. Denkst du, ich befasse mich viel mit unserer amerikanischen Zeitung? Weit gefehlt. Anfangs habe ich mich noch ein bißchen darum gekümmert, aber das ist vorbei. Ich habe andere Sorgen.“ Um vier legten wir uns schlafen, und um sechs mußten wir beide aufstehen. David fuhr zu den Truppen, ich nach Kosice. Wir umarmten uns zum Abschied, und ich stieg in den „Willys“. Heute, nach dreißig Jahren, möchte ich hinzufügen, daß ich mich vor meiner Abreise nach Kosice nicht nur von Ortenberg verabschiedete, sondern auch von Max Wladimirowitsch Alpert, meinem nahezu ständigen Begleiter an der 4. Ukrainischen Front. Dieser zurückhaltende und schweigsame Mann war wohl der einzige Frontbildberichterstatter, der noch im 19. Jahrhundert geboren wurde. Er hatte als Rotarmist bereits im Bürgerkrieg gekämpft und vereinte in sich eine unwandelbare Bereitschaft zum Risiko, wenn es die Sache erforderte, mit beständiger Vorsicht und Nüchternheit in all jenen Fällen, wenn es nichts zu riskieren gab. Im Gegensatz zu dem unbekümmerten und fröhlichen Sascha Kapustjanski, dem mich die Redaktion Ende 43 und 44 am häufigsten zugesellt hatte, war dieser nicht mehr junge und gelassene Max ein so völlig anders gearteter Mensch, daß ich mich an seinen Charakter erst gewöhnen mußte. Dann lernte ich ihn
allmählich, aber gründlich als einen meiner zuverlässigsten Gefährten kennen, und schweren Herzens trennte ich mich von ihm. In Prag, in den ersten Friedenstagen, sah ich ihn wieder.
32 Mit meiner Abfahrt nach Kosice endet mein Tagebuch, das ich im Frühjahr 1945 an der 4. Ukrainischen Front geführt habe. Als ich gegen Kriegsende einen Kriegsroman plante, fühlte ich, daß es in der Erfahrung des Frontkorrespondenten eine Lücke gab. Zwar hatte ich während der vielen Aufenthalte im Frontgebiet genügend andere Eindrücke gesammelt – zumindest erschien es mir damals so –, aber mir fehlte der Überblick über den allgemeinen Verlauf der Operationen; ich wußte nicht so recht, wie alles von oben geplant und gelenkt wird; ich kannte nicht die Ausdehnung einer Front oder Armee; ich hatte noch nicht richtig beobachten können, wie sich das Geschehen aus der Perspektive der Führungsstellen einer Front oder einer Armee ansah. Ich denke, daß dieses schriftstellerische Bedürfnis zur Genüge die Wahl meines Erfahrungsbereiches und den Charakter meiner Aufzeichnungen an der 4. Ukrainischen Front erklärt. Manches von dem, was ich während der Operation von Moravska-Ostrava auf verschiedenen Gefechtsständen und Beobachtungsstellen gehört und gesehen habe, vor allem im Raum der 38. Armee, erwies sich viele Jahre später bei meiner Arbeit am Roman „Die Lebenden und die
Toten“ als sehr wichtig, besonders für das letzte Buch, in dem sich die Ereignisse auf die ganze Breite einer Armee und einer Front erstrecken. Die Stadt Moravska-Ostrava, die ich in meinem Tagebuch so häufig erwähne, wurde von den Truppen der 38. Armee und der 1. Gardearmee fast einen Monat nach meiner Abreise – am 30. April 1945 – befreit. An diesem Tag schossen in Moskau zweihundertvierundzwanzig Geschütze zwanzig Salven Salut für die Truppen der 4. Ukrainischen Front, einschließlich des Tschechoslowakischen Armeekorps. „Die Befreiung von Moravska-Ostrava war das Moment des Umschwungs im Verlauf der Kampfhandlungen der 4. Ukrainischen Front“, schreibt Marschall A. A. Gretschko, ehemaliger Befehlshaber der 1. Gardearmee, in seinem Buch „Über die Karpaten“, und er zieht das Fazit dieser langwierigen und schweren Operation: „Nach dem Verlust des befestigten Raums von Moravska-Ostrava konnte der Gegner keine stabile Verteidigung mehr errichten…“ Leider war es mir als Korrespondent der Zeitung „Krasnaja Swesda“ nur vergönnt, den Beginn und den mittleren Teil dieser Ereignisse direkt zu verfolgen. Mein Vorhaben, noch einmal an die 4. Ukrainische Front zurückzukehren, ließ sich nicht verwirklichen, so daß ich das Ende der Operation nicht aus eigener Anschauung kenne. Immerhin hatte ich ungefähr zweieinhalb Monate dort verbracht, als ich nach Moskau fuhr, erstmalig seit langem mit der Eisenbahn, sogar in einem Sonderzug, der bewacht und durch Flak gesichert war -demselben Zug, der
Benes aus Moskau gebracht hatte und jetzt fast leer zurückfuhr. Als ich nach dem feierlichen Empfang, der Benes in Kosice zuteil wurde, hörte, der Zug stände noch im Wald, auf dem letzten wiederhergestellten Gleisabschnitt, einhundert Kilometer von Kosice entfernt, wollte ich ihn vor seiner Abfahrt noch erreichen. Zwar wurde mir von dem Risiko abgeraten – Banden durchstreiften das Gebiet, zwei Dutzend Wagen mit bewaffneter Eskorte, die einen Präsidenten begleiteten, seien etwas anderes als eine einsame Fahrt im „Willys“ mit zwei MPi-Schützen, obendrein zur Nachtzeit –, aber ich schlug die Warnung in den Wind. Vielleicht, weil ich mich sonst vor Mischa, unserem Fahrer, hätte schämen müssen, der bei dem Gespräch zugegen war und, wie ich schon wiederholt bemerkt hatte, meine – in seinen Augen – übertriebene Vorsicht nicht sonderlich schätzte. Mischa war wohl der waghalsigste von allen Teufelsfahrern, mit denen ich im Krieg zu tun gehabt hatte. Er war zunächst Jagdflieger gewesen, dem Dienstgrad nach Starschina, hatte einen Bock geschossen, war in eine Strafkompanie gekommen und, da er infolge einer schweren Verwundung für die Fliegerei nicht mehr in Betracht kam, danach Fahrer geworden. Wir irrten lange umher, ehe wir den Zug fanden. Ich saß wie ein gespannter Flitzbogen da, starrte in die Finsternis, die schußbereite MPi umklammert, und offen gestanden hatte ich Herzbeklemmungen, während Mischa furchtlos ein Lied nach dem anderen schmetterte. Ich ranzte ihn an, er solle nicht so schreien, aber er be-
schämte mich, indem er sagte, daß uns unsere kleinen Scheinwerfer sowieso verraten würden, weil sie von weitem zu sehen seien. Als wir schließlich – schon im Morgengrauen – auf den Zug stießen, kamen wir gerade noch zurecht. Eine Viertelstunde später fuhr er ab, und nach all den nächtlichen Schrecken fühlte ich mich wie in Abrahams Schoß. So komfortabel war ich seit der Vorkriegszeit nicht mehr gereist. Ich hatte ein Abteil für mich und entwarf einen Bericht: Benes trifft in Kosice ein. In der Redaktion wurde mir später jedoch eröffnet, zu diesem Ereignis habe die Zeitung bereits eine offizielle Stellungnahme veröffentlicht, und es sei nicht vorgesehen, einen weiteren Beitrag zu bringen. Überhaupt gab man mir zu verstehen, daß man vom Ergebnis meiner Fahrt nicht gerade erbaut war. Die vier Skizzen, die ich während meiner langen Abwesenheit geschickt hatte, hielt man nicht für ausreichend, und damit hatte man sicherlich recht, denn die Tagebücher über die Angriffe, die noch nicht zum Erfolg geführt hatten, nutzten der Zeitung zunächst nichts. Ich begriff das selbst recht gut und zeigte in der Redaktion meine dreihundert gelochten und abgehefteten Blätter vor, eine dicke Mappe, um zu beweisen, daß ich nicht gefaulenzt hatte. Von meinen Tschechoslowakischen Skizzen waren bei meiner Ankunft erst zwei gedruckt, obwohl man mich vorher telegraphisch zur Eile gedrängt hatte, die beiden anderen waren gesetzt, aber ich sollte sie nach meiner Rückkehr noch einmal überarbeiten. Das tat ich auch, doch es erging mir wie meistens in solchen
Fällen. Was nicht auf Anhieb glückt, braucht nachher lange Zeit, um leidlich zu gelingen. Die letzte der vier Skizzen wurde erst am 20. April gedruckt. Am Tag darauf, dem 21. flog ich an die 1. Ukrainische Front, die mit ihrem rechten Flügel auf Berlin zurückte, während sich das Zentrum der Elbe näherte. Mit mir flog mein Kollege von der „Krasnaja Swesda“, Sascha Kriwizki, mit dem ich auf meiner letzten Dienstreise bis zum Ende des Krieges zusammenblieb. Diesmal hatte uns die Redaktion eine einzige Aufgabe übertragen, aber kategorisch verlangt, daß sie erfüllt wurde: Bei der ersten Begegnung sowjetischer und amerikanischer Truppen unter allen Umständen anwesend zu sein. Nachdem wir zum Stab der Front geflogen und uns informiert hatten, fuhren wir sofort zur 5. Gardearmee des Generals A. S. Shadow, an deren Abschnitt die Vereinigung voraussichtlich erfolgen würde. Ich kannte diese Armee von Stalingrad her. Damals war es noch die 66. geführt von R. J. Malinowski. Shadow hatte das Kommando kurze Zeit später übernommen, aber ich lernte ihn erst hier in Deutschland kennen. Er war sich der Bedeutung des bevorstehenden Ereignisses bewußt und verstand auch das Interesse, das wir dieser Begegnung mit den Amerikanern entgegenbrachten, aber im Augenblick hatte er andere Sorgen. An einem Flügel seiner Armee hatten die Deutschen einen Gegenschlag geführt, und es waren überaus erbitterte Kämpfe entbrannt. So konnte er uns nur wenige, gezählte Minuten widmen und schickte uns direkt zum Korps Baklanows, das sich
an einem verhältnismäßig ruhigen Frontabschnitt auf die Elbe zu bewegte. Der Befehl des Armeeführers erwies sich als richtig. Gerade dort, bei G. W. Baklanow, einem fünfunddreißigjährigen General, einem der drei jüngsten Korpskommandeure unserer ganzen Armee, trafen wir zwei Tage später mit den Amerikanern zusammen. Die Begegnung fand, wie allgemein bekannt, am 25. April bei Torgau an der Elbe statt. Kriwizki und ich waren zugegen, ebenso bei zwei weiteren Begegnungen, die an den nächsten Tagen erfolgten. Ich habe noch Aufnahmen, die an der Elbe gemacht wurden und uns zusammen mit unseren und amerikanischen Soldaten und Offizieren zeigen, und in meinem Schreibtischkasten bewahre ich Souvenirs von damals auf, vernickelte amerikanische Dienstgradabzeichen, die ich gegen meine aus den Ersatzschulterklappen gezogenen Offiziers Sternchen eingetauscht habe. Auch besitze ich noch das Konzept eines kurzen Berichts, den ich aus der Nähe von Torgau an die Zeitung schickte. Darin stehen die Namen der Kommandeure der ersten Divisionen, die sich dort vereinigten, des US-Generals Reinhardt und des sowjetischen Generals Russakow, ebenso die Namen zweier Patrouilleführer, eines amerikanischen und eines sowjetischen: Leutnant Robertson und Leutnant Silwaschko, die beiden ersten Männer, die sich hier an der Elbe begegneten – an der Stelle, wo sich zwischen unseren Streitkräften und den Amerikanern endlich kein faschistischer Soldat mehr befand. Ich erinnere mich, welche große Freude ich in jenen Tagen empfand, eine Freude, die noch nicht
von Zweifeln und Befürchtungen belastet war. An vieles erinnere ich mich, aber in den erhaltenen Notizblöcken von damals findet sich nichts hierüber. Es ist immer interessant, sich selbst zu überprüfen, aus ersten Quellen zu schöpfen. Ich wußte nicht mehr genau, wann ich Zeuge der beiden späteren Begegnungen zwischen sowjetischen und amerikanischen Offizieren und Generalen an der Elbe wurde. Wie gewöhnlich halfen mir die Archive, das genaue Datum festzustellen. „In der zweiten Tageshälfte des 26. April erfolgte die Begegnung zwischen dem Divisionskommandeur Generalmajor Russakow und dem Kommandeur der 69. amerikanischen Infanteriedivision, Generalmajor Reinhardt. Bei der Begegnung waren unsererseits zugegen: der Chef des Divisionsstabs, Gardeoberstleutnant Rudnik, der Kommandeur des 173. Garderegiments, Gardemajor Rogow, und andere. General Emil F. Reinhardt wurde begleitet von seinem Stabschef, Oberstleutnant Lynch, dem Leiter der Aufklärung und der Spionageabwehr, Oberstleutnant John Leary, und Oberstleutnant Max Schneid. Außerdem waren anwesend der Vertreter der TASS bei der 1. amerikanischen Armee, Major Shdanow, der Schriftsteller Konstantin Simonow, Korrespondenten und Reporter amerikanischer, britischer und französischer Zeitungen. Insgesamt etwa achtunddreißig Personen. Die Begegnung fand in einem Herrenhaus am Ostufer der Elbe statt, im Standort des 2. Bataillons des 173. Garderegiments.“ In der folgenden Meldung, die ebenso wie die obige
die Unterschrift des Leiters der Politabteilung der 58. Gardedivision, Gardeoberst Karpowitsch, trägt, wird die Begegnung zwischen den Korpskommandeuren General Baklanow und General Huebner vom 27. April genannt, und wieder werden die teilnehmenden Korrespondenten erwähnt. Am Abend nach dieser Begegnung fuhr ich mit Kriwizki und dem bei der amerikanischen Armee akkreditierten Major Shdanow über die Elbe zu den Amerikanern. Auch von dieser Fahrt besitze ich keine Aufzeichnungen. Einige Einzelheiten sind mir jedoch gut in Erinnerung und verdienen es, erwähnt zu werden. Ich denke da an das Abendessen bei den amerikanischen Offizieren und sehe noch das Gesicht unseres Fahrers Wanja vor mir, wie er, kerzengerade aufgerichtet, mit kräftiger Stimme ein Vorkriegslied anstimmte, ein Lied von diesem Krieg, der damals noch nicht begonnen hatte und jetzt vor unseren Augen zu Ende ging. „Mit Feuergrollen rollen, stählern blitzend, die Panzer vor zum grimmig heißen Kampf…“ Ich erinnere mich einer durchwachten Nacht in der deutschen Stadt Naumburg, wo im alten Dom das Wunderwerk mittelalterlicher Bildhauerkunst steht, die berühmte Statue der Uta, von deren Existenz ich bis dahin nicht die leiseste Ahnung hatte. In Naumburg befand sich ein sogenanntes Press Camp, das Stabsquartier der zur i. amerikanischen Armee abkommandierten Kriegsberichterstatter. Dort wurde die Nacht zum Tage gemacht, und unsere Begegnung, verwandelte sich in die erste inoffizielle
bilaterale Pressekonferenz des Krieges. Wir beide – Kriwizki und ich – waren da und auf der anderen Seite hundert bis hundertfünfzig Amerikaner, Engländer, Franzosen, Kanadier, Australier, Neuseeländer… Als ich später im Auftrag meiner Zeitung „Krasnaja Swesda“ zum Stab Mac Arthurs nach Japan geschickt wurde, traf ich dort einige amerikanische Journalisten, die mich an jene Nacht in Naumburg erinnerten. Dann war ich viele Jahre nach dem Krieg wieder in Naumburg, bummelte lange durch die Stadt und konnte doch den deutschen Schulkindern und ihrem Lehrer, einem begeisterten Heimatforscher, nicht zeigen, wo, in welchem Haus sich seinerzeit das Press Camp befunden hatte. Ich erinnere mich an Leipzig, das damals noch von den Amerikanern besetzt war, an die deutschen Schutzleute, die mein Erstaunen erregten und die unbewaffnet, aber in voller Uniform an jeder Straßenkreuzung standen. Ich erinnere mich eines Kriegsgefangenenlagers, das die Amerikaner unter ihren Schutz genommen hatten. Ein Oberst des amerikanischen militärischen Abschirmdienstes brachte uns hin, übrigens ohne aus seinem Beruf im geringsten einen Hehl zu machen. Das Lager ist mir stark im Gedächtnis geblieben, außerdem hilft mir in diesem Fall ein kleiner Artikel, der Ende 1945 in der „Komsomolskaja Prawda“ erschien. „Wir treten durchs Tor. Als erste begegnet uns ein blasses Mädchen, sieht uns neugierig, aber ohne besondere Freude an. ,Sind Sie Russin?’ frage ich.
Ja’, sagt sie und fährt fort, uns verständnislos zu mustern. Da erst kommt mir der Gedanke, daß sie unsere neue Uniform mit den Schulterklappen nicht kennt und uns nicht für die hält, die wir sind. Wir gehen ein paar Schritte. Ein Mann stürzt auf uns zu und ruft: ,Unsere! Unsere!’ Und stürmt, sich scharf umdrehend, in eine Baracke. So gehen wir durch das Lager, und immer mehr Leute versammeln sich um uns, und als wir die Mitte des von Stacheldraht eingezäunten Platzes betreten, umringt uns eine vieltausendköpfige Menge. Ich gehe die Stufen einer Treppe hoch. Vor Aufregung trete ich daneben. Mir zittern die Beine. Ich fürchte fast zu stürzen. Jetzt muß ich diesen Lagerinsassen die ersten Worte aus der Heimat sagen, Worte, die diese Menschen lange nicht gehört haben – ein Jahr, zwei, drei, fast vier. Meine Kehle ist wie ausgedorrt. Ich habe nicht die Kraft, ein Wort zu sagen. Langsam gleitet mein Blick über das riesige Meer der dichtgedrängten Menge. Ich weiß schon, daß es ein Straflager ist, daß hier Kriegsgefangene wegen schlechter Führung sitzen und Zwangsverschleppte wegen Arbeitsverweigerung. Aber welche Chronik von Leiden den Menschen auch ins Gesicht geschrieben ist – man liest daraus doch nicht den zehnten Teil dessen, was sie durchgemacht haben. Endlich fange ich an zu sprechen, ohne selbst zu wissen, was. Ich weiß es nicht, während ich rede, und ich erinnere mich auch später nicht. Dann schleiche
ich die Stufen hinab, und ein anderer nimmt meine Stelle ein, ein Offizier, der mit mir hergefahren ist, und er sagt gleichfalls etwas, sicherlich dasselbe wie ich. Ich kann seine Worte nicht begreifen, aber eine unbändige Freude, diese Menschen zu sehen, erfaßt mich. Und ich weine, und weinend schaue ich mich um und sehe, daß alle ringsum ebenfalls weinen. Dann geben sie uns das Geleit, und als vieltausendköpfige Menge gehen wir durchs ganze Lager. Neben mir geht ein Harmonikaspieler mit fest geschlossenem Mund, dehnt den Balg des Instruments. Ihm hat man sämtliche Zähne ausgeschlagen, bis auf den letzten, und er spricht wie ein Greis, und darum möchte er nicht sprechen und spielt nur…“ Vielleicht würde mir der Zeitungsartikel heute besser gelingen als damals, aber er ist mir so teuer, weil er unmittelbar nach dem Krieg entstand, und mir widerstrebt es, die Worte von damals durch andere, dreißig Jahre später geschriebene, zu ersetzen. Nur zwei Einzelheiten will ich hinzufügen, die in dem Artikel nicht erwähnt werden, die mir aber gut erinnerlich sind. Ich habe dort nicht bloß gesprochen, sondern „Wart auf mich“ gelesen, und unter den Weinenden war auch jener amerikanische Oberst, der uns in dieses Lager gebracht hatte. Das Tagebuch, das mir erhalten geblieben ist, beginnt mit der Nacht, in der wir die Elbe wieder überquerten. Als Kriwizki und ich von den Amerikanern zurückkamen, fuhren wir zu Konews Stab, doch erst nach etwa hundert Kilometern fanden wir ihn an einer neuen Stelle, und ich suchte aus alter Bekanntschaft
Petrow auf, der bis zum Hals in Arbeit steckte und mir mit einer Handbewegung bedeutete: Setz dich und warte. Als er sich endlich frei machen konnte, fragte ich ihn: „Iwan Jefimowitsch, was werden Sie nach dem Krieg anfangen?“ Noch nie hatte ich eine solche Frage gestellt, es wäre mir nicht eingefallen, doch jetzt, nach der Begegnung mit den Amerikanern an der Elbe, kam es mir in den Sinn. Petrow aber hatte offenbar auch schon darüber nachgedacht. Er nahm meine Frage ohne Erstaunen auf und antwortete sofort, als handele es sich um eine längst beschlossene Sache. „Ich werde um meine Versetzung, zum Turkestanischen Militärbezirk nachsuchen. Von dort bin ich in. den Krieg gezogen, dorthin will ich zurückkehren. Und wenn nicht, ist es auch nicht schlimm, dann fahre ich eben dahin, wohin man befiehlt“, sagte er und zuckte mehrmals mit dem Kopf, als nicke er zustimmend zu seinen eigenen Worten. Ich erkundigte mich nach Berlin und erfuhr, die Kämpfe dort näherten sich ihrem Ende, man könne schon den kürzesten Weg, die Autobahn, benutzen. Deutsche, die von der Oder her ins Hinterland durchgebrochen waren, hätten sie zu blockieren versucht, nach letzten Meldungen sei die Verbindung jedoch wiederhergestellt. Wir waren schon fast bis zum großen Berliner Ring gefahren, als uns auf der Autobahn und in der Umgebung ein schrecklicher Anblick erwartete. An dieser Stelle säumte dichter Wald die Autobahn zu beiden Seiten, und nach links wie nach rechts führte, quer zur Straße, eine Schneise
ab, deren Ende nicht zu sehen war. Die deutschen Truppen, die zur Zeit des Sturms auf Berlin noch an der Oder gestanden hatten, waren diese Schneise entlanggekommen, hatten sie wie einen Waldweg benutzt und über die Autobahn durchzubrechen versucht. So war dieser Punkt, den wir jetzt erreicht hatten und an dem sich Autobahn und Schneise kreuzten, am Morgen zum Schauplatz ihrer endgültigen Vernichtung geworden. Es bot sich uns folgendes Bild. Vor uns lag Berlin, und rechts die Schneise, die restlos verstopft war. Dort türmten sich Panzer, Personenwagen, Panzerspähwagen, Lastwagen, Spezialfahrzeuge, Sanitätsfahrzeuge in heillosem Durcheinander, waren buchstäblich aufeinandergekrochen, lagen umgestürzt, verdreht, verkeilt, beim Versuch zu entkommen überrumpelt, ringsum Hunderte zermalmter Bäume. Und in diesem Durcheinander von Eisen, Holz, Waffen, Koffern, Papier ein verbranntes und geschwärztes Gemisch entsetzlich zugerichteter menschlicher Körper. Und dieses Bild die Schneise entlang, bis es sich buchstäblich in der Unendlichkeit verlor. Und im Wald immer wieder Leichen – die Leichen von Menschen, die unter dem Beschuß hatten fliehen wollen. Leichen, in wirrem Durcheinander mit Lebenden. Diese Lebenden lagen verwundet auf Mänteln, auf Decken, hockten gegen Baumstämme gelehnt, die einen verbunden, die anderen blutüberströmt, noch unversorgt. Einige, die ich nicht gleich bemerkt hatte, lagen auf Decken und Mänteln direkt neben der Straße. Dann entdeckte ich, ebenfalls erst später, zwischen den Verwundeten umherwandernde Gestalten, vermutlich Ärzte und
Sanitäter. Das alles zur Rechten. In der Mitte die Straße, breit, asphaltiert, bereits für den Verkehr gesäubert. Auf eine Entfernung von zweihundert Metern war sie durchlöchert, sah wie riesiger Ausschlag aus, von großen und kleinen Trichtern durchsetzt, an denen vorbei im Zickzack Frontwagen nach Berlin fuhren. Auf der Straßendecke Flecke: Öl, Benzin, Blut. Links davon die Fortsetzung der Schneise. Ein Teil der deutschen Kolonne hatte schon die Fahrbahn überquert und wurde drüben vernichtet. Auch dort zieht sich in die Unendlichkeit ein wüstes Durcheinander ausgebrannter, zertrümmerter, umgestürzter Wagen hin. Auch dort Tote und Verwundete. Die ganze Tragödie hatte sich vor Tagesanbruch abgespielt, etwa sechs Stunden vor unserer Ankunft. Wie mir ein Offizier in aller Eile erklärte, war die ganze riesige Kolonne in das massierte Feuer einiger Regimenter schwerer Artillerie und einiger Regimenter „Katjuschas“ geraten, die für alle Fälle in der Nähe konzentriert waren und sich auf die Schneise vorher eingeschossen hatten, weil die Möglichkeit eines Durchbruchs der Deutschen hier zu den wahrscheinlichsten Varianten zählte. Nachdem wir die grausige Stelle schon einige Kilometer hinter uns gelassen hatten, kam uns aus Richtung Berlin eine Kolonne von fünf oder sechs Krankenwagen entgegen. Wahrscheinlich Fahrzeuge unserer Sanitätsbataillone, die zur Hilfe geschickt wurden, aber im Vergleich zu dem Ausmaß des Schlachtfelds waren fünf oder sechs Wagen nicht mehr als ein Tropfen auf dem heißen Stein.
Dieses Bild des Grauens, das mich, wie aus dem Tagebuch hervorgeht, 1945 mit Entsetzen erfüllte, habe ich auch heute, dreißig Jahre nach Kriegsende, noch lebhaft vor Äugen. Die Tragödie der letzten Monate, Wochen und Tage bestand darin, daß die Deutschen erbitterten, manchmal verzweifelten Widerstand leisteten und daß wir somit gezwungen waren, diesen Widerstand mit Feuer und Eisen zu brechen, mit aller Unbarmherzigkeit, wie es die Lage erforderte. Die Legenden, die im Westen verbreitet wurden, Berlin hätte viel eher eingenommen werden können – überhaupt, die Deutschen hätten den Russen gegen Ende des Krieges nicht mehr fanatischen Widerstand geleistet, und um Berlin hätte keineswegs eine so erbitterte Schlacht getobt, wie es die Russen darstellen – solche Legenden in die Welt zu setzen ist gewissenlos. Die Politiker und Historiker – die Urheber dieser Konzeption – wissen nur zu gut, wie es sich tatsächlich verhielt und wie verbissen diese gleichen Deutschen, die im Westen schon die Hände hoben, im Osten weiterkämpften. Die Konzeption ist vor allem für jene gedacht, die nichts wissen und sich an nichts erinnern. Doch nicht nur für sie. Selbst einfache Kriegsteilnehmer, die im Westen eingesetzt waren, nehmen diese Konzeption mitunter für bare Münze, weil sie unter dem Eindruck ihrer eigenen, recht idyllischen Erinnerungen an die letzte Periode des Krieges stehen, die ja an der Westfront, besonders nach dem Überschreiten des Rheins, durchaus nicht so reich an kritischen Situa-
tionen und erbitterten Kämpfen war. Will man ein wirklichkeitsgetreues Bild von dem fanatischen Widerstand der Deutschen an der sowjetisch-deutschen Front vermitteln, so lohnt es vielleicht doch, einige Augenzeugen aus dem Lager des Gegners zu Wort kommen zu lassen und die Aussagen von Leuten anzuführen, die in der letzten Periode des Krieges von uns gefangengenommen wurden. Dabei will ich den Leser nicht mit Namen belasten. Nicht um sie geht es hier, sondern um die Einstellung zum aufgeworfenen Problem. Darum werde ich nur Datum, Dienstgrad und Dienststellung nennen. 5. Februar 1945. Auf unsere Fragen antwortet ein deutscher Generalleutnant, Divisionskommandeur. „Der gesunde Menschenverstand sagt einem, daß man einen deutschen Sieg schon nicht mehr erwarten kann, aber es ist sehr schwer, sich eine deutsche Niederlage vorzustellen. Man möchte noch an den Sieg glauben. Darum glaubt man dem Versprechen an eine neue Waffe, glaubt an die Möglichkeit eines Wunders. Übrigens, zu verlieren haben wir Deutschen sowieso nichts mehr. Im Falle einer Niederlage geht Deutschland unbedingt zugrunde. Da ist es schon besser, in Ehren zu sterben.“ 8. Februar 1945. Auf Befragen antwortet ein Oberfeldwebel, Flieger. „Ich persönlich finde die Lage außerordentlich beklagenswert. Ich hoffe nur noch auf eine neue Geheimwaffe, die bald eingesetzt wird. Mehr zu erhoffen hat keinen Zweck. Wir Deutsche haben sowieso schon alles verloren, wir können nur noch bis zum
letzten Blutstropfen kämpfen. Zugrunde gehen müssen wir so oder so. Für den Fall einer Niederlage wird es in Deutschland eine schreckliche Hungersnot geben. Frauen und Kinder werden zugrunde gehen, und die Männer werden vertrieben. Auf diese Weise haben wir tatsächlich nichts zu erhoffen für den Fall, daß wir uns ergeben. Da ist es schon besser, weiterzukämpfen.“ 10. März 1945. Auf Befragen antwortet ein Generalleutnant, Divisionskommandeur. „Der Rückzugsbefehl wurde gegeben, als wir schon eingeschlossen waren. Der Befehl lautete, kämpfend auszubrechen. Beim Durchbruchsversuch habe ich ein Regiment verloren. Ich erteilte den Befehl, sich bataillonsweise durchzuschlagen. Die Landstraße konnten wir, wie wir erfahren hatten, nicht benutzen. Das Grundübel waren die Flüchtlinge. Jedem normalen Menschen hätte es klar sein müssen, daß nach dem erfolgten Durchbruch der Russen für die Zivilbevölkerung eine Evakuierung nicht mehr möglich war und daß sie nichts Besseres tun konnte, als in ihren Häusern zu bleiben und die Truppenbewegung nicht zu behindern. Aber alle waren hypnotisiert von der Propaganda über die Schrecken des Bolschewismus. Das Resultat war, daß nicht nur die Truppen, sondern auch die Zivilbevölkerung zu leiden hatte. Auf den Straßen haben sich Szenen abgespielt, die alles überschreiten, was ich bislang gesehen hatte. Kinder erfroren in den Armen ihrer Mütter. Total erschöpfte Menschen blieben neben der Straße liegen und erhoben sich nie mehr. Die deutsche Propaganda,
die die Schrecken eines Einfalls der Russen an die Wand malte, spielte in diesem Fall den Russen in die Hände. Eine bessere Auswirkung unserer Propaganda hätten sie sich gar nicht wünschen können, denn das ganze Chaos kam letzten Endes nur ihnen zugute. In der Zeit meiner Tätigkeit als Divisionskommandeur habe ich sechs Todesurteile bestätigt. Ich meine, daß die Lage Deutschlands gegenwärtig so ernst ist, daß alle Maßnahmen gerechtfertigt erscheinen, die zur Aufrechterhaltung seiner Kräfte und inneren Ordnung erforderlich sind.“ 24. April 1945. Auf Befragen antwortet ein Flieger, Leutnant der Luftaufklärung. „Die Bevölkerung Berlins kann man in zwei Gruppen teilen, die vernünftigen Menschen, die begreifen, daß der Krieg verloren und weiterer Widerstand sinnlos ist und höchstens zu unnötigen Zerstörungen führt, und die sogenannten hundertprozentigen oder sogar hundertfünfzigprozentigen Nazis, die ein Wunder erwarten und hoffen, daß sich die Russen im letzten Augenblick mit den Engländern und Amerikanern in die Wolle kriegen und Deutschland sein Schäfchen ins trockene bringt.“ 30. April 1945. Auf Befragen antwortet ein Oberstleutnant, Korpsintendant. „Mir ist es jetzt einerlei, ob ich lebe oder sterbe. Gefangenschaft erachte ich als Schande. Ich bin verwundet in Gefangenschaft geraten, und mich zermürbt nicht nur meine Lage als Kriegsgefangener, sondern auch das Bewußtsein, daß der Kampf auf
dem Schlachtfeld für Deutschland verloren ist. Wenn es etwas gibt, was meinen Tatendrang und Lebenswillen noch aufrechterhält, dann die Gewißheit, daß ich Gefangener einer Armee bin, die über die stärkste Armee der Welt, die deutsche Armee, den Sieg davongetragen hat.“ Es ist interessant, wie dreißig Jahre später einer unserer einfachen Soldaten, der Infanterist und dreifache Träger des Ordens des Ruhms, Konstantin Mamedow, in einem Gespräch mit mir seine Erinnerungen an die letzten Kriegstage beendet. Sie bestätigen, was jener deutsche Oberstleutnant 1945 am Ende seiner Aussage anführte. „Die Deutschen verteidigten sich hartnäckig. Jedenfalls kann ich auf Grund meiner persönlichen Erfahrung sagen – und dem schließen sich die Soldaten unserer Division an –, daß meiner Meinung nach die Härte der Kämpfe mit der Annäherung an Berlin nur noch zugenommen hat. Und sie wuchs pausenlos. Der Widerstand war einfach verzweifelt. Vom Deutschen als Gegner kann man sagen, daß er ein äußerst starker Gegner war. Ich habe darüber nachgedacht. Wer wäre noch imstande, so ein Gegner zu sein? Ich finde keinen auch nur annähernden Vergleich. Das war eine gedrillte, Kampftechnik besitzende Kriegsmaschine, dergleichen es in der Welt vielleicht – nein, nicht vielleicht, sondern bestimmt nicht noch einmal gab…“ Ich kehre zum Tagebuch zurück. Nach anderthalb Stunden erreichten wir Berlin, das heißt die südlichen Außenbezirke. Wir wollten näher zum Zentrum gelangen, aber wir wußten beim besten
Willen nicht, bei welcher Armee wir vorstellig werden mußten, um unser Ziel zu erreichen, und wie das häufig an der Front der Fall ist, verloren wir viel Zeit mit Erkundigungen und Nachforschungen. Zuerst fanden wir die Armee des Generals Lutschinski, hielten uns dort jedoch nicht auf, weil sie die besetzten Stadtviertel dem rechten Nachbarn übergeben, selbst aber weiter nach links rücken sollte. Dann gerieten wir an Panzer und stießen zufällig auf den Befehlshaber der 3. Panzerarmee, General Rybalko. An der Kreuzung von zwei zerstörten Straßenzügen stand ein „Willys“, und Panzer mit geöffneter Luke fuhren vorbei. Rybalko saß auf der Stoßstange des Wagens, mit dem Rücken gegen den Kühler gelehnt, und betrachtete seine vorbeirollenden Panzer. Trotz des warmen Frühlingswetters war er auffallend winterlich gekleidet und trug einen pelzbesetzten Wollmantel. Man sah ihm an, daß er krank war. Er hatte das gelbliche, leidende Gesicht eines Menschen, der heftige Schmerzen unterdrückt. Er sprach mit uns durch die Zähne. Ich sagte, daß wir in seiner Armee bleiben wollten, und fragte, zu welcher Einheit wir fahren könnten, um näher an das Berliner Zentrum heranzukommen. „Zu keiner“, sagte er. „Mit Berlin befassen wir uns nicht mehr. Wir werden verlegt. Wohin? Wer viel weiß, wird bald alt. Bleiben Sie bei uns, dann werden Sie es zu gegebener Zeit erfahren.“ Ich sagte ihm, daß wir uns in Berlin aufhalten müßten. Er zuckte die Achseln und wandte sich, ohne uns noch eines Blickes zu würdigen, seinen Unterstellten zu. Ich hatte den Eindruck, daß er die Verlegung seiner Armee mißbilligte und selbst
lieber geblieben wäre, um den Faschisten in Berlin den Garaus zu machen. Wir ahnten noch nicht, daß ausgerechnet die Panzer dieses durch die Zähne sprechenden Generals eine Woche später als erste durch die Straßen von Prag rollen sollten. Hätten wir es gewußt, wären wir vielleicht doch bei ihm geblieben. Da wir die Lage nicht kannten, irrten wir von einem Truppenteil zum anderen und aus einem Stadtbezirk in den nächsten. So vertrödelten wir einen ganzen Tag und eine ganze Nacht an verschiedenen, verhältnismäßig uninteressanten Punkten Berlins und fanden schließlich die Armee Tschuikows, der von Weidling bereits die Kapitulation der Berliner Garnison entgegengenommen hatte. Letzte abklingende Scharmützel gab es nur noch mit vereinzelten Gruppen, die von der Kapitulation der deutschen Truppen nichts wußten, und mit der SS, die sich dem Befehl nicht unterwarf. Sosehr wir mit uns selbst auch haderten, weil wir die Gelegenheit verpaßt hatten, wenigstens bei den Kapitulationsverhandlungen anwesend zu sein – am meisten bedauerte ich doch, daß ich den sogenannten Sturm auf Berlin nicht gesehen hatte. Was ich sah, waren nicht einmal die letzten Lebensäußerungen, sondern nur noch die Todeszuckungen des Faschismus. Kurz vor Abend. Wir nähern uns der halbzerstörten Mauer des Zoos. Eine Überführung der Stadtbahn. Bei der Überführung viele Leichen. Sie liegen reihenweise hingestreckt, einige auf dem Rücken, andere mit dem Gesicht nach unten. Auf dem Pflaster klebriges, noch helles Blut. Es hat sich soeben erst
abgespielt. Ein kleiner SS-Trupp hat hier gekämpft. Bei der Überführung liegen zwei zerstörte MG und anderthalb Dutzend Leichen, unter ihnen zwei tote Frauen in SS-Uniform. Wie immer, wenn ich im Krieg getötete Frauen sah, packte mich ein Schauder, und sie tun mir leid, auch wenn sie SS-Uniform tragen. Wir klettern über Bruchstücke der Zoomauer und gehen zum Elefantenhaus. Ein großer Teil ist durch Bomben zerstört. In dem einzigen nicht zerstörten Teil wandert ein verzagter, hungriger Elefant umher. Daß er Hunger hat, erfahre ich von dem Wärter, einem alten Mann. Er hat mit seiner Frau bis zum Schluß hier ausgeharrt, und als ich ihn in meinem gebrochenen Deutsch anspreche, bittet er mich um Futter für seine Tiere. Dann schlägt er mir eine Zoobesichtigung vor. „Allerdings ist nicht mehr viel davon übrig.“ Der Alte geht voraus, wir folgen ihm. Er zeigt uns seine Wirkungsstätte, ruhig, sachkundig, als sei nichts geschehen. Auf den Wegen liegen tote Deutsche. Auf einer Bank ein toter sowjetischer Soldat. Sein Kopf ist mit einem Mantel verhüllt. Sie haben ihn auf die Bank gelegt, weil zum Begraben die Zeit fehlte. Der Wärter beachtet die Leiche nicht. Er spricht die ganze Zeit von seinen Tieren, während er uns führt, und das wird immer unangenehmer. Schließlich kommen wir zum Flußpferdbecken, hinter dem ein schroffer Felsen aufragt. Ein Flußpferd liegt auf diesem Felsen und atmet schwer. Das andere treibt tot im Wasser. Aus seinem Körper ragt der Stabilisator einer Granate heraus. Die Granate hat es
getötet und ist, ohne zu detonieren, am Stabilisator steckengeblieben. Ich betrachte diesen Stabilisator, der aus dem Tierkörper herausschaut, und denke, wenn ich das jemandem erzähle, der glaubt mir nicht. Das andere Flußpferd gleitet ins Wasser und schwimmt, ohne dem Kadaver zu nahe zu kommen, als ob es die Gefahr witterte. Das Affenhaus. Einige unserer Soldaten stehen vor einer großen Grube, in der sich kleine Affen tummeln. Die Soldaten sehen müde aus. Sie riechen nach Rauch, sind schmutzbedeckt und sehen den Affen dennoch interessiert zu. Dann klettert einer über das Geländer in die Grube und fängt erstaunlich flink ein Äffchen ein. Es beißt ihn, und ich denke, gleich wird er es töten. Das tut er jedoch nicht, sondern sagt lachend: „Er ist bissig!“ Er sagt es erstaunt und zufrieden, als habe ihn das Lebewesen daran erinnert, daß es auch etwas Angenehmes, etwas fernab vom Krieg gibt. Dann schleuderte er das Äffchen fort. Die Sache hat ihren Reiz verloren. Er kommt über das Geländer zurück, schlendert müde die Allee entlang und legt sich zum Schlafen auf eine Bank, zwei oder drei von der mit dem Toten entfernt. Wir folgen dem alten Deutschen zu einem Backsteinhaus. Er öffnet die Tür, sagt, ohne stehenzubleiben, daß hier gleichfalls Affen untergebracht sind, der größte Gorilla Europas und der größte Schimpanse Europas. Nach ihm treten wir ein. Ein Gitter teilt den Raum in zwei Hälften. Hinter den Stäben erhebt sich ein meterhoher Betonsockel mit einer Art Rost. Auf dem Rost liegen, durch ein Quergitter voneinander getrennt, ein riesiger Gorilla und ein
sehr großer Schimpanse. Vor dem Betonsockel, bei dem das Gitter beginnt, liegen zwei tote SS-Leute. Ein dritter, ebenfalls tot, sitzt mit dem Rücken gegen den Sockel, eine Maschinenpistole auf den Knien. Offenbar haben sie sich alle drei hierher geflüchtet und wurden vielleicht mit einem einzigen Feuerstoß von der Tür aus getötet. Und hinter den toten SS-Leuten, einen Meter über ihnen, liegen in ihren Käfigen der Schimpanse und der Gorilla, ebenfalls tot, wie ich jetzt sehe. Zwei schon dunkel gewordene Blutlachen haben sich unter ihnen auf dem Beton gebildet. Der Wärter steht bei uns an der Tür. Ich glaube, die Affen tun ihm sehr leid. Er steht da und schüttelt stumm, greisenhaft den Kopf. Das alles gräbt sich ungewöhnlich scharf ins Gedächtnis ein, nicht nur seiner Symbolhaftigkeit wegen, das Ende einer Hetzjagd: die toten Affen, die toten SS-Leute, dieses fensterlose Häuschen, der Käfig, die Eisenstäbe… Wir gehen in einen der Betonbunker. Ein gewaltiges Bauwerk, das sich wie ein Getreidespeicher erhebt. In den oberen Stockwerken sind Fenster, von mächtigen Metalläden verschlossen. Unten eine Eisentür. Oben statt eines Dachs eine wuchtige dicke Betonplatte. Auf dieser Platte soll Flak stehen oder gestanden haben. In dem Bunker sollen die Stäbe einer Flak- und einer SS-Einheit untergebracht gewesen sein. Wir gehen durch die Eisentür, uns entgegen werden Gefangene gebracht. Ein Unterleutnant, der sie begleitet, erzählt, im dritten Stock hätten sie einen toten deutschen General gefunden, der sich soeben er-
schossen habe. Beim Durchsuchen des Gebäudes seien sie auf eine versperrte Tür gestoßen und hätten sie eingeschlagen. Währenddessen habe er sich erschossen. Wir steigen in den dritten Stock. Das Kraftwerk ist entweder gesprengt oder aus anderen Gründen ausgefallen. Wir laufen mit Taschenlampen durch den Korridor, von dem nach links und nach rechts kleine Zimmer abgehen. Dort haben zu zweit oder zu dritt verschiedene Chargen der Flak und der SS kaserniert gelegen. Durch eine Schiebetür betreten wir den Raum, in dem sich der General erschossen hat. Weiß der Teufel, warum sie sie aufgebrochen und nicht wie sonst üblich mit Handgranaten aufgesprengt haben. Vermutlich wollten sie die Leute lebend fangen. Ein Tisch, der von einer Wand bis zu einem Feldbett reicht, vor dem Tisch ein Stuhl. Auf dem Stuhl ein Waffenrock mit Dienstgradabzeichen der SS, Auf dem Bett, das Gesicht der Tür zugewandt, mit offenen Augen der tote General, ein großer, fünfundvierzigjähriger Mann, kurzgeschorenes Haar, ein schönes, ruhiges Gesicht. Seine rechte Hand umklammert noch die Parabellum an seiner Seite. Sein linker Arm ist um die Schultern einer jungen Frau gelegt, die zwischen ihm und der Wand liegt. Die Frau hat die Augen geschlossen. Sie sieht hübsch aus in ihrer kurzärmligen weißen Bluse und dem Rock. Der General trägt ein sauberes Hemd, eine auf der Brust geöffnete Jacke und Stiefel. Zwischen den Beinen des Generals steckt eine nicht restlos geleerte Flasche Sekt. Da der General seine Jacke angezogen hat, muß die
über den Stuhl gehängte der toten Frau gehören. Wieder empfinde ich das Gefühl einer erreichten Grenze, einer Sackgasse – ein Gefühl, das mich während meines ganzen Aufenthaltes in Berlin keine Minute mehr verläßt. Der Reichstag. Das ist schon fast eine Wallfahrtsstätte. Menschen kommen in Scharen. Doch jenseits des Flusses, hundertfünfzig Meter von hier, schießen Deutsche noch mit MG, und eine sowjetische Selbstfahrlafette feuert jede Minute methodisch im direkten Richten einen Schuß gegen das Haus ab. Die Siegesallee. Tote, verbogene Fliegerabwehrkanonen. Zerstörte, beschädigte Flak, mehr als irgendwo anders. Umgekippte deutsche Lastwagen, vernichtete Panzer – deutsche und sowjetische. Dann die Reichskanzlei, ein besonderes Schauspiel. Der tote Goebbels wird gesucht. Sie hatten seinen Leichnam schon gefunden, dann waren ihnen Zweifel gekommen, ob er es wirklich sei, und jetzt suchen sie ihn wieder. Gesucht wird auch Hitlers Leiche. Das Gebäude ist gewaltig mit architektonischen Proportionen, von denen etwas Bedrückendes ausgeht. Ungeheure Dimensionen, Leere, eine maßlose Länge der Zimmerflucht, die die Aufmerksamkeit auf einen, durch die gewaltige Tür am Ende tretenden Menschen konzentrieren soll. Hitlers Arbeitszimmer wurde von einer Bombe getroffen und ist mit Trümmern übersät. Einer der angrenzenden Räume ist unversehrt. Jemand sagt mir, daß dies Bormanns Arbeitszimmer sei. Vielleicht stimmt es. Das Zimmer ist unversehrt, doch das Unterste zuoberst gekehrt. Quadratische Zettel liegen auf dem
Fußboden verstreut. Ich hebe einen auf, drehe ihn in der Hand, ein Exlibris aus der Bibliothek Hitlers. Ein großes Schreibpult mit beweglichem Holzdeckel, weit geöffnet, mit ungeordneten Papieren gefüllt. Unter diesen Papieren finde ich zwei alte Zeichnungen. Auf einer ist ein in einen Hügel gegrabener Unterstand abgebildet, und dort steht: Le Grett, Anfang Dezember 1917. Brigadebefehlsstand. Auf dem anderen ist eine zerstörte Kirche zu sehen, und die Notiz lautet: Comincs, 9. Mai 1918. Der Gedanke kommt mir, daß Hitler diese Zeichnungen selbst angefertigt hat. Unwahrscheinlich, aber möglich ist es, denn zeichnerisch hat er sich damals an der Front in Frankreich betätigt. Ich stecke die Zeichnungen in die Feldtasche, nehme noch ein Photo, auf dem „Kämpfe mit den Spartakisten, München, Mai 1919“ steht und einige auf einem Fuhrwerk sitzende Militärpersonen mit Tusche numeriert sind, unter Nummer eins Rudolf Heß. Außer den Exlibris bedecken Postkarten den Fußboden. Vier hebe ich auf und stecke sie ebenfalls in die Tasche. Warum liegen sie hier? Vielleicht wurden sie, mit Autogramm versehen, zur Erinnerung vergeben? Drei zeigen den lachenden Hitler im Kreise kleiner Mädchen, das vierte Compiegne, einen Eisenbahnwaggon, das quadratische Gesicht Keitels, der einem hageren französischen General ein Schriftstück über den Tisch reicht, die Waffenstillstandsbedingungen. Ich gehe durch die Zimmer. In einigen der weiter ab liegenden Zimmer sind Orden und Medaillen verstreut. Kästen, Schachteln, blaue Päckchen. Bis zu den Knöcheln watet man hier durch eine Flut von
Orden und Ehrenzeichen, Eisernen Kreuzen, Medaillen, die für das Löschen eines Feuers verliehen wurden, und eine Unzahl anderer, aber in solcher Masse, daß ich mich beinah aus der Reichskanzlei in das Lager einer großen Ordenfabrik versetzt glaube. Durch ein Loch in der Wand krieche ich auf den Hof. Dort liegen die Leichen der letzten SS-Leute, die sich hier verteidigt haben. Sanitäter, die sich vor Eifer gegenseitig anrempeln, bringen aus einem Raum unter der Erde Verwundete hoch. Auf dem Innenhof, der durch Trichter zerklüftet ist, inmitten eines Wustes von entwurzelten Bäumen, Trümmern, Scherben: ein Betontürmchen und der Abstieg zu Hitlers unterirdischem Bunker. Ich sehe mir das alles an und denke, daß irgendwann zu späterer Zeit die Geschichtsschreibung dem vielleicht einen Anstrich der Größe geben wird, gegenwärtig aber macht es auf mich den Eindruck nicht mal einer Stätte des Kampfes, sondern eines Grabes von. Menschen, die völlig verwirrt waren, sich verzweifelt ans Leben klammerten und bis zum Schluß nicht verstanden, was mit ihnen passierte. Die übersteigerte Konzentration der faschistischen Macht wurde hier, im Augenblick ihres Untergangs, ad absurdum geführt. Kürzlich noch hatte dem Zusammenbruch des Faschismus, der sich vor meinen Augen vollzog, etwas tödlich Schreckliches angehaftet. Jetzt empfinde ich das nicht mehr so. Heute ist von alldem nur noch ein Gefühl der Nichtigkeit übrig, keine Spur mehr irgendeiner gewesenen raubtierhaften Größe des Dritten Reiches. Sie haben sich versteckt, verkrochen, zusammengerottet, hier wurden sie in die
Enge getrieben, haben sich tiefer und tiefer eingegraben, schon ohne jede Hoffnung, und dann schöpften sie doch wieder Hoffnung, erwarteten ein Wunder und rückten immer enger zusammen und brachten alles in Verwirrung, nicht nur um sich her, sondern auch in sich selbst. Alles war durcheinander und nicht mehr so wie einst. Ich habe nie zu den Menschen gehört, die meinen, daß man einen Feind erniedrigen, seine Kraft schmälern oder ihm das absprechen müsse, was er tatsächlich aufzuweisen hat, Verstand, Tapferkeit oder den Mut der Verzweiflung – und wenn er noch so blutrünstig wäre. Rufe ich mir das belagerte Tarnopol ins Gedächtnis und seine schrecklichen unterirdischen Gewölbe, in denen ich, nachdem wir endlich eingedrungen waren, Hunderte oder Tausende schwerverwundete, sterbende und tote Deutsche sah, die einen Monat und fünf Tage unter der Belagerung gelitten hatten, so verstehe ich, was dort vorgegangen war, und achte ihre Tapferkeit. Tarnopol ist für mich ein düsteres, doch auf seine Weise episches Erlebnis. Aber diese Reichskanzlei, dieser letzte Rettungsanker, diese letzten, zum Tode verurteilten SS-Leute, und die unterirdischen Kämmerlein, in denen Hitler und Goebbels hausten, darüber die Zimmer, die mit den Eisernen Kreuzen für fünf weitere Kriegsjahre vollgepfercht waren, die Exlibris einer nicht mehr bestehenden Bibliothek, die halbverbrannten Körper, unter denen man nach besonderen körperlichen Merkmalen die ehemaligen Machthaber Europas sucht… Dritter Mai. Ein staubiger Sonnentag. Einige unserer Armeen, die Berlin eingenommen haben,
ziehen in verschiedenen Richtungen durch die Stadt und wirbeln viel Staub auf. Da rollen Panzer und nochmals Panzer, selbstfahrende Geschütze, Katjuschas, Tausende und aber Tausende von Lastfahrlafetten, schwere und leichtere Geschütze. Panzerabwehrkanonen hüpfen über Trümmer. Infanterie auf dem Marsch. Endlose Kolonnen. Und alles zieht von überallher durch die Stadt. Verstörte Einwohner auf zerstörten Straßen, an Kreuzungen, an den Fenstern der Häuser. Ohnmächtig beobachten sie den tosenden, unfaßbar kompakten, sich endlos wälzenden Strom. Auch ich habe den Eindruck, daß jetzt nicht Divisionen und Armeen durch Berlin ziehen, sondern daß ganz Rußland die Stadt von allen Seiten durchwandert, und entgegen schleppen sich Gefangenenkolonnen und versperren die Straßen… Vor dem riesigen, maßlos geschmacklosen Denkmal Wilhelms I. machen Gruppen von Soldaten und Offizieren Erinnerungsphotos. Fünf, zehn, hundert Menschen auf einer Aufnahme, mit und ohne Waffen, finster und abgespannt, lächelnd, lachend. Nacht. Wir fahren, durchqueren ganz Berlin von einem Ende zum andern. Es ist stockdunkel. Kein Mensch scheint mehr in der Stadt zu sein. Nicht einmal einem Verkehrsposten begegnen wir. In den unbekannten Straßen verirren wir uns, zwischen den wüsten Trümmerhaufen, von denen die Scheinwerfer unseres verirrten „Willys“ bald hier, bald da einen hellen Fleck der Finsternis entreißen. Zwei Stunden nichts als Ruinen. Und kein Laut. Hier wird mir erst richtig bewußt, wie ungeheuer das Ausmaß der Zer-
störung ist. Unser Abendbrot essen wir in Tschuikows Stab. Den Reichstag, der für uns alle zum symbolischen Zentrum wurde, haben andere eingenommen, Truppen der Armee Kusnezows, aber Tschuikow war es, der die Kapitulation der Berliner Garnison entgegennahm. Derselbe Tschuikow, der im September, Oktober und November 1942 Stalingrad verteidigte – genau genommen nicht Stalingrad, sondern die drei letzten schmalen Stücke Wolgaufer bei Stalingrad und die wenigen Dutzend Häuser, die auf diesem Uferstreifen standen. Offenbar hat sich die Geschichte darum bemüht, der Kapitulation von Berlin einen besonders symbolhaften Anstrich zu geben. Für Tschuikow ist es zur Tradition geworden, mit seinem Stab gemeinsam Abendbrot zu essen, sofern es die Umstände erlauben. Diesmal erlauben sie es. Wir sitzen in einem kleinbürgerlichen Einfamilienhaus am Stadtrand von Berlin. Die erste halbe Stunde verbringen wir vergnügt, Toasts werden ausgebracht, auf die Einnahme von Berlin, auf Stalingrad, aber dann wird es still, weil in den letzten Tagen alle schrecklich müde geworden sind und es als merkwürdig empfinden, daß am nächsten Tag nicht mehr gekämpft werden soll. Es ist schon bekannt, daß die Armee in Berlin bleibt. Lange Zeit hieß es: „Kommen wir nach Berlin, vernichten wir das faschistische Ungeheuer in seiner Höhle, nehmen den Reichstag ein, besetzen die Reichskanzlei…“ All das ist geschehen, der Reichstag eingenommen, die Reichskanzlei besetzt, und da sitzen wir, in der faschistischen Höhle, und nachdem Berlin eingenom-
men ist, gibt es nichts mehr einzunehmen, und kein Tod ist so bedeutsam wie der Tod Hitlers. Und wie lange der Krieg auch noch dauern mag, wir werden in diesem Krieg nichts Schwereres und Größeres vollbringen können, als wir vollbracht haben. Letztmalig löse ich mich vom Tagebuch. Wird man nicht von einem merkwürdigen Gefühl erfaßt, wenn man eine Zeitung sieht, auf der ein Hitlerbild mit Trauerrand und dem darunterstehenden Text „Adolf Hitler starb den Heldentod im Kampf für Sein oder Nichtsein seines Volkes“ die Hälfte einer Spalte einnimmt? Man traut seinen Augen nicht, aber diese Zeitung hat es wirklich gegeben. In der kurzen Zeitspanne zwischen Hitlers Selbstmord und der Kapitulation des faschistischen Deutschlands konnte sie erscheinen. Es hat real existiert, dieses Blatt, das sich „Der Freiheit Kampf“ nannte, Organ der faschistischen Partei, und erschien noch am 3. 4. und 5. Mai in Dresden, der letzten großen deutschen Stadt, die in den Händen der Nazis verblieben war. Später wurde in der Presse verschiedener Länder viel darüber gerätselt, ob Hitler den „Soldatentod“ gestorben sei oder nicht, ob er sich vergiftet oder erschossen habe, ob ihm, um den Schein zu wahren, eine Kugel eingeschossen wurde, nachdem er sich vergiftet hatte. Die nationalsozialistische Dresdener Zeitung brachte eine heroischere Variante. Eine bolschewistische Kugel hätte den Menschen getroffen, den seine Feinde trotz ihres Hasses und Hohns heimlich bewunderten, da sie niemanden
hätten, der ihm gleich oder ähnlich wäre. Daher hätten sie seinem unbeirrbaren Streben, eine neue staatliche Ordnung in Frieden zu schaffen, nur den Krieg entgegensetzen können. Also, den „unbeugsamen Friedenskämpfer“ Hitler habe eine bolschewistische Kugel getroffen! Der ihm gewidmete Nekrolog strotzte von „Kampfesmut“: Die Nation, die noch nicht imstande sei, das Geschehene zu begreifen, sei sich einig und entschlossen im Bestreben, „sein Werk und seinen Kampf“ bis zu dem Augenblick fortzusetzen, da „der bolschewistische Todfeind von der deutschen Erde vertrieben“ sei. Dieser primitive Aufruf der Dresdener Zeitung stimmte etwa mit einem in ihr abgedruckten Appell des Großadmirals Dönitz überein, der von Hitler behauptete, sein persönlicher Einsatz in den Schlachten gegen die „bolschewistischen Horden“ sei nicht nur für Europa, sondern für die gesamte Kulturwelt von hohem Wert gewesen. Seine (gemeint ist Dönitz, K. S.) erste Aufgabe bestehe darin, die Deutschen vor der „Vernichtung durch den Bolschewismus zu retten. Ausschließlich mit diesem Ziel werde der Kampf fortgesetzt. Soweit die Anglo-Amerikaner die Erreichung dieses Zieles erschwerten, müsse auch gegen sie weitergekämpft werden.“ Man tut gut daran, diese Worte, die Dönitz damals äußerte, noch einmal zu durchdenken, daß der persönliche Einsatz Hitlers in den Kämpfen gegen die bolschewistischen Horden für die gesamte Kulturwelt wertvoll gewesen sei, daß der Kampf ausschließlich mit dem Ziel der Vernichtung der Bol-
schewisten fortgesetzt werde und daß gegen die Amerikaner und Engländer nur zeitweilig gezwungenermaßen gekämpft werde. Das war die eigentliche Ursache jenes irrsinnigen Widerstandes, zu dem die deutsche Führung die nach sechs Jahren völlig kriegsmüden deutschen Soldaten bis zur letzten Stunde an allen Abschnitten der sowjetisch-deutschen Front veranlaßte, von Kurland bis zur Tschechoslowakei, wo Feldmarschall Schörner den Truppen einen an die Soldaten der Heeresgruppe Mitte gerichteten und ebenfalls in dieser Dresdener Zeitung veröffentlichten Befehl vorsetzte: Adolf Hitler sei als Märtyrer für seine Idee und seinen Glauben und als Soldat gefallen, indem er bis zum letzten Augenblick seines Lebens gegen die Bolschewisten kämpfte. Die Pflicht bestehe jetzt darin, sein Lebenswerk fortzusetzen und zu vollenden. Wohlgemerkt: Nicht nur fortzusetzen, sondern zu vollenden! Man fragt sich unwillkürlich: Womit sollte es vollendet werden? Offenbar mit dem Sieg über den Bolschewismus, über Rußland. Und wie? Möglicherweise im Bündnis mit den ehemaligen Gegnern, den Amerikanern und Engländern? Die Hoffnung hierauf zieht sich durch viele Gefangenenaussagen. Auch Schörner hat sie geäußert. Das alles ist natürlich nicht neu, und dennoch stimmt es nachdenklich, wenn man – nicht ein vielbändiges historisches Nachkriegswerk, sondern dieses kümmerliche vergilbte Blatt in der Hand hält, eine Dresdener Zeitung, die am 3. Mai erschienen ist, als Hitler bereits tot war, Berlin kapituliert hatte, aber bei Dresden noch erbittert gekämpft wurde und Stunde
um Stunde noch Menschen starben und das Ende des Krieges nicht mehr erlebten. Die Exemplare der Dresdener Zeitung fielen mir einige Tage später in die Hände, als ich auf dem Wege von Berlin nach Prag durch die Ruinen von Dresden kam, einer im Krieg angenommenen Gewohnheit folgte und als erstes eine Druckerei ausfindig machte, in der die bis zum Tage der Kapitulation erschienenen Nummern dieser Zeitung gebündelt lagerten. Wir verbrachten einige Tage in Berlin und fühlten täglich deutlicher, daß die Kapitulation Deutschlands vor der Tür stand. Schon kursierten Gerüchte, die der Wahrheit mehr oder weniger nahe kamen, und dann wurden spätabends alle in Berlin arbeitenden Korrespondenten, soweit sie irgendwie erreichbar waren, kurzfristig zum Stab der Front bestellt. Wir hatten die Stadt verlassen und befanden uns auf halbem Wege zum Stab, als wir plötzlich ein rasendes Feuer hörten und sahen. Ringsum erhellten Leuchtspurgeschosse und Granaten den Horizont. Da wußten wir, der Krieg war zu Ende. Nichts anderes konnte dieses Feuerwerk bedeuten. Und plötzlich fühlte ich mich elend. Ich schämte mich vor meinen Begleitern, mußte aber schließlich doch aussteigen. Ich verspürte ein krampfhaftes Zucken in der Kehle und Speiseröhre, der Speichel lief mir zusammen, bitterer Geschmack, Galle. Ich weiß nicht, wovon. Wahrscheinlich von der Anspannung der Nerven, einer Überlastung, die sich in dieser unangenehmen Weise äußerte. Während der ganzen vier Kriegs jähre war ich in jeder Lage bemüht gewesen, mich zu be-
herrschen, und das war mir wohl auch gelungen, doch hier, in diesem Augenblick, als ich begriff, daß der Krieg aus war, erschütterte mich etwas, und die Nerven versagten. Meine Genossen lachten nicht und spotteten nicht, sie schwiegen. Im Stab der Front sagte uns das Mitglied des Kriegsrats, Telegin, die Deutschen hätten im Westen, im Stab der Verbündeten, heute eine Erklärung über die Kapitulation abgegeben und sie provisorisch unterschrieben. Die endgültige Unterzeichnung der Akte über die bedingungslose Kapitulation werde morgen in Berlin-Karlshorst vorgenommen, im Gebäude der Ingenieurschule. Wir waren herbestellt worden, damit wir uns darauf vorbereiten konnten. Tempelhof. Morgen. Noch ist kein Flugzeug gelandet. Der Flugplatz ist leer. Nur in der Mitte übt ein dicker kleiner Oberst mit der Ehrenwache vor dem Eintreffen der Verbündeten. Er übt lange und fleißig: Im Krieg haben die Soldaten diese Dinge verlernt. Wir sitzen im Gras und langweilen uns. Endlkh kommt der Stellvertreter des Oberbefehlshabers, Sokolowski, in Begleitung einiger Generale. Einen von ihnen kenne ich. Ich bin ihm in Italien begegnet. Damals wurde noch im Gebiet von Florenz gekämpft. Wie lange scheint das zurückzuliegen! Das erste Flugzeug landet! Heraus tritt Wyschinski, begleitet von einigen unserer Diplomaten. Sie steigen sofort in ein Auto und fahren ab. Anderthalb Stunden später setzt noch ein Flugzeug auf. Gestern erwarteten wir, daß Eisenhower kommen werde, und erst hier, auf dem Flugplatz, als nicht Shukow, sondern Sokolowski eintraf, sagten wir uns, statt Eisenhower
werde ein anderer kommen. Nun sind der britische Luftmarschall und Stellvertretende Oberbefehlshaber der alliierten Expeditionsstreitkräfte in Europa, Arthur W. Tedder, und der Oberbefehlshaber der strategischen Luftstreitkräfte in Europa, der amerikanische General Carl A. Spaatz, eingetroffen. Spaatz ist mittelgroß, wohlgenährt, quadratisch gebaut, Tedder hager, jugendlich, von unbestimmbarem Alter, behende, beweglich, und er lächelt häufig und etwas gezwungen. Sie und Sokolowski begrüßen sich. Die Soldaten präsentieren das Gewehr, die Kapelle intoniert drei Hymnen, die Verbündeten und Sokolowski schreiten die Ehrenwache ab. Inzwischen landet ein weiteres Flugzeug, das die Deutschen Wilhelm Keitel, Generaladmiral Hans-Georg von Friedeburg und Generaloberst Hans-Jürgen Stumff bringt. In ihrem Gefolge befinden sich einige deutsche Offiziere. Die Ehrenwache, die zum Empfang der Verbündeten angetreten ist, steht zwischen dem Flugzeug, mit dem die Deutschen gekommen sind, und den Wagen am Ende des Flugplatzes, zu denen die Deutschen gehen müssen. Sobald die Deutschen das Flugzeug verlassen haben, treten einige sowjetische Offiziere an sie heran, und während die Verbündeten die Ehrenformation abschreiten, werden auf der anderen Seite die Deutschen zu den Wagen geführt. Voran schreitet Keitel im langen Mantel, mit großer, hoher Generalsmütze, deren Teller gebogen ist. Er vermeidet es bewußt, nach links oder rechts zu sehen, geht mit großen, ausholenden Schritten. Wir folgen den Deutschen durch Berlin. Als ich die
vorbeihuschenden Ruinen sehe, die einsamen Gestalten der Einwohner, denke ich, daß man sich schwerlich ein bedrückenderes Bild vorstellen kann als jenes, das sich den zur Unterzeichnung der Kapitulation fahrenden deutschen Generalen bietet. Karlshorst. Als erstes besichtigen wir den Festsaal der Ingenieurschule. Hier soll die Unterzeichnung erfolgen. Der Saal ist nicht sehr groß, zweihundert Quadratmeter. An der Stirnseite schmücken Flaggen die Wand: die sowjetische, die amerikanische, die britische und die französische. Der Oberbefehlshaber der 1. französischen Armee, Jean de Lattre de Tassigny, heißt es, sei ebenfalls gekommen oder treffe noch ein. Unter den Flaggen steht ein langer Tisch, der fast die ganze Breite der Wand einnimmt. Dort werden die Vertreter des alliierten Kommandos Platz nehmen. Senkrecht dazu stehen hintereinander noch drei Tische, zwei lange und ein kurzer. Der kurze ist für die deutsche Delegation gedacht, der mittlere für die sowjetischen und die verbündeten Generale und Offiziere, die der Kapitulation beiwohnen werden. Der letzte Tisch schließlich steht den Korrespondenten zur Verfügung. Fast eine Stunde halten wir uns in der Ingenieurschule auf. Alles verzögert sich, weil die sowjetischen und die verbündeten Vertreter noch über einige Verfahrensfragen verhandeln. Die Kapitulation, die ursprünglich für zwei Uhr angesetzt war, beginnt erst am Abend. Endlich betreten Shukow und Telegin den Saal, und mit ihnen kommen Wyschinski, Tedder, Spaatz und Lattre de Tassigny, den ich das erstemal sehe. Er ist ein noch junger General, etwa fünfund-
vierzig. Die Korrespondenten und Militärpersonen, die bei der Kapitulation zugegen sein sollen, eilen auf die noch freien Plätze zu. Ein Offizier, der als Ordner eingesetzt ist, tritt an sie heran und flüstert ihnen hastig etwas zu. Unsere Generale an dem Tisch, der für die kapitulierenden Deutschen vorgesehen ist, springen wie von der Tarantel gestochen auf und setzen sich um. Shukow lächelt. Tedder lächelt. Lattre de Tassigny lächelt. Sie lächeln sich und dem nicht lächelnden Spaatz zu und nehmen an ihrem Tisch die Plätze ein. Die Photographen und Kameramänner geraten aus dem Häuschen. Sie springen auf die Tische, pressen ihre Bäuche gegen die Schultern der Generale und knipsen, knipsen, knipsen… Einer unserer Kameraleute streift mit seinem Apparat einen amerikanischen Admiral am Kopf. Der Admiral, der die Hektik der Berichterstatter offenbar gewohnt ist, lacht gutmütig und winkt ab: „Okay!“ Unsere Ordner aber, denen diese Atmosphäre unbekannt ist, würden den armen Kerl am liebsten vor die Tür setzen. Die Leute am zentralen Tisch benehmen sich sehr unterschiedlich. Spaatz verzieht keine Miene. Wyschinski ist übereifrig. Shukow strahlt. Tedder, der neben ihm sitzt, hat ein leichtes Lächeln auf dem angenehmen, jedoch ausdruckslosen Gesicht. Über den Dolmetscher sagt er etwas zu Shukow, und ich glaube, daß er von allen Anwesenden der einzige ist, der sich eine Portion Ironie für die bevorstehende feierliche Prozedur aufgehoben hat. Lattre de Tassigny scheint bekümmert darüber, daß er später als die anderen eingetroffen ist, und darauf bedacht zu
sein, daß recht bald zur Tagesordnung übergegangen wird. Ich sehe Shukow, sein schönes, starkes Gesicht, und mir fällt ein, wie ich ihm während der Kämpfe mit den Japanern am Chalchyn gol begegnet bin, als er noch Korpskommandeur war und in der Mongolei unsere Armeegruppe führte. Das letzte Mal habe ich ihn dort nach der Niederlage der Japaner in seinem überheizten Unterstand gesehen. Er war gerade aus dem Bad gekommen, entspannte und machte es sich gemütlich. Ich muß daran denken, mit welcher spöttischen Gelassenheit er sich den Bericht eines seiner Aufklärer anhörte. Der Mann hatte darum gebeten, kurzfristig empfangen zu werden, und meldete eine neue, seiner Meinung nach gefährliche Konzentration starker japanischer Verbände. Ich sah es Shukow an, daß er keinen Pfifferling auf die Meldung gab, sondern davon überzeugt war, daß die Japaner nach ihrer vernichtenden Abfuhr gar nichts unternehmen würden und daß sich der Aufklärer nur rückversichern wollte. Das sagte er ihm ins Gesicht, als er sich seinen Bericht angehört hatte. Er sagte es kalt, scharf, endgültig. Seitdem sind sechs Jahre vergangen, in der Zwischenzeit bin ich Shukow nicht begegnet, und damals hätte ich es mir nicht träumen lassen, daß unser nächstes Zusammentreffen in Berlin und vor der Entgegennahme der Kapitulation der deutschen Armee stattfinden würde. Als im Saal Ruhe eingetreten ist, steht Shukow auf und erklärt die Sitzung zur Entgegennahme der Kapitulation der deutschen Armee für eröffnet. Dann wird über die Vollmachten gesprochen und festge-
stellt, wer von welcher Regierung bevollmächtigt wurde, und die Dokumente werden in den einzelnen Sprachen verlesen. Darüber vergehen zehn Minuten. Shukow steht wieder auf, wendet sich den Offizieren am Eingang zu und sagt trocken: „Führen Sie die deutsche Delegation herein.“ Die Tür wird geöffnet, und Keitel, Friedeburg und Stumff treten ein. Ihnen folgen einige Offiziere, vermutlich die Adjutanten. Keitel braucht nur drei Schritte zu machen, um an seinen Tisch zu gelangen. Er geht dorthin, bleibt hinter dem mittleren Sessel stehen, streckt die Hand mit dem kurzen Marschallstab aus, vollführt eine flinke Bewegung vorwärts und rückwärts, die mich an Hantelgymnastik erinnert. Er rückt den Sessel ab, setzt sich und legt den Marschallstab vor sich nieder. Shukow steht auf und sagt etwas, aber es ist nicht zu verstehen, was. Es wird den Deutschen übersetzt. Keitel neigt zustimmend den Kopf. Weitere Einzelheiten der Prozedur folgen. Ich beobachte Keitel. Er hat die behandschuhten Hände auf den Tisch gelegt, Stumff erscheint absolut ruhig. Friedeburg ist erstarrt, aber hinter seiner Reglosigkeit verbirgt sich grenzenlose Niedergeschlagenheit. Auch Keitel sitzt anfangs reglos da, blickt vor sich hin, dann dreht er ein wenig den Kopf und sieht Shukow aufmerksam an, richtet den Blick wieder vor sich auf den Tisch und erneut zu Shukow hin. Das wiederholt sich einige Male, und obgleich der Ausdruck hier äußerst unangebracht ist, täusche ich mich nicht, wenn ich meine, daß er Shukow neugierig mustert. Keinen anderen als Shukow, und in der Tat
neugierig, als sehe er einen Menschen, der ihn schon lange interessiert und der jetzt nur zehn Schritt entfernt vor ihm sitzt. Am zentralen Tisch beginnt die Unterzeichnung des Dokuments. Ihre Unterschrift leisten Shukow, Tedder, Spaatz, als letzter Lattre de Tassigny. Während sie unterschreiben, verändert sich Keitels Gesicht schrecklich. In Erwartung der Sekunde, da er an der Reihe ist, zur Feder zu greifen, sitzt er steif und starr da. Der große Offizier, der in strammer Haltung, die Hände an der Hosennaht, hinter seinem Sessel steht, weint, ohne daß sich in seinem Gesicht ein Muskel regt. Keitel sitzt gerade da, dann streckt er die Hände aus und ballt sie auf dem Tisch zu Fäusten. Den Kopf legt er immer weiter zurück, als wollte er die Tränen, die unter den Lidern hervorzubrechen drohen, nach hinten drängen. Shukow steht auf und sagt: „Der deutschen Delegation wird vorgeschlagen, die Urkunde über die bedingungslose Kapitulation zu unterschreiben.“ Der Dolmetscher übersetzt die Aufforderung ins Deutsche, und Keitel, der den Sinn der Worte schon erfaßt hat, ehe alles übersetzt ist, vollführt eine Handbewegung auf sich zu als Zustimmung, daß ihm die Urkunde zur Unterschrift vorgelegt werden soll. Shukow streckt jedoch mit einer kurzen Bewegung den Arm in Richtung der Deutschen aus, deutet auf den Tisch, an dem die Verbündeten sitzen, und sagt hart: „Sollen sie zum Unterschreiben herkommen.“ Als erster steht Keitel auf. Er tritt an die schmale Seite des Tisches, setzt sich in den dort stehenden Sessel und unterzeichnet mehrere Exemplare der
Urkunde. Dann kehrt er an seinen Tisch zurück, setzt sich und nimmt die alte Pose ein. Zum Schreiben hat er einen Handschuh abgestreift. Jetzt zieht er ihn wieder an. Nach ihm gehen Stumff und Friedeburg unterschreiben. Unterdessen sehe ich weiter zu Keitel hin. Er hat sich halb dem Tisch der Alliierten zugewandt, betrachtet sie und grübelt so angestrengt über etwas nach, daß er unbewußt die rechte behandschuhte Hand ans Gesicht führt und sich über die schwer herabhängenden Wangen streicht. Der letzte der drei Deutschen kehrt auf seinen Platz zurück. Shukow steht auf und sagt: „Die deutsche Delegation kann den Saal verlassen.“ Die Deutschen erheben sich. Keitel vollführt mit dem Marschallstab die gleiche Bewegung, die er eingangs gemacht hat, als er eingetreten ist, dreht sich um und geht hinaus. Die anderen folgen ihm. Die Tür wird geschlossen. Und plötzlich weicht die gestaute Spannung aus dem Saal. Sie verfliegt, als hätten alle lange den Atem angehalten, der nun der Brust entströmt. Ein allgemeiner Seufzer der Erleichterung und Erschöpfung bricht sich Bahn. Die Kapitulation ist besiegelt, der Krieg zu Ende. Am Abend des 10. Mai fahren wir durch die Sudeten nach Prag. Wir wissen bereits, daß die Stadt befreit ist, die Panzer der 1. Ukrainischen Front als erste eingedrungen sind und daß sich dies gestern morgen zugetragen hat. Doch sosehr wir uns bisher auch beeilt haben, nach Prag zu kommen, vor einer zerstörten Brücke werden wir aufgehalten, stehen dort
lange, müssen von der Straße abbiegen und einen drei Kilometer langen Umweg durch den Wald machen. Ein Dutzend Personenwagen hat sich vor der Brücke gestaut: Niemand möchte die Umleitung benutzen, weil dort kürzlich ein Wagen unter Beschuß geriet und jemand getötet oder verwundet wurde, da die durch den Wald streichenden Deutschen nichts von der Kapitulation wußten. Der Krieg ist zu Ende, und niemand will etwas riskieren, obgleich vor zwei oder drei Tagen keiner der hier versammelten Offiziere oder Fahrer ein so unbedeutendes Risiko ernst genommen hätte. Wir warten wie die anderen bei der Brücke auf einen Schützenpanzerwagen, der angefordert worden ist. Sascha Kriwizki, mein Begleiter, fängt jedoch plötzlich mit sich, mit mir und mit aller Welt zu hadern an und sagt: „Genug gewartet, fahren wir.“ Ich krümme mich und kann mich nicht entscheiden. Der Gedanke, die verflixten, durch den Wald streifenden Deutschen könnten nach Kriegsende auf mich schießen, quält mich. Kriwizki kocht, und meine Lage wird schließlich peinlich. Wir steigen ein und fahren auf den Waldweg. Die übrigen Wagen formieren sich zu einer Kolonne und folgen uns. Hätten wir nicht den Anfang gemacht, würde ein anderer die Geduld verlieren, fünf Minuten später losfahren, und wir würden ihm folgen, wie er jetzt uns folgt, aber der Gedanke erleichtert mich nicht, ich habe trotzdem Angst. Wir fahren in den Wald ein. Dort ist es still, und da wir die Spannung nicht ertragen, schießen wir selbst mit den MPis aus den mit Vollgas fahrenden Wagen.
Als der Wald hinter uns liegt, können wir nicht sagen, ob auch die Deutschen geschossen haben. Wir haben nur das verzweifelte Geknatter der eigenen Waffen gehört. Es ist uns peinlich voreinander, und wir schweigen. Schon können wir uns nicht mehr in jenen Zustand zurückversetzen, bei dem wir natürlich auch Angst vor dem Tod hatten, gleichzeitig aber die Möglichkeit zu sterben als natürlich und beinah selbstverständlich erwogen, und wir können uns noch nicht, ohne uns voreinander zu schämen, an jenen natürlichen menschlichen Zustand gewöhnen, in dem einem die Möglichkeit eines gewaltsamen Todes als unnatürlich und schrecklich erscheint. Im Oktober 1945, als in Amerika meine „Tage und Nächte“ herauskamen, schickte ich meinem amerikanischen Verleger einen Brief, aus dem ich einige Absätze anführen möchte. „Der Krieg ist zu Ende, und jetzt kann man schon sagen, daß der Beruf eines Frontkorrespondenten im allgemeinen nicht leicht war. Während des ganzen Krieges stritten zwei Gefühle miteinander: der Wunsch, alles mit eigenen Augen zu sehen, um später, nach dem Kriege, darüber zu schreiben, und die Befürchtung, den Tod zu finden und folglich keine Möglichkeit zu haben, über das Erlebte zu schreiben. Je länger der Krieg dauerte, je näher sein Ende rückte, je größer der Vorrat meiner Erfahrungen war, desto schärfer wurde dieser Widerstreit. Ich wollte nach wie vor alles sehen, aber je mehr ich gesehen hatte, desto gräßlicher erschien mir die Möglichkeit des Todes. Jetzt liegt alles hinter mir, und es ist wohl eine allgemeine menschliche Schwäche, nach überstan-
dener Gefahr sich selbst Vorwürfe zu machen wegen aller Gelegenheiten, die man verpaßt hat, weil man das Risiko scheute und nicht genügend Mut aufbrachte, um hier und dort dabei zu sein. Daneben existiert auch ein anderes Gefühl, sicher das stärkere. Man möchte das Erlebte für sich selbst beschreiben, ohne es den Zeitgenossen anzuvertrauen – geschweige denn der Nachwelt…“ So habe ich mit einem Schuß jugendlicher Überheblichkeit unmittelbar nach dem Kriege geschrieben. Dann, während der vielen Jahre, die ich an diesem Buch arbeitete, dachte ich immer wieder: Womit soll ich es beenden, welches Schlußwort finden? Jetzt sehe ich, daß kein Schlußwort nötig ist. Wenn alles, was ich über die vier Jahre geschrieben habe, wenigstens einen gewissen Eindruck davon vermittelt, was der Krieg war, und einmal mehr dazu anregt, es zu keinem dritten Weltkrieg kommen zu lassen, so habe ich diesem Gefühl und diesem Gedanken nichts hinzuzufügen. Wenn es mir aber nicht gelungen ist, das zu erreichen, dann hätte jedes Nachwort seinen Sinn verloren, und je länger, desto sinnloser wäre es.